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Ludwig Summer Der Unternehmensethische Begriff Der "Verantwortung"
Ludwig Summer Der Unternehmensethische Begriff Der "Verantwortung"
Der unternehmens-
ethische Begriff der
" Verantwortung ll
Summer, Ludwig:
Der unternehmensethische Begriff der "Verantwortung" : eine Grundlegung im AnschluB
an Jonas, Kant und Habermas / Ludwig Summer. Mit einem Geleitw. von Karl Homann.
- Wiesbaden : DUV, Dt. Univ.-Verl., 1998
(DUV : Wirtschahswissenschah)
Zugl.: EichstăII, Kath. Univ., Diss., 1997
ISBN 978-3-8244-0387-5
hllp://www.duv.de
Die vorliegende Arbeit geht davon aus, daß die Entscheidungsträger in der
Wirtschaft nicht nur Managementtechniken kennen und anwenden müssen,
sondern über ein "Orientierungswissen" verfügen sollten, das aus der philo-
sophischen Reflexion und Grundlagenforschung stammt.
Meinen persönlichen Dank darf ich an dieser Stelle meinem verehrten Dok-
torvater, Herrn Professor Dr. Dr. Karl HOMANN ausdrücken. Er hat mich als
externen Doktoranden stets wohlwollend begleitet und Verständnis für meine
berufliche Beanspruchung gezeigt; seine Anregungen haben zum Gelingen
der Arbeit entscheidend beigetragen.
XII Vorwort
Ganz besonders danke ich meinem Bruder Helmut, der mich auch in Phasen
großer Belastung ermuntert hat, die Bemühungen fortzusetzen. Mit Dankbar-
keit denke ich auch an jene Menschen, die mir mit Ihrem Wohlwollen sowohl
Orientierung als auch Hilfe gaben. Dies gilt vor allem für meine Großeltern
Matthias und Barbara Obermaier sowie für meine Eltern Ludwig und Barbara
Summer.
Meiner verstorbenen Mutter gilt jedoch mein besonderer Dank. Ihr mächte
ich diese Arbeit zu ihrem Andenken widmen.
Ludwig Summer
Inhalt
I.
Einleitung
l. Ökonomie und Ethik
als zwei Aspekte des Handeins von Unternehmen 1
2. Das Unternehmenshandeln zwischen
Gewinnprinzip und moralischer Verpflichtung 4
3. Die Bestimmung von Verantwortung
als Problem der Unternehmensethik 7
11.
Grundlagen:
Ethik und Unternehmensethik
l. Unternehmensethik als Ethik des
»Menschen im Unternehmen« 13
2. Technisch-rationales und praktisch-rationales
Handeln im Unternehmen 18
3. Der Zusammenhang des Verantwortungsbegriffs
mit den Konstituentien einer Unternehmensethik 29
4. Das Problem der spezifisch unternehmensethischen
Individualität der Verantwortung 32
111.
Ethische Verantwortlichkeit als subjektive Seite
einer ontologischen Wertlehre:
Hans JONAS
l. Ethik als Antwort auf die Herausforderungen
der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation 43
2. Die Bedrohung des Wesens des Menschen und die
Notwendigkeit einer Fundierung der Ethik durch
eine metaphysische Lehre von der Subjektivität 47
3. Die Werthaftigkeit des Seins als objektive
Grundlage ethischer Verantwortung 56
4. Kritische Anmerkungen zu dem Versuch einer
ontologischen Fundierung ethischer Verantwortlichkeit 59
5. Die Phänomenologie der Verantwortung
als subjektive Seite der JONAS'schen Ethik 61
6. Der Gehalt der ethischen Verantwortlichkeit
nach der JONAS'schen Ethikkonzeption 64
XIV Inhalt
IV.
Ethische Verantwortlichkeit auf der Grundlage
von Selbstbestimmung und Freiheit:
Immanuel KANT
1. Das Problem der Bestimmung eines guten Willens
als Ausgangsfrage der KANTischen Ethik 67
2. Der kategorische Imperativ als Ausdruck einer
»unbedingten« Bestimmung des Willens 72
3. Der kategorische Imperativ und der
Mensch als Zweck an sich selbst 75
4. Ethische Verantwortlichkeit als Achtung für die
Personalität anderer Menschen 81
5. Ethische Verantwortlichkeit als Achtung vor der
Autonomie und Freiheit anderer Menschen 86
5.1 Der Zusammenhang von Freiheit und Moralität 86
5.2 Das Recht als ethisch geforderte Achtung
der äußeren Freiheit anderer Menschen 91
5.3 Das Recht als Verwirklichung der ethischen Verantwortlichkeit
als Achtung vor der Freiheit anderer Personen 95
6. Zur praktischen Bedeutung der KANTischen Konzeption
ethischer Verantwortlichkeit 98
6.1 Von der »Innerlichkeit« des guten Willens
zur Anerkennung fremder Autonomie 98
6.2 Personalität und Privatheit. Das Universalisierungsprinzip
und KANTs Begriff ethischer Verantwortlichkeit 101
6.3 Der Horizont der ethischen Verantwortlichkeit 104
6.4 Der Inhalt ethischer Verantwortlichkeit 107
V.
Der Diskurs als Begründung und Form
ethischer Verantwortlichkeit:
Jürgen HABERMAS
1. Die Diskurstheorie der Wahrheit
und der ethischen Richtigkeit 111
2. Diskurstheorie und Konsenstheorie 115
3. Die Reduzierung des Anspruchs der Diskurstheorie:
Kompetenz und Vernünftigkeit als Ersatz
für die Universalität freier Zustimmung . 118
Inhalt xv
4. Die Logik des Diskurses 122
5. Der Diskurs und die ideale Sprechsituation 125
6. Die ideale Sprechsituation als Rekonstruktion der
Diskurstheorie auf niedrigerem Begründungsniveau 129
7. Die Begründung der Diskurstheorie aus der
Entwicklung zur sozio-kulturellen Lebensform 132
8. Das Prinzip Verantwortung
in der Diskursethik von HABERMAS 137
9. Die Konzeption einer ethischen
Verantwortlichkeit bei KANT und HABERMAS 139
VI.
Möglichkeiten und Grenzen des
Verantwortungsprinzips für die Unternehmensethik
1. Die Grenzen der Verantwortung in der Freiheit des anderen 147
2. Verantwortlichkeit als
universalisierte Handlungsorientierung 153
3. Verantwortlichkeit als Orientierung an der
Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit von Personen 158
4. Verantwortlichkeit und Universalisierbarkeit:
Fallbeispiele 163
5. Das Prinzip der Marktwirtschaft als Prinzip mittlerer
Reichweite für verantwortbare Unternehmensentscheidungen 170
6. Marktwirtschaft und Unternehmensethik 175
VII.
Zusammenfassung 181
VIII.
Literaturverzeichnis 187
I.
Einleitung
1.
Ökonomie und Ethik
als zwei Aspekte des HandeIns von Unternehmen
1 Vgl. zur Ausdifferenzierung der Wirtschaft als Grundlage der Entstehung einer
genuin unternehmensethischen Problematik K. HOMANN / F. BLOME-DREES, Wirt-
schafts- und Untemehmensethik, Göttingen 1992, S. 10 ff.
2 Darüber hinaus wurde die Frage diskutiert, ob ethisch bestimmtes Handeln überhaupt
als solches verstanden und angemessen beschrieben werden kann, ohne daß der
Wissenschaftler selbst in ethische Diskussionen eintreten muß. Man könnte unter Um-
1. Ökonomie und Ethik' zwei Aspekte des Handeins von Unternehmen 3
ständen die Position vertreten, daß jene vernunftgesteuerten Überlegungen, die einer
genuin ethische~. Handlung zugrunde liegen, nur in einer selbst vernünftigen Diskus-
sion mit diesen Uberlegungen wissenschaftlich zugänglich sind.
3 Als Überblick über die unternehmens ethische Diskussion des letzten Jahrzehnts vgl.
K. HOMANN / F. BLOME-DREES, Unternehmensethik - Managementethik, in: Die Be-
triebswirtschaft 55/1995, S. 95 - 114.
4 K. HOMANN / F. BLOME-DREES, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen
1992, S. 14.
4 1. Einleitung
2.
Das Unternehmenshandeln zwischen
Gewinnprinzip und moralischer Verpflichtung
5 Vgl. E. GÖBEL, Wirtschaftsethik. Die verschiedenen Ansätze und der zwischen ihnen
bestehende Zusammenhang, in: Das Wirtschaftsstudium 1992, Heft 6, S. 285 - 290.
6 Der Ausdruck bei K. HOMANN / A. SUCHANEK, " Wirtschaftsethik - Angewandte Ethik
oder Beitrag zur Grundlagendiskussion?", in: B. BIERVERT / M. HELD (Hrsg.), Öko-
nomische Theorie und Ethik, Frankfurt 1987, S. 101 - 12l.
7 Vgl. K. HOMANN / F. BLOME-DREES, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen
1992, S. 186 ff.
2. Unternehmenshandeln • Gewinnprinzip • moralische Verpflichtung 5
Die erste dieser bei denPositionen geht davon aus, daß die Ethik ein in sich
abgeschlossenes Gebiet der praktischen Vernunft darstellt, dessen Ergebnisse
als ethisch begründete Forderungen auf alle Lebens- und Handlungsbereiche
angewendet werden können und müssen. Die Schwierigkeit ergibt sich hier
offensichtlich aus der Erfahrungstatsache, daß im Wirtschaftsleben manche
Forderungen der allgemeinen Ethik nur eingeschränkt gelten können, wenn
nicht das wirtschaftliche Handeln als solches in Frage gestellt werden soll.
Dies läßt sich an ganz einfachen Beispielen verdeutlichen. So würde der
Bankier, der versuchen würde, dem christlichen Gebot zu folgen, "Wer dich
bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab" 10, oder etwa
der Mahnung folgen wollte "Sammelt euch nicht Schätze hier auf der
Erde" 11, nicht nur ökonomische Grundsätze außer Acht lassen, sondern in
den Augen seiner Mitmenschen wohl auch den Regeln der Geschäftsethik
und der Moral zuwiderhandeln.
Konflikte dieser Art sind nur solange traktabel, als sie als Ausdruck verschie-
dener für sich geltender ethischer Grundsätze verstanden werden können, die
in jedem Einzelfall in eine Hierarchie gebracht werden können, so daß ein
übergeordneter Grundsatz den untergeordneten einschränkt. Das Problem
stellt sichjedoch in einer radikaleren Form, wenn nicht zwei ethische Grund-
sätze im Widerstreit miteinander stehen, sondern auf der einen Seite das
technisch-rationale Gewinnprinzip steht und auf der anderen Seite eine
ethische Forderung. Daraus kann der Schluß gezogen werden, daß eine Ethik,
die Maßstäbe für Unternehmensentscheidungen zur Verfügung stellen soll,
gerade mit diesem Dilemma wird umgehen müssen.
Die zweite der hier grob skizzierten Positionen steht dagegen in der Gefahr,
das in Konflikt mit der allgemeinen Ethik geratende Prinzip des Wirtschaf-
tens, d. h. das Gewinnprinzip, zugunsten eines ethisch zu regelnden Verhält-
nisses zwischen den am Wirtschaftsprozeß direkt oder indirekt beteiligten
Personen zu vernachlässigen. Damit würde die allgemeine Ethik in ihrer
unternehmensspezifischen Ausprägung an die Stelle des Gewinnprinzips und
seiner technisch-ökonomischen Rationalität treten. Eine solche Position kann
sicherlich sehr viele Argumente aus der empirischen Unternehmensfor-
schung anführen, die für eine gegenüber der Gewinnmaximierungsforderung
grundlegend veränderte Entscheidungs- und Verhaltensweise der modernen
Großunternehmung sprechen. Andererseits muß man aus diesen Befunden
nicht den Schluß ziehen, daß das Gewinnprinzip in diesem Bereich der
Wirtschaft keine Bedeutung mehr hat. Es kann auch dann noch seine bedeut-
samen Funktionen haben, wenn es in der Wirklichkeit nicht die einzige
Entscheidungsdeterminante ist. Auch dann stellt es noch einen Orientierungs-
maßstab und ein regulatorisches Prinzip dar, ohne die das wirtschaftliche
Geschehen wahrscheinlich anders ablaufen würde, als es tatsächlich der Fall
ist. Daraus ergibt sich die Forderung, daß eine Ethik unternehmerischen
Entscheidungsverhaltens das Gewinnmotiv als wirtschaftliches Prinzip, das
zur Berücksichtigung von technisch-ökonomischen Determinanten auch bei
ethisch relevanten Problembereichen zwingt, nicht einfach ausklammern
darf.
3.
Die Bestimmung von Verantwortung
als Problem der Unternehmens ethik
Daraus ergibt sich die schwierige Frage, wie die Verantwortlichkeit, die
offenbar einen, wenn nicht den Grundbegriff der Ethik darstellt, so »opera-
tionalisiert« werden kann, daß daraus ein Begriff wird, der für die Entschei-
dungen wirtschaftlicher Akteure von Bedeutung sein kann. Zunächst könnte
von einer Verantwortung der Entscheidungsträger in den Unternehmen ge-
genüber all den Personen und Personengruppen gesprochen werden, die von
den Unternehmensentscheidungen in relevantem Ausmaß betroffen werden.
Hier könnte verlangt werden, in einem unter Umständen sehr langwierigen
und konfliktträchtigen Prozeß dialogischer Vernunft zu begründbaren Kom-
promißlösungen zu gelangen.
Problematisch wird ein solches Verfahren jedoch dann, wenn die Vorstellun-
gen der Konfliktteilnehmer über die Kriterien eines vernünftig begründeten
Ergebnisses nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, insbesondere dann,
wenn Differenzen über die Legitimation von Interessen bestehen. Auch in
einer solchen kommunikativen Unternehmensethik bleibt deshalb ein für das
Zustandekommen befriedigender Lösungen entscheidender Rest monologi-
scher Ethik notwendig, sei es in Form einer expliziten "corporate ethics" oder
in der Form der ethischen Überzeugungen der Entscheidungsträger, also der
"managerial ethics".
In gewissem Sinne liegt das Ethische in solchen dialogischen und kommuni-
kativen Verfahren der unternehmerischen Entscheidungsfindung in Konflikt-
situationen hauptsächlich in der Anwendung solcher Verfahren selbst. Schon
die Implementierung solcher dialogischer Verfahren für Situationen, in denen
das Gewinnprinzip mit ethisch begründeten Forderungen in Konflikt gerät,
beweist ja, daß solchen Forderungen eine eigenständige Begründung zuge-
billigt wird, die das Gewinnprinzip unter Umständen einschränken darf.
Nichtsdestoweniger ergibt sich daraus die Notwendigkeit, den unterneh-
mensethischen Grundbegriff der Verantwortung mit Hilfe einer näheren
Qualifizierung der Allgemeinheit, in der von Wirtschaftsunternehmen Ver-
antwortung zu tragen ist, zu präzisieren. Hier könnte die Unternehmensethik
versuchen, in der philosophischen Tradition bei solchen Ethikkonzeptionen
Auskunft zu suchen, die den Begriff der Verallgemeinerbarkeit zum Zentrum
ihrer Begründungsversuche genommen haben. Solche Positionen sind vor
allem von KANT und von an KANT anschließenden Denkern entwickelt
worden.
Nach KANT ist die Verallgemeinerbarkeit geradezu das Kriterium für eine
ethische Handlung, die eine qualifizierte Verantwortlichkeit für andere Per-
sonen realisiert. Mit der Prüfung auf Verallgemeinerbarkeit entscheidet sich
dieser Position zufolge, ob in einer bestimmten Handlung sich Verantwor-
tung für andere Menschen als Personen, das heißt als freie und selbstbestim-
mungsfähige Wesen dokumentiert. Für die Unternehmensethik ergäbe sich
daraus zunächst ganz unmittelbar die Verpflichtung, die Interessen anderer
Menschen als Personen mit eigener Freiheit und eigenen Rechten anzuerken-
3. Bestimmung von Verantwortung· Problem der Unternehmensethik 11
1.
Unternehmensethik als Ethik des
»Menschen im Unternehmen«
Ein zweites Verständnis dieses Begriffes könnte zwar nicht der Existenz von
arbeitsteiligen Wirtschaftseinheiten einen Einfluß auf jede ethische Position
zuschreiben, aber doch verlangen, daß jede Ethik nicht nur das Verhalten von
Individuen normieren soll, sondern als ethische Akteure auch eben diese
ökonomischen Einheiten in die Ausarbeitung ethischer Gedankengänge ein-
beziehen muß. Auch nach diesem Verständnis wäre Unternehmensethik also
keineswegs als Spezialethik zu behandeln, sondern würde die Ethik generell
beeinflussen, indem alle Ethik ihre Normen so gestalten müßte, daß sie nicht
nur für Individuen gelten, sondern prinzipiell auch für die transpersonalen
Einheiten, die auf der Entwicklungsstufe der Vergesellschaftung die arbeits-
teilige Wirtschaft bilden. Eine solche Auffassung würde den Begriff einer
Individualethik also insofern korrigieren, als eine solche Ethik als Individuen
nicht nur personal strukturierte Einheiten, sondern auch interpersonal struk-
turierte Personenverbände als ethische Akteure berücksichtigen müßte.
Entscheidend ist daran jedoch, daß die Berücksichtigung solcher Personen-
verbände nicht nur ein Appendix zu einer im Wesen doch individualistisch
strukturierten Ethik darstellen könnte, sondern die Auffassung von ökono-
misch ausgerichteten Personenverbänden als ethischer Akteure müßte kon-
stitutiv ebenso in die Grundlagen einer jeden Ethik eingehen wie auch in die
Ausarbeitung ihrer konkreten Bestimmungen über das richtige Handeln. Jede
Ethik wäre in diesem Sinne eine Unternehmensethik, weil die Existenz von
Unternehmen konstitutiv in die Bedingungen der Möglichkeit der Ethik selbst
eingeht. Auch dieses Verständnis gibt noch eine sehr weite Umschreibung
dessen, was unter Unternehmensethik zu verstehen ist.
Eine dritte Möglichkeit, den Begriff »Ethik des Unternehmens« zu verstehen,
ergibt sich jedoch auf der Grundlage der Beibehaltung eines prinzipiell
individualistischen Ansatzes in der Ethik, der lediglich um die Bedingungen
erweitert wird, die sich aus dem Handeln von Individuen in Organisationen,
speziell in den Organisationen einer arbeitsteiligen Wirtschaftsweise, erge-
ben. Auch hier geht die Existenz von Unternehmen jedoch in gewisser Weise
konstitutiv in die Grundlagen der Ethik als solcher ein, allerdings in einer
stärker vermittelten Gestalt als in der zweiten Verständnismöglichkeit2o .
Das Unternehmen erscheint im ersten Fall also als Entität in der Welt, deren
Existenz eine konstitutive Funktion für ethische Normierungen besitzt, im
zweiten Fall wird es als ethisch relevant agierender Personenverband für die
Ethik grundlegend, während es im dritten Fall eine wesenhafte Bestimmung
für das individuell agierende ethische Subjekt darstellt, die dessen ethische
Normierungen nicht unbeeinflußt lassen kann. Die Frage ist hier also, was
sich aus der Tatsache, daß der Mensch in Unternehmen handelt, für seine
ethische Verpflichtetheit ergibt. Im Unterschied zu einer Auffassung von
Unternehmens ethik als Anwendungsfall der allgemeinen Ethik wird also
nicht gefragt, wie der Mensch, dessen ethische Handlungsorientierungen
bekannt sind, dann zu handeln hat, wenn er in Unternehmen handelt, sondern
es stellt sich die weit grundlegendere Frage, wie die ethischen Handlungs-
orientierungen eines Menschen aussehen, zu dessen Wesen es gehört, in
Unternehmen zu handeln. Die Bestimmung »Handeln in Unternehmen« kann
dabei von den ersten Anfängen einer arbeitsteiligen Wirtschaft in ökono-
misch orientierten Personenverbänden bis hin zu den hoch spezialisierten und
in vielen ausdifferenzierten Funktionen arbeitenden Großunternehmen rei-
chen, wie wir sie heute als prägende Form der existenzerhaltenden Ausein-
andersetzung des Menschen mit der äußeren Natur kennen.
18 Ir. Grundlagen' Ethik und Unternehmensethik
Die Frage lautet dann, ob es ethische Bestimmungen gibt, die sich aus der
Existenz von Unternehmen als ethischer Akteure ergeben, also von Perso-
nenverbänden, die unter ökonomischer Perspektive im Zusammenhang der
arbeitsteiligen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt han-
deln, oder ob ethische Bestimmungen im Unternehmensbereich sich nur
daraus ergeben, daß Individuen in solchen Personenverbänden agieren, so
daß die ethische Qualität aus dem ökonomischen Handeln nur Individuen
zukommt, die durch die Bedingungen dieses Handeins in spezifischer Weise
modifiziert agieren und sich daraus ethische Grundlagen ergeben, die aus
diesen Modifikationen begründbar werden.
2.
Technisch-rationales und praktisch-rationales
Handeln im Unternehmen
diskutiert, sondern über den Einsatz eines als moralisch richtig beurteilten
Erscheinungsbildes für Zwecke der vorgegebenen Zielerreichung. Es wird
der Tatsache Rechnung getragen, daß Kaufentscheidungen in immer größe-
ren Marktsegmenten heute auch von moralisch qualifizierten Urteilen der
Verbraucher über das Produkt und den Hersteller bestimmt werden. Unter
dieser Perspektive wird Unternehmensethik jedoch selbst instrumentalisiert
zu einem Mittel der Verkaufsförderung, das im weitesten Sinne den Public
Relations zuzuordnen ist. Die Vermittlung eines von den relevanten Nach-
fragergruppen als ethisch richtig beurteilten Erscheinungsbildes ist Teil des
Marketing und damit Teil eines modernen technisch-rationalen und an Ef-
fektivitätskriterien orientierten Handeins.
sollen solche Bestimmungen aus der Tatsache abgeleitet werden, daß der
Mensch als Mensch im Unternehmen handelt. In beiden Verständnisweisen
geht es also nicht darum, ethische Qualifikationen aus dem Markterfolg durch
ein von den relevanten Nachfragergruppen als moralisch positiv beurteiltes
Erscheinungsbild des Unternehmens abzuleiten. Beide Verständnisweisen
von Unternehmensethik widersprechen also einem technisch-rationalen Ver-
ständnis von Ethik, das sie nur als Mittel für vorgegebene Zwecke ansieht,
bzw. nicht ethisches Handeln selbst als relevant ansieht, sondern nur die
entsprechende Wahrnehmung von Unternehmenshandlungen als moralisch
positiv zu bewertend bei relevanten Nachfragergruppen.
Nun kann die Auszeichnung von Unternehmen bzw. des Handelns in Unter-
nehmen jedoch gerade darin gesehen werden, daß eine im Vergleich zu
einfacheren Formen der Subsistenzwirtschaft effektivere Form der Ausein-
22 H. Grundlagen· Ethik und Unternehmensethik
Auf dieser Grundlage läßt sich auch eine Schwierigkeit auflösen, die sich
jeder Konzeption stellt, die Unternehmen eine ethische Qualität in ihren
Handlungsorientierungen zumutet. Nach der klassischen Wirtschaftstheorie
sind Unternehmen ausschließlich als Agenten der Durchsetzung ökonomi-
scher Rationalität aufzufassen, die definiert ist als optimale Allokation von
Ressourcen in einer Volkswirtschaft. Sie sind solche Agenten aber nur, wenn
sie ausschließlich technisch-rational orientiert handeln, d. h. Profitmaximie-
rung betreiben unter Bedingungen einer Situation vollständiger Konkurrenz,
die dazu führen, daß alle Marktteilnehmer eliminiert werden, die nicht auf
den höchsten Standards der Effektivität produzieren. Zu diesen Standards
können nun unter bestimmten Bedingungen auch moralische Normen gehö-
ren - wenn die relevanten Nachfrager ihre Entscheidungen auch unter diesen
Perspektiven treffen, also solche Produkte und Unternehmen bevorzugen, die
ihren moralischen Vorstellungen besser entsprechen als andere. In diesem
Sinne können moralische Urteile auch unter den Bedingungen einer im
klassischen Sinne optimalen Ressourcenallokation Bedeutung für das effek-
tive Unternehmenshandeln besitzen. Es wurde jedoch bereits ausgeführt, daß
es sich dabei um eine instrumentalistische Auffassung von Ethik und im
speziellen von Unternehmensethik handelt, die nicht geeignet ist, zur Fun-
dierung einer Unternehmensethik als einer spezifischen Ethik beizutragen.
größeren Markterfolg einzusetzen sind, entfernt sich vom Prinzip der Profit-
maximierung und damit von seiner Rolle als Agent einer optimalen Ressour-
cenallokation. Eine solche Auffassung kommt dann zum Tragen, wenn
anerkannt wird, daß Unternehmen nicht in einem vollkommenen Markt
agieren, sondern Handlungsspielräume besitzen, die sie gegen die Automatik
der Marktkräfte wenigstens teilweise immun machen. Das Unternehmen
erscheint dann im Extremfall als eine soziale Organisation, die eine Leistung
zu erbringen hat, für die sie von gesellschaftlichen Institutionen in die Pflicht
genommen werden kann. Damit aber ist die klassische Konzeption radikal
aufgegeben.
Hier kann mit den Fakten argumentert werden, die unter Hinweis auf die reale
Situation auf den meisten Märkten Evidenz erhalten können. Die Konsequenz
ist jedoch, daß die Unternehmen ihre Rolle als Agenten einer optimalen
Ressourcenallokation einbüßen und dafür gesellschaftlich in die Pflicht ge-
nommen werden müssen. Darin mag eine Motivation für die zunehmenden
ethischen Anforderungen an Unternehmen liegen. Wenn das profitmaximie-
rende Verhalten von Unternehmen nicht mehr apriori als allokationsoptimie-
rend gelten kann, so müssen an die Stelle dieser Verhaltensdetermination
andere Regulationen treten, unter denen eine ethische Qualifikation und
Bewertung des Unternehmenshandelns in der Gegenwart eine herausragende
Stellung einnimmt. Unternehmensethik erscheint unter dieser Perspektive als
Substitut für die Rationalität des Marktes, der als nicht mehr funktionsfähig
angesehen wird, so daß Unternehmen, die primär am Markterfolg orientiert
sind, nicht mehr auf der Grundlage der Ratio einer optimalen Ressourcenal-
lokation als handlungsfähig angesehen werden.
sondern als konstitutive Auszeichnungen, die als solche eine eigene Disziplin
einer Unternehmensethik rechtfertigen. Dies gilt ebenso für das Verständnis
von Unternehmensethik als Normierungssystem, das aus der Existenz von
Unternehmen als ethischer Akteure selbst abgeleitet werden kann, als auch
für das Verständnis von Unternehmensethik als eines Regelsystems, das sich
auf das Verhalten von Individuen bezieht, wie es durch deren Integration in
Unternehmen bestimmt wird.
Zum anderen aber ist Effektivität in besonderem Maße mit einer bestimmten
Form der Unternehmenswirtschaft verbunden. Im Grunde kann auch nur hier
von einer vollen Ausschöpfung der Effektivitätsfortschritte durch Arbeitstei-
lung gesprochen werden. Die Rede ist von der Konkurrenz zwischen den
arbeitsteiligen Wirtschaftseinheiten, die als Unternehmen eine so wichtige
Position in der kulturellen Entwicklung der Menschheit eingenommen haben.
Damit stehen Effektivität und Marktwirtschaft aber in einem engen Zusam-
menhang, da Konkurrenz das Prinzip eines freien Wettbewerbs auf Güter-
und Faktorenmärkten beinhaltet.
28 11. Grundlagen· Ethik und Unternehmensethik
Daraus aber ergibt sich eine weitere wichtige Folgerung für die konstitutiven
Grundlagen einer Unternehmensethik, die ihre Unterscheidung von einer
allgemeinen Ethik gerade aus den spezifischen Eigentümlichkeiten der Or-
ganisationsform ableitet, für die sie ethische Handlungsorientierungen aus-
arbeiten soll. Von Unternehmensethik kann nur dann gesprochen werden,
wenn das Unternehmen als Akteur auftritt, der zu freien Handlungen ermäch-
tigt ist, die und deren Folgen ihm zugeschrieben werden können. Dies gilt
sowohl für ein Verständnis von Unternehmensethik, das das Unternehmen
selbst als Akteur ansieht, als auch für eine solche Auffassung, die den
Menschen im Unternehmen als die agierende Einheit betrachtet, die als
ethisch relevant anzusehen ist. Eine solche Akteurseigenschaft kommt dem
Unternehmen aber gerade nur dann zu, wenn es unter den Bedingungen einer
Marktwirtschaft arbeitet und damit nicht nur als Außenstelle einer einheitli-
chen Staatswirtschaft anzusehen ist. Konstituens für eine spezifisch als solche
auszuweisende Unternehmensethik ist also, daß die arbeitsteiligen Wirt-
schaftseinheiten nicht als Funktionäre eines planwirtschaftlich verfaßten
Einheits~nternehmens auftreten.
zips anzusehen ist, die zum anderen aber auch das Unternehmen erst zu einem
Akteur macht, der als ethisch relevant betrachtet werden kann.
