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Entfremdung

individueller oder gesellschaftlicher


Zustand

Entfremdung bezeichnet einen individuellen oder gesellschaftlichen Zustand, in dem eine


vormals feste, nicht in Frage gestellte Beziehung des Menschen aufgehoben, verkehrt,
gestört oder zerstört wird. Dies kann die Beziehung eines Menschen zu sich selbst – im
Sinne einer Selbstentfremdung –, zu seinen Mitmenschen, zur Natur, zu seiner Arbeit oder
dem Produkt seiner Arbeit betreffen.

Der Begriff ist zentraler Bestandteil unter anderem der Kulturkritik, der Gesellschaftskritik, der
Wachstumskritik sowie des Primitivismus. Entfremdung ist außerdem Thema vieler Romane
und anderer künstlerischer Werke.

Etymologie
Der Begriff geht auf die lateinischen Wörter alienatio (Entfremdung, Entäußerung, das
Weggeben einer Sache in fremden Besitz, Abfall) und alienare (veräußern, entfremden,
entzweien, in fremde Gewalt bringen, in fremde Hände geben) zurück, womit die klassische
bürgerliche englische politische Ökonomie die „Veräußerung“ eines Gegenstandes, der
dadurch seinem Produzenten „entfremdet“ wird, und die naturrechtlichen Theorien vom
Gesellschaftsvertrag des 18. Jahrhunderts die „Übertragung“ (Die Veräußerung, den
„Verlust“) der ursprünglichen Freiheit an eine dem Individuum fremd gegenüberstehende
Macht (Gesellschaft, Herrscher) bezeichnen.[1][2]
Überblick

1. „Entfremdung“ ist der


gesellschaftlich vorangetriebene
und unumkehrbare Prozess der
Aneignung der Natur und ihrer
materiellen und geistigen
Umgestaltung zu Kultur samt den
Institutionen, die fremdbestimmt
wirken, sobald sie die Menschen
beherrschen und sich ihren
individuellen und kollektiven
Wünschen entgegenstellen.
2. Als „Entfremdung“ wird auch das
individuelle und der Steigerung
fähige Gefühl der Vereinzelung und
Abgegrenztheit von allen anderen
Lebewesen und Dingen bezeichnet,
zu dem Menschen kraft ihrer
Selbstreflexion in der Lage sind, und
das durch psychische Konstrukte zu
überbrücken versucht wird.
Verbindungen zwischen diesen
Aspekten bestehen insbesondere in
der notwendig eingenommenen
Gegenposition des Menschen zur
Natur und den resultierenden
Gefühlen von Vereinzelung und
Abgegrenztheit des einzelnen
Menschen von allem anderen.
3. „Entfremdung“ „kennzeichnet ein
Fremdwerden (auch ein
Fremdmachen), wobei dieses
Fremdwerden ein
selbstverursachtes ist, die eigene
Tätigkeit dessen – ob Individuum,
Gruppe oder Menschheit überhaupt
–, der sich entfremdet sieht oder
gesehen wird, ist Ursache für die
Entfremdung, wie es das Eigene
(oder Angeeignete) ist, das fremd
erscheint oder wirkt.“ (Achim
Trebeß)
4. Entfremdung ist ein zentraler
Kritikpunkt am Kapitalismus, vor
allem bei Karl Marx; ausgehend von
Hegel. Er argumentiert im Rahmen
seiner Kritik der Arbeit, dass der
Mensch – durch die nur an Profit
(bzw. Mehrwert) orientierte
Produktion – von seinem Produkt
wie auch von sich selbst entfremdet
wird, siehe auch Entfremdete Arbeit,
Verdinglichung und Entäußerung.
5. „Entfremdungsprozesse sind in
jeder Entwicklung unvermeidlich.
Überwindung von Entfremdung
gehört daher zur Entwicklung von
Subjektivität als anthropologische
Konstante. Aber der Mensch ist
immer auch gefährdet, Entfremdung
nicht mehr zu überwinden.“ (Jonas
Wollenhaupt)[3]
6. „Der Begriff der Entfremdung ist für
Sozialpsychologie, Soziologie und
Sozialphilosophie unverzichtbar.
Einerseits könnte sonst soziales
Leid kaum adäquat beschrieben
werden, andererseits ist
Entfremdung ein historisch
wiederkehrendes Gefühl, das für
kritische Gesellschaftstheorien
nicht zu entbehren ist. Entfremdung
markiert außerdem eine ethisch
notwendige Größe Kritischer
Theorie.“ (Jonas Wollenhaupt)[3]

