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Ludwig Summer

Der unternehmensethische Begriff der "Verantwortung"


ludwig Summer

Der unternehmens-
ethische Begriff der
" Verantwortung ll

Eine Grundlegung im Anschluß an


Jonas, Kant und Habermas

Mit einem Geleitwort von


Prof. Dr. Dr. Karl Homann

~ Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH


Die Deutsche Bibliothek - ClP-Einheitsaufnahme

Summer, Ludwig:
Der unternehmensethische Begriff der "Verantwortung" : eine Grundlegung im AnschluB
an Jonas, Kant und Habermas / Ludwig Summer. Mit einem Geleitw. von Karl Homann.
- Wiesbaden : DUV, Dt. Univ.-Verl., 1998
(DUV : Wirtschahswissenschah)
Zugl.: EichstăII, Kath. Univ., Diss., 1997
ISBN 978-3-8244-0387-5

ISBN 978-3-8244-0387-5 ISBN 978-3-663-08361-0 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-663-08361-0

Alle Rechte vorbehalten


© Springer Fachmedien Wiesbaden. 1998
UrsprOnglich erschienen bei Deutscher Universităts-Veriag GmbH, Wiesbaden, 1998
Lektorat: Monika Mulhausen

Dos Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich


geschutzt. Jede Verwertung auBerhalb der engen Grenzen des
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I.ăssig und strafbar. Dos gilt insbesondere fur Vervielfăltigungen,
Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und
Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Gedruckt auf săurefreiem Papier


ISBN 978-3-8244-0387-5
In memoriam:
Meiner Mutter Barbara
QUIDQUID AGIS,
PRUDENTER AGAS
ET RESPICE FINEM
Geleitwort

Nach dem Soziologen Niklas LUHMANN reagieren Menschen auf neue,


unbekannte Problemlagen mit dem verstärkten Ruf nach "Moral" und
"Ethik". Die Aufmerksamkeit, die die Wirtschaftsethik in den letzten Jahr-
zehnten findet, ist, so betrachtet, ein untrüglicher Indikator für eine solche
grundlegend veränderte Problemlage. Sie zeichnete sich bereits in den 80er
Jahren ab, und sie bestimmt nach der Implosion des Sozialismus und im Zuge
der Globalisierung zunehmend das Bewußtsein weiter Kreise in der Bevöl-
kerung.

Eine probate Antwort auf die aufgeworfenen Fragen, Unsicherheiten und


Ängste der Menschen wird vielfach darin gesehen, die Entscheidungsträger
in der Wirtschaft nachdrücklich an ihre "soziale Verantwortung" zu erinnern.
Doch dies führt zu theoretischen Schwierigkeiten: "Verantwortung" ist -
ebenso wie "Gerechtigkeit" - ursprünglich, vom Wort her, ein handlungs-
theoretischer, ein individualethischer Begriff; die Probleme der modemen
Welt aber sind sozialer, kollektiver Natur - angefangen von Krieg, Hunger
und Armut über Umweltverschmutzung und Arbeitslosigkeit bis zu Bevöl-
kerungsentwicklung, Migration, Drogenkonsum und Entwicklung der Kri-
minalität. Es kann nicht damit getan sein, personale Konzepte durch einfaches
Hinzusetzen des Adjektivs "sozial" - "soziale Verantwortung" bzw. "soziale
Gerechtigkeit" - für die Lösung solcher Probleme brauchbar zu machen: Der
individuaItheoretische Zuschnitt bleibt erhalten, er schränkt die Problemlö-
sungskapazität erheblich ein, zumal die dahinterstehenden philosophischen
Konzepte den individualtheoretischen Charakter explizit hervorheben oder
doch hervorzuheben scheinen.

In diesem Zusammenhang ist eine Untersuchung der philosophischen Hin-


tergrundkonzepte für den inflationären Gebrauch von "Verantwortung" in
x Geleitwort

der gegenwärtigen wirtschafts- und unternehmensethischen Diskussion von


Bedeutung. Der Autor zeigt, daß die moralisierende Engführung des Kon-
zepts Verantwortung, wie sie bei Hans J ONAS etwa ausgearbeitet ist, im Werk
von Immanuel KANT, dem großen Philosophen der Aufklärung aus Königs-
berg, entgegen dem ersten Anschein keine Bestätigung findet und der Sache
wenig dienlich ist. Die Weiterentwicklung KANTs in der Diskursethik von
Jürgen HABERMAS, der wie KANT und JONAS in der wirtschaftsethischen
Literatur rezipiert wird, setzt bei intersubjektiven Verständigungsprozessen
an. Allerdings bleibt sein Versuch im wesentlichen auf Fragen der theoreti-
schen Normenbegründung beschränkt, so daß Probleme der anreizkompati-
blen Implementation dieser Normen in Wirtschaft und Gesellschaft kaum
diskutiert werden.

Die vorliegende Arbeit geht davon aus, daß die Entscheidungsträger in der
Wirtschaft nicht nur Managementtechniken kennen und anwenden müssen,
sondern über ein "Orientierungswissen" verfügen sollten, das aus der philo-
sophischen Reflexion und Grundlagenforschung stammt.

Prof. Dr. Dr. Karl Homann


Vorwort

In immer stärkerem Maße werden die Unternehmen heute mit Forderungen


konfrontiert, denen durch die Autonomie des Moralischen besonderer Nach-
druck zukommen soll. Die Unternehmen müssen sich deshalb notwendig mit
der Frage auseinandersetzen, wie sie der Verantwortung aus ihren ethischen
Verpflichtungen nachkommen können. Immer enger werdende Verflechtung
von ökonomischen, rechtlichen und moralischen Forderungen stellt eine neue
Herausforderung an die Unternehmen dar, der es zu begegnen gilt, die aber
auch den im Unternehmen verantwortlich Handelnden nicht überfordern darf.
Ein wesentlicher Teil der Arbeit befaßt sich deshalb damit, wie das Prinzip
der Effektivität des Wirtschaftens selbst eine bestimmende Größe für die
ethische Qualifikation des Handeins von und in Unternehmen darstellt. Der
vermeintliche Gegensatz zwischen technischer bzw. ökonomischer und prak-
tischer Vernunft wird zugunsten einer Annäherung der beiden Prinzipien
aufzulösen versucht. Nur jenseits der Konfrontation von Ethik und Ökonomie
kann der Akteur im Unternehmen zu einer für beide Bereiche sensibilisierten
Haltung gelangen.

Die vorliegende Dissertation entstand am Lehrstuhl für Wirtschafts- und


Unternehmens ethikder Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Katholi-
schen Universität Eichstätt. Sie wurde im Sommersemester 1996 von der
Fakultät als Dissertation angenommen.

Meinen persönlichen Dank darf ich an dieser Stelle meinem verehrten Dok-
torvater, Herrn Professor Dr. Dr. Karl HOMANN ausdrücken. Er hat mich als
externen Doktoranden stets wohlwollend begleitet und Verständnis für meine
berufliche Beanspruchung gezeigt; seine Anregungen haben zum Gelingen
der Arbeit entscheidend beigetragen.
XII Vorwort

Ganz besonders danke ich meinem Bruder Helmut, der mich auch in Phasen
großer Belastung ermuntert hat, die Bemühungen fortzusetzen. Mit Dankbar-
keit denke ich auch an jene Menschen, die mir mit Ihrem Wohlwollen sowohl
Orientierung als auch Hilfe gaben. Dies gilt vor allem für meine Großeltern
Matthias und Barbara Obermaier sowie für meine Eltern Ludwig und Barbara
Summer.

Meiner verstorbenen Mutter gilt jedoch mein besonderer Dank. Ihr mächte
ich diese Arbeit zu ihrem Andenken widmen.

Ludwig Summer
Inhalt
I.
Einleitung
l. Ökonomie und Ethik
als zwei Aspekte des Handeins von Unternehmen 1
2. Das Unternehmenshandeln zwischen
Gewinnprinzip und moralischer Verpflichtung 4
3. Die Bestimmung von Verantwortung
als Problem der Unternehmensethik 7
11.
Grundlagen:
Ethik und Unternehmensethik
l. Unternehmensethik als Ethik des
»Menschen im Unternehmen« 13
2. Technisch-rationales und praktisch-rationales
Handeln im Unternehmen 18
3. Der Zusammenhang des Verantwortungsbegriffs
mit den Konstituentien einer Unternehmensethik 29
4. Das Problem der spezifisch unternehmensethischen
Individualität der Verantwortung 32
111.
Ethische Verantwortlichkeit als subjektive Seite
einer ontologischen Wertlehre:
Hans JONAS
l. Ethik als Antwort auf die Herausforderungen
der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation 43
2. Die Bedrohung des Wesens des Menschen und die
Notwendigkeit einer Fundierung der Ethik durch
eine metaphysische Lehre von der Subjektivität 47
3. Die Werthaftigkeit des Seins als objektive
Grundlage ethischer Verantwortung 56
4. Kritische Anmerkungen zu dem Versuch einer
ontologischen Fundierung ethischer Verantwortlichkeit 59
5. Die Phänomenologie der Verantwortung
als subjektive Seite der JONAS'schen Ethik 61
6. Der Gehalt der ethischen Verantwortlichkeit
nach der JONAS'schen Ethikkonzeption 64
XIV Inhalt

IV.
Ethische Verantwortlichkeit auf der Grundlage
von Selbstbestimmung und Freiheit:
Immanuel KANT
1. Das Problem der Bestimmung eines guten Willens
als Ausgangsfrage der KANTischen Ethik 67
2. Der kategorische Imperativ als Ausdruck einer
»unbedingten« Bestimmung des Willens 72
3. Der kategorische Imperativ und der
Mensch als Zweck an sich selbst 75
4. Ethische Verantwortlichkeit als Achtung für die
Personalität anderer Menschen 81
5. Ethische Verantwortlichkeit als Achtung vor der
Autonomie und Freiheit anderer Menschen 86
5.1 Der Zusammenhang von Freiheit und Moralität 86
5.2 Das Recht als ethisch geforderte Achtung
der äußeren Freiheit anderer Menschen 91
5.3 Das Recht als Verwirklichung der ethischen Verantwortlichkeit
als Achtung vor der Freiheit anderer Personen 95
6. Zur praktischen Bedeutung der KANTischen Konzeption
ethischer Verantwortlichkeit 98
6.1 Von der »Innerlichkeit« des guten Willens
zur Anerkennung fremder Autonomie 98
6.2 Personalität und Privatheit. Das Universalisierungsprinzip
und KANTs Begriff ethischer Verantwortlichkeit 101
6.3 Der Horizont der ethischen Verantwortlichkeit 104
6.4 Der Inhalt ethischer Verantwortlichkeit 107

V.
Der Diskurs als Begründung und Form
ethischer Verantwortlichkeit:
Jürgen HABERMAS
1. Die Diskurstheorie der Wahrheit
und der ethischen Richtigkeit 111
2. Diskurstheorie und Konsenstheorie 115
3. Die Reduzierung des Anspruchs der Diskurstheorie:
Kompetenz und Vernünftigkeit als Ersatz
für die Universalität freier Zustimmung . 118
Inhalt xv
4. Die Logik des Diskurses 122
5. Der Diskurs und die ideale Sprechsituation 125
6. Die ideale Sprechsituation als Rekonstruktion der
Diskurstheorie auf niedrigerem Begründungsniveau 129
7. Die Begründung der Diskurstheorie aus der
Entwicklung zur sozio-kulturellen Lebensform 132
8. Das Prinzip Verantwortung
in der Diskursethik von HABERMAS 137
9. Die Konzeption einer ethischen
Verantwortlichkeit bei KANT und HABERMAS 139

VI.
Möglichkeiten und Grenzen des
Verantwortungsprinzips für die Unternehmensethik
1. Die Grenzen der Verantwortung in der Freiheit des anderen 147
2. Verantwortlichkeit als
universalisierte Handlungsorientierung 153
3. Verantwortlichkeit als Orientierung an der
Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit von Personen 158
4. Verantwortlichkeit und Universalisierbarkeit:
Fallbeispiele 163
5. Das Prinzip der Marktwirtschaft als Prinzip mittlerer
Reichweite für verantwortbare Unternehmensentscheidungen 170
6. Marktwirtschaft und Unternehmensethik 175

VII.
Zusammenfassung 181

VIII.
Literaturverzeichnis 187
I.
Einleitung

1.
Ökonomie und Ethik
als zwei Aspekte des HandeIns von Unternehmen

Die sich im gesellschaftlichen Handlungszusammenhang stellenden Proble-


me sind nicht von vornherein ökonomischer, politischer, soziologischer oder
ethischer Art. Dazu werden sie erst, indem sie unter ökonomischen, politi-
schen, soziologischen oder ethischen Vorzeichen behandelt und den entspre-
chenden Einzelwissenschaften zugeordnet werden. Deshalb bedeutet jede
solche Behandlungsart eine Abstraktion. Eine solche Abstraktion bietet
einerseits Vorteile in der Bearbeitung der Ausgangsprobleme, indem sie die
prinzipiell unendliche Komplexität der Ursachenzusammenhänge, in denen
die Ausgangsprobleme entstanden sind, soweit reduziert, daß die Probleme
zu Kosten bearbeitet werden können, die in einem angemessenen und ver-
nünftigen Verhältnis zur Bedeutung der Probleme selbst stehen. Dann kann
von den Informationsverlusten und Entdifferenzierungen abgesehen werden,
die eine solche Abstraktionsleistung notwendig mit sich bringt. Wird die
Abstraktion jedoch zu weit getrieben oder in Richtung einer problemunan-
gemessenen Verständnisweise durchgeführt, so wird sie zu erheblichen Ko-
sten führen, indem das Ausgangsproblem nicht angemessen bearbeitet wer-
den kann oder seine Bearbeitung zu Folgeproblemen führt, deren Bewälti-
gung einen höheren Aufwand erfordert, als durch die Bearbeitung des Aus-
gangsproblems eingespart werden konnte.
Wenn das Handeln des Unternehmens als des zentralen Gegenstandes der
Betriebswirtschaftslehre ausschließlich unter ökonomischen Gesichtspunk-
ten gesehen wird, so werden möglicherweise zahlreiche Aspekte abgeblen-
2 1. Einleitung

det, die das tatsächliche Handeln der Entscheidungsträger bestimmen. Eine


solche Abblendung ist solange ohne größere Probleme durchzuführen, wie
die Annahme statthaft ist, das Verhalten des Unternehmens in seiner durch
gesellschaftliche, politische, technische, normative und tradition ale Faktoren
geprägten Umwelt sei soweit durch die Bedingungen des ökonomischen
Prinzips geprägt, daß die Entscheidungen der beteiligten Personen mit Hilfe
rein ökonomischer Begriffe beschrieben werden können. Dann werden in den
korrespondierenden Problemfeldern auf der Grundlage solcher Begriffe auch
befriedigende Lösungen erreicht werden können.
Wennjedoch mit guten Gründen angenommen werden muß, daß das modeme
Unternehmen aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen des Produzie-
rens einen Freiraum für sein Verhalten besitzt, in dem es nicht durch Folge-
gesetze des ökonomischen Prinzips bestimmt ist, so wird das Verhalten der
Entscheidungsträger wahrscheinlich nicht ausreichend mit ökonomischen
Kategorien beschrieben werden können 1• Dies bedeutet für die von der
ökonomischen bzw. spezieller von der betriebswirtschaftlichen Theorie zu
bearbeitenden Problemfelder, daß sie in einer unangemessenen Abstraktion
untersucht werden, wenn sie auf rein ökonomische Entscheidungsdetermi-
nanten hin analysiert werden. Im Hinblick auf die Betriebswirtschaftslehre
als Anwendungswissenschaft ergäbe sich daraus die Gefahr, daß ihre Pro-
blernlösungsvorschläge zu kurz greifen bzw. nur um den Preis hoher Folge-
kosten realisierbar sind.
Zunächst könnte es scheinen, als ob es zur Erfüllung der sich daraus ergeben-
den Aufgaben genügen könnte, Theorien über die Beeinflussung untern eh-
merischer Entscheidungen im Betrieb durch genuin ethische Motivationen
aufzustellen. Damit würde die Betriebswirtschaftslehre zwar ihrer Aufgabe
der Analyse von Entscheidungen im Betrieb nachkommen, sie würde jedoch
ihren Charakter einer anwendungsorientierten Wissenschaft aufgeben 2• Seit

1 Vgl. zur Ausdifferenzierung der Wirtschaft als Grundlage der Entstehung einer
genuin unternehmensethischen Problematik K. HOMANN / F. BLOME-DREES, Wirt-
schafts- und Untemehmensethik, Göttingen 1992, S. 10 ff.
2 Darüber hinaus wurde die Frage diskutiert, ob ethisch bestimmtes Handeln überhaupt
als solches verstanden und angemessen beschrieben werden kann, ohne daß der
Wissenschaftler selbst in ethische Diskussionen eintreten muß. Man könnte unter Um-
1. Ökonomie und Ethik' zwei Aspekte des Handeins von Unternehmen 3

ihren wissenschaftsgeschichtlichen Anfängen versteht sich die Betriebswirt-


schaftslehre nicht als eine rein theoretische Wissenschaft, sondern erhebt
auch den Anspruch, mit wissenschaftlichen Methoden Lösungsansätze für
Probleme der Praxis zu erarbeiten. Daraus folgt, daß nicht nur theoretische
Gründe zu einer Beschäftigung mit ethischen Fragen innerhalb der Betriebs-
wirtschaftslehre Anlaß geben. Wenn die Betriebswirtschaftslehre den Ent-
scheidungsträgern in den Unternehmungen wissenschaftliche Unterstützung
an die Hand geben will, so wird sie in der gegebenen Situation von Freiheits-
graden in der Unternehmens entscheidung, die nicht durch das Gewinnprinzip
allein ausgefüllt werden können, nicht darauf verzichten können, selbst
genuin wirtschafts- bzw. unternehmensethische Fragestellungen zu behan-
deln, um ihre eigene Aufgabe angemessen erfüllen zu können3 • Diese Auf-
gabe der Betriebswirtschaftslehre kann vorläufig wie folgt bestimmt werden:
"Wirtschaftsethik (bzw. Unternehmensethik) befaßt sich mit der Frage, wel-
che moralischen Normen und Ideale unter den Bedingungen der modernen
Wirtschaft und Gesellschaft (von den Unternehmen) zur Geltung gebracht
werden können." 4

ständen die Position vertreten, daß jene vernunftgesteuerten Überlegungen, die einer
genuin ethische~. Handlung zugrunde liegen, nur in einer selbst vernünftigen Diskus-
sion mit diesen Uberlegungen wissenschaftlich zugänglich sind.
3 Als Überblick über die unternehmens ethische Diskussion des letzten Jahrzehnts vgl.
K. HOMANN / F. BLOME-DREES, Unternehmensethik - Managementethik, in: Die Be-
triebswirtschaft 55/1995, S. 95 - 114.
4 K. HOMANN / F. BLOME-DREES, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen
1992, S. 14.
4 1. Einleitung

2.
Das Unternehmenshandeln zwischen
Gewinnprinzip und moralischer Verpflichtung

In der Diskussion um ethische Probleme des unternehmerischen Handeins


lassen sich grob zwei grundlegende Positionen unterscheiden. Zum einen
wird von der Wirtschaftsethik verlangt, Orientierungsmaßstäbe für moralisch
richtiges Handeln im Wirtschaftsleben zur Verfügung zu stellen, wobei das
Wirtschaften selbst als ein grundsätzlich ethik-freier Bereich rein technischer
Rationalität aufgefaßt wird. Aufgabe einer Wirtschaftsethik wäre demnach
die Angabe von Grenzen eines Handeins nach dem wirtschaftlichen Prinzip,
wenn durch ein solches Handeln Werte oder legitime Ansprüche anderer
Personen gefährdet werden 5. Hier stehen sich also Ethik und technische
Rationalität gegenüber, wobei die erstere die Anwendung der letzteren leiten
soll. Man könnte also von einem "Anwendungsmodell" sprechen6•

Dem stehen zum anderen Versuche gegenüber, Wirtschaftsethik als eine


Integration ethischen Denkens in die theoretischen Grundlagen wirtschaftli-
chen Handeins aufzufassen7 • Dies kann etwa davon ausgehen, daß das
Wirtschaften im Betrieb zur Begründung seiner obersten Handlungsprinzi-
pien auf die Volkswirtschaftslehre zurückgreifen muß (z. B. für das Streben
nach Gewinnmaximierung auf die mikroökonomische Gleichgewichtstheo-
rie ), daß darin aber in ihrem Kern ethisch relevante Vorgaben enthalten sind,
die selbst einer ethischen Begründung bedürfen (z. B. daß der Ausgleich von
Angebot und Nachfrage einer Ungleichgewichtssituation vorzuziehen ist,
bzw. welche soziale Kosten die time lags der Anpassungsprozesse verursa-
chen dürfen). Eine solche Auffassung von Wirtschaftsethik könnte aber auch
von den veränderten Funktionen und Verhaltensgesetzlichkeiten der moder-

5 Vgl. E. GÖBEL, Wirtschaftsethik. Die verschiedenen Ansätze und der zwischen ihnen
bestehende Zusammenhang, in: Das Wirtschaftsstudium 1992, Heft 6, S. 285 - 290.
6 Der Ausdruck bei K. HOMANN / A. SUCHANEK, " Wirtschaftsethik - Angewandte Ethik
oder Beitrag zur Grundlagendiskussion?", in: B. BIERVERT / M. HELD (Hrsg.), Öko-
nomische Theorie und Ethik, Frankfurt 1987, S. 101 - 12l.
7 Vgl. K. HOMANN / F. BLOME-DREES, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen
1992, S. 186 ff.
2. Unternehmenshandeln • Gewinnprinzip • moralische Verpflichtung 5

nen Großunternehmung ausgehen, die nicht mehr aufgrund eines abstrakten


Gewinnprinzips allein handelt, sondern eine Vielzahl von Interessen inner-
halb und außerhalb des Unternehmens berücksichtigen muß s. Auf dieser
Grundlage könnte der Wirtschaftsethik die Aufgabe zukommen, Orientie-
rungsmaßstäbe für den Ausgleich und die Integration der von den Entschei-
dungen einer Großunternehmung berührten Interessen auszuarbeiten und zu
formulieren. Hier könnte etwa eine "kommunikative Unternehmensethik" am
Leitfaden der Idee eines "konsensorientierten Managements" wissenschaft-
liche Praxisberatung leisten9 .

Die erste dieser bei denPositionen geht davon aus, daß die Ethik ein in sich
abgeschlossenes Gebiet der praktischen Vernunft darstellt, dessen Ergebnisse
als ethisch begründete Forderungen auf alle Lebens- und Handlungsbereiche
angewendet werden können und müssen. Die Schwierigkeit ergibt sich hier
offensichtlich aus der Erfahrungstatsache, daß im Wirtschaftsleben manche
Forderungen der allgemeinen Ethik nur eingeschränkt gelten können, wenn
nicht das wirtschaftliche Handeln als solches in Frage gestellt werden soll.
Dies läßt sich an ganz einfachen Beispielen verdeutlichen. So würde der
Bankier, der versuchen würde, dem christlichen Gebot zu folgen, "Wer dich
bittet, dem gib, und wer von dir borgen will, den weise nicht ab" 10, oder etwa
der Mahnung folgen wollte "Sammelt euch nicht Schätze hier auf der
Erde" 11, nicht nur ökonomische Grundsätze außer Acht lassen, sondern in
den Augen seiner Mitmenschen wohl auch den Regeln der Geschäftsethik
und der Moral zuwiderhandeln.

Konflikte dieser Art sind nur solange traktabel, als sie als Ausdruck verschie-
dener für sich geltender ethischer Grundsätze verstanden werden können, die
in jedem Einzelfall in eine Hierarchie gebracht werden können, so daß ein
übergeordneter Grundsatz den untergeordneten einschränkt. Das Problem

8 Vgl. dazu F. SIMON, Unternehmerischer Erfolg und gesellschaftliche Verantwortung,


Wiesbaden 1994.
9 Vgl. P. ULRICH, "Die Weiterentwicklung der ökonomischen Rationalität - z~r Grund-
legung der Ethik der Unternehmung ", in: B. BIERVERT / M. HELD (Hrsg.), Okonomi-
sche Theorie und Ethik, FrankfurtJMain 1987, S. 122 - 149.
10 MATTHÄUS 5,42.
11 MATTHÄUS 6,19.
6 I. Einleitung

stellt sichjedoch in einer radikaleren Form, wenn nicht zwei ethische Grund-
sätze im Widerstreit miteinander stehen, sondern auf der einen Seite das
technisch-rationale Gewinnprinzip steht und auf der anderen Seite eine
ethische Forderung. Daraus kann der Schluß gezogen werden, daß eine Ethik,
die Maßstäbe für Unternehmensentscheidungen zur Verfügung stellen soll,
gerade mit diesem Dilemma wird umgehen müssen.

Die zweite der hier grob skizzierten Positionen steht dagegen in der Gefahr,
das in Konflikt mit der allgemeinen Ethik geratende Prinzip des Wirtschaf-
tens, d. h. das Gewinnprinzip, zugunsten eines ethisch zu regelnden Verhält-
nisses zwischen den am Wirtschaftsprozeß direkt oder indirekt beteiligten
Personen zu vernachlässigen. Damit würde die allgemeine Ethik in ihrer
unternehmensspezifischen Ausprägung an die Stelle des Gewinnprinzips und
seiner technisch-ökonomischen Rationalität treten. Eine solche Position kann
sicherlich sehr viele Argumente aus der empirischen Unternehmensfor-
schung anführen, die für eine gegenüber der Gewinnmaximierungsforderung
grundlegend veränderte Entscheidungs- und Verhaltensweise der modernen
Großunternehmung sprechen. Andererseits muß man aus diesen Befunden
nicht den Schluß ziehen, daß das Gewinnprinzip in diesem Bereich der
Wirtschaft keine Bedeutung mehr hat. Es kann auch dann noch seine bedeut-
samen Funktionen haben, wenn es in der Wirklichkeit nicht die einzige
Entscheidungsdeterminante ist. Auch dann stellt es noch einen Orientierungs-
maßstab und ein regulatorisches Prinzip dar, ohne die das wirtschaftliche
Geschehen wahrscheinlich anders ablaufen würde, als es tatsächlich der Fall
ist. Daraus ergibt sich die Forderung, daß eine Ethik unternehmerischen
Entscheidungsverhaltens das Gewinnmotiv als wirtschaftliches Prinzip, das
zur Berücksichtigung von technisch-ökonomischen Determinanten auch bei
ethisch relevanten Problembereichen zwingt, nicht einfach ausklammern
darf.

Eine Unternehmensethik, die im Rahmen der Betriebswirtschaftslehre ethi-


sches Verhalten im Betrieb nicht nur theoretisch analysieren will, sondern
auch Orientierungen für die Praxis geben will, muß demzufolge mit dem
Dilemma eines möglichen Konflikts zwischen Gewinnprinzip und ethisch
gefordertem Verhalten umgehen können, ohne das erstere zugunsten des
3. Bestimmung von Verantwortung· Problem der Untemehmensethik 7

letzteren vernachlässigen zu dürfen l2 . Bevor versucht wird, dieses Kriterium


einer für die Wirklichkeit von Unternehmensentscheidungen relevanten be-
triebswirtschaftlichen Ethik für zumindest eine der Dimensionen einer sol-
chen Ethik fruchtbar zu machen, soll der Begriff einer ethischen Verhaltens-
motivation soweit geklärt werden, daß deutlich wird, wie diese auszuarbei-
tende Dimension mit einer gewissen Notwendigkeit in den Rahmen dessen
gehört, was gemeinhin als Ethik bezeichnet wird.

3.
Die Bestimmung von Verantwortung
als Problem der Unternehmens ethik

Von ethischer Verhaltensmotivation kann nun allgemein dann gesprochen


werden, wenn die Determinanten des Verhaltens eines Individuums nicht nur
aus seinen eigenen Interessen abgeleitet sind, sondern auch die Interessen
anderer Personen berücksichtigen und die Forderung nach Berücksichtigung
solcher Interessen in der Fonn eines Sollens erlebt wird. Der Grundbegriff
zur Beschreibung einer ethischen Verhaltensdetennination lautet demnach
"Verantwortung" 13. Damit ist jedoch noch nicht geklärt, wo die Grenzen
einer solchen Entscheidungsbestimmung anhand des Bewußtseins einer Ver-
antwortung für andere liegen, durch die der ethische Charakter der letzteren
bestimmt wird l4 .
12 Man könnte darin die allgemeine Natur der Dilemma-Strukturen sehen, die das
moralische Problem in einer Marktwirtschaft konstituieren: Moralisch erwünschte
Folgen lassen sich in Marktstrukturen nicht durch entsprechende Handlungsintentio-
nen sicherstellen (vgl. K. HOMANN /1. PIES, WirtschaJtsethik und Gefangenendilem-
ma, in: Das Wirtschaftsstudium 1991, Heft 12, S. 608 - 614).
13 Vgl. H.-U. KÜPPER: "Verantwortung setzt Wahlfreiheit voraus und entsteht dort, wo
Entscheidungen getroffen werden. Sie bedeutet grundsätzlich ein Eintreten oder
Einstehen für die einer Entscheidung zugrunde liegende Wertung und für Folgen
dieser Entscheidung." (H.-U. KÜPPER, Verantwortung in der WirtschaJtswissenschaJt,
in: Schmalenbachs Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung 40/1988, S. 318
- 339).
14 Vgl. H. G. NUTZINGER, Der BegrijfVerantwortung aus ökonomischer und sozialethi-
scher Sicht, in: K. HOMANN, Hrsg., Aktuelle Probleme der Wirtschaftsethik,
(= Schriften des Vereins für Socialpolitik, Bd. 211), Berlin 1992, S. 43 - 67.
8 1. Einleitung

Ist z. B. die durch Tradition geforderte Verantwortung eines Firmeninhabers


für die eigenen Familienangehörigen und das daraus folgende Streben, mit
Hilfe des Gewinnprinzips deren Zukunft zu sichern, bereits ein genuin
ethisches Verhältnis? Oder muß eine genuin ethische Verantwortlichkeit
prinzipiell die Interessen aller möglicherweise betroffenen Personen berück-
sichtigen? Damit stellt sich jedoch sofort die schwierige Frage, wie zwischen
berechtigten und unberechtigten Interessen unterschieden werden kann, da
prinzipiell ja nicht gefordert werden kann, alle tatsächlich vorhandenen und
eventuell artikulierten Interessen zu berücksichtigen, z. B. solche, die von
allen vernünftig Denkenden als unsittlich angesehen werden 15.
Daß ein Entscheidungsträger in einem Unternehmen, das im institutionellen
Rahmen einer freien Marktwirtschaft operiert, auch in seinem unternehme-
rischen Handeln Verantwortungsbewußtsein zeigen sollte und sich nicht nur
auf Marktgesetzlichkeiten berufen kann, kann sicherlich als unstrittige Prä-
misse einer jeden Diskussion wirtschafts ethischer Fragen vorausgesetzt wer-
den. Der Begriff Verantwortung als solcher gibt jedoch nur eine relativ
abstrakte Struktur eines interpersonalen Verhältnisses an, ohne daß damit ein
bestimmter Gehalt notwendig verbunden wäre l6 . Die Semantik dieses Begrif-
fes enthält ja zunächst nichts als das bloße Verhältnis, daß eine Person einer
anderen Person zu »antworten« hat, und d. h. genauer, Rede und Antwort zu
stehen hat für die Richtigkeit ihres Verhaltens 17.

15 Vgl. J. HOLL, Verantwortung zwischen sozialer Ordnung und individualer Freiheit,


in: E.-J. LAMPE, Hrsg., Verantwortlichkeit und Recht, (= Jahrbuch für Rechtssozio-
logie und Rechtstheorie, Bd. 14), Opladen 1989, S. 38 - 59.
16 Zur Kritik der Idee einer "gesellschaftlichen Verantwortung" der Unternehmensfüh-
rung vgl. H. STEINMANN, Zur Lehre von der "Gesellschaftlichen Verantwortung der
UntemehmensJührung", in: Das Wirtschaftsstudium 1973, Heft 10, S. 467 - 472;
sowie H. STElNMANN/G. SCHREYÖGG, Großunternehmung und gesellschaftliche Ver-
antwortung, in: Die Betriebswirtschaft 42/1982, S. 515 - 530.
17 Darauf beschränkt sich prinzipiell auch das soziologische Konzept der Verantwor-
tung, demzufolge Verantwortung als Zuschreibungsphänomen aufzufassen ist und
"die Zuschreibung an eine Position oder Rolle im Rahmen organisierter Handlungs-
zusammenhänge, deren Aufgabenspektrum durch einen erheblichen Handlungsspiel-
raum und entsprechend selbständige Entscheidungszumutungen sowie hohes Folgen-
risiko gekennzeichnet ist", bedeutet. (F.-X. KAUFMANN, Leistet Verantwortung, was
wir ihr zumuten?, in: Ethik und Sozialwissenschaften 1/1990, S. 70 - 72; vgl. ders.,
Über die soziale Funktion von Verantwortung und Verantwortlichkeit, in: Jahrbuch
für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 14/1989, S. 204 - 224).
3. Bestimmung von Verantwortung· Problem der Unternehmens ethik 9

Nun gibt es prinzipiell unendlich viele Vorstellungen über die Richtigkeit


eines Verhaltens und von Handlungen, und der Begriff Verantwortung
scheint deshalb weder für die Seite des sich Verantwortenden noch für die
Seite dessen, dem gegenüber Verantwortung geleistet wird, irgendeinen
Gehalt zu haben l8 . Damit wäre die Struktur Verantwortung aber mit jedem
Gehalt auszufüllen und damit selbst ethisch neutral. Die Forderung nach
verantwortungsbewußtem Handeln wäre damit prinzipiell mit jeder Hand-
lungsorientierung vereinbar, die auf genügend positive Reaktionen stößt, so
daß der Handelnde im Bewußtsein bleibt, bei genügend vielen Personen
Zustimmung für seine rechtfertigenden Antworten zu finden. Nichtsdesto-
weniger bleibt das Gefühl, daß mit Verantwortung immer schon etwas mehr
gemeint ist, und daß dieses Mehr in eine genuin ethische Dimension weist l9 .
Dieses Gefühl ist jedoch noch nicht eine ausreichende Explikation dafür, daß
es wirklich so sein muß.

Daraus ergibt sich die schwierige Frage, wie die Verantwortlichkeit, die
offenbar einen, wenn nicht den Grundbegriff der Ethik darstellt, so »opera-
tionalisiert« werden kann, daß daraus ein Begriff wird, der für die Entschei-
dungen wirtschaftlicher Akteure von Bedeutung sein kann. Zunächst könnte
von einer Verantwortung der Entscheidungsträger in den Unternehmen ge-
genüber all den Personen und Personengruppen gesprochen werden, die von
den Unternehmensentscheidungen in relevantem Ausmaß betroffen werden.
Hier könnte verlangt werden, in einem unter Umständen sehr langwierigen
und konfliktträchtigen Prozeß dialogischer Vernunft zu begründbaren Kom-
promißlösungen zu gelangen.

18 Vgl. zu einer fundamentalen Kritik des Begriffes der "sozialen" Verantwortung


M. FRIEDMAN, The Social Responsibility oi Enterprises, in: Th. DONALDSON /
P. H. WERHANE, Hrsg., Ethical Issues in Business. A Philosophical Approach, Engle-
wood Cliffs 1988, S. 217 - 223.
19 Vgl. dazu G. NUNNER-WINKLER, Kollektive, individuelle und solidarische (fürsorg-
liche) Verantwortung, in: E.-J. LAMPE, Verantwortlichkeit und Recht, (Jahrbuch für
Rechtssoziologie und Rechtstheorie 14), Opladen 1989, S.169 -187. NUNNER-WINK-
LER versucht die Einheitlichkeit des Verantwortungskonzepts aus der Erfüllung
moralischer Pflichten zu begründen, wobei sich Differenzierungen gerade aus der
unterschiedlichen Struktur verschiedener moralischer Pflichten ergeben.
10 1. Einleitung

Problematisch wird ein solches Verfahren jedoch dann, wenn die Vorstellun-
gen der Konfliktteilnehmer über die Kriterien eines vernünftig begründeten
Ergebnisses nicht in Übereinstimmung zu bringen sind, insbesondere dann,
wenn Differenzen über die Legitimation von Interessen bestehen. Auch in
einer solchen kommunikativen Unternehmensethik bleibt deshalb ein für das
Zustandekommen befriedigender Lösungen entscheidender Rest monologi-
scher Ethik notwendig, sei es in Form einer expliziten "corporate ethics" oder
in der Form der ethischen Überzeugungen der Entscheidungsträger, also der
"managerial ethics".
In gewissem Sinne liegt das Ethische in solchen dialogischen und kommuni-
kativen Verfahren der unternehmerischen Entscheidungsfindung in Konflikt-
situationen hauptsächlich in der Anwendung solcher Verfahren selbst. Schon
die Implementierung solcher dialogischer Verfahren für Situationen, in denen
das Gewinnprinzip mit ethisch begründeten Forderungen in Konflikt gerät,
beweist ja, daß solchen Forderungen eine eigenständige Begründung zuge-
billigt wird, die das Gewinnprinzip unter Umständen einschränken darf.
Nichtsdestoweniger ergibt sich daraus die Notwendigkeit, den unterneh-
mensethischen Grundbegriff der Verantwortung mit Hilfe einer näheren
Qualifizierung der Allgemeinheit, in der von Wirtschaftsunternehmen Ver-
antwortung zu tragen ist, zu präzisieren. Hier könnte die Unternehmensethik
versuchen, in der philosophischen Tradition bei solchen Ethikkonzeptionen
Auskunft zu suchen, die den Begriff der Verallgemeinerbarkeit zum Zentrum
ihrer Begründungsversuche genommen haben. Solche Positionen sind vor
allem von KANT und von an KANT anschließenden Denkern entwickelt
worden.
Nach KANT ist die Verallgemeinerbarkeit geradezu das Kriterium für eine
ethische Handlung, die eine qualifizierte Verantwortlichkeit für andere Per-
sonen realisiert. Mit der Prüfung auf Verallgemeinerbarkeit entscheidet sich
dieser Position zufolge, ob in einer bestimmten Handlung sich Verantwor-
tung für andere Menschen als Personen, das heißt als freie und selbstbestim-
mungsfähige Wesen dokumentiert. Für die Unternehmensethik ergäbe sich
daraus zunächst ganz unmittelbar die Verpflichtung, die Interessen anderer
Menschen als Personen mit eigener Freiheit und eigenen Rechten anzuerken-
3. Bestimmung von Verantwortung· Problem der Unternehmensethik 11

nen. Daraus folgt die Notwendigkeit, sie als Gesprächspartner ernst zu


nehmen, auch wenn ihre Vorstellungen nicht von vornherein den eigenen
Kriterien für vernünftig begründete Interessen entsprechen.
Bei KANT dürfte es allerdings sehr schwierig sein, den Bogen von seinen
ethischen Grundsatzerörterungen zu konkret im Unternehmen verwertbaren
Ethikkriterien zu schlagen. Möglicherweise könnte dies mit Hilfe der Posi-
tion von J. HABERMAS etwas besser gelingen. HABERMAS zufolge bestimmt
sich die ethische Richtigkeit einer Handlungsmaxime danach, ob alle theo-
retisch überhaupt als Diskussionspartner in Frage kommenden Personen in
einem vollkommen frei und ohne sachfremde Einflüsse ablaufenden Diskurs
dem praktischen Grundsatz zustimmen müßten und könnten, der dieser
Maxime zugrunde liegt. Damit ist zunächst das Prinzip einer kommunikati-
ven Ethik formuliert, die die richtige Entscheidung möglichst im Dialog mit
den Betroffenen suchen muß.
Darüber hinaus wird aber auch ein Kriterium angegeben, das dann weiterhel-
fen kann, wenn ein solcher konkreter Dialog, aus welchen Gründen auch
immer, nicht möglich ist. Die ethische Verpflichtung lautet in diesem Falle,
sich aufrichtig zu fragen, ob alle vernünftigen Personen der geplanten Ent-
scheidung zustimmen müßten oder nicht. Bei der Implementierung einer
solchen unternehmensethischen Konzeption kommt es also darauf an, solche
Verfahren zu institutionalisieren, die sicherstellen, daß möglichst viele Ge-
sichtspunkte im Entscheidungsprozeß Berücksichtigung finden können. Dies
könnte z. B. durch den Einbau spezieller Stabsstellen in die Organisation des
Unternehmens realisiert werden.
Nach der ethischen Konzeption von J. RAWLS kann eine ethisch gerechte
Handlungsdetermination dann gefunden werden, wenn der betreffende Ak-
teur sich in einem Gedankenexperiment von allen Besonderheiten seiner
Individualität und von seinen gesellschaftlichen wie geschichtlichen Bedin-
gungen befreit und sich in einen Zustand versetzt, in dem ihm seine tatsäch-
liche Lage in einer erst später sich entwickelnden Handlungssituation voll-
kommen unbekannt ist. Er muß dann über die Einrichtung einer künftigen
Gesellschaft und damit auch über das richtige Handeln so entscheiden, daß
seine vernünftig begründeten Interessen in jedem Falle gewahrt werden, ganz
12 I. Einleitung

gleich, an welcher Position in der künftigen Gesellschaft er auch stehen wird.