Soll eine Unternehmensethik also nicht auf bloßer Urteilskraft aufbauen -
also die Subsumption einzelner Fälle unter die allgemeinen Prinzipien der
Ethik leisten - sondern ein eigenständiges Produkt praktischer Vernunft sein,
so wird sie die Konstitutiva berücksichtigen müssen, die einer Unterneh-
mensethik ihre Eigenständigkeit als spezifische Ethik verschaffen. Dazu
gehört, daß die Prinzipien berücksichtigt werden und als Deduktionsgrund
für die Ausarbeitung ethischer Handlungsanleitungen Berücksichtigung fin-
den, die den Sozialverband Unternehmen von anderen Sozialverbänden
unterscheiden und ihm eine eigene Handlungslegitimation garantieren. Zu
diesen Prinzipien gehört in erster Linie das Prinzip der Effektivität auf der
Grundlage der Vorteile einer arbeitsteiligen Auseinandersetzung des Men-
schen mit seiner Umwelt in einem seine Existenz sichernden und fortent-
wickelnden Wirtschaften. Ebenso aber gehört dazu das Prinzip eines konkur-
rierenden Wirtschaftens selbständiger Wirtschafts einheiten in der Organisa-
tionsform der Marktwirtschaft.
3.
Der Zusammenhang des Verantwortungs begriffs mit den
Konstituentien einer Unternehmensethik
dersetzung des Menschen mit seiner Umwelt beruht, so muß die Ausarbeitung
von genuin unternehmensethischen Verhaltensanleitungen dieses Kriterium
und seine Ausformungen auch schon in den argumentativen Grundlagen
berücksichtigen.
Die Gestalt des Unternehmens hat ihre Besonderheit in der Ökonomie als
dem Menschen seine physische und kulturelle Existenz sichernden Ausein-
andersetzung mit der Natur aufgrund der Effektivitätssteigerung eines Wirt-
schaftens in der Gestalt der Arbeitsteilung zwischen konkurrierenden Wirt-
schaftseinheiten in der Organisationsform der Marktwirtschaft. Damit be-
steht die Eigenschaft von Unternehmen, die eine genuin unternehmensspezi-
fische Ethik möglich und notwendig macht, nicht in ihrem isolierten und nur
für sich selbst relevanten Dasein. Weil das Unternehmen eine spezifisch
durch Effektivität in der Form von Arbeitsteilung und konkurrierender Or-
ganisation geprägte Erscheinungsform der Auseinandersetzung der Gattung
Mensch mit ihren materiellen und kulturellen Existenzbedingungen ist, des-
halb ist seine auch für unternehmensethische wesentliche Auszeichnung in
seinem Bezug auf die Sicherung menschlicher Grundbedürfnisse materieller
und kultureller Natur zu sehen. Das Unternehmen arbeitet deshalb auch in
seinem Streben nach Effekti vität und Gewinnmaximierung nicht nur für sich,
sondern ebensosehr für andere.
Unter dieser Perspektive steht das Unternehmen bereits mit den ersten und
konstitutiven Grundlagen seiner Existenz in einem zwischenmenschlichen
Zusammenhang, der sich insbesondere in der Befriedigung materieller wie
auch kultureller Bedürfnisse ausdrückt. Aufgrund seiner strukturellen Be-
stimmungen ist das Unternehmen also auch dann eine Entität, deren Wesen
in einem Sein für andere besteht, wenn dies sich im Bewußtsein der unmit-
telbar Beteiligten nur als ein Sein für sich darstellt.
Wenn die Existenz von Unternehmen also eine eigene Ethik konstitutiv
begründet, so kann dies aufgrund eben der Wesensmerkmale, die eine solche
Ethik zu einem Produkt praktischer Vernunft und nicht nur der subsumieren-
den Urteilskraft werden lassen, nicht eine Individualethik in dem Sinne sein,
daß das Verhalten des Unternehmens nur mit Bezug auf sich selbst beurteilt
wird. Eine genuine Unternehmensethik wird sich vielmehr von vornherein
3. Verantwortungsbegriffund Konstituentien einer Unternehmensethik 31
4.
Das Problem der spezifisch unternehmensethischen
Individualität der Verantwortung
Hier stellt sich offenbar die Frage, was als Unternehmenshandeln aufgefaßt
werden kann und unter welchen Bedingungen eine Handlung dem Unterneh-
men selbst - und nicht den Organisationsmitgliedern - zugeschrieben werden
muß. Wird - wie es oftmals in der Medienöffentlichkeit üblich ist - eine jede
Interaktion als Unternehmenshandeln bezeichnet, die von politischen oder
gesellschaftlichen Kräften einem Unternehmen zugeschrieben wird, so ist
unklar, wie auf dieser Grundlage eine Qualifizierung nach spezifisch unter-
nehmensethischen Grundsätzen erfolgen kann, wenn denn die Konzeption
keit eröffnen, in ethischen Bezügen handeln zu können, und sie muß dies so
tun, daß darin der unternehmensethische Bezug nicht verlorengeht. Dies ist
nur dann möglich, wenn durch die organisationelle Handlungsbestimmung
die ethische Verantwortlichkeit des einzelnen Akteurs nicht tangiert wird.
Andererseits aber muß es gerade die organisationelle Dimension erlauben,
die unternehmensethische Relevanz durch eine zusätzliche Bestimmung von
einer bloß ethischen abzugrenzen.
Das muß nicht unbedingt durch einen expliziten mentalen oder auch emotio-
nalen Akt geschehen. Im Grunde genügt dafür die freiwillige Bereitschaft,
sich mit dem Unternehmen identifizieren zu lassen. Diese Bereitschaft setzt
das Bestehen von alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten voraus, so daß
gerade diese Tätigkeit nicht ausschließlich aus Gründen des wirtschaftlichen
Überlebens ausgeübt wird. Eine erste Bedingung für die ethische Beurteil-
barkeit individueller Handlungen, die durch organisationelle Determinanten
in der Struktur privatwirtschaftlicher Unternehmen bestimmt werden, ist also
die Existenz eines freien Arbeitsmarktes, der die Tätigkeit für ein bestimmtes
Unternehmen zu einer freien Entscheidung werden läßt, die jene Identifika-
tion erlaubt, durch die eine organisationelle Handlungsdetermination mit
einer unternehmensethischen Relevanz gekoppelt werden kann. Liegt dage-
gen eine solche Identifikationsbereitschaft nicht vor, so kann das Verhalten
des Organisationsmitgliedes im Grunde nur allgemein-ethisch beurteilt wer-
den, da die aus der organisationellen Handlungsbestimmung stammenden
36 II. Grundlagen· Ethik und Unternehmensethik
Das Problem könnte auch so gesehen werden: Die Interaktion des Unterneh-
mens mit seiner Umwelt wird von einem Individuum getragen, das als solches
wohl innerhalb einer ethischen Dimension handelt, das aber darin nicht ein
Teil des Unternehmens sein will, sondern beansprucht, entweder nur für sich
und ausschließlich auf eigene Verantwortung - sozusagen auf eigene Rech-
nung - zu handeln oder aber eine fremde Handlungsbestimmung auszuführen,
für die es nicht verantwortlich sein will, weil es darin eine grundsätzlich
Kausalgesetzen folgende Fremdbestimmung seines Handeins sieht. Seine
Handlungen sieht es also entweder als Realisationen technisch-funktionaler
Zusammenhänge, die nicht aufgrund praktischer, sondern technischer (KANT
würde sagen: »hypothetischer«) Rationalität ablaufen und deshalb nicht in
den Bereich seiner Freiheit gehören, oder es sieht sie durch Zwänge seines
Beschäftigungsverhältnisses bestimmt an, das es nicht frei wählen konnte, so
daß es in permanentem »Befehlsnotstand« handelt, in dem es wegen man-
gelnder Entscheidungsfreiheit keine ethische Verantwortlichkeit besitzt. Wer
eigentlich handelt, ist dann in den Augen des unmittelbar mit der Umwelt
interagierenden Unternehmensangehörigen »die Firma« oder »das Unterneh-
men«, dessen Vorgaben für ihn als unveränderliches Datum erscheinen, das
nicht seiner Freiheit und damit Verantwortlichkeit unterliegt.
4. Unternehmensethische Individualität der Verantwortung 37
Der unmittelbare Akteur unterscheidet hier also strikt zwischen zwei Berei-
chen innerhalb seines Handelns als Unternehmensangehöriger: einen seiner
privaten und freien Verfügung unterliegenden Handlungsspielraum, in dem
er Verantwortlichkeit und ethische Verpflichtungen anerkennt, und einen
Bereich, der durch »das Unternehmen« vorgegebenen Reaktionsweisen, mit
denen er sich nicht identifiziert und in denen er sich weder frei noch verant-
wortlich sieht. Eine sich von der allgemein-ethischen unterscheidende spezi-
fisch unternehmensethische Perspektive ist hier nur schwer auszumachen.
Damit bleibt aber auch das für die Abgrenzung einer spezifisch untern eh-
mensethischen AufgabensteIlung entscheidende Problem des Verhältnisses
von individuell-verantwortlichem freiem Handeln und direkt oder indirekt
durch die organisationelle Struktur eines Unternehmens determinierten Han-
deln ungeklärt, wobei das letztere Handeln ja durch seinen organisationellen
Charakter nicht in seinem freien und individuell-verantwortlichen Status
eingeschränkt werden darf, wenn es überhaupt als ethisch bezeichnet werden
soll.
Zunächst ist mit einer nur durch das Ziel einer »realistischeren« Betrach-
tungsweise begründeten Einschränkung des unternehmensethisch bedeutsa-
men Personenkreises die Berechtigung einer solchen Einschränkung noch
nicht ausreichend nachgewiesen. Dies könnte jedoch unter Umständen dann
gelingen, wenn gerade diese Einschränkung dazu führen würde, daß eine
befriedigende Auflösung des Konflikts zwischen den organisationellen
Handlungsdeterminanten, die eine freie Leistung des Sich-zueigen-machens
vom Unternehmens angehörigen fordern, mit der individuellen und freien
Handlungsbestimmung als Grundlage einer ethischen Qualifikation gefun-
den werden könnte. Dafür muß sich die Identitätsbestimmung durch einen
beschränkten Kreis von Unternehmens angehörigen auf eine solche Weise
ethisch qualifizieren, daß diese Identität in ihrer Umsetzung auf der Ebene
des organisationellen Handlungsrahmens für die unmittelbar mit der Umwelt
des Unternehmens interagierenden Unternehmensangehörigen ihren ethi-
schen Charakter so bewahren kann, daß sich daraus eine Möglichkeit für eine
Vereinigung der ethischen und individuellen Freiheit der Handelnden mit
ihren organisationellen Vorgaben so ergibt, daß die im Rahmen dieser
Vorgaben ausgeführten Handlungen nicht nur unter allgemein-ethischen,
sondern auch unter unternehmensethischen Kriterien zu qualifizieren sind.
Nun ist primär als in einem ethischen Sinne »verantwortlich« nur das Indivi-
duum zu bezeichnen, weil die Zu schreibung von Verantwortung Personalität
und damit die Fähigkeit zu freiem Handeln voraussetzt. Auch ein Kollektiv
- wie z. B. ein Unternehmen - kann zwar verantwortlich gemacht werden,
aber dies geschieht entweder aufgrund von Machtbeziehungen oder innerhalb
rechtlich verfaßter Institutionen. Von einer genuin ethischen Verantwortung
kann hier jedoch noch nicht gesprochen werden. Ob die verantwortungsethi-
sche Beurteilung von Unternehrnenshandlungen unmittelbar auf das Unter-
nehmen als Akteur bezogen werden kann, oder ob auch in der Unternehrnens-
4. Unternehmensethische Individualität der Verantwortung 41
Das wichtigste Kriterium für das Vorliegen einer solchen Situation ergibt sich
aus der notwendigen Bedingung von Freiheit für ethische Verantwortlichkeit.
Unternehmensentscheidungen kann dann eine ethische Qualität zugeschrie-
ben werden, und das Unternehmen kann dann selbst als ethischer Akteur
angesehen werden, wenn solche Entscheidungen auf die Freiheit der an den
Entscheidungen beteiligten Personen zurückgeführt werden können. Nun
kann Freiheit aber nicht durch Zwang oder Notwendigkeit »delegiert« wer-
den, ohne sie als solche zu zerstören. Soll das Unternehmen also durch die
»Übertragung« von Freiheit von den primär verantwortlichen Individuen
selbst den Status eines im ethischen Sinne verantwortlichen Akteurs gewin-
nen, so muß die soziale Organisation »Unternehmen« als durch entsprechen-
de Vergesellschaftungsformen konstituiert angesehen werden können. Diese
Formen der Koordinierung von Handlungen müssen es erlauben, Unterneh-
menshandlungen selbst als ethisch relevant anzusehen, obwohl doch nur die
im Unternehmen tätigen Personen primär ethisch verantwortlich genannt
werden können.
Eine solche Situation kann dann unterstellt werden, wenn Personen in ihrer
Freiheit Entscheidungsbefugnisse so auf eine Organisation und ihre Entschei-
dungskompetenz als Organisation übertragen, daß sie im Rahmen dieser
Delegierung bereit sind, Verantwortung auch für solche Entscheidungen zu
übernehmen, denen sie faktisch nicht zugestimmt haben oder denen sie im
Einzelfall überhaupt nicht zustimmen würden. Man könnte hier eine Denk-
figur analog zu der juristischen Konstruktion der Gefahrdungshaftung ver-
wenden. Wer etwas in seinen Besitz aufnimmt, das bekanntermaßen andere
Menschen gefährden kann (wie ein Auto oder einen Hund), wird für dadurch
42 Ir. Grundlagen' Ethik und Unternehmensethik
23 V gl. dazu die Ausführungen von B. WOLFF, Organisation durch Verträge, Wiesbaden
1995.
111.
Ethische Verantwortlichkeit als subjektive Seite
einer ontologischen Wertlehre:
Hans JONAS
1.
Ethik als Antwort auf die Herausforderungen
der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation
24 Vgl. M. RATH, Intuition und Modell. Hans JONAS' »Prinzip Verantwortung« und die
Frage nach einer Ethikfür das wissenschaftliche Zeitalter, FrankfurtJBem 1988.
44 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS
Ethisch bedeutsam werden diese Entwicklungen nun nicht nur, weil sie im
Einzelfall Fragen nach dem richtigen Handeln aufwerfen, sondern weil die
darin dokumentierte Macht des Handeins als solche uns über die Begriffe
aller früheren Ethik hinaustreibr 8• Was damit auf dem Spiele steht, ist nicht
mehr die mehr oder weniger gelingende Verwirklichung des gegebenen
Bildes des Menschen, sondern das Bild des Menschen selbst, dem wir uns
verpflichtet fühlen. Die »Sphäre des Herstellens« ist damit "in den Raum
wesentlichen Handeins eingedrungen" 29. Die technischen Möglichkeiten
tangieren im Gegensatz zu ihrer früheren Reichweite heute zum einen die
Existenz der Gattung, die allein in der Lage ist, ihre Handlungen ethischen
Kriterien zu unterstellen, und zum anderen die Existenz einer Natur, die jener
Gattung das lebensermöglichende Umfeld bietet.
2.
Die Bedrohung des Wesens des Menschen und die
Notwendigkeit einer Fundierung der Ethik durch eine
metaphysische Lehre von der Subjektivität
nur postuliert, nicht aber bewiesen werden kann 38 • Bei einem Weniger an
deterministischer Strenge, das gerade durch die neuere Entwicklung der
physikalischen Grundlagendiskussion gefordert wird, müßte dagegen der
Preis für die Einräumung psycho-physischer Wechselwirkung nicht zu hoch
sein. Der wissenschaftliche Begriff des Physischen wäre also durch mentale
Kausalität nicht notwendig zerstört.
Eine solche Kausalität wird darüber hinaus mit Hilfe einer weiteren These
bestritten, die JONAS als »Epiphänomen-Argument« bezeichnet. Untermauert
wird diese These zunächst durch die Asymmetrie im Verhältnis von Geist
und Materie: Es gibt Materie ohne Geist, aber nicht Geist ohne Materie.
Daraus könnte der Schluß gezogen werden, daß der Materie ein selbständiges
und ursprüngliches Sein zugeschrieben werden muß, dem Geist aber nur ein
bedingtes und abgeleitetes39 . Auf dieser Grundlage könnten die psychischen,
subjektiven Phänomene als physisch verursacht angesehen werden, ohne daß
ihnen selbst eine Kausalität zugeschrieben werden müßte. Sie wären damit
bloße Epiphänomene des Physischen, also Begleiterscheinungen, die ohne
Umwandlung physischer Energie in eine nicht-physische Form auftreten.
JONAS wendet dagegen zunächst ein, daß die empirische Priorität der Materie
nicht den Schluß auf eine bloße Scheinbarkeit eines aus ihr Hervorgehenden
rechtfertigt; des weiteren würde es der Idee kausaler Abhängigkeit wider-
sprechen, das Psychische nur als Wirkung und nicht wiederum als Ursache
in der Bedingungskette aufzufassen; darüber hinaus müßte das Hervorgehen-
lassen des Mentalen in diesem Falle aus dem Wesen der Materie selbst
begründbar sein, so daß ihr physikalischer Begriff nicht ihr vollständiger
Begriff sein kann. JONAS zieht bereits aus dieser immanenten Kritik an einer
Vorstellung des Psychischen als bloßer einseitiger Begleiterscheinung phy-
sischer Gehirnvorgänge den Schluß, daß diese These sich übernimmt und in
Widersprüche verwickelt, die den Begriff des Epiphänomens schon nach den
bloßen Kriterien einer Theorie überhaupt als unerlaubten Kunstgriff erschei-
nen lassen4o •
und damit die Unfähigkeit seiner selbst, unabhängige Theorie zu sein" 45.
Damit der Vertreter dieser Theorie überhaupt einen theoretischen Geltungs-
anspruch erheben kann, muß er also zumindest für seinen Fall die eigene
Theorie außer Kraft setzen.
Für die Zwecke einer Begründung der Ethik sieht JONAS diese Kritik an den
gegen eine eigenständige Bedeutung und Wirkmächtigkeit des Mentalen
gerichteten Argumenten als ausreichend an, um plausibel zu machen, daß
psychophysische Wechselwirkung möglich und mit der übrigen Natur ver-
einbar ist. Nichtsdestoweniger stellt er auch einen eigenen Versuch zur
Lösung des psychophysischen Problems vor46 . Der geeignete Ansatzpunkt
für ein plausibles Modell einer mentalen Kausalität auf die physische Welt
scheint ihm prinzipiell dort auffindbar zu sein, wo kleinste Einwirkungen
zum Übergang von Potenzialität zu Aktualität ausreichend sind. Im Zusam-
menhang menschlicher Handlungen ist dies dort der Fall, wo das Auslöser-
prinzip in efferenten Nervenbahnen wirksam ist, also dort, wo kleinste
Verschiebungen in Neuronenbewegungen ausreichen, um Veränderungen in
der muskulären Motilität zu induzieren und somit zu unterschiedlichen
Handlungen zu führen 47.
Verödung der Welt führen" 48. Der physische Makroverlauf würde demnach
den Anforderungen der deterministischen Physik genügen; die anfangliche
Auswahl zwischen Alternativen jedoch wäre als mental determiniert zu
verstehen. Die dafür nötige Zusatzgröße würde "in den von ihr ausgelösten
Transaktionen ganz anderer Größenordnung einfach verschwinden" - "vom
Standpunkt der Natur gesehen, wäre die tatsächlich eingeschlagene 'Rich-
tung', ... , absoluter Zufall, der als solcher nie feststellbar ist" 49.
Damit ist die psychophysische Kausalität jedoch nur in ein Modell eingefügt,
ohne den Übergang vom Psychischen zum Physischen als solchen verständ-
lich zu machen. JONAS betrachtet in diesem Zusammenhang die Einsicht, daß
unser Subjektsein wesentlich einen Doppelaspekt hat und aus Rezeptivität
und Spontaneität, Sinnlichkeit und Verstand, Fühlen und Wollen, Erleiden
und Handeln besteht, als Schlüssel zur Lösung des psychophysischen Pro-
blems. Mit dieser passiv-aktiven Doppelnatur des Psychischen beansprucht
er, die Problematik auflösen zu können, die sich für Konzeptionen einer
einsinnigen Kausalität zwischen dem Physischen und dem Psychischen un-
vermeidlich stellt, ob die Richtung der Kausalität nun vom Physischen zum
Psychischen geht (wie das Epiphänomen-Argument unterstellt) oder ob das
Psychische autonom auf das Physische einwirkt (wie die Theorie des Men-
talen gemeinhin unterstellt). Die Kausalkette kann dagegen unter dem
Doppelaspekt der Subjektivität als geschlossen angesehen werden, so daß die
Materie den Aufwand, den sie in dem als Rezeptivität und Sinnlichkeit
erfahrenen Einfluß auf das Psychische abgibt, durch die Spontaneität und das
Wollen der Subjektivität wieder zurückerhält. Die Folge wäre, daß "vom
physischen Standpunkt gesehen sich im Durchschnitt Zufluß und Abfluß
beim ganzen Phänomen der Subjektivität die Waage halten, die beiden
gegensätzlichen Verlegenheiten sich also ausgleichen" 50.
Offensichtlich ist mit diesem Modell die Möglichkeit eines Übergangs zwi-
schen Physischem und Psychischem zwar als notwendig zweiseitig darge-
stellt, nicht aber als solche verständlich gemacht. Zu diesem Zweck bietet
Das Aus- und Einsickern ist für das Physische also jeweils von zu kleiner
Größenordnung, als daß es im Einzelfall quantitativ in Erscheinung tr~ten
könnte; darüber hinaus ist es als wechselseitiger Ausgleich zu denken, so daß
die Geltung der Konstanzgesetze mit dieser Wechselwirkung vereinbart
werden kann. Nichtsdestoweniger bedeutet der Durchgang durch jene »po-
röse Wand« "jedesmal eine radikale Transformation, bei der jedes Verhältnis
der Äquivalenz, ja schon der Sinn quantitativer Zuordnung als solcher zu
bestehen aufhört" 55. In dem mentalen Intervall zwischen Input und Output
liegt demnach "ein Prozeß völlig anderer Ordnung als der physischen" 56. Für
das Psychische, dessen Reich dieses Intervall darstellt, gilt demnach zusam-
mengefaßt: "Von einer Kleinstmenge an Energie erzeugt, ist es imstande,
Kleinstmengen von Energie wiederzuerzeugen" 57.
JONAS sah später die Vermutung gerechtfertigt, daß im Raume quantenme-
chanischer Vorgänge der Ort sein muß, wo die geheimnisvolle Schaltung
zwischen Geist und Materie stattfindet58 . Die Quantenphysik entdeckt eine
grundsätzlich nicht zu schließende Lücke im Gewebe unseres Wissens, die
"die terra incognita in ihrem Innern hinreichend definiert, um uns wissen zu
lassen, daß in ihr nicht mehr an eine Physik eindeutiger Kausaldeterrnination
appelliert werden kann" 59. Von den beiden in Frage kommenden Aspekten
der Quantenmechanik sieht JONAS im Komplementaritätsprinzip keine Mög-
lichkeit einer Ausnutzung für die Auflösung des psychophysischen Problems.
Daß der Zustand eines Systems subatomarer Größenordnung vollständig
beschreibbar nur ist in der Sprache zweier einander ausschließender Begriffs-
schemata, die nicht äquivalent sind, sondern verschiedenen Klassen von
Daten entsprechen, dies kann die Einwirkung des Psychischen auf das
Physische schon deshalb nicht verständlich machen, da die beiden Beschrei-
bungen strikt vollständig sind und keine in die andere übergreift.
So bleibt nur das Unbestimmtheitsprinzip, um quantenmechanische Gedan-
kengänge für das psychophysische Problem fruchtbar zu machen. Dazu muß
jedoch die Vermutung herangezogen werden, "daß der Geist irgendwie die
Macht hat, die subatomare Unbestimmtheit (im Gehirn) zu seinem Zweck zu
beugen - sozusagen aus dem Spektrum rivalisierender Wahrscheinlichkeiten
den ihm genehmen Gewinner auszuwählen" 60. Darüber hinaus ist das Aus-
löserprinzip einzusetzen, um verständlich zu machen, wie solche »Entschei-
dungen« auf der quantenmechanischen Ebene das Makroverhalten determi-
nieren können61 .
3.
Die Werthaftigkeit des Seins als
objektive Grundlage ethischer Verantwortung
Die Ausgangsfrage betrifft jedoch nicht den Begriff des Zweckes, sondern
den des Wertes und seiner Position im Sein. Der Übergang von der erschlos-
senen Existenz nichtmentaler Zwecke im Sein auch jenseits des Reiches der
Bewußtheit zum Vorkommen von Werten in eben diesem Sein stellt nun den
vierten Argumentationsschritt dar. Über das bloße Vorkommen von Zweck
überhaupt im Sein hinaus gibt das Vorkommen von Leben Anzeige auf einen
bestimmten Zweck, nämlich eben das Leben als solches. Darin geschieht eine
»Befreiung« von Zweck überhaupt "zu definiten, auch subjektiv verfolgten
und genossenen Zwecken" 65. Mit ihrer Zweckhaftigkeit manifestiert die
Natur (bzw. das Sein) in der Hervorbringung von Leben ein »Wollen« und
eine »Zielorientierung«66.
In der Ethik jedoch genügt die Ausdehnung von »Zweck« in die physische
Welt als ein ihr ursprünglich eigenes Prinzip nicht. Es kommt in ihr vielmehr
auf die objektive Geltung von Werten an, die eben darum Zwecke werden
sollen67 . Nun ist für JONAS das Vorhandensein von Werten in der Natur, d. h.
daß die Natur Werte hat, direkt damit gegeben, daß sie Zwecke hat, so daß
die Natur selbst in diesem Sinne nicht» wertfrei « genannt werden kann68. Die
entscheidende Frage in der Auswertung der bisher erreichten Befunde für die
Ethik lautet jedoch, ob diese naturimmanenten Werte von den allein zu
ethischer Verpflichtung fähigen menschlichen Subjekten geteilt werden müs-
sen, so daß das Wollen der Natur und damit die Erhaltung von Leben ein die
Macht des Menschen begrenzendes Sollen darstellen muß.
Für die Beantwortung dieser für sein Unternehmen entscheidenden Frage
bietet JONAS zwei verschiedene Argumente an, denen er unterschiedliche
Stärke zuschreibt. Wir könnten darin den fünften Schritt auf dem Wege der
gen werden könne. Es müßte der Wert des Zweckhabens selbst verneint
werden, der Wert der Befreiung davon würde in diesem Falle jedoch bejaht
und wiederum zum Zweck gemacht74 . Der einzige Ausweg aus der Selbst-
evidenz jener Identität von Zweckhaftigkeit und »Gut-an-sich« führte dem-
nach in eine Lehre vom Nirwana. Auf dieser Grundlage erklärt JONAS den
Satz von der Selbstbeglaubigung des Zweckes als eines Guten-an-sich im
Sein zu einem »ontologischen Axiom«75.
Das Ergebnis der Zwecklehre lag in der Erkenntnis: "Daß es dem Sein um
etwas geht, also mindestens um sich selbst, ist das erste, was wir aus der
Anwesenheit von Zwecken in ihm über es lernen können" 76. Wenn diese
Lehre nun über jenes ontologische Axiom plausibel mit dem Begriff des
Guten verbunden werden kann, so folgt der sechste und letzte Schritt in der
Begründungskette in analytischer Form. In dem Begriff eines Guten ist
bereits enthalten, daß hieraus ein Sollen folgt, wenn das »selbstgültige erste
Gute« in seiner Darstellung durch ein von ihm abgeleitetes Gut "der Existenz
nach in den Gewahrsam eines Willens gerät" 77 . Wenn wir also in der
Zielstrebigkeit des Seins als solcher eine grundSätzliche Selbstbejahung des
Seins sehen können, die es absolut als das Bessere gegenüber dem Nichtsein
setzt, und es gegen diesen »Spruch des Seins« keinen »Gegenspruch« gibt,
so ist die Erhaltung der Zweckhaftigkeit dem Sollen des Menschen übertra-
gen, sobald das zweckhafte Sein selbst in den Bereich der technischen
Ermächtigung des Menschen gerät.
