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Eine ganz kommode Diktatur

SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 4. Mai 2023


Die ostdeutsche Historikerin Katja Hoyer verspricht "eine neue Geschichte der DDR". Leider ist es die alte
Erzählung, dass im SED-Staat nicht alles schlecht gewesen sei. Systemkritiker kommen gar nicht erst zu
Wort.
Rezension von Norbert F. Pötzl
Ein Buch, das im Untertitel "eine neue Geschichte der DDR" verspricht, weckt Erwartungen. Neugierig
macht, dass es sich bei der Autorin um eine 1985 in der DDR geborene, inzwischen in England lebende
Historikerin handelt, die womöglich mit einem frischen, weltoffenen Blick auf den untergegangenen SED-
Staat zurückschaut. Leider enttäuscht das Buch von Katja Hoyer auf der ganzen Linie.
Un livre , avec le sous titre qui promet„ une nouvelle histoire de l’RDA“ , suscite des attentes . Fait
curieux , l autrice née en 1985 en RDA , a vécu depuis en Angleterre , qui peut être même avec une vision
fraiche et ouverte sur l’effondrement de l’Etat du SED disparu . Malheureusement le livre de Katja Hoyer
déçois sur toute la ligne .
Die "neue Geschichte" entpuppt sich als die alte Erzählung von einer unter dem Strich ganz kommoden
Diktatur. Es zeigt eben nicht "alle Facetten dieses verschwundenen Landes", sondern bemüht sich
nachzuweisen, dass nicht alles schlecht war in der DDR. "Das Leben war im Grunde recht angenehm",
resümiert die Autorin. Für die Tochter eines Offiziers der Nationalen Volksarmee und einer Lehrerin mag es
sich nach den Erzählungen der Eltern so anfühlen. Wer indes von der Staatsmacht schikaniert, bespitzelt,
gar inhaftiert wurde, wer seinen Beruf nicht frei wählen durfte, freie Meinungsäußerung und freie Wahlen
vermisste, erinnert sich anders.
La „nouvelle histoire“ se révèle être finalement un vieux récit d’une dictature commode . Il ne montre
pas « toute les facettes de ce pays disparu » , mais s’efforce plutôt a prouver que tout n’était pas mauvais
en RDA . « la vie était fondamentalement acceptable » à résumé l autrice . Pour la fille d un officier de l
armé nationale du peuple et une professeure aime bien les enseignements de ses parents . Qui dans l’état
chicané , espionnés, voire emprisonnés, qui n'ont pas pu choisir librement leur profession, qui ont
manqué de liberté d'expression et d'élections libres, se souviennent différemment.

Egon Krenz und Frank Schöbel als Kronzeugen


Einen dubiosen Kronzeugen für ihre DDR-Darstellung benennt Hoyer schon im Vorwort. Sie beruft sich
ausgerechnet auf den notorischen Geschichtsklitterer Egon Krenz, den letzten SED-Generalsekretär, der bis
heute die DDR als bessere Alternative zur alten Bundesrepublik schönfärbt. Als zweiten Gewährsmann führt
Hoyer den DDR-Schlagersänger Frank Schöbel an, der als privilegierter Promi an der DDR natürlich nichts
auszusetzen findet. Im Übrigen basiert das Buch vor allem auf einem Dutzend von Katja Hoyer selbst
geführter Interviews mit ehemaligen DDR-Bürgern sowie auf Auszügen aus Internet-Zeitzeugenportalen und
anderswo veröffentlichten persönlichen Erinnerungen. Das könnte ein interessanter Ansatz sein, Geschichte
von unten zu erzählen. Aber die Autorin lässt nur Menschen zu Wort kommen, "die den Staat funktionieren
ließen". Systemkritiker haben in dieser Erzählung keine Stimme.
Hoyer macht es sich einfach: "Geschichte wird von Siegern geschrieben", konstatiert sie, "auch die der
DDR." Weil "der Westen" die Deutungshoheit über vierzig Jahre ostdeutschen Sozialismus gewonnen habe,
biegt sie sich die Geschichte der DDR nach ihrem Gusto zurecht.

Die Stalin-Note als reelles Angebot?