Für die Implementierung ethischer Gesichtspunkte in unternehmerische Ent-
scheidungen könnte sich daraus das Kriterium ableiten lassen, bei allen
Auswirkungen auf andere Personen oder Personengruppen die Frage zu
untersuchen, ob der jeweilige Entscheidungsträger die Entscheidung billigen
würde, wenn er an der Stelle der von seiner Entscheidung Betroffenen stünde
und vernünftig über deren Rechtfertigung nachdenken würde.
Mit Hilfe einer Umsetzung solcher Gedankengänge aus der philosophischen
Ethik in unternehmensethische Verfahren und Kriterien läßt sich möglicher-
weise der allgemeine Begriff der Verantwortung präzisieren und operationa-
lisieren, der dann in den Unternehmensentscheidungen eine gewichtige Rolle
spielen muß, wenn diese nicht mehr aufgrund des Gewinnprinzips allein
bestimmt werden können. Solche Überlegungen auf der Grundlage der Idee
der Verallgemeinerbarkeit eines Entscheidungsgrundsatzes können den Dia-
log und die argumentative Auseinandersetzung mit den Betroffenen nicht
ersetzen, aber sie können eine Hilfe dafür bieten, in solche Dialoge mit
verantwortungsethisch fundierten und nicht nur auf dem Gewinnprinzip
aufbauenden Argumenten einzutreten.
11.
Grundlagen:
Ethik und Unternehmens ethik

1.
Unternehmensethik als Ethik des
»Menschen im Unternehmen«

Unternehmensethik als spezielles Problem innerhalb des größeren Problem-


kreises einer ethischen Qualifikation menschlichen Handelns allgemein wirft
zunächst die Frage auf, wie der Genitiv in diesem Begriff näher zu verstehen
ist. Hier eröffnen sich mehrere Möglichkeiten für einen Zugang zu dem
Problem einer »Ethik des Unternehmens«.

Zunächst könnte das Unternehmen als eine spezielle soziale Organisations-


form aufgefaßt werden, die durch ihr bloßes Bestehen zu Bestimmungen
führt, die das Phänomen »Ethik« in einer bestimmten Weise prägen und
formen müssen, so daß das Entstehen arbeitsteiliger Volkswirtschaften mit
ausdifferenzierten Produktionseinheiten von selbst Berücksichtigung in der
Diskussion ethischer Probleme fordert. In diesem Sinne würde der Begriff
Unternehmensethik auf einem Niveau für die ethische Grundlagendiskussion
aufgefaßt werden, wie es etwa dem Charakter des Menschen als eines in
sozialen Zusammenhängen lebenden Wesens selbst zukommt. In diesem
Sinne wäre jede Ethik eine Unternehmensethik, weil sie verpflichtet wäre,
die auf der Stufe der sozialen Lebensweise als anthropologische Konstante
anzusehende Arbeitsteilung und ihre Ausformung in wenigstens dem Ansatz
nach unternehmensähnlichen Einheiten als bestimmend für die Ausarbeitung
einer Ethik anzusehen. Dies ist sicherlich die weiteste Interpretation, die dem
Begriff einer Unternehmensethik gegeben werden kann.
14 Ir. Grundlagen· Ethik und Unternehmensethik

Ein zweites Verständnis dieses Begriffes könnte zwar nicht der Existenz von
arbeitsteiligen Wirtschaftseinheiten einen Einfluß auf jede ethische Position
zuschreiben, aber doch verlangen, daß jede Ethik nicht nur das Verhalten von
Individuen normieren soll, sondern als ethische Akteure auch eben diese
ökonomischen Einheiten in die Ausarbeitung ethischer Gedankengänge ein-
beziehen muß. Auch nach diesem Verständnis wäre Unternehmensethik also
keineswegs als Spezialethik zu behandeln, sondern würde die Ethik generell
beeinflussen, indem alle Ethik ihre Normen so gestalten müßte, daß sie nicht
nur für Individuen gelten, sondern prinzipiell auch für die transpersonalen
Einheiten, die auf der Entwicklungsstufe der Vergesellschaftung die arbeits-
teilige Wirtschaft bilden. Eine solche Auffassung würde den Begriff einer
Individualethik also insofern korrigieren, als eine solche Ethik als Individuen
nicht nur personal strukturierte Einheiten, sondern auch interpersonal struk-
turierte Personenverbände als ethische Akteure berücksichtigen müßte.
Entscheidend ist daran jedoch, daß die Berücksichtigung solcher Personen-
verbände nicht nur ein Appendix zu einer im Wesen doch individualistisch
strukturierten Ethik darstellen könnte, sondern die Auffassung von ökono-
misch ausgerichteten Personenverbänden als ethischer Akteure müßte kon-
stitutiv ebenso in die Grundlagen einer jeden Ethik eingehen wie auch in die
Ausarbeitung ihrer konkreten Bestimmungen über das richtige Handeln. Jede
Ethik wäre in diesem Sinne eine Unternehmensethik, weil die Existenz von
Unternehmen konstitutiv in die Bedingungen der Möglichkeit der Ethik selbst
eingeht. Auch dieses Verständnis gibt noch eine sehr weite Umschreibung
dessen, was unter Unternehmensethik zu verstehen ist.
Eine dritte Möglichkeit, den Begriff »Ethik des Unternehmens« zu verstehen,
ergibt sich jedoch auf der Grundlage der Beibehaltung eines prinzipiell
individualistischen Ansatzes in der Ethik, der lediglich um die Bedingungen
erweitert wird, die sich aus dem Handeln von Individuen in Organisationen,
speziell in den Organisationen einer arbeitsteiligen Wirtschaftsweise, erge-
ben. Auch hier geht die Existenz von Unternehmen jedoch in gewisser Weise
konstitutiv in die Grundlagen der Ethik als solcher ein, allerdings in einer
stärker vermittelten Gestalt als in der zweiten Verständnismöglichkeit2o .

20 Die Ausgangslage einer Unternehmensethikkönnte deshalb auch so gesehen werden:


1. Unternehmensethik als Ethik des »Menschen im Unternehmen« 15

Während im oben genannten Verständnis die Ethik selbst fundamental ge-


prägt wird durch die Integration von ökonomisch ausgerichteten Personen-
verbänden in die Konzeption eines ethisch verbindlichen Akteurs, so wird in
dieser Auffassung die individualistische Auffassung des ethisch verbindli-
chen Akteurs lediglich modifiziert durch die Berücksichtigung der Tatsache,
daß eben diese Individuen nicht in einem leeren Raum handeln, der frei von
ethisch relevanten Determinanten wäre, weshalb die Ethik sich auf die pure
Individualität des Akteurs beschränken könnte und nur diese als Grundlage
der Ausarbeitung spezifisch ethisch relevanter Handlungsanleitungen heran-
ziehen müßte. Unternehmens ethik in diesem - dritten - Verständnis geht von
der Tatsache aus, daß Menschen wesentlich soziale Wesen sind und daß diese
Tatsache so sehr als anthropologische Konstante aufgefaßt werden muß, daß
sie konstitutiv in die Grundlagen eingehen muß, auf denen eine jede Ethik
aufbauen muß.
Damit alleine wäre allerdings nur eine Ethik begründet, die die Grundtatsache
des Sozialen konstitutiv für Ethik als solche berücksichtigt. Um von hier zu
einer Unternehmensethik zu kommen, muß darüber hinaus noch berücksich-
tigt werden, daß der Mensch nicht nur allgemein in sozialen Zusammenhän-
gen lebt, handelt und denkt, sondern daß diese sozialen Zusammenhänge auch
eine ganz bestimmte Gestalt aufweisen, die selbst von so grundlegender
Bedeutung ist, daß sie konstitutiv in die Bedingungen der Möglichkeit
ethischer Handlungsorientierungen eingehen muß. Es ist dies die Tatsache,
daß der Mensch die für sein materielles Überleben notwendige Auseina!lder-
setzung mit der äußeren Natur zumindest auf soziokulturellem Niveau nicht
als Einzelwesen führt, sondern in Zusammenarbeit oder auch in Konkurrenz
mit anderen Menschen, mit denen er allgemein in Austauschbeziehungen
steht, die für sein soziales Dasein als »arbeitendes Wesen« von solch grund-
legender Bedeutung sind, daß sie auch seine ethischen Orientierungen nicht
unberührt lassen können.
"Das Grundproblem besteht darin, daß die aus moralischen Gründen erwünschten
Ergebnisse nicht vom Handeln des einzelnen abhängen, sondern von den Handlungen
zahlloser einzelner, die über einen unpersönlichen Mechanismus koordiniert wer-
den." (K. HOMANN, Wirtschaft und Verantwortung. Die kollektive Verantwortung der
einzelnen, in: H. W. BETIE, Hrsg., Ohne mich. Der Mensch im Spannungsfeld seiner
Verantwortung, Freiburg 1991, S. 29 - 45, S. 36).
16 H. Grundlagen' Ethik und Unternehmensethik

Im Unterschied zu der zweiten genannten Verständnismöglichkeit wird hier


jedoch nicht die Integration ökonomisch orientierter Personenverbände als
ethischer Akteure in die Möglichkeitsbedingungen einer jeden Ethik als
konstitutiv für die Ausarbeitung ethischer Bestimmungen gedacht, sondern
die primär individualistische Ausrichtung wird beibehalten. Es wird jedoch
bereits für die Grundlagen der Ethik berücksichtigt, daß die Individualität des
Akteurs nicht ausreicht, um eine seinem Wesen angemessene Ethik ausarbei-
ten zu können. Vielmehr wird der individualistische Ansatz ergänzt durch die
Berücksichtigung der Tatsache, daß diese Individualität sich in den verschie-
denen sozialen Zusammenhängen realisiert, von denen einer als ökonomisch
orientierter Personenverband ausgezeichnet wird, also im weitesten Ver-
ständnis als Unternehmen. Der individuelle ethische Akteur wird also nicht
bloß als Individuum bestimmt, sondern als Individuum im sozialen Leben
und speziell als »Individuum im Unternehmen«.

Im Unterschied zu einer Auffassung von Unternehmensethik als Spezialfall


von Ethik, der durch Anwendung auf einen besonderen Lebensbereich ent-
steht, geht hier jedoch die Orientierung am Unternehmen konstitutiv in die
Grundlegung einer Ethik ein. Das Verhältnis ist also in gewissem Sinne
umgekehrt: Unternehmensethik als Spezialfall von Ethik geht von einer
Grundlegung der Ethik aus, die die Tatsache der Realisierung des ethischen
Individuums in Organisationen einer arbeitsteiligen Wirtschaft unberück-
sichtigt läßt und die in dieser Unabhängigkeit gefundenen ethischen Bestim-
mungen nachträglich nur im Verhältnis einer »Anwendung« in Beziehung
auf die Tätigkeit von Unternehmen bringt; Unternehmensethik als Ethik von
Individuen im Unternehmen als nach außen handelndem Sozialverband geht
vom Unternehmen als Organisation einer arbeitsteiligen Wirtschaft in seiner
Bedeutung für den ethischen Charakter von Individuen aus und fragt dann
danach, wie eine Ethik begründet werden kann und wie ihre Handlungsan-
leitungen aussehen müssen, die diese grundlegende anthropologische Be-
stimmung bereits in ihre konstitutiven Möglichkeitsbedingungen aufgenom-
men hat.

Man könnte die drei Verständnisweisen des Begriffes »Unternehmens ethik«


demnach auch durch ihre grundlegenden Fragestellungen voneinander unter-
1. Unternehmensethik als Ethik des »Menschen im Unternehmen« 17

scheiden. Nach dem ersten Verständnis hätte eine Unternehmensethik zu


klären, was sich aus der Existenz von Unternehmen als weltlicher Entitäten
für die Bestimmung ethischer Handlungsqualifikationen ergibt. Nach dem
zweiten Verständnis wäre unter Unternehmensethik die Aufgabe zu verste-
hen, welche Folgen die Existenz von Personenverbänden in der Form von
Unternehmen als ethischer Akteure für die inhaltliche Bestimmung ethischer
Normen mit sich bringt. Nach dem dritten Verständnis dagegen kommt einer
Unternehmens ethik die Aufgabe zu, den Einfluß auf die ethischen Hand-
lungsnormierungen zu explizieren, der sich aus der Tatsache ergibt, daß der
Mensch auf soziokultureller Entwicklungsstufe seinem Wesen nach ein
»Mensch im Unternehmen« ist, indem er seine existenzerhaltende Auseinan-
dersetzung mit der äußeren Natur in Zusammenarbeit und in Auseinander-
setzung mit anderen Menschen durchführt und damit seine Existenz stets im
Zusammenhang von ökonomisch orientierten Personenverbänden erhält.

Das Unternehmen erscheint im ersten Fall also als Entität in der Welt, deren
Existenz eine konstitutive Funktion für ethische Normierungen besitzt, im
zweiten Fall wird es als ethisch relevant agierender Personenverband für die
Ethik grundlegend, während es im dritten Fall eine wesenhafte Bestimmung
für das individuell agierende ethische Subjekt darstellt, die dessen ethische
Normierungen nicht unbeeinflußt lassen kann. Die Frage ist hier also, was
sich aus der Tatsache, daß der Mensch in Unternehmen handelt, für seine
ethische Verpflichtetheit ergibt. Im Unterschied zu einer Auffassung von
Unternehmens ethik als Anwendungsfall der allgemeinen Ethik wird also
nicht gefragt, wie der Mensch, dessen ethische Handlungsorientierungen
bekannt sind, dann zu handeln hat, wenn er in Unternehmen handelt, sondern
es stellt sich die weit grundlegendere Frage, wie die ethischen Handlungs-
orientierungen eines Menschen aussehen, zu dessen Wesen es gehört, in
Unternehmen zu handeln. Die Bestimmung »Handeln in Unternehmen« kann
dabei von den ersten Anfängen einer arbeitsteiligen Wirtschaft in ökono-
misch orientierten Personenverbänden bis hin zu den hoch spezialisierten und
in vielen ausdifferenzierten Funktionen arbeitenden Großunternehmen rei-
chen, wie wir sie heute als prägende Form der existenzerhaltenden Ausein-
andersetzung des Menschen mit der äußeren Natur kennen.
18 Ir. Grundlagen' Ethik und Unternehmensethik

Es ist deutlich, daß das erste Verständnis von Unternehmensethik weitrei-


chende Annahmen über die Bedeutung bestimmter sozialer Entitäten für die
Entwicklung eines Wissens über das Sollen voraussetzt, die ein solches
Verständnis für eine am wirklichen Unternehmenshandeln ausgerichtete
Untersuchung über Unternehmensethik unbrauchbar machen. Es kann des-
halb vermutet werden, daß die entscheidende Frage nach den theoretischen
Grundlagen des Gegenstandes einer Unternehmensethik in der Auseinander-
setzung zwischen den beiden letzteren Verständnisweisen von Unterneh-
mensethik entschieden werden muß.

Die Frage lautet dann, ob es ethische Bestimmungen gibt, die sich aus der
Existenz von Unternehmen als ethischer Akteure ergeben, also von Perso-
nenverbänden, die unter ökonomischer Perspektive im Zusammenhang der
arbeitsteiligen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt han-
deln, oder ob ethische Bestimmungen im Unternehmensbereich sich nur
daraus ergeben, daß Individuen in solchen Personenverbänden agieren, so
daß die ethische Qualität aus dem ökonomischen Handeln nur Individuen
zukommt, die durch die Bedingungen dieses Handeins in spezifischer Weise
modifiziert agieren und sich daraus ethische Grundlagen ergeben, die aus
diesen Modifikationen begründbar werden.

2.
Technisch-rationales und praktisch-rationales
Handeln im Unternehmen

Wenn die unternehmensethische Fragestellung danach steht, was sich unter


ethischen Perspektiven daraus ergibt, daß Menschen in einer speziellen Form
von sozialem Zusammenhang arbeiten, nämlich in ausdifferenzierten Orga-
nisationen arbeitsteiligen Wirtschaftens, so stellt sich zunächst die Frage nach
dem Verhältnis zu den Bedingungen, die diesen sozialen Zusammenhang
auszeichnen. Diese Bedingungen scheinen auf den ersten Blick eher gegen
2. Technisch- und praktisch-rationales Handeln 19

eine ethische Relevanz des Verhaltens von Menschen in Unternehmen zu


sprechen.
Dazu muß die grundlegende Unterscheidung zweier Formen von Rationalität
beachtet werden. In vielen Diskussionen über Unternehmensethik läßt sich
beobachten, daß im Grunde überhaupt nicht über Ethik gesprochen wird, weil
diese Unterscheidung nicht oder nicht streng genug durchgeführt wird.
Zumeist liegt der Fehler darin, daß vorgegeben wird, unternehmensethische
Fragestellungen zu behandeln, während in Wahrheit technisch-rationale Fra-
gen eines in der aktuellen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Situation
effektiven Unternehmenshandelns diskutiert werden.
Das Gespräch über Ethik beginnt jedoch erst dort, wo nicht über Effektivität,
sondern über Richtigkeit verhandelt wird. Das Problem der Effektivität setzt
ein vorgegebenes Zielsystem voraus, zu dessen Erreichung die angemessenen
Mittel gesucht werden sollen. Wenn zu diesen Mitteln etwa auch ein solches
Erscheinungsbild des Unternehmens gehört, das es als eine »richtig« und
»verantwortungsbewußt« handelnde Organisation darstellt, so könnte zu-
nächst auch ein im ethischen Sinne richtiges Handeln zu den Erfolgsbedin-
gungen des Unternehmenshandelns gerechnet werden. In weiten Bereichen
ist die unternehmensethische Diskussion - vor allem in den Unternehmen
selbst - heute tatsächlich durch diese Identifizierung von technisch-rationa-
lem Handeln und ethisch richtigem Handeln gekennzeichnet.
Gerade in Märkten, in denen Produktdifferenzen eine immer geringere ~olle
spielen und auch ein Zusatznutzen durch den Kauf des Produktes einer
bestimmten Firma nur noch schwer glaubhaft zu machen ist und Profilie-
rungsversuche mit Hilfe von entsprechenden Werbestrategien auf zuneh-
mend immunisierte Nachfrager stoßen, wird das - auch - unter moralischen
Gesichtspunkten bewertete Erscheinungsbild des Unternehmens immer
wichtiger für den Erfolg des Produktes. Dies gilt zunehmend nicht nur für
den Erfolg beim Endverbraucher, sondern auch schon für den Absatz bei den
vorgelagerten Produktionsstufen. Hier kann ein Erscheinungsbild als ein·
ethisch richtig und verantwortungsbewußt handelndes Unternehmen zu einer
positiven Abhebung von den Konkurrenten führen und so den Unterneh-
menserfolg steigern. Unter dieser Perspektive wird jedoch nicht über Ethik
20 ll. Grundlagen· Ethik und Unternehmensethik

diskutiert, sondern über den Einsatz eines als moralisch richtig beurteilten
Erscheinungsbildes für Zwecke der vorgegebenen Zielerreichung. Es wird
der Tatsache Rechnung getragen, daß Kaufentscheidungen in immer größe-
ren Marktsegmenten heute auch von moralisch qualifizierten Urteilen der
Verbraucher über das Produkt und den Hersteller bestimmt werden. Unter
dieser Perspektive wird Unternehmensethik jedoch selbst instrumentalisiert
zu einem Mittel der Verkaufsförderung, das im weitesten Sinne den Public
Relations zuzuordnen ist. Die Vermittlung eines von den relevanten Nach-
fragergruppen als ethisch richtig beurteilten Erscheinungsbildes ist Teil des
Marketing und damit Teil eines modernen technisch-rationalen und an Ef-
fektivitätskriterien orientierten Handeins.

Beide oben angeführten Verständnisweisen von Unternehmensethik sind mit


einem solchen instrumentalistischen Verständnis nicht kompatibel. Wenn in
der Unternehmensethik das Unternehmen als ethischer Akteur aufgefaßt
wird, dessen Existenz zu spezifischen ethischen Bestimmungen führen muß,
so kann damit gerade nicht gemeint sein, daß die von relevanten Verbrau-
chergruppen als moralisch richtig eingeschätzten Verhaltensweisen die
Handlungen dieses Akteurs prägen sollen, und daß in dieser Prägung die
ethische Qualifikation des Unternehmens als eines ethischen Akteurs liegt.
Wenn in der Unternehmensethik der Mensch im Unternehmen als ethisch
qualifizierter Akteur aufgefaßt wird, dessen Handlungen durch eben diese
Tatsache seines Handeins im Unternehmen einer besonderen ethischen Aus-
zeichnung unterliegen, so kann dies offenbar ebenso nicht bedeuten, daß sich
daraus die ethische Verpflichtung ableitet, solchen ethischen Maximen zu
folgen, die für die relevanten Nachfrager das Unternehmen als moralisch
richtig handelnde Organisation auszeichnen, deren Produkte deshalb gegen-
über Konkurrenzprodukten bevorzugt werden.

Das grundlegende Problem mit einer solchen weit verbreiteten instrumenta-


listischen Auffassung von Unternehmensethik ist offenbar gerade, daß die
bei den genannten Verständnis weisen von Unternehmens ethik eine Instru-
mentalisierung ethischer Qualifikationen verbieten. Im ersten Verständnis
geht es darum, ethische Bestimmungen aus der Tatsache der Eigenschaft des
Unternehmens als Akteur zu gewinnen; im zweiten Verständnis dagegen
2. Technisch- und praktisch-rationales Handeln 21

sollen solche Bestimmungen aus der Tatsache abgeleitet werden, daß der
Mensch als Mensch im Unternehmen handelt. In beiden Verständnisweisen
geht es also nicht darum, ethische Qualifikationen aus dem Markterfolg durch
ein von den relevanten Nachfragergruppen als moralisch positiv beurteiltes
Erscheinungsbild des Unternehmens abzuleiten. Beide Verständnisweisen
von Unternehmensethik widersprechen also einem technisch-rationalen Ver-
ständnis von Ethik, das sie nur als Mittel für vorgegebene Zwecke ansieht,
bzw. nicht ethisches Handeln selbst als relevant ansieht, sondern nur die
entsprechende Wahrnehmung von Unternehmenshandlungen als moralisch
positiv zu bewertend bei relevanten Nachfragergruppen.

Wenn technisch-rationales Handeln als Grundlage für unternehmensethische


Qualifikationen also ausscheidet, so bleibt nur die Orientierung an prakti-
scher Rationalität als Basis für die Ausarbeitung unternehmensethischer
Bestimmungen. Dieser Ausschluß technischer Rationalität aus dem Bereich
der Unternehmensethik impliziert jedoch einige Probleme, die gerade mit den
angeführten Verständnis weisen von Unternehmensethik in Verbindung ste-
hen. In beiden vorgeschlagenen Verständnisweisen wird die spezifische
Qualifikation einer Unternehmens ethik, die Unternehmensethik nicht nur als
Fall der Anwendung der allgemeinen Ethik betrachtet (wodurch erst die
spezifische Problematik einer Unternehmensethik entsteht, die im Anwen-
dungsverständnis sich auf ein Problem der Urteilskraft reduzieren würde, die
gegebene Fälle richtig unter allgemeine Prinzipien zu subsumieren hat), in
der Möglichkeit gesehen, gerade die spezifische Auszeichnung von Unter-
nehmen als solchen - sei es als ethische Akteure oder als Personenverbände,
die die in ihnen handelnden Individuen in bestimmter Weise qualifizieren -
heranzuziehen, um spezifisch unternehmensethische Bestimmungen zu ent-
wickeln, die sich von den Bestimmungen der allgemeinen Ethik so unter-
scheiden, daß die Behauptung legitimiert ist, Unternehmensethik stelle nicht
eine Anwendung von Ethik dar, sondern eine Ethik sui generis, die deshalb
eine eigenständige Anwendung praktischer Vernunft erfordert.

Nun kann die Auszeichnung von Unternehmen bzw. des Handelns in Unter-
nehmen jedoch gerade darin gesehen werden, daß eine im Vergleich zu
einfacheren Formen der Subsistenzwirtschaft effektivere Form der Ausein-
22 H. Grundlagen· Ethik und Unternehmensethik

andersetzung des Menschen als Gattungswesen mit seiner Umwelt erzielt


werden kann, wie sie zu seinem Überleben auf soziokultureller Entwick-
lungsstufe notwendig ist. Der Vorzug der Arbeitsteilung und ihre Rationalität
liegen ja gerade darin, daß damit das Kosten-Nutzen-Verhältnis in Bezug auf
das materielle Überleben der Gattung verbessert wird. Es wird also bei
gleichem Arbeitseinsatz ein höherer Nutzen erzielt, der die Weiterentwick-
lung der Menschheit über die Stufe der bloßen Überlebenswirtschaft hinaus
ermöglicht und damit die Grundlage der Kulturentwicklung und aller höheren
Formen des gesellschaftlichen Lebens wird. Dem entspricht die Möglichkeit,
den gleichen Nutzen bei geringerem Arbeitseinsatz zu erzielen, was durch
die Entlastung von Arbeit Teile des verfügbaren Zeit- und Energiebudgets
für die kulturelle Weiterentwicklung freistellt. Die Ratio der in Form von
Unternehmen realisierten Arbeitsteilung liegt also gerade in der dadurch
erzielbaren Effektivitätssteigerung.

Wenn nun unternehmensethische Qualifikationen gerade durch spezifische


Auszeichnungen von Unternehmen bzw. des Handelns von Menschen in
Unternehmen abgeleitet und begründet werden sollen, so kann das Prinzip
der Effektivität als die Ratio der Existenz von Unternehmen nicht außerhalb
der Betrachtung gelassen werden. Auf diese Weise nähert sich die technisch-
rationale Betrachtung wieder der ethisch-rationalen Konzeption der prakti-
schen Vernunft an. Das Verhältnis zwischen den beiden Rationalitätstypen
ist jedoch auf der Grundlage dieser Konzeption gänzlich anders als in einer
instrumentalistischen Auffassung von Ethik als Teil des Marketings, wie sie
in der unternehmensethischen Diskussion der Praxis so weit verbreitet ist.
Als Bestandteil des Marketings kommt Ethik überhaupt nur in Betracht,
insoweit moralische Forderungen der relevanten Nachfrager an das Unter-
nehmen und an seine Produkte befriedigt werden müssen; Ethik erscheint
hier also als Strategie, um das vorgegebene Zielsystem des Unternehmens
unter neuen und veränderten Bedingungen - die sich aus moralischen An-
sprüchen der Nachfrager an das Unternehmen ergeben - zu verwirklichen.

Im Gegensatz dazu ergibt sich das Verhältnis der Prinzipien technisch-ratio-


nalen und praktischen Handeins in den beiden dargelegten Verständniswei-
sen von Unternehmensethik gerade nicht in einem instrumentalistischen
2. Technisch- und praktisch-rationales Handeln 23

Zusammenhang. Es ist vielmehr gerade das Prinzip der Effektivität selbst,


also des optimierten Verhältnisses von Mitteln und Zwecken, das auf dieser
Grundlage Bedeutung für die Konzeption einer Unternehmensethik gewinnt.
Daraus resultiert jedoch ein weit komplizierteres Verhältnis von technisch-
rationalem und ethisch-praktischem Handeln, als es zunächst den Anschein
hatte. Wenn die Unternehmensethik in der Tat aus der Auszeichnung von
Unternehmen selbst ihren genuinen Charakter gewinnen soll, der sie über
eine Anwendung allgemeiner Prinzipien der Ethik hinaus zu einer Disziplin
mit spezifischen Aufgaben und einer spezifischen Thematik macht, so kann
sie das die Rationalität der Entstehung von Unternehmen bestimmende
Prinzip der Effektivität in der Auseinandersetzung mit der Umwelt des
Menschen nicht aus der Betrachtung ausschließen. Es muß allerdings festge-
halten werden, daß dadurch das ethische Verhalten von Unternehmen gerade
nicht zu einem Instrument der Effektivität wird. Eine solche Auffassung
würde jede Ethizität des Unternehmensverhaltens von vornherein dementie-
ren. Andererseits schließt dies nicht aus, daß Effektivität doch zu einer
bestimmenden Größe für die ethische Qualifikation des Handeins von Unter-
nehmen bzw. des Handeins von Individuen im Unternehmen werden muß.

Wenn ein verbessertes Kosten-Nutzen-Verhältnis in der seine Existenz si-


chernden Auseinandersetzung des Menschen mit der äußeren Natur gerade
das Charakteristikum des Entstehens von Unternehmen ist, und wenn weiter
gerade das Auszeichnende des Handelns von Unternehmen bzw. des Han-
delns in Unternehmen der Unternehmensethik ihre spezifische Qualifikation
gibt, die sie von einer bloßen Anwendungswissenschaft der allgemeinen
Ethik auf spezielle Fälle unterscheidet und ihr damit den Status einer Ver-
wirklichung praktischer Vernunft und nicht nur von Urteilskraft verleiht, so
muß das Effektivitätskriterium offensichtlich notwendig herangezogen wer-
den, wenn es darum geht, spezifisch unternehmensethische Bestimmungen
auszuarbeiten.

Es wird also in einer Unternehmensethik darauf ankommen, den zunächst


erscheinenden Widerspruch zwischen technisch-rationaler Vernunft und
ethisch-praktischer Vernunft auf eine Weise aufzulösen, die die Ethik nicht
zugunsten technischer Rationalität dementiert und ein moralisches Image als
24 11. Grundlagen' Ethik und Unternehmensethik

Marketinginstrument bereits als Bestandteil einer Unternehmensethik be-


trachtet, oder die Ethik in Unabhängigkeit von der spezifischen Auszeich-
nung von Unternehmen als Instrumente zur effektiveren Auseinandersetzung
mit der Umwelt des Menschen auffassen will und damit gerade die unterneh-
mensspezifische Determinante einer Unternehmensethik dementiert, wes-
halb auf dieser Grundlage nur noch das Anwendungsmodell mit seiner
Beschränkung auf Urteilskraft statt auf praktische Vernunft übrig bleiben
würde.

Auf dieser Grundlage läßt sich auch eine Schwierigkeit auflösen, die sich
jeder Konzeption stellt, die Unternehmen eine ethische Qualität in ihren
Handlungsorientierungen zumutet. Nach der klassischen Wirtschaftstheorie
sind Unternehmen ausschließlich als Agenten der Durchsetzung ökonomi-
scher Rationalität aufzufassen, die definiert ist als optimale Allokation von
Ressourcen in einer Volkswirtschaft. Sie sind solche Agenten aber nur, wenn
sie ausschließlich technisch-rational orientiert handeln, d. h. Profitmaximie-
rung betreiben unter Bedingungen einer Situation vollständiger Konkurrenz,
die dazu führen, daß alle Marktteilnehmer eliminiert werden, die nicht auf
den höchsten Standards der Effektivität produzieren. Zu diesen Standards
können nun unter bestimmten Bedingungen auch moralische Normen gehö-
ren - wenn die relevanten Nachfrager ihre Entscheidungen auch unter diesen
Perspektiven treffen, also solche Produkte und Unternehmen bevorzugen, die
ihren moralischen Vorstellungen besser entsprechen als andere. In diesem
Sinne können moralische Urteile auch unter den Bedingungen einer im
klassischen Sinne optimalen Ressourcenallokation Bedeutung für das effek-
tive Unternehmenshandeln besitzen. Es wurde jedoch bereits ausgeführt, daß
es sich dabei um eine instrumentalistische Auffassung von Ethik und im
speziellen von Unternehmensethik handelt, die nicht geeignet ist, zur Fun-
dierung einer Unternehmensethik als einer spezifischen Ethik beizutragen.

Wenn Unternehmen nun zugemutet wird, spezifisch unternehmensethischen


Qualifikationen in ihrem Verhalten Rechnung zu tragen, so widerspricht dies
zunächst der klassischen Konzeption des Unternehmens als Agenten einer
optimalen Ressourcenallokation. Das Unternehmen, das sich in seinem Ver-
halten von ethischen Maßstäben leiten läßt, die nicht instrumentell für einen
2. Technisch- und praktisch-rationales Handeln 25

größeren Markterfolg einzusetzen sind, entfernt sich vom Prinzip der Profit-
maximierung und damit von seiner Rolle als Agent einer optimalen Ressour-
cenallokation. Eine solche Auffassung kommt dann zum Tragen, wenn
anerkannt wird, daß Unternehmen nicht in einem vollkommenen Markt
agieren, sondern Handlungsspielräume besitzen, die sie gegen die Automatik
der Marktkräfte wenigstens teilweise immun machen. Das Unternehmen
erscheint dann im Extremfall als eine soziale Organisation, die eine Leistung
zu erbringen hat, für die sie von gesellschaftlichen Institutionen in die Pflicht
genommen werden kann. Damit aber ist die klassische Konzeption radikal
aufgegeben.

Hier kann mit den Fakten argumentert werden, die unter Hinweis auf die reale
Situation auf den meisten Märkten Evidenz erhalten können. Die Konsequenz
ist jedoch, daß die Unternehmen ihre Rolle als Agenten einer optimalen
Ressourcenallokation einbüßen und dafür gesellschaftlich in die Pflicht ge-
nommen werden müssen. Darin mag eine Motivation für die zunehmenden
ethischen Anforderungen an Unternehmen liegen. Wenn das profitmaximie-
rende Verhalten von Unternehmen nicht mehr apriori als allokationsoptimie-
rend gelten kann, so müssen an die Stelle dieser Verhaltensdetermination
andere Regulationen treten, unter denen eine ethische Qualifikation und
Bewertung des Unternehmenshandelns in der Gegenwart eine herausragende
Stellung einnimmt. Unternehmensethik erscheint unter dieser Perspektive als
Substitut für die Rationalität des Marktes, der als nicht mehr funktionsfähig
angesehen wird, so daß Unternehmen, die primär am Markterfolg orientiert
sind, nicht mehr auf der Grundlage der Ratio einer optimalen Ressourcenal-
lokation als handlungsfähig angesehen werden.

Unabhängig von der Realitätshaltigkeit der Grundlagen einer solchen Auf-


fassung ist jedoch eine wichtige Folge für die Konzeption einer Unterneh-
mensethik zu bedenken. Nach den oben ausgeführten Erörterungen über die
möglichen Verständnisweisen des Begriffes einer Unternehmensethik gibt es
unter diesen Bedingungen überhaupt keine spezifische Unternehmens ethik.
Das ethische Verhalten von Unternehmen reduziert sich vielmehr auf die
Erfüllung von gesellschaftlich vorgegebenen Normen, die zwar selbst ethisch
fundiert sein können, aber diese Ethizität solcher Normen kann nicht als
26 1I. Grundlagen' Ethik und Unternehmensethik

spezifisch unternehmensethisch angesehen werden. Es handelt sich um so-


zialethische Normen, die entweder auf der Grundlage von »Sittlichkeit«, d. h.
von Tradition und Überlieferung, gelten, oder die mit Hilfe von Argumenta-
tionsformen gerechtfertigt werden, die einer anderen Konzeption entstam-
men als die es ist, die einer spezifischen Unternehmensethik das Fundament
gibt.
Wird dem Unternehmen also seine spezifische Ratio abgesprochen, so kann
es auch keine spezifische Unternehmensethik mehr geben, sei es als Ethik
des Handelns von Unternehmen, oder sei es als Ethik des HandeIns von
Individuen in Unternehmen.
Anders ist die Lage jedoch, wenn die spezifische Auszeichnung von Unter-
nehmen als Agenten eines rationalen Umgangs mit dem Problem der exi-
stenzsichernden Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur, die sein
Überleben sichert, selbst als Grundlage der spezifisch unternehmensethi-
schen Qualifikation des Unternehmenshandelns begründet werden kann. Im
Grunde kann auch nur dann von einer Unternehmensethik im vollen Sinne
dieses Begriffs die Rede sein. Dieser vollständige Sinn des Begriffs verlangt
eben, daß gerade Auszeichnungen des Unternehmens selbst bzw. des Han-
delns von Individuen in Unternehmen zu spezifisch ethischen Qualifikatio-
nen führen, so daß Unternehmensethik nicht eine Funktion anderer Ethikbe-
reiche ist, sondern als eine eigenständige Disziplin der Ethik ausgezeichnet
werden kann. Erst diese Auszeichnung aber macht die Unternehmensethik
zu einer Disziplin, die mindestens ebenso der Wirtschaftswissenschaft zuge-
hört wie den Disziplinen, die auf rein praktischer Vernunft aufbauen. Wäre
Unternehmens ethik dagegen nur die Anwendung von allgemeinen ethischen
Normen auf den speziellen Fall von Unternehmen, so bliebe sie eine Ange-
legenheit, die die Aufgabe der Vertreter der Disziplinen der praktischen
Vernunft in ihrer konkreten Anwendung mittels Urteilskraft darstellt.
Daraus ergibt sich, daß die Ausarbeitung einer Unternehmens ethik als spezi-
fischer und eigenständiger Ethik nur dann gelingen kann, wenn die Beson-
derheiten, die Unternehmen als solche auszeichnen, für die Ausarbeitung
unternehmensethischer Bestimmungen herangezogen werden und dies nicht
nur als Charakteristika einer spezifischen Anwendung allgemeiner Ethik,
2. Technisch- und praktisch-rationales Handeln 27

sondern als konstitutive Auszeichnungen, die als solche eine eigene Disziplin
einer Unternehmensethik rechtfertigen. Dies gilt ebenso für das Verständnis
von Unternehmensethik als Normierungssystem, das aus der Existenz von
Unternehmen als ethischer Akteure selbst abgeleitet werden kann, als auch
für das Verständnis von Unternehmensethik als eines Regelsystems, das sich
auf das Verhalten von Individuen bezieht, wie es durch deren Integration in
Unternehmen bestimmt wird.

Es muß also gerade jene Effektivität in der Auseinandersetzung des Men-


schen mit seiner Umwelt, die seine Existenz auf soziokulturellem Niveau
ermöglicht, in die konstitutiven Grundlagen einer Ethik eingehen, die spezi-
fisch als Unternehmensethik bezeichnet werden kann. Diese Effektivität
kommt einer in der Form von Unternehmen organisierten Wirtschaft zum
einen dadurch zu, daß die Vorteile der Arbeitsteilung ausgenutzt werden
können, die die Güterversorgung auf ein höheres Niveau bringen, bzw. die
eine gleichb1eibende Güterversorgung mit geringerem Zeitaufwand zu er-
bringen ermöglichen. Faktisch ist es eine Kombination dieser beiden Vorteile
der Arbeitsteilung, die historisch wirksam geworden ist und die kulturelle
Entwicklung sowohl durch eine bessere Güterausstattung als auch durch eine
Reduzierung der Arbeitszeit beeinflußt hat. Kulturelle Entwicklung heißt
aber auch Anthropogenese. Insofern können Kulturentwicklung und
Menschheitsentwicklung nicht von Steigerung der Effektivität des Wirt-
schaftens getrennt werden, die durch die Arbeitsteilung in der Form. der
Unternehmenswirtschaft ermöglicht wurde.

Zum anderen aber ist Effektivität in besonderem Maße mit einer bestimmten
Form der Unternehmenswirtschaft verbunden. Im Grunde kann auch nur hier
von einer vollen Ausschöpfung der Effektivitätsfortschritte durch Arbeitstei-
lung gesprochen werden. Die Rede ist von der Konkurrenz zwischen den
arbeitsteiligen Wirtschaftseinheiten, die als Unternehmen eine so wichtige
Position in der kulturellen Entwicklung der Menschheit eingenommen haben.
Damit stehen Effektivität und Marktwirtschaft aber in einem engen Zusam-
menhang, da Konkurrenz das Prinzip eines freien Wettbewerbs auf Güter-
und Faktorenmärkten beinhaltet.
28 11. Grundlagen· Ethik und Unternehmensethik

Von Unternehmen als den wirtschaftenden Einheiten einer arbeitsteiligen


und damit in historisch einzigartiger Weise effektivitätssteigernden Wirt-
schaftsweise kann genau genommen sogar nur dann die Rede sein, wenn diese
Wirtschaftseinheiten als selbständige Akteure auf Märkten auftreten können.
Im Falle eines staatswirtschaftlich organisierten Wirtschaftens müssen Un-
ternehmen dagegen im Grunde als ausdifferenzierte Funktionsbereiche einer
einzigen Wirtschaftsorganisation angesehen werden. Diese planwirtschaft-
lich arbeitende Organisation verliert dann aber den Charakter eines Unter-
nehmens, da es seine Tätigkeit nur im Auftrag und auf Weisung des Staats-
apparates vornimmt.

Daraus aber ergibt sich eine weitere wichtige Folgerung für die konstitutiven
Grundlagen einer Unternehmensethik, die ihre Unterscheidung von einer
allgemeinen Ethik gerade aus den spezifischen Eigentümlichkeiten der Or-
ganisationsform ableitet, für die sie ethische Handlungsorientierungen aus-
arbeiten soll. Von Unternehmensethik kann nur dann gesprochen werden,
wenn das Unternehmen als Akteur auftritt, der zu freien Handlungen ermäch-
tigt ist, die und deren Folgen ihm zugeschrieben werden können. Dies gilt
sowohl für ein Verständnis von Unternehmensethik, das das Unternehmen
selbst als Akteur ansieht, als auch für eine solche Auffassung, die den
Menschen im Unternehmen als die agierende Einheit betrachtet, die als
ethisch relevant anzusehen ist. Eine solche Akteurseigenschaft kommt dem
Unternehmen aber gerade nur dann zu, wenn es unter den Bedingungen einer
Marktwirtschaft arbeitet und damit nicht nur als Außenstelle einer einheitli-
chen Staatswirtschaft anzusehen ist. Konstituens für eine spezifisch als solche
auszuweisende Unternehmensethik ist also, daß die arbeitsteiligen Wirt-
schaftseinheiten nicht als Funktionäre eines planwirtschaftlich verfaßten
Einheits~nternehmens auftreten.