In der Philosophie
Der Begriff der Entfremdung ist ein Grundbegriff der Philosophie. Seine Ursprünge sind bis in
die griechische Antike zurückzuverfolgen. So lässt sich bereits bei Aristoteles die
Unterscheidung zwischen Muße und dienstbaren Tätigkeiten ausmachen[4]. Letztere sind
grundsätzlich entfremdend, da das Subjekt in seiner Tätigkeit nicht bei sich ist. In den
philosophisch-theologischen Theorien der Gnosis und des Mittelalters wird dann
Entfremdung zur Entfremdung von Gott. Diese ist dementsprechend nur durch eine
gottgefällige Lebensweise zu überwinden. Erst in der Renaissance wird das Selbst und damit
die Selbstentfremdung wieder in den Blick genommen.[4] In der deutschen Philosophie
bezeichnete „Entfremdung“ einerseits juristisch und wirtschaftlich das Veräußern von etwas,
z. B. von Besitz und Freiheit, und andererseits das sich Lösen vom nur Weltlichen, in
Vorbereitung auf das Göttliche. In diesem Sinne war der Begriff positiv markiert und blieb das
auch bis ins 19. Jahrhundert, bis zur Romantik und dank der an der Antike orientierten
Weimarer Klassik. Der Mensch war durch die Götter in die allumfassende Endlichkeit des
Universums eingeordnet. Die Begeisterung der Romantik für das Mittelalter brachte die
negativ konnotierte Entfremdung als Kehrseite der Freiheit mit.

Entfremdung konnte aber auch bedeuten, Gott entfremdet zu sein, in Körperliches und
Sinnliches verstrickt zu sein und damit den prinzipiell erlösungs­bedürftigen Zustand
menschlicher Existenz aufzeigen. Für Martin Luther (1545) und später Friedrich Wilhelm
Joseph Schelling (1841) ist das Leben der Heiden in „Gottesferne“, „Unglaube“,
„Unwissenheit“ und „Verblendung“ das entfremdete Leben. In der Bibel, im Brief des Paulus
an die Epheser (4.18) heißt es:

„Ihr Verstand ist verfinstert, und sie sind entfremdet dem Leben,
das aus Gott ist, durch die Unwissenheit, die in ihnen ist, und durch
die Verstockung ihres Herzens.“

Im 17. Jahrhundert bezeichnet Blaise Pascal den Menschen als im unendlichen Weltall
kosmisch entfremdet. Er stehe in der Mitte zwischen Nichts und All, zwischen unendlichen
Extremen, die in Gott vereinigt wären. Da man nicht zu einem dieser Extreme kommen könne,
solle man in der Mitte verharren und über diese Abgründe nachdenken. Wie lange zuvor
Augustinus und später Søren Kierkegaard plädierte Blaise Pascal für ein christliches Leben,
um den durch die Erbsünde gesetzten Zustand einer entfremdeten Welt am besten zu
begegnen.

In seinem originären juristisch-wirtschaftlichen Sinne gebraucht auch Jean-Jacques


Rousseau den Begriff „Entfremdung“. Das menschliche Individuum ging vom Naturzustand
solitärer Freiheit in die Freiheit selbstgegebener Gesetze über. Dieses gesellschaftliche
Verhältnis verstellte nun die natürlichen und organischen Beziehungen des Menschen zu
seiner Natur, zur äußeren Natur und zu seinen Mitmenschen. Dieser Vorgang war nach
Rousseau unumgänglich und ist unumkehrbar.