Wenn die Natur selbst im organischen Leben ihr ureigenes Interesse kund-
gegeben hat, so hat sie damit auch das Gute offenbar gemacht und dem
Menschen gegenüber sein Sollen ausgesprochen. Indem mit der Existenz des
Lebens und seiner expliziten Konfrontation des Seins und des Nichtseins die
Selbstbejahung des Seins »emphatisch« wird, so erfährt der Mensch ebenso
emphatisch seine Pflicht zur Bewahrung des Lebens auch über seine eigene
Sphäre und seine eigene Zeit hinaus 78 . Deshalb gewinnt das »Ja« des Seins
zu sich selbst eine obligatorische Kraft in der sehenden Freiheit des Men-
schen, "die als höchstes Ergebnis der Zweckarbeit der Natur nicht mehr
einfach deren weiterer Vollstrecker ist, sondern mit der vom Wissen bezoge-
nen Macht auch ihr Zerstörer werden kann" 79.
4.
Kritische Anmerkungen zu dem Versuch einer ontologischen
Fundierung ethischer Verantwortlichkeit
JONAS scheint sich dieser prekären Situation wenigstens bis zu einem gewis-
sen Grade bewußt zu sein, wenn er seine positive Konzeption über den
psycho-physischen Zusammenhang als Modell, Metapher oder Bild bezeich-
net. Ein Modell erfüllt jedoch nur dann seine Funktion, wenn es in verein-
fachter Form wirklich bestehende Zusammenhänge beschreiben kann und
auf diese Weise zu Vorhersagen führt, die einer empirischen Überprüfung
offenstehen. Von einer solchen Orientierung an einem unabhängigen Erfolgs-
kriterium kann jedoch hier nicht die Rede sein. JONAS' Aufklärung über den
psycho-physischen Zusammenhang, die eine grundlegende Funktion in sei-
ner ethischen Konzeption einnimmt, ist deshalb mehr in ihrem negativen als
5.
Die Phänomenologie der Verantwortung
als subjektive Seite der JONAS'schen Ethik
80 Vg1. H. 10NAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 163. Zum Folgenden vg1. die
Ausführungen in der Monographie von E. MÜLLER, Der Begriff der Verantwortung
bei Hans ]ONAS, FrankfurtJMain 1988.
81 V g1. E. 100s, Ethik zwischen globaler Verantwortung und spekulativer Weltschema-
tik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 38/1990, S. 683 - 690.
82 Vg1. H. 10NAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 164.
62 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS
6.
Der Gehalt der ethischen Verantwortlichkeit
nach der JONAS'schen Ethikkonzeption
nal begleiteten Bewußtsein der Bedrohung zu erfahren; erst dies lehrt uns
"durch die dem Wissen vorauseilende Auflehnung des Gefühls, den Wert zu
sehen, dessen Gegensatz uns so affiziert" 99.
JONAS' Ethikkonzeption gewinnt ihren Charakter durch die Orientierung an
einem besonderen Problembereich und den ethischen Fragen, die darin
aufgeworfen werden. Jener Problembereich erscheint als historisch neuartig
und diese ethischen Fragen als durch keine bisher existierende Ethik beant-
wortbar. Kritische Fragen an seine Konzeption können deshalb nach drei
Richtungen gestellt werden. Zunächst kann die innere Schlüssigkeit und die
Überzeugungskraft der Theorie geprüft werden. Daß die objektive Seite des
Begründungsangebotes hier zu erheblichen Zweifeln berechtigt, ist nicht zu
übersehen. Ob die subjektive Seite, also die Phänomenologie des Gefühls der
Verantwortung, bessere Aussichten eröffnet, wäre zu prüfen. Nach einer
zweiten Richtung könnte die These von der prinzipiellen Neuartigkeit des
zugrundeliegenden Problems infrage gestellt werden. Schließlich wäre in
einer dritten Richtung nach möglichen Alternativen zu fragen, die in der Lage
sein könnten, jenes Problem in eine konkurrierende ethische Konzeption
aufzunehmen.
1.
Das Problem der Bestimmung eines guten Willens
als Ausgangsfrage der KANTischen Ethik
Zunächst soll mit Hilfe der ethischen Argumentationen von I. KANT versucht
werden, zu einer näheren Klärung der Unterscheidung ethischer Handlungs-
anweisungen von Normen nicht-ethischer Art zu gelangen. Auf diese Weise
kann das Konzept der Verantwortung näher bestimmt und in seinem ethi-
schen Gehalt definiert werden. Es ist also die KANTische Ethik darauf hin zu
untersuchen, ob und welche Maßstäbe sie zur Verfügung stellen kann, mit
denen entschieden werden kann, ob es sich bei einer Handlungsorientierung
um eine ethische handelt oder ob diese auf einer anderen, nicht-ethischen
Norm beruht. Auf dieser Grundlage kann dann näher untersucht werden, wie
eine genuin ethische Verantwortung aussehen muß und durch welche Krite-
rien sie sich v.on Formen der Verantwortung unterscheiden läßt, die wir nicht
als ethische zu bezeichnen bereit sein werden.
Daß KANTs Ethik jedoch überhaupt für eine Klärung des Konzeptes der
Verantwortung und damit des spezifisch ethischen Charakters von Normen
geeignet sein könnte, scheint zunächst zweifelhaft, wenn KANT in seiner
»Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« die Argumentation mit dem Satz
beginnt: "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben
zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden,
68 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Imrnanuel KANT
als ein guter Wille." 100 Damit scheint der ethische Charakter in die Inner-
lichkeit der vor einer Entscheidung stehenden Person verlegt zu werden und
der Weg zu einer Klärung des Konzeptes der Verantwortung von vornherein
verbaut zu sein lOI •
KANT benutzt diesen Ausgangspunkt jedoch gerade, um den Charakter
dessen, was ethisch heißen kann, zu klären und von anderen Handlungsorien-
tierungen zu unterscheiden l02 • Dies zeigt sich vor allem dann, wenn KANT
andere Phänomene untersucht, denen wir das Prädikat »gut« zuschreiben lO3 •
KANT nennt hier
(1) die »Talente des Geistes« wie
Verstand, Witz und Urteilskraft,
(2) die »Eigenschaften des Temperaments« wie
Mut, Entschlossenheit und Beharrlichkeit, und
(3) die »Glücksgaben« wie
Macht, Reichtum, Ehre und Gesundheit.
Das Problem mit diesen Phänomenen ist, daß diese keinen unbedingten
inneren Wert haben, weil sie nicht in jedem Falle »gut« heißen können. Es
besteht sogar die Möglichkeit, daß diese Phänomene selbst »böse« werden
können, wenn sie für nicht zu billigende Zwecke eingesetzt werden können.
KANT nennt hier etwa den Mut eines Verbrechers, dessen Vorhandensein den
letzteren nicht unbedingt zu einem besseren Menschen macht. Solche Phä-
nomene sind also von den Intentionen und Zielen abhängig, für die sie
eingesetzt werden.
Anders verhält es sich jedoch mit einem guten Willen lO4 • Für ihn gilt nach
KANT: "Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet,
100 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 393 (KANTs Werke werden zitiert
nach der Akademie-Ausgabe - abgekürzt AA - der Preußischen Akademie der
Wissenschaften, Berlin 1902 ff.).
101 Vgl. dazu H. KÖHL, KANTS Gesinnungsethik, Berlin 1990, S. 5 f.
102 Vgl. F. KAULBACH, Immanuel KANTs »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«.
Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988, S. 17 ff.
103 Vgl. dazuH. KÖHL, KANTsGesinnungsethik, Berlin 1990, S. 28 f; sowieTh. NrsTERs,
KANTs Kategorischer Imperativ als Leitfaden humaner Praxis, FreiburglMünchen
1989, S. 194 ff.
104 Vgl. zum Folgenden H. J. PATON, Der Kategorische Imperativ, Berlin 1962, S. 35
f.
1. Problem der Bestimmung eines guten Willens 69
Bestimmung ihn auf die gleiche Ebene stellen würde wie die Temperamente,
Talente und Glücksgaben. Er wäre damit abhängig von der »Güte« dieser
Absichten und Wirkungen, die wiederum aufgrund nicht-intendierter Neben-
wirkungen auch »böse« sein können und den Willen gerade der Auszeich-
nung berauben würden, aufgrun~ derer er allein nach KANT gut heißen kann:
daß seine »Güte« unabhängig von allem ist, was jenseits des Willens selbst
ist. Der Stand der KANTischen Argumentation kann danach so formuliert
werden: Wenn der Wille bestimmt wird, so kann er nur dann den Status einer
Grundlage der Ethik behalten, wenn diese Bestimmung nur durch das for-
melle Prinzip des Wollens überhaupt geschieht.
Damit ist eine Bestimmung durch ein materielles Prinzip ausgeschlossenlO8•
Hier zeigt sich die Bedeutung der KANTischen Unterscheidung zwischen
»kategorischen« Imperativen und »hypothetischen« Imperativen. Ein hypo-
thetischer Imperativ sagt, "daß die Handlung zu irgend einer möglichen oder
wirklichen Absicht gut sei" 109. Ein kategorischer Imperativ dagegen erklärt
eine Handlung für notwendig, ohne daß die Beziehung auf eine Absicht bzw.
einen Zweck dafür eine Rolle spielt. Genau dies aber ist notwendig, damit
der gute Wille die Auszeichnung behalten kann, durch die allein er »gut« im
eigentlichen Sinne heißen kann. Die Bestimmung eines solchen Willens muß
also »kategorisch« sein, und d. h. sie muß in völliger Unabhängigkeit von
allem geschehen, was außerhalb des reinen Willens selbst liegt. Damit ist
jenes »formelle Prinzip« des Wollens überhaupt näher charakterisiert, das
allein geeignet erscheint, um einen guten Willen bestimmen zu können 110.
Wenn der Wille nun bestimmt werden soll und in dieser Bestimmung die
Kriterien gefunden werden sollen, die das spezifisch Ethische ausmachen, so
ist nach einem Gesetz gesucht, das keinen materiellen Gehalt in sich hat. Auf
der Grundlage eines guten Willens zu handeln, kann also nicht heißen, den
Willen durch Gesetze bestimmen zu lassen, die materielle Handlungsrege-
lungen angeben. KANT kommt deshalb zu dem Schluß: "Es kann daher nichts
108 Vgl. zum Folgenden H. KÖHL, KANTs Gesinnungsethik, Berlin 1990, S. 18 ff.
109 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 414/415.
110 Vgl. A. DORSCHEL, Die idealistische Kritik des Willens: Versuch über die Theorie
der praktischen Subjektivität bei KANT und HEGEL, Hamburg 1992, S. 60 ff.
1. Problem der Bestimmung eines guten Willens 71
anders als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, die freilich nur im
vernünftigen Wesen stattfindet, sofern sie, nicht aber die verhoffte Wirkung
der Bestimmungsgrund des Willens ist, das so vorzüglich Gute, welches wir
sittlich nennen, ausmachen, welches in der Person selbst schon gegenwärtig
ist, die danach handelt, nicht aber allererst aus der Wirkung erwartet werden
darf." 111 Die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst kann sich in diesem
Zusammenhang nur auf das interne und endogen bestimmte Gesetz eines
guten Willens beziehen.
Da ein solcher Wille aber gerade nicht durch materielle Prinzipien bestimmt
sein darf, da er sonst in die Abhängigkeit von Wirkungen in der Welt geraten
würde, die seine einzigartige Auszeichnung wieder dementieren würden, darf
ein solches Gesetz durch keine materiellen Gehalte bestimmt sein oder sich
auf materielle Gehalte beziehen 112. Damit gerät die KANTische Argumenta-
tion in die Schwierigkeit, eine Bestimmtheit für ein solches Gesetz finden zu
müssen, die auf keinen Gehalt Bezug nehmen darf. KANT löst dieses Problem
nun auf eine Weise, die den Zusammenhang seiner Ethik folgenreich präfi-
guriert. Im Grunde ist mit dieser Lösung die ganze KANTische Ethik schon
in nuce gegeben.
Die Bestimmtheit, die dem reinen Willen ein Gesetz geben können soll, kann
nunmehr nur der bloßen Form der Gesetzmäßigkeit entnommen werden.
KANT formuliert diesen zentralen Gedanken seiner Ethik so: "Da ich den
Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines
Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmä-
ßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum
Prinzip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch
wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden." 113
Damit sieht KANT das expliziert, was bereits im argumentativen Anfang der
2.
Der kategorische Imperativ als Ausdruck einer
»unbedingten« Bestimmung des Willens
wirklichter Form als ein rein durch die Form der Gesetzmäßigkeit bestimmter
Wille.
Folglich muß das, was gut heißen kann, durch ein Gebot ausgedrückt werden.
Genau deshalb drückt KANT das Ethische in einem Imperativ aus: "Die
Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend
ist, heißt ein Gebot (der Vernunft), und die Formel des Gebots heißt IMPERA-
TIV." 117 Bei KANT heißt Imperativ also die Formulierung eines Sollens.
Daraus kann für die Ausgangsfrage nach der KANTischen Qualifizierung des
Ethischen im Unterschied zu anderen Normorientierungen zunächst festge-
hillten werden, daß für KANT nur dann von einer ethischen Handlungsorien-
tierung die Rede sein kann, wenn die Handlung sich an einem Sollen
orientiert, das in einem Imperativ formuliert werden kann, der sich durch die
reine Form der Gesetzmäßigkeit bestimmt. Ethisch ist eine Handlung also
dann, wenn sie einem Imperativ folgt, der als ein Sollen an den Handelnden
herantritt, das nicht durch ein materielles Prinzip bestimmt wird.
KANT beansprucht deshalb, nur aus dem Begriff eines »kategorischen Impe-
rativs« auch dessen Formel entwickeln zu können, so daß im Grunde mit der
Explikation dessen, was KANT zufolge allein gut heißen kann, nämlich des
»guten Willens«, auch schon das Prinzip der Ethik ausgearbeitet ist. KANT
formuliert: "Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich
sofort, was er enthalte." 119 Daß ein Imperativ also beansprucht, kategorisch
Der kategorische Imperativ als Gesetz des guten Willens kann demzufolge
nur die Allgemeinheit des Gesetzes selbst ausdrücken. Seine allgemeine
Formel lautet dementsprechend: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch
die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde." 121 Der
kategorische Imperativ ist also nur einer, und aus ihm können alle Imperative
der Pflicht als aus ihrem Prinzip abgeleitet werden. Für den Charakter. des
Ethischen ergibt sich daraus: Als ethisch kann nur eine solche Handlungs-
orientierung gelten, deren Grundlage in einer Maxime des Handeins liegt, die
mit dem kategorischen Imperativ als ihrer inneren Form übereinstimmt 122 .
Weil der kategorische Imperativ diejenige Unbedingtheit ausdrückt, die für
eine Bestimmung des guten Willens allein infrage kommt, deshalb kann auch
gesagt werden, daß der kategorische Imperativ bloß die »Form des Wollens«
enthält.
Was der kategorische Imperativ enthält, wird noch deutlicher, wenn die
Umformulierungen betrachtet werden, die KANT zur Explikation herangezo-
120 Vgl. zur Unterscheidung der beiden Arten von Imperativen L. H. WILDE, Hypothe-
tische und kategorische Imperative, Bonn 1975, S. 11 ff.
121 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 421.
122 Zum Begriff und zur Bedeutung von »Maximen« in der KANTischen Ethik vgl. H.
KÖHL, KANTs Gesinnungsethik, Berlin 1990, S. 45 ff; sowie Th. NISTERS, KANTs
Kategorischer Imperativ als Leitfaden humaner Praxis, FreiburglMünchen 1989, S.
84 ff.
3. Kategorischer Imperativ und der Mensch als Selbst-Zweck 75
gen hat. Darüber hinaus kommt eine dieser Umforrnulierungen auch bereits
nahe an den Zusammenhang zwischen dem spezifisch Ethischen nach der
KANTischen Auffassung und dem Begriff der Verantwortung heran, der als
Grundbegriff einer unternehmens ethischen Konzeption bezeichnet werden
kann. Zunächst identifiziert KANT die Allgemeinheit des Gesetzes, die allein
für die Bestimmung eines guten Willens infrage kommt, mit dem Begriff der
Natur im Sinne eines Zusammenhanges von Naturgesetzen (Natur der Form
nach) 123. Daraus ergibt sich die erste UmformuIierung des kategorischen
Imperativs: "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen
Willen zum ALLGEMEINEN NATURGESETZ werden sollte." 124
Damit wird allerdings nicht verlangt, den Willen einem Naturgesetz zu
unterwerfen, sondern es wird die einem Naturgesetz zukommende Form der
Allgemeinheit benutzt, um die Form der Allgemeinheit, die der ethischen
Bestimmung des Willens im kategorischen Imperativ zukommt, näher zu
bestimmen 125 • Diese Allgemeinheit entspricht der Allgemeinheit eines Na-
turgesetzes; deshalb wird dann ethisch gehandelt, wenn die Handlungsmaxi-
me so bestimmt ist, »als ob« sie zu einem allgemeinen Naturgesetz werden
sollte. Eine Vermengung von Sein und Sollen findet hier also nicht statt.
3.
Der kategorische Imperativ und der
Mensch als Zweck an sich selbst
Eine zweite und im Zusammenhang der Frage nach dem Ethischen wichtigere
Umformulierung erreicht KANT durch eine Problematik, die er durch die
Aufstellung des kategorischen Imperativs noch nicht aufgelöst sieht. Es
wurde zunächst expliziert, daß das Ethische nur durch einen kategorischen
Imperativ ausgedrückt werden kann, und es wurde der Gehalt dieses Impera-
123 Natur heißt für KANT "das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen
bestimmt ist" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 421).
124 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 421.
125 V gl. L. H. WILDE, Hypothetische und kategorische Imperative, Bonn 1975, S. 80 ff.
76 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung' Freiheit· Immanuel KAm
tivs als reine Form der Gesetzmäßigkeit bestimmt. Es bleibt jedoch noch ein
Argumentationsdefizit, das KANr so sieht: "Noch sind wir aber nicht so weit,
apriori zu beweisen, daß dergleichen Imperativ wirklich stattfinde, daß es
ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne alle Triebfe-
dern für sich gebietet, und daß die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei." 126
Im Grunde ist also der Charakter des Ethischen bisher nur so weit geklärt,
daß gewußt wird, wie eine ethische Verpflichtetheit aussehen muß und
welchen Formen sie folgen muß; es ist aber noch nicht nachgewiesen, daß
eben diese Verpflichtetheit tatsächlich besteht.
chen dafür, je mehr sie dagegen sind, ohne doch deswegen die Nötigung
durchs Gesetz nur im mindesten zu schwächen und seiner Gültigkeit etwas
zu benehmen." 127
Gerade die Definition des Ethischen durch die unbedingte und rein auf der
Form der Gesetzesförmigkeit beruhende Bestimmung handlungsleitender
Maximen führt KANT jedoch zu einer Formulierung des kategorischen Im-
perativs, die den Bezug auf andere Menschen explizit aufnimmt. KANT geht
dazu von der Überlegung aus, daß der ethisch relevante Wille ein Vermögen
darstellt, "der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß, sich selbst zum Handeln
zu bestimmen" 128. Der Grund einer solchen Selbstbestimmung kann nun als
Zweck bezeichnet werden. Wenn der kategorische Imperativ eine Hand-
lungsbestimmung fordert, die nur durch die Form der Gesetzmäßigkeit - d. h.
der Allgemeinheit - determiniert ist und von jeder materiellen Bestimmung
unabhängig ist, so kann ein solcher Zweck nur als Selbstzweck verstanden
werden. Demnach kann der kategorische Imperativ auch mit Hilfe des
Begriffes des Selbstzweckes bzw. des Zweckes an sich selbst formuliert
werden.
Auf dieser Grundlage geht KANT nun einen entscheidenden Schritt weiter.
Er will zur Formulierung des kategorischen Imperativs nämlich nicht einfach
den Begriff des Zweckes an sich selbst benutzen, sondern forscht nach einem
Phänomen in der Welt, das als Zweck an sich selbst angesehen werden kann.
Kann ein solches »Etwas« gefunden werden, das Zweck an sich selbst ist, so
kann dies dann in die Formulierung des kategorischen Imperativs eingehen.
In diesem Falle gewinnt der kategorische Imperativ jedoch einen neuen
Charakter, obwohl er weiterhin nur die rein gesetzesförmige und von äußeren
Zwecken unabhängige Bestimmung des Willens ausdrückt. Mit dem »Et-
was«, das einen Selbstzweck bzw. einen Zweck an sich selbst darstellt,
impliziert er nicht nur einen Bezug auf eine reine Struktur, sondern nimmt in
die eigene Formulierung den Bezug auf eine Entität in der Welt aufl29 .
Diese Entität kann dann auch als Grund der Wirklichkeit des Ethischen
angesehen werden. Das Prinzip des Ethischen bewegt sich bei Gelingen einer
solchen Formulierung also nicht mehr im Raum struktureller Bestimmungen,
sondern wird zu einem Prinzip, das in der Welt bereits als Wirklichkeit
vorkommt. Dazu muß jedoch berücksichtigt werden, daß die darauf aufbau-
ende Formulierung des kategorischen Imperativs das Prinzip der Ethik nicht
etwa erweitern soll und ihm auch keine neuen Elemente implantieren will.
Wenn das ethische Prinzip der Ethik als ein Prinzip in der Welt vorkommt,
so muß es identisch mit jener Bestimmung des Willens sein, die KANT als
allein geeignet für dessen Auszeichnung als ethische Grundlage ansieht.
Die Überlegung, die KANT zu einer Reformulierung des kategorischen Im-
perativs führt, lautet demgemäß: "Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein
an sich selbst einen absoluten Wert hat, was als Zweck an sich selbst ein
Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein,
der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Ge-
setzes liegen." 130 Dieses »Etwas« kann nun nur der Mensch bzw. allgemei-
ner: jedes vernünftige Wesen sein: "Der Mensch und überhaupt jedes ver-
nünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum
beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen
seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerich-
teten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden." l31
Der Mensch als Person erfüllt demnach also genau jene Anforderungen, die
KANT für das Prinzip des Ethischen ausgearbeitet hat. Insbesondere ist hier
von Bedeutung, daß der Mensch als Person - also nicht als Angehöriger der
Gattung homo sapiens - nicht durch den Bezug auf andere Entitäten in der
Welt bestimmbar ist. Die »Natur« des Menschen ist also in diesem Zusam-
menhang darin zu sehen, daß er dann nicht in seinem eigenen Wesen
aufgefaßt wird, wenn er als Naturgegenstand betrachtet wird. Wenn die
Person Zweck an sich selbst ist, so entzieht sie sich jeder Bestimmung von
außen. Es kann also nicht gesagt werden, »wozu« diese Entität gut ist. Als
Zweck an sich selbst kann der Mensch als Person jedoch auch nicht aus
Ein objektiver Zweck erscheint zunächst als ein Widerspruch in sich. Als
Objekt ist eine solche Entität bestimmt und steht dem Subjekt in gegebenen
Bestimmungen gegenüber. Als Zweck an sich selbst entzieht sich diese
Entität jedoch allen Bestimmungen, die wir ihr geben, und kann nur unter
den Bestimmungen verstanden werden, die sie sich selbst gibt. KANT zufolge
ist das Wesen des Menschenjedoch nur in dieser scheinbar widerspruchsvol-
len Charakterisierung angemessen ausgedrückt. Nur in dieser Doppelung ist
die Person von absolutem Wert. Diese Selbstzweckhaftigkeit gibt also die
Form an, in der der Mensch - und jedes vernünftige Wesen - sich notwendig
sein eigenes Dasein vorstellt, wenn er sich als Person begreift.
Gerade weil mit der Person nun eine Entität in der Welt gefunden ist, die als
absoluter Wert bezeichnet werden kann und damit ihre Bestimmung nicht
durch die Relativität des Bezugs auf andere Entitäten bezieht, deshalb kann
der Begriff der Person dazu dienen, in dem ausgearbeiteten Prinzip des
Ethischen die Bestimmung des Willens durch reine Gesetzesförmigkeit ohne
Bezug auf Bestimmungsgründe jenseits des bloßen guten Willens durch eben
jenen Selbstzweck zu ersetzen. Diese Ersetzung aber hat für KANT auch eine
begründende Funktion für den Nachweis der Wirklichkeit des ethischen
Prinzips, d. h. für dessen verbindlichen Charakter für vernünftige Wesen in
ihrem Handeln in der Welt. Dies hängt damit zusammen, daß nun eine Entität
gefunden ist, der absoluter Wert zugeschrieben werden kann. Wäre dies nicht
der Fall, so bliebe auch das ethische Prinzip eine bloße Konstruktion: "wenn
132 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 428. KANT will damit jedoch
nicht sagen, daß Menschen nicht auch als Mittel angesehen werden können und
dürfen. Dies ist im Grunde immer dann bereits der Fall, wenn wir einen Menschen
im sozialen Zusammenhang auffassen, wo jeder auch als Mittel für den anderen
erscheint. Unerläßlich für die Bestimmung des Menschen ist nach KAm jedoch, daß
wir den Menschen nicht nur auf diese Weise auffassen, sondern auch als Zweck an
sich selbst und damit als nicht durch eine Beziehung auf andere Entitäten in der Welt
schon endgültig bestimmt.
80 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KANT
aber aller Wert bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft
überall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden." 133
Wenn die Form der Gesetzmäßigkeit durch die Person als Selbstzweck ersetzt
wird, so ist folgende Neuformulierung des kategorischen Imperativs erreicht:
"Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person
eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchest" 134. Die »Menschheit«, die in der Person jederzeit zugleich als
Zweck betrachtet werden soll, bedeutet hier nicht die Summe der Menschen,
sondern den Inbegriff des Menschlichen, den KANT zuvor mit Hilfe der
Selbstzweckhaftigkeit erklärt hatte. Dieser kategorische Imperativ soll nun
das gleiche sagen wie die »klassische« Formulierung, derzufolge wir nur
nach derjenigen Maxime handeln sollen, durch die wir zugleich wollen
können, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. Zusammengefaßt lautet die
KANTische Behauptung also: nach einer Maxime handeln, die es uns erlaubt,
zu wollen, daß sie ein allgemeines Gesetz werde, ist identisch mit dem
Handeln nach einer Maxime, die es uns erlaubt, in diesem Handeln andere
Menschen als selbstzweckhafte Personen zu behandeln.
Daraus lassen sich bereits einige Schlußfolgerungen ziehen, die KANTs
ethisches Prinzip mit Bezug auf den Begriff der Verantwortlichkeit verdeut-
lichen können. Zunächst besteht ethisch fundiertes Handeln offenbar darin,
andere Menschen als Personen - und nicht nur als Angehörige der Gattung
homo sapiens - zu behandeln. Jemanden als Person behandeln heißt jedoch
nach KANT, ihn nicht - bzw. nicht nur - als eine Entität in der Welt auffassen,
die durch Bezüge auf Entitäten außer ihr bestimmbar ist, sondern die sich
durch ihre eigenen Zwecke selbst bestimmt. Ethisch handeln heißt demzu-
folge, andere Menschen so behandeln, daß ihnen ihre Fähigkeit zur Selbst-
bestimmung erhalten bleibt. Nur so erscheinen sie als absolute Werte, die
nicht durch Bezüge auf außer ihnen liegende Zwecke relativiert sind.
Darüber hinaus ist jedoch auch noch eine andere Implikation zu sehen. Die
Auffassung anderer Menschen als Personen beinhaltet offenbar eine Hand-
4.
Ethische Verantwortlichkeit als Achtung für die
Personalität anderer Menschen
Dies führt zu der Bedeutung, die der kategorische Imperativ als ethisches
Prinzip für das Verhältnis zwischen Menschen besitzt. Das »Prinzip der
Menschheit«, d. h. die Selbstzweckhaftigkeit der Person, die nicht durch
Bezüge auf andere Entitäten in der Welt relativiert werden darf, stellt "die
oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden
Menschen" dar 135 • Der kategorische Imperativ schränkt also die Freiheit des
Menschen so ein, daß er sie an der Personalität der anderen Menschen enden
läßt.
Entscheidend für das Verständnis des Grundgedankens der KANTischen
Ethik ist nun, daß sie diese Rücksicht auf den Personencharakter anderer
Menschen in Zusammenhang mit einem Handeln bringt, das sich an der
reinen Form der Gesetzmäßigkeit orientiert und keine anderen Handlungs-
orientierungen außer dieser Form benutzt. Ethisch handeln heißt für KANT
also nun, die eigene Freiheit so beschränken, daß Rücksicht auf die Persona-
lität anderer Menschen genommen wird. Andere Menschen in ihrer Persona-
lität auffassen heißt nichts anderes, als sie in ihrer Selbstzweckhaftigkeit
respektieren. Dies wiederum ist nur dann erfüllt, wenn sie nicht durch Bezüge
auf andere Entitäten in der Weh verstanden werden, da damit eine Relativie-
rung stattfinden würde.