Damit gehört zu den Konstitutiva, die grundlegend für eine Unternehmens-


ethik sind, die nicht als Anwendungsfall einer allgemeinen Ethik auf beson-
dere Fälle angesehen werden muß, sowohl die Berücksichtigung des Effek-
tivitätsprinzips, das die Ratio des Wirtschaftens in arbeitsteiliger Form dar-
stellt, als auch die Verwirklichung dieses Prinzips in einer marktwirtschaft-
lichen Organisationsform, die zum einen als Implikat des Effektivitätsprin-
3. Verantwortungsbegriffund Konstituentien einer Unternehmensethik 29

zips anzusehen ist, die zum anderen aber auch das Unternehmen erst zu einem
Akteur macht, der als ethisch relevant betrachtet werden kann.
Soll eine Unternehmensethik also nicht auf bloßer Urteilskraft aufbauen -
also die Subsumption einzelner Fälle unter die allgemeinen Prinzipien der
Ethik leisten - sondern ein eigenständiges Produkt praktischer Vernunft sein,
so wird sie die Konstitutiva berücksichtigen müssen, die einer Unterneh-
mensethik ihre Eigenständigkeit als spezifische Ethik verschaffen. Dazu
gehört, daß die Prinzipien berücksichtigt werden und als Deduktionsgrund
für die Ausarbeitung ethischer Handlungsanleitungen Berücksichtigung fin-
den, die den Sozialverband Unternehmen von anderen Sozialverbänden
unterscheiden und ihm eine eigene Handlungslegitimation garantieren. Zu
diesen Prinzipien gehört in erster Linie das Prinzip der Effektivität auf der
Grundlage der Vorteile einer arbeitsteiligen Auseinandersetzung des Men-
schen mit seiner Umwelt in einem seine Existenz sichernden und fortent-
wickelnden Wirtschaften. Ebenso aber gehört dazu das Prinzip eines konkur-
rierenden Wirtschaftens selbständiger Wirtschafts einheiten in der Organisa-
tionsform der Marktwirtschaft.

3.
Der Zusammenhang des Verantwortungs begriffs mit den
Konstituentien einer Unternehmensethik

Diese Konstitutiva einer genuin als Unternehmensethik - und nicht als


Anwendungsfall allgemeiner Ethik - auszuarbeitenden Konzeption von
Grundlagen für ethische Handlungsanleitungen in einem durch Unternehmen
geprägten Wirtschaften legen nun auch bereits einen engen Zusammenhang
zwischen einer genuinen Unternehmensethik und der Konzeption der Ver-
antwortung als ethischem Zentralbegriff nahe. Wenn die genuin unterneh-
mensspezifische Perspektive einer Ethik - also das, was sie von einer bloßen
Anwendung der allgemeinen Ethik unterscheidet - auf einer besonderen
Ausformung des Effizienzkriteriums in der güterproduzierenden Auseinan-
30 II. Grundlagen· Ethik und Untemehmensethik

dersetzung des Menschen mit seiner Umwelt beruht, so muß die Ausarbeitung
von genuin unternehmensethischen Verhaltensanleitungen dieses Kriterium
und seine Ausformungen auch schon in den argumentativen Grundlagen
berücksichtigen.

Die Gestalt des Unternehmens hat ihre Besonderheit in der Ökonomie als
dem Menschen seine physische und kulturelle Existenz sichernden Ausein-
andersetzung mit der Natur aufgrund der Effektivitätssteigerung eines Wirt-
schaftens in der Gestalt der Arbeitsteilung zwischen konkurrierenden Wirt-
schaftseinheiten in der Organisationsform der Marktwirtschaft. Damit be-
steht die Eigenschaft von Unternehmen, die eine genuin unternehmensspezi-
fische Ethik möglich und notwendig macht, nicht in ihrem isolierten und nur
für sich selbst relevanten Dasein. Weil das Unternehmen eine spezifisch
durch Effektivität in der Form von Arbeitsteilung und konkurrierender Or-
ganisation geprägte Erscheinungsform der Auseinandersetzung der Gattung
Mensch mit ihren materiellen und kulturellen Existenzbedingungen ist, des-
halb ist seine auch für unternehmensethische wesentliche Auszeichnung in
seinem Bezug auf die Sicherung menschlicher Grundbedürfnisse materieller
und kultureller Natur zu sehen. Das Unternehmen arbeitet deshalb auch in
seinem Streben nach Effekti vität und Gewinnmaximierung nicht nur für sich,
sondern ebensosehr für andere.
Unter dieser Perspektive steht das Unternehmen bereits mit den ersten und
konstitutiven Grundlagen seiner Existenz in einem zwischenmenschlichen
Zusammenhang, der sich insbesondere in der Befriedigung materieller wie
auch kultureller Bedürfnisse ausdrückt. Aufgrund seiner strukturellen Be-
stimmungen ist das Unternehmen also auch dann eine Entität, deren Wesen
in einem Sein für andere besteht, wenn dies sich im Bewußtsein der unmit-
telbar Beteiligten nur als ein Sein für sich darstellt.

Wenn die Existenz von Unternehmen also eine eigene Ethik konstitutiv
begründet, so kann dies aufgrund eben der Wesensmerkmale, die eine solche
Ethik zu einem Produkt praktischer Vernunft und nicht nur der subsumieren-
den Urteilskraft werden lassen, nicht eine Individualethik in dem Sinne sein,
daß das Verhalten des Unternehmens nur mit Bezug auf sich selbst beurteilt
wird. Eine genuine Unternehmensethik wird sich vielmehr von vornherein
3. Verantwortungsbegriffund Konstituentien einer Unternehmensethik 31

unter der generellen Form einer Interpersona1ethik ausbilden müssen. Daraus


ergibt sich aber, daß eine solche Ethik als Mindestanforderung enthalten muß,
daß sie die Struktur eines Rechtfertigungsverhältnisses gegenüber anderen
Menschen enthält. Eine solche Struktur ist aber gerade mit dem ethischen
Zentral begriff der Verantwortung gegeben.
Sich gegenüber anderen verantworten ist also die Struktur, die sich aus den
Charakteren ergibt, die es erlauben, von einer durch den besonderen Status
von Unternehmen bestimmten Ethik zu sprechen, die sich damit spezifisch
von der allgemeinen Ethik unterscheidet. Damit sind allerdings noch keine
bestimmten Handlungsanleitungen gegeben, die für die Ausarbeitung kon-
kreter unternehmensethischer Bestimmungen ausreichen könnten. Nichts-
destoweniger ist damit doch eine Richtung angegeben, die ihre Berechtigung
nicht aus den Grundlagen der allgemeinen Ethik nimmt, sondern gerade aus
den Besonderheiten von Unternehmen, die es erlauben, von einer spezifi-
schen Unternehmensethik zu sprechen.
Gerade dadurch aber weist sich die Unternehmensethik erneut als eine Ethik
aus, die nicht nur durch die Anwendung von Urteilskraft aus Grundsätzen der
allgemeinen Ethik ihre Bestimmungen ausarbeitet, sondern die eigene
Grundlagen hat und ihre Besonderheit gegenüber der allgemeinen Ethik nicht
nur in den konstitutiven Grundstrukturen, sondern auch in den daraus sich
ergebenden Ansätzen zu einer Ausarbeitung von Handlungsanleitungen fin-
den kann. Indem der Begriff der Verantwortung in der Unternehmensethik
bis auf deren konstitutive Grundlagen in den Auszeichnungen von Unterneh-
men als Einheiten der effektiven Auseinandersetzung des Menschen mit der
Natur zurückgeht, also auf die Funktion von Unternehmen für die Gestaltung
und Entwicklung der materiellen wie kulturellen Genesis der Menschheit als
einer Gattung, die sich zu ihrer Erhaltung permanent mit der sie umgebenden
Natur in Produktion und Reproduktion auseinandersetzen muß, gewinnt die
spezifische Gestalt einer Unternehmensethik eine eigenständige Begründung
in der praktischen Vernunft und kann als deren eigenständige Realisierung
auftreten.
32 II. Grundlagen· Ethik und Untemehmensethik

4.
Das Problem der spezifisch unternehmensethischen
Individualität der Verantwortung

Wenn das Unternehmen als Subjekt ethisch verantwortlicher Handlungen


angesehen werden soll, so müssen die Entscheidungen eines Kollektivs
ethisch beurteilbar sein. Hier stellt sich zunächst die Frage, wie die von
zahllosen Unternehmensteilen gefeHlten Entscheidungen zu einem einheitli-
chen Unternehmenshandeln aggregiert werden können21 . Damit stellt sich
das Problem, inwieweit Entscheidungen überhaupt dem Unternehmen zuge-
schrieben werden sollen. Dem kann nur schwer durch die Reduzierung der
Reichweite ethischer Kriterien auf Entscheidungen von strategischer Bedeu-
tung, die als explizit begründete Entscheidungen von den Organen der
Unternehmensführung getroffen werden, Rechnung getragen werden. Wenn
das Unternehmenshandeln unter ethischen Kriterien betrachtet werden soll,
so sind im Grunde alle Interaktionen des Unternehmens mit seiner Umwelt,
die dem Unternehmen zugerechnet werden können, von ethischer Bedeutung.

Hier stellt sich offenbar die Frage, was als Unternehmenshandeln aufgefaßt
werden kann und unter welchen Bedingungen eine Handlung dem Unterneh-
men selbst - und nicht den Organisationsmitgliedern - zugeschrieben werden
muß. Wird - wie es oftmals in der Medienöffentlichkeit üblich ist - eine jede
Interaktion als Unternehmenshandeln bezeichnet, die von politischen oder
gesellschaftlichen Kräften einem Unternehmen zugeschrieben wird, so ist
unklar, wie auf dieser Grundlage eine Qualifizierung nach spezifisch unter-
nehmensethischen Grundsätzen erfolgen kann, wenn denn die Konzeption

21 Dieses Problem wird von H. LENK und M. MARING ausführlich in Zusammenhang


mit dem Problem der sog. sozialen Fallen diskutiert (H. LENK / M. MARING, Verant-
wortung und soziale Fallen, in: Ethik und Sozialwissenschaften 1/1990, S. 49 - 57).
Die Autoren ziehen daraus den Schluß, eine Erweiterung der Verantwortung sei mit
Hilfe operational handhabbarer Modelle der Distributierung der Mitverantwortung
dringend geboten und durchführbar. Vgl. dazu den Kommentar von K. HOMANN, der
auf die Schwierigkeit hinweist, kollektive Probleme in einem letztlich doch indivi-
dualethischen Paradigma zu diskutieren (K. HOMANN, Kollektive Probleme und indi-
vidualethisches Paradigma: Ein Kommentar zu dem Beitrag von Hans LENK und
Matthias MARING, in: Ethik und Sozialwissenschaften 1/1990, S. 67 - 69).
4. Unternehmensethische Individualität der Verantwortung 33
einer Unternehmensethik davon abhängig ist, daß Unternehmenshandeln als
ein ethisch relevanter Bereich abgegrenzt werden kann, der anstelle der oder
ergänzend zu den allgemeingültigen ethischen Grundsätzen besonderer ethi-
scher Regulierungen bedarf. Für eine solche Notwendigkeit kann es nicht
ausreichen, die Bestimmung der Interaktionen, die nicht als individuelle
Handlungen aufgefaßt werden sollen, sondern als spezifische Unternehrnens-
handlungen ausgezeichnet werden können, von der Zu schreibung durch
politische oder gesellschaftliche Kräfte abhängig zu machen.
Das Unternehmen interagiert mit seiner Umwelt auf sehr vielen verschiede-
nen Ebenen. Dies kann von direkten Kontakten einzelner Organisationsmit-
glieder mit einzelnen Letztverbrauchern (soweit solche Kontakte zur Ge-
schäftstätigkeit des Unternehmens gehören) bis hin zu Reaktionen der poli-
tischen Führungsspitze eines großen Landes auf bedeutende Entscheidungen
der Unternehmensführung reichen. Ein Unternehmenshandeln, das Grundla-
ge für die besondere Regelung durch eine speziell für Unternehmen geltende
Ethik sein kann, kann nur dann vorliegen, wenn die entsprechenden Interak-
tionen begründet dem Unternehmen als solchem zugeschrieben werden
können und nicht den unternehmensexternen Handlungsmotivationen der
Organisationsmitglieder.
Dazu muß das Unternehmen als solches eine Identität besitzen und in seinen
Handlungen darstellen, die den einzelnen Handlungen erst den Charakter von
durch die Eigentümlichkeit gerade dieses Unternehmens bestimmter Hand-
lungen verleiht. Soll es auf besondere Weise ethisch qualifizierbar sein; so
muß sich Unternehmenshandeln somit in den Interaktionen des Unterneh-
mens mit seiner Umwelt von den Handlungsorientierungen der Organisa-
tionsmitglieder unterscheiden lassen. Das Unternehmenshandeln kann also
nicht als Suinme der Handlungen der Organisationsmitglieder im Zusam-
menhang mit ihrer Tätigkeit für das Unternehmen aufgefaßt werden; es ist
vielmehr gerade die Auszeichnung, die die einzelnen Handlungen erst als
Ausprägungen eines erkennbar dem bestimmten Unternehmen zuschreibba-
ren Unternehmenshandeln deutlich werden läßt.
34 II. Grundlagen· Ethik und Unternehmensethik

Ziel einer Unternehmensethik muß es also zunächst sein, den individuellen


Unternehmensakteur als ethisch verantwortliches Subjekt zu identifizieren.
In dieser Identifikation muß vor allem eine Unterscheidung gemacht werden
zwischen dem Akteur als ethisch einerseits und als unternehmensethisch
andererseits verantwortlichem Subjekt. Nur dann sind ihm offenbar unter-
nehmensethisch relevante Handlungen zuzuschreiben und nicht nur Hand-
lungen, die ohnehin nach ethischen Kriterien beurteilt werden, unabhängig
davon, ob sie in die Interaktionen eines Unternehmens mit seiner Umwelt
eingehen oder völlig unabhängig davon bewertet werden.
Daraus ergibt sich zunächst, daß ein unternehmensethisch zu bewertendes
Handeln zum einen den Kriterien entsprechen muß, die ein Handeln über-
haupt als ethisch relevant auszeichnen, und zum anderen zusätzliche Merk-
male aufweisen muß, die ihm darüber hinaus den Charakter eines unterneh-
mensethisch relevanten Handelns zukommen lassen. Dieses Problem könnte
auch als Problem des inneren Zusammenhangs der individuellen Dimension
des HandeIns mit seiner organisationellen Dimension aufgefaßt werden, die
wiederum einen Spezialfall der sozialen Determinanten von Handlungssitua-
tionen darstellt22 •
Dabei muß jedoch beachtet werden, daß die organisationelle Dimension
gerade dann dem Handeln nicht nur die ethische, sondern auch die unterneh-
mensethische Relevanz nimmt, wenn sie als eine im kausalen Sinne zu
verstehende Determinante des HandeIns aufgefaßt werden muß. Insofern
muß aber die organisationelle Dimension des HandeIns selbst die Möglich-

22 E. GÖBEL entwickelt in ihrer Arbeit als unternehmensethischen Kerngedanken, daß


es einer Vermittlung bedarf zwischen dem persönlichen Verantwortungsbewußtsein
der Entscheidungsträger und deren Entscheidungsumfeld. Diese Vermittlung ist
gleichzeitig die Verbindung von Individualethik und Unternehmensethik. Die Ver-
antwortungsübernahme erscheint unter dieser Perspektive als Aufgabe einer strategi-
schen Neuorientierung, die zu einer Verankerung sozialer Verantwortung im Unter-
nehmen führen muß. Soziale Verantwortung ist danach selbst eine Managementauf-
gabe. Ziel ist somit die Implementierung einer Kultur der sozialen Verantwortung,
durch die das Unternehmen selbst ein "Gewissen" erhält. Es ist jedoch zu fragen, ob
damit nicht die grundsätzliche unternehmensethische Fragestellung unterlaufen wird
und ein Anwendungsmodell zum Einsatz kommt, das ein für unternehmensethische
Zwecke verfügbares ethisches Wissen als gesichert unterstellt. (E. GÖBEL, Das
Management der sozialen Verantwortung, Berlin 1992).
4. Unternehmensethische Individualität der Verantwortung 35

keit eröffnen, in ethischen Bezügen handeln zu können, und sie muß dies so
tun, daß darin der unternehmensethische Bezug nicht verlorengeht. Dies ist
nur dann möglich, wenn durch die organisationelle Handlungsbestimmung
die ethische Verantwortlichkeit des einzelnen Akteurs nicht tangiert wird.
Andererseits aber muß es gerade die organisationelle Dimension erlauben,
die unternehmensethische Relevanz durch eine zusätzliche Bestimmung von
einer bloß ethischen abzugrenzen.

Diese Situation verlangt offenbar, daß der individuelle Unternehmens akteur


auch und gerade in seiner organisationellen Bestimmtheit, die seinen Hand-
lungen überhaupt erst unternehmensethische Bedeutung verschafft, in seiner
individuellen Verantwortlichkeit ethisch relevant handeln kann. Dies kann er
aber nur dann, wenn er die organisationelle Bestimmtheit seiner unterneh-
mensrelevanten Handlungen, die als solche überindividuell ist, selbst indivi-
duell verantworten kann. Er muß sich also mit den organisationellen Bestim-
mungen seiner Handlungssituation identifizieren können, die seinen Hand-
lungen erst die unternehmensethische Bedeutung verleihen. Das bedeutet
aber, er muß sich mit dem Unternehmen und den durch dieses gesetzten
Bedingungen für sein Berufshandeln identifizieren können.

Das muß nicht unbedingt durch einen expliziten mentalen oder auch emotio-
nalen Akt geschehen. Im Grunde genügt dafür die freiwillige Bereitschaft,
sich mit dem Unternehmen identifizieren zu lassen. Diese Bereitschaft setzt
das Bestehen von alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten voraus, so daß
gerade diese Tätigkeit nicht ausschließlich aus Gründen des wirtschaftlichen
Überlebens ausgeübt wird. Eine erste Bedingung für die ethische Beurteil-
barkeit individueller Handlungen, die durch organisationelle Determinanten
in der Struktur privatwirtschaftlicher Unternehmen bestimmt werden, ist also
die Existenz eines freien Arbeitsmarktes, der die Tätigkeit für ein bestimmtes
Unternehmen zu einer freien Entscheidung werden läßt, die jene Identifika-
tion erlaubt, durch die eine organisationelle Handlungsdetermination mit
einer unternehmensethischen Relevanz gekoppelt werden kann. Liegt dage-
gen eine solche Identifikationsbereitschaft nicht vor, so kann das Verhalten
des Organisationsmitgliedes im Grunde nur allgemein-ethisch beurteilt wer-
den, da die aus der organisationellen Handlungsbestimmung stammenden
36 II. Grundlagen· Ethik und Unternehmensethik

Verhaltensanteile - die das Besondere einer unternehmensethischen Orien-


tierung ausmachen - in diesem Falle nicht mit der individuellen Freiheit des
Handelnden übereinstimmen, was sie von vornherein ihres ethisch relevanten
Charakters beraubt.

Für diese Problemlage einer Unternehmensethik ergeben sich grundsätzlich


mehrere Lösungsmöglichkeiten. Eine ethische Bewertung kann zunächst
ohne Berücksichtigung der fehlenden Identifikation mit dem Unternehmen
und dem durch eben dieses vorgegebenen Handlungsrahmen vorgenommen
werden. Die zentrale Problematik einer solchen Konstellation liegt offen-
sichtlich darin, wie in diesem Falle eine sich von der allgemein-ethischen
Frage unterscheidende und zusätzliche Qualifikation des Handeins angege-
ben werden kann, die es erlaubt, darin eine spezifisch unternehmensethisch
zu beurteilende Interaktion zu sehen.

Das Problem könnte auch so gesehen werden: Die Interaktion des Unterneh-
mens mit seiner Umwelt wird von einem Individuum getragen, das als solches
wohl innerhalb einer ethischen Dimension handelt, das aber darin nicht ein
Teil des Unternehmens sein will, sondern beansprucht, entweder nur für sich
und ausschließlich auf eigene Verantwortung - sozusagen auf eigene Rech-
nung - zu handeln oder aber eine fremde Handlungsbestimmung auszuführen,
für die es nicht verantwortlich sein will, weil es darin eine grundsätzlich
Kausalgesetzen folgende Fremdbestimmung seines Handeins sieht. Seine
Handlungen sieht es also entweder als Realisationen technisch-funktionaler
Zusammenhänge, die nicht aufgrund praktischer, sondern technischer (KANT
würde sagen: »hypothetischer«) Rationalität ablaufen und deshalb nicht in
den Bereich seiner Freiheit gehören, oder es sieht sie durch Zwänge seines
Beschäftigungsverhältnisses bestimmt an, das es nicht frei wählen konnte, so
daß es in permanentem »Befehlsnotstand« handelt, in dem es wegen man-
gelnder Entscheidungsfreiheit keine ethische Verantwortlichkeit besitzt. Wer
eigentlich handelt, ist dann in den Augen des unmittelbar mit der Umwelt
interagierenden Unternehmensangehörigen »die Firma« oder »das Unterneh-
men«, dessen Vorgaben für ihn als unveränderliches Datum erscheinen, das
nicht seiner Freiheit und damit Verantwortlichkeit unterliegt.
4. Unternehmensethische Individualität der Verantwortung 37

Der unmittelbare Akteur unterscheidet hier also strikt zwischen zwei Berei-
chen innerhalb seines Handelns als Unternehmensangehöriger: einen seiner
privaten und freien Verfügung unterliegenden Handlungsspielraum, in dem
er Verantwortlichkeit und ethische Verpflichtungen anerkennt, und einen
Bereich, der durch »das Unternehmen« vorgegebenen Reaktionsweisen, mit
denen er sich nicht identifiziert und in denen er sich weder frei noch verant-
wortlich sieht. Eine sich von der allgemein-ethischen unterscheidende spezi-
fisch unternehmensethische Perspektive ist hier nur schwer auszumachen.
Damit bleibt aber auch das für die Abgrenzung einer spezifisch untern eh-
mensethischen AufgabensteIlung entscheidende Problem des Verhältnisses
von individuell-verantwortlichem freiem Handeln und direkt oder indirekt
durch die organisationelle Struktur eines Unternehmens determinierten Han-
deln ungeklärt, wobei das letztere Handeln ja durch seinen organisationellen
Charakter nicht in seinem freien und individuell-verantwortlichen Status
eingeschränkt werden darf, wenn es überhaupt als ethisch bezeichnet werden
soll.

Für die Zwecke realititätsnaher unternehmensethischer Diskurse könnte ver-


sucht werden, das Problernniveau dadurch zu senken, daß in die Betrachtung
des unternehmensethisch Relevanten nicht alle Akteure einbezogen werden,
die überhaupt in Interaktionen mit der - externen oder internen - Umwelt des
Unternehmens eintreten können, sondern nur solche, die die Identität des
Unternehmens in besonderem Maße prägen und bestimmen. Hier tritt aller-
dings ein schwieriges Abgrenzungsproblem auf, das sich letztlich aus dem
Problem der Konzeption einer Unternehmensidentität überhaupt ergibt.

Eine Identität besitzt zunächst ja jedes Unternehmen, schon insofern es als


eine abgrenzbare Wirtschaftseinheit innerhalb einer Ökonomie besteht, in der
die Arbeitsteilung organisatorisch verfestigt ist. Identität in diesem Sinne
liegt bereits dann vor, indem das Unternehmen als eine Einheit angesehen
wird, die wenigstens über einen bestimmten Mindestzeitraum hinweg mit
sich selbst gleich bleibt, so daß ihr die Konsequenzen ihrer Aktionen über die
Zeit hinweg zugeschrieben werden können und geplante Aktionen von
demselben Akteur ausgeführt werden, der sie auch geplant hatte. Darüber
hinaus aber ist unter Unternehmensidentität auch eine am Marketing im
38 H. Grundlagen· Ethik und Unternehmensethik

weiten Sinne orientierte Unternehmensphilosophie zu verstehen, die auf eine


einheitliche Selbstdarstellung des Unternehmens gegenüber den für den
Unternehmenserfolg wichtigen Marktteilnehmern und sonstigen am Wirt-
schaftsprozeß beteiligten Akteuren abzielt.
Das Identitätskonzept ist nun jedoch auch für die Frage nach der Möglichkeit
einer Unternehmensethik im Spannungsfeld zwischen der durch diesen Be-
griff nahegelegten kollektiven Verantwortung und der durch den Begriff des
spezifisch ethischen Verpflichtungscharakters herangezogenen Individuali-
tät einer genuin ethischen Verantwortlichkeit von grundsätzlicher Bedeu-
tung. Mit »Identität« kann in diesem Zusammenhang die organisationeIl
bestimmte Handlungsdetermination bezeichnet werden, die dem letztlich
stets individuellen Handeln innerhalb von Interaktionen des Unternehmens
jene zusätzliche Qualifikation verschafft, die es erst erlaubt, neben allgemein-
ethischen auch noch spezifisch unternehmensethische Kriterien in Anwen-
dung zu bringen.
Unternehmensidentität könnte somit einen vermittelnden Begriff darstellen,
der die Individualität der Träger der einzelnen Interaktionen des Unterneh-
mens mit seiner Umwelt mit der organisationellen - und damit überindividu-
ellen - Handlungsbestimmung verbindet, die erst die Diskussion um unter-
nehmensethische Probleme von der Einstellung auf allgemein-ethische Fra-
gen unterscheidet. Umgekehrt kann bei einem Verzicht auf eine sich in
einzelnen Interaktionen aktualisierende Identität des Unternehmens im Grun-
de überhaupt nicht von ethischen Qualifikationen der Handlungen und der
Verhaltens regeln des Unternehmens die Rede sein, die sich von den allge-
mein-ethisch zu beurteilenden rein individuell bestimmten Handlungsantei-
len unterscheiden lassen.
Daß ein Unternehmen eine Identität ausgebildet hat, ist also eine der Bedin-
gungen der Möglichkeit dafür, daß es in den durch die einzelnen Mitarbeiter
vermittelten Interaktionen' mit seiner externen und internen Umwelt eine
genuin unternehmensethische Qualifikation entwickeln kann. Dafür genügt
jedoch gerade nicht die jedem Unternehmen schon aufgrund seiner bloßen
Existenz innerhalb einer arbeitsteiligen Wirtschaft zuzuschreibende Gleich-
heit mit sich selbst über den Zeitablauf. Für eine unternehmensethische
4. Unternehmensethische Individualität der Verantwortung 39

Qualifizierung im Problemzusammenhang von individueller und organisa-


tioneller Handlungsorientierung ist vielmehr die bewußte Gestaltung einer
Unternehmensidentität von Bedeutung. Nur wenn die in jeder einzelnen
Interaktion von den individuellen Unternehmensangehörigen in ihren
Funktionen zu aktualisierende Identität auf einer Entscheidung statt auf einer
bloßen Zuschreibung beruht, kann dies dem individuellen Handeln jene
organisationelle Orientierung verschaffen, die es nicht nur allgemein-ethisch,
sondern auch unternehmensethisch beurteilbar macht.
Insofern gewinnt jedoch auch die Bestimmung der Unternehmensidentität
selbst eine ethische Qualität. Nach dem bisher entwickelten Problemverhält-
nis von individueller und organisationeller Handlungsbestimmung in den
Interaktionen des Unternehmens mit seiner Umwelt ist die Bestimmung der
Unternehmensidentität sogar von vorrangiger Bedeutung, insofern darin die
organisationellen Determinanten festgelegt werden, die den spezifisch unter-
nehmensethischen Charakter eines Handeins durch Unternehmensangehöri-
ge prägen.
Nun war die Frage nach der Bedeutung der Unternehmensidentität für die
spezifisch unternehmensethische Relevanz der vielen Akte, mit denen das
Unternehmen über die Unternehmensangehörigen mit seiner externen und
internen Umwelt interagiert, im Ausgang von der Problematik der Identifi-
kationsfähigkeit der Mitarbeiter mit den organisationellen Determinanten
ihres Anteils am gesamten Unternehmenshandeln ausgearbeitet worden.
Wenn realistischerweise nicht erwartet werden kann, daß der unmittelbar mit
der Umwelt des Unternehmens interagierende Unternehmensangehörige sich
in allen seinen Handlungen mit seinen organisationellen Handlungsdetermi-
nanten identifizieren kann, so kann ihm auch nicht eine spezifisch unterneh-
mensethische Orientierung zugeschrieben - oder zugemutet - werden.
Wenn für die Zwecke einer realitätsnäheren unternehmensethischen Diskus-
sion ohne Verzicht auf die spezifischen Bedingungen der Auszeichnung einer
unternehmens- und nicht allgemein-ethischen Handlungsqualifikation der
Kreis der unternehmensethisch relevant Handelnden auf diejenigen Unter-
nehmensangehörigen beschränkt wird, die zumindest in einem weiteren Sinn
am Prozeß der Formulierung und Bestimmung der Unternehmensidentität
40 H. Grundlagen' Ethik und Untemehmensethik

beteiligt sind, und die damit die organisationellen Handlungsdeterminanten


festlegen, durch die über allgemein-ethische hinaus auch spezifisch unter-
nehmensethische Kriterien für das individuelle Handeln in ethischem Sinne
relevant werden, so stellt sich die unternehrnensethische Problematik nun-
mehr auf zwei Ebenen.

Zunächst ist mit einer nur durch das Ziel einer »realistischeren« Betrach-
tungsweise begründeten Einschränkung des unternehmensethisch bedeutsa-
men Personenkreises die Berechtigung einer solchen Einschränkung noch
nicht ausreichend nachgewiesen. Dies könnte jedoch unter Umständen dann
gelingen, wenn gerade diese Einschränkung dazu führen würde, daß eine
befriedigende Auflösung des Konflikts zwischen den organisationellen
Handlungsdeterminanten, die eine freie Leistung des Sich-zueigen-machens
vom Unternehmens angehörigen fordern, mit der individuellen und freien
Handlungsbestimmung als Grundlage einer ethischen Qualifikation gefun-
den werden könnte. Dafür muß sich die Identitätsbestimmung durch einen
beschränkten Kreis von Unternehmens angehörigen auf eine solche Weise
ethisch qualifizieren, daß diese Identität in ihrer Umsetzung auf der Ebene
des organisationellen Handlungsrahmens für die unmittelbar mit der Umwelt
des Unternehmens interagierenden Unternehmensangehörigen ihren ethi-
schen Charakter so bewahren kann, daß sich daraus eine Möglichkeit für eine
Vereinigung der ethischen und individuellen Freiheit der Handelnden mit
ihren organisationellen Vorgaben so ergibt, daß die im Rahmen dieser
Vorgaben ausgeführten Handlungen nicht nur unter allgemein-ethischen,
sondern auch unter unternehmensethischen Kriterien zu qualifizieren sind.

Nun ist primär als in einem ethischen Sinne »verantwortlich« nur das Indivi-
duum zu bezeichnen, weil die Zu schreibung von Verantwortung Personalität
und damit die Fähigkeit zu freiem Handeln voraussetzt. Auch ein Kollektiv
- wie z. B. ein Unternehmen - kann zwar verantwortlich gemacht werden,
aber dies geschieht entweder aufgrund von Machtbeziehungen oder innerhalb
rechtlich verfaßter Institutionen. Von einer genuin ethischen Verantwortung
kann hier jedoch noch nicht gesprochen werden. Ob die verantwortungsethi-
sche Beurteilung von Unternehrnenshandlungen unmittelbar auf das Unter-
nehmen als Akteur bezogen werden kann, oder ob auch in der Unternehrnens-
4. Unternehmensethische Individualität der Verantwortung 41

ethik nur die im Unternehmen die Entscheidungen treffenden Individuen als


ethisch verantwortlich bezeichnet werden können, dies kann nur aufgrund
der näheren Bestimmung der Beziehungen der primär verantwortlichen In-
dividuen zu der sozialen Organisation »Unternehmen« und seinen Handlun-
gen entschieden werden. Diese Beziehungen entscheiden darüber, ob in
Unternehmen eine Situation der Ableitbarkeit genuin ethischer Verantwort-
lichkeit aus der personalen Handlungs- und damit Zurechnungsfähigkeit von
Individuen vorliegt oder nicht.

Das wichtigste Kriterium für das Vorliegen einer solchen Situation ergibt sich
aus der notwendigen Bedingung von Freiheit für ethische Verantwortlichkeit.
Unternehmensentscheidungen kann dann eine ethische Qualität zugeschrie-
ben werden, und das Unternehmen kann dann selbst als ethischer Akteur
angesehen werden, wenn solche Entscheidungen auf die Freiheit der an den
Entscheidungen beteiligten Personen zurückgeführt werden können. Nun
kann Freiheit aber nicht durch Zwang oder Notwendigkeit »delegiert« wer-
den, ohne sie als solche zu zerstören. Soll das Unternehmen also durch die
»Übertragung« von Freiheit von den primär verantwortlichen Individuen
selbst den Status eines im ethischen Sinne verantwortlichen Akteurs gewin-
nen, so muß die soziale Organisation »Unternehmen« als durch entsprechen-
de Vergesellschaftungsformen konstituiert angesehen werden können. Diese
Formen der Koordinierung von Handlungen müssen es erlauben, Unterneh-
menshandlungen selbst als ethisch relevant anzusehen, obwohl doch nur die
im Unternehmen tätigen Personen primär ethisch verantwortlich genannt
werden können.

Eine solche Situation kann dann unterstellt werden, wenn Personen in ihrer
Freiheit Entscheidungsbefugnisse so auf eine Organisation und ihre Entschei-
dungskompetenz als Organisation übertragen, daß sie im Rahmen dieser
Delegierung bereit sind, Verantwortung auch für solche Entscheidungen zu
übernehmen, denen sie faktisch nicht zugestimmt haben oder denen sie im
Einzelfall überhaupt nicht zustimmen würden. Man könnte hier eine Denk-
figur analog zu der juristischen Konstruktion der Gefahrdungshaftung ver-
wenden. Wer etwas in seinen Besitz aufnimmt, das bekanntermaßen andere
Menschen gefährden kann (wie ein Auto oder einen Hund), wird für dadurch
42 Ir. Grundlagen' Ethik und Unternehmensethik

verursachte Schäden verantwortlich gemacht, auch wenn ihn als Besitzer im


konkreten Fall keinerlei Schuld trifft. Nun ist die Voraussetzung dafür jedoch,
daß er die betreffende Sache freiwillig in Besitz genommen hat. Diese
Bedingung muß auch für die analoge Anwendung auf die Ableitung von
Verantwortlichkeit vom primär verantwortlichen Individuum in Richtung
einer sekundär gültigen Verantwortlichkeit des Unternehmens als solchem
gelten.
Nun stellt die freiwillige und verantwortete Übertragung von Freiheit auf
andere Personen oder auch Organisationen mit ebenso freiwillig akzeptierter
Bindungswirkung ein Wesenselement von Vertragsbeziehungen dar. Wenn
die Organisation von Unternehmen also durch kollektive und bilaterale
Verträge beschrieben werden kann, so kann das Unternehmen unter ethischen
Aspekten als eine Einrichtung beschrieben werden, in dem in einem begrenz-
ten Rahmen Freiheit von den primär verantwortlichen Individuen auf die
Organisation übertragen wird, die damit in einem sekundären und abgeleite-
ten Sinn als ethisch verantwortlich bezeichnet werden kann 23 • Aufgrund
dieser Ableitung von genuin ethischer Verantwortlichkeit aus dem primär
Verantwortung tragenden Individuum können die Ansätze aus den im fol-
genden dargestellten Philosophien ethischer Verantwortung auch auf Unter-
nehmensentscheidungen Anwendung finden, obwohl einem Unternehmen
als solchem keine primäre und genuin ethische Verantwortungsfähigkeit
zukommen kann.

23 V gl. dazu die Ausführungen von B. WOLFF, Organisation durch Verträge, Wiesbaden
1995.
111.
Ethische Verantwortlichkeit als subjektive Seite
einer ontologischen Wertlehre:
Hans JONAS

1.
Ethik als Antwort auf die Herausforderungen
der technisch-wissenschaftlichen Zivilisation

Hans JONAS' Entwurf eines ethischen Orientierungsrahmens für die tech-


nisch-wissenschaftliche Welt mit ihren gegenüber der Vergangenheit extrem
gesteigerten Handlungs- und Gefährdungsmöglichkeiten besitzt einen ambi-
valenten Charakter. Einerseits läßt er sich einem ethischen Paradigma zurech-
nen, das auf letzte Gewißheit verzichtet und stattdessen nur eine vernünftige
Aufklärung über ethisch relevante Sachverhalte geben will. In diesem Sinne
ist nicht eine Neubegründung der Ethik auf der Grundlage reiner Vernunft
geplant, sondern das zu entwickelnde Wissen um das richtige Handeln soll
an die vorhandenen moralischen »Intuitionen« angeschlossen werden, so daß
das bereits gegebene Vorwissen um Gut und Böse die Grundlage darstellt,
auf der Beurteilungskriterien und Handlungsanleitungen für den Menschen
entwickelt werden sollen, der bereits vor-philosophisch ein Wissen über die
Grundfragen der Moral mitbringt24 .
Andererseits beansprucht JONAS explizit, Werte mittels einer axiomatischen
Ontologie im Sein oder einer an-sieh-seienden Natur fundieren zu können.
Auf diese Weise schließt sein Vorhaben an ethische Richtungen mit weit
stärkeren Begründungsansprüchen an. Im folgenden soll die pragmatische
Dimension der JONAS'schen Ethik gegen die ontologische Tendenz betont

24 Vgl. M. RATH, Intuition und Modell. Hans JONAS' »Prinzip Verantwortung« und die
Frage nach einer Ethikfür das wissenschaftliche Zeitalter, FrankfurtJBem 1988.
44 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS

werden, da auf diese Weise der Zugang zu einer praktischen Anwendbarkeit


für ethisch fundierte Handlungsorientierungen leichter gefunden werden
kann. Diese Interpretation wird im übrigen gerade durch den Begriff der
Verantwortung nahegelegt, der die konkretere und phänomenologisch ergie-
bigere Seite der Ethik von JONAS darstellt. Obwohl der Begriff der Verant-
wortung den Rahmen der J ONAS' schen Ethik nicht ausfüllt, hat er doch eine
wohl definierte Funktion darin und stellt außerdem den Begriff dar, durch den
diese Ethik in weiten Kreisen bekannt geworden ist25 .
Das Ungenügen aller vorhandenen ethischen Konzeptionen zur Bestimmung
des moralisch richtigen Handelns und der Bedarf für eine neue Orientierung
entspringen JONAS zufolge der Existenz qualitativ neuer Dimensionen der
menschlichen Einwirkungsmöglichkeiten auf die Zukunft der Menschheit
überhaupt sowie der ganzen mit Zweckbegriffen zu verstehenden Natur26 .
Deshalb begründet er seinen neuen Entwurf auch nicht durch eine explizite
Kritik an konkurrierenden Konzeptionen, sondern durch eine Skizze jener
Veränderungen der Macht der Menschheit, die zu Veränderungen im Reper-
toire ethischer Verhaltens determinanten zwingen. JONAS formuliert: "Spezi-
fischer gefaßt ist meine Behauptung, daß mit gewissen Entwicklungen unse-
rer Macht sich das Wesen menschlichen Handeins geändert hat; und da Ethik
es mit Handeln zu tun hat, muß die weitere Behauptung sein, daß die
veränderte Natur menschlichen Handeins auch eine Änderung in der Ethik
erforderlich macht. Und dies nicht nur in dem Sinne, daß neue Objekte des
Handeins stofflich den Bereich der Fälle erweitert haben, worauf die gelten-
den Regeln des Verhaltens anzuwenden sind, sondern in dem viel radikaleren
Sinn, daß die qualitativ neuartige Natur mancher unserer Handlungen eine
ganz neue Dimension ethischer Bedeutsamkeit aufgetan hat, die in den
Gesichtspunkten und Kanons traditioneller Ethik nicht vorgesehen war." 27

25 Vg1. W. LESCH, Ethische Argumentation imjüdischen Kontext: Zum Verständnis von


Ethik bei Emmanuel LEVlNAS und Hans JONAS, in: Freiburger Zeitschrift für Philoso-
phie und Theologie 38/1991, S. 443 - 469.
26 V g1. dazu J. WENDNAGEL, Ethische Neubesinnung als Ausweg aus der Weltkrise ? Ein
Gespräch mit dem »Prinzip Verantwortung« von Hans ]ONAS, Würzburg 1990.
27 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische
Zivilisation, FrankfurtlMain 1979, S. 15.
1. Ethik und technisch-wissenschaftliche Zivilisation 45

Diese qualitative Veränderung wird durch die kumulative Wirkung verschie-


denster Entwicklungen erzeugt, angefangen von der kritischen Verletzlich-
keit der Natur durch die technische Intervention des Menschen über die
Folgen der verlängerten Lebenserwartung für die Weltorientierung und die
gesteigerten Möglichkeiten der Verhaltenskontrolle bis hin zu den neuent-
wickelten Fähigkeiten zu genetischer Manipulation und Selektion.