Ende des 18. Jahrhunderts baut Wilhelm von Humboldt einen anderen Ansatz auf: Der
Mensch sei in einem Konflikt, „durch den Anspruch seines inneren Wesens, den Inhalt des
Begriffs der Menschheit in Person zu schaffen“, und durch seine Natur, „von sich aus zu den
Gegenständen außer ihm überzugehen“. Es komme nun darauf an, „daß er in dieser
Entfremdung nicht sich selbst verliere“ (Reinhart Maurer, 1973). Alles Nicht-Ich, das
Fremde, ist immer nur das Material und Instrumentarium, das der Mensch zu seiner
Entfaltung gebraucht, mit dem er die unendliche Aufgabe zu erfüllen sucht, sich die Welt
bewohnbar zu machen. Der Mensch hat unendliche Freiheit in einer auf endliche, erfahrbare
Weise unendlichen Welt, in der er als freies Subjekt nie und nirgends ganz zu Hause sein
kann.

Zentral ist das Konzept der Entfremdung auch im literarischen Werk von Friedrich Hölderlin
(1770–1843), der sich darin, um ihr zu entkommen, immerzu nach Verschmelzung und
Wiedervereinigung sehnt.[5]

Bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel um 1800 ist Entfremdung Selbstentfremdung, so wie
Erkenntnis gleich Selbsterkenntnis ist – ein Prozess, in dem das Selbst seine Wirklichkeit als
durch seine Tätigkeit geworden begreift und sich diese seine Wirklichkeit aneignet. Es ist also
ein höheres Bewusstsein seiner selbst, der Geist wird im menschlichen Bewusstsein
Gegenstand seiner selbst. Dabei treten Subjekt als Selbstbewusstsein und Objekt, als die
äußerliche Welt auseinander. Entfremdung ist die Bewegung des sich selbst Wirklichkeit
gebenden Subjekts, also Selbstentfremdung. Daraus folgt eine sich sukzessiv
höherentwickelnde Durchdringung von Subjekt und Objekt.

Die Aufhebung der Entfremdung sieht Hegel in der „wahrhaft religiösen Versöhnung mit der
Wirklichkeit, welche die Philosophie begreift […] nicht aber im Glauben, der Flucht aus dem
‚Reiche der Gegenwart‘ ist.“

„Was der Geist will, ist, seinen eigenen Begriff erreichen (den Ort
an dem er theoretisch und praktisch in Harmonie mit dem Ganzen
steht); aber er selbst verdeckt sich denselben, ist stolz und voll
Genuß in dieser Entfremdung seiner selbst.“

– Georg Wilhelm Friedrich


Hegel: Die Vernunft in der
Geschichte, hier zitiert nach:
Reinhart Maurer 1973

Ähnlich – nur christlich gewendet – sieht der Romantiker Friedrich Wilhelm Joseph von
Schelling 1827 die Entfremdung: „das im Menschen sich selbst Bewußte und zu sich
Gekommene.“ Vor allem ist es bei Schelling aber auch die Entfremdung von Gott. Damit wird
wieder auf den versöhnungsbedürftigen Zustand der Welt nach Vollendung der Schöpfung
hingewiesen. Schelling sieht durch das menschliche Bewusstsein einen kosmologisch
katastrophalen Fall auf der Welt eingetreten. Bei Schelling besteht eine romantisch-
historistische Verknüpfung von Schöpfungslehre, Bewusstseinsphilosophie und
theologischer Geschichtsphilosophie.

Für Ludwig Feuerbach ist Religion nur die Projektion des menschlichen Wesens auf ein ihm
äußerliches, fremdes Wesen. Gott ist also das entfremdete Wesen des Menschen.
Feuerbachs Ziel war es, die Theologie in die Anthropologie aufzulösen. Denn Religion sei eine
bloße jenseitige Kompensation der diesseitigen Entfremdung.

Karl Marx gebraucht den Begriff schließlich in einer ganz „weltlichen“ Weise: Der Arbeiter, der
seine Arbeitskraft verkauft, produziere nicht nur für sich selbst und sei zufolge der
Arbeitsteilung nur ein Glied in der Produktionskette. Das Arbeitsprodukt werde ihm
entfremdet, und so entfremde er sich auch von seinen Mitmenschen. In den Waren zeige sich
die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse und das entfremdete Wesen des
Daseins, das die Menschen beherrsche, das sie in Form des Geldes zu allem Übel auch noch
anbeteten. Ausgang aus dieser Situation gibt es für Marx nur unter veränderten Besitz- und
Produktionsverhältnissen. Diese Begriffsverwendung nach Marx hat sich weitgehend
durchgesetzt. Dabei nicht zu vernachlässigen ist aber das auch von Marx gemeinte
schmerzliche Empfinden eines Mangels von Selbstverwirklichung, das sich bei Entfremdung
der Arbeit einstellt.