Eine solche Relativierung kann schon darin gesehen werden, daß der Mensch
nur als Angehöriger der Gattung homo sapiens aufgefaßt wird. Auf diese
Weise wird er durch Bezüge bestimmt, die ihn seiner Selbstzweckhaftigkeit
berauben. Als Individuum einer Gattung ist er durch den Bezug auf andere
Gattungen bestimmt, von denen die Gattung homo sapiens sich durch eine
differentia specifica unterscheidet. Die Gattung wird in diesem Sinne zu einer
Art, die mit anderen Arten zu einer gemeinsamen Gattung gehört. Etwa kann
eine solche Einteilung den Menschen als werkzeugbenutzendes Wesen von
anderen Arten innerhalb der Gattung der Primaten unterscheiden. Die Prima-
ten erscheinen jedoch mit Bezug auf die Wirbeltiere wiederum als Art, die
sich von anderen Wirbeltieren durch spezifische Differenzen unterscheidet.
Wie diese Einteilungen im einzelnen vorgenommen werden, ist in diesem
Zusammenhang von sekundärer Bedeutung. Wichtig erscheint jedoch, daß
der Mensch auf diese Weise durch Bezüge bestimmt wird, die ihn nicht als
Selbstzweck und als absoluten Wert auszeichnen. Genau dies würde KANT
zufolge aber dem ethischen Prinzip widersprechen.
Nun erscheint es unseren ethischen Intuitionen durchaus zu entsprechen,
wenn wir zögern, den Menschen ausschließlich durch seine Bezüge - also
relativ - innerhalb von Art-Gattungs-Zusammenhängen zu bestimmen. KANT
will jedoch nicht auf diesen Intuitionen aufbauen, sondern entwickelt Maß-
stäbe, aufgrund derer entscheidbar wird, wann wir Menschen nicht auf diese
Weise behandeln, sondern sie als selbstzweckhafte Personen mit absolutem
Wert auffassen. Man könnte den kategorischen Imperativ geradezu als diesen
Maßstab ansehen. Diese Funktion kann er übernehmen, weil KANT ihn in der
Selbstzweckformel so reformuliert, daß die Auffassung anderer Menschen
als Personen gleichbedeutend wird mit einem Handeln nach Maximen, die
es uns erlauben, zu wollen, daß sie zugleich als allgemeines Gesetz gelten
sollen. Ethisch handeln heißt demzufolge, unsere eigene Freiheit durch die
Rücksicht auf die Freiheit anderer Personen einzuschränken, indem wir
unsere Handlungen an Maximen orientieren, die ihre eigene Verallgemeine-
rung erlauben.
Daraus läßt sich erster Aufschluß über das Konzept der Verantwortung
gewinnen, wie es sich auf der Grundlage des KANTischen Ethikprinzips
4. Ethische Verantwortlichkeit als Achtung anderer Menschen 83
Mit diesem Element von Verantwortlichkeit auf der Grundlage des ethischen
Prinzips ist die eingangs vermutete Innerlichkeit der KANTischen Ethik doch
bis zu einem gewissen Grade relativiert. Zwar verläßt KANT auch mit der
Reformulierung des kategorischen Imperativs in der Selbstzweckformel
nicht den Ausgang bei dem Willen, der allein gut heißen kann und dies
aufgrund der Tatsache, daß er - etwa im Gegensatz zu den Temperamenten,
Talenten, Geistes- und Glücksgaben - nicht von den Wirkungen in der
Außenwelt abhängig ist und nicht durch nicht-intendierte Nebenfolgen in
seiner Güte erschüttert werden kann. Aber mit der Selbstzweckformel ist dem
ethischen Prinzip doch das Element einer Beziehung auf andere Menschen
implantiert, die als Personen zu behandeln identisch ist mit dem ethischen
Handeln. Diese Beziehung der Verantwortlichkeit wird von KANT nun gerade
als konsequente Fortentwicklung des kategorischen Imperativs gesehen, der
das ethische Prinzip formuliert. Sie enthält also nichts anderes als das Prinzip
des Ethischen selbst. Die Beziehung der Verantwortlichkeit ist demzufolge
nur eine Explikation dessen, was allein gut heißen kann, nämlich des sich
selbst unabhängig von externen Determinanten bestimmenden Willens.
Weil dies so ist, deshalb kann KANT auch den Gehalt der Verantwortlichkeit
nicht weiter bestimmen, als es bereits im Ansatz bei dem allein als gut zu
bezeichnenden Willen vorgegeben war. Dieser Gehalt ergibt sich aus der
Reformulierung des kategorischen Imperativs in der Selbstzweckformel, die
ja nichts Neues gegenüber der allgemeinen Formel enthalten darf, derzufolge
wir ethisch nur dann handeln, wenn wir dies aufgrund einer Maxime tun,
durch die wir zugleich wollen können, daß sie ein allgemeines Gesetz werden
soll. Unsere Verantwortung erstreckt sich demnach nur darauf, die Mensch-
heit in der eigenen Person und in der Person eines jeden anderen zugleich als
Zweck - d. h. als Selbstzweck - zu betrachten, wenn eine unserer Handlungen
die Interessen anderer Menschen tangiert.
Den anderen Menschen als Selbstzweck betrachten heißt aber, ihn nicht mit
Bezugnahme auf außer ihm selbst liegende Zwecke definieren. Dies wieder-
um bedeutet, daß ein verantwortliches Handeln die betroffenen Personen
nicht durch deren Bezüge auf Entitäten in der Welt auffassen darf. Dies
schließt auch ein Verständnis der anderen Personen als Angehörige der
4. Ethische Verantwortlichkeit als Achtung anderer Menschen 85
5.
Ethische Verantwortlichkeit als Achtung vor der
Autonomie und Freiheit anderer Menschen
5.1
Der Zusammenhang von Freiheit und Moralität
KANT drückt den Grundsatz seiner Ethik auch so aus: Die moralische Ver-
antwortlichkeit besteht in der "Abhängigkeit eines nicht schlechterdings
guten Willens vom Prinzip der Autonomie" 136. »Autonomie« kann geradezu
als Zentralbegriff der KANTischen Ethikkonzeption aufgefaßt werden 137•
Dies ist bereits in zweifacher Hinsicht deutlich geworden. Autonomie heißt
wörtlich übersetzt »Selbstgesetzgebung«. Diese Selbstgesetzgebung ist das
Prinzip, auf dessen Grundlage sich ein Wille bestimmen muß, wenn er ein
guter Wille sein soll. Nur ein guter Wille aber kann Grundlage eines ethisch
relevanten Verhaltens sein. Ethisch relevant handeln heißt demnach, einem
Willen zu folgen, der sich autonom bestimmt hat.
Zum zweiten wird über die Selbstzweckformel die Autonomie auch zu der
Eigenschaft des Menschen, die in einem ethisch relevanten Handeln notwen-
dig berücksichtigt werden muß, wenn dieses Handeln im ethischen Sinne
verantwortlich sein soll. Der kategorische Imperativ fordert also nach dieser
Formel, so zu handeln, daß dabei die Autonomie der davon betroffenen
Personen berücksichtigt wird. Als Zwecke an sich werden andere Menschen
nur dann aufgefaßt, wenn sie als fahig zur Selbstgesetzgebung angesehen
werden. Die Autonomie kann also nicht nur auf seiten des Handelnden als
Grundlage eines ethisch richtigen W ollens verstanden werden, sondern muß
ebenso als zu berücksichtigende Auszeichnung anderer Menschen in diesem
Wollen ihren Niederschlag finden. Unter diesem Aspekt stellt sich eine im
ethischen Sinne verantwortliche Handlung als eine solche Handlung dar, die
138 Vgl. dazu A. DORSCHEL, Die idealistische Kritik des Willens: Versuch über die
Theorie der praktischen Subjektivität bei KANT und REGEL, Hamburg 1992, S. 5 ff.
139 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 426.
140 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 447.
141 Kritik der praktischen Vernunft, AA V, S. 31.
88 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung' Freiheit· Immanuel KANT
mentiert werden, daß "der Wille eines jeden vernünftigen Wesens an den
Imperativ der Sittlichkeit als Bedingung notwendig gebunden sei" 142. Die
Autonomie als Prinzip der Moral dagegen ließ sich analytisch finden, nämlich
im Ausgang von dem Begriff eines guten Willens, der bereits die Orientierung
an der Verallgemeinerungsfähigkeit als der reinen Form der Gesetzmäßigkeit
als Bestimmungsgrund fordert l43 .
KANT ist folglich nun verpflichtet, einen Begriff von Freiheit zu entwickeln,
der den sittlichen Imperativ weiter begründen kann, indem es mit seiner Hilfe
möglich ist, die Sittlichkeit aus der Eigenschaft der Freiheit abzuleiten.
Allerdings stößt die Argumentation hier auf beträchtliche Schwierigkeiten,
die nur mit Hilfe einer ungewöhnlichen Argumentationsform behoben wer-
den können. Die Freiheit läßt sich nicht beweisen und als eine Wirklichkeit
in der objektiven Welt nachweisen. Dies läßt sich schon daraus ersehen, daß
die objektive Welt in der KANTischen Philosophie als konstituiert durch
notwendige und allgemeine und deshalb apriorische Urteils formen bzw.
Kategorien aufgefaßt wird. Wenn die objektive Welt unter notwendigen
Gesetzen steht, so findet sich in ihr kein Raum für Freiheit. Die Möglichkeit
und Wirklichkeit der Freiheit kann deshalb nur durch den Verweis auf ein
Phänomen gezeigt werden, das plausibel nur durch ein Durchbrechen der
Kette der Kausalität verstanden werden kann.
Ein solches Phänomen kann im Rahmen der KANTischen Philosophie jedoch
nur die Moralität selbst sein. Die KANTische Moralphilosophie hat bis jetzt
den Gedanken entwickelt, daß ethische Verbindlichkeit darin besteht, den
Willen durch die reine Form der Gesetzlichkeit zu bestimmen und ihn damit
von allen materiellen Determinanten abzusondern. Dies kann auch als Selbst-
bestimmung verstanden werden, die nicht durch fremde Bestimmungsgründe
determiniert wird. Deshalb unterbricht eine ethische Handlungsorientierung
die Kette der Kausalität und ist »spontan«, d. h. selbsttätig, indem sie den
Willen autonom im Sinne einer reinen Selbstzweckhaftigkeit bestimmt.
KANT formuliert deshalb: Das moralische Gesetz dient "umgekehrt selbst zum
Grundsätzlich akzeptiert KANT diese Sachlage auch. Er kann dies jedoch nur
deshalb, weil er eine Unterscheidung in Anspruch nimmt, die in der »Kritik
der reinen Vernunft« entsprechend als Erscheinung und Ding an sich ge-
braucht wurde. Hier in der Moralphilosophie unterscheidet KANT zwei
»Standpunkte«, von denen aus der Mensch ein Verständnis von sich selbst
gewinnen kann: Er kann sich selbst als zur Sinnenwelt gehörig betrachten
und ist dann ein Teil der Welt, die unter Kausalgesetzen steht; er kann sich
jedoch auch als Teil einer »intelligibelen Welt« betrachten, in der er sich als
frei denken kann 149. Von diesem Gedanken her kann KANT den Grundgedan-
ken seiner Moralphilosophie folgendermaßen formulieren: "So sind katego-
rische Imperative möglich, dadurch daß die Idee der Freiheit mich zu einem
Gliede einer intelligibelen Welt macht". 150
Auf dieser Grundlage wird verständlich, warum KANT ethisches Handeln und
freies Handeln identifizieren kann. Demnach handelt frei nur, wer seinen
Willen nicht durch materielle Determinanten, sondern nur durch die reine
Form der Gesetzlichkeit bestimmt, d. h. seine Maximen gemäß dem katego-
rischen Imperativ an der Verallgemeinerungsfähigkeit ausrichtet l51 • Von da
her ergibt sich auch ein weiterer Aufschluß über den Status der Verantwort-
lichkeit in KANTs Ethik. Im ethischen Sinne verantwortlich handeln kann nur
jemand, der darin ebenso frei handelt. In der Ausarbeitung der Selbstzweck-
formel war die Personalität des ethisch Handelnden als Ausgangspunkt für
die Bindung der vernünftigen Wesen an die Moralität entwickelt worden.
Entsprechend erscheinen »verantwortliches Handeln«, »freies Handeln« und
»personales Handeln« nun als austauschbare Begriffe.
Darüber hinaus war in der Selbstzweckformel das moralische Handeln mit
einem Handeln nach Maximen gleichgesetzt worden, die andere Menschen
aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer
Philosophie, die bis zur Grenze aller menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt,
gefordert werden kann" (a.a. 0., S. 463).
149 Vgl. dazu A. DORSCHEL, Die idealistische Kritik des Willens: Versuch über die
Theorie der praktischen Subjektivität bei KANTund REGEL, Hamburg 1992, S. 24 ff.,
S.31ff.
150 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 454.
151 Vgl. näher R. BITINER, Kausalität aus Freiheit und kategorischer Imperativ, in:
Zeitschrift für philosophische Forschung 3211978, S. 265 - 274.
5. Ethische Verantwortlichkeit und die Freiheit anderer Menschen 91
als Selbstzwecke und nicht bloß als Mittel aufzufassen erlauben. Moralisch
kann demnach nur ein Handeln genannt werden, das durch Maximen geleitet
wird, die den Respekt für die Autonomie und die Freiheit der anderen
Menschen implizieren. Deshalb muß ein im ethischen Sinne verantwortliches
Handeln nicht nur als freies und personales Handeln begriffen werden,
sondern auch und im gleichen Sinne als ein Handeln, das in den leitenden
Maximen die Freiheit der möglicherweise betroffenen Personen anerkennt.
Dies aber ist wiederum identisch mit einem Handeln, das die anderen Perso-
nen als selbst autonom, personal und damit ethisch verantwortlich versteht.
5.2
Das Recht als ethisch geforderte Achtung der
äußeren Freiheit anderer Menschen
Der Begriff der Freiheit stellt nun zum einen den Grundbegriff der KANTi-
schen Moralphilosophie dar, zum anderen fundiert er jedoch auch die KANTi-
sche Philosophie des Rechts l52 . Auch das Rechtsprinzip ist ein analytischer
Satz aus dem Begriff der Freiheit l53 • Deshalb kann KANT auch die »juridi-
schen Pflichten« als ethische Pflichten bezeichnen 154. Er spricht hier von
»indirekt-ethischen« Pflichten 155 • Die Unterscheidung zwischen Moral und
Recht betrifft also grundsätzlich "die Einteilung in die Pflichten der äußeren
und inneren Freiheit", die gerade durch den Begriff der Freiheit notwendig
. d 156 .
gemach t WIr
Dieser Zusammenhang von moralischer und rechtlicher Freiheit ergibt sich
nun zunächst aus der Verantwortlichkeit, die aufgrund ihrer Freiheit nur der
Person zukommt, die sich selbst bestimmen kann und somit als Selbstzweck
existiert. Diese Verantwortlichkeit bildet die Grundlage der Möglichkeit des
152 Vgl. zum Folgenden G.-W. KÜSTERS, KANTs Rechtsphilosophie, Darmstadt 1988,
und W. KERSTING, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel KANTs Rechts- und Staatsphi-
losophie, Berlin 1984.
153 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 396.
154 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 214.
155 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 221.
156 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 406.
92 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm
Rechts. Da das Recht aber die äußeren Handlungen einer Person regelt - und
nicht in erster Linie auf die Beweggründe achtet, wie das gemäß der KANTi-
sehen Ethik für die Moral charakteristisch ist -, so ist als Person nun der
Mensch aufzufassen, insofern er eine rechtlich relevante Tat begehen kann.
Dies ist dann der Fall, wenn diese Tat ihm zugerechnet werden, also wenn er
dafür verantwortlich gemacht werden kann. Als rechtlich relevante Tat kann
eine Handlung dann bezeichnet werden, "sofern sie unter Gesetzen der
Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subjekt in derselben nach der
Freiheit seiner Willkür betrachtet wird" 157.
und damit ein Zustand gegeben sein, den KANT als »status belli« bezeichnet.
Das Recht bezeichnet unter diesem Aspekt nun den Übergang zu einem
»bürgerlichen Zustand«, in dem Rechte durch öffentliche und mit Sanktionen
durchsetzbare positive Gesetze garantiert werden l66 . Im bürgerlichen Zu-
stand wird die Vereinigung der Freiheiten nun "unter einer allgemeinen
äußeren (d. i. öffentlichen) mitMacht begleiteten Gesetzgebung" geregelt l67 •
Diese Durchsetzbarkeit von Gesetzen auch gegen Widerstand ist nach KANT
bereits "im Begriffe einer äußeren rechtlichen Verpflichtung wegen der
Allgemeinheit, mithin auch der Reziprozität der Verbindlichkeit aus einer
allgemeinen Regel enthalten" 168.
Da nur so die Freiheiten vereinigt werden können und damit Personen in ihrer
Freiheit, Verantwortlichkeit und Selbstzweckhaftigkeit miteinander leben
können, deshalb ist der »bürgerliche Zustand« aber eine Forderung, die
bereits aus der moralphilosophischen Grundlegung der Begriffe Freiheit,
Verantwortlichkeit und Selbstzweckhaftigkeit abgeleitet werden kann 169.
Einen solchen Zustand anzustreben, ist folglich selbst eine moralische For-
derung, die unmittelbar aus den Grundlagen der Moralität entsteht. Der
»bürgerliche Zustand« ist also so begründet, "daß alle Menschen, die mit
einander (auch unwillkürlich) in Rechtsverhältnisse kommen können, in
diesen Zustand treten sollen" 170.
Darin ist im übrigen auch die Notwendigkeit der Existenz des Staates begrün-
det. Der Staat ist im KANTischen Verständnis genau die Instanz, die durch
ihr Gewaltmonopol die Durchsetzung der positiven Gesetze ermöglicht und
damit den »status belli« in den »bürgerlichen Zustand« transformiert l7l . Der
Staat stellt eine "Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsge-
setzen" dar, und in ihm sind die einzelnen Willen "verbunden durch das
gemeinsame Interesse Aller, im rechtlichen Zustande zu sein" 172.
Wir können den Weg zurück zur Grundlegung der Moralphilosophie folglich
auch so finden. KANT hatte das Problem, das die Fundierung der Ethik in
einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Moralität und Freiheit
stellt, zwar anerkannt, aber doch durch die Unterscheidung zwischen dem
Standpunkt der Selbstauffassung des Menschen als eines Sinneswesens und
eines intelligibelen Wesens aufzulösen gesucht. Als moralisch frei können
wir uns demzufolge betrachten, weil wir als Glieder der intelligibelen Welt
niCht der Naturkausalität unterworfen sind. Die gleiche Voraussetzung in der
Selbstauffassung des Menschen wird jedoch nun durch das Recht erfordert.
Dieser Zusammenhang ist zunächst schon durch die Grundlegung des Rechts
im Verhältnis freier, verantwortlicher und selbstzweckhafter Personen gege-
ben. KANT formuliert so: "Wenn von Pflichtgesetzen ... die Rede ist und zwar
im äußeren Verhältnis der Menschen gegen einander, so betrachten wir uns
in einer moralischen (intelligibelen) Welt." 173
5.3
Das Recht als Verwirklichung der ethischen Verantwortlichkeit
als Achtung vor der Freiheit anderer Personen
Die ethische Position KANTS zeichnet sich also unter anderem dadurch aus,
daß sie eine argumentative Verbindung von der zentralen ethischen Begrün-
dungsform zur Grundlegung rechtlicher Verhältnisse zwischen Menschen
herstellt. Das Recht ist damit ethisch begründet, und im Rechtszustand zu
leben ist eine ethische Forderung. Deshalb läßt sich die Begründung des
Rechts in die zentralen Begriffe der KANTischen Ethik zurückverfolgen.
Obwohl das Recht nicht auf den »guten Willen« rekurriert, wenn es die
Beziehungen zwischen Menschen regelt, so ist die Rechtlichkeit doch der
KANTischen Auffassung zufolge geboten, weil sie sich auf eben jenen »guten
Willen« zurückführen läßt, der KANT zufolge allein »gut« heißen kann.
Damit ist die Rechtlichkeit auch durch das begründet, was aus diesem
Grundansatz der KANTischen Ethik folgt.
Dem muß nicht widersprechen, daß das Recht die äußere Handlungsfähigkeit
eines Menschen im Falle des Konflikts mit der äußeren Handlungsfähigkeit
anderer Menschen einzuschränken erlaubt und diese Einschränkung auch
durch Sanktionen erzwungen werden kann. Diese Einschränkung rechtfertigt
sich durch die Notwendigkeit, die Freiheit des einen mit der Freiheit des
anderen vereinigen zu müssen, so daß sich nicht die Freiheit nur des einen
durchsetzen kann. Eine solche einseitige Durchsetzung von Freiheit würde
der Achtung der fremden Selbstzweckhaftigkeit und Selbstbestimmungsfä-
higkeit widersprechen und wäre damit ethisch nicht gerechtfertigt. Auch der
Zwangscharakter des Rechts legitimiert sich letztlich also durch die ethisch
gebotene Anerkennung anderer Menschen als Zwecke an sich selbst und als
5. Ethische Verantwortlichkeit und die Freiheit anderer Menschen 97
Wesen, denen durch ihre Natur die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu-
kommt.
Die den Menschen auszeichnende Fähigkeit zur Selbstbestimmung steht in
der KANTischen Ethik in enger Beziehung zu der Bestimmung des Willens
aus reiner Gesetzlichkeit, die ihm die Dignität eines guten Willens verleiht,
der ohne materielle Determinanten bleiben muß. Selbstbestimmung kann
deshalb ohne weiteres in Selbstgesetzlichkeit umformuliert werden, d. h. in
Autonomie. In der Autonomie dokumentiert sich KANT zufolge die Freiheit
des Menschen, und sie kann sich auf keine andere Weise dokumentieren.
Deshalb kann die KANTische Ethik auch als eine Begründung des menschli-
chen Sollens angesehen werden, die allein im Ausgang von der menschlichen
Freiheit fundiert wird.
Die ethische Begründung des Rechts läßt sich demnach auch auf die Kon-
zeption der menschlichen Freiheit zurückführen. Ein Leben im Status der
Rechtlichkeit ist also ethisch geboten, weil nur darin die eigene Freiheit und
die Freiheit der anderen in den äußeren Verhältnissen der Menschen wech-
selseitig Anerkennung finden. 174 Es besteht also eine Parallele zwischen der
direkt ethischen Forderung, die eigenen Handlungsmaximen so zu bestim-
men, daß darin die Freiheit der anderen Menschen Berücksichtigung findet,
wie es in der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs ausgedrückt
ist, und der indirekt ethischen Forderung, in einen rechtlichen Zustand zu
treten, in dem die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in den
äußeren Verhältnissen vereinigt werden kann. Der Ausdruck »Parallele« ist
jedoch insofern nicht ausreichend, um diese Beziehung zu charakterisieren,
als die Rechtlichkeit als indirekt ethische Forderung in der direkt ethischen
Forderung begründet ist, die sich wiederum auf die Selbstzweckhaftigkeit
des Menschen stützt, die letztlich auf die ursprüngliche Formulierung des
ethischen Prinzips im kategorischen Imperativ zurückzuführen ist.
174 Vgl. F. KAULBACH, Der Begriffder Freiheit in KANTS Rechtsphilosophie, in: Philo-
sophische Perspektiven 5/1973, S. 78 - 91.
98 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KANT
6.
Zur praktischen Bedeutung der
KANTischen Konzeption ethischer Verantwortlichkeit
6.1
Von der »Innerlichkeit« des guten Willens
zur Anerkennung fremder Autonomie
Daraus läßt sich nun weiterer Aufschluß über den Charakter des Ethischen
und den Status von ethischer Verantwortlichkeit im Denkzusammenhang der
KANTischen Moralphilosophie gewinnen. Zunächst schien es so, daß ethische
Normen bei KANT keinerlei Zusammenhang mit den Handlungen von Men-
schen haben können, da sie nur den »guten Willen« betreffen, der in der
Innerlichkeit des einzelnen verbleibt und gerade dadurch in seiner ethischen
Bedeutung ausgezeichnet ist, daß seine Wirkungen in der Außenwelt - d. h.
auch für andere Menschen - für seinen ethischen Charakter völlig bedeu-
tungslos sind. Dies ist auch so weit richtig, als die KANTische Ethik tatsäch-
lich das »Gute« zunächst nur in einer Form der Bestimmung von Maximen
sieht, die keinerlei Determinanten materieller bzw. inhaltlicher Art zuläßt,
sondern nur die reine Form der Gesetzlichkeit als Bestimmungsweise des
Willens fordert, wenn von einer ethischen Verpflichtung die Rede sein soll.
Dennoch kann nicht im eigentlichen Sinne von einer »Ethik der Innerlich-
keit« die Rede sein 175 • Dies ist darin begründet, daß vom Ausgangspunkt in
der »Innerlichkeit« der autonomen Bestimmung des Willens ohne Berück-
sichtigung von Handlungsfolgen in der Außenwelt ein konsequenter argu-
175 Vgl. F. KAULBACH: "Es ist nicht gerechtfertigt, KANTs Standpunkt als den einer
einseitigen »Gesinnungsethik« zu kennzeichnen, die sich gegenüber dem Prinzip der
Verantwortung gleichgültig verhalte. Es ist vielmehr so, daß KANT die Verantwor-
tung in der Perspektive der Gesinnung bestimmt. Der von ihm vertretene praktische
Perspektivismus, demzufolge dem Zweck in der Perspektive des guten Willens die
Qualität des Gut-seins verliehen wird, bringt den Gedanken zur Geltung, daß von
diesem Willen her erst zu entscheiden ist, was der Verantwortung Wert ist, damit
dann der Einsatz des Willens für die Verwirklichung des betreffenden Zweckes
selbst als wertvoll beurteilt werden kann." (F. KAULBACH, Immanuel KANTs »Grund-
legung zur Metaphysik der Sitten«. Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988,
S.28).
6. Praktische Bedeutung KANTischer Verantwortlichkeit 99
mentativer Weg zur Anerkennung der Selbstzweckhaftigkeit, Selbstbestim-
mung - d. h. Autonomie - und damit Freiheit anderer Menschen führt. Diese
Anerkennung zeigt sich zunächst in der Umformulierung des kategorischen
Imperativs in der Selbstzweckformel, die gebietet, andere Menschen nicht
nur als Mittel, sondern stets auch als Selbstzweck zu verstehen. Dieses
Verständnis hat seine Wurzeln zum einen in der Begründung des ethischen
Imperativs in der Innerlichkeit des guten Willens. Zum anderen bleibt es
jedoch nicht beim bloßen »innerlichen« Verstehen, sondern der Imperativ
fordert auch eine Bestimmung der Maximen unserer Handlungen gemäß
diesem Verständnis. Die Anerkennung der Freiheit anderer Menschen in den
Bestimmungen unserer Handlungsweisen ist damit unmittelbar aus den
Grundlagen der KANrischen Ethik als ethische Forderung entwickelt176 •
Daß die KANrische Ethik über die bloße »Innerlichkeit« hinaus auch eine
Bedeutung für die Bestimmung der Relationen zwischen Menschen besitzt,
dies zeigt sich siarüber hinaus jedoch in der aus den Grundlagen der Ethik
entwickelten Rechtsphilosophie, die die Vereinigung der Freiheit des einen
mit der Freiheit des anderen durch Gesetze, die mit Sanktionsdrohungen
durchgesetzt werden können, als zentrale Forderung enthält.
Die Bedeutung der KANrischen Ethik für die ethische Verantwortlichkeit
unternehmerischen HandeIns kann zum einen in diesem ethisch fundierten
Zusammenhang der ethischen und der rechtlichen Berücksichtigung von
Freiheit in den Maximen des HandeIns gesehen werden. Auf der Grundlage
der KANrischen Ethik kann der Unternehmer seine Handlungen nicht mehr
nur solchen Kriterien unterwerfen, die er aufgrund seiner Verfassung als
ethisch verbindliches Wesen in seiner Innerlichkeit als ethisch richtig er-
kennt. GeraQe wenn er bereit ist, seine Handlungen auf ethische Richtigkeit
zu überprüfen, so ist er verpflichtet, die Rechtlichkeit seiner Beziehungen zu
den Marktpartnern als ethische Verpflichtung aufzufassen.
176 Vgl. H. KÖHL: "Das moralische Gesetz schreibt vor, auf andere Rücksicht zu
nehmen. Eine allgemeine Motivation zu solcher Rücksichtnahme ist nur denkbar,
wenn diejenige Eigenschaft von Personen, aufgrund deren sie ein Recht auf Rück-
sichtnahme haben, ein Gefühl erzeugt, das uns zu rücksichtsvollem Verhalten
motiviert. KANT hat diese Eigenschaft von Menschen in ihrer Autonomie lokalisiert
und die Motivationsquelle zu rücksichtsvollem Verhalten in dem moralischen Ge-
fühl der Achtung gesehen." (H. KÖHL, KANTS Gesinnungsethik, Berlin 1990, S.149).