Ethisch bedeutsam werden diese Entwicklungen nun nicht nur, weil sie im
Einzelfall Fragen nach dem richtigen Handeln aufwerfen, sondern weil die
darin dokumentierte Macht des Handeins als solche uns über die Begriffe
aller früheren Ethik hinaustreibr 8• Was damit auf dem Spiele steht, ist nicht
mehr die mehr oder weniger gelingende Verwirklichung des gegebenen
Bildes des Menschen, sondern das Bild des Menschen selbst, dem wir uns
verpflichtet fühlen. Die »Sphäre des Herstellens« ist damit "in den Raum
wesentlichen Handeins eingedrungen" 29. Die technischen Möglichkeiten
tangieren im Gegensatz zu ihrer früheren Reichweite heute zum einen die
Existenz der Gattung, die allein in der Lage ist, ihre Handlungen ethischen
Kriterien zu unterstellen, und zum anderen die Existenz einer Natur, die jener
Gattung das lebensermöglichende Umfeld bietet.

Darüber hinaus aber zwingt die verlorengegangene Selbstverständlichkeit


des Überlebens der Gattung Mensch auch zu einem Überdenken des Begriffes
des Menschen, dessen Existenz gefährdet erscheint. Die Bedrohung des
Menschenbildes brauchen wir demzufolge, "um uns im Erschrecken davor
eines wahren Menschenbildes zu versichern": "Wir wissen erst, was auf dem
Spiele steht, wenn wir wissen, daß es auf dem Spiele steht" 30. Die mensch-
liche Macht über die weitere Existenz des Menschen zwingt also auch dazu,
in die ethische Diskussion selbst die Frage nach der »Idee« des Menschen
aufzunehmen. Wenn die ethische Dimension nun die Fortexistenz des Men-
schen in der Welt betrifft, so wird es auch zu einer ethischen Frage, wie diese
Existenz aussehen soll und welche Kriterien erfüllt sein müssen, um über-

28 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 53.


29 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 32.
30 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 63.
46 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS

haupt von der Fortexistenz eines genuin menschlichen Lebens sprechen zu


können.
Aus dem Blickwinkel der JONAS'schen Zeitdiagnose sind das menschliche
Wollen und das moralische Sollen also durch die in qualitativ neue Dimen-
sionen ausgedehnte Macht des Menschen verbunden. Das Sollen erhält damit
die Funktion einer Selbstkontrolle der neu gewonnenen Macht des Menschen
über den Menschen: "Im Menschen hat die Natur sich selbst gestört und nur
in seiner moralischen Begabung (00') einen unsicheren Ausgleich für die
erschütterte Sicherheit der Selbstregulierung offengelassen" 31. Ethik und die
in ihr dargestellte praktische Vernunft werden damit als eine Art Gegenrnacht
gegen die ausufernde Macht der technischen Rationalität angesehen. Dem-
zufolge ist die ursprünglich auf die Sicherstellung der menschlichen Lebens-
bedingungen in einer nicht von Natur aus günstigen Umwelt gerichtete Macht
ersten Grades in eine Macht zweiten Grades umgeschlagen, indem der
Mensch im Anwachsen seiner Verfügungsgewalt über die Natur die Kontrol-
le über sich selbst verloren hat und ihm deshalb eine »selbstrnächtige« Macht
entstanden ist. Um diese Macht zu kontrollieren bedarf es einer Macht dritten
Grades, einer Macht also über jene Macht zweiten Grades, "die schon nicht
mehr die des Menschen ist, sondern die der Macht selber, ihrem vermeintli-
chen Besitzer ihren Gebrauch zu diktieren" 32.

31 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 248.


32 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 254.
2. Fundierung der Ethik durch metaphysische Subjektivität 47

2.
Die Bedrohung des Wesens des Menschen und die
Notwendigkeit einer Fundierung der Ethik durch eine
metaphysische Lehre von der Subjektivität

Damit ist die zu entwickelnde Ethik in einen bedeutend weiteren Zusammen-


hang gestellt als es das Residualproblem einer Abdeckung von offenen
Fragen der Ethik aus den Konsequenzen der gesteigerten Macht der Technik
zunächst vermuten ließ. Wenn eine neue ethische Konzeption notwendig ist,
um dem Menschen die Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens gegen
die Übergriffe seiner Macht zu bewahren33 , so wird eine solche Ethik ihren
Gehalt offenbar aus der Vorstellung einer zu erhaltenden Integrität des
Menschen in seiner Umwelt beziehen müssen, die selbst nur in einer kosmo-
logische Dimensionen erreichenden »Ersten Philosophie« zu fundieren ist.
In der Tat sieht JONAS die durch technische Rationalität erreichte »Ermäch-
tigung« des Menschen zu »schöpferischer Schicksalslenkung« in notwendig
geltende Grenzen eingeschlossen, so daß sie wesensmäßig nicht die eigene
Entstellung, Gefährdung oder Umschaffung des Menschen und seiner Welt
einschließen kann 34 .
JONAS nimmt deshalb den Versuch in Angriff, ethische Orientierung durch
den Rückgang auf philosophische Grundsatzfragen zu gewinnen, die dem
modemen Bewußtsein eher ungewohnt erscheinen könnten, bzw. die von der
problemerzeugenden Gedankenwelt der Technik relativ weit entfernt liegen.
Weil es bei den aufs äußerste gesteigerten Handlungsmöglichkeiten um das
Sein der zukünftigen Menschheit und ihrer Welt sowie um die Erhaltung des
Wesens selbst geht, deshalb muß eine angemessene ethische Konzeption auf
die Metaphysik zurückgehen, um "aus dem Sinn des, selber zwar unbegründ-
baren, Seins von 'Etwas überhaupt' vielleicht doch ein Warum für das Sollen
bestimmten Seins zu erfahren" 35. Die benötigte Metaphysik erscheint hier
als Lehre vom Sein, von der die Lehre vom Menschen einen Teilbereich

33 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 8.


34 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 74.
35 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 95.
48 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS

darstellt. JONAS übernimmt damit seinem Selbstverständnis nach die Beweis-


last für die Möglichkeit, zwei der »befestigtsten Dogmen« der Zeit außer
Kraft zu setzen: "daß es metaphysische Wahrheit nicht gibt, und daß sich aus
dem Sein kein Sollen ableiten läßt" 36. Sein genereller Einwand dagegen
lautet, daß damit bereits die Gültigkeit einer bestimmten Metaphysik voraus-
gesetzt sei, die einen bestimmten Begriff sowohl von Sein als auch von
Wissen impliziert, ohne diese Begriffe eigens zu rechtfertigen. Des näheren
besteht die Antwort von JONAS auf jene »Dogmen« in der Ausarbeitung
seiner eigenen Konzeption eines untrennbaren Zusammenhanges von Sein
und Sollen, der schließlich die geforderte Grundlegung einer der technologi-
schen Ermächtigung der Menschheit entsprechenden Ethik erlauben soll.
Da die grundsätzliche Frage einer solchen Ethik aber die nach dem sittlich
geforderten Verhalten gegenüber der grundsätzlich disponibel gewordenen
Fortdauer von Existenz und Wesen des Menschen und seiner Umwelt ist, so
ist von einer korrespondierenden Metaphysik zunächst die Stellung von
»Wert« überhaupt zu bestimmen. Die Frage steht damit nach dem ontologi-
schen und epistemischen Status von Wert37 • JONAS' Strategie nimmt zum
Ausgang einer solchen Bestimmung nun die Frage nach dem Begriff des
Zweckes und der Stellung von Zwecken im Sein.
Den ersten Schritt auf diesem Wege stellt die Rechtfertigung des Begriffes
der nach Zwecken handelnden Subjektivität gegen den physikalistischen
Reduktionismus dar. JONAS' Argumentation geht hier hauptsächlich ex ne-
gativo vor, indem zunächst zwei weitverbreitete Argumente gegen eine
eigenständige Bedeutung des Psychischen bzw. der Subjektivität entkräftet
werden, um schließlich in einem dritten Schritt positiv die Möglichkeit einer
Kausalität des Mentalen verständlich zu machen. Dem Unvereinbarkeits ar-
gument zufolge erlaubt das Deterrninationsgefüge des physikalischen Natur-
zusammenhangs keine Einmischung nicht-physischer Ursachen. Eine men-
tale Wirkungsgröße würde die physikalischen Konstanzgesetze verletzen.
JONAS wendet dagegen zunächst den idealischen Charakter der Annahme
einer unbedingten und ausnahmslosen Geltung der Konstanzgesetze ein, die

36 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 92.


37 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 101.
2. Fundierung der Ethik durch metaphysische Subjektivität 49

nur postuliert, nicht aber bewiesen werden kann 38 • Bei einem Weniger an
deterministischer Strenge, das gerade durch die neuere Entwicklung der
physikalischen Grundlagendiskussion gefordert wird, müßte dagegen der
Preis für die Einräumung psycho-physischer Wechselwirkung nicht zu hoch
sein. Der wissenschaftliche Begriff des Physischen wäre also durch mentale
Kausalität nicht notwendig zerstört.
Eine solche Kausalität wird darüber hinaus mit Hilfe einer weiteren These
bestritten, die JONAS als »Epiphänomen-Argument« bezeichnet. Untermauert
wird diese These zunächst durch die Asymmetrie im Verhältnis von Geist
und Materie: Es gibt Materie ohne Geist, aber nicht Geist ohne Materie.
Daraus könnte der Schluß gezogen werden, daß der Materie ein selbständiges
und ursprüngliches Sein zugeschrieben werden muß, dem Geist aber nur ein
bedingtes und abgeleitetes39 . Auf dieser Grundlage könnten die psychischen,
subjektiven Phänomene als physisch verursacht angesehen werden, ohne daß
ihnen selbst eine Kausalität zugeschrieben werden müßte. Sie wären damit
bloße Epiphänomene des Physischen, also Begleiterscheinungen, die ohne
Umwandlung physischer Energie in eine nicht-physische Form auftreten.
JONAS wendet dagegen zunächst ein, daß die empirische Priorität der Materie
nicht den Schluß auf eine bloße Scheinbarkeit eines aus ihr Hervorgehenden
rechtfertigt; des weiteren würde es der Idee kausaler Abhängigkeit wider-
sprechen, das Psychische nur als Wirkung und nicht wiederum als Ursache
in der Bedingungskette aufzufassen; darüber hinaus müßte das Hervorgehen-
lassen des Mentalen in diesem Falle aus dem Wesen der Materie selbst
begründbar sein, so daß ihr physikalischer Begriff nicht ihr vollständiger
Begriff sein kann. JONAS zieht bereits aus dieser immanenten Kritik an einer
Vorstellung des Psychischen als bloßer einseitiger Begleiterscheinung phy-
sischer Gehirnvorgänge den Schluß, daß diese These sich übernimmt und in
Widersprüche verwickelt, die den Begriff des Epiphänomens schon nach den
bloßen Kriterien einer Theorie überhaupt als unerlaubten Kunstgriff erschei-
nen lassen4o •

38 Vg1. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-Seele-Problem im


Vorfeld des Prinzips Verantwortung, FrankfurtlMain 1981, S. 26.
39 Vg1. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 36.
40 Vg1. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 44 - 46.
50 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS

Darüber hinaus benutzt JONAS drei weitere Kritikinstrumente, um dem Epi-


phänomen-Argument den Boden zu entziehen. Zunächst erzeugt das Argu-
ment einige grundsätzliche Rätsel. Ein erstes ontologisches Rätsel stellt die
Schöpfung aus dem Nichts dar, die für das Hervorgehen des Mentalen aus
dem Physischen ohne Investition physischen Aufwands unterstellt werden
muß. Ein zweites ontologisches Rätsel ist die bereits erwähnte Folgenlosig-
keit eines physisch Bewirkten. Ein metaphysisches Rätsel gibt die offenbar
funktionslose Existenz eines solchen »Wahnes an sich« auf, wie es die
Subjektivität als Epiphänomen des Physischen offenbar darstellt. Darüber
hinaus sieht JONAS ein logisches Rätsel in der Struktur eines sich selbst
erscheinenden Scheins, in dem ein Nichts sich in einem Nichts reflektiert41 •
Zum zweiten wendet er ein, das Epiphänomen-Argument verletze den Na-
turbegriff, auf dessen Basis es formuliert wurde, da es eine einzigartige und
völlig unerklärliche Ausnahme vom Kausal- und Konstanzgesetz in An-
spruch nehme - das dem Naturbegriff zufolge Unverletzliche werde damit
zweifach verletzt: "in Kostenlosigkeit des Hervorgangs und in Wirkungslo-
sigkeit des Daseins" 42. Das grundsätzliche Problem ist hier, wie ein Verhält-
nis ohne Wechselwirkung in einer Welt, die nur unter der Bedingung einer
universalen Gültigkeit des Prinzips der Wechselwirkung in ihrer Einheit
gedacht werden kann, zu verstehen ist43 •
Eine dritte Kritikstrategie versucht, das Epiphänomen-Argument mit Hilfe
einer »reductio ad absurdum« zu destruieren. Die Auffassung vom Mentalen
als einer selbst wirkungslosen Begleiterscheinung physiko-chemisch ver-
stehbarer Gehirnprozesse führt zu einer doppelten Absurdität. Die erste wäre
die Annahme eines in sich selbst betrügerischen Seins, das die Komödie einer
aufgrund von Zwecksetzungen agierenden Subjektivität aufführt, die in
Wahrheit nur die physikalischen Prozesse begleitet, ohne über eine eigen-
ständige Wirkungsmächtigkeit zu verfügen44 . Die zweite Absurdität liegt
darin, daß das Epiphänomen-Argument zu einer theorievernichtenden Theo-
rie führt: der Epiphänomenalismus behauptet, "die Ohnmacht des Denkens

41 Vgl. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 47 ff.


42 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 57.
43 Vgl. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 59.
44 Vgl. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 60 f.
2. Fundierung der Ethik durch metaphysische Subjektivität 51

und damit die Unfähigkeit seiner selbst, unabhängige Theorie zu sein" 45.
Damit der Vertreter dieser Theorie überhaupt einen theoretischen Geltungs-
anspruch erheben kann, muß er also zumindest für seinen Fall die eigene
Theorie außer Kraft setzen.

Für die Zwecke einer Begründung der Ethik sieht JONAS diese Kritik an den
gegen eine eigenständige Bedeutung und Wirkmächtigkeit des Mentalen
gerichteten Argumenten als ausreichend an, um plausibel zu machen, daß
psychophysische Wechselwirkung möglich und mit der übrigen Natur ver-
einbar ist. Nichtsdestoweniger stellt er auch einen eigenen Versuch zur
Lösung des psychophysischen Problems vor46 . Der geeignete Ansatzpunkt
für ein plausibles Modell einer mentalen Kausalität auf die physische Welt
scheint ihm prinzipiell dort auffindbar zu sein, wo kleinste Einwirkungen
zum Übergang von Potenzialität zu Aktualität ausreichend sind. Im Zusam-
menhang menschlicher Handlungen ist dies dort der Fall, wo das Auslöser-
prinzip in efferenten Nervenbahnen wirksam ist, also dort, wo kleinste
Verschiebungen in Neuronenbewegungen ausreichen, um Veränderungen in
der muskulären Motilität zu induzieren und somit zu unterschiedlichen
Handlungen zu führen 47.

Die psychophysische Kausalität würde sich gemäß diesem Modell in der


psychischen Herkunft der physischen Auslösungsgröße der Auswahl von
Neuronen manifestieren. Eine Verletzung der Gesetze, die den physikali-
schen Naturzusammenhang beschreiben, scheint hier durch die Minimalisie-
rung dessen, was durch genuin psychische Kausalität in der physischen Welt
verändert wird, vermieden werden zu können: "Die Kleinheit des so Erzeug-
ten würde es für jede Zählung der physischen Faktoren in der Ereignisfolge
unsichtbar machen; aber die Auswirkungen dieses Nichts in seiner Auslöser-
funktion können ungeheuer sein - zu Krieg und Frieden, Gründung und Sturz
von Reichen, Bau von Kathedralen und Atombomben, zur Begrünung oder

45 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 63.


46 Eine der wenigen Arbeiten, in denen diese Problemstellung aufgenommen wird, ist
D. STRACHAN, WHITEHEAD and Hans JONAS. Organism, Causality, and Perception,
in: International Philosophical Quarterly 1911979, S. 253 - 263.
47 Vgl. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 73.
52 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre' Hans JONAS

Verödung der Welt führen" 48. Der physische Makroverlauf würde demnach
den Anforderungen der deterministischen Physik genügen; die anfangliche
Auswahl zwischen Alternativen jedoch wäre als mental determiniert zu
verstehen. Die dafür nötige Zusatzgröße würde "in den von ihr ausgelösten
Transaktionen ganz anderer Größenordnung einfach verschwinden" - "vom
Standpunkt der Natur gesehen, wäre die tatsächlich eingeschlagene 'Rich-
tung', ... , absoluter Zufall, der als solcher nie feststellbar ist" 49.
Damit ist die psychophysische Kausalität jedoch nur in ein Modell eingefügt,
ohne den Übergang vom Psychischen zum Physischen als solchen verständ-
lich zu machen. JONAS betrachtet in diesem Zusammenhang die Einsicht, daß
unser Subjektsein wesentlich einen Doppelaspekt hat und aus Rezeptivität
und Spontaneität, Sinnlichkeit und Verstand, Fühlen und Wollen, Erleiden
und Handeln besteht, als Schlüssel zur Lösung des psychophysischen Pro-
blems. Mit dieser passiv-aktiven Doppelnatur des Psychischen beansprucht
er, die Problematik auflösen zu können, die sich für Konzeptionen einer
einsinnigen Kausalität zwischen dem Physischen und dem Psychischen un-
vermeidlich stellt, ob die Richtung der Kausalität nun vom Physischen zum
Psychischen geht (wie das Epiphänomen-Argument unterstellt) oder ob das
Psychische autonom auf das Physische einwirkt (wie die Theorie des Men-
talen gemeinhin unterstellt). Die Kausalkette kann dagegen unter dem
Doppelaspekt der Subjektivität als geschlossen angesehen werden, so daß die
Materie den Aufwand, den sie in dem als Rezeptivität und Sinnlichkeit
erfahrenen Einfluß auf das Psychische abgibt, durch die Spontaneität und das
Wollen der Subjektivität wieder zurückerhält. Die Folge wäre, daß "vom
physischen Standpunkt gesehen sich im Durchschnitt Zufluß und Abfluß
beim ganzen Phänomen der Subjektivität die Waage halten, die beiden
gegensätzlichen Verlegenheiten sich also ausgleichen" 50.
Offensichtlich ist mit diesem Modell die Möglichkeit eines Übergangs zwi-
schen Physischem und Psychischem zwar als notwendig zweiseitig darge-
stellt, nicht aber als solche verständlich gemacht. Zu diesem Zweck bietet

48 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 74 f.


49 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 75.
50 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 77.
2. Fundierung der Ethik durch metaphysische Subjektivität 53
JONAS ein Modell an, das ihm geeignet erscheint, einige wesentliche Erfor-
dernisse einer angemessenen Beschreibung des Verhältnisses von Subjekti-
vität und Materie zu erfüllen. Dieses »Bild« ist so zu beschreiben: "Am
'Rande' der physischen Dimension, der durch gewisse Organisations spitzen
wie Gehirne markiert ist, besteht eine poröse Wand, jenseits derer eine andere
Dimension liegt und durch die hindurch eine Osmose in beiden Richtungen
stattfindet, mit Priorität der vom Physischen her" 51. J ONAS ist sich durchaus
bewußt, daß es sich hier nur um ein »Bild« handeln kann, das den Charakter
einer »Metapher« hat52.
Das Modell gewinnt seine Legitimation nur aus seiner Funktion, elmge
Erfordernisse der angemessenen Beschreibung des Phänomens Subjektivität
unter Vermeidung unakzeptabler Brüche mit der physikalischen Weltauffas-
sung in plausibler Weise zu beschreiben. Über diesen »logischen Erfolg«
hinaus wird deshalb für das Modell nicht Wahrheit beansprucht: "Mein
Gefühl sagt mir, daß das richtige, wenn es überhaupt je zu haben ist, ganz
anders aussehen würde; und ich bin sicher, daß schon im Reich des freien
Entwurfs viel bessere und elegantere möglich sind, zu deren Konstruktion
ich bessere Geister hiermit auffordere" 53. Das Modell ist auch keine »wis-
senschaftliche Hypothese« - was es aufgrund seiner wesentlichen Unüber-
prüfbarkeit nicht sein kann, sondern ein »Experiment der Spekulation«54.

Das Aus- und Einsickern ist für das Physische also jeweils von zu kleiner
Größenordnung, als daß es im Einzelfall quantitativ in Erscheinung tr~ten
könnte; darüber hinaus ist es als wechselseitiger Ausgleich zu denken, so daß
die Geltung der Konstanzgesetze mit dieser Wechselwirkung vereinbart
werden kann. Nichtsdestoweniger bedeutet der Durchgang durch jene »po-
röse Wand« "jedesmal eine radikale Transformation, bei der jedes Verhältnis
der Äquivalenz, ja schon der Sinn quantitativer Zuordnung als solcher zu
bestehen aufhört" 55. In dem mentalen Intervall zwischen Input und Output

51 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a.. 0., S. 78.


52 Vgl. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 78.
53 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 83.
54 Vgl. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 84.
55 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 78.
54 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS

liegt demnach "ein Prozeß völlig anderer Ordnung als der physischen" 56. Für
das Psychische, dessen Reich dieses Intervall darstellt, gilt demnach zusam-
mengefaßt: "Von einer Kleinstmenge an Energie erzeugt, ist es imstande,
Kleinstmengen von Energie wiederzuerzeugen" 57.
JONAS sah später die Vermutung gerechtfertigt, daß im Raume quantenme-
chanischer Vorgänge der Ort sein muß, wo die geheimnisvolle Schaltung
zwischen Geist und Materie stattfindet58 . Die Quantenphysik entdeckt eine
grundsätzlich nicht zu schließende Lücke im Gewebe unseres Wissens, die
"die terra incognita in ihrem Innern hinreichend definiert, um uns wissen zu
lassen, daß in ihr nicht mehr an eine Physik eindeutiger Kausaldeterrnination
appelliert werden kann" 59. Von den beiden in Frage kommenden Aspekten
der Quantenmechanik sieht JONAS im Komplementaritätsprinzip keine Mög-
lichkeit einer Ausnutzung für die Auflösung des psychophysischen Problems.
Daß der Zustand eines Systems subatomarer Größenordnung vollständig
beschreibbar nur ist in der Sprache zweier einander ausschließender Begriffs-
schemata, die nicht äquivalent sind, sondern verschiedenen Klassen von
Daten entsprechen, dies kann die Einwirkung des Psychischen auf das
Physische schon deshalb nicht verständlich machen, da die beiden Beschrei-
bungen strikt vollständig sind und keine in die andere übergreift.
So bleibt nur das Unbestimmtheitsprinzip, um quantenmechanische Gedan-
kengänge für das psychophysische Problem fruchtbar zu machen. Dazu muß
jedoch die Vermutung herangezogen werden, "daß der Geist irgendwie die
Macht hat, die subatomare Unbestimmtheit (im Gehirn) zu seinem Zweck zu
beugen - sozusagen aus dem Spektrum rivalisierender Wahrscheinlichkeiten
den ihm genehmen Gewinner auszuwählen" 60. Darüber hinaus ist das Aus-
löserprinzip einzusetzen, um verständlich zu machen, wie solche »Entschei-
dungen« auf der quantenmechanischen Ebene das Makroverhalten determi-
nieren können61 .

56 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 79.


57 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 79 f.
58 Vgl. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, Nachtrag, a. a. 0., S. 114.
59 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 97.
60 H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 107.
61 Vgl. H. JONAS, Macht oder Ohnmacht der Subjektivität?, a. a. 0., S. 110.
2. Fundierung der Ethik durch metaphysische Subjektivität 55

Die so plausibel gemachte Wirklichkeit der Subjektivität besagt nun »Wirk-


samkeit«, d. h. "Kausalität nach innen und außen, also Kraft zur Selbstbe-
stimmung des Denkens im Denken und zur Leibesbestimmung durch es im
Handeln" 62. Damit ist eo ipso "die objektive Rolle subjektiver Zwecke im
Gesamtgefüge des Geschehens gesetzt". Hier schließt JONAS den zweiten
Schritt auf dem Weg zur Fundierung von Werten im Sein an. Weil die
Zweckhaftigkeit von Bewußtsein auf das nicht-bewußtseinsförmige Leben
und die materielle Welt zurückwirkt, deshalb kann das Entstehen von Sub-
jektivität und Zwecksetzung nicht im Sinne einer Emergenzlehre als Hervor-
brechen von etwas qualitativ Neuem gegenüber der nicht-bewußtseinsförmi-
gen Welt gedeutet werden. Es ist folglich von einer »Kontinuität« im Sein
auszugehen. Diese Kontinuität aber besagt, "daß wir uns vom Obersten,
Reichsten über alles Untere belehren lassen müssen" 63.
JONAS entnimmt daraus die Grundlage für den dritten Schritt seines Argu-
mentationsweges, dessen vorläufiges Ergebnis er folgendermaßen formu-
liert: "Das Sein, oder die Natur, ist eines und legt Zeugnis von sich ab in dem,
was es aus sich hervorgehen läßt. Was das Sein ist, muß daher seinem Zeugnis
entnommen werden, und natürlich dem, das am meisten sagt, dem offenbar-
sten, nicht dem verborgensten, dem entwickeltsten, nicht dem unentwickelt-
sten, dem vollsten, nicht dem ärmsten - also dem uns zugänglich 'Höch-
sten' " 64

62 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 127.


63 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 135 f.
64 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 136.
56 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre' Hans JONAS

3.
Die Werthaftigkeit des Seins als
objektive Grundlage ethischer Verantwortung

Die Ausgangsfrage betrifft jedoch nicht den Begriff des Zweckes, sondern
den des Wertes und seiner Position im Sein. Der Übergang von der erschlos-
senen Existenz nichtmentaler Zwecke im Sein auch jenseits des Reiches der
Bewußtheit zum Vorkommen von Werten in eben diesem Sein stellt nun den
vierten Argumentationsschritt dar. Über das bloße Vorkommen von Zweck
überhaupt im Sein hinaus gibt das Vorkommen von Leben Anzeige auf einen
bestimmten Zweck, nämlich eben das Leben als solches. Darin geschieht eine
»Befreiung« von Zweck überhaupt "zu definiten, auch subjektiv verfolgten
und genossenen Zwecken" 65. Mit ihrer Zweckhaftigkeit manifestiert die
Natur (bzw. das Sein) in der Hervorbringung von Leben ein »Wollen« und
eine »Zielorientierung«66.

In der Ethik jedoch genügt die Ausdehnung von »Zweck« in die physische
Welt als ein ihr ursprünglich eigenes Prinzip nicht. Es kommt in ihr vielmehr
auf die objektive Geltung von Werten an, die eben darum Zwecke werden
sollen67 . Nun ist für JONAS das Vorhandensein von Werten in der Natur, d. h.
daß die Natur Werte hat, direkt damit gegeben, daß sie Zwecke hat, so daß
die Natur selbst in diesem Sinne nicht» wertfrei « genannt werden kann68. Die
entscheidende Frage in der Auswertung der bisher erreichten Befunde für die
Ethik lautet jedoch, ob diese naturimmanenten Werte von den allein zu
ethischer Verpflichtung fähigen menschlichen Subjekten geteilt werden müs-
sen, so daß das Wollen der Natur und damit die Erhaltung von Leben ein die
Macht des Menschen begrenzendes Sollen darstellen muß.
Für die Beantwortung dieser für sein Unternehmen entscheidenden Frage
bietet JONAS zwei verschiedene Argumente an, denen er unterschiedliche
Stärke zuschreibt. Wir könnten darin den fünften Schritt auf dem Wege der

65 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 143.


66 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 143.
67 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 146.
68 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 148.
3. Das Sein als Grundlage ethischer Verantwortung 57

Ausarbeitung seiner neuen Ethik-Konzeption sehen. Zum ersten sieht er eine


Unmöglichkeit in der legitimen Verneinung des »Spruches der Natur«, wie
er sich in ihrer Zwecksetzung und insbesondere im Leben als dem Zweck,
wo der Zweck zu sich kommt, manifestiert. Zum einen "ist es doch wohl
qualitativ und keineswegs nur quantitativ ein sehr Anderes, ob man sich zum
tiefstgegründeten und längstbekundeten Spruche der Natur, von der auch wir
sind, in Widerspruch setzt, oder zum wankelmütigen und 'oberflächlichen'
Meinen der Menschen" 69. Zum anderen wäre für eine solche Abweichung
die Berufung auf eine außerhalb der Natur angesiedelte Instanz nötig, um
dem »Spruch der Natur« einen mit größerer Überzeugungskraft ausgestatte-
ten »Gegenspruch« entgegensetzen zu können. Diese Schwierigkeiten wür-
den jedoch noch nicht legitim die Bejahung des »Spruches der Natur«
fordern, sondern nur seine legitime Verneinung ausschließen.
Für die obligatorische Bejahung des selbstgesetzten Wertes der Natur ist
vielmehr eine Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Status
vorzunehmen. Diese Unterscheidung zwischen» Wert an sich« und» Wertung
durch jemand« bezeichnet der Begriff des »Guten«70. Die Frage nach der
Verbindlichkeit der Zwecke des Seins für den Menschen geht damit über in
die Frage nach dem "Verhältnis von Gut und Sein (von bonum und esse), mit
dessen Klärung eine Wertlehre die etwaige Verbindlichkeit von Werten zu
begründen hoffen kann, eben als Gründung des Guten im Sein" 71. JONAS'
Antwort auf diese Frage lautet sehr einfach: "In der Fähigkeit, überhaupt
Zwecke zu haben, können wir ein Gut-an-sich sehen, von dem intuitiv gewiß
ist, daß es aller Zwecklosigkeit des Seins unendlich überlegen ist" 72. Für die
Identität der Zweckhaftigkeit des Seins mit einem »Guten-an-sich« bean-
sprucht JONAS die Gewißheit einer »Selbstevidenz« bzw. einer »evidenziel-
len Intuition«73.
Die Behauptung lautet hier, daß hinter diese Identität nur um den Preis der
Annahme des Paradoxons eines zweckverneinenden Zweckes zurückgegan-

69 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 148.


70 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 149.
71 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 149.
72 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 154.
73 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 154 f.
58 ur. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS

gen werden könne. Es müßte der Wert des Zweckhabens selbst verneint
werden, der Wert der Befreiung davon würde in diesem Falle jedoch bejaht
und wiederum zum Zweck gemacht74 . Der einzige Ausweg aus der Selbst-
evidenz jener Identität von Zweckhaftigkeit und »Gut-an-sich« führte dem-
nach in eine Lehre vom Nirwana. Auf dieser Grundlage erklärt JONAS den
Satz von der Selbstbeglaubigung des Zweckes als eines Guten-an-sich im
Sein zu einem »ontologischen Axiom«75.
Das Ergebnis der Zwecklehre lag in der Erkenntnis: "Daß es dem Sein um
etwas geht, also mindestens um sich selbst, ist das erste, was wir aus der
Anwesenheit von Zwecken in ihm über es lernen können" 76. Wenn diese
Lehre nun über jenes ontologische Axiom plausibel mit dem Begriff des
Guten verbunden werden kann, so folgt der sechste und letzte Schritt in der
Begründungskette in analytischer Form. In dem Begriff eines Guten ist
bereits enthalten, daß hieraus ein Sollen folgt, wenn das »selbstgültige erste
Gute« in seiner Darstellung durch ein von ihm abgeleitetes Gut "der Existenz
nach in den Gewahrsam eines Willens gerät" 77 . Wenn wir also in der
Zielstrebigkeit des Seins als solcher eine grundSätzliche Selbstbejahung des
Seins sehen können, die es absolut als das Bessere gegenüber dem Nichtsein
setzt, und es gegen diesen »Spruch des Seins« keinen »Gegenspruch« gibt,
so ist die Erhaltung der Zweckhaftigkeit dem Sollen des Menschen übertra-
gen, sobald das zweckhafte Sein selbst in den Bereich der technischen
Ermächtigung des Menschen gerät.
Wenn die Natur selbst im organischen Leben ihr ureigenes Interesse kund-
gegeben hat, so hat sie damit auch das Gute offenbar gemacht und dem
Menschen gegenüber sein Sollen ausgesprochen. Indem mit der Existenz des
Lebens und seiner expliziten Konfrontation des Seins und des Nichtseins die
Selbstbejahung des Seins »emphatisch« wird, so erfährt der Mensch ebenso
emphatisch seine Pflicht zur Bewahrung des Lebens auch über seine eigene
Sphäre und seine eigene Zeit hinaus 78 . Deshalb gewinnt das »Ja« des Seins

74 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 154.


75 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 155.
76 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 157.
77 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 155.
78 Vgl. K.-O. APEL, The Problem 0/ a Macroethic 0/ Responsibility to the Future in the
4. Kritik zur ontologischen Fundierung ethischer Verantwortlichkeit 59

zu sich selbst eine obligatorische Kraft in der sehenden Freiheit des Men-
schen, "die als höchstes Ergebnis der Zweckarbeit der Natur nicht mehr
einfach deren weiterer Vollstrecker ist, sondern mit der vom Wissen bezoge-
nen Macht auch ihr Zerstörer werden kann" 79.

4.
Kritische Anmerkungen zu dem Versuch einer ontologischen
Fundierung ethischer Verantwortlichkeit

JONAS' Versuch, eine ontologische Grundlage für unser ethisches Wissen


über den richtigen Umgang mit der technisch zur Verfügung stehenden Macht
zu finden, kann unter zwei Vorzeichen betrachtet werden. Zum Nennwert
genommen handelt es sich um den Versuch einer Restitution vorkritischer
Ethik, der die Frage »was soll ich tun?« unabhängig von einer Untersuchung
der Frage» was kann ich wissen?« beantworten zu können glaubt. Damit kann
dieses Unternehmen jedoch die Nachfrage nach dem Charakter seiner Ver-
bindlichkeit für alle Vernunft nicht beantworten.

JONAS scheint sich dieser prekären Situation wenigstens bis zu einem gewis-
sen Grade bewußt zu sein, wenn er seine positive Konzeption über den
psycho-physischen Zusammenhang als Modell, Metapher oder Bild bezeich-
net. Ein Modell erfüllt jedoch nur dann seine Funktion, wenn es in verein-
fachter Form wirklich bestehende Zusammenhänge beschreiben kann und
auf diese Weise zu Vorhersagen führt, die einer empirischen Überprüfung
offenstehen. Von einer solchen Orientierung an einem unabhängigen Erfolgs-
kriterium kann jedoch hier nicht die Rede sein. JONAS' Aufklärung über den
psycho-physischen Zusammenhang, die eine grundlegende Funktion in sei-
ner ethischen Konzeption einnimmt, ist deshalb mehr in ihrem negativen als

Crisis ofTechnological Civilization. An Attempt to Come to Terms with Hans JONAS'


»Principle of Responsibility«, in: Man and World 2011987, S. 3 - 40.
79 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a.a. 0., S. 157.
60 ur. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS

in ihrem positiven Teil von Wert, d. h. in der Wegräumung dogmatischer


Ausschließlichkeitsansprüche des naturwissenschaftlichen Denkens.
Es fällt jedoch schwer, der Ausarbeitung der ethischen Konzeption einen
ähnlichen Kredit bezüglich ihrer ontologischen Grundlegung einzuräumen.
Die schwachen Stellen der ethischen Argumentation sind leicht zu bezeich-
nen:
(1) Die Verallgemeinerung des Zweckprinzips über das bewußte Leben
hinaus auf alle Natur ermangelt eines argumentativen Grundes, der eine
solche gewagte Behauptung einleuchten lassen könnte.
(2) Daß die Zwecke der Natur gleichzeitig als ihre Werte aufgefaßt werden
müssen, scheint JONAS selbstverständlich zu sein, setzt jedoch die Über-
brückung der Kluft zwischen Sein und Sollen bereits voraus; JONAS gibt
dafür jedoch nur den Hinweis, dieses Problem entstehe nur auf dem
Boden einer Ontologie, die sich selbst nicht als notwendig erweisen kann.
(3) Schließlich ist die Verbindung von universaler Zweckhaftigkeit der Natur
und menschlicher Verpflichtetheit über die Identifizierung des Natur-
zwecks mit einem Guten an sich eine äußerst voraussetzungsvolle Be-
hauptung.
Hier wie an vielen anderen Stellen macht J ONAS Gebrauch von einem weithin
geteilten und deshalb unproblematisch erscheinenden Vorwissen, an das er
seine ethische Konzeption anzuschließen versucht, um ihr eine allgemeine
Akzeptanz zu verschaffen. Möglicherweise gewinnt diese Konzeption des-
halb einen stärkeren Status, wenn sie mit einem geringeren Anspruch ausge-
stattet wird. Damit könnte sie zwar nicht mehr behaupten, Auskunft über das
Sollen aus einem Wissen über das Sein erhalten zu können, aber sie würde
damit der fundamentalen Kritik weitgehend entgehen. Ihr Argumentations-
erfolg würde auf diese Weise allerdings vom tatsächlichen Vorhandensein
des entsprechenden Vorwissens abhängig werden. Damit würde sie sich
jedoch in keiner grundsätzlich anderen Position befinden als alternative
ethische Konzeptionen, die ebenso darauf angewiesen sind, an ein fraglos
akzeptiertes Vorwissen anschließen zu können und insofern stets nur den
Status eines argurnenturn ad hominem beanspruchen können.
5. Verantwortung als subjektive Seite JONAS'scher Ethik 61

5.
Die Phänomenologie der Verantwortung
als subjektive Seite der JONAS'schen Ethik

Daß JONAS auch eine weit weniger weitreichende Begründungsform nicht


ablehnt, zeigt seine Erörterung der zweiten Seite seiner ethischen Konzep-
tion. Hier gelangt eine Phänomenologie zum Einsatz, die ihrer Natur nach
nicht zu ontologischen Begründungen fähig ist. Nichtsdestoweniger stellen
ihre Ergebnisse nicht nur eine beliebige Ergänzung der Theorie, sondern eine
notwendige Vervollständigung einer sonst nicht plausiblen Ethik dar. Zum
»ureigenen Sinn« des normativen Prinzips nämlich soll es gehören, daß sein
Ruf sich an solche Wesen richtet, die nach ihrer Konstitution für ihn emp-
fänglich sind, so daß dieses Hörenkönnen gerade eine Bedingung für das »du
sollst« darstellt und Menschen deshalb wesenhaft moralische Lebewesen
sind, weil sie eine solche Affizierbarkeit besitzen.
Diesen psychologischen Grund für die Fähigkeit des legitimierenden Prin-
zips, den menschlichen Willen zu bewegen, so daß überhaupt eine ethische
Handlung zustandekommen kann, sieht JONAS nun im Gefühl der Verantwor-
tung realisiert, das somit die subjektive Seite der Ethik realisiert8o . Die
JONAS'sche Konzeption als »Ethik der Verantwortung« zu bezeichnen, trifft
deshalb nur die halbe Wahrheit. Das Gefühl der Verantwortung stellt nur die
subjektive Seite einer Ethik dar, deren objektives Prinzip eine im Sein selbst
verankerte Zweckhaftigkeit ist, die als Wert und Gut an sich aufgefaßt wird 81 .
Das Verantwortungsgefühl erscheint somit als Affizierbarkeit für das an-
sich-Gute82 .
Damit ist der Ausgangspunkt und die Funktion der Untersuchung des Phä-
nomens Verantwortung bezeichnet: "Erst das hinzutretende Gefühl der Ver-
antwortung, welches dieses Subjekt an dieses Objekt bindet, wird uns seinet-

80 Vg1. H. 10NAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 163. Zum Folgenden vg1. die
Ausführungen in der Monographie von E. MÜLLER, Der Begriff der Verantwortung
bei Hans ]ONAS, FrankfurtJMain 1988.
81 V g1. E. 100s, Ethik zwischen globaler Verantwortung und spekulativer Weltschema-
tik, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 38/1990, S. 683 - 690.
82 Vg1. H. 10NAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 164.
62 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS

halben handeln machen" 83. In genetischer, typologischer und erkenntnis-


theoretischer Hinsicht sieht JONAS nun in der Sorge um den Nachwuchs den
elementar-menschlichen Urtyp des Zusammenfallens von objektiver Verant-
wortlichkeit und subjektivem Verantwortungsgefühl 84 • Darüber hinaus
nimmt die phänomenologische Untersuchung noch die Gestalt des Staats-
mannes als eminentes Paradigma des Phänomens Verantwortung zum Ge-
genstand. Beide Paradigmen zusammen sollen nun in der Lage sein, eine
integrale Darstellung des Urphänomens der Verantwortung zu geben85 •
Das zeitlose Urbild aller Verantwortung aber sieht JONAS in der elterlichen
Verantwortung für das Kind. Seine Intention ist dabei, in diesem Verhältnis
eine vorgesellschaftliche und kulturunabhängige Evidenz für das universelle
Vorkommen jener moralischen Affizierbarkeit zu finden, die als notwendi-
ges Komplement des an-sich-Guten die ethische Dimension vervollständigt.
JONAS' Beschreibung zufolge vereinigt jenes Urbild zwei Charaktere, die die
Theorie traditionell streng getrennt hielt. Mit dem Eltern-Kind-Verhältnis
soll ein »ontisches Paradigma« gegeben sein, in dem ein Sollen und ein Sein
unmittelbar vereinigt sind: "Ich meine wirklich strikt, daß hier das Sein eines
einfach ontisch Daseienden ein Sollen für andere immanent und ersichtlich
beinhaltet, und es auch dann täte, wenn nicht die Natur durch mächtige
Instinkte und Gefühle diesem Sollen zuhilfe käme,ja meist das Geschäft ganz
abnähme" 86. Jenes Verhältnis wird deshalb "nicht nur zum empirisch ersten
und intuitiv offenbarsten, sondern auch zum gehaltlich vollkommensten
Paradigma, buchstäblich zum Prototyp eines Objektes der Verantwor-
tung" 87.