Die Militarisierung der DDR-Gesellschaft beschreibt Hoyer als Reaktion auf westdeutsche Aufrüstung. Sie
unterschlägt, dass Stalin seine ostdeutschen Vasallen schon 1952 instruierte, die DDR müsse eine
"Volksarmee schaffen" - worauf prompt die "Kasernierte Volkspolizei" gegründet wurde, drei Jahre vor der
Bundeswehr. Hoyer insinuiert, die DDR-Führer hätten "ihren Staat ... gegen den Westen verteidigen
müssen", als ob jederzeit ein bewaffneter Angriff hätte erfolgen können. Die DDR sei "permanent in
Alarmbereitschaft" gewesen, die "teilweise berechtigt" gewesen sei, behauptet sie. Welch ein Unfug!
Stalins Angebot vom März 1952, eine neutrale gesamtdeutsche Regierung zu bilden, sei eine reelle Chance
für eine frühere deutsche Wiedervereinigung gewesen, will Hoyer glauben machen. Der Westen habe den
Vorschlag "damit abgetan, dass man versuchte, Stalin als die unredliche Partei darzustellen". Hoyer
verschweigt, dass Stalin selbst den Propaganda-Bluff eingeräumt hat, um die Integration der Bundesrepublik
in die westliche Staatengemeinschaft zu verhindern. Dass der Volksaufstand am 17. Juni 1953 "von der
Frustration über Arbeitsbelastung und Bezahlung" getragen wurde, kann auch Hoyer nicht leugnen. Aber er
sei "vom Westen gefördert" worden, um in der DDR "weitere Unruhe zu schüren".
So geht die SED-Lesart in einem fort. Der ökonomische Misserfolg der DDR lag, wenn man Hoyer glaubt,
weniger an der ineffektiven Planwirtschaft, sondern vor allem an der westdeutschen Hallstein-Doktrin: Nur
wenige Länder hätten es vor 1972 gewagt, die DDR als souveränen Staat anzuerkennen. "Die Folge:
Produkte wie Kaffee, Seife oder Schokolade blieben schwer zu bekommen" - als ob das die einzigen
wirtschaftlichen Probleme der DDR gewesen wären.
Hoyer preist den "Antifaschismus als Gründungsdogma" der DDR. In Wirklichkeit hatten viele
Spitzenpolitiker, Mediengrößen und Angestellte im öffentlichen Dienst eine Nazivergangenheit. 1954
beispielsweise waren 27 Prozent aller SED-Mitglieder einst in der Hitler-Partei und deren Gliederungen
gewesen. Und 32 Prozent aller damaligen Staatsbediensteten gehörten früher einmal nationalsozialistischen
Organisationen an. Die DDR schuf sogar eine eigene Partei, die Nationaldemokratische Partei, als
Auffangbecken für ehemalige NSDAP-Mitglieder und -Funktionäre.

Frauen litten oft unter einer Mehrfachbelastung


Auch den Mythos von der Gleichberechtigung der Geschlechter in der DDR pflegt Hoyer. Tatsächlich wurden
Frauen wegen Arbeitskräftemangel in die sozialistische Arbeitswelt integriert, stiegen aber selten auf und
verdienten durchschnittlich 30 Prozent weniger als Männer. Ihr Leben war oft eine Mehrfachbelastung:
Arbeit, Haushalt, Kinder - zumal in den Familien die traditionelle patriarchalische Rollenverteilung herrschte.
Ostdeutsche Autorinnen wie Anna Kaminsky und Freya Klier haben die Emanzipationslegende
längst widerlegt.
Die Beschäftigung von ausländischen "Vertragsarbeitern", zuletzt waren es etwa 90 000, preist Hoyer als Akt
sozialistischer Solidarität und altruistischer Entwicklungshilfe. Die Realität sah anders aus: Die
Vertragsarbeiter waren moderne Sklaven. Die DDR lockte sie mit falschen Versprechen, etwa beruflichen
Qualifizierungen oder Hochschulstudien, und nutzte sie als billige Arbeitskräfte aus. Sie lebten in Ghettos,
abgeschirmt von den DDR-Bürgern. Wer gegen das Kontaktverbot verstieß, gar eine Liebesbeziehung
einging, konnte in sein Heimatland zurückgeschickt werden. Das alles ist durch Studien belegt, aber Hoyer
behauptet unverdrossen, die Ausländer seien "weder aufgrund schierer wirtschaftlicher Notwendigkeit ins
Land geholt" worden noch seien sie "aus zynischen oder gar fremdenfeindlichen Gründen weitgehend
isoliert" gewesen, "wie man gelegentlich behauptet".
Das gemeinsame Positionspapier von SPD und SED ("Der Streit der Ideologien und die gemeinsame
Sicherheit") aus dem Jahr 1987 interpretiert Hoyer ganz im Sinne ihres Mentors Krenz. Sie feiert die
außenpolitischen Aussagen ("Politik der gemeinsamen Friedenssicherung"), unterschlägt aber, dass die SED
die öffentliche Diskussion über das Papier alsbald unterband, weil sich DDR-Bürger auf die darin enthaltene
Passage über "freie Information und offene Diskussion innerhalb jedes Systems" berufen konnten.

Schikanen, Schießbefehl - kommt alles nicht vor


Schikanen gegen bekennende Christen, staatlich praktizierter Antisemitismus, Mielkes Blockwartsystem und
Honeckers Schießbefehl - all das findet in dem Buch nicht statt. An ihrem Feindbild, dem bösen Westen, hält
Hoyer auch über das Ende der DDR hinaus fest. Mit nachweislich falschen Zahlen über abgewickelte
Unternehmen und verlorene Arbeitsplätze - wie vieles im Buch ohne Quellenangabe - betreibt sie das
gängige Treuhand-Bashing, als sei diese Institution und nicht die verfehlte Wirtschaftspolitik der SED am
Niedergang der ostdeutschen Industrie schuld gewesen.
Hoyer empfiehlt letztlich, "die deutsche Obsession der Vergangenheitsbewältigung abzuschütteln". Für eine
Historikerin ist dies eine erstaunlich geschichtsvergessene Auffassung. Das Gegenteil wäre wünschenswert:
dass die Ostdeutschen nicht aus ihrem Gedächtnis verdrängen, was das Regime verbrochen hat. Dies ist
kein unbilliges westdeutsches Ansinnen, sondern Freya Kliers "elftes Gebot: Du sollst dich erinnern!"
Norbert F. Pötzl hat unter anderem Biografien über Erich Honecker und Wolfgang Vogel sowie das Buch "Der
Treuhand-Komplex" verfasst.

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