100 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung' Freiheit· Immanuel KANT
Auf ganz andere Weise kehrt die Bedeutung des Persönlichen und der
Berücksichtigung fremder Interessen jedoch mit Hilfe der zentralen Argu-
mentationen KANTs in die Ethik zurück. Hier geht es jedoch nicht darum, daß
der Handelnde seine persönlichen Ansichten über Gut und Böse durchsetzt
bzw. seinem unternehmerischen Handeln zugrundelegt. Entscheidend für den
ethischen Charakter auch unternehmerischer Handlungen ist vielmehr, daß
der Handelnde sich darin als Person zeigt. Dies tut er nach KANT, wenn er
sich als selbstzweckhaftes Wesen erweist, das zur Selbstbestimmung fähig
ist und darin seine Autonomie und Freiheit beweist. KANTS Begriff der Person
unterscheidet sich also von dem heute weit verbreiteten Begriff, der Person
vom »Persönlichen« her versteht und damit das meint, was ein Individuum
in Abgrenzung vom Allgemeinen nur für sich besitzt.
Im Gegensatz dazu enthält KANTs Begriff der Person einen internen Bezug
auf Allgemeinheit bzw. Verallgemeinerungsfahigkeit. Dieser Begriff behält
eine Verbindung zum geläufigen Begriff des Persönlichen, indem auch darin
die Freiheit als zentral für die Existenz einer Person angesehen wird. Freiheit
erscheint jedoch bei KANT nicht als die Sphäre des Persönlichen, das von der
Allgemeinheit getrennt sein könnte. Freiheit ist für KANT allein in der
ethischen Selbstbestimmung des Willens auf der Grundlage der Prüfung von
Maximen auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit möglich. Nur darin kann der
Mensch sich von der Naturkausalität trennen und sich als Teil der »intelligi-
belen« Welt zeigen. Erst und nur dieser Erweis von Freiheit macht den
Menschen zur Person, die damit vom nur »Persönlichen« unterschieden ist.
Von Person kann im KANTischen Denkzusammenhang also nur auf der
Grundlage der ethisch demonstrierten Freiheit gesprochen werden.
Nun enthält das ethische Grundprinzip jedoch nicht nur die Innerlichkeit der
Bestimmung eines guten Willens, sondern diese Bestimmung erfordert es
zugleich, sich selbst und alle anderen vernünftigen Wesen als Zwecke an sich
selbst und nicht nur als Mittel anzusehen und die Maximen der Handlungen
102 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KANT
Der KANTische Begriff der Person verweigert sich also von vornherein dem
bloß Privaten. Person sein heißt nicht, den privat für richtig gehaltenen
Normen zu folgen, sondern sich an solchen Normen zu orientieren, die
sowohl der eigenen wie auch der fremden Freiheit gerecht werden. Als Person
und damit als ethisch verbindliches Wesen zeigt der unternehmerisch Han-
delnde sich also dann, wenn er bereit und fähig ist, sich weder an seinen
privaten Interessen noch an seinem Altruismus zu orientieren, sondern in die
Determinanten seiner Entscheidungen die Allgemeinheit aufnimmt, die
KANT zufolge allein geeignet ist, die Handlungssituation ethisch zu struktu-
rieren.
Eine solche Strukturierung impliziert demzufolge, sich selbst im dargestell-
ten Sinne als Person zu erweisen - dies wiederum erfordert jedoch die
Anerkennung aller anderen vernünftigen Wesen als Personen. Dies kann
ebenso mit Hilfe des Begriffes der Freiheit ausgedrückt werden: eine Hand-
lungssituation ist dann ethisch, wenn der Handelnde darin seine eigene
Freiheit beweist und gleichzeitig die Freiheit anderer vernünftiger Wesen
anerkennt.
Entsprechend ergibt sich für den Begriff der Verantwortung, daß von einer
Verantwortung im ethischen Sinne dann nicht gesprochen werden kann,
wenn »persönliche« (im Sinne von »privat«) Interessen der handelnden
Personen beteiligt sind. Solche Interessen müssen nicht egoistisch motiviert
sein. Sie können auch als moralische Überzeugungen auftreten. Eine ethische
Verantwortung wird im KANTischen Sinne nur dann ausgeübt, wenn die
eigenen Interessen oder moralischen Überzeugungen nicht als Grundlage der
6. Praktische Bedeutung KANTischer Verantwortlichkeit 103
Maximen von Handlungen dienen. Von Verantwortung kann also nur dann
gesprochen werden, wenn es darin dem Handelnden gelingt, die Verallge-
meinerungsfähigkeit als Kriterium für die Richtigkeit seiner Maximen zu
akzeptieren.
Deshalb liegt Verantwortung im ethischen Sinne nur dann vor, wenn der
Handelnde auf diese Weise sich selbst und alle anderen beteiligten vernünf-
tigen Wesen als Selbstzwecke und damit als fähig zur Selbstbestimmung
auffaßt. Es ist nur eine Umformulierung dieses Zusammenhanges, wenn
gesagt wird, daß Verantwortung entsprechend nur in einer Situation verwirk-
licht wird, in der die Autonomie und die Freiheit des Handelnden und der
beteiligten Personen sich als handlungsleitende Determinanten auswirken
können. Verantwortung ist also nur in einer Lage möglich, die durch die
wechselseitige Anerkennung von Selbstbestimmung und Freiheit aller Per-
sonen gekennzeichnet ist.
Auch auf der Grundlage des KANTischen Verständnisses von ethischer
Verantwortung zeigt sich eine gewisse »Entpersönlichung« als Grundzug des
Ethischen. Verantwortung im ethischen Sinne liegt nur dann vor, wenn der
Handelnde bereit ist, von seinen persönlichen Interessen an den Auswirkun-
gen seiner Handlungen auf andere Personen abzusehen. Es genügt auch nicht,
daß der Handelnde die Interessen einer bestimmten Gruppe anderer Personen
berücksichtigt. Speziell für eine Unternehmens ethik wird es auf der Grund-
lage der KANTischen Ethik also nicht ausreichen, sich um die Belange der
Marktpartner zu kümmern, um zu ethischen verantwortlichen Entscheidun-
gen zu kommen. Indem Verantwortlichkeit erst aus der Verallgemeinerungs-
fähigkeit als Kriterium ethischer Maximen entstehen kann, wird Verantwor-
tung nur dann wahrgenommen, wenn die Handlungsmaximen so bestimmt
werden, daß darin die Selbstbestimmung und die Freiheit des Handelnden
und aller vernünftigen Wesen Berücksichtigung finden können.
104 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm
6.3
Der Horizont der ethischen Verantwortlichkeit
177 Im Hinblick auf HABERMAS kann sogar gesagt werden, daß nach KAm auch eine
Orientierung der Handlungsmaximen an den Interessen aller lebenden Menschen
und aller Menschen, die je gelebt haben und leben werden, nicht für eine ethische
Verantwortlichkeit ausreichen kann.
178 Im übrigen würde dies stets wieder zu der Frage zurückführen, warum alle Interessen
Berücksichtigung finden müssen, ohne auf deren ethische Berechtigung zu achten.
6. Praktische Bedeutung KANTischer Verantwortlichkeit 105
tion KANTs bestand ja in der Behauptung, daß nur ein guter Wille gut im
vollen und eigentlichen Sinne heißen könne. Dies ist nur dann aufrechtzuer-
halten, wenn der Wille ohne Rekurs auf externe Determinanten zu bestimmen
ist. Eine solche Bestimmungsmöglichkeit fand KANT in der Bestimmung
durch die bloße Form der Gesetzlichkeit ohne Rücksicht auf materielle oder
inhaltliche Determinanten. Gesetzlichkeit aber ist als Verallgemeinerungsfä-
higkeit zu denken. Diese argumentative Herkunft des Gedankens der Verall-
gemeinerung macht es unmöglich, von verantwortlichen Maximen nur dann
sprechen zu wollen, wenn ihre Rechtfertigung gegenüber den Interessen aller
Menschen möglich ist. In diesem Sinne fordert die KANTische Ethik zwar
von einem ethisch verantwortlich Handelnden, sich nicht nur an den Interes-
sen der unmittelbar Beteiligten zu orientieren. Sie fordert jedoch nicht, diese
Orientierung auf alle Interessen aller Menschen auszudehnen.
Deshalb kann im Grunde nicht von einer Überdehnung des Horizontes der
Verantwortlichkeit gesprochen werden. In gewissem Sinne kann die KANTi-
sehe Auffassung gerade in der entgegengesetzten Richtung verstanden wer-
den. Dies läßt sich daraus ersehen, daß aufgrund der spezifisch KANTischen
Bestimmung von ethischer Verantwortlichkeit nicht mehr gefordert ist, eine
Entscheidung auf ihre Verträglichkeit mit bestimmten anderen Interessen hin
zu untersuchen. Radikal formuliert kann sogar gesagt werden, daß die inhalt-
lich bestimmten anderen Interessen zunächst nicht ethisch relevant sind.
Indirekt sind sie es jedoch wohl.
müßte gesagt werden, daß der Handelnde nicht mit autonomen und freien
Vernunftwesen konfrontiert wäre.
6.4
Der Inhalt ethischer Verantwortlichkeit
Wofür wir also verantwortlich sind und wem wir verantwortlich sind, fallt in
gewisser Weise zusammen. Beides läßt sich mit dem Begriff der Personhaf-
tigkeit beschreiben. Dieser Begriff kann jedoch ersetzt werden durch die
Begriffe Selbstzweckhaftigkeit, Selbstbestimmung, Autonomie und Freiheit.
Wenn wir den Begriff der Freiheit benutzen, so können wir also auf der
Grundlage der KANTischen Konzeption von Ethik sagen, daß eine ethisch
relevante Verantwortung stets für die Freiheit und gegenüber der Freiheit
108 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm
besteht. »Freiheit« ist für KANT jedoch nicht eine Eigenschaft, von der in
beliebigen Zusammenhängen die Rede sein kann, sondern Freiheit ist im
Grunde das Dasein des vernünftigen Wesens in seiner Selbstzweckhaftigkeit
und Selbstbestimmung. Demgemäß kann auch gesagt werden, daß eine
ethisch relevante Verantwortung stets für die Selbstbestimmung des vernünf-
tigen Wesens und gegenüber dem durch seine Fähigkeit zur Selbstbestim-
mung ausgezeichneten vernünftigen Wesen besteht.
Die ethische Situation wurde bisher durch die Personalität der Beteiligten und
den besonderen Charakter einer ethisch relevanten Verantwortung beschrie-
ben. Auf der Grundlage des ethisch determinierten engen Zusammenhanges
zwischen Moral und Recht im KANTischen Gedankengebäude muß jedoch
noch ein weiteres Element hinzugefügt werden. Das Recht besitzt in der
KANTischen Philosophie eine eigenartige Stellung. Einerseits ist die Person
aufgrund ihres ethischen Charakters verpflichtet, in einem rechtlichen Zu-
stand zu leben. Die Verpflichtung zur Rechtlichkeit ist also eine Folgewir-
kung der Genesis des Ethischen aus der Bestimmung des Willens ohne
externe und inhaltliche Determinanten durch reine Gesetzesförmigkeit. Folg-
lich entsteht die Verpflichtung zur Rechtlichkeit bereits mit der Selbstbestim-
mung, die Autonomie und Freiheit impliziert bzw. voraussetzt. Das Recht
beginnt also bereits in den ersten argumentativen Grundlagen der KANTi-
sehen Ethik.
Andererseits fordert das Recht Gehorsam auch gegenüber Gesetzen, die nicht
aus ethischer Legitimation ableitbar sind, sondern durch bloße Positivität
gelten und mit Hilfe von Sanktionsdrohungen durchgesetzt werden. KANT
sah darin und nur darin die Möglichkeit, in den äußeren Verhältnissen
zwischen Menschen die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen zu
vereinigen. Diese Forderung wurde im ethischen Zusammenhang mit der
Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs aufgestellt und wird im
Recht nun auf die äußeren Verhältnisse und auf die äußere Freiheit übertra-
gen. Da die Verpflichtung zur Rechtlichkeit jedoch in den Grundlagen der
Ethik verwurzelt ist, so besteht auch ein enger Zusammenhang zwischen der
ethischen Situation und der Verpflichtung, in einem rechtlichen Zustand zu
6. Praktische Bedeutung KANTischer Verantwortlichkeit 109
leben, auch wenn dies mit dem Gehorsam gegenüber einem nur positiven und
nicht gleichzeitig in seiner Vernünftigkeit einsehbaren Recht verbunden ist.
Deshalb kann auch die Verpflichtetheit zur Rechtlichkeit als ein Bestandteil
der ethischen Situation und als Gehalt ethischer Verantwortlichkeit angese-
hen werden. Die KANTische Ethik ist gerade dadurch ausgezeichnet, daß sie
nicht bei rein ethischen Forderungen stehenbleibt, sondern aus internen
Gründen eine Verhaltensregelung als ethisch geboten impliziert, die im
Gegensatz zur Ethik nicht Rücksicht auf den guten Willen nimmt, sondern
nur die äußeren Handlungen regelt. Durch diese Ergänzung aber erhalten
auch Personalität und Verantwortlichkeit einen erweiterten Status. Das
ethisch fundierende Verhältnis zwischen Personen als Verhältnis zwischen
selbstzweckhaften und freien Wesen besteht nicht in seiner ganzen Wirklich-
keit, wenn es nicht die wechselseitige Verpflichtung der Personen auf das
Recht als sanktions gestützte Regelung ihrer äußeren Beziehungen ein-
schließt. Anders gesagt: einen Menschen als Person auffassen bedeutet auch,
danach zu streben, mit ihm in einen rechtlichen Zustand zu treten, wenn auch
nur die Möglichkeit besteht, daß in den äußeren Verhältnissen Interessenkol-
lisionen auftreten können.
Das gleiche gilt jedoch auch für das Moment der Verantwortlichkeit. Verant-
wortung zeigen bedeutet nicht nur, für die Selbstzweckhaftigkeit und Freiheit
der eigenen Person ebenso wie der fremden Person einzutreten. Von Verant-
wortlichkeit kann aufgrund der Verbindung von Moral und Recht nur dann
im vollen Sinne gesprochen werden, wenn jenes Eintreten für die Freiheit
und Selbstzweckhaftigkeit das Streben einschließt, mit den freien und zur
Selbstbestimmung fähigen Wesen in einen Rechtszustand zu treten, wenn die
äußeren Beziehungen auch nur die Möglichkeit von Interessenkollisionen
denken lassen.
Die ethische Situation stellt sich nach der KANTischen Konzeption demnach
als ein Ganzes von Personalität, Verantwortlichkeit und Rechtlichkeit dar,
das nicht verstanden werden kann, wenn eines der Elemente verabsolutiert
wird und andere Elemente daraus herausgelöst werden. Wer als Person im
Zusammenhang mit anderen Personen handelt, kann dies nur auf verantwort-
liche Weise tun. Verantwortlich handeln ist jedoch nur möglich, wenn dies
110 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Irnmanue1 KANT
1.
Die Diskurstheorie der Wahrheit
und der ethischen Richtigkeit
Im folgenden soll die Frage nach dem spezifischen Charakter des Ethischen
und nach der Auszeichnung einer genuin ethischen Verantwortung an die
Theorie von HABERMAS gestellt werden. Damit soll weiter aufgeklärt wer-
den, worin das Ethische der untemehmerischen Verantwortung besteht und
welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit verantwortete Handlungen
im ökonomischen Bereich als ethisch bezeichnet werden können. Der Aus-
gangspunkt der HABERMAS'schen Ethikkonzeption verspricht zum Thema
Verantwortung zunächst eine weitere Erhellung dieses Phänomens in seiner
ethischen Dimension. Dies ergibt sich schon daraus, daß HABERMAS die
universalistische Dimension einer ethisch charakterisierbaren Verantwort-
lichkeit weitstärker und unmittelbarer als KANT auf die tatsächliche »Ant-
wort« auf die Forderungen der von unseren Handlungen betroffenen Perso-
nen bezieht. Dieses »dialogische« Element der HABERMAS'schen Konzep-
tion stellt sich jedoch als konstitutives Element einer genuin ethischen
Theorie dar. Ethische Richtigkeit erscheint dabei im Grunde als eine beson-
dere Form von Wahrheit, die den allgemeinen Grundsätzen der Feststellung
von Wahrheit genügen muß. Bei HABERMAS ist deshalb die Konzeption von
Wahrheit weitgehend deckungsgleich mit seiner Konzeption ethischer Rich-
112 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS
tigkeit179 • Das ethisch Richtige können wir demgemäß auf die gleiche Weise
finden, wie wir Wahrheit überhaupt erreichen können.
Das Programm seiner Konzeption von Wahrheit und damit auch von ethi-
scher Richtigkeit skizziert HABERMAS bereits in der Neuausgabe von» Theo-
rie und Praxis« (1971): "Weil sich Wahrheit (in dem weitgefaßten traditio-
nellen Sinne der Vernünftigkeit) von bloßer Gewißheit durch ihren Absolut-
heitsanspruch unterscheidet, ist der Diskurs die Bedingung des Unbedingten.
Mit Hilfe einer Konsensustheorie der Wahrheit, die gegenüber konkurrieren-
den Wahrheits theorien zu begründen hätte, warum ein diskurs unabhängiges
Wahrheitskriterium sinnvollerweise nicht postuliert werden kann, wäre die
Struktur des Diskurses mit Bezugnahme auf die unvermeidliche wechselsei-
tige Antizipation und Unterstellung einer idealen Sprechsituation zu klä-
ren." 180
Die Konzeption einer genuin ethischen Verantwortung ist damit auf die
Klärung der Konzeption des praktischen »Diskurses« verwiesen l81 • Diskurse
sind jedoch keine »Veranstaltungen«, die zu Zwecken der Begründung
ethischer Normen abgehalten werden können, ohne daß dazu eine Notwen-
digkeit bestünde. Die Bedeutung des Diskurses bei HABERMAS kann vielmehr
nur aus dem Zusammenhang seiner»Theorie der kommunikativen Kompe-
tenz« abgeleitet werden l82 . Eine solche Theorie soll die Leistungen erklären,
"die Sprecher oder Hörer mit Hilfe pragmatischer Universalien vornehmen,
wenn sie Sätze in Äußerungen transformieren" 183. Unter »Sätzen« sind dabei
linguistische Einheiten zu verstehen; »Äußerungen« dagegen sind situierte
Sätze, d. h. Sätze, die in kommunikativen Zusammenhängen verwendet
werden.
179 Vgl. R. RODERICK, HABERMAS und das Problem der Rationalität, Hamburg 1989,
S. 107 f; sowie W. REESE-SCHÄFER, Jürgen HABERMAS, Frankfurt/Main 1991, S. 54
ff.
180 J. HABERMAS, Theorie und Praxis, (Einleitung zur Neuausgabe 1971), Frank.-
furtIMain 1971, S. 25 f.
181 Vgl. S. JAKOB, Zwischen Gespräch und Diskurs, Bem u. a. 1985, S. 173 ff.
182 Vgl. dazu H. GRIPP, Jürgen HABERMAS, Paderbom u. a. 1984, S. 43 ff.
183 J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen
Kompetenz, in: J. HABERMAS/N. LUHMANN, Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
technologie - Was leistet die Systemforschung?, FrankfurtIMain 1971, S. 103.
1. Diskurstheorie· Wahrheit· ethische Richtigkeit 113
184 1. HABERMAS, Technik und Wissenschaft als Ideologie, FrankfurtlMain 1968, S. 62.
Zum Begriff des kommunikativen Hande1ns vgl. auch H. GRIPP, Jürgen HABERMAS,
Paderborn u. a. 1984, S. 23 ff; sowie W. REESE-SCHÄFER, Jürgen HABERMAS,
FrankfurtlMain 1991, S. 27 ff.
185 Vgl. J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunika-
tiven Kompetenz, a. a. 0., S. 117.
186 J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen
Kompetenz, a. a. 0., S. 117.
114 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS
Der Status von Diskursen ist darüber hinaus jedoch durch zwei Charaktere
bestimmt, die HABERMAS als konstitutiv für die Möglichkeit ansieht, im
Diskurs zu Begründungen gelangen zu können. Diese bei den Charaktere
können deshalb auch als Konstituentien von Rationalität und damit als
notwendige Wahrheitskriterien angesehen werden.
(1) Zunächst erfordern Diskurse eine »Virtualisierung der Handlungszwän-
ge«; dies bedeutet, "daß alle Motive außer dem einer kooperativen
Verständigungsbereitschaft außer Kraft gesetzt und Fragen der Geltung
von denen der Genesis getrennt werden" 187. Der Eintritt in einen Diskurs
setzt also die Fähigkeit und die Bereitschaft voraus, einen Dialog zu
führen, der frei von strategischen Elementen ist, m. a. W.: der prinzipiell
interesselos geführt wird. Hier läßt sich eine Parallele zu KANT ziehen,
dem zufolge von einer ethischen Willensbestimmung nur dann die Rede
sein kann, wenn diese Bestimmung ohne externe Determinanten nur
durch reine Gesetzesförmigkeit vorgenommen wird. HABERMAS würde
KANT also in Bezug auf die Bestimmung des Ethischen soweit zustim-
men, als davon nur die Rede sein kann, wenn eine Abstraktion von den
eigenen Interessen geleistet wird.
Schon jetzt kann allerdings darauf hingewiesen werden, daß Interessen
bei HABERMAS auf bestimmte Weise wieder in den ethischen Diskurs
eingeführt werden, dies allerdings nur so, daß sie dabei eine folgenreiche
Transformation erleiden müssen, in der sie sich als »private« Interessen
gleichzeitig allgemein machen müssen. Im Gegensatz zu KANT fordert
die HABERMAS'sche Theorie jedoch nicht die völlige Abstraktion von
inhaltlichen Bestimmungsgründen des Willens. In gewisser Weise sieht
HABERMAS gerade diese Bestimmungsgründe als Grundlage für die
Gewinnung eines transsubjektiven Wissens um das richtige Handeln an.
Nichtsdestoweniger weist jene Transformation doch Berührungspunkte
mit der KANTischen Forderung nach einer Willensbestimmung aufgrund
der reinen Form der Gesetzlichkeit auf.
(2) Zum zweiten erfordern Diskurse eine »Virtualisierung von Geltungsan-
sprüchen«, die dazu führen soll, "daß wir gegenüber den Gegenständen
kommunikativen Handeins (also Dingen und Ereignissen, Personen und
Äußerungen) einen Existenzvorbehalt anmelden und
a) über Sachverhalte, die der Fall, aber auch nicht der Fall sein können,
und
b) über Empfehlungen und Warnungen, die richtig, aber auch nicht richtig
sein können, diskutieren" 188.
Der Eintritt in einen Diskurs setzt demnach die Fähigkeit voraus, in
Propositionen ausgedrückte Sachverhalte ohne präjudizierende Beurtei-
lung ihrer Richtigkeit zu betrachten. Neben der Interesselosigkeit ist also
auch eine Vorurteilslosigkeit gefordert, um mit Gründen ein intersubjektiv
gestörtes Wirklichkeitsverständnis wiederherstellen zu können. Mit
KANT und im Gegensatz zu JONAS lehnt HABERMAS also den Anschluß
seiner Ethik an intuitiv vorgegebene Überzeugungen ab und sieht das
Ethische einer Handlungsorientierung nur dann als verwirklicht an, wenn
eine Begründung ethisch richtigen HandeIns auf einem voraussetzungslo-
sen Grund vorgenommen wird.
2.
Diskurstheorie und Konsenstheorie
Die von HABERMAS entwickelte Diskurstheorie der Wahrheit und der ethi-
schen Richtigkeit läßt sich nun im Grunde als Lösung eines einzigen grund-
legenden Problems verstehen. Dieses Problem ist das Kriterium eines wahren
Konsenses l89 . Synonym dazu könnte von dem Problem des Kriteriums eines
vernünftigen Konsenses gesprochen werden: "Wahrheit meint das Verspre-
chen, einen vernünftigen Konsensus zu erzielen." 190 Der Zusammenhang
zwischen Wahrheit eines Konsenses und Vernünftigkeit eines Konsenses
stellt jedoch eine der grundlegenden Schwierigkeiten der HABERMAS'schen
Wahrheitskonzeption dar, und ein großer Teil des Argumentationsaufwandes
den oder durch neues Wissen über die Urteile vergangener Generationen über
das in Frage stehende Problem ihre Allgemeinheit verlieren. Damit aber
könnte nur in eingeschränktem Sinne von ethischer Wahrheit gesprochen
werden, wenn ein wahrer ethischer Satz eine Gültigkeit für alle Zeit bean-
sprucht. Das Ethische wäre damit an die Bedingungen der Akzeptanz von
Argumenten gebunden, wie sie in einer bestimmten Zeit und in einer be-
stimmten Gesellschaft vorherrschend sind. Der Begriff der ethischen Verant-
wortung wäre damit reduziert auf ein Sich-verantworten, das bereits dann
sein Ziel erreicht, wenn eine Maxime faktisch eine ausreichende Zustimmung
erreicht. HABERMAS sieht jedoch ebenso wenig wie KANT in einer solchen
»externen« Bestimmung schon das Wesen des Ethischen erreicht.
Bei all ihrer »Irrealität« kann HABERMAS' Forderung nach Zustimmung aller
möglichen Gesprächspartner aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
doch in Anspruch nehmen, dem erwähnten Einwand gegen eine Konsensus-
theorie entgehen zu können. Eine auf diese Weise begründete ethische
Wahrheit steht nicht mehr in der Möglichkeit, durch abweichende Urteile
vergangener oder zukünftiger Generationen in Frage gestellt zu werden.
Wenn jeder andere genauso urteilen würde, so ist sichergestellt, daß das
betreffende Urteil Gültigkeit für alle Zeit besitzt. Wenn dieses Kriterium also
tatsächlich erfüllbar wäre, so würde es die Absolutheit einer ethischen
Wahrheit dadurch garantieren, daß kein möglicher Einwand mehr denkbar
wäre. Die Forderung, von ethischer Wahrheit nur dann zu sprechen, wenn
die Zustimmung aller Angehörigen aller vergangenen, gegenwärtigen und
zukünftigen Generationen gesichert ist, verleiht der HABERMAS' sehen Ethik-
konzeption demnach eine Stärke, die im Rahmen einer Konsensustheorie
sonst nicht zu erreichen wäre.
Diese Stärke impliziert aufgrund der Irrealität der Annahme, auf die sie sich
gründet, jedoch gleichzeitig ein fundamentales Problem. Dessen Lösung
führt HABERMAS zu der speziellen Form einer Konsensustheorie als Diskurs-
theorie. Eine zentrale Frage an seine Ethikkonzeption ist deshalb, ob auf
diesem Weg zum Diskurs als Kriterium ethischer Wahrheit jene Stärke des
Wahrheitsbegriffes erhalten bleiben kann, die durch die zeitübergreifende
Universalität des Konsenses erreicht wurde. Und es ist die Frage, ob auf
118 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS
diesem Wege ein Begriff des Ethischen und einer genuin ethischen Verant-
wortung erreicht werden kann, der für unternehmensethische Fragestellun-
gen tatsächlich förderlich sein kann. Solange die tatsächliche Zustimmung
aller möglichen Gesprächspartner gefordert wird, solange kann dies offenbar
nicht der Fall sein, wenn denn die Unternehmensethik nicht dazu führen soll,
alle Entscheidungen auf unabsehbare Zeit zu suspendieren.
3.
Die Reduzierung des Anspruchs der Diskurstheorie:
Kompetenz und Vernünftigkeit als Ersatz
für die Universalität freier Zustimmung
Der erste Schritt auf dem Weg von der radikalen Konsenstheorie zur Diskurs-
theorie ist die Einschränkung der Wahrheitsbedingung: "Nun sind es faktisch
immer nur einige Personen, an deren Zustimmung ich meine Behauptung
kontrollieren kann. Diese faktische Zustimmung einiger anderer, die ich
möglicherweise erreiche, wird um so eher auf die Zustimmung weiterer
Beurteiler rechnen dürfen, je weniger wir und andere einen Grund sehen, an
ihrer Kompetenz zu zweifeln." 194 Offensichtlich ist das Problem damit von
der Irrealität der zuerst gemachten Annahme auf die Frage verschoben, unter
welchen Bedingungen denn von Kompetenz die Rede sein kann.