Weltanschaulich weiter geht noch die „existentielle Erfahrung, ein endgültiges Zuhause noch
nicht gefunden zu haben“ (Peter Ehlen, 1976). Dabei handelt es sich um einen
psychologischen Zustand der Dissoziation, dessen anderer Bezugspunkt ein Zustand der
Vertrautheit, des Heimischseins, der Harmonie und Liebe zu sein scheint. Seit dem 19.
Jahrhundert gibt es den Begriff Entfremdung auch als medizinisch-psychiatrischen Begriff für
psychische Erkrankungen – bzw. für ein (Teil-)Symptom selbiger.

Ausdruck zweier Strömungen fand der Begriff der Entfremdung im 20. Jahrhundert durch die
französischen Dichter und Philosophen Jean-Paul Sartre und Albert Camus. Beide
konstatieren ein Gefühl der Entfremdung bedingt aus der Absurdität des menschlichen
Lebens. Diese Absurdität entsteht bei ihnen aus dem Widerspruch zwischen dem
angestrebten sinnvollen Handeln und der Unerreichbarkeit dieses Ziels. Durch die Revolte
gegen die Absurdität der Welt und des Lebens und durch das bewusste Annehmen der
Absurdität könne diese überwunden werden. Während Sartre eine gesellschaftliche
Revolution im Sinne des Marxismus anstrebt, setzt Camus beim Individuum an, das erst
durch eine eigene innere Revolte zur Möglichkeit der Selbsterkenntnis und
Selbstverwirklichung im Sinne eines aufgeklärten Humanismus gelangen kann.

Zentrales Thema in den Überlegungen des Philosophen André Gorz ist stets die Frage der
gerechten Verteilung der Arbeit, welche Teilhabe ermöglicht. Der Entfremdung
entgegenwirken würden somit selbstbestimmte, sinnvolle und erfüllende Tätigkeiten.

Die Leibphilosophie thematisiert die Entfremdung des Menschen von seiner Leiblichkeit und
damit von sich selbst. Laut Gernot Böhme behandelt der moderne Mensch den eigenen
Körper „wie den Körper des anderen, nämlich von außen“. Vom Leib wisse der moderne
Mensch nichts, weshalb er sich „unheimisch“ in ihm fühle.[6] Jens Marxen verbindet die
Leibphilosophie mit der philosophischen Lebenskunst und möchte einen „Ausweg aus der
Tristesse des entfremdeten Lebens“ aufzeigen. Statt um die „Harmonisierung von Körper,
Geist und Seele“ müsse es laut Marxen darum gehen, „die leibliche Wirklichkeit zur Basis des
guten Lebens“ zu machen.[7]

In der Soziologie
Für den französischen Soziologen Émile Durkheim kommt Entfremdung aus dem Verlust
gesellschaftlicher und religiöser Traditionen. Für viele europäische Soziologen des
ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert war Entfremdung ein beherrschendes Thema:
die Entfremdung des Menschen von primären sozialen Bindungen (z. B. Familie) durch
Individualisierung, die Entfremdung von der Natur durch Urbanisierung, die Entfremdung von
der Arbeit durch Technisierung und Rationalisierung. Ferdinand Tönnies hat 1887 in
„Gemeinschaft und Gesellschaft“ analysiert, die moderne Gesellschaft zeichne sich
gegenüber der sozialen Form der Gemeinschaft in der Gesellschaft durch entfremdete
Zweckbeziehungen aus („Man geht in die Gesellschaft wie in die Fremde“). Georg Simmel hat
1900 in seinem Buch „Philosophie des Geldes“ moderne Beziehungen analysiert und
kritisiert.