JONAS entnimmt der Phänomenologie des Verantwortungsgefühls nun die


Legitimation, von der moralischen Affizierbarkeit als einem universalen
Merkmal der Gattung Mensch zu sprechen. Indem die Verantwortungsfahig-
keit zum Wesen des Menschen gehört, ist auch die psychologische Basis für
das Verpflichtetsein durch ein Gut-an-sich prinzipiell beijedem vorauszuset-

83 R. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 170.


84 Vgl. R. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 171, S. 234.
85 Vgl. R. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 183.
86 R. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 235.
87 R. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 236.
5. Verantwortung als subjektive Seite JONAs'scher Ethik 63

zen. Die spezifische Auszeichnung dieses Paradigmas, das es zu seiner


Begründungsfunktion für die Ethik befcihigt, steht nun gleichzeitig in einem
engen Verhältnis zu der Zweckhaftigkeit der Natur, die als Wert zu einem
verpflichtenden Gut-an-sich wird. Jene Auszeichnung nämlich liegt "in dem
einzigartigen Verhältnis zwischen Besitz und Nichtbesitz des Daseins ... , das
nur dem beginnenden Leben eigen ist". Darin liegt, daß "die Ursächlichkeit
seiner Erzeugung, als eine auch erst begonnene, zu jener Fortsetzung ver-
pflichtet, die eben der Inhalt der Verantwortung ist" 88. Mit der Forderung
des zu unabhängiger Existenz noch nicht fähigen Säuglings wird ein »imma-
nentes Seinsollen« zum "transitiven Tunsollen Anderer, die allein dem so
verkündeten Anspruch laufend zu seinem Recht verhelfen und die allmähli-
che Wahrmachung des ihm mitgegebenen teleologischen Versprechens er-
möglichen können" 89.
Das allgemeine Ergebnis der Phänomenologie des Verantwortungsgefühls
lautet demnach: "Verantwortung im ursprünglichsten und massivsten Sinn
folgt aus der Urheberschaft des Seins" 90. Urheberschaft wird dabei nicht als
punktuelles Ereignis verstanden, sondern als ein kontinuierliches Verhältnis,
das vorliegt, sobald Leben seinem bloßen Dasein nach von menschlicher
Macht abhängt. Damit schließt sich die Phänomenologie des Verantwor-
tungsgefühls, das die subjektive Seite der Ethik darstellt, mit der ontologi-
schen Axiologie zusammen, die die Zweckhaftigkeit des Seins als Gut-an-
sich entwickelt hatte, und somit die objektive Seite der Ethik repräsentiert.
Die Einheit von Sein und Sollen sieht JONAS demzufolge nicht nur auf der
objektiven Seite argumentativaufweisbar, sondern auch auf der subjektiven
Seite als phänomenaler Befund einleuchten. Offensichtlich wird für die
subjektive Seite jedoch eine weit bescheidenere Begründungsweise in An-
spruch genommen als für die objektive Seite. Möglicherweise kann die
Phänomenologie des Verantwortungsgefühls jedoch etwas mehr Plausibilität
beanspruchen als die in vieler Hinsicht problematische Verankerung von
Werten im Sein.

88 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 236.


89 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 240.
90 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 241.
64 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre' Hans JONAS

6.
Der Gehalt der ethischen Verantwortlichkeit
nach der JONAS'schen Ethikkonzeption

Die Quintessenz der JONAS'schen Ethikkonzeption für eine den technologi-


schen Möglichkeiten des gegenwärtigen Zeitalters angemessene Moral könn-
te nun so formuliert werden: Die Erhaltung von Leben als solchem wird zur
unbedingten Pflicht, sobald es durch gesteigerte Macht unter die Verfügungs-
gewalt des Menschen gerät. Dies ist zum einen das Ergebnis der ontologi-
schen Wertlehre, die die Erhaltung der Zweckhaftigkeit des Seins insbeson-
dere in seinem eminenten Modus, dem menschlichen Leben, zu einem
Gut-an-sich macht. Zum anderen ist dies der Phänomenologie des Verant-
wortungsgefühls zu entnehmen, die die Universalität der Affizierbarkeit
durch ein Gut-an-sich auf das ursprüngliche Verpflichtetsein gründet, das die
Existenz von menschlichem Leben von sich aus erzeugt, sobald sie von dem
Gebrauch menschlicher Macht abhängig wird. Daraus läßt sich für den Fall
extrem gesteigerter technologischer Verfügungsmacht die Bewahrung der
Existenz der Menschheit als »erstes Gebot« ableiten 91 • Der JONAS'sche
kategorische Imperativ drückt demnach das Gebot aus, daß es Menschen
gebe92 .
Für die ethische Handlungsorientierung läßt sich dieser Imperativ nun in
verschiedenen Formulierungen präzisieren:
- "Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der
Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden."
- "Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind
für die künftige Möglichkeit solchen Lebens."
- "Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der
Menschheit auf Erden."
- "Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Men-
schen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein" 93.

91 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 186.


92 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 91 f.
93 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 36.
6. Gehalt ethischer Verantwortlichkeit nach JONAS 65

Offensichtlich sind auch diese Ausformulierungen des generellen Imperativs


der Verantwortungsethik noch nicht geeignet, konkrete Anleitungen zum
ethischen Handeln in Fragen von zukunftsbestimmender Größenordnung zu
geben. Was hier geboten ist, dies läßt sich nur mit Hilfe von Informationen
technischer und wissenschaftlicher Art ausfindig machen: "Die konkreten
neuen Pflichten selber sind schon deshalb noch in kein System zu bringen,
weil sie im Widerspiel mit den neuen Tatsachen technologischer Praxis
gerade erst sichtbar zu werden beginnen" 94.
Die einzige konkretere Pflicht, die aus dem Imperativ der Bewahrung der
Möglichkeit künftigen Lebens unmittelbar zu entnehmen ist, betrifft eben
jene Informationen über die neuen Tatsachen technologischer Praxis. Zwi-
schen das »Idealwissen« der ethischen Prinzipienlehre und das praktische
Wissen bezüglich der Anwendung muß ein »Real- und Eventualwissen« über
die extrapolierbaren zukünftigen Zustände des Menschen und der Welt
treten95 . Dieses Wissen zu beschaffen erscheint nun als die erste Pflicht der
Zukunftsethik96 .
Da das abstrakte Wissen um die Fernwirkungen von Handlungen nicht
ausreicht, um die den ethischen Prinzipien genügenden Korrekturen zu
motivieren, ist darüber hinaus eine zweite Pflicht gegeben, die »Aufbietung
des dem Vorgestellten angemessenen Gefühls«97. Diese Pflicht gebietet, uns
zu der »passenden Furcht« anzuhalten, die, da die zu befürchtenden Wirkun-
gen der hier zu behandelnden Handlungsarten die Akteure selbst nicht
betreffen werden, nicht von selbst als emotionale Reaktion erzeugt wird.
JONAS empfiehlt deshalb eine »aufspürende Heuristik der Furcht«, in der das
Fürchten selber "zur ersten, präliminaren Pflicht einer Ethik geschichtlicher
Verantwortung" wird98 . Damit hat diese Heuristik auch die positive Funktion,
ihre Objekte überhaupt erst zu entdecken und sodann das entsprechende
sittliche Interesse mit sich selbst bekannt zu machen. Was es zu schützen gilt
und was entsprechend die konkreten Pflichten sind, ist erst aus dem emotio-

94 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 390.


95 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 62.
96 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 64.
97 Vgl. H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 65.
98 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 392.
66 III. Verantwortlichkeit· Ontologische Wertlehre· Hans JONAS

nal begleiteten Bewußtsein der Bedrohung zu erfahren; erst dies lehrt uns
"durch die dem Wissen vorauseilende Auflehnung des Gefühls, den Wert zu
sehen, dessen Gegensatz uns so affiziert" 99.
JONAS' Ethikkonzeption gewinnt ihren Charakter durch die Orientierung an
einem besonderen Problembereich und den ethischen Fragen, die darin
aufgeworfen werden. Jener Problembereich erscheint als historisch neuartig
und diese ethischen Fragen als durch keine bisher existierende Ethik beant-
wortbar. Kritische Fragen an seine Konzeption können deshalb nach drei
Richtungen gestellt werden. Zunächst kann die innere Schlüssigkeit und die
Überzeugungskraft der Theorie geprüft werden. Daß die objektive Seite des
Begründungsangebotes hier zu erheblichen Zweifeln berechtigt, ist nicht zu
übersehen. Ob die subjektive Seite, also die Phänomenologie des Gefühls der
Verantwortung, bessere Aussichten eröffnet, wäre zu prüfen. Nach einer
zweiten Richtung könnte die These von der prinzipiellen Neuartigkeit des
zugrundeliegenden Problems infrage gestellt werden. Schließlich wäre in
einer dritten Richtung nach möglichen Alternativen zu fragen, die in der Lage
sein könnten, jenes Problem in eine konkurrierende ethische Konzeption
aufzunehmen.

99 H. JONAS, Das Prinzip Verantwortung, a. a. 0., S. 63.


IV.
Ethische Verantwortlichkeit auf der Grundlage
von Selbstbestimmung und Freiheit:
Immanuel KANT

1.
Das Problem der Bestimmung eines guten Willens
als Ausgangsfrage der KANTischen Ethik

Zunächst soll mit Hilfe der ethischen Argumentationen von I. KANT versucht
werden, zu einer näheren Klärung der Unterscheidung ethischer Handlungs-
anweisungen von Normen nicht-ethischer Art zu gelangen. Auf diese Weise
kann das Konzept der Verantwortung näher bestimmt und in seinem ethi-
schen Gehalt definiert werden. Es ist also die KANTische Ethik darauf hin zu
untersuchen, ob und welche Maßstäbe sie zur Verfügung stellen kann, mit
denen entschieden werden kann, ob es sich bei einer Handlungsorientierung
um eine ethische handelt oder ob diese auf einer anderen, nicht-ethischen
Norm beruht. Auf dieser Grundlage kann dann näher untersucht werden, wie
eine genuin ethische Verantwortung aussehen muß und durch welche Krite-
rien sie sich v.on Formen der Verantwortung unterscheiden läßt, die wir nicht
als ethische zu bezeichnen bereit sein werden.

Daß KANTs Ethik jedoch überhaupt für eine Klärung des Konzeptes der
Verantwortung und damit des spezifisch ethischen Charakters von Normen
geeignet sein könnte, scheint zunächst zweifelhaft, wenn KANT in seiner
»Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« die Argumentation mit dem Satz
beginnt: "Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben
zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden,
68 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Imrnanuel KANT

als ein guter Wille." 100 Damit scheint der ethische Charakter in die Inner-
lichkeit der vor einer Entscheidung stehenden Person verlegt zu werden und
der Weg zu einer Klärung des Konzeptes der Verantwortung von vornherein
verbaut zu sein lOI •
KANT benutzt diesen Ausgangspunkt jedoch gerade, um den Charakter
dessen, was ethisch heißen kann, zu klären und von anderen Handlungsorien-
tierungen zu unterscheiden l02 • Dies zeigt sich vor allem dann, wenn KANT
andere Phänomene untersucht, denen wir das Prädikat »gut« zuschreiben lO3 •
KANT nennt hier
(1) die »Talente des Geistes« wie
Verstand, Witz und Urteilskraft,
(2) die »Eigenschaften des Temperaments« wie
Mut, Entschlossenheit und Beharrlichkeit, und
(3) die »Glücksgaben« wie
Macht, Reichtum, Ehre und Gesundheit.
Das Problem mit diesen Phänomenen ist, daß diese keinen unbedingten
inneren Wert haben, weil sie nicht in jedem Falle »gut« heißen können. Es
besteht sogar die Möglichkeit, daß diese Phänomene selbst »böse« werden
können, wenn sie für nicht zu billigende Zwecke eingesetzt werden können.
KANT nennt hier etwa den Mut eines Verbrechers, dessen Vorhandensein den
letzteren nicht unbedingt zu einem besseren Menschen macht. Solche Phä-
nomene sind also von den Intentionen und Zielen abhängig, für die sie
eingesetzt werden.
Anders verhält es sich jedoch mit einem guten Willen lO4 • Für ihn gilt nach
KANT: "Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet,

100 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 393 (KANTs Werke werden zitiert
nach der Akademie-Ausgabe - abgekürzt AA - der Preußischen Akademie der
Wissenschaften, Berlin 1902 ff.).
101 Vgl. dazu H. KÖHL, KANTS Gesinnungsethik, Berlin 1990, S. 5 f.
102 Vgl. F. KAULBACH, Immanuel KANTs »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«.
Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988, S. 17 ff.
103 Vgl. dazuH. KÖHL, KANTsGesinnungsethik, Berlin 1990, S. 28 f; sowieTh. NrsTERs,
KANTs Kategorischer Imperativ als Leitfaden humaner Praxis, FreiburglMünchen
1989, S. 194 ff.
104 Vgl. zum Folgenden H. J. PATON, Der Kategorische Imperativ, Berlin 1962, S. 35
f.
1. Problem der Bestimmung eines guten Willens 69

nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten


Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich gut." 105 Der Wille
allein kann also im eigentlichen Sinne »gut« heißen, weil nur hier die
Differenz nicht auftritt, die bei den Temperamenten, Talenten und Glücks-
gaben es nicht erlaubt, sie schon als solche »gut« zu heißen. Der Wille wird
von KANT definiert als "Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt
sind" 106. Wenn er also »gut« war, so bleibt er dies auch dann, wenn auf der
Grundlage dieses Willens in der Außenwelt ganz andere Wirkungen erreicht
werden, als eigentlich gewollt waren 107. Selbst wenn diese Wirkungen
»schlecht« oder »böse« genannt werden können, so betrifft dies doch den
Willen selbst nicht. Da ihm die Folgen der Veränderungen in der Außenwelt
nicht zugerechnet werden können, so kann er auch bei der Bösartigkeit
nicht-intendierter Nebenwirkungen immer noch »gut« heißen. Wenn demzu-
folge bei KANT von einer Ethik des guten Willens und damit von einer Ethik
der Innerlichkeit die Rede sein kann und dies kritisch gegen diese Konzeption
eingewandt wurde, so darf doch nicht die argumentative Bedeutung dieses
ersten Schrittes in KANTs Ethik vergessen werden. Wenn diese Grundlage
berücksichtigt wird, so läßt sich durchaus verstehen, daß KANT den guten
Willen als Ausgangspunkt seiner Ethik benutzen will.
Mit dem guten Willen als Ausgangspunkt sind jedoch auch schon Vorent-
scheidungen gefällt, die den weiteren Argumentationsweg der KANTischen
Ethik bestimmen. Die entscheidende Frage lautet nun, wodurch denn ein
guter Wille bestimmt ist. Wenn hier Kriterien angegeben werden können, so
wären damit auch Kriterien gefunden, die eine ethische Handlungsorientie-
rung von einer Orientierung auf der Grundlage nicht-ethischer Normen
unterscheiden könnten. Es wäre also gefunden, was das spezifisch Ethische
ausmacht.
Wenn der Wille nun das bleiben soll, was allein »gut« heißen kann, so kann
er durch nichts bestimmt werden, was außer ihm selbst liegt. Er darf also nicht
durch Absichten oder durch Wirkungen bestimmt werden, da eine solche

105 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 393/394.


106 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 394.
107 Vgl. H. KÖHL, KANTS Gesinnungsethik, Berlin 1990, S. 11 f.
70 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung' Freiheit· Immanuel KANT

Bestimmung ihn auf die gleiche Ebene stellen würde wie die Temperamente,
Talente und Glücksgaben. Er wäre damit abhängig von der »Güte« dieser
Absichten und Wirkungen, die wiederum aufgrund nicht-intendierter Neben-
wirkungen auch »böse« sein können und den Willen gerade der Auszeich-
nung berauben würden, aufgrun~ derer er allein nach KANT gut heißen kann:
daß seine »Güte« unabhängig von allem ist, was jenseits des Willens selbst
ist. Der Stand der KANTischen Argumentation kann danach so formuliert
werden: Wenn der Wille bestimmt wird, so kann er nur dann den Status einer
Grundlage der Ethik behalten, wenn diese Bestimmung nur durch das for-
melle Prinzip des Wollens überhaupt geschieht.
Damit ist eine Bestimmung durch ein materielles Prinzip ausgeschlossenlO8•
Hier zeigt sich die Bedeutung der KANTischen Unterscheidung zwischen
»kategorischen« Imperativen und »hypothetischen« Imperativen. Ein hypo-
thetischer Imperativ sagt, "daß die Handlung zu irgend einer möglichen oder
wirklichen Absicht gut sei" 109. Ein kategorischer Imperativ dagegen erklärt
eine Handlung für notwendig, ohne daß die Beziehung auf eine Absicht bzw.
einen Zweck dafür eine Rolle spielt. Genau dies aber ist notwendig, damit
der gute Wille die Auszeichnung behalten kann, durch die allein er »gut« im
eigentlichen Sinne heißen kann. Die Bestimmung eines solchen Willens muß
also »kategorisch« sein, und d. h. sie muß in völliger Unabhängigkeit von
allem geschehen, was außerhalb des reinen Willens selbst liegt. Damit ist
jenes »formelle Prinzip« des Wollens überhaupt näher charakterisiert, das
allein geeignet erscheint, um einen guten Willen bestimmen zu können 110.

Wenn der Wille nun bestimmt werden soll und in dieser Bestimmung die
Kriterien gefunden werden sollen, die das spezifisch Ethische ausmachen, so
ist nach einem Gesetz gesucht, das keinen materiellen Gehalt in sich hat. Auf
der Grundlage eines guten Willens zu handeln, kann also nicht heißen, den
Willen durch Gesetze bestimmen zu lassen, die materielle Handlungsrege-
lungen angeben. KANT kommt deshalb zu dem Schluß: "Es kann daher nichts

108 Vgl. zum Folgenden H. KÖHL, KANTs Gesinnungsethik, Berlin 1990, S. 18 ff.
109 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 414/415.
110 Vgl. A. DORSCHEL, Die idealistische Kritik des Willens: Versuch über die Theorie
der praktischen Subjektivität bei KANT und HEGEL, Hamburg 1992, S. 60 ff.
1. Problem der Bestimmung eines guten Willens 71

anders als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, die freilich nur im
vernünftigen Wesen stattfindet, sofern sie, nicht aber die verhoffte Wirkung
der Bestimmungsgrund des Willens ist, das so vorzüglich Gute, welches wir
sittlich nennen, ausmachen, welches in der Person selbst schon gegenwärtig
ist, die danach handelt, nicht aber allererst aus der Wirkung erwartet werden
darf." 111 Die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst kann sich in diesem
Zusammenhang nur auf das interne und endogen bestimmte Gesetz eines
guten Willens beziehen.
Da ein solcher Wille aber gerade nicht durch materielle Prinzipien bestimmt
sein darf, da er sonst in die Abhängigkeit von Wirkungen in der Welt geraten
würde, die seine einzigartige Auszeichnung wieder dementieren würden, darf
ein solches Gesetz durch keine materiellen Gehalte bestimmt sein oder sich
auf materielle Gehalte beziehen 112. Damit gerät die KANTische Argumenta-
tion in die Schwierigkeit, eine Bestimmtheit für ein solches Gesetz finden zu
müssen, die auf keinen Gehalt Bezug nehmen darf. KANT löst dieses Problem
nun auf eine Weise, die den Zusammenhang seiner Ethik folgenreich präfi-
guriert. Im Grunde ist mit dieser Lösung die ganze KANTische Ethik schon
in nuce gegeben.
Die Bestimmtheit, die dem reinen Willen ein Gesetz geben können soll, kann
nunmehr nur der bloßen Form der Gesetzmäßigkeit entnommen werden.
KANT formuliert diesen zentralen Gedanken seiner Ethik so: "Da ich den
Willen aller Antriebe beraubt habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines
Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmä-
ßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum
Prinzip dienen soll, d. i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch
wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden." 113
Damit sieht KANT das expliziert, was bereits im argumentativen Anfang der

111 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 401.


112 Dies schließt nicht aus, daß eine moralische Handlung auch einen materiellen Zweck
verfolgen kann. Sie kann jedoch nicht aufgrund eines solchen Zweckes »gut« heißen:
"Handlungen!Absichten haben ihre Güte überhaupt nicht durch die Güte eines
Handlungszweckes (einer Materie), sondern durch die Güte des Wollens: durch seine
Verallgemeinerbarkeit." (H. KÖHL, KANTS Gesinnungsethik, Berlin 1990, S. 22).
113 Grundlegung der Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 4011402.
72 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm

»Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« mit der Charakterisierung des


Willens als des einzigen Phänomens, dem das Prädikat »gut« zugeschrieben
werden kann, angelegt war. Das Ergebnis dieser Explikation lautet also
zunächst: "Hier ist nun die bloße Gesetzmäßigkeit überhaupt (ohne irgend
ein auf gewisse Handlungen bestimmtes Gesetz zum Grunde zu legen) das,
was dem Willen zum Prinzip di~nt." 114

2.
Der kategorische Imperativ als Ausdruck einer
»unbedingten« Bestimmung des Willens

Mit diesem argumentativen Schritt ist im Grunde schon der kategorische


Imperativ als Ausformulierung des Ergebnisses der KANTischen Ethik er-
reicht. In einem Imperativ muß die Ethik deshalb ausgedrückt werden, weil
in der Welt der Menschen der gute Wille nicht apriori als bestimmt durch
die reine Form der Gesetzmäßigkeit vorhanden gedacht werden kann. KANT
verwendet deshalb den Begriff der »Pflicht«, "der den eines guten Willens,
obzwar unter gewissen subjektiven Einschränkungen und Hindernissen, ent-
hält, die aber doch, weit gefehlt, daß sie ihn verstecken und unkenntlich
machen sollten, ihn vielmehr durch Abstechung heben und desto heller
hervorscheinen lassen" 115. Man könnte also den Pflichtbegriff als den Begriff
eines guten Willens charakterisieren, wie er unter menschlichen Bedingun-
gen vorkommt l16 . Von »Pflicht« ist also die Rede, weil der Wille unter
menschlichen Verhältnissen nicht von vornherein als »gut« angesehen wer-
den kann, sondern auch durch sinnliche Anreize und durch Bestimmungs-
gründe determiniert ist, die nicht aus der reinen Form der Gesetzmäßigkeit
stammen. Aufgrund der menschlichen Unvollkommenheit erscheint das, was
allein gut heißen kann, also als ein Gebot, d. h. als Pflicht, und nicht in ver-

114 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 402.


115 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 397.
116 Vgl. dazu näher H. KÖHL, KANTs Gesinnungsethik, Berlin 1990; sowie H. J. PATON,
Der Kategorische Imperativ, Berlin 1962, S. 41 ff.
2. Kategorischer Imperativ als »unbedingte« Willens-Bestimmung 73

wirklichter Form als ein rein durch die Form der Gesetzmäßigkeit bestimmter
Wille.

Folglich muß das, was gut heißen kann, durch ein Gebot ausgedrückt werden.
Genau deshalb drückt KANT das Ethische in einem Imperativ aus: "Die
Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend
ist, heißt ein Gebot (der Vernunft), und die Formel des Gebots heißt IMPERA-
TIV." 117 Bei KANT heißt Imperativ also die Formulierung eines Sollens.
Daraus kann für die Ausgangsfrage nach der KANTischen Qualifizierung des
Ethischen im Unterschied zu anderen Normorientierungen zunächst festge-
hillten werden, daß für KANT nur dann von einer ethischen Handlungsorien-
tierung die Rede sein kann, wenn die Handlung sich an einem Sollen
orientiert, das in einem Imperativ formuliert werden kann, der sich durch die
reine Form der Gesetzmäßigkeit bestimmt. Ethisch ist eine Handlung also
dann, wenn sie einem Imperativ folgt, der als ein Sollen an den Handelnden
herantritt, das nicht durch ein materielles Prinzip bestimmt wird.

Imperative sind also im KANTischen Verständnis "Formeln, das Verhältnis


objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkom-
menheit des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des
menschlichen Willens, auszudrücken" 118. In einem kategorischen Imperativ
wird das Prinzip des Ethischen nun deshalb formuliert, weil die Bestimmung
des Willens nur dann ethisch ist, wenn sie unbedingt, d. h. ohne Vorbehalt
materieller Gehalte erfolgt. Ein kategorischer Imperativ kann deshalb nur auf
der Grundlage der reinen Form der Gesetzmäßigkeit formuliert werden, die
der einzige Gehalt der Bestimmung eines reinen Willens sein kann.

KANT beansprucht deshalb, nur aus dem Begriff eines »kategorischen Impe-
rativs« auch dessen Formel entwickeln zu können, so daß im Grunde mit der
Explikation dessen, was KANT zufolge allein gut heißen kann, nämlich des
»guten Willens«, auch schon das Prinzip der Ethik ausgearbeitet ist. KANT
formuliert: "Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich
sofort, was er enthalte." 119 Daß ein Imperativ also beansprucht, kategorisch

117 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 413.


118 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 414.
119 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 420.
74 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KANT

zu verpflichten, läßt nur noch eine einzige Möglichkeit zu seiner Bestimmung


offen. Im Gegensatz dazu stünden im Falle hypothetischer Imperative eine
Fülle prinzipiell unendlicher Möglichkeiten zur Bestimmung des Gehalts
eines Imperativs zur Verfügung 120. Solche Imperative können nach KANT
jedoch nicht die Bedingungen des Ethischen erfüllen. Wenn der allein ethi-
sche Imperativ nun deshalb kategorisch genannt werden kann, weil er durch
keine inhaltliche Determinanten bestimmt ist, so formuliert der kategorische
Imperativ folglich die Form der Gesetzlichkeit, durch die allein sich ein guter
Wille bestimmen kann, ohne in Abhängigkeit von äußeren Verhältnissen zu
geraten, durch die er gerade seine Auszeichnung verlieren würde, unabhängig
von nicht-intendierten »bösen« Nebenfolgen in der Außenwelt als eigentlich
»gut« bezeichnet werden zu können.

Der kategorische Imperativ als Gesetz des guten Willens kann demzufolge
nur die Allgemeinheit des Gesetzes selbst ausdrücken. Seine allgemeine
Formel lautet dementsprechend: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch
die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde." 121 Der
kategorische Imperativ ist also nur einer, und aus ihm können alle Imperative
der Pflicht als aus ihrem Prinzip abgeleitet werden. Für den Charakter. des
Ethischen ergibt sich daraus: Als ethisch kann nur eine solche Handlungs-
orientierung gelten, deren Grundlage in einer Maxime des Handeins liegt, die
mit dem kategorischen Imperativ als ihrer inneren Form übereinstimmt 122 .
Weil der kategorische Imperativ diejenige Unbedingtheit ausdrückt, die für
eine Bestimmung des guten Willens allein infrage kommt, deshalb kann auch
gesagt werden, daß der kategorische Imperativ bloß die »Form des Wollens«
enthält.
Was der kategorische Imperativ enthält, wird noch deutlicher, wenn die
Umformulierungen betrachtet werden, die KANT zur Explikation herangezo-

120 Vgl. zur Unterscheidung der beiden Arten von Imperativen L. H. WILDE, Hypothe-
tische und kategorische Imperative, Bonn 1975, S. 11 ff.
121 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 421.
122 Zum Begriff und zur Bedeutung von »Maximen« in der KANTischen Ethik vgl. H.
KÖHL, KANTs Gesinnungsethik, Berlin 1990, S. 45 ff; sowie Th. NISTERS, KANTs
Kategorischer Imperativ als Leitfaden humaner Praxis, FreiburglMünchen 1989, S.
84 ff.
3. Kategorischer Imperativ und der Mensch als Selbst-Zweck 75

gen hat. Darüber hinaus kommt eine dieser Umforrnulierungen auch bereits
nahe an den Zusammenhang zwischen dem spezifisch Ethischen nach der
KANTischen Auffassung und dem Begriff der Verantwortung heran, der als
Grundbegriff einer unternehmens ethischen Konzeption bezeichnet werden
kann. Zunächst identifiziert KANT die Allgemeinheit des Gesetzes, die allein
für die Bestimmung eines guten Willens infrage kommt, mit dem Begriff der
Natur im Sinne eines Zusammenhanges von Naturgesetzen (Natur der Form
nach) 123. Daraus ergibt sich die erste UmformuIierung des kategorischen
Imperativs: "Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen
Willen zum ALLGEMEINEN NATURGESETZ werden sollte." 124
Damit wird allerdings nicht verlangt, den Willen einem Naturgesetz zu
unterwerfen, sondern es wird die einem Naturgesetz zukommende Form der
Allgemeinheit benutzt, um die Form der Allgemeinheit, die der ethischen
Bestimmung des Willens im kategorischen Imperativ zukommt, näher zu
bestimmen 125 • Diese Allgemeinheit entspricht der Allgemeinheit eines Na-
turgesetzes; deshalb wird dann ethisch gehandelt, wenn die Handlungsmaxi-
me so bestimmt ist, »als ob« sie zu einem allgemeinen Naturgesetz werden
sollte. Eine Vermengung von Sein und Sollen findet hier also nicht statt.

3.
Der kategorische Imperativ und der
Mensch als Zweck an sich selbst

Eine zweite und im Zusammenhang der Frage nach dem Ethischen wichtigere
Umformulierung erreicht KANT durch eine Problematik, die er durch die
Aufstellung des kategorischen Imperativs noch nicht aufgelöst sieht. Es
wurde zunächst expliziert, daß das Ethische nur durch einen kategorischen
Imperativ ausgedrückt werden kann, und es wurde der Gehalt dieses Impera-

123 Natur heißt für KANT "das Dasein der Dinge, sofern es nach allgemeinen Gesetzen
bestimmt ist" (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 421).
124 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 421.
125 V gl. L. H. WILDE, Hypothetische und kategorische Imperative, Bonn 1975, S. 80 ff.
76 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung' Freiheit· Immanuel KAm

tivs als reine Form der Gesetzmäßigkeit bestimmt. Es bleibt jedoch noch ein
Argumentationsdefizit, das KANr so sieht: "Noch sind wir aber nicht so weit,
apriori zu beweisen, daß dergleichen Imperativ wirklich stattfinde, daß es
ein praktisches Gesetz gebe, welches schlechterdings und ohne alle Triebfe-
dern für sich gebietet, und daß die Befolgung dieses Gesetzes Pflicht sei." 126
Im Grunde ist also der Charakter des Ethischen bisher nur so weit geklärt,
daß gewußt wird, wie eine ethische Verpflichtetheit aussehen muß und
welchen Formen sie folgen muß; es ist aber noch nicht nachgewiesen, daß
eben diese Verpflichtetheit tatsächlich besteht.

Für den argumentativen Zusammenhang der KANTischen Ethik und deren


Unterschied zu anderen ethischen Positionen ist es wichtig zu sehen, daß der
nun geforderte Nachweis nicht mit Hilfe von Eigenschaften der menschlichen
Natur geführt werden kann. Dies ergibt sich aus dem kategorischen Charakter
des Imperativs, der als Prinzip der Ethik abgeleitet wurde. Eine Abhängigkeit
des Grundsatzes der Ethik von der Natur des Menschen würde den Imperativ
zu einem hypothetischen machen, also zu einem bedingten, der nur mit Bezug
auf die faktische Natur des Menschen Gültigkeit besäße. KANT setzt sich
damit von allen ethischen Konzeptionen ab, die ethische Gebote aus der Natur
des Menschen ableiten wollen, und erklärt bereits den Ansatz solcher Kon-
zeptionen für widersinnig.
Für die Zwecke einer solchen Unterscheidung ist das folgende Zitat auf-
schlußreich: "Was dagegen aus der besondern Naturanlage der Menschheit,
was aus gewissen Gefühlen und Hange, ja sogar womöglich aus einer
besonderen Richtung, die der menschlichen Vernunft eigen wäre und nicht
notwendig für den Willen eines jeden vernünftigen Wesens gelten müßte,
abgeleitet wird, das kann zwar eine Maxime für uns, aber kein Gesetz
abgeben, ein subjektives Prinzip, nach welchem wir handeln zu dürfen Hang
und Neigung haben, aber nicht ein objektives, nach welchem wir angewiesen
wären zu handeln, wenngleich aller unser Hang, Neigung und Natureinrich-
tung dawider wäre, sogar, daß es um desto mehr die Erhabenheit und innere
Würde des Gebots in einer Pflicht beweiset, je weniger die subjektiven Ursa-

126 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 424/425.


3. Kategorischer Imperativ und der Mensch als Selbst-Zweck 77

chen dafür, je mehr sie dagegen sind, ohne doch deswegen die Nötigung
durchs Gesetz nur im mindesten zu schwächen und seiner Gültigkeit etwas
zu benehmen." 127

Gerade die Definition des Ethischen durch die unbedingte und rein auf der
Form der Gesetzesförmigkeit beruhende Bestimmung handlungsleitender
Maximen führt KANT jedoch zu einer Formulierung des kategorischen Im-
perativs, die den Bezug auf andere Menschen explizit aufnimmt. KANT geht
dazu von der Überlegung aus, daß der ethisch relevante Wille ein Vermögen
darstellt, "der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß, sich selbst zum Handeln
zu bestimmen" 128. Der Grund einer solchen Selbstbestimmung kann nun als
Zweck bezeichnet werden. Wenn der kategorische Imperativ eine Hand-
lungsbestimmung fordert, die nur durch die Form der Gesetzmäßigkeit - d. h.
der Allgemeinheit - determiniert ist und von jeder materiellen Bestimmung
unabhängig ist, so kann ein solcher Zweck nur als Selbstzweck verstanden
werden. Demnach kann der kategorische Imperativ auch mit Hilfe des
Begriffes des Selbstzweckes bzw. des Zweckes an sich selbst formuliert
werden.
Auf dieser Grundlage geht KANT nun einen entscheidenden Schritt weiter.
Er will zur Formulierung des kategorischen Imperativs nämlich nicht einfach
den Begriff des Zweckes an sich selbst benutzen, sondern forscht nach einem
Phänomen in der Welt, das als Zweck an sich selbst angesehen werden kann.
Kann ein solches »Etwas« gefunden werden, das Zweck an sich selbst ist, so
kann dies dann in die Formulierung des kategorischen Imperativs eingehen.
In diesem Falle gewinnt der kategorische Imperativ jedoch einen neuen
Charakter, obwohl er weiterhin nur die rein gesetzesförmige und von äußeren
Zwecken unabhängige Bestimmung des Willens ausdrückt. Mit dem »Et-
was«, das einen Selbstzweck bzw. einen Zweck an sich selbst darstellt,
impliziert er nicht nur einen Bezug auf eine reine Struktur, sondern nimmt in
die eigene Formulierung den Bezug auf eine Entität in der Welt aufl29 .

127 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 425/426.


128 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 427.
129 Vgl. F. KAULBACH, Immanuel KANTs »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«.
Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988, S. 75 ff.
78 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm

Diese Entität kann dann auch als Grund der Wirklichkeit des Ethischen
angesehen werden. Das Prinzip des Ethischen bewegt sich bei Gelingen einer
solchen Formulierung also nicht mehr im Raum struktureller Bestimmungen,
sondern wird zu einem Prinzip, das in der Welt bereits als Wirklichkeit
vorkommt. Dazu muß jedoch berücksichtigt werden, daß die darauf aufbau-
ende Formulierung des kategorischen Imperativs das Prinzip der Ethik nicht
etwa erweitern soll und ihm auch keine neuen Elemente implantieren will.
Wenn das ethische Prinzip der Ethik als ein Prinzip in der Welt vorkommt,
so muß es identisch mit jener Bestimmung des Willens sein, die KANT als
allein geeignet für dessen Auszeichnung als ethische Grundlage ansieht.
Die Überlegung, die KANT zu einer Reformulierung des kategorischen Im-
perativs führt, lautet demgemäß: "Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Dasein
an sich selbst einen absoluten Wert hat, was als Zweck an sich selbst ein
Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein,
der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Ge-
setzes liegen." 130 Dieses »Etwas« kann nun nur der Mensch bzw. allgemei-
ner: jedes vernünftige Wesen sein: "Der Mensch und überhaupt jedes ver-
nünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum
beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen
seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerich-
teten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden." l31
Der Mensch als Person erfüllt demnach also genau jene Anforderungen, die
KANT für das Prinzip des Ethischen ausgearbeitet hat. Insbesondere ist hier
von Bedeutung, daß der Mensch als Person - also nicht als Angehöriger der
Gattung homo sapiens - nicht durch den Bezug auf andere Entitäten in der
Welt bestimmbar ist. Die »Natur« des Menschen ist also in diesem Zusam-
menhang darin zu sehen, daß er dann nicht in seinem eigenen Wesen
aufgefaßt wird, wenn er als Naturgegenstand betrachtet wird. Wenn die
Person Zweck an sich selbst ist, so entzieht sie sich jeder Bestimmung von
außen. Es kann also nicht gesagt werden, »wozu« diese Entität gut ist. Als
Zweck an sich selbst kann der Mensch als Person jedoch auch nicht aus

130 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 428.


13l Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 428.
3. Kategorischer Imperativ und der Mensch als Selbst-Zweck 79
seinem Bezug auf andere Entitäten in der Welt verstanden werden. Menschen
sind also »objektive Zwecke«: "D. i. Dinge, deren Dasein an sich selbst
Zweck ist, und zwar einen solchen, an dessen Statt kein anderer Zweck gesetzt
werden kann, dem sie bloß als Mittel zu Diensten stehen sollten". 132

Ein objektiver Zweck erscheint zunächst als ein Widerspruch in sich. Als
Objekt ist eine solche Entität bestimmt und steht dem Subjekt in gegebenen
Bestimmungen gegenüber. Als Zweck an sich selbst entzieht sich diese
Entität jedoch allen Bestimmungen, die wir ihr geben, und kann nur unter
den Bestimmungen verstanden werden, die sie sich selbst gibt. KANT zufolge
ist das Wesen des Menschenjedoch nur in dieser scheinbar widerspruchsvol-
len Charakterisierung angemessen ausgedrückt. Nur in dieser Doppelung ist
die Person von absolutem Wert. Diese Selbstzweckhaftigkeit gibt also die
Form an, in der der Mensch - und jedes vernünftige Wesen - sich notwendig
sein eigenes Dasein vorstellt, wenn er sich als Person begreift.

Gerade weil mit der Person nun eine Entität in der Welt gefunden ist, die als
absoluter Wert bezeichnet werden kann und damit ihre Bestimmung nicht
durch die Relativität des Bezugs auf andere Entitäten bezieht, deshalb kann
der Begriff der Person dazu dienen, in dem ausgearbeiteten Prinzip des
Ethischen die Bestimmung des Willens durch reine Gesetzesförmigkeit ohne
Bezug auf Bestimmungsgründe jenseits des bloßen guten Willens durch eben
jenen Selbstzweck zu ersetzen. Diese Ersetzung aber hat für KANT auch eine
begründende Funktion für den Nachweis der Wirklichkeit des ethischen
Prinzips, d. h. für dessen verbindlichen Charakter für vernünftige Wesen in
ihrem Handeln in der Welt. Dies hängt damit zusammen, daß nun eine Entität
gefunden ist, der absoluter Wert zugeschrieben werden kann. Wäre dies nicht
der Fall, so bliebe auch das ethische Prinzip eine bloße Konstruktion: "wenn

132 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 428. KANT will damit jedoch
nicht sagen, daß Menschen nicht auch als Mittel angesehen werden können und
dürfen. Dies ist im Grunde immer dann bereits der Fall, wenn wir einen Menschen
im sozialen Zusammenhang auffassen, wo jeder auch als Mittel für den anderen
erscheint. Unerläßlich für die Bestimmung des Menschen ist nach KAm jedoch, daß
wir den Menschen nicht nur auf diese Weise auffassen, sondern auch als Zweck an
sich selbst und damit als nicht durch eine Beziehung auf andere Entitäten in der Welt
schon endgültig bestimmt.
80 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KANT

aber aller Wert bedingt, mithin zufällig wäre, so könnte für die Vernunft
überall kein oberstes praktisches Prinzip angetroffen werden." 133
Wenn die Form der Gesetzmäßigkeit durch die Person als Selbstzweck ersetzt
wird, so ist folgende Neuformulierung des kategorischen Imperativs erreicht:
"Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person
eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel
brauchest" 134. Die »Menschheit«, die in der Person jederzeit zugleich als
Zweck betrachtet werden soll, bedeutet hier nicht die Summe der Menschen,
sondern den Inbegriff des Menschlichen, den KANT zuvor mit Hilfe der
Selbstzweckhaftigkeit erklärt hatte. Dieser kategorische Imperativ soll nun
das gleiche sagen wie die »klassische« Formulierung, derzufolge wir nur
nach derjenigen Maxime handeln sollen, durch die wir zugleich wollen
können, daß sie ein allgemeines Gesetz werde. Zusammengefaßt lautet die
KANTische Behauptung also: nach einer Maxime handeln, die es uns erlaubt,
zu wollen, daß sie ein allgemeines Gesetz werde, ist identisch mit dem
Handeln nach einer Maxime, die es uns erlaubt, in diesem Handeln andere
Menschen als selbstzweckhafte Personen zu behandeln.
Daraus lassen sich bereits einige Schlußfolgerungen ziehen, die KANTs
ethisches Prinzip mit Bezug auf den Begriff der Verantwortlichkeit verdeut-
lichen können. Zunächst besteht ethisch fundiertes Handeln offenbar darin,
andere Menschen als Personen - und nicht nur als Angehörige der Gattung
homo sapiens - zu behandeln. Jemanden als Person behandeln heißt jedoch
nach KANT, ihn nicht - bzw. nicht nur - als eine Entität in der Welt auffassen,
die durch Bezüge auf Entitäten außer ihr bestimmbar ist, sondern die sich
durch ihre eigenen Zwecke selbst bestimmt. Ethisch handeln heißt demzu-
folge, andere Menschen so behandeln, daß ihnen ihre Fähigkeit zur Selbst-
bestimmung erhalten bleibt. Nur so erscheinen sie als absolute Werte, die
nicht durch Bezüge auf außer ihnen liegende Zwecke relativiert sind.
Darüber hinaus ist jedoch auch noch eine andere Implikation zu sehen. Die
Auffassung anderer Menschen als Personen beinhaltet offenbar eine Hand-

133 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 428.