Darüber hinaus bedeutet diese Einschränkung der Wahrheitsbedingung zwei-
fellos eine Abschwächung des zuerst postulierten Begriffes ethischer Wahr-
heit. Die überzeitliche Gültigkeit ethischer Urteile für alle Generationen wird
nun von der Gültigkeit eines Schlusses abhängig gemacht, der etwa folgen-
dermaßen formuliert werden kann: Wenn jeder kompetente Beurteiler einer
Behauptung zustimmt, so würde jeder Sprecher aus vergangenen, gegenwär-
tigen und zukünftigen Generationen, der diese Behauptung prüfen würde,
dieser Behauptung ebenfalls beipflichten.
Des weiteren stellt sich nun die Frage nach der Zeitgebundenheit von Kom-
petenz. Nach der gemachten Einschränkung soll von Wahrheit eines ethi-
schen Urteils dann die Rede sein, wenn jeder andere kompetente Beurteiler
zustimmen würde. Stillschweigend wird jedoch unterstellt, daß es sich dabei
um die gegenwärtig als kompetent angesehenen Beurteiler handelt. Zunächst
kann gefragt werden, was Kompetenz auf ethischem Gebiet bedeuten kann,
wenn nicht bereits eine begründete Konzeption von ethischem Wissen zu-
grundege1egt werden kann. Außerdem kann gerade auf ethischem Gebiet
Kompetenz zu verschiedenen Zeiten - und im übrigen auch in verschiedenen
Kulturen - sehr verschiedenes bedeuten. Deshalb bedeutet die Vorausset-
zung, daß die derzeitig als kompetent angesehenen Beurteiler alleine als
sachkundig gelten sollen, eine weitere Einschränkung der Stärke der Kon-
sensuskonzeption ethischer Wahrheit.
HABERMAS ist also nun verpflichtet zu klären, was Kompetenz der Beurtei-
lung heißen kann. Das Kriterium »Sachverstand« scheidet zunächst aus, da
dafür keine unabhängigen Bedingungen angegeben werden können. HABER-
MAS schlägt deshalb folgendes Kriterium für Kompetenz vor: "Ich will
deshalb die Kompetenz eines Beurteilers, an dessen Zustimmung ich mein
eigenes Urteil kontrollieren kann, nicht von seinem Sachverstand abhängig
120 V. Verantwortlichkeit· Diskurs' Jürgen HABERMAS
machen, sondern einfach davon, ob er 'vernünftig' ist." 195 Damit hat sich
HABERMAS verpflichtet, den Begriff der Vernunft so zu erklären, daß er in
der Lage ist, dem Begriff Kompetenz eine sinnvolle Bedeutung zu verlei-
hen l96 .
Mit dem Begriff der Vernunft scheint sich HABERMAS darüber hinaus KANT
anzunähern, dessen explizites Ziel es ist zu klären, wie weit wir mit Hilfe
reiner Vernunft auf ethischem Gebiet kommen können. Vernunft war bei
KANT allerdings aufs engste mit dem Begriff logischer Verallgemeinerungs-
fähigkeit verbunden. Nichtsdestoweniger führte von da ein Weg zu einer
Konzeption, die über die Selbstzweckhaftigkeit anderer Personen ein »inter-
subjektives« Element in die ethische Vernunft einführte. Es ist deshalb für
einen Vergleich der Konzeptionen von KAm und HABERMAS besonders
aufschlußreich zu sehen, wie HABERMAS einen Begriff von Vernünftigkeit
formuliert, der nicht »monologisch« beschränkt ist, sondern das Element der
Beziehung zwischen Menschen und damit der Verantwortlichkeit beibehal-
tenkann.
HABERMAS' Strategie zur Bestimmung des Vernunftbegriffes beginnt nun
mit der Verteidigung der Auffassung, "daß es mindestens vier Klassen von
gleichursprünglichen Geltungsansprüchen gibt und daß diese vier, nämlich
Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, einen Zusam-
menhang darstellen, den wir Vernünftigkeit nennen können" 197. Diskursiv
einlösbar sind davon offenbar nur die Ansprüche auf Wahrheit und Richtig-
keit l98 . Daß gerade diese vier Geltungsansprüche konstitutiv für Vernünftig-
keit sind, leitet HABERMAS daraus ab, daß ihre reziproke Anerkennung den
»Hintergrundkonsensus« für jedes funktionierende Sprachspiel bildet. Das
Sprachspiel des kommunikativen Handeins aber erfordert als seine Funk-
tionsbedingung die Möglichkeit des jederzeitigen Übergangs in den Diskurs,
sobald es aufgrund von Zweifeln an der Richtigkeit oder der Wahrheit von
Urteilen gestört wird l99 .
Daraus läßt sich ableiten: Jener Zusammenhang, der nach HABERMAS »Ver-
nünftigkeit« darstellen soll, ist eine Voraussetzung für Verständigung über-
haupt. Jene Vernünftigkeit, die einen kompetenten Beurteiler von Behaup-
tungen auszeichnet, ist also zugleich ein System von Eigenschaften, die ihm
überhaupt die Teilnahme am kommunikativen Handeln bzw. die Verständi-
gung mit anderen Menschen ermöglichen. Vernunft ist damit nicht bloß eine
Forderung, deren Selbstevidenz vorausgesetzt werden muß, sondern die
Verwendung von Vernunft für die Bestimmung ethisch richtigen Handeins
erscheint selbst als eine Voraussetzung für etwas Gewisses, nämlich unsere
Fähigkeit, uns mit anderen Menschen verständigen zu können2oo • Wenn es
nun gelänge, diese Vernünftigkeit in sich mit der Verantwortlichkeit für
unsere Handlungen zu verbinden, so wäre auch das Phänomen der Verant-
wortlichkeit bereits als Voraussetzung in allen Verständigungs prozessen
impliziert.
Einerseits ist dies insofern konsequent, als HABERMAS den Diskurs nicht als
eine willkürliche Veranstaltung eingeführt hatte, sondern die Möglichkeit
von Diskursen als Möglichkeitsbedingung von Verständigung überhaupt
entwickelt hatte. Andererseits entsteht dadurch jedoch ein weiteres Problem
der HABERMAS'schen Theorie ethischer Wahrheit. Das, was Bedingung von
Verständigung überhaupt ist, soll nun gleichzeitig jene Vernünftigkeit kenn-
zeichnen, die unter dem Titel der Beurteilungskompetenz jene Gesprächs-
partner auszeichnet, die durch ihre Zustimmung stellvertretend für die nicht
mögliche universelle und überzeitliche Zustimmung aller Gesprächspartner
die Wahrheit eines ethischen Urteils garantieren. Daraus ergibt sich, daß
jeder, der zur Verständigung mit anderen Menschen fähig ist, auch schon zur
Beurteilung von ethischen Behauptungen stellvertretend für alle anderen
Menschen in der Lage ist.
199 Vgl. D. HORSTER, HABERMAS zur Einführung, Hamburg 1988, S. 42 f; sowie M. BAR-
TELS, Sprache und soziales Handeln. Eine Auseinandersetzung mit HABERMAS'
Sprachbegrijf, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 3611982, S. 226 - 234.
200 Vgl. S. JAKOB, Zwischen Gespräch und Diskurs, Bem u. a. 1985, S. 192 f.
122 V. Verantwortlichkeit· Diskurs' Jürgen HABERMAS
4.
Die Logik des Diskurses
den Konsens ausweisen 20I • Die Aufgabe lautet deshalb genauer so: "Wenn
der Sinn von Wahrheit in der Möglichkeit besteht, in Diskursen über die
Berechtigung des problematisierten Geltungsanspruches eine positive Ent-
scheidung herbeizuführen und wenn eine diskursiv herbeigeführte Entschei-
dung nur in Form eines argumentativ erzielten Konsensus fallen kann, dann
muß gezeigt werden, worin die konsenserzielende Kraft des Arguments
besteht: Sie kann nicht in dem bloßen Faktum, daß Übereinstimmung argu-
mentativ erzielt werden kann, bestehen, sondern dieses Faktum selbst bedarf
der Erklärung." 202
Nun war bereits zuvor das »Gewißheitserlebnis«, das die Anerkennung
diskursiveinlösbarer Wahrheits- und Richtigkeitsansprüche begleitet, als die
"Erfahrung des eigentümlich zwanglosen Zwanges des besseren Argumen-
tes" bezeichnet worden 203 • Dieser »zwanglose Zwang« wird nun gleichge-
setzt mit »rationaler Motivation«. Daraus kann entnommen werden, daß
HABERMAS genau jenen »zwanglosen Zwang des besseren Argumentes« als
das Wesen der Vernünftigkeit ansieht. Aus der vorangegangenen Argumen-
tationskette ergibt sich nun, daß ethische Wahrheit dann gefunden werden
kann, wenn die in Frage stehenden ethischen Urteile die Zustimmung aller
Gesprächspartner finden, die bereit sind, in ihrer Beurteilung ausschließlich
jenem »zwanglosen Zwang« zu folgen, d. h.: die bereit sind,jene Urteile nur
mit Argumenten zu prüfen. Ein Argument aber ist "die Begründung, die uns
motivieren soll, den Geltungsanspruch einer Behauptung oder eines Gebots
bzw. einer Bewertung anzuerkennen" 204.
Der Schlußpunkt der Entwicklung der HABERMAS' sehen Ethikkonzeption
wird nun dadurch erreicht, daß die rationale Motivation - und d. h. die
Vernünftigkeit, die Kompetenz und damit die Befugnis zur Beurteilung der
Wahrheit von Urteilen fundiert - durchformale Eigenschaften des Diskurses
erklärt wird205 • Von einer wahrheitsorientierten Motivation soll also dann
5.
Der Diskurs und die ideale Sprechsituation
Damit sind in einem ersten Zugang die Anforderungen genannt, die eine
ideale Sprechsituation erfüllen muß, wenn sie Rationalität, Wahrheit und eine
Entscheidung über die ethisch begründbare Richtigkeit von handlungsleiten-
den Maximen ermöglichen S01121O • Die formalen Eigenschaften von Diskur-
sen müssen demnach so beschaffen sein, daß sie stets die Revision zunächst
gewählter Sprachsysteme erlauben. Darin liegt eine "schrittweise Radikali-
und auszuführen, gegeben ist214 . Auf diese Weise soll es strukturell möglich
sein, jede systematische Verzerrung der Kommunikation auszuschließen. In
einer solchen Situation "besteht nämlich nicht nur prinzipielle Austauschbar-
keit der Dialogrollen, sondern eine effektive Gleichheit der Chancen bei der
Wahrnehmung von Dialogrollen, d. h. auch bei der Wabl und der Performanz
der Sprechakte" 215. Gemäß der Sprechakttheorie läßt sich die allgemeine
Symmetrieforderung nun in vier verschiedene Bedingungen für das Zustan-
dekommen einer idealen Sprechsituation auffächern216 .
Zunächst müssen zwei triviale Bedingungen erfüllt sein, damit von einer
idealen Sprechsituation die Rede sein kann:
Schließlich ist für die ideale Sprechsituation und die in ihr gegebene Freizü-
gigkeit zwischen den Sprachebenen die vollständige Reziprozität von Ver-
haltenserwartungen notwendig 219 • Deshalb sind zum Diskurs nur Sprecher
zugelassen, "die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprech-
akte zu verwenden, d. h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben
und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft
abzulegen und zu verlangen usf." 220. Damit sollen Realitätszwänge sus-
pendiert werden und so ein ebenso erfahrungsfreier wie handlungsentlasteter
Kommunikationsbereich geschaffen werden.
Die ideale Sprechsituation und ihre Struktur wurden als Möglichkeitsbedin-
gungen eines vernünftigen Konsenses entwickelt. Als solche Möglichkeits-
bedingung bleibt die ideale Sprechsituation jedoch ein Konstrukt, das seine
Legitimation ausschließlich aus dem Konsensusbegriff der Wahrheit und der
von HABERMAS auf dieser Grundlage entwickelten Argumentationskette
bezieht. HABERMAS wendet dagegen zunächst ein, daß eine hinreichende
Realisierung der Bedingungen der idealen Sprechsituation apriori nicht
unmöglich sei. Er gesteht jedoch eine andere Schwierigkeit zu: Es fehlt ein
externes Kriterium der Beurteilung, "so daß wir in gegebenen Situationen
niemals sicher sein können, ob wir einen Diskurs führen oder ob wir nicht
vielmehr unter Handlungszwängen agieren und Scheindiskurse vorfüh-
ren " 221 .
Daß es sich bei der idealen Sprechsituation dennoch nicht um eine Fiktion
oder ein bloßes Konstrukt handelt, begründet HABERMAS dann jedoch auf die
schon bekannte Weise: Wir müssen uns zutrauen, einen vernünftigen von
einem trügerischen Konsensus zu unterscheiden, andernfalls könnten wir
überhaupt nicht von Vernunft in der Rede sprechen; die ideale Sprechsitua-
tion ist jedoch die Bedingung dafür, von einem vernünftigen Konsens spre-
chen zu können; also ist sie auch Bedingung aller Vernünftigkeit der Rede.
Wenn ihre Realisierung nun empirisch nicht festgestellt werden kann, so kann
ihr Status nur so beschrieben werden: "Die ideale Sprechsituation ist weder
6.
Die ideale Sprechsituation als Rekonstruktion der
Diskurstheorie auf niedrigerem Begründungsniveau
Die einfache Tatsache, daß ja meine Lebenszeit nicht koextensiv mit der
Lebenszeit aller Menschen ist und die Forderung nach universeller Zustim-
mung jede Rede von Wahrheit unmöglich machen würde, führte HABERMAS
zu der Einschränkung, daß von der Wahrheits fähigkeit eines Konsenses auch
bereits dann die Rede sein kann, wenn alle kompetenten Gesprächspartner
zustimmen. Kompetenz wurde schließlich durch Vernünftigkeit definiert und
diese wiederum durch die Anerkennung fundamentaler Geltungsansprüche
bestimmt, die Möglichkeitsbedingungen jeder Verständigung darstellen.
Vernünftig ist danach jeder, der bereit ist, in Zweifel gestellte Behauptungen
in Diskursen zu überprüfen. Diskurse wiederum garantieren die Vernünftig-
keit der in ihnen erzielbaren Resultate, weil sie die Erfüllung bestimmter
Bedingungen unterstellen, die es strukturell ermöglichen, auch noch die
Selbstreflexion des erkennenden Subjekts in den argumentativen Prozeß
einzubeziehen. Dies ist dann möglich, wenn eine Freizügigkeit zwischen den
Diskursebenen gesichert ist. Diese Freizügigkeit wird durch die Erfüllung der
allgemeinen Symmetrieforderung in der idealen Sprechsituation gewährlei-
stet.
Der Grund für diese Unmöglichkeit liegt allerdings in einer völlig verschie-
denen Dimension als dies am argumentativen Beginn der HABERMAS'schen
Ethikkonzeption der Fall war. Wenn die ideale Sprechsituation mit ihrer
allgemeinen Symmetrieforderung realisiert ist, so wird unterstellt, daß aus
strukturellen Gründen alle Einwände der am Diskurs beteiligten Sprecher zur
Sprache gekommen sind, und zwar nicht nur kritische Argumente, wie sie
auch ohne Realisierung der idealen Sprechsituation vorgebracht werden
könnten, sondern auch die Voraussetzungen dieser kritischen Argumente.
Dazu gehören auch alle Restriktionen, die aus der kommunikativen Situation
für das Vorbringen und die Akzeptanz von Argumenten entstehen können,
und die Gründe, die in Diskussionen ohne Realisierung einer idealen Sprech-
situation zu solchen Restriktionen führen.
Wenn aber alle Diskursteilnehmer nicht nur in der Lage sind, alle Argumente
vorzubringen und deren Voraussetzungen prinzipiell ohne Einschränkungen
zu diskutieren, sondern auch noch eine Reflexion auf die kommunikativen
Bedingungen des Vorbringens von Argumenten vornehmen können, die
geeignet ist, alle Restriktionen des Argumentierens zu beseitigen, so sind aus
strukturellen Gründen damit keine weiteren Einwände gegen die einmal
gefundene Wahrheit mehr möglich. Dies aber entspricht der Situation, aus
der der universelle Konsens am argumentativen Anfang der HABER-
MAS'schen Konzeption ethischer Wahrheit seine Stärke bezog.
Damit kann der Argumentationsgang dieser Ethikkonzeption auch als Re-
konstruktion der Ausgangsbasis auf dem durch die Begrenztheit des Kreises
möglicher Gesprächspartner erforderlichen eingeschränkten Niveau verstan-
den werden. Folglich kann die HABERMAS'sche Ethik auch so aufgefaßt
werden, daß ihr argumentativer Aufwand nur dem einen Zweck dient, den-
jenigen Konsensbegriff ethischer Wahrheit, der allein in der Lage ist, den
traditionellen Anforderungen an einen Wahrheitsbegriff zu genügen und eine
universelle und überzeitliche Geltung von Wahrheit zu garantieren, Sc> weit
auf ein sicheres Fundament zu stellen, daß er sich nicht mehr als apriorisches
Postulat darstellt, sondern aufgrund der vorgenommenen Rekonstruktion
eine eigenständige Ausweisung als Möglichkeitsbedingung von Rede und
Verständigung überhaupt erhält.
132 V. Verantwortlichkeit· Diskurs' Jürgen HABERMAS
7.
Die Begründung der Diskurstheorie aus der
Entwicklung zur sozio-kulturellen Lebensform
224 Vgl. H. GRIPP, ]ürgen HABERMAS, Paderborn u. a. 1984, S. 142 f; sowie S. JAKOB,
Zwischen Gespräch und Diskurs, Bern u. a. 1985, S. 196 ff.
7. Diskurstheorie' Entwicklung zur sozio-kulturellen Lebensform 133
zieren." 225 Dieses »Medium« befindet sich in einer Entwicklung, die prinzi-
piell rational nachkonstruierbaren Mustern folgt: "Die Kenntnis empirischer
Mechanismen ist zur Erklärung des weltgeschichtlich kumulativen Charak-
ters des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts notwendig, aber
nicht hinreichend; wir müssen vielmehr für die Entwicklung von Wissen-
schaft und Technik eine innere Logik vermuten, durch die eine Hierarchie
nicht umkehrbarer Sequenzen im vorhinein festgelegt ist." 226
Die zweite Dimension, durch die der Mensch zu einem kulturellen und
gesellschaftlichen Wesen wird, ist die gesellschaftliche Aneignung der »in-
neren Natur«. Damit sind die Prozesse der Sozialisation und Enkulturation
gemeint, durch die der junge Mensch in die Gesellschaft und ihre Normen
und Institutionen hineinwächst. HABERMAS' grundlegende Behauptung ist
hier, daß diese Prozesse über normative Strukturen ablaufen und damit
grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig sind227 . Hier spielen kommunikative
Handlungen eine Rolle, die als solche auf Diskurse verweisen und damit
einen internen Wahrheits anspruch beinhalten. Die Aneignung der »inneren
Natur« ist damit eine Funktion der Veränderung normativer Strukturen, die
wiederum als rational nachkonstruierbar angesehen wird.
Damit wird die Begründung der Diskursethik eingelagert in eine Theorie der
sozialen Evolution228 . Generell formuliert HABERMAS deren Aufgabe folgen-
dermaßen: Es muß erklärbar werden, "daß sich der evolutionäre Lernprozeß
der Menschengattung im Rahmen einer Theorie begreifen läßt, die die
evolutionären Errungenschaften von Gesellschaftssystemen durch eine Ver-
knüpfung von zwei Fragestellungen erklärt:
Von Evolution will HABERMAS nur dann sprechen, wenn kumulative Vor-
gänge vorliegen, die eine bestimmte Richtung erkennen lassen23o . Er bean-
sprucht jedoch nicht, solche gerichtete Prozesse durch die empirische Be-
schreibung von Entwicklungsvorgängen nachweisen zu können. Die Orien-
tierung der menschlichen Entwicklung an Wahrheit und Richtigkeit als
diskursiveinlösbarer Geltungsansprüche sieht HABERMAS vielmehr als eine
nur logisch nachkonstruierbare Tiefenstruktur der spezifisch menschlichen
Entwicklungsform.
Die grundsätzliche Behauptung lautet also, daß die Entwicklung der Regeln
kommunikativen Handeins einer eigenen Logik folgen, die sich nicht auf
empirische Entwicklungsvorgänge zurückführen läßt231 . Nur deshalb lernt
die Gattung nicht nur "in der für die Produktivkraftentfaltung entscheidenden
Dimension des technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in der für die
Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des moralisch-prakti-
schen Bewußtseins" 232. Die eigene Logik der Entwicklung der Regeln kom-
munikativen Handeins stellt sich nun als interne Entwicklungslogik Von
Lernniveaus dar. Diese Lernniveaus wiederum stehen in Zusammenhang mit
einer internen Logik der Entwicklung von Bewußtseinsstrukturen, so daß die
Entwicklung der Diskursivität unserer ethischen Normen davon abhängt, daß
in den kulturellen Deutungssystemen von Gesellschaftssystemen Bewußt-
seinsstrukturen zum Ausdruck kommen, "die in der Evolution über ein
rational nachkonstruierbares Muster von Entwicklungsstufen variieren" 233.
darauf, daß ein »Ent-Lernen« nicht möglich scheint; jedes Lernen baut
demzufolge auf dem bereits vorhandenen Wissen auf und kann nicht dahinter
zurückfallen. HABERMAS formuliert dies so: "Den fundamentalen Mechanis-
mus für gesellschaftliche Evolution überhaupt vermute ich allerdings in
einem Automatismus des Nicht-nicht-Iernen-Könnens: Nicht Lernen, son-
dern Nichtlernen ist auf sozio-kultureller Entwicklungsstufe das erklärungs-
bedürftige Phänomen." 238
Die HABERMAS'sche Theorie einer Entwicklungslogik, in der sich auch die
diskursive Ethik noch als Ergebnis einer rationalen gesellschaftlichen Ent-
wicklung begründen läßt, kann demnach in HABERMAS' Worten so zusam-
mengefaßt werden:
,,- Für die Ontogenese der Erkenntnis- und Handlungsfähigkeiten lassen
sich (im Sinne der kognitivistischen Entwicklungspsychologie) Ent-
wicklungsstufen unterscheiden. Diese Stufen verstehe ich als Lernni-
veaus, die die Bedingungen möglicher Lernprozesse festlegen. Da die
Lernmechanismen zur Ausstattung des (sprachfähigen) menschlichen
Organismus gehören, kann sich die soziale Evolution, wenn nur die (z.
T. phasenspezifischen) Randbedingungen erfüllt sind, auf individuelle
Lernkapazitäten stützen.
- Die zunächst von einzelnen Gesellschaftsmitgliedern oder marginalen
Gruppen erworbenen Lernkapazitäten finden über exemplarische Lern-
vorgänge Eingang in das Deutungssystem der Gesellschaft. Die kollektiv
geteilten Bewußtseinsstrukturen und Wissensvorräte stellen in terms
empirischer Erkenntnisse und moralisch-praktischer Einsichten ein kog-
nitives Potential dar, das gesellschaftlich genutzt werden kann.
- Wir dürfen auch bei Gesellschaften von einem evolutionären Lernvor-
gang sprechen, soweit sie Systemprobleme, die evolutionäre Herausfor-
derungen darstellen, lösen. Dies sind Probleme, welche die in den
Grenzen einer gegebenen Gesellschaftsformation zugänglichen Steue-
rungskapazitäten überfordern. Gesellschaften können evolutionär ler-
nen, indem sie die in Weltbildern enthaltenen kognitiven Potentiale für
die Umorganisation von Handlungssystemen nutzen. Dieser Vorgang
läßt sich als eine institutionelle Verkörperung von Rationalitätsstruktu-
ren vorstellen, die in Weltbildern schon ausgeprägt sind.
8.
Das Prinzip Verantwortung
in der Diskursethik von HABERMAS
Dies ist jedoch nur verständlich, wenn auch das Umgekehrte gilt: In gesell-
schaftlichen Beziehungen können Menschen nur dann leben, wenn zumindest
in der »Tiefenstruktur« der Formen ihres Zusammenlebens bereits eine
ethische Bestimmung realisiert ist. Demnach legitimiert sich das Prinzip
Verantwortung nach HABERMAS also auch daraus, daß gesellschaftliche
Beziehungen immer schon ein Element von Verantwortlichkeit enthalten.
Ohne dieses Element ist ein gesellschaftliches Zusammenleben auf sozio-kul-
tureller Entwicklungsstufe nicht möglich. Man könnte deshalb auf der Grund-
lage der HABERMAS'schen Gedankengänge auch formulieren: Verantwort-
lich sind wir, weil wir gesellschaftlich leben und dieser Lebensweise die
wechselseitige Verantwortlichkeit der Gesellschaftsmitglieder integriert ist.
Darüber hinaus ist dies aber auch auf den ethischen Charakter von Verant-
wortung zu übertragen. Die in der Diskursethik implizierte ethische Verant-
wortung läßt sich auf der Grundlage der HABERMAS' sehen Evolutionstheorie
von Gesellschaft bis in die Konstitutionsbedingungen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens zurückverfolgen. Eine ethische Verantwortlichkeit besteht
also demnach, weil das Prinzip einer solchen Verantwortlichkeit bereits in
den Formen des Zusammenlebens von Menschen auf soziokultureller Ent-
wicklungsstufe impliziert ist. Nach HABERMAS können wir also wissen, was
9. Konzeption von Verantwortlichkeit· !CANT. HABERMAS 139
wir sollen, weil nur ein solches Wissen unser Zusammenleben mit anderen
Menschen in gesellschaftlicher Form möglich macht.
9.
Die Konzeption einer ethischen
Verantwortlichkeit bei KANT und HABERMAS
Es ist aufschlußreich zu sehen, wie sich eine Parallele dazu in KANTs Ethik
darstellt und wie die Unterschiede sich näher bestimmen. Mit der Selbst-
zweckformel entwickelt KANT den sittlichen Imperativ zu einem Gebot, das
eine genuin intersubjektive Bedeutung gewinnt. Mit dieser Formulierung des
kategorischen Imperativs wird das Ethische als Respektierung der Selbst-
zweckhaftigkeit und damit der Selbstbestimmungsfähigkeit und der Freiheit
anderer Personen ausgezeichnet und begründet. Der Begriff der Verantwor-
tung wird auf der Grundlage dieses Verhältnisses zu anderen Personen als
Selbstzweck aus dem Prinzip der Ethik abgeleitet.
HABERMAS dagegen begründet das Ethische und ethische Verantwortung
grundsätzlich als Bedingung von Verständigung zwischen Menschen in einer
Gesellschaft. Ethisch verpflichtet und verantwortlich sind wir, weil die
Grundstruktur von ethischer Verantwortlichkeit zugleich die Grundstruktur
des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft darstellt. Proble-
matisch erscheint jedoch, ob HABERMAS dabei auch das Element der Perso-
nalität und damit der Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit der Gesell-
schaftsmitglieder berücksichtigt. Zunächst könnte es scheinen, als ob die
Diskursethik dafür keine Voraussetzungen bereitstellen könnte. Wie die
Verantwortlichkeit bestimmt wird, dies ist mit dem Prinzip dieser Ethik noch
nicht gegeben, sondern kann nur durch den Prozeß geklärt werden, der im
Diskurs die spezifische Interesselosigkeit herstellt, der für HABERMAS' Auf-
fassung ethischer Bestimmungen kennzeichnend ist.
Andererseits läßt sich aus dem Prinzip der Diskurstheorie der Wahrheit, in
der Wahrheit ebenso wie Richtigkeit zum Thema wird, doch auch ein Element
140 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS
tion voraus, daß alle sprachfahigen Subjekte auch über die Eigenschaft der
Freiheit verfügen241 • Freiheit bedeutet in diesem Zusammenhang ebenso wie
bei KANT die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Würde ein sprachfähiges
Subjekt nicht als frei angesehen, so könnte auf seine Teilnahme am Diskurs
ebenso verzichtet werden, da es nur solche Beiträge leisten könnte, die nicht
durch es selbst bestimmt sind, sondern von anderen Personen oder von
unpersönlichen Mächten vorgegeben sind. Ebenso wie die ideale Sprechsi-
tuation im Rahmen der HABERMAs'schen Wahrheits theorie als eine kontra-
faktische, aber stets wirksame Unterstellung erscheint, so muß auch die
Freiheit und die Selbstbestimmungsfähigkeit jedes Diskursteilnehmers als
eine notwendige - wenn auch kontrafaktische - Voraussetzung für das Zu-
standekommen eines Diskurses aufgefaßt werden.
Dies führt zu einer weiteren Parallele zwischen den ethischen Konzeptionen
von KANT und HABERMAS. Bei KANT war die Anerkennung der Selbstzweck-
haftigkeit und damit der Selbstbestimmungsfähigkeit und der Freiheit ande-
rer Personen untrennbar mit der Bereitschaft des anerkennenden Subjekts
verbunden, in der Prüfung von Maximen auf ihre Verallgemeinerungsfähig-
keit nach ethischen Bestimmungsgründen seines HandeIns zu suchen. Diese
Bereitschaft zur Verallgemeinerung war also nicht nur Grundlage des Ethi-
schen, sondern auch der Konstituierung einer Verantwortung gegenüber
anderen Personen aufgrund ihrer Selbstzweckhaftigkeit und Freiheit.