Das Konzept der Gemeinschaft wurde auch als romantisch bezeichnet. Für den Philosophen
Martin Heidegger ist es die Seinsvergessenheit. Er sieht den technischen Humanismus als
Grund der Entfremdung; dieser sei der selbstentfremdete Teil menschlicher Wesenskräfte,
geboren aus dem „Willen zur Macht“. Die technisch und institutionell durchwirkte Zivilisation,
in der alles mit allem unübersehbar zusammenhängt und sich dem Einfluss des Einzelnen
versperrt, fasst Heidegger in dem Terminus „Gestell“ zusammen.
Die gesellschaftlichen Mechanismen und Abhängigkeiten werden von Theodor W. Adorno
und Max Horkheimer sehr genau herausgearbeitet.[8] Die Autoren stellen z. B. gemeinsam in
der Dialektik der Aufklärung die These auf, dass die in der Zivilisation erlangte Macht über die
Natur nur zum Preis der Entfremdung von dieser zu haben ist. Eine Überwindung der
Entfremdung ist so also nicht möglich. Gesellschaft und Kultur setzen Entfremdung voraus,
brauchen sie geradezu. Der Einzelne kann sich der Entfremdung bedingt entziehen, indem er
sich der Gesellschaft entzieht, sich auf Geist und Kunst konzentriert, sich von der
Erwerbsarbeit fernhält. Allgemein beschreiben Horkheimer und Adorno als Folgen der
Entfremdungsprozesse:

1. Verlust des autonomen


Verhältnisses zum Entfremdeten
(Fremdbestimmtheit)
2. Verunmöglichung der unmittelbaren
Erfahrung des Entfremdeten
(Erfahrung der Totalität)
3. Aufgabe einer Erkenntnis, welche
die Sache wirklich trifft (Schein,
Verblendung)
4. Verdrängung und Verleugnung des
Entfremdeten. Letzteres gilt
insbesondere für die Entfremdung
des Menschen von seiner inneren
Natur (Triebverzicht).
Wie Erich Fromm sagen auch Adorno und Horkheimer, dass die Masse nicht nur durch ihre
Arbeitsbedingungen entfremdet ist, sie ist es auch in ihrer Freizeit. Hinsichtlich der
Entfremdung gibt es keine Trennung von Arbeit und Freizeit mehr. Freizeit ist Trägheit,
Vergnügen, Konsum, Unterhaltung, Zerstreuung und dergleichen mehr. Das Stichwort hierzu
ist Kulturindustrie.

„Kulturindustrie vermag zum einen, Kultur, Kunst der Industrie,


der Verwertung zu unterwerfen und zum anderen mit genau dieser
industrialisierten Kultur die Individuen in der Entfremdung zu
halten, und zwar unter dem Beifall des Publikums.“

– Achim Trebeß[9]

In der ästhetischen Theorie Adornos wird der Gedanke entwickelt, dass es ohne Entfremdung
keine Kunst gäbe und ohne Kunst käme es zur totalen Entfremdung. So ist die Kunst ein
Produkt der Entfremdung und ein Ort der Befreiung von ihr zugleich. Die generelle Ohnmacht
der Kunst habe sich jedoch am deutlichsten im Faschismus erwiesen und erweist sich immer
noch in der Universalität der Warenproduktion, die durch Arbeit und Geld Ergebnis und
Ursache von Entfremdung ist. Kunst ist deshalb ohnmächtig, weil sie sich aus der Empirie
befreit und so über sie auch keine Macht hat, der Empirie vielmehr die Vormacht lässt. Je
weniger sich die Kunst der Gesellschaft gegenüberstellt und je mehr sie sich einbinden lässt,
affirmativ ist, desto eher treibe Kunst die Entfremdung sogar noch voran. Kunst unterliege
einer Aporie, nach der sie zur Affirmation verkommt, wenn sie sich der Gesellschaft öffnet,
aber harmlos und ohne Einfluss bleibt, wenn sie sich der Gesellschaft entzieht und
verschließt. So lässt sich nichts weiter konstatieren, als dass Gesellschaft und Kunst mit der
Entfremdung in ihre je eigene Katastrophe gehen. Kunst müsse sich entweder selber
abschaffen, abgeschafft werden oder „verzweifelt sich fortsetzen“.