134 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 428/429.
4. Ethische Verantwortlichkeit als Achtung anderer Menschen 81

lungsorientierung, die sich an solchen Maximen ausrichtet, die es erlauben,


zu wollen, daß sie allgemeine Gesetze werden. Diese wechselseitige Impli-
zierung der Auffassung von Menschen als Personen und einer an der allge-
meinen Gesetzesförmigkeit orientierten Maximengestaltung kann auf diesem
Stand der Argumentation als Kerngedanke der KANTischen Ethik angesehen
werden.

4.
Ethische Verantwortlichkeit als Achtung für die
Personalität anderer Menschen

Dies führt zu der Bedeutung, die der kategorische Imperativ als ethisches
Prinzip für das Verhältnis zwischen Menschen besitzt. Das »Prinzip der
Menschheit«, d. h. die Selbstzweckhaftigkeit der Person, die nicht durch
Bezüge auf andere Entitäten in der Welt relativiert werden darf, stellt "die
oberste einschränkende Bedingung der Freiheit der Handlungen eines jeden
Menschen" dar 135 • Der kategorische Imperativ schränkt also die Freiheit des
Menschen so ein, daß er sie an der Personalität der anderen Menschen enden
läßt.
Entscheidend für das Verständnis des Grundgedankens der KANTischen
Ethik ist nun, daß sie diese Rücksicht auf den Personencharakter anderer
Menschen in Zusammenhang mit einem Handeln bringt, das sich an der
reinen Form der Gesetzmäßigkeit orientiert und keine anderen Handlungs-
orientierungen außer dieser Form benutzt. Ethisch handeln heißt für KANT
also nun, die eigene Freiheit so beschränken, daß Rücksicht auf die Persona-
lität anderer Menschen genommen wird. Andere Menschen in ihrer Persona-
lität auffassen heißt nichts anderes, als sie in ihrer Selbstzweckhaftigkeit
respektieren. Dies wiederum ist nur dann erfüllt, wenn sie nicht durch Bezüge
auf andere Entitäten in der Weh verstanden werden, da damit eine Relativie-
rung stattfinden würde.

135 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 431.


82 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm

Eine solche Relativierung kann schon darin gesehen werden, daß der Mensch
nur als Angehöriger der Gattung homo sapiens aufgefaßt wird. Auf diese
Weise wird er durch Bezüge bestimmt, die ihn seiner Selbstzweckhaftigkeit
berauben. Als Individuum einer Gattung ist er durch den Bezug auf andere
Gattungen bestimmt, von denen die Gattung homo sapiens sich durch eine
differentia specifica unterscheidet. Die Gattung wird in diesem Sinne zu einer
Art, die mit anderen Arten zu einer gemeinsamen Gattung gehört. Etwa kann
eine solche Einteilung den Menschen als werkzeugbenutzendes Wesen von
anderen Arten innerhalb der Gattung der Primaten unterscheiden. Die Prima-
ten erscheinen jedoch mit Bezug auf die Wirbeltiere wiederum als Art, die
sich von anderen Wirbeltieren durch spezifische Differenzen unterscheidet.
Wie diese Einteilungen im einzelnen vorgenommen werden, ist in diesem
Zusammenhang von sekundärer Bedeutung. Wichtig erscheint jedoch, daß
der Mensch auf diese Weise durch Bezüge bestimmt wird, die ihn nicht als
Selbstzweck und als absoluten Wert auszeichnen. Genau dies würde KANT
zufolge aber dem ethischen Prinzip widersprechen.
Nun erscheint es unseren ethischen Intuitionen durchaus zu entsprechen,
wenn wir zögern, den Menschen ausschließlich durch seine Bezüge - also
relativ - innerhalb von Art-Gattungs-Zusammenhängen zu bestimmen. KANT
will jedoch nicht auf diesen Intuitionen aufbauen, sondern entwickelt Maß-
stäbe, aufgrund derer entscheidbar wird, wann wir Menschen nicht auf diese
Weise behandeln, sondern sie als selbstzweckhafte Personen mit absolutem
Wert auffassen. Man könnte den kategorischen Imperativ geradezu als diesen
Maßstab ansehen. Diese Funktion kann er übernehmen, weil KANT ihn in der
Selbstzweckformel so reformuliert, daß die Auffassung anderer Menschen
als Personen gleichbedeutend wird mit einem Handeln nach Maximen, die
es uns erlauben, zu wollen, daß sie zugleich als allgemeines Gesetz gelten
sollen. Ethisch handeln heißt demzufolge, unsere eigene Freiheit durch die
Rücksicht auf die Freiheit anderer Personen einzuschränken, indem wir
unsere Handlungen an Maximen orientieren, die ihre eigene Verallgemeine-
rung erlauben.
Daraus läßt sich erster Aufschluß über das Konzept der Verantwortung
gewinnen, wie es sich auf der Grundlage des KANTischen Ethikprinzips
4. Ethische Verantwortlichkeit als Achtung anderer Menschen 83

darstellt. Grundproblem einer Analyse des Begriffs der Verantwortung auf


dem Boden der Moralphilosophie ist die Unterscheidung einer ethisch rele-
vanten Verantwortung von dem Phänomen der Verantwortlichkeit, wie es in
zahlreichen Lebenszusammenhängen zu finden ist, ohne daß wir damit eine
ethische Bedeutung verbinden würden. Das »Sich-verantworten« für die
eigenen Handlungen bzw. deren Auswirkungen auf andere Menschen kann
nun offensichtlich nur dann einen ethischen Charakter annehmen, wenn die
Beziehung zu dem Gegenstand der Verantwortung selbst ethisch geprägt ist.
In einem ethischen Sinne können wir uns also nur für etwas verantworten,
wenn wir ethisch verpflichtet sind, auf eine bestimmte Art zu handeln bzw.
bestimmte Handlungen zu unterlassen. Nur dann gewinnt das Verhältnis zu
dem Adressaten dieser Handlung einen ethischen Status. Der Adressat einer
solchen Handlung - bzw. eines entsprechenden Unterlassens - kann dabei
jeder sein, der durch eine Handlung oder durch ein Unterlassen in seinen
Interessen tangiert wird. Folglich können wir auch sagen, es liegt nur dann
eine Verantwortung mit ethischem Charakter vor, wenn wir ethisch verpflich-
tet sind, die Interessen des Adressaten unserer Handlungen - bzw. unseres
Unterlassens - zu berücksichtigen.
In der KANTischen Ethik ergibt sich die ethische Verantwortlichkeit nun aus
der Identifizierung einer Bestimmung des Willens aus reiner Gesetzesförmig-
keit mit einer Bestimmung in Orientierung an der Selbstzweckhaftigkeit der
Menschheit in allen Personen. In einem ethischen Sinne verantwortlich
handelt demgemäß, wer so handelt, daß er die Menschheit sowohl in seiner
eigenen Person als auch in der Person eines jeden andem jederzeit zugleich
als Zweck und niemals bloß als Mittel betrachtet. Genau dann bestimmt er
seinen Willen durch die reine Form der Gesetzesförmigkeit und damit unab-
hängig von Irgend welchen äußeren Determinanten. Verantwortlich handeln
wird demnach in der Konzeption der KANTischen Ethik gleichgesetzt mit
einem Handeln nach Maximen, die sich aus der Bestimmung des Willens
anhand der reinen Gesetzesförmigkeit ergeben. Verantwortlich handelt also,
wer nach Maximen handelt, die die Prüfung auf Verallgemeinerbarkeit
ausgehalten haben.
84 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm

Mit diesem Element von Verantwortlichkeit auf der Grundlage des ethischen
Prinzips ist die eingangs vermutete Innerlichkeit der KANTischen Ethik doch
bis zu einem gewissen Grade relativiert. Zwar verläßt KANT auch mit der
Reformulierung des kategorischen Imperativs in der Selbstzweckformel
nicht den Ausgang bei dem Willen, der allein gut heißen kann und dies
aufgrund der Tatsache, daß er - etwa im Gegensatz zu den Temperamenten,
Talenten, Geistes- und Glücksgaben - nicht von den Wirkungen in der
Außenwelt abhängig ist und nicht durch nicht-intendierte Nebenfolgen in
seiner Güte erschüttert werden kann. Aber mit der Selbstzweckformel ist dem
ethischen Prinzip doch das Element einer Beziehung auf andere Menschen
implantiert, die als Personen zu behandeln identisch ist mit dem ethischen
Handeln. Diese Beziehung der Verantwortlichkeit wird von KANT nun gerade
als konsequente Fortentwicklung des kategorischen Imperativs gesehen, der
das ethische Prinzip formuliert. Sie enthält also nichts anderes als das Prinzip
des Ethischen selbst. Die Beziehung der Verantwortlichkeit ist demzufolge
nur eine Explikation dessen, was allein gut heißen kann, nämlich des sich
selbst unabhängig von externen Determinanten bestimmenden Willens.
Weil dies so ist, deshalb kann KANT auch den Gehalt der Verantwortlichkeit
nicht weiter bestimmen, als es bereits im Ansatz bei dem allein als gut zu
bezeichnenden Willen vorgegeben war. Dieser Gehalt ergibt sich aus der
Reformulierung des kategorischen Imperativs in der Selbstzweckformel, die
ja nichts Neues gegenüber der allgemeinen Formel enthalten darf, derzufolge
wir ethisch nur dann handeln, wenn wir dies aufgrund einer Maxime tun,
durch die wir zugleich wollen können, daß sie ein allgemeines Gesetz werden
soll. Unsere Verantwortung erstreckt sich demnach nur darauf, die Mensch-
heit in der eigenen Person und in der Person eines jeden anderen zugleich als
Zweck - d. h. als Selbstzweck - zu betrachten, wenn eine unserer Handlungen
die Interessen anderer Menschen tangiert.
Den anderen Menschen als Selbstzweck betrachten heißt aber, ihn nicht mit
Bezugnahme auf außer ihm selbst liegende Zwecke definieren. Dies wieder-
um bedeutet, daß ein verantwortliches Handeln die betroffenen Personen
nicht durch deren Bezüge auf Entitäten in der Welt auffassen darf. Dies
schließt auch ein Verständnis der anderen Personen als Angehörige der
4. Ethische Verantwortlichkeit als Achtung anderer Menschen 85

Gattung homo sapiens aus. Verantwortlich handeln heißt demzufolge, die


betroffenen Personen in ihrer Selbstzweckhaftigkeit und als unbestimmbar
durch externe Bezüge zu betrachten. Dies impliziert, daß wir den anderen
nicht als bestimmt durch die Wirkungen seines Handeins in der Welt verste-
hen dürfen. Auf diese Weise würden wir ihn nicht als Person auffassen, der
wir einen Willen zuschreiben müssen, der nicht durch seine Wirkungen in
der Außenwelt in seiner »Güte« beeinträchtigt oder gefördert werden kann.
Ein verantwortliches Handeln gewinnt im Rahmen der KANTischen Konzep-
tion von Ethik also eine Bedeutung, die sich beträchtlich von unserem
gängigen Verständnis unterscheidet. Wenn wir im KANTischen Sinne verant-
wortlich handeln, so müssen wir nicht den konkreten Menschen mit seinen
Interessen in der Welt berücksichtigen. Wir müssen also nicht berücksichti-
gen, daß der andere in der Welt wirkt und mit diesem Wirken für seine eigenen
Interessen tätig wird, daß er Anteil an der Welt nimmt, weil sie für ihn die
Welt ist, in der er den »pursuit of happiness« verfolgt und danach strebt,
Leiden zu minimieren. Was wir in unserem Handeln berücksichtigen müssen,
ist im Grunde nur sein Charakter als eine Person, d. h. als ein Wesen, das sich
selbst Zwecke setzt, und das sich in diesem Sinne selbst bestimmt und
definiert. Wir müssen ihn also berücksichtigen als ein Wesen, das nur selbst
in der Lage ist, zu bestimmen, was es ist. Man könnte dies auch so zusam-
menfassen: Verantwortlich handeln wir, wenn wir den anderen als Person
und nicht als Objekt behandeln.
86 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KANT

5.
Ethische Verantwortlichkeit als Achtung vor der
Autonomie und Freiheit anderer Menschen

5.1
Der Zusammenhang von Freiheit und Moralität

KANT drückt den Grundsatz seiner Ethik auch so aus: Die moralische Ver-
antwortlichkeit besteht in der "Abhängigkeit eines nicht schlechterdings
guten Willens vom Prinzip der Autonomie" 136. »Autonomie« kann geradezu
als Zentralbegriff der KANTischen Ethikkonzeption aufgefaßt werden 137•
Dies ist bereits in zweifacher Hinsicht deutlich geworden. Autonomie heißt
wörtlich übersetzt »Selbstgesetzgebung«. Diese Selbstgesetzgebung ist das
Prinzip, auf dessen Grundlage sich ein Wille bestimmen muß, wenn er ein
guter Wille sein soll. Nur ein guter Wille aber kann Grundlage eines ethisch
relevanten Verhaltens sein. Ethisch relevant handeln heißt demnach, einem
Willen zu folgen, der sich autonom bestimmt hat.

Zum zweiten wird über die Selbstzweckformel die Autonomie auch zu der
Eigenschaft des Menschen, die in einem ethisch relevanten Handeln notwen-
dig berücksichtigt werden muß, wenn dieses Handeln im ethischen Sinne
verantwortlich sein soll. Der kategorische Imperativ fordert also nach dieser
Formel, so zu handeln, daß dabei die Autonomie der davon betroffenen
Personen berücksichtigt wird. Als Zwecke an sich werden andere Menschen
nur dann aufgefaßt, wenn sie als fahig zur Selbstgesetzgebung angesehen
werden. Die Autonomie kann also nicht nur auf seiten des Handelnden als
Grundlage eines ethisch richtigen W ollens verstanden werden, sondern muß
ebenso als zu berücksichtigende Auszeichnung anderer Menschen in diesem
Wollen ihren Niederschlag finden. Unter diesem Aspekt stellt sich eine im
ethischen Sinne verantwortliche Handlung als eine solche Handlung dar, die

136 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 439.


137 Vgl. D. HENRlCH, Ethik der Autonomie, in: ders., Se1bstverhältnisse, Stuttgart 1982,
S. 6 - 56; sowie F. KAULBACH, Immanuel KANTs »Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten«. Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988, S. 100 ff.
5. Ethische Verantwortlichkeit und die Freiheit anderer Menschen 87
von einem autonom seinen Willen bestimmenden und darin gleichzeitig die
Autonomie fremder Personen respektierenden Akteur ausgeführt wird.
Über die Autonomie als Selbstgesetzgebung erreicht die KANTische Ethik
ihren zentralen Punkt in der Konzeption der Freiheit 138 • Diese Konzeption
sollte allerdings nicht durch die einfache Identifizierung von Autonomie und
Freiheit expliziert werden. Der Begriff der Freiheit führt vielmehr auf ein
zentrales Begründungsproblem der KANTischen Ethik. Dieses Problem führt
auch zurück zu der Frage, ob denn tatsächlich alle vernünftigen Wesen an
den kategorischen Imperativ gebunden seien. Diese Frage war zunächst durch
die Umformulierung des kategorischen Imperativs in seiner allgemeinen
Formel zur Selbstzweckformel beantwortet worden. Ihre Handlungen "jeder-
zeit nach solchen Maximen zu beurteilen, von denen sie selbst wollen können,
daß sie zu allgemeinen Gesetzen dienen können" 139, ist ein notwendiges
Gesetz für alle vernünftigen Wesen, weil der Mensch und jedes vernünftige
Wesen als Zweck an sich selbst existiert und damit so angesehen und
behandelt werden muß, daß darin die innere Bestimmtheit seines Willens
unabhängig von allen materiellen Bestimmungen respektiert wird. Genau
dies wird aber durch die Bestimmung der Maximen des Handelns durch die
bloße Form der Allgemeinheit erreicht, da auf diese Weise gerade die
Selbstzweckhaftigkeit zur Richtschnur des HandeIns gemacht wird, deren
Anerkennung bei fremden Personen zu deren Anerkennung als Selbstzwecke
führt.
Nun führt KANT in einem ergänzenden Argumentationsgang weiter aus, daß
die Sittlichkeit lediglich aus der Eigenschaft der Freiheit abgeleitet werden
muß 140 • Entsprechend heißt es in der »Kritik der praktischen Vernunft«, der
sittliche Imperativ würde »analytisch« sein, "wenn man die Freiheit des
Willens voraussetzte" 141. Ohne diese Voraussetzung aber wäre die Begrün-
dung des sittlichen - d. h. kategorischen Imperativs ein synthetischer Satz a
priori. Ebenso könnte ohne diese Voraussetzung nur synthetisch dafür argu-

138 Vgl. dazu A. DORSCHEL, Die idealistische Kritik des Willens: Versuch über die
Theorie der praktischen Subjektivität bei KANT und REGEL, Hamburg 1992, S. 5 ff.
139 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 426.
140 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 447.
141 Kritik der praktischen Vernunft, AA V, S. 31.
88 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung' Freiheit· Immanuel KANT

mentiert werden, daß "der Wille eines jeden vernünftigen Wesens an den
Imperativ der Sittlichkeit als Bedingung notwendig gebunden sei" 142. Die
Autonomie als Prinzip der Moral dagegen ließ sich analytisch finden, nämlich
im Ausgang von dem Begriff eines guten Willens, der bereits die Orientierung
an der Verallgemeinerungsfähigkeit als der reinen Form der Gesetzmäßigkeit
als Bestimmungsgrund fordert l43 .
KANT ist folglich nun verpflichtet, einen Begriff von Freiheit zu entwickeln,
der den sittlichen Imperativ weiter begründen kann, indem es mit seiner Hilfe
möglich ist, die Sittlichkeit aus der Eigenschaft der Freiheit abzuleiten.
Allerdings stößt die Argumentation hier auf beträchtliche Schwierigkeiten,
die nur mit Hilfe einer ungewöhnlichen Argumentationsform behoben wer-
den können. Die Freiheit läßt sich nicht beweisen und als eine Wirklichkeit
in der objektiven Welt nachweisen. Dies läßt sich schon daraus ersehen, daß
die objektive Welt in der KANTischen Philosophie als konstituiert durch
notwendige und allgemeine und deshalb apriorische Urteils formen bzw.
Kategorien aufgefaßt wird. Wenn die objektive Welt unter notwendigen
Gesetzen steht, so findet sich in ihr kein Raum für Freiheit. Die Möglichkeit
und Wirklichkeit der Freiheit kann deshalb nur durch den Verweis auf ein
Phänomen gezeigt werden, das plausibel nur durch ein Durchbrechen der
Kette der Kausalität verstanden werden kann.
Ein solches Phänomen kann im Rahmen der KANTischen Philosophie jedoch
nur die Moralität selbst sein. Die KANTische Moralphilosophie hat bis jetzt
den Gedanken entwickelt, daß ethische Verbindlichkeit darin besteht, den
Willen durch die reine Form der Gesetzlichkeit zu bestimmen und ihn damit
von allen materiellen Determinanten abzusondern. Dies kann auch als Selbst-
bestimmung verstanden werden, die nicht durch fremde Bestimmungsgründe
determiniert wird. Deshalb unterbricht eine ethische Handlungsorientierung
die Kette der Kausalität und ist »spontan«, d. h. selbsttätig, indem sie den
Willen autonom im Sinne einer reinen Selbstzweckhaftigkeit bestimmt.
KANT formuliert deshalb: Das moralische Gesetz dient "umgekehrt selbst zum

142 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 440.


143 Vgl. F. KAULBACH, Immanuel KANTs »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«.
Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988, S. 120 ff.
5. Ethische Verantwortlichkeit und die Freiheit anderer Menschen 89
Prinzip der Deduktion eines unerforschlichen Vermögens" - nämlich der
Freiheit -, "von der das moralische Gesetz, welches selbst keiner rechtferti-
genden Gründe bedarf, nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit
an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen" 144. Der
Begriff der Freiheit wird also nun auf den moralischen Gebrauch der Vernunft
gegründet l45 •
Vereinfacht lautet die Argumentation also wie folgt: Der Gedanke der ethi-
schen Verbindlichkeit ist ohne die Voraussetzung der Freiheit nicht zu
fonnulieren; nun können wir jedoch von der Wirklichkeit des ethischen
Söllens ausgehen; also können wir auch die Freiheit als wirklich ansehen -
auch wenn dies nach den Begriffen der theoretischen Philosophie nicht
möglich wäre. In KANTs Worten: Erst das »Faktum« der Moralität gibt uns
das positive Bewußtsein der Freiheit; das moralische Gesetz »beweist« die
Wirklichkeit der Freiheit 146; unsere eigene Freiheit kennen wir somit nur
durch den moralischen Imperativ l47 •
Nun hatte KANT den moralischen Imperativ selbst nur durch die Vorausset-
zung der Freiheit als verbindlich für alle vernünftigen Wesen nachweisen
können. Offensichtlich bewegt sich die fundamentale Begründungsstruktur
der KANTischen Ethik also in einem Zirkel: Die Freiheit kann nur durch die
Moralität in ihrer Wirklichkeit nachgewiesen werden; die Moralität jedoch
setzt bereits die Freiheit voraus. KANT gesteht diesen Status der Argumenta-
tion auch zu: "Es zeigt sich hier, man muß es frei gestehen, eine Art von
Zirkel, aus dem, wie es scheint, nicht herauszukommen ist. Wir nehmen uns
in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung
der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher
als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens
beigelegt haben." 148

144 Kritik der praktischen Vernunft, AA V, S. 47.


145 Vgl. Kritik der praktischen Vernunft, AA V, S. 5.
146 Kritik der praktischen Vernunft, AA V, S. 47.
147 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 239.
148 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 450. Das wechselseitige Voraus-
setzungsverhältnis von Freiheit und Moralität bildet nach KANT "die oberste Grenze
aller moralischen Nachforschung" (a. a. 0., S. 462). Damit "begreifen wir zwar nicht
die praktische unbedingte Notwendigkeit des moralischen Imperativs, wir begreifen
90 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm

Grundsätzlich akzeptiert KANT diese Sachlage auch. Er kann dies jedoch nur
deshalb, weil er eine Unterscheidung in Anspruch nimmt, die in der »Kritik
der reinen Vernunft« entsprechend als Erscheinung und Ding an sich ge-
braucht wurde. Hier in der Moralphilosophie unterscheidet KANT zwei
»Standpunkte«, von denen aus der Mensch ein Verständnis von sich selbst
gewinnen kann: Er kann sich selbst als zur Sinnenwelt gehörig betrachten
und ist dann ein Teil der Welt, die unter Kausalgesetzen steht; er kann sich
jedoch auch als Teil einer »intelligibelen Welt« betrachten, in der er sich als
frei denken kann 149. Von diesem Gedanken her kann KANT den Grundgedan-
ken seiner Moralphilosophie folgendermaßen formulieren: "So sind katego-
rische Imperative möglich, dadurch daß die Idee der Freiheit mich zu einem
Gliede einer intelligibelen Welt macht". 150
Auf dieser Grundlage wird verständlich, warum KANT ethisches Handeln und
freies Handeln identifizieren kann. Demnach handelt frei nur, wer seinen
Willen nicht durch materielle Determinanten, sondern nur durch die reine
Form der Gesetzlichkeit bestimmt, d. h. seine Maximen gemäß dem katego-
rischen Imperativ an der Verallgemeinerungsfähigkeit ausrichtet l51 • Von da
her ergibt sich auch ein weiterer Aufschluß über den Status der Verantwort-
lichkeit in KANTs Ethik. Im ethischen Sinne verantwortlich handeln kann nur
jemand, der darin ebenso frei handelt. In der Ausarbeitung der Selbstzweck-
formel war die Personalität des ethisch Handelnden als Ausgangspunkt für
die Bindung der vernünftigen Wesen an die Moralität entwickelt worden.
Entsprechend erscheinen »verantwortliches Handeln«, »freies Handeln« und
»personales Handeln« nun als austauschbare Begriffe.
Darüber hinaus war in der Selbstzweckformel das moralische Handeln mit
einem Handeln nach Maximen gleichgesetzt worden, die andere Menschen

aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer
Philosophie, die bis zur Grenze aller menschlichen Vernunft in Prinzipien strebt,
gefordert werden kann" (a.a. 0., S. 463).
149 Vgl. dazu A. DORSCHEL, Die idealistische Kritik des Willens: Versuch über die
Theorie der praktischen Subjektivität bei KANTund REGEL, Hamburg 1992, S. 24 ff.,
S.31ff.
150 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 454.
151 Vgl. näher R. BITINER, Kausalität aus Freiheit und kategorischer Imperativ, in:
Zeitschrift für philosophische Forschung 3211978, S. 265 - 274.
5. Ethische Verantwortlichkeit und die Freiheit anderer Menschen 91

als Selbstzwecke und nicht bloß als Mittel aufzufassen erlauben. Moralisch
kann demnach nur ein Handeln genannt werden, das durch Maximen geleitet
wird, die den Respekt für die Autonomie und die Freiheit der anderen
Menschen implizieren. Deshalb muß ein im ethischen Sinne verantwortliches
Handeln nicht nur als freies und personales Handeln begriffen werden,
sondern auch und im gleichen Sinne als ein Handeln, das in den leitenden
Maximen die Freiheit der möglicherweise betroffenen Personen anerkennt.
Dies aber ist wiederum identisch mit einem Handeln, das die anderen Perso-
nen als selbst autonom, personal und damit ethisch verantwortlich versteht.

5.2
Das Recht als ethisch geforderte Achtung der
äußeren Freiheit anderer Menschen

Der Begriff der Freiheit stellt nun zum einen den Grundbegriff der KANTi-
schen Moralphilosophie dar, zum anderen fundiert er jedoch auch die KANTi-
sche Philosophie des Rechts l52 . Auch das Rechtsprinzip ist ein analytischer
Satz aus dem Begriff der Freiheit l53 • Deshalb kann KANT auch die »juridi-
schen Pflichten« als ethische Pflichten bezeichnen 154. Er spricht hier von
»indirekt-ethischen« Pflichten 155 • Die Unterscheidung zwischen Moral und
Recht betrifft also grundsätzlich "die Einteilung in die Pflichten der äußeren
und inneren Freiheit", die gerade durch den Begriff der Freiheit notwendig
. d 156 .
gemach t WIr
Dieser Zusammenhang von moralischer und rechtlicher Freiheit ergibt sich
nun zunächst aus der Verantwortlichkeit, die aufgrund ihrer Freiheit nur der
Person zukommt, die sich selbst bestimmen kann und somit als Selbstzweck
existiert. Diese Verantwortlichkeit bildet die Grundlage der Möglichkeit des

152 Vgl. zum Folgenden G.-W. KÜSTERS, KANTs Rechtsphilosophie, Darmstadt 1988,
und W. KERSTING, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel KANTs Rechts- und Staatsphi-
losophie, Berlin 1984.
153 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 396.
154 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 214.
155 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 221.
156 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 406.
92 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm

Rechts. Da das Recht aber die äußeren Handlungen einer Person regelt - und
nicht in erster Linie auf die Beweggründe achtet, wie das gemäß der KANTi-
sehen Ethik für die Moral charakteristisch ist -, so ist als Person nun der
Mensch aufzufassen, insofern er eine rechtlich relevante Tat begehen kann.
Dies ist dann der Fall, wenn diese Tat ihm zugerechnet werden, also wenn er
dafür verantwortlich gemacht werden kann. Als rechtlich relevante Tat kann
eine Handlung dann bezeichnet werden, "sofern sie unter Gesetzen der
Verbindlichkeit steht, folglich auch sofern das Subjekt in derselben nach der
Freiheit seiner Willkür betrachtet wird" 157.

Der Rechtszustand besteht demnach in der Verwirklichung der Personalität


in der äußeren Welt. Entsprechend ist das Dasein als ein »rechtlicher
Mensch« gleichbedeutend damit, "im Verhältnis zu anderen seinen Wert als
den eines Menschen zu behaupten" und erfordert von der Person das Bestre-
ben, sich für andere nicht zum bloßen Mittel zu machen, sondern für sie
zugleich Zweck zu sein 158. Wie dies genauer zu verstehen ist, hatte KANT
bereits im Zusammenhang mit seinen Erläuterungen zu der Selbstzweckfor-
mel des kategorischen Imperativs verdeutlicht. Der Verstoß gegen den mo-
ralischen Imperativ zeigt sich hier als "Widerstreit gegen das Prinzip anderer
Menschen", und ein solcher Widerstreit liegt insbesondere dann vor, "wenn
man Beispiele von Angriffen auf Freiheit und Eigentum anderer herbeizieht.
Denn da leuchtet klar ein, daß der Übertreter der Rechte der Menschen, sich
der Person anderer bloß als Mittel zu bedienen, gesonnen sei, ohne in Betracht
zu ziehen, daß sie als vernünftige Wesen jederzeit zugleich als Zwecke, d. i.
nur als solche, die von eben derselben Handlung auch in sich den Zweck
müssen enthalten können, geschätzt werden sollen" 159. KANTs Ausarbeitung
des Naturrechts baut auf dieser Grundlage aufl60 • Das primäre Recht, das vor
jeder positiven Rechtsetzung jeder Person kraft ihrer Natur zukommt, ist das
innere bzw. angeborene "Mein und Dein". Hier ist jedoch nicht nur an

157 Metaphysik der Sitten, AAVI, S. 223.


158 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 236.
159 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 430. Das Eigentum zeigt sich
auf dieser Grundlage als "vernunftnotwendiger Bestandteil jeder Rechtsordnung."
(0. HÖFFE, Immanuel KANT, München 1983, S. 219).
160 Vgl. dazu W. KERSTING, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel KANTS Rechts- und
Staatsphilosophie, Berlin 1984, S. 113 ff.
5. Ethische Verantwortlichkeit und die Freiheit anderer Menschen 93

Eigentumsrechte im engeren Sinn zu denken, sondern allgemein an die


"Unabhängigkeit von eines Anderen nötigender Willkür" 161.
Der KANTische Begriff des Rechts erscheint nun als die Übertragung der
grundlegenden Begriffe der Moralphilosophie in die Sphäre der äußeren
Beziehungen zwischen Menschen. Dies wurde zunächst mit Hilfe des Begrif-
fes der Person erläutert. In der Moralphilosophie ist die Person jedoch nicht
nur durch Verantwortlichkeit, sondern auch durch die Fähigkeit zur Selbst-
bestimmung und damit durch die Freiheit gekennzeichnet. Wenn das Recht
ein Verhältnis zwischen Personen darstellt, so betrifft es folglich auch das
Verhältnis ihrer Freiheiten zueinander. Das Recht wird von KANT infolge-
dessen ausgezeichnet als "der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die
Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen
Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" 162.
Es ist also eine Regelung, mit Hilfe derer freie, verantwortliche und selbst-
zweckhafte (also mit der Fähigkeit zur Selbstbestimmung ausgezeichnete)
Wesen zusammen leben können, ohne sich wechselseitig an ihrer Freiheit
Abbruch zu tun 163. Die moralische Begründung des Rechts geht also letztlich
auf den Zusammenhang von Moralität und Freiheit zurück: "Wir kennen
unsere eigene Freiheit ... nur durch den moralischen Imperativ, welcher ein
pflichtgebietender Satz ist, aus welchem nachher das Vermögen, andere zu
verpflichten, d. i. der Begriff des Rechts, entwickelt werden kann." 164
Nichtsdestoweniger unterscheidet sich das Recht von der Moralitätl65 • Im
Gegensatz zur Moral regelt es äußere Handlungen und abstrahiert dabei von
der indi viduellen Intention, solange dadurch nicht Zweifel an der Verantwort-
1ichkeit' Freiheit und damit Zurechenbarkeit von Taten entstehen. Darüber
hinaus würde im Status des bloßen Naturrechts jeder sein eigener Richter sein

161 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 237.


162 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 230.
163 Vgl. G. GEISMANN, KANT als Vollender von HOBBES und ROUSSEAU, in: Der Staat
27/1982, S. 161 -189, S. 178.
164 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 239.
165 Vgl. W. BARTUSCHAT, Praktische Philosophie und Rechtsphilosophie bei KANT, in:
Philosophisches Jahrbuch 94/1987, S. 24 - 41; sowie O. HÖFFE, Recht und Moral.
Ein KANTischer Problemaufriß, in: Neue Hefte für Philosophie 17/1979, S. 1 - 36.
94 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Irnmanuel KANT

und damit ein Zustand gegeben sein, den KANT als »status belli« bezeichnet.
Das Recht bezeichnet unter diesem Aspekt nun den Übergang zu einem
»bürgerlichen Zustand«, in dem Rechte durch öffentliche und mit Sanktionen
durchsetzbare positive Gesetze garantiert werden l66 . Im bürgerlichen Zu-
stand wird die Vereinigung der Freiheiten nun "unter einer allgemeinen
äußeren (d. i. öffentlichen) mitMacht begleiteten Gesetzgebung" geregelt l67 •
Diese Durchsetzbarkeit von Gesetzen auch gegen Widerstand ist nach KANT
bereits "im Begriffe einer äußeren rechtlichen Verpflichtung wegen der
Allgemeinheit, mithin auch der Reziprozität der Verbindlichkeit aus einer
allgemeinen Regel enthalten" 168.
Da nur so die Freiheiten vereinigt werden können und damit Personen in ihrer
Freiheit, Verantwortlichkeit und Selbstzweckhaftigkeit miteinander leben
können, deshalb ist der »bürgerliche Zustand« aber eine Forderung, die
bereits aus der moralphilosophischen Grundlegung der Begriffe Freiheit,
Verantwortlichkeit und Selbstzweckhaftigkeit abgeleitet werden kann 169.
Einen solchen Zustand anzustreben, ist folglich selbst eine moralische For-
derung, die unmittelbar aus den Grundlagen der Moralität entsteht. Der
»bürgerliche Zustand« ist also so begründet, "daß alle Menschen, die mit
einander (auch unwillkürlich) in Rechtsverhältnisse kommen können, in
diesen Zustand treten sollen" 170.
Darin ist im übrigen auch die Notwendigkeit der Existenz des Staates begrün-
det. Der Staat ist im KANTischen Verständnis genau die Instanz, die durch
ihr Gewaltmonopol die Durchsetzung der positiven Gesetze ermöglicht und
damit den »status belli« in den »bürgerlichen Zustand« transformiert l7l . Der
Staat stellt eine "Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsge-

166 Vgl. G.-W. KÜSTERS, KANTs Rechtsphilosophie, Darmstadt 1988, S. 56.


167 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 256.
168 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 256. Vgl. auch W. KERSTING: "Das System der
äußeren Freiheit besorgt durch heteronome Disziplinierung aller selbst seine Erhal-
tung." (W. KERSTING, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel KANTs Rechts- und Staats-
philosophie, Berlin 1984, S. 12).
169 V gl. F. KAULBACH, Studien zur späten Rechtsphilosophie KANTS und ihrer transzen-
dentalen Methode, Würzburg 1982, S. 229 f.
170 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 306.
171 Vgl. W. KERSTING, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel KANTS Rechts- und Staats-
philosophie, Berlin 1984, S. 199 ff., S. 233 ff.
5. Ethische Verantwortlichkeit und die Freiheit anderer Menschen 95

setzen" dar, und in ihm sind die einzelnen Willen "verbunden durch das
gemeinsame Interesse Aller, im rechtlichen Zustande zu sein" 172.
Wir können den Weg zurück zur Grundlegung der Moralphilosophie folglich
auch so finden. KANT hatte das Problem, das die Fundierung der Ethik in
einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis von Moralität und Freiheit
stellt, zwar anerkannt, aber doch durch die Unterscheidung zwischen dem
Standpunkt der Selbstauffassung des Menschen als eines Sinneswesens und
eines intelligibelen Wesens aufzulösen gesucht. Als moralisch frei können
wir uns demzufolge betrachten, weil wir als Glieder der intelligibelen Welt
niCht der Naturkausalität unterworfen sind. Die gleiche Voraussetzung in der
Selbstauffassung des Menschen wird jedoch nun durch das Recht erfordert.
Dieser Zusammenhang ist zunächst schon durch die Grundlegung des Rechts
im Verhältnis freier, verantwortlicher und selbstzweckhafter Personen gege-
ben. KANT formuliert so: "Wenn von Pflichtgesetzen ... die Rede ist und zwar
im äußeren Verhältnis der Menschen gegen einander, so betrachten wir uns
in einer moralischen (intelligibelen) Welt." 173

5.3
Das Recht als Verwirklichung der ethischen Verantwortlichkeit
als Achtung vor der Freiheit anderer Personen

Die ethische Position KANTS zeichnet sich also unter anderem dadurch aus,
daß sie eine argumentative Verbindung von der zentralen ethischen Begrün-
dungsform zur Grundlegung rechtlicher Verhältnisse zwischen Menschen
herstellt. Das Recht ist damit ethisch begründet, und im Rechtszustand zu
leben ist eine ethische Forderung. Deshalb läßt sich die Begründung des
Rechts in die zentralen Begriffe der KANTischen Ethik zurückverfolgen.
Obwohl das Recht nicht auf den »guten Willen« rekurriert, wenn es die
Beziehungen zwischen Menschen regelt, so ist die Rechtlichkeit doch der
KANTischen Auffassung zufolge geboten, weil sie sich auf eben jenen »guten
Willen« zurückführen läßt, der KANT zufolge allein »gut« heißen kann.

172 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 313 bzw. 31l.


173 Metaphysik der Sitten, AA VI, S. 449.
96 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung' Freiheit· Immanuel KANT

Damit ist die Rechtlichkeit auch durch das begründet, was aus diesem
Grundansatz der KANTischen Ethik folgt.

In erster Linie ist hier an die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen zu denken,


der deshalb an die Bestimmung seines Willens durch die reine Form der
Gesetzlichkeit gebunden ist, weil er und alle vernünftigen Wesen als Zwecke
an sich selbst existieren. Daraus ergibt sich: Das Recht wird in der KANTi-
schen Rechtsphilosophie dadurch gerechtfertigt, daß es der besonderen Wür-
de des Menschen entspricht, der sich selbst und andere nicht allein als Mittel,
sondern stets auch als Zwecke an sich selbst auffassen muß.

Die Selbstzweckhaftigkeit des Menschen wurde von KANT im Rahmen einer


Umformulierung des sittlichen Imperativs eingeführt, d. h. des kategorischen
Imperativs, der gebietet, alle Maximen auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit
zu überprüfen. Die Selbstzweckhaftigkeit erklärt damit die Achtung für die
Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen zum Gehalt des sittlichen Geset-
zes. Deshalb setzt KANT aber auch das Recht in Beziehung zu der sittlichen
Forderung, die Selbstbestimmung anderer Menschen zu achten. In gewisser
Weise erscheint das Recht bei KANT als eine Fortführung der Anerkennung
der Selbstbestimmung anderer Menschen in den äußeren Verhältnissen der
Menschen untereinander. Rechtlichkeit erscheint damit als eine Forderung,
die sich direkt aus der Auszeichnung des Menschen ableiten läßt, ein zur
Selbstbestimmung fähiges Wesen zu sein.

Dem muß nicht widersprechen, daß das Recht die äußere Handlungsfähigkeit
eines Menschen im Falle des Konflikts mit der äußeren Handlungsfähigkeit
anderer Menschen einzuschränken erlaubt und diese Einschränkung auch
durch Sanktionen erzwungen werden kann. Diese Einschränkung rechtfertigt
sich durch die Notwendigkeit, die Freiheit des einen mit der Freiheit des
anderen vereinigen zu müssen, so daß sich nicht die Freiheit nur des einen
durchsetzen kann. Eine solche einseitige Durchsetzung von Freiheit würde
der Achtung der fremden Selbstzweckhaftigkeit und Selbstbestimmungsfä-
higkeit widersprechen und wäre damit ethisch nicht gerechtfertigt. Auch der
Zwangscharakter des Rechts legitimiert sich letztlich also durch die ethisch
gebotene Anerkennung anderer Menschen als Zwecke an sich selbst und als
5. Ethische Verantwortlichkeit und die Freiheit anderer Menschen 97

Wesen, denen durch ihre Natur die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu-
kommt.
Die den Menschen auszeichnende Fähigkeit zur Selbstbestimmung steht in
der KANTischen Ethik in enger Beziehung zu der Bestimmung des Willens
aus reiner Gesetzlichkeit, die ihm die Dignität eines guten Willens verleiht,
der ohne materielle Determinanten bleiben muß. Selbstbestimmung kann
deshalb ohne weiteres in Selbstgesetzlichkeit umformuliert werden, d. h. in
Autonomie. In der Autonomie dokumentiert sich KANT zufolge die Freiheit
des Menschen, und sie kann sich auf keine andere Weise dokumentieren.
Deshalb kann die KANTische Ethik auch als eine Begründung des menschli-
chen Sollens angesehen werden, die allein im Ausgang von der menschlichen
Freiheit fundiert wird.
Die ethische Begründung des Rechts läßt sich demnach auch auf die Kon-
zeption der menschlichen Freiheit zurückführen. Ein Leben im Status der
Rechtlichkeit ist also ethisch geboten, weil nur darin die eigene Freiheit und
die Freiheit der anderen in den äußeren Verhältnissen der Menschen wech-
selseitig Anerkennung finden. 174 Es besteht also eine Parallele zwischen der
direkt ethischen Forderung, die eigenen Handlungsmaximen so zu bestim-
men, daß darin die Freiheit der anderen Menschen Berücksichtigung findet,
wie es in der Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs ausgedrückt
ist, und der indirekt ethischen Forderung, in einen rechtlichen Zustand zu
treten, in dem die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen in den
äußeren Verhältnissen vereinigt werden kann. Der Ausdruck »Parallele« ist
jedoch insofern nicht ausreichend, um diese Beziehung zu charakterisieren,
als die Rechtlichkeit als indirekt ethische Forderung in der direkt ethischen
Forderung begründet ist, die sich wiederum auf die Selbstzweckhaftigkeit
des Menschen stützt, die letztlich auf die ursprüngliche Formulierung des
ethischen Prinzips im kategorischen Imperativ zurückzuführen ist.