Die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Verallgemeinerung ist bei HABERMAS
durch die Teilnahme an Diskursen gegeben242 . Im Diskurs muß prinzipiell
jede Vormeinung ernst genommen und auf ihren möglichen Wahrheitsgehalt
untersucht werden. Nur durch diese Bereitschaft zur Verallgemeinerung und
die damit gegebene Bereitschaft zur Teilnahme an Diskursen wird allen
anderen sprachfähigen Subjekten die Wahrheitsfahigkeit zugeschrieben, die
dazu verpflichtet, ihre Vormeinungen in das Prüfungs verfahren des Diskur-
ses einzubeziehen. Deshalb führt auch hier das Prinzip der Verallgemei-
241 Der Zustand der Freiheit muß darin jedenfalls antizipiert werden (vgl. Th.
MCCARTHY, Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen HABER-
MAS, FrankfurtiMain 1980, S. 219 f.).
242 Vgl. H. GRIPP, Jürgen HABERMAS, Paderborn u. a. 1984, S. 130 ff.
142 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS
1.
Die Grenzen der Verantwortung in der Freiheit des anderen
Als zentrale Fragestellung der Positionen von 1. KANT und J. HABERMAS kann
unter dieser Perspektive das Problem aufgefaßt werden, wie weit die Verant-
wortung reicht und wofür sie geleistet werden kann und soll. Umgekehrt ist
dies aber ebenso die Frage, wie weit Verantwortung reichen darf und damit
auch, wo sie aus ethischen Gründen enden muß. Diese Grenzen der Verant-
wortung werden bei beiden Denkern aber gerade aus einer Konzeption heraus
bestimmt, die den interpersonalen Aspekt der Ethik in den Mittelpunkt stellt.
Man könnte also auch so formulieren: Beide Denker kommen zu einer
Begrenzung der Verantwortung auf der Grundlage der Ausarbeitung einer
philosophisch begründeten Konzeption von Verantwortung. Daß die Verant-
wortung begrenzt ist, ergibt sich demnach daraus, daß wir wissen können,
was es heißt, verantwortlich zu sein.
Bei KANT zeigen sich diese Grenzen der Verantwortlichkeit gerade durch die
Bestimmung der Verantwortung, die als austauschbar mit dem grundlegen-
den Universalisierbarkeitskriterium des kategorischen Imperativs formuliert
worden war und somit selbst als letzte Grundlegung des Ethischen gelten
kann. So zu handeln, daß die Maximen der Handlungen gleichzeitig als
Richtschnur einer allgemeinen Gesetzgebung dienen können, heißt so zu
handeln, daß der andere nicht bloß als Mittel, sondern stets auch als Selbst-
zweck behandelt wird. Den anderen Menschen als Selbstzweck achten heißt
aber gerade, ihn in seiner Personalität zu respektieren und ihn nicht weiter zu
bestimmen, als es eben dieses Universalisierbarkeitskriterium zuläßt. Verant-
247 Im folgenden wird die Position von H. JONAS nicht zu argumentativen Zwecken
herangezogen. Neben der Problematik der explizit metaphysischen und »vor-mo-
dernen« Begründungslage sind dafür auch die argumentativen Schwächen seines
»patemalistischen« Begriffes von Verantwortung maßgeblich. Vgl. dazu die kriti-
schen Anmerkungen in den Kap. 1II.4 und 111.6.
1. Grenzen der Verantwortung in der Freiheit des anderen 149
wortlich handeln heißt demnach also so handeln, daß die Personalität des
anderen nicht beschädigt wird.
Darin liegt aber gleichzeitig eine Beschränkung der Verantwortlichkeit. Die
Personalität des anderen kann auch als seine Freiheit aufgefaßt werden, in
der er selbst fähig ist, ethisch verbindlich zu handeln. Die Verantwortlichkeit
endet also dort, wo die Freiheit des anderen tangiert wird. Sie ist damit gerade
eine Verantwortung für die Freiheit des anderen. Dies aber wäre sie nicht,
wenn sie seine Freiheit bestimmen würde. In diesem Sinne ist die Verantwor-
tung auch Verantwortung dafür, daß dem anderen seine Freiheit zur Selbst-
bestimmung nicht genommen wird, und sie ist Verantwortung dafür, daß ihm
eben diese Fähigkeit zur Selbstbestimmung erhalten bleibt.
In bezug auf die in Kapitel II entwickelten Konstitutiva einer eigenständigen
Unternehmens ethik, die als spezifische Ausprägung praktischer Vernunft
aufgefaßt werden kann, ergeben sich daraus erste Folgerungen. Die Verant-
wortung, die in der Unternehmens ethik schon deshalb zentral ist, weil sie die
Realisierung der Besonderheiten der Existenz von Unternehmen als Organi-
sationen zur Auseinandersetzung des Menschen mit der äußeren Natur ist,
kann nicht als Verantwortung für das bestimmte Dasein des anderen Men-
schen auftreten, der mit der Existenz von Unternehmen im sozialen Hand-
lungszusammenhang immer schon tangiert ist. Dies würde bedeuten, daß die
Verantwortung von Unternehmen - unabhängig davon, ob das Unternehmen
selbst als ethischer Akteur aufgefaßt wird oder ob nur die Rede sein soll vom
einzelnen Menschen als ethischem Akteur im Unternehmen - nur bis an die
Grenze der Freiheit anderer Menschen gehen kann. Diese Grenze aber ist
durch die Selbstbestimmungsfahigkeit definiert. Damit würde die Verant-
wortung von Unternehmen dort enden, wo die Selbstbestimmungsfahigkeit
anderer Menschen anfängt. In positiver Formulierung ausgedrückt, würde
dies jedoch bedeuten, daß die Verantwortung von Unternehmen genau bis
dahin reicht, wo die Selbstbestimmungsfahigkeit anderer Menschen beginnt.
Darüber hinaus aber läßt sich auf dieser Grundlage noch ein weiteres Krite-
rium für die Verantwortung von Unternehmen und deren Grenzen angeben.
Wenn Verantwortung überhaupt von der Existenz der Freiheit und der
Selbstbestimmungsfahigkeit anderer Menschen abhängt, so impliziert sie
150 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips
schon durch ihre Existenz als ethisches Kriterium die Verantwortung für die
Erhaltung von Freiheit und Selbstbestimmungsfahigkeit. Das Unternehmen
wäre damit schon durch sein Wesen als Organisationseinheit einer arbeitstei-
ligen Ökonomie in seiner Bezogenheit auf den Sozialzusammenhang unter
der Perspektive der Auseinandersetzung mit der materiellen Umwelt in die
Verantwortung genommen für die Erhaltung der Selbstbestimmungsfahig-
keit von Menschen in eben diesem Sozialzusammenhang und unter eben
dieser Perspektive. Aufgabe von Unternehmen wäre es auf dieser gedankli-
chen Grundlage, die effektive Existenzsicherung des Menschen in materieller
und damit auch kultureller Hinsicht zu sichern unter der einschränkenden
Bedingung der gleichzeitigen Erhaltung der Freiheit und Selbstbestimmungs-
fähigkeit des Menschen in Zusammenhang mit seinem materiellen und
kulturellen Überleben.
Darin liegt jedoch auch schon eine Beschränkung der Verantwortung. Diese
ist vor allem darin zu sehen, daß die verantwortbare Entscheidung nicht
unabhängig von den tatsächlichen Verantwortungsforderungen der Beteilig-
ten als verantwortlich bezeichnet werden kann. Es ist nach dieser Position
also nicht möglich, eine Entscheidung als »verantwortlich« oder »verantwor-
tungsbewußt« zu bezeichnen, die aufgrund eines abstrakten Wissens über
1. Grenzen der Verantwortung in der Freiheit des anderen 151
das, was richtig oder falsch ist, getroffen wurde. Entscheidend ist vielmehr
das Wissen derer, denen gegenüber die Verantwortung stattfindet. Es würde
dieser Konzeption auch widersprechen, wenn nur bestimmte Wissensformen
für den Prozeß der Verantwortung zugelassen würden. Auch wenn sachfrem-
de Überlegungen als Argumente vorgebracht werden, so ist es doch nicht
möglich, diese eben deswegen als irrelevant außer acht zu lassen. Sie müssen
vielmehr in einem erneuten kommunikativen Refiexionsprozeß als Vorrnei-
nungen thematisiert werden und können nur dann ausgeschlossen werden,
wenn in diesem Fortgang die Beteiligten frei einsehen, daß es sich tatsächlich
um Vormeinungen handelt, die als solche nicht für die fraglichen Entschei-
dungen ausschlaggebend sein können. HABERMAS spricht in diesem Zusam-
menhang vom "zwanglosen Zwang des besseren Argumentes".
Verantwortung kann auf dieser Grundlage also keine Leistung eines isolierten
Individuums sein, sondern kann nur kommunikativ verstanden werden.
Schon darin liegt eine Begrenzung des Verantwortungskonzepts, das auch
für die genuine Unternehmensethik von Bedeutung ist, deren zentrale Struk-
tur aufgrund der Besonderheiten der sie konstituierenden Gegebenheiten die
Verantwortung ist. Der unternehmensethische Akteur - sei es das Unterneh-
men selbst oder der ethische Akteur im Unternehmen - kann seiner Verant-
wortung gerade dann nicht gerecht werden, wenn er sie für sich und auf der
Grundlage nur seiner eigenen Vernunft ausüben will. Wer solipsistisch
verantwortungs bewußt handelt, handelt demnach gerade verantwortungslos,
weil er die Grundlagen der Verantwortung in einer kommunikativen Gemein-
schaft der Rechtfertigung außer Acht läßt. Man könnte dies auch so ausdrük-
ken: Wer nach eigenem Gutdünken verantwortlich sein will, der handelt
verantwortungslos, weil er seine Verantwortung nicht durch die Tat beweist,
was er nur durch das tatsächliche Sichverantworten in einem kommunikati-
ven Prozeß kann.
Sowohl KANT als auch HABERMAS kommen also auf verschiedenen argu-
mentativen Wegen zu dem Ergebnis, daß die Bedingung der Möglichkeit
eines verantwortlichen Handeins gerade die Beschränkung der eigenen Ver-
antwortungsfahigkeit durch die fremde Freiheit ist. Bei KANT ist es die
Universalisierbarkeit von Handlungsmaximen, die fordert, den anderen nie-
mals als Mittel, sondern ebenso als Selbstzweck und d. h. als Person in ihrer
Selbstbestimmungsfähigkeit anzusehen. Bei HABERMAS ist es das Prinzip des
2. Verantwortlichkeit als universaIisierte Handlungsorientierung 153
Diskurses, das die Freiheit des anderen als Bedingung eines Sichverantwor-
tens voraussetzt. Daraus resultiert sowohl für KANT als auch für HABERMAS
eine Implikation des Verantwortungs begriffes, die Verantwortlichkeit aus
eigener Machtvollkommenheit ausschließt und das Verantwortungskonzept
damit definiert, indem es die Verantwortlichkeit begrenzt durch die Freiheit
des anderen, dem gegenüber die Verantwortlichkeit als Leistung und als
Prozeß stattfindet.
2.
Verantwortlichkeit als
universalisierte Handlungsorientierung
Wenn Wirtschafts ethik als Sozialethik die Folgen des Handelns von Unter-
nehmen und des Handeins in Unternehmen für die Betroffenen unter Krite-
rien der ethischen Richtigkeit untersucht, so gehört zu ihren zentralen Auf-
gaben die Klärung des Begriffes der Verantwortung. Allgemein ist eine
Handlung dann nach ethischen Maßstäben richtig, wenn sie gerechtfertigt
werden kann. Verantwortlich handeln heißt folglich so handeln, daß die
Folgen dieses Handeins für die betroffenen Personen gerechtfertigt werden
können.
Das Problem ist damit offensichtlich auf das Problem der Rechtfertigung von
Handlungen verschoben. Zunächst wird eine Rechtfertigung aus Eigeninter-
esse nicht ausreichen, um von einer Anwendung ethischer Maßstäbe sprechen
zu können. Die Rechtfertigung muß vielmehr auf allgemeinere Regeln Bezug
nehmen, aus denen sie durch logisch stringente Verfahren abgeleitet werden
kann. Die in der modemen - deontischen - Ethik vorherrschende Form der
Rechtfertigung ist der Rekurs auf die Verallgemeinerbarkeit einer Norm, aus
der im konkreten Fall eine Handlungsanleitung zu gewinnen ist. Verantwort-
lich handeln heißt demzufolge, die Auswirkungen einer Handlung auf die
betroffenen Personen durch den Bezug auf eine verallgemeinerbare Norm
rechtfertigen können. Damit ist dem zunächst rein formalen Begriff der
154 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungs prinzips
steht. Als frei und damit als verantwortlich können wir jemanden aber dann
verstehen, wenn wir ihn als moralisch handlungsfahig auffassen und erfahren.
Dieser innere Zusammenhang der Moralität mit der Fähigkeit zur Verantwor-
tung kann nach KANT auch mit Hilfe des Begriffes der Person ausgedrückt
werden. Eine Person ist in der KANTischen Terminologie ein Wesen, das sich
selbst Zwecke setzen kann und deshalb als Zweck an sich selbst existiert.
Damit kann es als frei betrachtet werden und wird von anderen Menschen als
verantwortlich für seine Handlungen angesehen und hat auch selbst das
Bewußtsein der Verantwortlichkeit. Gleichzeitig ist eine Person aber ein
moralisches Wesen, das zu Handlungen fähig ist, für die eine genuin ethische
Bestimmung unterstellt werden kann. Die Beschäftigung mit der KANTischen
Moralphilosophie erbringt also zunächst eine Theorie über den Zusammen-
hang von Verantwortlichkeit und Moralität.
Damit ließe sich mit KANT die Behauptung aufstellen, ein Wesen, das die
Eigenschaft der Verantwortungsfähigkeit besitzt, weiß gleichzeitig auch über
den Gehalt seiner Verantwortung Bescheid. Wenn es nur verantwortlich sein
kann, insofern es frei ist, wenn es dies jedoch nur durch seine Moralität zeigen
kann, und diese Freiheit sogar den Gehalt seiner Moralität bestimmt, so ist
156 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips
Die KANTische Konzeption ist in sich schlüssig und baut konsequent auf den
Grundlagen einer "kritischen" Ethik auf. Ihr wurde jedoch von Anfang an die
Inhaltsleere des ausgearbeiteten moralischen Gesetzes vorgeworfen. Es dürf-
te deshalb schwer sein, eine konkrete Entscheidung auf ökonomischem
Gebiet mit Hilfe der KANTischen Moralphilosophie auf ihre Verantwortbar-
keit gegenüber den Betroffenen hin zu untersuchen. Dies liegt vor allem
daran, daß der Begriff Verantwortung bisher nur sehr vage umschrieben ist.
Zwar ist der ethische Gehalt dieses Begriffes mit Hilfe des Begriffes der
Universalisierbarkeit charakterisiert. Es bleibt jedoch ein hoher Grad von
Unbestimmtheit. Um den Begriff der Verantwortung im ethischen Sinne für
unternehmensethische Fragestellungen anwenden zu können, scheint also
noch ein beträchtliches Maß an Verdeutlichung vonnöten.
Das Problem dieser Konzeption scheint es zu sein, daß auf der Grundlage der
KANTischen Ethik keine konkreten Maßstäbe für unser Handeln entwickelt
werden können. Zunächst kommt es auf der Grundlage des KANTischen
Ansatzes, demzufolge nur ein guter Wille gut im eigentlichen Sinne heißen
kann, zu einer Ethik der Innerlichkeit, für die die Folgen der Handlungen in
der Welt und damit auch für andere Menschen im Grunde für ihre ethische
Qualität bedeutungslos sind. KANT hat dafür zwar gute Gründe, da nur ein
guter Wille uneingeschränkt gut heißen kann, da in jedem anderen Fall die
Güte einer Handlung durch ihre Folgen, die wir nicht vollständig bestimmen
können, beeinträchtigt werden kann, so daß auch eine gute Handlung durch
ihre nicht-intendierten Nebenfolgen schlecht werden kann. Aber für eine
Ethik der Verantwortung und damit für eine Sozialethik, wie sie für die
ethischen Grundlagen des Verhaltens von Unternehmen gefordert wird,
scheint KANTS Konzeption unter diesem Aspekt nur schwer herangezogen
werden zu können.
Auch wenn solchen Einwänden eine Berechtigung zugestanden werden muß,
so sollte doch nicht vergessen werden, daß diese Situation gerade das Ergeb-
nis des argumentativen Gedankenganges der KANTischen Ethik darstellt. Es
sollte auch nicht vergessen werden, daß KANT eine "kritische" Ethik ausar-
beiten wollte, die in genauer Entsprechung zu seiner kritischen Philosophie
erforschen soll, was reine Vernunft auf dem Felde der Ethik herausfinden
kann. In der theoretischen Philosophie war das Ergebnis dabei weitgehend
negativ. Eine vergleichbare Lage ergibt sich auf dem Gebiet der Ethik.
Zunächst könnte als die Quintessenz der KANTischen Überlegungen auf dem
Gebiet der Ethik angesehen werden, daß reine Vernunft auch hier nur sehr
wenig beweisen kann und sich hauptsächlich auf die negative Auszeichnung
von Maximen als unmoralisch aufgrund logischer Inkonsistenz beschränken
muß. Auch dies kann bereits als ein positives Ergebnis angesehen werden,
das die menschliche Einsicht in das Wesen des Sollens auf einen höheren
Stand bringt.
158 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips
3.
Verantwortlichkeit als Orientierung an der
Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit von Personen
halten darf dies eben nicht die einzige Determinante ausmachen. Eine solche
"technische" Einstellung zu den Menschen, die durch ökonomische Entschei-
dungen betroffen werden, muß vielmehr von einer Haltung getragen und
durchwirkt sein, die in der Person des anderen die "Menschheit" als Selbst-
zweck betrachtet.
Verantwortlich handeln heißt demnach berücksichtigen, daß durch Entschei-
dungen menschliche Wesen betroffen werden, die sich selbst Zwecke setzen
können und dadurch Zwecke an sich selbst sind. Verantwortlich handeln
heißt folglich auch, in ökonomischen Entscheidungen mitbedenken, daß und
wie die Freiheit anderer Personen durch die Folgen verletzt werden könnte.
Wenn der Zusammenhang der KANTischen Moralphilosophie berücksichtigt
wird, so ist diese Charakterisierung von Verantwortung letztlich in dem
begründet, was Verantwortung überhaupt möglich macht, d. h. in der nur
durch die Moralität zu beweisenden Freiheit, die umgekehrt als Grundlage
der Moralität zum Grundsatz der Autonomie führt und damit die Forderung
impliziert, auch die Freiheit anderer in den eigenen Entscheidungen mitzu-
bedenken.
Damit sind nun zwei Folgen verbunden, die für eine Verantwortung im
ethischen Sinne wesentlich sind. Zum einen wird die Handlung aus ihrem
konkreten Kontext gelöst. Wenn in einem sozialen Zusammenhang gehandelt
wird, so sind Rechtfertigungen gegenüber den relevanten Personen dieses
Zusammenhanges dem sozialen Handeln selbst inhärent. Die ethische Di-
mension entrückt die Verantwortungjedoch diesem sozialen Zusammenhang
und distanziert den Handelnden damit auch von den personalen Beziehungen,
an denen er sich zunächst vermutlich orientieren wird. Die Folgen der
Handlung werden unter dem ethischen Aspekt also nicht mehr daran gemes-
sen, ob sie für die Personen des engeren sozialen Zusammenhanges vorteil-
haft oder nachteilig sind, bzw. ob sie von diesen Personen gebilligt werden
oder nicht, sondern es wird eine Perspektive eingenommen, unter der die
Handlung unter Absehung von diesem engeren sozialen Kontext beurteilt
wird.
160 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungs prinzips
Außer der Distanzierung von dem sozialen Kontext, in dem die Folgen einer
Handlung Bedeutung haben, distanziert sich der Handelnde in gewisser
Weise auch von sich selbst, wenn er seine Handlungen unter der Perspektive
der Verallgemeinerbarkeit betrachtet. Er verläßt damit die zunächst natürlich
eingenommene Position des Eigeninteresses und akzeptiert, daß seine Inter-
essen nicht einfach deshalb, weil sie seine Interessen sind, größeres Gewicht
haben als die Interessen anderer Menschen. Damit nimmt er eine Perspektive
ein, unter der er selbst als einer unter anderen erscheint und unter der seine
Interessen gleichrangig sind mit denen anderer Menschen.
4.
Verantwortlichkeit und Universalisierbarkeit:
Fallbeispiele
In den achtziger Jahren sank der Anteil von General Motors am amerikani-
schen Automobilmarkt von ca. 45 % auf ca. 33 % ab. Die Ursachen waren
vor allem in einer aufgeblähten Bürokratie, einer hoch bezahlten und wenig
effizient organisierten Arbeitnehmerschaft zu suchen. Im August 1990 über-
nahm Robert C. Stempel das Amt des Chief Executive Officer (vergleichbar
dem Vorstandschef). Er versuchte, den überfälligen Arbeitsplatzabbau mög-
lichst behutsam und sozialverträglich zu gestalten. Bei der Mitarbeiterschaft
galt Stempel als sehr beliebt, vor allem wegen seines die Interessen der
Mitarbeiter berücksichtigenden Führungsstils.
Zwei Jahre später hatte General Motors von allen amerikanischen Automo-
bilproduzenten die ungünstigste Kostenstruktur, die unattraktivsten Modelle
und den Ruf für die schlechteste Qualität. Zeitweise versuchte GM mit
verlustbringenden Flottenverkäufen an Mietwagenfirmen die Auslastung der
Fabriken zu erhöhen. Diese Autos wurden nach wenigen Monaten Nutzung
weiterverkauft und ruinierten so den Händlern die Gebrauchtwagenpreise.
Im Durchschnitt liegen die Arbeitskosten heute etwa im Vergleich zu Ford
je Fahrzeug um 795 $ höher. In den Jahren 1990 und 1991 erreichten die
Verluste im nordamerikanischen Geschäft einen Betrag von 12 Milliarden $.
Bei den Pensionsrückstellungen ist GM mit 8 Milliarden $ im Rückstand. Zur
Zeit verliert der Konzern etwa 8,9 Millionen $ pro Arbeitstag.
4. Verantwortlichkeit· Universalisierbarkeit • Fallbeispiele 165
Anfang November 1992 wurde durch den Verwaltungsrat fast die gesamte
Führungsmannschaft von GM ausgewechselt. Die US-Belegschaft sollte
nunmehr bis Ende 1993 um 20.000 Angestellte und bis Ende 1994 um 54.000
Arbeiter schrumpfen. Nach Analystenmeinungen wird GM jedoch minde-
stens 100.000 Arbeitsplätze abbauen müssen. Die Quartalsdividende wurde
halbiert; zeitweise war der Aktienkurs des größten amerikanischen Unterneh-
mens so tief gefallen, daß der gesamte Börsenwert unter dem des vergleichs-
weise winzigen Softwareproduzenten Microsoft lag. Alle Lieferverträge
wurden gekündigt und von den Zulieferern wurden Preisreduzierungen um
20 % verlangt.
Auf dem europäischen Markt für Nutzfahrzeuge zeigte sich in den ersten neun
Monaten des Jahres 1993 ein Minus von 8 % bei den Neuzulassungen.
Verbandsschätzungen lauteten auf einen Nachfragerückgang von 15 bis
20 %, bei schweren Fahrzeugen wurde sogar ein Rückgang von 25 %
erwartet. Aufgrund von Überkapazitäten, KonjunktuITÜckgang und Wäh-
rungsveränderungen wird die Situation auf diesem Markt also deutlich
schwieriger werden. Die Mercedes-Benz AG hat auf diese Situation mit dem
Verzicht auf die Errichtung eines Lastwagenwerkes in Ahrensdorf in Bran-
denburg reagiert. Geplant war ursprünglich, dort die modernste Lkw-Fabrik
Europas mit 4.000 Arbeitsplätzen zu errichten. Damit wurde eines der größ-
ten Investitionsvorhaben in den neuen Bundesländern überhaupt gestrichen.
die freilich auch Gewinn machen muß. Nach seinen Worten sollen Wirt-
schaftsunternehmen mehr sein als Instrumente einer partikularen Verstandes-
leistung von Technokraten; der Zweck ihres Handeins müsse vielmehr mo-
ralisch verstanden und bewertet werden. Auch nach der Entscheidung gegen
den Bau des Lkw-Werkes in Brandenburg hat der Leiter des Geschäftsbe-
reichs Nutzfahrzeuge, Bernd Gottschalk, erklärt, die Mercedes-Benz AG
bekenne sich zu ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung.
Am Beispiel von General Motors zeigt sich, daß eine personal verstandene
Verantwortung - hier insbesondere gegenüber der Belegschaft - zu Folgen
führen kann, die nicht nur die Belegschaft, sondern auch andere Gruppen,
gegenüber denen Verantwortung besteht, weit nachteiliger betreffen, als es
der Verzicht auf die kurzfristig verstandene Verantwortung für die Beleg-
schaft mit sich gebracht hätte. Der aufgrund einer wahrgenommenen Verant-
wortung gegenüber den Mitarbeitern zu langsam vorgenommene Personal-
abbau führt nun zu einem weit stärkeren Personalabbau, daneben wurden
Lieferanten, Händler, Aktionäre und möglicherweise Pensionäre mit erheb-
lichen materiellen und sozialen Kosten belastet.
Daraus könnte der Schluß gezogen werden, daß ein verantwortliches Unter-
nehmenshandeln, das sich auf den interpersonalen Charakter von Verantwor-
tung konzentriert, zu Konsequenzen führen kann, die notwendig in größeren
Nachteilen für andere Gruppen resultieren, als dies bei einem Verzicht auf
die Wahrnehmung einer solchen Verantwortung der Fall gewesen wäre.
Dabei kann der Fall von General Motors als Beispiel für viele ähnliche Fälle
dienen, bei denen die Konsequenzen nicht so gravierend sind und nicht so
viele Menschen beeinflussen. Der Verzicht auf die Anwendung strikt ökono-
mischer Rationalität zugunsten der Verantwortung für eine bestimmte Grup-
pe führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Nachteilen für andere Gruppen.
Dies können Gruppen sein, die dem Akteur nicht so nahe stehen wie die
eigenen Mitarbeiter, es kann sich aber auch um zeitliche Differenzierungen
handeln: Der Verzicht auf Rationalisierungsmaßnahmen erhält heute Ar-
beitsplätze und schafft morgen mehr Arbeitslose.
Ähnlich kann der Verzicht der Mercedes-Benz AG auf den Bau eines Lkw-
Werkes in einem der neuen Bundesländer gewertet werden. Hier handelt es
4. Verantwortlichkeit· Universalisierbarkeit· Fallbeispiele 167
Damit wird jedoch die andere Seite des Dilemmas virulent, das oben theore-
tisch entwickelt wurde. Es schien, als ob eine ethisch fundierte Entscheidung
prinzipiell auf jenes Moment verzichten müßte, das im alltäglichen Verständ-
nis für eine verantwortliche Entscheidung notwendig ist: die interpersonale
Rechtfertigungsfähigkeit im Sich-verantworten gegenüber Menschen, denen
Rechenschaft geschuldet wird. Dies begründet sich aus der Notwendigkeit,
ein Universalisierungsprinzip einführen zu müssen, um eine Entscheidung
überhaupt als eine ethische charakterisieren zu können. Die charakterisierten
Formen eines Universalisierungsprinzips weisen jedoch ein so hohes Allge-
meinheitsniveau auf, daß sie nur schwer für eine ethische Abwägung in
konkreten Entscheidungssituationen von Unternehmen herangezogen wer-
den können. Daß KANTs kategorischer Imperativ vorwiegend negativ einge-
setzt werden kann und darüber hinaus nur auf einen sehr begrenzten Bereich
von Entscheidungssituationen anwendbar ist, läßt KANTS Ethik nicht unmit-
telbar als einen gangbaren Weg für eine Entscheidungshilfe in konkreten
Unternehmenssituationen erscheinen. HABERMAS' Ethikkonzeption nähert
4. Verantwortlichkeit· Universalisierbarkeit • Fallbeispiele 169
s.
Das Prinzip der Marktwirtschaft als Prinzip mittlerer
Reichweite für verantwortbare Unternehmensentscheidungen
251 V. VANBERG weist daraufhin, daß wir uns gerade deshalb auf allgemeine Regeln als
Ordnungsprinzipien stützen müssen, weil wir nicht in der Lage sind, alle Nebenfol-
gen und Fernwirkungen unseres Handeins zu bedenken und gegeneinander abzuwä-
gen (V. V ANBERG, Die Grenzen von Verantwortung und die Bedeutung von Regeln,
in: Ethik und Sozialwissenschaften 1/1990, S. 93 - 95).