Kunst könne also nicht Macht gegen Entfremdung sein, könne aber „Bewußtsein des anderen
sein, seine selbstverdinglichte, zum Produkt geronnene Realität.“ (Trebeß 2001, S. 162) Sie
kann einen Entwurf eines Lebens ohne Entfremdung darstellen, ohne dass sie sich im Bereich
der Praxis realisiere. Kunst stelle das Leiden an der Entfremdung dar und ermögliche ein
individuelles und natürliches Verwirklichen. Das Verwirklichen der Individuen und auch das
der Natur sei in der Gesellschaft unterdrückt, dagegen protestiere die Kunst und sei dadurch
Entwurf des Besseren, des Glücks, der Wahrheit, des Nutzlosen. Kunst sei das Aushalten der
Entfremdung.

Für den Soziologen und Philosophen Arnold Gehlen kompensiert die Kunst der Moderne die
Belastungen, die den Menschen in der modernen, durchbürokratisierten Gesellschaft
aufgetragen werden.[10] Allerdings ist nicht jede Kunst zur Entlastung in der Lage, sondern nur
Kunst, die nicht in bloßen emotionalen Affekt­ausdrücken besteht. Den Expressionismus
beurteilte Gehlen daher negativ.

Das Aushalten und der Widerstand gegen die Entfremdung durch das Subjekt, wie das bei
Adorno beschrieben wird, ist für Jean Baudrillard wiederum die einzige Möglichkeit,
überhaupt noch Subjekt zu sein und seine Identität zu bewahren. Das heißt andersherum:
„Subjektivität braucht Entfremdung.“ (Trebeß 2001, S. 192). So kommt es dazu, dass
Baudrillard einen Verlust der Entfremdung zugunsten der Fraktalität, der Zersplitterung und
des Verlöschens des Einzelnen beklagt. Wenn die Entfremdung noch ein Leiden an ihr
provozierte, das Problem der menschlichen Existenz stellte, so verschwinde dieses Leiden
und Existieren in der allumfassenden Vernetzung durch Kommunikation. Befriedigt wird aber
festgestellt, dass letztlich doch ein Gefühl der Entfremdung bleibe.

Um 1968 verbreiteten sich Ideen der Situationisten, die der Entfremdung durch eine
Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Leben begegnen wollen. Ihr Begriff von
Entfremdung umfasst alle Bereiche des Lebens, die einer „Herrschaft der Ware“ unterworfen
seien: Nicht nur die Entfremdung des Arbeiters von seinem Produkt wie bei Marx, sondern
auch und hauptsächlich die Entfremdung und Trennung der Subjekte voneinander im
Alltagsleben (siehe auch: Verkaufspsychologie) sei entscheidend in einer Zeit, die die
Gesellschaft als rationale Menge von kybernetischen (Wirtschafts-)Kreisläufen ansieht.
Solche Ideen stehen aber auch insgesamt für die 68er-Bewegung, die im rationalisierten
Leben der Moderne nicht Wohlstand und offene Gesellschaft, sondern eher eine
„Technokratie“ mit einem System „repressiver Toleranz“ (Herbert Marcuse) konstatierte.

Der Begriff der Entfremdung wurde in der weiteren Entwicklung der Kritischen Theorie ähnlich
wie das Konzept der „Totalität“ und der „Verdinglichung“ einer grundlegenden Kritik
unterzogen (Sölter 1996).
Gesundheitliche
Auswirkungen
Die zunehmende Entfremdung des modernen Menschen wird für eine Vielzahl von
Krankheiten verantwortlich gemacht, die oft unter dem Begriff der „Zivilisationskrankheiten“
zusammengefasst werden. Hierzu zählen sowohl physische, als auch psychische
Erkrankungen. Ursache ist, dass Körper und Geist für ein Leben wie vor der neolithischen
Revolution gemacht sind und für ein Leben in der modernen Welt nicht angepasst sind, da die
biologische Evolution des Menschen der rasenden Weiterentwicklung der Welt hinterherhinkt.

Psychische Krankheiten
Für verschiedene psychische Störungen sind Entfremdungsphänomene zentral. So kann
beispielsweise die Entfremdung eines Kindes von einem Elternteil als Eltern-Kind-
Entfremdung diagnostiziert werden, die entfremdete Wahrnehmung der eigenen Person als
Depersonalisation und die entfremdete Wahrnehmung der Realität als Derealisation.