174 Vgl. F. KAULBACH, Der Begriffder Freiheit in KANTS Rechtsphilosophie, in: Philo-
sophische Perspektiven 5/1973, S. 78 - 91.
98 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KANT

6.
Zur praktischen Bedeutung der
KANTischen Konzeption ethischer Verantwortlichkeit

6.1
Von der »Innerlichkeit« des guten Willens
zur Anerkennung fremder Autonomie

Daraus läßt sich nun weiterer Aufschluß über den Charakter des Ethischen
und den Status von ethischer Verantwortlichkeit im Denkzusammenhang der
KANTischen Moralphilosophie gewinnen. Zunächst schien es so, daß ethische
Normen bei KANT keinerlei Zusammenhang mit den Handlungen von Men-
schen haben können, da sie nur den »guten Willen« betreffen, der in der
Innerlichkeit des einzelnen verbleibt und gerade dadurch in seiner ethischen
Bedeutung ausgezeichnet ist, daß seine Wirkungen in der Außenwelt - d. h.
auch für andere Menschen - für seinen ethischen Charakter völlig bedeu-
tungslos sind. Dies ist auch so weit richtig, als die KANTische Ethik tatsäch-
lich das »Gute« zunächst nur in einer Form der Bestimmung von Maximen
sieht, die keinerlei Determinanten materieller bzw. inhaltlicher Art zuläßt,
sondern nur die reine Form der Gesetzlichkeit als Bestimmungsweise des
Willens fordert, wenn von einer ethischen Verpflichtung die Rede sein soll.
Dennoch kann nicht im eigentlichen Sinne von einer »Ethik der Innerlich-
keit« die Rede sein 175 • Dies ist darin begründet, daß vom Ausgangspunkt in
der »Innerlichkeit« der autonomen Bestimmung des Willens ohne Berück-
sichtigung von Handlungsfolgen in der Außenwelt ein konsequenter argu-

175 Vgl. F. KAULBACH: "Es ist nicht gerechtfertigt, KANTs Standpunkt als den einer
einseitigen »Gesinnungsethik« zu kennzeichnen, die sich gegenüber dem Prinzip der
Verantwortung gleichgültig verhalte. Es ist vielmehr so, daß KANT die Verantwor-
tung in der Perspektive der Gesinnung bestimmt. Der von ihm vertretene praktische
Perspektivismus, demzufolge dem Zweck in der Perspektive des guten Willens die
Qualität des Gut-seins verliehen wird, bringt den Gedanken zur Geltung, daß von
diesem Willen her erst zu entscheiden ist, was der Verantwortung Wert ist, damit
dann der Einsatz des Willens für die Verwirklichung des betreffenden Zweckes
selbst als wertvoll beurteilt werden kann." (F. KAULBACH, Immanuel KANTs »Grund-
legung zur Metaphysik der Sitten«. Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988,
S.28).
6. Praktische Bedeutung KANTischer Verantwortlichkeit 99
mentativer Weg zur Anerkennung der Selbstzweckhaftigkeit, Selbstbestim-
mung - d. h. Autonomie - und damit Freiheit anderer Menschen führt. Diese
Anerkennung zeigt sich zunächst in der Umformulierung des kategorischen
Imperativs in der Selbstzweckformel, die gebietet, andere Menschen nicht
nur als Mittel, sondern stets auch als Selbstzweck zu verstehen. Dieses
Verständnis hat seine Wurzeln zum einen in der Begründung des ethischen
Imperativs in der Innerlichkeit des guten Willens. Zum anderen bleibt es
jedoch nicht beim bloßen »innerlichen« Verstehen, sondern der Imperativ
fordert auch eine Bestimmung der Maximen unserer Handlungen gemäß
diesem Verständnis. Die Anerkennung der Freiheit anderer Menschen in den
Bestimmungen unserer Handlungsweisen ist damit unmittelbar aus den
Grundlagen der KANrischen Ethik als ethische Forderung entwickelt176 •
Daß die KANrische Ethik über die bloße »Innerlichkeit« hinaus auch eine
Bedeutung für die Bestimmung der Relationen zwischen Menschen besitzt,
dies zeigt sich siarüber hinaus jedoch in der aus den Grundlagen der Ethik
entwickelten Rechtsphilosophie, die die Vereinigung der Freiheit des einen
mit der Freiheit des anderen durch Gesetze, die mit Sanktionsdrohungen
durchgesetzt werden können, als zentrale Forderung enthält.
Die Bedeutung der KANrischen Ethik für die ethische Verantwortlichkeit
unternehmerischen HandeIns kann zum einen in diesem ethisch fundierten
Zusammenhang der ethischen und der rechtlichen Berücksichtigung von
Freiheit in den Maximen des HandeIns gesehen werden. Auf der Grundlage
der KANrischen Ethik kann der Unternehmer seine Handlungen nicht mehr
nur solchen Kriterien unterwerfen, die er aufgrund seiner Verfassung als
ethisch verbindliches Wesen in seiner Innerlichkeit als ethisch richtig er-
kennt. GeraQe wenn er bereit ist, seine Handlungen auf ethische Richtigkeit
zu überprüfen, so ist er verpflichtet, die Rechtlichkeit seiner Beziehungen zu
den Marktpartnern als ethische Verpflichtung aufzufassen.

176 Vgl. H. KÖHL: "Das moralische Gesetz schreibt vor, auf andere Rücksicht zu
nehmen. Eine allgemeine Motivation zu solcher Rücksichtnahme ist nur denkbar,
wenn diejenige Eigenschaft von Personen, aufgrund deren sie ein Recht auf Rück-
sichtnahme haben, ein Gefühl erzeugt, das uns zu rücksichtsvollem Verhalten
motiviert. KANT hat diese Eigenschaft von Menschen in ihrer Autonomie lokalisiert
und die Motivationsquelle zu rücksichtsvollem Verhalten in dem moralischen Ge-
fühl der Achtung gesehen." (H. KÖHL, KANTS Gesinnungsethik, Berlin 1990, S.149).
100 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung' Freiheit· Immanuel KANT

Die Ausgestaltung dieser Rechtlichkeit in positiven Gesetzen muß nun nicht


mit dem übereinstimmen, was er in seiner Innerlichkeit als richtig ansieht.
Auch in diesem Falle verpflichtet die Ethik aus ihrer Fundierung in der
Freiheit selbstzweckhafter und zur Selbstbestimmung fähiger Personen dazu,
die ihm widerstrebenden Forderungen des Rechts zu akzeptieren. In gewisser
Weise gerät eine Unternehmensethik auf der Grundlage der KANTischen
Ethikkonzeption deshalb in eine paradoxe Lage. Sie empfiehlt dem Unter-
nehmer mit Hilfe ethischer Argumentationen, im Rahmen des Rechts solchen
Geboten zu folgen, die mit seiner persönlichen Auffassung von Gut und Böse
nicht übereinstimmen müssen - und dies bloß deshalb, weil sie Ausgestaltun-
gen der Rechtlichkeit in den Beziehungen zwischen den Menschen sind.
Diese »Entpersönlichung« des ethisch Gebotenen ist jedoch bereits in den
argumentativen Grundlagen der KANTischen Ethik angelegt. In gewisser
Weise ist darin sogar der zentrale Gedanke der KANTischen Ethik zu sehen,
also der Gedanke, aus dem der spezifisch ethische Gehalt einer Norm bzw.
Verpflichtung entwickelt wird. Der zentrale Gedanke der KANTischen Ethik
ist die Notwendigkeit einer Prüfung von Normen auf ihre Verallgemeine-
rungsfähigkeit, aufgrund derer allein sie als ethische gelten können. Dies
schließt Interessen jeder Art als Bestimmungsgründe solcher Normen aus.
Solche Interessen müssen in diesem Zusammenhang nicht »egoistisch« sein.
Auch das Interesse am Wohlergehen anderer Personen würde zu den Bestim-
mungsgründen des Willens gehören, die es nicht erlauben, eine Maxime als
ethisch zu bezeichnen. Mit dem Interesse an der Berücksichtigung fremder
Interessen wäre KANT zufolge also das spezifisch Ethische verfehlt. Reiner
Altruismus führt dieser Konzeption zufolge nicht zu Normen, die als ethisch
bezeichnet werden können, und er führt auch nicht zur Wahrnehmung einer
spezifisch ethischen Verantwortung.
6. Praktische Bedeutung KANTischer Verantwortlichkeit 101
6.2
Personalität und Privatheit. Das Universalisierungsprinzip
und KANTs Begriff ethischer Verantwortlichkeit

Auf ganz andere Weise kehrt die Bedeutung des Persönlichen und der
Berücksichtigung fremder Interessen jedoch mit Hilfe der zentralen Argu-
mentationen KANTs in die Ethik zurück. Hier geht es jedoch nicht darum, daß
der Handelnde seine persönlichen Ansichten über Gut und Böse durchsetzt
bzw. seinem unternehmerischen Handeln zugrundelegt. Entscheidend für den
ethischen Charakter auch unternehmerischer Handlungen ist vielmehr, daß
der Handelnde sich darin als Person zeigt. Dies tut er nach KANT, wenn er
sich als selbstzweckhaftes Wesen erweist, das zur Selbstbestimmung fähig
ist und darin seine Autonomie und Freiheit beweist. KANTS Begriff der Person
unterscheidet sich also von dem heute weit verbreiteten Begriff, der Person
vom »Persönlichen« her versteht und damit das meint, was ein Individuum
in Abgrenzung vom Allgemeinen nur für sich besitzt.

Im Gegensatz dazu enthält KANTs Begriff der Person einen internen Bezug
auf Allgemeinheit bzw. Verallgemeinerungsfahigkeit. Dieser Begriff behält
eine Verbindung zum geläufigen Begriff des Persönlichen, indem auch darin
die Freiheit als zentral für die Existenz einer Person angesehen wird. Freiheit
erscheint jedoch bei KANT nicht als die Sphäre des Persönlichen, das von der
Allgemeinheit getrennt sein könnte. Freiheit ist für KANT allein in der
ethischen Selbstbestimmung des Willens auf der Grundlage der Prüfung von
Maximen auf ihre Verallgemeinerungsfähigkeit möglich. Nur darin kann der
Mensch sich von der Naturkausalität trennen und sich als Teil der »intelligi-
belen« Welt zeigen. Erst und nur dieser Erweis von Freiheit macht den
Menschen zur Person, die damit vom nur »Persönlichen« unterschieden ist.
Von Person kann im KANTischen Denkzusammenhang also nur auf der
Grundlage der ethisch demonstrierten Freiheit gesprochen werden.

Nun enthält das ethische Grundprinzip jedoch nicht nur die Innerlichkeit der
Bestimmung eines guten Willens, sondern diese Bestimmung erfordert es
zugleich, sich selbst und alle anderen vernünftigen Wesen als Zwecke an sich
selbst und nicht nur als Mittel anzusehen und die Maximen der Handlungen
102 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KANT

entsprechend zu gestalten. Damit unterscheidet sich der KANTische Begriff


der Person nicht nur durch das Moment der Allgemeinheit bzw. Verallgemei-
nerungsHihigkeit von Maximen von einem Begriff, der vom »Persönlichen«
als dem Bereich des Individuums ausgeht. Er unterscheidet sich von einem
solchen Begriff auch dadurch, daß von Person nur gesprochen werden kann,
wenn eine solche Handlungsorientierung vorliegt, daß darin der Handelnde
sich selbst und alle von der Handlung tangierten Personen als Selbstzwecke,
als zur Selbstbestimmung fähige Wesen und damit als ausgezeichnet durch
Autonomie und Freiheit versteht und entsprechend berücksichtigt.

Der KANTische Begriff der Person verweigert sich also von vornherein dem
bloß Privaten. Person sein heißt nicht, den privat für richtig gehaltenen
Normen zu folgen, sondern sich an solchen Normen zu orientieren, die
sowohl der eigenen wie auch der fremden Freiheit gerecht werden. Als Person
und damit als ethisch verbindliches Wesen zeigt der unternehmerisch Han-
delnde sich also dann, wenn er bereit und fähig ist, sich weder an seinen
privaten Interessen noch an seinem Altruismus zu orientieren, sondern in die
Determinanten seiner Entscheidungen die Allgemeinheit aufnimmt, die
KANT zufolge allein geeignet ist, die Handlungssituation ethisch zu struktu-
rieren.
Eine solche Strukturierung impliziert demzufolge, sich selbst im dargestell-
ten Sinne als Person zu erweisen - dies wiederum erfordert jedoch die
Anerkennung aller anderen vernünftigen Wesen als Personen. Dies kann
ebenso mit Hilfe des Begriffes der Freiheit ausgedrückt werden: eine Hand-
lungssituation ist dann ethisch, wenn der Handelnde darin seine eigene
Freiheit beweist und gleichzeitig die Freiheit anderer vernünftiger Wesen
anerkennt.
Entsprechend ergibt sich für den Begriff der Verantwortung, daß von einer
Verantwortung im ethischen Sinne dann nicht gesprochen werden kann,
wenn »persönliche« (im Sinne von »privat«) Interessen der handelnden
Personen beteiligt sind. Solche Interessen müssen nicht egoistisch motiviert
sein. Sie können auch als moralische Überzeugungen auftreten. Eine ethische
Verantwortung wird im KANTischen Sinne nur dann ausgeübt, wenn die
eigenen Interessen oder moralischen Überzeugungen nicht als Grundlage der
6. Praktische Bedeutung KANTischer Verantwortlichkeit 103

Maximen von Handlungen dienen. Von Verantwortung kann also nur dann
gesprochen werden, wenn es darin dem Handelnden gelingt, die Verallge-
meinerungsfähigkeit als Kriterium für die Richtigkeit seiner Maximen zu
akzeptieren.
Deshalb liegt Verantwortung im ethischen Sinne nur dann vor, wenn der
Handelnde auf diese Weise sich selbst und alle anderen beteiligten vernünf-
tigen Wesen als Selbstzwecke und damit als fähig zur Selbstbestimmung
auffaßt. Es ist nur eine Umformulierung dieses Zusammenhanges, wenn
gesagt wird, daß Verantwortung entsprechend nur in einer Situation verwirk-
licht wird, in der die Autonomie und die Freiheit des Handelnden und der
beteiligten Personen sich als handlungsleitende Determinanten auswirken
können. Verantwortung ist also nur in einer Lage möglich, die durch die
wechselseitige Anerkennung von Selbstbestimmung und Freiheit aller Per-
sonen gekennzeichnet ist.
Auch auf der Grundlage des KANTischen Verständnisses von ethischer
Verantwortung zeigt sich eine gewisse »Entpersönlichung« als Grundzug des
Ethischen. Verantwortung im ethischen Sinne liegt nur dann vor, wenn der
Handelnde bereit ist, von seinen persönlichen Interessen an den Auswirkun-
gen seiner Handlungen auf andere Personen abzusehen. Es genügt auch nicht,
daß der Handelnde die Interessen einer bestimmten Gruppe anderer Personen
berücksichtigt. Speziell für eine Unternehmens ethik wird es auf der Grund-
lage der KANTischen Ethik also nicht ausreichen, sich um die Belange der
Marktpartner zu kümmern, um zu ethischen verantwortlichen Entscheidun-
gen zu kommen. Indem Verantwortlichkeit erst aus der Verallgemeinerungs-
fähigkeit als Kriterium ethischer Maximen entstehen kann, wird Verantwor-
tung nur dann wahrgenommen, wenn die Handlungsmaximen so bestimmt
werden, daß darin die Selbstbestimmung und die Freiheit des Handelnden
und aller vernünftigen Wesen Berücksichtigung finden können.
104 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm

6.3
Der Horizont der ethischen Verantwortlichkeit

Damit erweitert sich der Horizont der Verantwortung allerdings beträchtlich.


Es müssen nicht mehr die unmittelbaren Interessen der am Marktgeschehen
beteiligten Partner berücksichtigt werden, und auch eine Orientierung an nur
indirekt menschlichen Interessen wie dem Interesse an der Erhaltung der
natürlichen Umwelt reicht nicht aus, um eine Handlung als verantwortlich
auszeichnen zu können. KANT würde dies damit begründen, daß auf diese
Weise noch keine spezifisch ethische Verantwortung gegeben ist, sondern
die Handlungsorientierung prinzipiell immer noch im Bereich des »Privaten«
bleibt, auch wenn der Horizont des Privaten damit sehr weit über das
Individuelle hinausgeht.
Man könnte die KANTische Position sogar noch etwas radikaler formulieren:
Auch die Orientierung von Handlungen an den Interessen aller lebenden
Menschen würde allein nicht ausreichen, um eine Handlung als ethisch
verantwortlich kennzeichnen zu können 177. Gerade deshalb ist es aber einsei-
tig, von einer »Überdehnung« des Horizontes zu sprechen, innerhalb dessen
Interessen berücksichtigt werden müssen, um verantwortlich zu handeln. Im
Grunde könnte keine noch so weite Ausdehnung des Horizontes der KANTi-
sehen Argumentation bezüglich einer spezifisch ethischen Verantwortung
gerecht werden. Eine solche Forderung würde dem der KANTischen Ethik
zugrundeliegenden Prinzip der Verallgemeinerung nicht gerecht werden.
Verallgemeinerung heißt in diesem Zusammenhang nicht, daß die Interessen
aller Menschen berücksichtigt werden sollen oder müssen 178. Das Prinzip der
Verallgemeinerung war von KANT eingeführt worden, um eine Weise der
Bestimmung des Willens angeben zu können, die es erlaubt, von einem
»guten Willen« sprechen zu können. Der Anfang der ethischen Argumenta-

177 Im Hinblick auf HABERMAS kann sogar gesagt werden, daß nach KAm auch eine
Orientierung der Handlungsmaximen an den Interessen aller lebenden Menschen
und aller Menschen, die je gelebt haben und leben werden, nicht für eine ethische
Verantwortlichkeit ausreichen kann.
178 Im übrigen würde dies stets wieder zu der Frage zurückführen, warum alle Interessen
Berücksichtigung finden müssen, ohne auf deren ethische Berechtigung zu achten.
6. Praktische Bedeutung KANTischer Verantwortlichkeit 105

tion KANTs bestand ja in der Behauptung, daß nur ein guter Wille gut im
vollen und eigentlichen Sinne heißen könne. Dies ist nur dann aufrechtzuer-
halten, wenn der Wille ohne Rekurs auf externe Determinanten zu bestimmen
ist. Eine solche Bestimmungsmöglichkeit fand KANT in der Bestimmung
durch die bloße Form der Gesetzlichkeit ohne Rücksicht auf materielle oder
inhaltliche Determinanten. Gesetzlichkeit aber ist als Verallgemeinerungsfä-
higkeit zu denken. Diese argumentative Herkunft des Gedankens der Verall-
gemeinerung macht es unmöglich, von verantwortlichen Maximen nur dann
sprechen zu wollen, wenn ihre Rechtfertigung gegenüber den Interessen aller
Menschen möglich ist. In diesem Sinne fordert die KANTische Ethik zwar
von einem ethisch verantwortlich Handelnden, sich nicht nur an den Interes-
sen der unmittelbar Beteiligten zu orientieren. Sie fordert jedoch nicht, diese
Orientierung auf alle Interessen aller Menschen auszudehnen.

Deshalb kann im Grunde nicht von einer Überdehnung des Horizontes der
Verantwortlichkeit gesprochen werden. In gewissem Sinne kann die KANTi-
sehe Auffassung gerade in der entgegengesetzten Richtung verstanden wer-
den. Dies läßt sich daraus ersehen, daß aufgrund der spezifisch KANTischen
Bestimmung von ethischer Verantwortlichkeit nicht mehr gefordert ist, eine
Entscheidung auf ihre Verträglichkeit mit bestimmten anderen Interessen hin
zu untersuchen. Radikal formuliert kann sogar gesagt werden, daß die inhalt-
lich bestimmten anderen Interessen zunächst nicht ethisch relevant sind.
Indirekt sind sie es jedoch wohl.

Direkt jedoch können inhaltlich bestimmte Interessen schon deshalb nicht


allein die ethisch relevante Verantwortlichkeit determinieren, weil der Han-
delnde damit mit lediglich empirisch bestimmten Subjekten konfrontiert
wäre, also mit solchen Subjekten, die so angesehen werden, als ob sie ihren
Willen nur mit Hilfe inhaltlicher und damit externer Bestimmungsgrunde
determinieren könnten. Die grundlegende KANTische Argumentation würde
auf diese Weise dazu nötigen zu sagen, daß der Handelnde nicht mit Subjek-
ten konfrontiert wäre, die ihren Willen aufgrund der reinen Form der Gesetz-
lichkeit bestimmen können und damit als Wesen aufgefaßt werden können
und müssen, die Selbstzwecke und fähig zur Selbstbestimmung sind. Folglich
106 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KANT

müßte gesagt werden, daß der Handelnde nicht mit autonomen und freien
Vernunftwesen konfrontiert wäre.

Die ethische Situation, in der allein eine ethisch relevante Verantwortlichkeit


möglich ist, ist jedoch gerade durch die Anerkennung anderer Menschen als
Zwecke an sich selbst und als fähig zur Selbstbestimmung unabhängig von
inhaltlichen Interessen und damit als autonom und frei gekennzeichnet. Wenn
der KANTischen Argumentation gefolgt werden kann, so würde Verantwort-
lichkeit im Sinne der Berücksichtigung von Interessen - und seien es auch
die aller Menschen - gerade den ethischen Charakter der Verantwortung
dementieren. Das Moment der Verallgemeinerbarkeit, das in der KANTischen
Ethik konstitutiv für die ethische Situation und damit für das Vorliegen einer
ethisch relevanten Verantwortlichkeit ist, kann also gerade nicht als Über-
dehnung des Verantwortungshorizontes aufgefaßt werden.
Die Verantwortung, die auf der Grundlage der KANTischen Ethik als ethisch
relevant ausgezeichnet werden kann, unterscheidet sich von dem im alltägli-
chen Verständnis so genannten Phänomen vielmehr nicht quantitativ, son-
dern qualitativ. Nicht der Kreis der zu berücksichtigenden Menschen ist
größer, sondern das Verhältnis der Verantwortung ist selbst verändert. Ver-
antwortung bezieht sich vor allem nicht auf definierbare und bestimmbare
Interessen. Auf diese Weise wäre nach dem Denkzusammenhang der KANTi-
sehen Ethik gerade das dementiert, was eine ethisch relevante Verantwortung
auszeichnet. Das Ethische konstituiert sich durch den guten Willen, der eine
inhaltsfreie Bestimmung aufgrund reiner Gesetzlichkeit fordert, was den
Charakter der Selbstbestimmung impliziert und zu den Gedanken der Auto-
nomie und der Freiheit führt. Eine ethisch relevante Verantwortlichkeit kann
also schon deshalb nicht auf die Berücksichtigung bestimmter empirischer
Interessen beschränkt werden, weil damit das Mindestkriterium des Ethi-
schen nicht erfüllt wäre.
6. Praktische Bedeutung KANTischer Verantwortlichkeit 107

6.4
Der Inhalt ethischer Verantwortlichkeit

Nichtsdestoweniger verlangt der wesentliche Bedeutungsgehalt des Begrif-


fes Verantwortung, eine Verantwortung »für etwas« und »jemandem gegen-
über« zu übernehmen. Im KANTischen Denkzusammenhang fallen diese
beiden Elemente grundsätzlich zusammen. Wofür Verantwortung übernom-
men werden muß, sind offensichtlich die Handlungen, die in der Orientierung
an Maximen geplant werden, die einem Willen entsprechen, der sich nicht
inhaltlich und extern bestimmt, sondern der durch die reine Form der Gesetz-
lichkeit determiniert ist. Das »wofür« sind also Handlungen, die aus der
Autonomie und Freiheit der Person entspringen und die Selbstbestimmung
und die Selbstzweckhaftigkeit des vernünftigen Wesens ausdrücken.

Eine ethisch relevante Verantwortung kann im KANTischen Denkzusammen-


hangjedoch auch nur gegenüber Personen geleistet werden. Nur mit Personen
kann eine ethische Situation konstituiert werden, und nur in einer ethisch
definierten Situation kann eine solche Verantwortlichkeit bestehen. Personen
sind im KANTischen Verständnis solche Wesen, die als Zwecke an sich selbst
existieren. Dies ist gleichbedeutend mit ihrer Auszeichnung als Wesen, die
sich selbst bestimmen können. Sich selbst bestimmen können bedeutet Au-
tonomie, und dies wiederum ist nach KANT identisch mit der einzigen
Möglichkeit, Freiheit zu zeigen. Die auf diese Weise gegenüber allem N atür-
lichen ausgezeichneten Personen sind die einzigen Wesen, denen gegenüber
wir verpflichtet sein können. Dies hat KANT in der Selbstzweckformel des
kategorischen Imperativs ausgedrückt, der nur eine Urnformulierung des
sittlichen Imperativs darstellt.

Wofür wir also verantwortlich sind und wem wir verantwortlich sind, fallt in
gewisser Weise zusammen. Beides läßt sich mit dem Begriff der Personhaf-
tigkeit beschreiben. Dieser Begriff kann jedoch ersetzt werden durch die
Begriffe Selbstzweckhaftigkeit, Selbstbestimmung, Autonomie und Freiheit.
Wenn wir den Begriff der Freiheit benutzen, so können wir also auf der
Grundlage der KANTischen Konzeption von Ethik sagen, daß eine ethisch
relevante Verantwortung stets für die Freiheit und gegenüber der Freiheit
108 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Immanuel KAm

besteht. »Freiheit« ist für KANT jedoch nicht eine Eigenschaft, von der in
beliebigen Zusammenhängen die Rede sein kann, sondern Freiheit ist im
Grunde das Dasein des vernünftigen Wesens in seiner Selbstzweckhaftigkeit
und Selbstbestimmung. Demgemäß kann auch gesagt werden, daß eine
ethisch relevante Verantwortung stets für die Selbstbestimmung des vernünf-
tigen Wesens und gegenüber dem durch seine Fähigkeit zur Selbstbestim-
mung ausgezeichneten vernünftigen Wesen besteht.

Die ethische Situation wurde bisher durch die Personalität der Beteiligten und
den besonderen Charakter einer ethisch relevanten Verantwortung beschrie-
ben. Auf der Grundlage des ethisch determinierten engen Zusammenhanges
zwischen Moral und Recht im KANTischen Gedankengebäude muß jedoch
noch ein weiteres Element hinzugefügt werden. Das Recht besitzt in der
KANTischen Philosophie eine eigenartige Stellung. Einerseits ist die Person
aufgrund ihres ethischen Charakters verpflichtet, in einem rechtlichen Zu-
stand zu leben. Die Verpflichtung zur Rechtlichkeit ist also eine Folgewir-
kung der Genesis des Ethischen aus der Bestimmung des Willens ohne
externe und inhaltliche Determinanten durch reine Gesetzesförmigkeit. Folg-
lich entsteht die Verpflichtung zur Rechtlichkeit bereits mit der Selbstbestim-
mung, die Autonomie und Freiheit impliziert bzw. voraussetzt. Das Recht
beginnt also bereits in den ersten argumentativen Grundlagen der KANTi-
sehen Ethik.

Andererseits fordert das Recht Gehorsam auch gegenüber Gesetzen, die nicht
aus ethischer Legitimation ableitbar sind, sondern durch bloße Positivität
gelten und mit Hilfe von Sanktionsdrohungen durchgesetzt werden. KANT
sah darin und nur darin die Möglichkeit, in den äußeren Verhältnissen
zwischen Menschen die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen zu
vereinigen. Diese Forderung wurde im ethischen Zusammenhang mit der
Selbstzweckformel des kategorischen Imperativs aufgestellt und wird im
Recht nun auf die äußeren Verhältnisse und auf die äußere Freiheit übertra-
gen. Da die Verpflichtung zur Rechtlichkeit jedoch in den Grundlagen der
Ethik verwurzelt ist, so besteht auch ein enger Zusammenhang zwischen der
ethischen Situation und der Verpflichtung, in einem rechtlichen Zustand zu
6. Praktische Bedeutung KANTischer Verantwortlichkeit 109

leben, auch wenn dies mit dem Gehorsam gegenüber einem nur positiven und
nicht gleichzeitig in seiner Vernünftigkeit einsehbaren Recht verbunden ist.
Deshalb kann auch die Verpflichtetheit zur Rechtlichkeit als ein Bestandteil
der ethischen Situation und als Gehalt ethischer Verantwortlichkeit angese-
hen werden. Die KANTische Ethik ist gerade dadurch ausgezeichnet, daß sie
nicht bei rein ethischen Forderungen stehenbleibt, sondern aus internen
Gründen eine Verhaltensregelung als ethisch geboten impliziert, die im
Gegensatz zur Ethik nicht Rücksicht auf den guten Willen nimmt, sondern
nur die äußeren Handlungen regelt. Durch diese Ergänzung aber erhalten
auch Personalität und Verantwortlichkeit einen erweiterten Status. Das
ethisch fundierende Verhältnis zwischen Personen als Verhältnis zwischen
selbstzweckhaften und freien Wesen besteht nicht in seiner ganzen Wirklich-
keit, wenn es nicht die wechselseitige Verpflichtung der Personen auf das
Recht als sanktions gestützte Regelung ihrer äußeren Beziehungen ein-
schließt. Anders gesagt: einen Menschen als Person auffassen bedeutet auch,
danach zu streben, mit ihm in einen rechtlichen Zustand zu treten, wenn auch
nur die Möglichkeit besteht, daß in den äußeren Verhältnissen Interessenkol-
lisionen auftreten können.
Das gleiche gilt jedoch auch für das Moment der Verantwortlichkeit. Verant-
wortung zeigen bedeutet nicht nur, für die Selbstzweckhaftigkeit und Freiheit
der eigenen Person ebenso wie der fremden Person einzutreten. Von Verant-
wortlichkeit kann aufgrund der Verbindung von Moral und Recht nur dann
im vollen Sinne gesprochen werden, wenn jenes Eintreten für die Freiheit
und Selbstzweckhaftigkeit das Streben einschließt, mit den freien und zur
Selbstbestimmung fähigen Wesen in einen Rechtszustand zu treten, wenn die
äußeren Beziehungen auch nur die Möglichkeit von Interessenkollisionen
denken lassen.
Die ethische Situation stellt sich nach der KANTischen Konzeption demnach
als ein Ganzes von Personalität, Verantwortlichkeit und Rechtlichkeit dar,
das nicht verstanden werden kann, wenn eines der Elemente verabsolutiert
wird und andere Elemente daraus herausgelöst werden. Wer als Person im
Zusammenhang mit anderen Personen handelt, kann dies nur auf verantwort-
liche Weise tun. Verantwortlich handeln ist jedoch nur möglich, wenn dies
110 IV. Verantwortlichkeit· Selbstbestimmung· Freiheit· Irnmanue1 KANT

auf personaler Grundlage in der Anerkennung anderer Menschen als zur


Selbstbestimmung fähiger Personen geschieht. Der rechtliche Zustand ist nur
erreichbar, wenn die Personalität der Rechtssubjekte vorausgesetzt wird. Er
setzt ebenso die Fähigkeit der Rechtssubjekte zur Verantwortlichkeit voraus.
In diesem Sinne setzt er folglich ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmung und
ihre Freiheit voraus. Personalität erfordert aufgrund ihrer ethischen Fundie-
rung, die die Verpflichtung zur Rechtlichkeit einschließt, selbst das Streben,
die äußeren Verhältnisse mit anderen Menschen in einem rechtlichen Zustand
zu regeln. Im gleichen Sinne impliziert die Möglichkeit der Verantwortlich-
keit wegen ihrer Fundierung in der ausschließlich auf ethischer Grundlage
gegebenen Selbstbestimmung und Freiheit der Person das Streben, einen
rechtlichen Zustand in den äußeren Verhältnissen zwischen Menschen zu
erreichen. Die ethische Situation impliziert also das Streben nach Rechtlich-
keit, wie das Recht die ethische Situation zu seiner Voraussetzung hat.
V.
Der Diskurs als Begründung und Form
ethischer Verantwortlichkeit:
Jürgen HABERMAS

1.
Die Diskurstheorie der Wahrheit
und der ethischen Richtigkeit

Im folgenden soll die Frage nach dem spezifischen Charakter des Ethischen
und nach der Auszeichnung einer genuin ethischen Verantwortung an die
Theorie von HABERMAS gestellt werden. Damit soll weiter aufgeklärt wer-
den, worin das Ethische der untemehmerischen Verantwortung besteht und
welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit verantwortete Handlungen
im ökonomischen Bereich als ethisch bezeichnet werden können. Der Aus-
gangspunkt der HABERMAS'schen Ethikkonzeption verspricht zum Thema
Verantwortung zunächst eine weitere Erhellung dieses Phänomens in seiner
ethischen Dimension. Dies ergibt sich schon daraus, daß HABERMAS die
universalistische Dimension einer ethisch charakterisierbaren Verantwort-
lichkeit weitstärker und unmittelbarer als KANT auf die tatsächliche »Ant-
wort« auf die Forderungen der von unseren Handlungen betroffenen Perso-
nen bezieht. Dieses »dialogische« Element der HABERMAS'schen Konzep-
tion stellt sich jedoch als konstitutives Element einer genuin ethischen
Theorie dar. Ethische Richtigkeit erscheint dabei im Grunde als eine beson-
dere Form von Wahrheit, die den allgemeinen Grundsätzen der Feststellung
von Wahrheit genügen muß. Bei HABERMAS ist deshalb die Konzeption von
Wahrheit weitgehend deckungsgleich mit seiner Konzeption ethischer Rich-
112 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

tigkeit179 • Das ethisch Richtige können wir demgemäß auf die gleiche Weise
finden, wie wir Wahrheit überhaupt erreichen können.
Das Programm seiner Konzeption von Wahrheit und damit auch von ethi-
scher Richtigkeit skizziert HABERMAS bereits in der Neuausgabe von» Theo-
rie und Praxis« (1971): "Weil sich Wahrheit (in dem weitgefaßten traditio-
nellen Sinne der Vernünftigkeit) von bloßer Gewißheit durch ihren Absolut-
heitsanspruch unterscheidet, ist der Diskurs die Bedingung des Unbedingten.
Mit Hilfe einer Konsensustheorie der Wahrheit, die gegenüber konkurrieren-
den Wahrheits theorien zu begründen hätte, warum ein diskurs unabhängiges
Wahrheitskriterium sinnvollerweise nicht postuliert werden kann, wäre die
Struktur des Diskurses mit Bezugnahme auf die unvermeidliche wechselsei-
tige Antizipation und Unterstellung einer idealen Sprechsituation zu klä-
ren." 180

Die Konzeption einer genuin ethischen Verantwortung ist damit auf die
Klärung der Konzeption des praktischen »Diskurses« verwiesen l81 • Diskurse
sind jedoch keine »Veranstaltungen«, die zu Zwecken der Begründung
ethischer Normen abgehalten werden können, ohne daß dazu eine Notwen-
digkeit bestünde. Die Bedeutung des Diskurses bei HABERMAS kann vielmehr
nur aus dem Zusammenhang seiner»Theorie der kommunikativen Kompe-
tenz« abgeleitet werden l82 . Eine solche Theorie soll die Leistungen erklären,
"die Sprecher oder Hörer mit Hilfe pragmatischer Universalien vornehmen,
wenn sie Sätze in Äußerungen transformieren" 183. Unter »Sätzen« sind dabei
linguistische Einheiten zu verstehen; »Äußerungen« dagegen sind situierte
Sätze, d. h. Sätze, die in kommunikativen Zusammenhängen verwendet
werden.

179 Vgl. R. RODERICK, HABERMAS und das Problem der Rationalität, Hamburg 1989,
S. 107 f; sowie W. REESE-SCHÄFER, Jürgen HABERMAS, Frankfurt/Main 1991, S. 54
ff.
180 J. HABERMAS, Theorie und Praxis, (Einleitung zur Neuausgabe 1971), Frank.-
furtIMain 1971, S. 25 f.
181 Vgl. S. JAKOB, Zwischen Gespräch und Diskurs, Bem u. a. 1985, S. 173 ff.
182 Vgl. dazu H. GRIPP, Jürgen HABERMAS, Paderbom u. a. 1984, S. 43 ff.
183 J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen
Kompetenz, in: J. HABERMAS/N. LUHMANN, Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
technologie - Was leistet die Systemforschung?, FrankfurtIMain 1971, S. 103.
1. Diskurstheorie· Wahrheit· ethische Richtigkeit 113

Diskurse können nun als notwendige Komplemente des kommunikativen


HandeIns aufgefaßt werden. Unter kommunikativem Handeln versteht HA-
BERMAS eine symbolisch vermittelte Interaktion: "Sie richtet sich nach obli-
gatorisch geltenden Normen, die reziproke Verhaltens erwartungen definie-
ren und von mindestens zwei handelnden Subjekten verstanden und aner-
kannt werden müssen. Gesellschaftliche Normen sind durch Sanktionen
bekräftigt. Ihr Sinn objektiviert sich in umgangssprachlicher Kommunika-
tion. Während die Geltung technischer Regeln und Strategien von der Gül-
tigkeit empirisch wahrer oder analytisch richtiger Sätze abhängt, ist die
Geltung gesellschaftlicher Normen allein in der Intersubjektivität der Ver-
ständigung über Intentionen begründet und durch die allgemeine Anerken-
nung von Obligationen gesichert." 184 Die Notwendigkeit von Diskursen
ergibt sich aus der Störanfälligkeit solcher Sprachspiele. Generell könnte
gesagt werden, daß Diskurse notwendig sind, weil über die Geltungsansprü-
che, die im kommunikativen Handeln erhoben werden, nicht jederzeit ein
Konsens zwischen den beteiligten Subjekten besteht.
Des näheren sind Diskurse als Reaktionen auf solche Fragen aufzufassen, die
Zweifel an den impliziten Geltungsansprüchen von Äußerungen ausdrük-
ken l85 . Der Charakter eines Diskurses läßt sich nun konsequent aus seiner
Aufgabe der begründenden Untersuchung von Geltungsansprüchen ableiten.
Zunächst formt die diskursive Begründung "Deutungen in Interpretationen,
Behauptungen in Propositionen, Erklärungen in theoretische Erklärungen,
und Rechtfertigungen in theoretische Rechtfertigungen um" 186. Damit wird
im Grunde nur die Verwandlung des Status eines Geltungsanspruchs von
seiner im Gang des Sprachspiels selbstverständlichen Akzeptanz zu einer
fraglichen und begründungsbedürftigen Behauptung beschrieben.