252 V gl. K. HOMANN: "Niemand kann einen einzelnen moralisch oder rechtlich dafür
(mit)verantwortlich machen, daß er ein genuin kollektives Problem nicht gelöst hat."
... "Was die Ethik vom einzelnen in interdependenten Handlungszusammenhängen
verlangen kann, ist nicht das Tun, sondern das Reden." (K. HOMANN, Kollektive
Probleme und individualethisches Paradigma: Ein Kommentar zu dem Beitrag von
Hans LENK und Matthias MARING, in: Ethik und Sozialwissenschaften 1/1990, S. 67
- 69, S. 69).
5. Marktwirtschaft für verantwortbare Unternehmensentscheidungen 171
Eine solche Strategie kann die Unternehmens ethik dann einschlagen, wenn
sie aus ethischen Argumentationen einleuchtend ableiten kann, daß und
warum diejenigen Determinanten unternehmerischen Handeins, aufgrund
derer es zu Konflikten mit ethisch gestützten Forderungen anderer Interes-
sengruppen kommen kann, selbst eine argumentativ gut begründete ethische
Grundlage besitzen. Um das in der Einleitung erwähnte Beispiel aufzugrei-
fen: Es müßte gezeigt werden können, daß der Bankdirektor,derdemchrist-
253 Nach K. HOMANN ist der systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft
gerade der Bereich der Ordnungsregeln (vgl. K. HOMANN, Wettbewerb und Moral,
in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 31/1990, S. 34 - 56): "Wollte man
vom einzelnen Marktteilnehmer unter Wettbewerbs bedingungen moralische Vorlei-
stungen verlangen, würde man ihm zumuten, daß er durch seine Konkurrenten aus
dem Markt gedrängt und wirtschaftlich ruiniert wird. Deshalb muß man moralische
Werte wettbewerbsneutral durchsetzen. Man muß sie in den Spielregeln geltend
machen, die für alle Marktteilnehmer gleichermaßen gelten, weil sonst moralisches
Verhalten bestraft und unmoralisches Verhalten belohnt wird. Eine Remoralisierung
der Spielzüge geht notwendig zu Lasten der Effizienz und revoziert somit die
Fortschrittsleistungen der Moderne, die gerade auf der Entmoralisierung der Spiel-
züge beruhen, auf der Entlastung von Forderungen also, die über die Beachtung der
sanktionsbewehrten Spielregeln hinausgehen." (K. HOMANN / 1. PIEs, Wirtschafts-
ethik und Gefangenendilemma, in: Das Wirtschaftsstudium 1991, Heft 12, S. 608 -
614).
172 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips
lichen Gebot "wer von dir borgen will, den weise nicht ab" nicht ohne
Bonitätsprüfung gehorchen will, dies nicht aus Gründen rein technisch-öko-
nomischer Rationalität tut, sondern daß das zugrundeliegende Gewinn- und
Rentabilitätsprinzip selbst eine ethische Rechtfertigung besitzt, die im unter-
nehmerischen Handeln eines Bankinstituts ein Abweichen von jener christ-
lichen Forderung nicht nur erlaubt, sondern geradezu fordert.
Eine solche Strategie legt sich der Unternehmensethik noch unter einem
anderen Aspekt nahe. Wenn im Falle eines Konflikts zwischen ethischen
Forderungen aus der Umwelt des Unternehmens und der Verfolgung des
Gewinnprinzips das letztere verteidigt werden soll, so kann dies im Grunde
nur durch den Rekurs auf die Berechtigung dieses Prinzips erfolgen. In allen
anderen Fällen befindet sich die Unternehmensethik von vornherein in der
schwächeren Position. Sie stellt dann nämlich ein technisch-ökonomisches
Prinzip einer Forderung gegenüber, die sich aus einer Entscheidung über Gut
und Böse gerechtfertigt weiß. Jene Dialogpartner, die extern an die Unter-
nehmung ethische Forderungen herantragen, können in diesem Falle im
Grunde immer darauf hinweisen, daß jene technisch-ökonomischen Hand-
lungsgrundsätze geändert werden müssen, wenn sie mit ethischen Kriterien
nicht zu rechtfertigen sind. Dagegen aber kann der Vertreter der Unterneh-
mensethik prinzipiell nur mit der selbst ethischen Legitimation dieser tech-
nisch-ökonomischen Verhaltensmaximen, also insbesondere des Gewinn-
prinzips, argumentieren.
Um eine solche Strategie einschlagen zu können, wird die Unternehmens-
ethik auf die Wirtschaftsethik zurückgreifen müssen. In diesem Spezialgebiet
der Ethik müssen Argumentationen entwickelt werden, die die technisch-
ökonomische Vernunft des Gewinnprinzips selbst mit ethischen Gründen
rechtfertigen. Damit ist allerdings ein historisch und systematisch weites Feld
betreten254 • Für eine ethische Rechtfertigung des Gewinnprinzips als eines
auf gleicher Ebene zu verteidigenden Gutes wie die ethischen Einwände, die
seine uneingeschränkte Anwendung begrenzen, könnten viele Theoreme aus
254 Vgl. dazu und generell zu der Auszeichnung der Rahmenordnung als systemati-
schem Ort der Moral in der Wirtschaft K. HOMANN/F. BLOME-DREES, Wirtschafts-
und Unternehmensethik, Göttingen 1992, insbes. S. 20 ff.
5. Marktwirtschaft für verantwortbare Unternehmensentscheidungen 173
Für eine solche Ethik der Marktwirtschaft können prinzipiell die gleichen
Argumentationsweisen herangezogen werden, die oben aus der philosophi-
schen Ethik für eine mögliche Verdeutlichung des Konzepts "Verantwor-
tung" und des damit zusammenhängenden Problems der Abgrenzung und
Bestimmung ihrer Allgemeinheit verwendet worden sind. Hier sind insbe-
sondere bei KANT und RAWLS wichtige Gedankengänge zu finden. Nach
KANT findet die Ethik ihre letzte Begründung darin, daß der Mensch nur in
seinem moralischen Handeln seine Freiheit gewinnt und beweist. Dies legt
ihm die Verpflichtung auf, auch andere Menschen als freie Wesen zu behan-
deln und sie unter keinen Umständen ihrer Freiheit oder der Möglichkeit dazu
zu berauben, außer wenn es um der Erhaltung der Freiheit selbst willen
notwendig ist. Von daher läßt sich die auf Marktprozessen beruhende Wirt-
schaftsordnung und das ihr integrierte Gewinnprinzip als ökonomische Rea-
174 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips
lisierung der Freiheit der Person verstehen. Darüber hinaus formuliert KANT
in seiner Rechtsphilosophie das Eigentumsrecht als das fundamentale und
angeborene Recht eines jeden Menschen. Auch von dieser Seite aus läßt sich
die marktwirtschaftliehe Wirtschaftsordnung und das ihr zugehörige Ge-
winnprinzip aus ethischen Gründen rechtfertigen.
Darüber hinaus könnten durchaus Parallelen zwischen HABERMAS' Verfah-
rensethik und der Marktwirtschaft als einem kommunikativen Verhältnis
zwischen Anbietern und Nachfragern gezogen werden, wobei der Preis als
ein Medium der Verständigung aufgefaßt werden könnte, das bis zu einem
gewissen Grad ähnliche Funktionen erfüllt wie der ungehinderte Austausch
von Argumenten im freien Diskurs, der für HABERMAS die Grundlage ethi-
scher Verpflichtungen darstellt. Wenn sich diese Zusammenhänge verdeut-
lichen ließen, so könnte die kommunikative Ethik, die für die Unternehmens-
ethik zu fordern ist, bereits einige Grundlagen in den marktwirtschaftsethi-
schen Fundamenten finden, aus denen die Unternehmensethik die Rechtfer-
tigung des Gewinnprinzips als genauso ethisch legitimiert wie die zu seiner
Einschränkung vorgebrachten Forderungen beziehen kann255 •
Für die Unternehmensethik kann jedoch nicht die allgemeine Bedeutung der
Wirtschaftsethik im Mittelpunkt ihres Interesses stehen, sondern die Folge-
rungen, die sich aus dieser für die Legitimation unternehmerischen Handeins
am Leitfaden des Gewinnprinzips ergeben. Allgemein würde sich auf diese
Weise der Konfliktcharakter zwischen technisch-ökonomischer Rationalität
(Gewinnprinzip) auf der einen und deren ethisch geforderter Einschränkung
auf der anderen Seite verändern. Diese Auseinandersetzung könnte bei einem
entsprechenden Zusammenhang von Ethik der Marktwirtschaft und Unter-
nehmensethik nun als ein "inner-ethischer" Konflikt behandelt werden. Die
Unternehmensethik hätte es in diesem Falle mit der Diskussion und der in
kommunikativen Verfahren stattfindenden vernünftigen Aufklärung solcher
Probleme aus dem Unternehmenshandeln zu tun, die aus der ethisch gebote-
nen Entscheidungsorientierung am Prinzip der Marktwirtschaft stammen,
255 Zur historischen Diskussion über die Rechtfertigung des Gewinnprinzips vgl.
H. REICH, Eigennutz und Kapitalismus. Die Bedeutung des Gewinnstrebens im
klassischen ökonomischen Denken, Berlin 1991.
6. Marktwirtschaft· Unternehmensethik 175
6.
Marktwirtschaft und Unternehmensethik
Das zentrale Problem und die grundlegende Aufgabe einer solchen Konzep-
tion von Unternehmensethik, die sich auf Vorgaben aus der Wirtschaftsethik
stützt, ist offenbar die möglichst detaillierte und praxisnahe Ausarbeitung der
ethischen Konsequenzen aus einer ethisch legitimierten Wirtschaftsweise,
die prinzipiell Marktgesetzen folgt und den durch Kaufkraft vermittelten
Ausgleich von Angebot und Nachfrage als Steuerungsmittel verwendet, um
eine optimale Güterversorgung aller Marktbeteiligten sicherzustellen256 • Zu-
nächst könnte hier an die Funktionsbedingungen einer solchen Wirtschafts-
weise selbst gedacht werden.
Für die Unternehmens ethik würde sich daraus grundsätzlich die Forderung
ergeben, das unternehmerische Entscheidungsverhalten so auszurichten, daß
dadurch die Funktionsbedingungen der sozialen Marktwirtschaft nicht ge-
fährdet werden258 • Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine absichtlich verschlei-
ernde Informationspolitik über die eigenen Produkte und deren Wirkungen
würde sicherlich der marktwirtschaftlichen Funktionsbedingung der freien
Informationsmöglichkeiten der Marktteilnehmer widersprechen 259 • Ähnlich
wären z. B. künstlich aufgebaute Zugangsbeschränkungen zu Märkten zu
beurteilen, z. B. auch durch nicht marktentsprechende Preise zum Ausschluß
257 Vgl. zu den Grundlagen einer liberalen Marktwirtschaft K. HOMANN/I. PIES, Libe-
ralismus: kollektive Entwicklung individueller Freiheit - Zu Programm und Methode
einer liberalen Gesellschaftstheorie, in: Homo oeconomicus Bd. X, München 1993,
S. 297 - 347.
258 Vgl. E. GÖBEL, Das Management der sozialen Verantwortung, Berlin 1992, S. 71
ff.
259 Möglicherweise ließe sich in diesem Zusammenhang auch der berühmte "Fall
Nestle" unter unternehmens ethischen Aspekten analysieren; man könnte etwa darauf
hinweisen, daß die Vertreter der Firma Nestle ihre Verkaufspolitik wenigstens
teilweise auf die Unkenntnis der potentiellen Konsumenten über das Produkt und
seine Anwendungsfolgen aufgebaut hatten. Der entwickelte Verhaltenskodex der
Firma hat schließlich dieses Problem beseitigt. Damit wurden im Grunde einige
Funktionsvoraussetzungen der Marktwirtschaft in einem Marktsegment wieder her-
gestellt, in dem sie nicht von vornherein vorausgesetzt werden konnten.
6. Marktwirtschaft· Unternehmensethik 177
von Wettbewerbern 26o • Bezüglich des Gewinnprinzips ergäbe sich daraus die
Forderung, durch Unternehmenspolitik nicht jene Bedingungen zu gefähr-
den, die die positiven Wirkungen dieses Prinzips ermöglichen und garantie-
ren.
Die aus der Wirtschaftsethik als Ethik der Marktwirtschaft abgeleitete unter-
nehmensethische Grundnorm würde demnach also lauten, so zu handeln, daß
die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit im
marktwirtschaftlichen System nicht gefährdet werden. Die Verantwortung
der Entscheidungsträger in den Unternehmen, von der eingangs als dem
ethischen Grundbegriff gesprochen wurde, würde dieser Argumentationsli-
nie zufolge also nicht nur die Personen und Personengruppen umfassen, die
von der unternehmerischen Tätigkeit betroffen werden, sondern würde auch
eine Verantwortung für die Funktion und die Erhaltung jener Ordnung der
wirtschaftlichen Betätigung einschließen, die dem Unternehmen die Verfol-
gung des Gewinnprinzips zwar unter ethischen Einschränkungen, aber doch
mit eigenständiger ethischer Legitimation erlaubt261 .
260 Bezüglich der· im Fallbeispiel erwähnten Firma General Motors wäre hier an die
Forderungen von Firmenvertretern nach einer protektionistischen Handelspolitik zu
denken.
261 Die Garantie der Marktwirtschaft erscheint danach nicht allein als staatliche Aufga-
be. Vgl. dazu H. KLIEMT: "Die Hauptaufgabe institutioneller Reform scheint in einer
freien Gesellschaft darin zu bestehen, individuelle Anreizsysteme so zu beeinflus-
sen, daß die Handlungsfolgen individueller Akte signifikant für den Handelnden
werden, indem sie durch Reaktionen anderer Individuen letztlich auf ihn selbst
zurückfallen. In Großgruppen-Interaktionen geschieht dies nicht von selbst. Es kann
nur durch kollektive Institutionen vermittelt werden. Diese müssen aber keineswegs
den Charakter von staatlichen, zur Einzelintervention autorisierten Instanzen erhal-
ten." (H. KLIEMT, Statische SozialJallen und repetitive Spiele, in: Ethik und Sozial-
wissenschaften 1/1990, S. 72 -74, S. 74).
178 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips
262 Vgl. K. HOMANN: "Markt und Wettbewerb sind nicht nur' effizient', was immer man
darunter verstehen mag, Markt und Wettbewerb sind das beste bisher bekannte
Mittel zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen und haben daher im Prinzip
eine ethische Rechtfertigung." (K. HOMANN, Gewinnmaximierung und Koopera-
tion - eine ordnungstheoretische Reflexion, unveröff. Ms. 1995, S. 9). Daraus ergibt
sich: "Ethik muß das neoklassische Handlungsmodell mit Präferenzen!Anreizen,
Restriktionen und der rein positiven Rationalitätsannahme, d. h. das anreizgesteuerte
Handlungsmodell, intakt lassen und moralische Intentionen über die Handlungsbe-
dingungen geltend machen, die durch Ordnungspolitik gestaltet werden (können).
Wirtschaftsethik, aber auch moderne Ethik allgemein, ist hinsichtlich der Zugriffs-
ebene als Ordnungsethik zu entwickeln." (a. a. 0., S. 9).
263 Vgl. K. HOMANN: "Unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesell-
schaft lautet der moralische Imperativ daher, die Spielregeln so zu gestalten, daß aus
den Aktionen zahlloser einzelner Akteure im Rahmen dieser Regeln möglichst ohne
Rückgriff auf moralische Motive das moralisch erwünschte Gesamtergebnis heraus-
kommt. Verantwortung gibt es - paradigmatisch - nur für die Spielregeln. Das
Schicksal unseres Globus entscheidet sich an der Frage, ob uns die Umstellung der
Ethik von der Individualethik, die auf Motiven und guten Absichten basiert, auf die
Institutionen- oder Ordnungsethik, die auf unpersönlichen Regeln basiert, gelingt
oder nicht." (K. HOMANN, Wirtschaft und Verantwortung. Die kollektive Verantwor-
tung der einzelnen, in: H. W. BEITE, Hrsg., Ohne mich. Der Mensch im Spannungs-
feld seiner Verantwortung, Freiburg 1991, S. 29 - 45, S. 43).
6. Marktwirtschaft· Unternehmensethik 179
Freiheit
als Grundprinzip der VVirtschaltsethik
Ethik .... Ethik der freien Marktwirtschaft
als Kommunikationsprozess
freier Wirtschaftssubjekte
mit dem Ziel eines
geldgesteuerten Ausgleichs
von Angebot und Nachfrage
,
Bedingungen der freien
Marktwirtschaft
bezüglich der Struktur des
Wirtschaftsprozesses und der
Handlungslahigkeit der Akteure
I U nternebmenshandeln
I
technisch -rationales
Unternehmenshandeln Unternehmenshandeln auf der
in Orientierung am Grundlage von
Gewinnprinzip Unternehmensethik
als Integration der
Unternehmung in die
Marktwirtschaft
prinzip und Ethik zu befreien264 • Zwar ist damit sicherlich nicht der Stein der
Weisen gefunden, der den immer wieder aufbrechenden Konflikt zwischen
diesen beiden Handlungsorientierungen auflösen könnte. Aber dieser Kon-
flikt ist damit in einen Rahmen gestellt und auf eine Diskussionsebene
gebracht, auf der die Untemehmensethik mit besseren Chancen gegen ideo-
logische Positionen argumentieren kann.
Das aufgeführte Schaubild versucht die für den hier vertretenen Ansatz einer
Unternehmens ethik grundlegenden Zusammenhänge zwischen Wirtschafts-
ethik und Untemehmensethik zu veranschaulichen.
264 Auf einen häufig anzutreffenden Aspekt dieser Frontstellung weist K. HOMANN hin:
"Versuche, die (staatliche) Ordnungspolitik durch einzelwirtschaftliche moralische
Engagements dauerhaft zu ersetzen, beruhen auf gesellschaftstheoretischen Mißver-
ständnissen, sie unterlaufen die Komplexität und Produktivität ausdifferenzierter
moderner Gesellschaften und dienen nicht selten dazu, Wettbewerbsbeschränkun-
gen mit einer ethischen Scheinlegitimierung auszustatten." (K. HOMANN, Gewinn-
maXimierung und Kooperation - eine ordnungstheoretische Reflexion, unveröff. Ms.
1995, S. 33).
VII.
Zusammenfassung
Konzeption; zum zweiten hat die Popularität dieser Lehre dazu geführt, daß
das »Prinzip Verantwortung« in weiten Kreisen mit moderner Ethik über-
haupt identifiziert wird; zum dritten repräsentiert J ONAS' Ethik ein Paradigma
vor-modemen Begründens, das zugleich als Verständnisfolie für modernere
Verfahren ethischen Argurnentierens dienen kann.
JONAS versucht den Wertcharakter einer Ethik der Verantwortung aus dem
Sein selbst abzuleiten und ist deshalb gezwungen, die Verantwortlichkeit
durch eine metaphysische Lehre von der Subjektivität zu begründen. Eine
solche Metaphysik hat zunächst den Nachteil, daß sie dem modemen Be-
wußtsein nur schwer einleuchtet, weswegen die dadurch legitimierte Ethik
weitgehend ohne ihre argumentative Grundlage rezipiert wurde. Darüber
hinaus weist diese Metaphysik beträchtliche argumentative Schwachstellen
auf. Letztlich gelingt es auch JONAS nicht, den naturalistischen Fehlschluß
zu vermeiden und die Werthaftigkeit des Seins als objektive Grundlage
ethischer Verantwortung nachzuweisen.
Er bietet darüber hinaus jedoch eine weitere Begründungsform an, die
gleichzeitig auch als ein Paradigma ethischen Argumentierens aufgefaßt
werden kann. Die »Phänomenologie der Verantwortung« untersucht das
Vorkommen von Verantwortlichkeit im tatsächlichen Leben und versucht auf
dieser Grundlage die Universalität des Phänomens plausibel zu machen. Hier
kann JONAS zwar auf der Ebene der phänomenologischen Beschreibungen
nur schwer widersprochen werden, es bleibt jedoch unklar, wie auf dieser
Grundlage Verantwortlichkeit als ethisches Prinzip bestimmt werden könnte.
Die Kritik an JONAS' ethischer Konzeption führt deshalb zu der Frage, wie
Verantwortlichkeit ohne Rückgriff auf eine Seinslehre und doch mit einem
über die Möglichkeiten einer Phänomenologie hinausgehenden universellen
Anspruch begründet und bestimmt werden kann.
KANTs Ethik bietet sich hier zunächst deshalb an, weil sie das Paradigma
einer »deontischen« Ethik darstellt und die Universalität gerade zum Prinzip
des ethischen Argurnentierens erhebt. Darüber hinaus bietet sie mit eben
diesem Prinzip der Universalität ein Kriterium an, mit dem ethische Normen
von anderen Verhaltensregelungen unterschieden werden können. Schließ-
lich ist die KANTische Ethik zum Orientierungspunkt aller folgenden Kon-
VII. Zusammenfassung 183
Damit ist einerseits mehr und andererseits weniger erreicht, als zunächst
gefordert war. Der Begriff der Verantwortung ist auf der Grundlage der
KANTischen Ethik nicht mehr eine formale Struktur, sondern hat einen Inhalt
gefunden, so daß nunmehr gesagt werden kann, wofür wir verantwortlich
sind. Wir werden dadurch jedoch nicht darüber informiert, wie wir in kon-
kreten Situationen handeln sollen und welche Interessen wir berücksichtigen
müssen, wenn wir verantwortlich handeln wollen. Dies ergibt sich jedoch
ebenso aus der Argumentation der KANTischen Ethik wie die Angabe des
Inhalts der Verantwortung als Freiheit und Personalität.
Ob sich der Inhalt der Verantwortlichkeit mit Hilfe ethischer Argumentatio-
nen über dieses Ergebnis hinaus bestimmen läßt, dies kann nun am besten
durch die Untersuchung einer Konzeption geprüft werden, die beansprucht,
den KANTischen Grundgedanken beibehalten und doch zu bestimmteren
Resultaten kommen zu können. Auch aus diesem Grund wurde die HABER-
MAS'sche Diskurstheorie für die Entwicklung moderner unternehmensethi-
scher Konzeptionen herangezogen.
Nach HABERMAS können wir prinzipiell nur dann begründet wissen, was wir
tun sollen, wenn wir nicht nur das Einverständnis aller lebenden Menschen
finden, sondern auch das Einverständnis der Menschen, die jemals auf der
Erde gelebt haben oder künftig auf ihr leben werden. Er berücksichtigt jedoch
weiter die Unmöglichkeit, sich eines solchen Einverständnisses zu vergewis-
sern, indem er den Diskurs und mit ihm die ideale Sprechsituation als
Surrogat einführt. Die strukturellen Bedingungen der idealen Sprechsituation
sollen es erlauben, einen wahren von einem falschen Konsens zu unterschei-
den und damit garantieren, daß der gefundene Konsens das freie Einverständ-
nis aller Menschen reflektiert.
Die HABERMAs'sche Ethikkonzeption folgt nicht nur bezüglich des Univer-
salisierungsprinzips der KANTischen Grundlegung einer ethischen Verant-
wortlichkeit. Auch der Diskurs setzt bei allen Teilnehmern die Fähigkeit der
Selbstbestimmung und damit die Freiheit voraus. Insofern funktioniert diese
»Veranstaltung« zur Bestimmung richtigen Handeins nur dann, wenn bereits
zuvor Verantwortlichkeit für die Freiheit, für die Selbstbestimmungsfähig-
keit und Personalität anderer Menschen übernommen wurde.
VII. Zusammenfassung 185
Darüber hinaus scheint in der Konzeption des Diskurses die Bestimmung der
Verantwortung durch den dialogischen statt monologischen Charakter der
Maximenbestimmung eher dem Wesen von Verantwortung zu entsprechen.
Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß nach der HABERMAS' sehen Ethik der
universalistische Charakter der Verantwortung auch durch ein Gremium
kompetenter und in einer idealen Sprechsituation diskutierender Gesprächs-
partner bewahrt werden kann, die »advokatorisch« für alle sprechen. Damit
aber ist der KANTische Gedanke einer Verantwortung für die Freiheit als
alleiniger Gehalt ethischer Verantwortung dementiert.
Die Lehre der HABERMAS'schen Ethikkonzeption lautet also: Die aus dem
Prinzip praktischer Vernunft entwickelte Verantwortung für die Freiheit kann
solange beibehalten werden, wie deren Gehalt auf eine Konstellation be-
schränkt bleibt, die nur mit den Begriffen Personalität, Selbstzweckhaftig-
keit, Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit zu umschreiben ist; diese
Verantwortung wird jedoch dementiert, wenn sie weiter bestimmt werden
soll. Dies entspricht der Lehre der KANTischen Ethik, deren Ergebnis durch
seinen eigenen Charakter eine allgemein verbindliche Bestimmung der Ver-
antwortlichkeit ausschließt, weil darin der Selbstwiderspruch einer Fremd-
bestimmung der Freiheit läge.
Als allgemeines Ergebnis dieser Erörterungen kann festgehalten werden, daß
der zu Beginn als fundamentales Konzept einer Unternehmensethik heraus-
gestellte Begriff der Verantwortung sich nur als Verantwortung für die
Freiheit begründen und bestimmen läßt. Verantwortlich handeln heißt also
zunächst, in ökonomischen Entscheidungen mitbedenken, daß und wie die
Freiheit anderer Personen durch die Folgen verletzt werden könnte. Verant-
wortlich handeln heißt des weiteren berücksichtigen, daß durch Entscheidun-
gen menschliche Wesen betroffen werden, die sich selbst Zwecke setzen
können und dadurch Werte an sich selbst sind. Verantwortlich handeln
fordert demzufolge, darauf zu achten, daß durch diese Handlungen und ihre
Folgen andere Menschen nicht nur als Mittel behandelt werden.
Auf dieser Grundlage wird eine Konkretisierung des entwickelten Verant-
wortungsbegriffs vorgeschlagen, die auf folgender Überlegung beruht: Wenn
es plausibel erscheint, daß das ethische Universalisierungsprinzip nicht not-
186 VII. Zusammenfassung
wendig ohne weitere Vermittlungs schritte direkt auf die relevante Situation
angewandt werden muß, so kann die ethische Dimension auch bewahrt
werden, wenn intermittierende Prinzipien zugelassen werden, die es erlau-
ben, die konkrete Situation ethisch zu beurteilen, ohne im Allgemeinen
verbleiben zu müssen. Eine solche Leistung könnte etwa das Prinzip der
Marktwirtschaft erbringen.
Eine Ethik der Marktwirtschaft als Fundierung einer konkreteren Unterneh-
mensethik könnte zunächst die technisch-ökonomische Rationalität des Ge-
winnprinzips ethisch begründen und damit die verschiedenen Rechtferti-
gungsformen unternehmerischen Handeins in einer einzigen Dimension
kompatibel machen. Darüber hinaus läßt sich die auf Marktprozessen beru-
hende Wirtschaftsordnung und das ihr integrierte Gewinnprinzip als ökono-
mische Realisierung der Freiheit der Person verstehen. Des weiteren kann
auf KANTs rechtsphilosophische Auszeichnung des Eigentumsrechts als des
angeborenen Freiheitsrechts zurückgegriffen werden. Schließlich könnten
Parallelen zwischen HABERMAS' Verfahrensethik und der Marktwirtschaft
als einem kommunikativen Verhältnis zwischen Anbietern und Nachfragern
gezogen werden, wobei der Preis als ein Medium der Verständigung aufge-
faßt werden könnte, das bis zu einem gewissen Grad ähnliche Funktionen
erfüllt wie der ungehinderte Austausch von Argumenten im freien Diskurs.
Daraus würde sich die grundsätzliche Forderung ergeben, das unternehmeri-
sche Entscheidungsverhalten so auszurichten, daß dadurch die Funktionsbe-
dingungen der freien Marktwirtschaft nicht gefährdet werden. Die Verant-
wortung der Entscheidungsträger würde danach die Erhaltung jener Ordnung
der wirtschaftlichen Betätigung einschließen, die dem Unternehmen die
Verfolgung des Gewinnprinzips zwar unter ethischen Einschränkungen, aber
doch mit eigenständiger ethischer Legitimation erlaubt. Dies könnte man in
einem unternehmensethischen »kategorischen Imperativ der Marktwirt-
schaft« zusammenfassen: Handle in allen unternehmerischen Entscheidun-
gen so, daß die Maximen deines Handeins jederzeit mit den Grundprinzipien
und Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft vereinbar sind.
VIII.
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