Übertriebener Triebverzicht kann als Entfremdung von den eigenen körperlichen und
emotionalen Grundbedürfnissen Auslöser für eine psychische Störung sein.

Die zunehmende Entfremdung des Menschen von der Natur wird für eine Vielzahl von
psychischen Störungen verantwortlich gemacht, so zum Beispiel Depressionen und
Angststörungen (siehe auch: Natur-Defizit-Syndrom).
Gegenmaßnahmen
Manche Menschen führen ein einfaches Leben mit freiwilligem Verzicht, um die
verschiedenen Formen der Entfremdung in ihrem Lebensalltag zu minimieren. Die
philosophische und politische Strömung des Primitivismus sieht das einfache Leben als Ideal
für die gesamte Gesellschaft an, unter anderem deshalb, um den negativen Folgen weltweiter
Entfremdung entgegenzuwirken.

Kritik am theoretischen
Konstrukt der
„Entfremdung“
Begriff und Konzept der Entfremdung wurden vielfach kritisiert, in jüngerer Zeit etwa von Karl-
Heinz Ott, der argumentiert, dass der Begriff oft auf Geschichtsklitterung bzw. einer
Idealisierung und Romantisierung vergangener Zustände beruhe: „[...] in dem Moment, wo wir
einen Entfremdungsbegriff etablieren, nähren wir den Glauben, es gebe auf der einen Seite
das Echte, Gute und Gesunde, auf der andern das Falsche, Kranke und Dekadente. Man baut
sich ein Idealbild, an dem gemessen auch recht angenehme Verhältnisse verrottet aussehen.
Was passiert, wenn man das Idealbild mit Gewalt verwirklichen will, wissen wir spätestens
seit dem 20. Jahrhundert.“[5]

Literatur

Theodor W. Adorno, Max Horkheimer:


Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am
Main 2000.
Peter Ehlen, in: Philosophisches
Wörterbuch. Hrsg. Walter Brugger.
Freiburg im Breisgau 1976.
Arnold Gehlen: Zeitbilder. Frankfurt am
Main, Bonn 1965.
Arnold Gehlen: Über die Geburt der
Freiheit aus der Entfremdung.
Gesamtausgabe, Band 4. Frankfurt am
Main 1983.
André Gorz: Abschied vom Proletariat.
1980 (Ü. Heinz Abosch).
Christoph Henning: Theorien der
Entfremdung zur Einführung. Junius,
Hamburg 2015, ISBN 978-3-88506-704-
7.
Joachim Israel: Der Begriff
Entfremdung. Hamburg 1972.
Rahel Jaeggi: Entfremdung. Zur
Aktualität eines sozialphilosophischen
Problems. Mit einem neuen Vorwort
Berlin 2016 (zuerst Frankfurt am Main
2005).
Georg Lukács: Geschichte und
Klassenbewußtsein. Studien über
marxistische Dialektik. 8. Auflage.
Luchterhand, Darmstadt, Neuwied
1983.
Reinhard Maurer, in: Handbuch
philosophischer Grundbegriffe. Band I.
München 1973.
István Mészáros: Der
Entfremdungsbegriff bei Marx.
München 1973.
Metzler Literatur Lexikon: Begriffe und
Definitionen. Hrsg. Günther Schweikle,
Irmgard Schweikle. 2. überarb. Auflage.
Metzler, Stuttgart 1990.
Charles Wright Mills: White Collar-The
American Middleclasses. Oxford
University Press, London 1951.
Henning Ottmann, Hans Günther
Ulrich: Entfremdung I. Philosophisch II.
Theologisch-ethisch. In: Theologische
Realenzyklopädie. 9, 1982, S. 657–680.
Alfred Oppolzer: Entfremdung. In:
Historisch-kritisches Wörterbuch des
Marxismus. Band 3. Argument,
Hamburg, 1997, Sp. 460–469.
Hartmut Rosa: Beschleunigung und
Entfremdung. Suhrkamp, Frankfurt am
Main 2013.
Friedrich Tomberg: Der Begriff der
Entfremdung in den „Grundrissen“ von
Karl Marx. In: Friedrich Tomberg: Basis
und Überbau. Sozialphilosophische
Studien. Neuwied, Berlin 1969, S. 131–
181.
Achim Trebeß: Entfremdung und
Ästhetik. Stuttgart 2001.
Dieter Wolf: Zur unmittelbaren und
vermittelten Gesellschaftlichkeit der
Arbeit. In: Der dialektische Widerspruch
im Kapital. Ein Beitrag zur Marxschen
Werttheorie. Hamburg 2002, S. 436 ff
(PDF (http://dieterwolf.net/pdf/Entfre
mdung_Theunissen_Lange.pdf) )
Arpad A. Sölter: Moderne und
Kulturkritik. Jürgen Habermas und das
Erbe der Kritischen Theorie. Bouvier
Verlag Bonn 1996, ISBN 3-416-02545-
8. [Diss. Univ. Köln 1993.].
Jonas Wollenhaupt: Die Entfremdung
des Subjekts. Zur kritischen Theorie
des Subjekts nach Pierre Bourdieu und
Alfred Lorenzer. Transcript
[Sozialtheorie]. ISBN 978-3-8376-4552-
1 Bielefeld 2018.
Weblinks

Wiktionary: Entfremdung –
Bedeutungserklärungen, Wortherkunft,
Synonyme, Übersetzungen
David Leopold: Alienation. (https://plat
o.stanford.edu/entries/alienation/) In:
Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford
Encyclopedia of Philosophy, 2018.
Entfremdung – Gehöre ich noch
hierher? (http://www.sueddeutsche.de/
wissen/gemischte-gefuehle-entfremdun
g-gehoere-ich-noch-hierher-1.1035083) ,
Artikel von Christian Weber in der Serie
Gemischte Gefühle der Süddeutschen
Zeitung, 11. Dezember 2010
Ökonomie und Entfremdung (http://ww
w.haus-brannenburg.de/politische_oeko
nomie/oekonomie_und_entfremdung.ht
ml) , Übersichts-Artikel über
verschiedenen Arten der ökonomisch
bedingten Entfremdung, von Dolf
Schiesser, bei ver.di Bildungszentrum
Haus Brannenburg.
[1] (http://www.rote-ruhr-uni.com/cms/I
MG/pdf/Entfremdete_Arbeit.pdf) , Ingo
Elbe, Entfremdete und abstrakte Arbeit
– zu Karl Marx’ Konzept der
Entfremdung
Fußnoten

1. Artikel „Entfremdung“. In: Georg


Klaus, Manfred Buhr (Hrsg.):
Philosophisches Wörterbuch. 11.
Aufl., Leipzig 1975.
2. Artikel „Entfremdung“. In: Kosing, A.:
Marxistisches Wörterbuch der
Philosophie. -Verlag am Park, Berlin.-
2015
3. Wollenhaupt, Jonas: Die
Entfremdung des Subjekts : zur
kritischen Theorie des Subjekts nach
Pierre Bourdieu und Alfred Lorenzer.
Bielefeld 2018, ISBN 978-3-8376-
4552-1, S. 326.
4. Wollenhaupt, Jonas: Die
Entfremdung des Subjekts : zur
kritischen Theorie des Subjekts nach
Pierre Bourdieu und Alfred Lorenzer.
Transcript, Bielefeld 2018, ISBN 978-
3-8376-4552-1, S. 13–26.
5. Hölderlin nervt, oder? In: Die Zeit.
Nr. 13, 19. März 2020, S. 53
(Interview mit Karl-Heinz Ott).
6. Gernot Böhme: Anthropologie in
pragmatischer Hinsicht. 3. Auflage.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 1985,
ISBN 3-518-11301-1, S. 116.
7. Jens Marxen: Den Sinn des Lebens
spüren. Leibphilosophie und
Lebenskunst. 1. Auflage. Book on
Demand, 2022, ISBN 978-3-7568-
8822-1, S. 8, 153 f.
8. „Radikale Vergesellschaftung heißt
radikale Entfremdung.“
Adorno/Horkheimer 2000, S. 58.
9. 2001, S. 150
10. Zeitbilder, Frankfurt a. M., Bonn 1965,
S. 222f.

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„https://de.wikipedia.org/w/index.php?
title=Entfremdung&oldid=237189027“

Diese Seite wurde zuletzt am 10. September


2023 um 12:25 Uhr bearbeitet. •
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