184 1. HABERMAS, Technik und Wissenschaft als Ideologie, FrankfurtlMain 1968, S. 62.
Zum Begriff des kommunikativen Hande1ns vgl. auch H. GRIPP, Jürgen HABERMAS,
Paderborn u. a. 1984, S. 23 ff; sowie W. REESE-SCHÄFER, Jürgen HABERMAS,
FrankfurtlMain 1991, S. 27 ff.
185 Vgl. J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunika-
tiven Kompetenz, a. a. 0., S. 117.
186 J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen
Kompetenz, a. a. 0., S. 117.
114 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

Der Status von Diskursen ist darüber hinaus jedoch durch zwei Charaktere
bestimmt, die HABERMAS als konstitutiv für die Möglichkeit ansieht, im
Diskurs zu Begründungen gelangen zu können. Diese bei den Charaktere
können deshalb auch als Konstituentien von Rationalität und damit als
notwendige Wahrheitskriterien angesehen werden.
(1) Zunächst erfordern Diskurse eine »Virtualisierung der Handlungszwän-
ge«; dies bedeutet, "daß alle Motive außer dem einer kooperativen
Verständigungsbereitschaft außer Kraft gesetzt und Fragen der Geltung
von denen der Genesis getrennt werden" 187. Der Eintritt in einen Diskurs
setzt also die Fähigkeit und die Bereitschaft voraus, einen Dialog zu
führen, der frei von strategischen Elementen ist, m. a. W.: der prinzipiell
interesselos geführt wird. Hier läßt sich eine Parallele zu KANT ziehen,
dem zufolge von einer ethischen Willensbestimmung nur dann die Rede
sein kann, wenn diese Bestimmung ohne externe Determinanten nur
durch reine Gesetzesförmigkeit vorgenommen wird. HABERMAS würde
KANT also in Bezug auf die Bestimmung des Ethischen soweit zustim-
men, als davon nur die Rede sein kann, wenn eine Abstraktion von den
eigenen Interessen geleistet wird.
Schon jetzt kann allerdings darauf hingewiesen werden, daß Interessen
bei HABERMAS auf bestimmte Weise wieder in den ethischen Diskurs
eingeführt werden, dies allerdings nur so, daß sie dabei eine folgenreiche
Transformation erleiden müssen, in der sie sich als »private« Interessen
gleichzeitig allgemein machen müssen. Im Gegensatz zu KANT fordert
die HABERMAS'sche Theorie jedoch nicht die völlige Abstraktion von
inhaltlichen Bestimmungsgründen des Willens. In gewisser Weise sieht
HABERMAS gerade diese Bestimmungsgründe als Grundlage für die
Gewinnung eines transsubjektiven Wissens um das richtige Handeln an.
Nichtsdestoweniger weist jene Transformation doch Berührungspunkte
mit der KANTischen Forderung nach einer Willensbestimmung aufgrund
der reinen Form der Gesetzlichkeit auf.
(2) Zum zweiten erfordern Diskurse eine »Virtualisierung von Geltungsan-
sprüchen«, die dazu führen soll, "daß wir gegenüber den Gegenständen
kommunikativen Handeins (also Dingen und Ereignissen, Personen und
Äußerungen) einen Existenzvorbehalt anmelden und

187 J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen


Kompetenz, a. a. 0., S. 117.
2. Diskurstheorie· Konsenstheorie 115

a) über Sachverhalte, die der Fall, aber auch nicht der Fall sein können,
und
b) über Empfehlungen und Warnungen, die richtig, aber auch nicht richtig
sein können, diskutieren" 188.
Der Eintritt in einen Diskurs setzt demnach die Fähigkeit voraus, in
Propositionen ausgedrückte Sachverhalte ohne präjudizierende Beurtei-
lung ihrer Richtigkeit zu betrachten. Neben der Interesselosigkeit ist also
auch eine Vorurteilslosigkeit gefordert, um mit Gründen ein intersubjektiv
gestörtes Wirklichkeitsverständnis wiederherstellen zu können. Mit
KANT und im Gegensatz zu JONAS lehnt HABERMAS also den Anschluß
seiner Ethik an intuitiv vorgegebene Überzeugungen ab und sieht das
Ethische einer Handlungsorientierung nur dann als verwirklicht an, wenn
eine Begründung ethisch richtigen HandeIns auf einem voraussetzungslo-
sen Grund vorgenommen wird.

2.
Diskurstheorie und Konsenstheorie

Die von HABERMAS entwickelte Diskurstheorie der Wahrheit und der ethi-
schen Richtigkeit läßt sich nun im Grunde als Lösung eines einzigen grund-
legenden Problems verstehen. Dieses Problem ist das Kriterium eines wahren
Konsenses l89 . Synonym dazu könnte von dem Problem des Kriteriums eines
vernünftigen Konsenses gesprochen werden: "Wahrheit meint das Verspre-
chen, einen vernünftigen Konsensus zu erzielen." 190 Der Zusammenhang
zwischen Wahrheit eines Konsenses und Vernünftigkeit eines Konsenses
stellt jedoch eine der grundlegenden Schwierigkeiten der HABERMAS'schen
Wahrheitskonzeption dar, und ein großer Teil des Argumentationsaufwandes

188 J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen


Kompetenz, a. a. 0., S. 117.
189 Vgl. S. JAKOB, Zwischen Gespräch und Diskurs, Bern u. a. 1985, S. 179 ff; sowie
H. SCHEIT, Wahrheit - Diskurs - Demokratie, Freiburg/München 1987, S. 86 ff.
190 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, in: H. FAHRENBACH, Hrsg., Wirklichkeit und
Reflexion. Festschrift für W. SCHULZ zum 60. Geburtstag, Pfullingen 1973, S. 219.
116 V. Verantwortlichkeit· Diskurs' Jürgen HABERMAS

wird eingesetzt, um diese Schwierigkeit zu bewältigen. Im Grunde muß


HABERMAS diesen Zusammenhang durch die faktische Unmöglichkeit eines
allumfassenden Konsenses herstellen, der für die Feststellung von Wahrheit
ausreichend wäre l91 .
Darin ist nun auch eine der grundlegenden gedanklichen Voraussetzungen
der HABERMAS'schen Ethik zu finden. Von einer begründeten ethischen
Wahrheit soll noch nicht die Rede sein, wenn nur ein faktischer Konsens
erzielt werden kann. Die erste Behauptung lautet demnach, daß von der
Wahrheit einer ethischen Prädikation nur dann die Rede sein kann, "wenn
auch jeder andere, der in ein Gespräch mit mir eintreten könnte, demselben
Gegenstand das gleiche Prädikat zusprechen würde" 192. Nicht die Zustim-
mung der tatsächlichen Gesprächspartner ist also das Wahrheitskriterium,
auch nicht der Konsens aller zu einem bestimmten Zeitpunkt auf dieser Erde
lebenden Menschen, sondern das Kriterium bezieht sich auf die Zustimmung
aller der Gesprächspartner, "die ich finden könnte, wenn meine Lebensge-
schichte mit der Geschichte der Menschenwelt koextensiv wäre" 193.

Die Bedeutung dieses Elementes der HABERMAS'schen Ethik wird leicht


übersehen. Vermutlich liegt dies an der Irrealität dieser Bedingung. Aber nur
mit diesem Element kann HABERMAS dem Standardargument gegen jede
Konsensustheorie begegnen. Der Konsensustheorie wird üblicherweise ent-
gegengehalten, daß auch der Begriff ethischer Wahrheit ein kritisches Poten-
tial enthalte, das sich jedem Übereinkommen zwischen Menschen entziehe.
Damit wird gerade auf den »gesellschaftsfreien« Charakter ethischer Wahr-
heit verwiesen, der dem Individuum stets die Möglichkeit gebe, sich einer
frei zustandegekommenen oder auch von oben verordneten Richtigkeit von
Handlungen zu entziehen.
Solange eine Konsenstheorie nur den tatsächlichen Konsens oder den Kon-
sens aller gegenwärtig lebenden Menschen als Kriterium ethischer Wahrheit
betrachtet, solange bleiben ihre Wahrheiten tatsächlich unter dem Vorbehalt,
sie könnten durch die Urteile künftig lebender Generationen dementiert wer-

191 Vgl. W. REESE-SCHÄFER, ]ürgen HABERMAS, FrankfurtJMain 1991, S. 19 ff.


192 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 219.
193 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 219.
2. Diskurstheorie· Konsenstheorie 117

den oder durch neues Wissen über die Urteile vergangener Generationen über
das in Frage stehende Problem ihre Allgemeinheit verlieren. Damit aber
könnte nur in eingeschränktem Sinne von ethischer Wahrheit gesprochen
werden, wenn ein wahrer ethischer Satz eine Gültigkeit für alle Zeit bean-
sprucht. Das Ethische wäre damit an die Bedingungen der Akzeptanz von
Argumenten gebunden, wie sie in einer bestimmten Zeit und in einer be-
stimmten Gesellschaft vorherrschend sind. Der Begriff der ethischen Verant-
wortung wäre damit reduziert auf ein Sich-verantworten, das bereits dann
sein Ziel erreicht, wenn eine Maxime faktisch eine ausreichende Zustimmung
erreicht. HABERMAS sieht jedoch ebenso wenig wie KANT in einer solchen
»externen« Bestimmung schon das Wesen des Ethischen erreicht.

Bei all ihrer »Irrealität« kann HABERMAS' Forderung nach Zustimmung aller
möglichen Gesprächspartner aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
doch in Anspruch nehmen, dem erwähnten Einwand gegen eine Konsensus-
theorie entgehen zu können. Eine auf diese Weise begründete ethische
Wahrheit steht nicht mehr in der Möglichkeit, durch abweichende Urteile
vergangener oder zukünftiger Generationen in Frage gestellt zu werden.
Wenn jeder andere genauso urteilen würde, so ist sichergestellt, daß das
betreffende Urteil Gültigkeit für alle Zeit besitzt. Wenn dieses Kriterium also
tatsächlich erfüllbar wäre, so würde es die Absolutheit einer ethischen
Wahrheit dadurch garantieren, daß kein möglicher Einwand mehr denkbar
wäre. Die Forderung, von ethischer Wahrheit nur dann zu sprechen, wenn
die Zustimmung aller Angehörigen aller vergangenen, gegenwärtigen und
zukünftigen Generationen gesichert ist, verleiht der HABERMAS' sehen Ethik-
konzeption demnach eine Stärke, die im Rahmen einer Konsensustheorie
sonst nicht zu erreichen wäre.

Diese Stärke impliziert aufgrund der Irrealität der Annahme, auf die sie sich
gründet, jedoch gleichzeitig ein fundamentales Problem. Dessen Lösung
führt HABERMAS zu der speziellen Form einer Konsensustheorie als Diskurs-
theorie. Eine zentrale Frage an seine Ethikkonzeption ist deshalb, ob auf
diesem Weg zum Diskurs als Kriterium ethischer Wahrheit jene Stärke des
Wahrheitsbegriffes erhalten bleiben kann, die durch die zeitübergreifende
Universalität des Konsenses erreicht wurde. Und es ist die Frage, ob auf
118 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

diesem Wege ein Begriff des Ethischen und einer genuin ethischen Verant-
wortung erreicht werden kann, der für unternehmensethische Fragestellun-
gen tatsächlich förderlich sein kann. Solange die tatsächliche Zustimmung
aller möglichen Gesprächspartner gefordert wird, solange kann dies offenbar
nicht der Fall sein, wenn denn die Unternehmensethik nicht dazu führen soll,
alle Entscheidungen auf unabsehbare Zeit zu suspendieren.

3.
Die Reduzierung des Anspruchs der Diskurstheorie:
Kompetenz und Vernünftigkeit als Ersatz
für die Universalität freier Zustimmung

Der erste Schritt auf dem Weg von der radikalen Konsenstheorie zur Diskurs-
theorie ist die Einschränkung der Wahrheitsbedingung: "Nun sind es faktisch
immer nur einige Personen, an deren Zustimmung ich meine Behauptung
kontrollieren kann. Diese faktische Zustimmung einiger anderer, die ich
möglicherweise erreiche, wird um so eher auf die Zustimmung weiterer
Beurteiler rechnen dürfen, je weniger wir und andere einen Grund sehen, an
ihrer Kompetenz zu zweifeln." 194 Offensichtlich ist das Problem damit von
der Irrealität der zuerst gemachten Annahme auf die Frage verschoben, unter
welchen Bedingungen denn von Kompetenz die Rede sein kann.
Darüber hinaus bedeutet diese Einschränkung der Wahrheitsbedingung zwei-
fellos eine Abschwächung des zuerst postulierten Begriffes ethischer Wahr-
heit. Die überzeitliche Gültigkeit ethischer Urteile für alle Generationen wird
nun von der Gültigkeit eines Schlusses abhängig gemacht, der etwa folgen-
dermaßen formuliert werden kann: Wenn jeder kompetente Beurteiler einer
Behauptung zustimmt, so würde jeder Sprecher aus vergangenen, gegenwär-
tigen und zukünftigen Generationen, der diese Behauptung prüfen würde,
dieser Behauptung ebenfalls beipflichten.

194 J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen


Kompetenz, a. a. 0., S. 124.
3. Kompetenz und Vernünftigkeit 119

Ist der zunächst zugrundegelegte Begriff ethischer Wahrheit im Sinne einer


universellen und sich über alle Zeiten erstreckenden Zustimmung von einer
Stärke, der wahrscheinlich alle Zweifel mit den Aporien der Korrespondenz-
theorie belasten würde, so ist die nun vorgenommene Einschränkung weit
anfälliger für Einwände. Dies hängt mit einigen von HABERMAS weitgehend
stillschweigend gemachten Annahmen zusammen. Die Abhängigkeit von
einem bestimmten Schlußverfahren wurde bereits erwähnt. Darüber hinaus
hing die Stärke der Konsensustheorie im Sinne einer - hypothetischen -
überzeitlichen universellen Zustimmungsfähigkeit auch von der Unmöglich-
keit ab, daß gegen das einmal als wahr erkannte Urteil noch weitere Einwände
geltend gemacht werden könnten. Wenn sich der Konsensus jedoch nur auf
die Kompetenz stützt, so bleibt stets die Möglichkeit von Einwänden offen.
Die Frage bleibt also offen, ob auf dieser Grundlage ein konsistenter Begriff
des Ethischen und ethischer Verantwortung entwickelt werden kann.

Des weiteren stellt sich nun die Frage nach der Zeitgebundenheit von Kom-
petenz. Nach der gemachten Einschränkung soll von Wahrheit eines ethi-
schen Urteils dann die Rede sein, wenn jeder andere kompetente Beurteiler
zustimmen würde. Stillschweigend wird jedoch unterstellt, daß es sich dabei
um die gegenwärtig als kompetent angesehenen Beurteiler handelt. Zunächst
kann gefragt werden, was Kompetenz auf ethischem Gebiet bedeuten kann,
wenn nicht bereits eine begründete Konzeption von ethischem Wissen zu-
grundege1egt werden kann. Außerdem kann gerade auf ethischem Gebiet
Kompetenz zu verschiedenen Zeiten - und im übrigen auch in verschiedenen
Kulturen - sehr verschiedenes bedeuten. Deshalb bedeutet die Vorausset-
zung, daß die derzeitig als kompetent angesehenen Beurteiler alleine als
sachkundig gelten sollen, eine weitere Einschränkung der Stärke der Kon-
sensuskonzeption ethischer Wahrheit.

HABERMAS ist also nun verpflichtet zu klären, was Kompetenz der Beurtei-
lung heißen kann. Das Kriterium »Sachverstand« scheidet zunächst aus, da
dafür keine unabhängigen Bedingungen angegeben werden können. HABER-
MAS schlägt deshalb folgendes Kriterium für Kompetenz vor: "Ich will
deshalb die Kompetenz eines Beurteilers, an dessen Zustimmung ich mein
eigenes Urteil kontrollieren kann, nicht von seinem Sachverstand abhängig
120 V. Verantwortlichkeit· Diskurs' Jürgen HABERMAS

machen, sondern einfach davon, ob er 'vernünftig' ist." 195 Damit hat sich
HABERMAS verpflichtet, den Begriff der Vernunft so zu erklären, daß er in
der Lage ist, dem Begriff Kompetenz eine sinnvolle Bedeutung zu verlei-
hen l96 .
Mit dem Begriff der Vernunft scheint sich HABERMAS darüber hinaus KANT
anzunähern, dessen explizites Ziel es ist zu klären, wie weit wir mit Hilfe
reiner Vernunft auf ethischem Gebiet kommen können. Vernunft war bei
KANT allerdings aufs engste mit dem Begriff logischer Verallgemeinerungs-
fähigkeit verbunden. Nichtsdestoweniger führte von da ein Weg zu einer
Konzeption, die über die Selbstzweckhaftigkeit anderer Personen ein »inter-
subjektives« Element in die ethische Vernunft einführte. Es ist deshalb für
einen Vergleich der Konzeptionen von KAm und HABERMAS besonders
aufschlußreich zu sehen, wie HABERMAS einen Begriff von Vernünftigkeit
formuliert, der nicht »monologisch« beschränkt ist, sondern das Element der
Beziehung zwischen Menschen und damit der Verantwortlichkeit beibehal-
tenkann.
HABERMAS' Strategie zur Bestimmung des Vernunftbegriffes beginnt nun
mit der Verteidigung der Auffassung, "daß es mindestens vier Klassen von
gleichursprünglichen Geltungsansprüchen gibt und daß diese vier, nämlich
Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit, einen Zusam-
menhang darstellen, den wir Vernünftigkeit nennen können" 197. Diskursiv
einlösbar sind davon offenbar nur die Ansprüche auf Wahrheit und Richtig-
keit l98 . Daß gerade diese vier Geltungsansprüche konstitutiv für Vernünftig-
keit sind, leitet HABERMAS daraus ab, daß ihre reziproke Anerkennung den
»Hintergrundkonsensus« für jedes funktionierende Sprachspiel bildet. Das
Sprachspiel des kommunikativen Handeins aber erfordert als seine Funk-
tionsbedingung die Möglichkeit des jederzeitigen Übergangs in den Diskurs,

195 J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen


Kompetenz, a. a. 0., S. 125.
196 V gl. H. SCHEIT, Wahrheit - Diskurs - Demokratie, Freiburg/München 1987, S. 94 f.
197 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 220.
198 Wahrhaftigkeitsansprüche dagegen können nur in Handlungszusammenhängen ein-
gelöst werden; die Wahrhaftigkeit eines Menschen zeigt sich, "wenn wir die Inter-
aktionen mit ihm nur lange genug fortsetzen, in seinen Handlungen" (Wahrheits-
theorien, a. a. 0., S. 221).
3. Kompetenz und Vernünftigkeit 121

sobald es aufgrund von Zweifeln an der Richtigkeit oder der Wahrheit von
Urteilen gestört wird l99 .
Daraus läßt sich ableiten: Jener Zusammenhang, der nach HABERMAS »Ver-
nünftigkeit« darstellen soll, ist eine Voraussetzung für Verständigung über-
haupt. Jene Vernünftigkeit, die einen kompetenten Beurteiler von Behaup-
tungen auszeichnet, ist also zugleich ein System von Eigenschaften, die ihm
überhaupt die Teilnahme am kommunikativen Handeln bzw. die Verständi-
gung mit anderen Menschen ermöglichen. Vernunft ist damit nicht bloß eine
Forderung, deren Selbstevidenz vorausgesetzt werden muß, sondern die
Verwendung von Vernunft für die Bestimmung ethisch richtigen Handeins
erscheint selbst als eine Voraussetzung für etwas Gewisses, nämlich unsere
Fähigkeit, uns mit anderen Menschen verständigen zu können2oo • Wenn es
nun gelänge, diese Vernünftigkeit in sich mit der Verantwortlichkeit für
unsere Handlungen zu verbinden, so wäre auch das Phänomen der Verant-
wortlichkeit bereits als Voraussetzung in allen Verständigungs prozessen
impliziert.
Einerseits ist dies insofern konsequent, als HABERMAS den Diskurs nicht als
eine willkürliche Veranstaltung eingeführt hatte, sondern die Möglichkeit
von Diskursen als Möglichkeitsbedingung von Verständigung überhaupt
entwickelt hatte. Andererseits entsteht dadurch jedoch ein weiteres Problem
der HABERMAS'schen Theorie ethischer Wahrheit. Das, was Bedingung von
Verständigung überhaupt ist, soll nun gleichzeitig jene Vernünftigkeit kenn-
zeichnen, die unter dem Titel der Beurteilungskompetenz jene Gesprächs-
partner auszeichnet, die durch ihre Zustimmung stellvertretend für die nicht
mögliche universelle und überzeitliche Zustimmung aller Gesprächspartner
die Wahrheit eines ethischen Urteils garantieren. Daraus ergibt sich, daß
jeder, der zur Verständigung mit anderen Menschen fähig ist, auch schon zur
Beurteilung von ethischen Behauptungen stellvertretend für alle anderen
Menschen in der Lage ist.

199 Vgl. D. HORSTER, HABERMAS zur Einführung, Hamburg 1988, S. 42 f; sowie M. BAR-
TELS, Sprache und soziales Handeln. Eine Auseinandersetzung mit HABERMAS'
Sprachbegrijf, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 3611982, S. 226 - 234.
200 Vgl. S. JAKOB, Zwischen Gespräch und Diskurs, Bem u. a. 1985, S. 192 f.
122 V. Verantwortlichkeit· Diskurs' Jürgen HABERMAS

Um die Wahrheit ethischer Urteile untersuchen zu können, müssen wir


folgerichtig nun die Zustimmung eines jeden suchen, der überhaupt fähig ist,
sich mit uns zu verständigen. Speziell für den Geltungsanspruch »Wahrheit«
gilt, daß jedem Sprecher, der zur reziproken Anerkennung von W ahrheitsan-
sprüchen in der Lage ist, auch die Fähigkeit zur Prüfung von Wahrheits an-
sprüchen zugeschrieben werden muß. Ist damit jedoch eine Bestimmung
gefunden, die es erlaubt, die Zustimmungsbedürftigkeit für wahre Urteile auf
ethischem Gebiet auf kompetente Gesprächspartner zu beschränken und
deren Kompetenz durch Vernünftigkeit zu definieren? Mit Bezug auf den
Begriff der Verantwortung lautet die Frage: Ist es für den Begriff einer
ethischen Verantwortlichkeit ausreichend, die Zustimmung vernünftiger Ge-
sprächspartner zu suchen? Dagegen könnte eingewendet werden, daß im
Grunde nur die Zustimmungsbedürftigkeit auf jene Gesprächspartner be-
schränkt wird, mit denen tatsächlich Verständigungs prozesse stattfinden
können, weil sie prinzipiell zu Argumentationen fähig sind, die der diskursi-
ven Einlösung von Geltungsansprüchen dienen.

4.
Die Logik des Diskurses

Folgerichtig führt die Begründung der HABERMAS'schen Ethikkonzeption,


auf deren Weg bisher die Schritte »universeller Konsensus«, »Kompetenz«
und» Vernünftigkeit« zurückgelegt wurden, nun zu einer Untersuchung der
Logik des Diskurses. Darin muß geklärt werden, was diskursive Einlösung
von Geltungsansprüchen überhaupt heißen kann und muß. Entsprechend muß
die Logik des Diskurses geeignet sein, das Spezifische einer genuin ethischen
Verantwortung zu bestimmen. Erfolgsbedingung einer Theorie der Logik des
Diskurses ist demnach der Nachweis, daß der Diskurs Bedingungen bereit-
stellt, unter denen wir einen Konsens mit solchen Eigenschaften erzielen
können, die ihn als begründeten, vernünftigen und d. h. wahrheitsverbürgen-
4. Logik des Diskurses 123

den Konsens ausweisen 20I • Die Aufgabe lautet deshalb genauer so: "Wenn
der Sinn von Wahrheit in der Möglichkeit besteht, in Diskursen über die
Berechtigung des problematisierten Geltungsanspruches eine positive Ent-
scheidung herbeizuführen und wenn eine diskursiv herbeigeführte Entschei-
dung nur in Form eines argumentativ erzielten Konsensus fallen kann, dann
muß gezeigt werden, worin die konsenserzielende Kraft des Arguments
besteht: Sie kann nicht in dem bloßen Faktum, daß Übereinstimmung argu-
mentativ erzielt werden kann, bestehen, sondern dieses Faktum selbst bedarf
der Erklärung." 202
Nun war bereits zuvor das »Gewißheitserlebnis«, das die Anerkennung
diskursiveinlösbarer Wahrheits- und Richtigkeitsansprüche begleitet, als die
"Erfahrung des eigentümlich zwanglosen Zwanges des besseren Argumen-
tes" bezeichnet worden 203 • Dieser »zwanglose Zwang« wird nun gleichge-
setzt mit »rationaler Motivation«. Daraus kann entnommen werden, daß
HABERMAS genau jenen »zwanglosen Zwang des besseren Argumentes« als
das Wesen der Vernünftigkeit ansieht. Aus der vorangegangenen Argumen-
tationskette ergibt sich nun, daß ethische Wahrheit dann gefunden werden
kann, wenn die in Frage stehenden ethischen Urteile die Zustimmung aller
Gesprächspartner finden, die bereit sind, in ihrer Beurteilung ausschließlich
jenem »zwanglosen Zwang« zu folgen, d. h.: die bereit sind,jene Urteile nur
mit Argumenten zu prüfen. Ein Argument aber ist "die Begründung, die uns
motivieren soll, den Geltungsanspruch einer Behauptung oder eines Gebots
bzw. einer Bewertung anzuerkennen" 204.
Der Schlußpunkt der Entwicklung der HABERMAS' sehen Ethikkonzeption
wird nun dadurch erreicht, daß die rationale Motivation - und d. h. die
Vernünftigkeit, die Kompetenz und damit die Befugnis zur Beurteilung der
Wahrheit von Urteilen fundiert - durchformale Eigenschaften des Diskurses
erklärt wird205 • Von einer wahrheitsorientierten Motivation soll also dann

201 Vgl. J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 239 f.


202 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 240.
203 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 226.
204 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 241 f.
205 "Es sind also die formalen Eigenschaften des Diskurses, die nach HABERMAS
begründen, daß »echte« Einigung prinzipiell denkbar ist." (H. GRIPP, Jürgen HABER-
MAS, Paderborn u. a. 1984, S. 53).
124 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

ausgegangen werden können, wenn die Suche nach ethischer Wahrheit in


einer ganz bestimmten Situation stattfindet, die durch wohldefinierte Bedin-
gungen ausgezeichnet ist. Ungewöhnlich daran ist vor allem der zugrunde-
gelegte Begriff von Motivation. Motivation wird nicht als ein innerer Antrieb
angesehen, der nur durch eine psychologische Beschreibung charakterisier-
bar ist, sondern als eine Eigenschaft von Sprechsituationen, die zusammen
mit einer bestimmten Struktur einer solchen Situation auftritt.
Bekanntlich faßt HABERMAS jene Eigenschaften des Diskurses, die ihn zur
allein wahrheitserzeugenden Instanz machen, unter dem Begriff der »idealen
Sprechsituation« zusammen206 . Ihre Bedeutung gewinnt diese Situation je-
doch nicht durch ihre Wirklichkeit, sondern als eine vorauszusetzende Be-
dingung von gelingender V erständigung207 . Auch wenn diese Situation also
faktisch nicht verwirklicht ist, so fundiert sie zumindest als Unterstellung
doch die Möglichkeit von Rede, Verständigung und Wahrheit: "Der Vorgriff
auf die ideale Sprechsituation ist Gewähr dafür, daß wir mit einem faktisch
erzielten Konsensus den Anspruch des wahren Konsensus verbinden dürfen;
zugleich ist dieser Vorgriff ein kritischer Maßstab, an dem jeder faktisch
erzielte Konsensus auch in Frage gestellt und daraufhin überprüft werden
kann, ob er ein zureichender Indikator für wirkliche Verständigung ist." 208

Die Konsensuskonzeption ethischer Wahrheit wollte den zwanglosen Zwang


des besseren Argumentes durch formale Eigenschaften des Diskurses erklä-
ren. Nunmehr ist in allgemeinen Begriffen eine fundamentale Bedingungs-
struktur entwickelt, die ein Diskurs erfüllen muß, damit er einen rational
motivierten Konsens erzeugen kann. Diese Bedingungsstruktur muß folglich
ebenso das Ethische kennzeichnen und es erlauben, eine ethische Verantwor-
tung von anderen Formen von Verantwortung abzugrenzen.

206 Vgl. dazu H. GRIPP, Jürgen HABERMAS, Paderborn u. a. 1984, S. 45 ff.


207 Vgl. R. RODERICK, HABERMAS und das Problem der Rationalität, Hamburg 1989,
S.183.
208 J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen
Kompetenz, a. a. 0., S. 136.
5. Diskurs und ideale Sprechsituation 125

5.
Der Diskurs und die ideale Sprechsituation

Die formalen Eigenschaften eines Diskurses müssen es grundsätzlich erlau-


ben, prinzipiell jedes einmal gewählte Begriffs- und Sprachsystem selbst in
den Diskurs einzubeziehen und aufgrund rationaler Moti vation zu revidieren.
Dazu ist es offenbar erforderlich, daß innerhalb des Diskurses die Diskurs-
ebenen jederzeit gewechselt werden können, so daß das zuerst gewählte
Sprach- und Begriffssystem zur Objektsprache wird, über deren Angemes-
senheit in einer Metasprache verhandelt werden kann, die selbst wiederum
in den Status einer Objektsprache transformierbar ist, über deren Angemes-
senheit zur Diskussion des zuerst gewählten Sprach- und Begriffssystems
nun in einer neuen Metasprache argumentiert werden kann. Die Unabge-
schlossenheit dieses Prozesses gehört nun offenbar zu den Konstituentien von
Diskursen, wenn in ihnen rationale Motivation erzeugt werden soll, die einem
Konsens den Status der Begründetheit und Wahrheit verleiht: "Ein argumen-
tativ erzielter Konsensus darf dann, aber auch nur dann als Wahrheitskriteri-
um angesehen werden, wenn strukturell die Möglichkeit besteht, die jewei-
lige Begründungssprache, in der Erfahrungen interpretiert werden, zu hinter-
fragen, zu modifizieren und zu ersetzen. Die reflexive Erfahrung mit der
Unangemessenheit der Interpretationen unserer Erfahrungen muß in die
Argumentation eingehen können." 209

Damit sind in einem ersten Zugang die Anforderungen genannt, die eine
ideale Sprechsituation erfüllen muß, wenn sie Rationalität, Wahrheit und eine
Entscheidung über die ethisch begründbare Richtigkeit von handlungsleiten-
den Maximen ermöglichen S01121O • Die formalen Eigenschaften von Diskur-
sen müssen demnach so beschaffen sein, daß sie stets die Revision zunächst
gewählter Sprachsysteme erlauben. Darin liegt eine "schrittweise Radikali-

209 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 250.


210 Vgl. H. SCHEIT, Wahrheit - Diskurs - Demokratie, FreiburglMünchen 1987, S. 104
ff.
126 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

sierung, d. h. Selbstreflexion des erkennenden Subjekts" 211. Diese Schritte


stellt HABERMAS in folgendem Schema dar2l2 :

Stufen der theoretischer praktischer


Radikalisierung Diskurs Diskurs
Handlungen Behauptungen GeboteNerbote
theoretische theoretische
Begründungen
Erklärungen Rechtfertigungen
metaethischel
metatheoretische metapolitische
substantielle Veränderung des Veränderung des
Sprachkritik Sprach- und Begriffssystems Sprach- und Begriffssystems
erkenntnispolitische
Selbstreflexion Erkenntniskritik
Willensbildung

Jene Anforderungen an wahrheitserzeugende Diskurse werden nun HABER-


MAS zufolge durch eine relativ einfache formale Struktur erfüllt. Die perma-
nente Selbstreflexion des erkennenden Subjekts, in der keine einmal gewählte
Sprach- und Begriffsebene dem Diskurs entzogen bleibt, kann allein durch
die »Freizügigkeit zwischen den Diskursebenen« garantiert werden, denn
"die konsenserzielende Kraft des Argumentes beruht darauf, daß wir zwi-
schen den verschiedenen Ebenen des Diskurses so oft hin und hergehen
können, bis ein Konsens entsteht" 213. Die »ideale Sprechsituation« ist nun
ausschließlich deshalb der Schlußpunkt des Argumentationsweges der HA-
BERMAS'schen Ethikkonzeption, weil genau sie die formalen Eigenschaften
besitzt, die jene Freizügigkeit zwischen den Diskursebenen erlauben, auf der
rationale Motivation, begründeter Konsens und damit Wahrheit und ethische
Begründbarkeit beruhen.
Die zentrale Eigenschaft, die in der idealen Sprechsituation jene Freizügig-
keit ermöglicht, bezeichnet HABERMAS als die »allgemeine Symmetrieforde-
rung«. Dies bedeutet, daß in der idealen Sprechsituation für alle Diskurs-
teilnehmer eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen

21 I 1. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 252.


212 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 254.
213 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 254 f.
5. Diskurs und ideale Sprechsituation 127

und auszuführen, gegeben ist214 . Auf diese Weise soll es strukturell möglich
sein, jede systematische Verzerrung der Kommunikation auszuschließen. In
einer solchen Situation "besteht nämlich nicht nur prinzipielle Austauschbar-
keit der Dialogrollen, sondern eine effektive Gleichheit der Chancen bei der
Wahrnehmung von Dialogrollen, d. h. auch bei der Wabl und der Performanz
der Sprechakte" 215. Gemäß der Sprechakttheorie läßt sich die allgemeine
Symmetrieforderung nun in vier verschiedene Bedingungen für das Zustan-
dekommen einer idealen Sprechsituation auffächern216 .

Zunächst müssen zwei triviale Bedingungen erfüllt sein, damit von einer
idealen Sprechsituation die Rede sein kann:

1. "Alle potentiellen Teilnehmer eines Diskurses müssen die gleiche Chan-


ce haben, kommunikative Sprechakte zu verwenden, so daß sie jederzeit
Diskurse eröffnen sowie durch Rede und Gegenrede, Frage und Antwort
perpetuieren können".
2. "Alle Diskursteilnehmer müssen die gleiche Chance haben, Deutungen,
Behauptungen, Empfehlungen, Erklärungen und Rechtfertigungen auf-
zustellen und deren Geltungsanspruch zu problematisieren, zu begründen
oder zu widerlegen, so daß keine Vormeinung auf Dauer der Thematisie-
rung und der Kritik entzogen bleibt." 217
Zwei weitere Bedingungen sollen sicherstellen, daß die Teilnehmer eines
Diskurses nicht in Wahrheit unter Handlungszwang kommunizieren. Zu-
nächst wird ein Wahrhaftigkeitspostulat genannt. Diskursteilnehmer sollen
dann als wahrhaftig bezeichnet werden, wenn sie fähig sind und die Mög-
lichkeit haben, ihre »innere Natur« transparent zu machen. Dies ist dann der
Fall, wenn nur solche Sprecher zugelassen sind, "die als Handelnde gleiche
Chancen hahen, repräsentative Sprechakte zu verwenden, d. h. ihre Einstel-
lungen, Gefühle und Intentionen zum Ausdruck zu bringen" 218.

214 Vgl. D. HORSTER, HABERMAS zur Einführung, Hamburg 1988, S. 45 ff.


215 J. HABERMAS, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen
Kompetenz, a. a. 0., S. 137.
216 Vgl. R. RODERICK, HABERMAS und das Problem der Rationalität, Hamburg 1989,
S. 100 f.
217 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 255.
218 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 256.
128 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

Schließlich ist für die ideale Sprechsituation und die in ihr gegebene Freizü-
gigkeit zwischen den Sprachebenen die vollständige Reziprozität von Ver-
haltenserwartungen notwendig 219 • Deshalb sind zum Diskurs nur Sprecher
zugelassen, "die als Handelnde die gleiche Chance haben, regulative Sprech-
akte zu verwenden, d. h. zu befehlen und sich zu widersetzen, zu erlauben
und zu verbieten, Versprechen zu geben und abzunehmen, Rechenschaft
abzulegen und zu verlangen usf." 220. Damit sollen Realitätszwänge sus-
pendiert werden und so ein ebenso erfahrungsfreier wie handlungsentlasteter
Kommunikationsbereich geschaffen werden.
Die ideale Sprechsituation und ihre Struktur wurden als Möglichkeitsbedin-
gungen eines vernünftigen Konsenses entwickelt. Als solche Möglichkeits-
bedingung bleibt die ideale Sprechsituation jedoch ein Konstrukt, das seine
Legitimation ausschließlich aus dem Konsensusbegriff der Wahrheit und der
von HABERMAS auf dieser Grundlage entwickelten Argumentationskette
bezieht. HABERMAS wendet dagegen zunächst ein, daß eine hinreichende
Realisierung der Bedingungen der idealen Sprechsituation apriori nicht
unmöglich sei. Er gesteht jedoch eine andere Schwierigkeit zu: Es fehlt ein
externes Kriterium der Beurteilung, "so daß wir in gegebenen Situationen
niemals sicher sein können, ob wir einen Diskurs führen oder ob wir nicht
vielmehr unter Handlungszwängen agieren und Scheindiskurse vorfüh-
ren " 221 .
Daß es sich bei der idealen Sprechsituation dennoch nicht um eine Fiktion
oder ein bloßes Konstrukt handelt, begründet HABERMAS dann jedoch auf die
schon bekannte Weise: Wir müssen uns zutrauen, einen vernünftigen von
einem trügerischen Konsensus zu unterscheiden, andernfalls könnten wir
überhaupt nicht von Vernunft in der Rede sprechen; die ideale Sprechsitua-
tion ist jedoch die Bedingung dafür, von einem vernünftigen Konsens spre-
chen zu können; also ist sie auch Bedingung aller Vernünftigkeit der Rede.
Wenn ihre Realisierung nun empirisch nicht festgestellt werden kann, so kann
ihr Status nur so beschrieben werden: "Die ideale Sprechsituation ist weder

219 Vgl. D. HORSTER, HABERMAS zur Einführung, Hamburg 1988, S. 49 f.


220 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 256.
221 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 257.
6. Rekonstruierte Diskurstheorie· niedrigeres Begründungsniveau 129

ein empirisches Phänomen noch bloßes Konstrukt, sondern eine in Diskursen


unvermeidliche reziprok vorgenommene Unterstellung. Diese Unterstellung
kann, sie muß nicht kontrafaktisch sein; aber auch wenn sie kontrafaktisch
gemacht wird, ist sie eine im Kommunikationsvorgang operativ wirksame
Fiktion" 222. Sie ist also eine Fiktion, die operativ wirksam ist, und diese
operative Wirksamkeit beruht darauf, daß es zur Struktur möglicher Rede
gehört, "daß wir im Vollzug der Sprechakte kontrafaktisch so tun, als sei die
ideale Sprechsituation nicht bloß fiktiv, sondern wirklich" 223.

6.
Die ideale Sprechsituation als Rekonstruktion der
Diskurstheorie auf niedrigerem Begründungsniveau

Mit der Charakterisierung der Strukturen einer idealen Sprechsituation, die


durch die Freizügigkeit zwischen den Diskursebenen die Generierung ver-
nünftiger Motivation und damit die Herstellung eines wahren - weil vernünf-
tigen - Konsenses erlaubt, kommt HABERMAS' Ethikkonzeption in gewisser
Weise wieder an ihren Anfang zurück. Ausgangspunkt ihrer Wahrheitsdefi-
nition war ein Begriff des Konsenses, der universell und überzeitlich gültig
wäre, da er die Zustimmung aller potentiellen Gesprächspartner aller vergan-
genen, gegenwärtigen und zukünftigen Generationen impliziert. Die Stärke
dieses Begriffes ethischer Wahrheit liegt gerade darin, daß die Universalität
und» Ungeschichtlichkeit«, die wir gewöhnlich mit dem Begriff derWahrheit
verbinden, auf der Basis einer Konsensustheorie bewahrt bleibt - was zu-
nächst ungewöhnlich und überraschend erscheint.
Die konsenstheoretische Rekonstruktion dieser Anforderungen an einen Be-
griff ethischer Wahrheit gelang, weil durch die Universalität der Zustimmung
strukturell nicht mehr die Möglichkeit besteht, daß eine auf diese Weise
gefundene Wahrheit sich als Irrtum herausstellen könnte; es sind einfach

222 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 258.


223 J. HABERMAS, Wahrheitstheorien, a. a. 0., S. 258.
130 V. Verantwortlichkeit· Diskurs' Jürgen HABERMAS

keine Gesprächspartner mehr denkbar, die Einwände erheben könnten. So-


lange noch Einwände vorgebracht werden können, solange kann der Konsens
nicht als universell bezeichnet werden und d. h., es lag überhaupt kein wahrer
Konsensus vor.

Die einfache Tatsache, daß ja meine Lebenszeit nicht koextensiv mit der
Lebenszeit aller Menschen ist und die Forderung nach universeller Zustim-
mung jede Rede von Wahrheit unmöglich machen würde, führte HABERMAS
zu der Einschränkung, daß von der Wahrheits fähigkeit eines Konsenses auch
bereits dann die Rede sein kann, wenn alle kompetenten Gesprächspartner
zustimmen. Kompetenz wurde schließlich durch Vernünftigkeit definiert und
diese wiederum durch die Anerkennung fundamentaler Geltungsansprüche
bestimmt, die Möglichkeitsbedingungen jeder Verständigung darstellen.
Vernünftig ist danach jeder, der bereit ist, in Zweifel gestellte Behauptungen
in Diskursen zu überprüfen. Diskurse wiederum garantieren die Vernünftig-
keit der in ihnen erzielbaren Resultate, weil sie die Erfüllung bestimmter
Bedingungen unterstellen, die es strukturell ermöglichen, auch noch die
Selbstreflexion des erkennenden Subjekts in den argumentativen Prozeß
einzubeziehen. Dies ist dann möglich, wenn eine Freizügigkeit zwischen den
Diskursebenen gesichert ist. Diese Freizügigkeit wird durch die Erfüllung der
allgemeinen Symmetrieforderung in der idealen Sprechsituation gewährlei-
stet.

Die Ausfacherung der Gleichverteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen


und auszuführen für die verschiedenen Klassen von Sprechakten, führt nun
zu einem Ergebnis, das strukturell als Rekonstruktion der Ausgangsforderung
nach einem universellen Konsens auf der durch die beschränkte Lebenszeit
des Individuums gegebenen neuen Basis verstanden werden kann. Der Wahr-
heitsbegriff des universellen Konsenses bezog seine Stärke aus der struktu-
rellen Unmöglichkeit, eine einmal gefundene Wahrheit noch in Frage stellen
zu können, da keine Gesprächspartner mehr denkbar sind, die Einwände
erheben könnten. Der Wahrheits begriff des im Diskurs gefundenen Konsen-
ses kompetenter Sprecher bezieht seine Stärke in analoger Weise aus der
strukturellen Unmöglichkeit, eine einmal gefundene Wahrheit noch in Frage
stellen zu können.
6. Rekonstruierte Diskurstheorie· niedrigeres Begründungsniveau 131

Der Grund für diese Unmöglichkeit liegt allerdings in einer völlig verschie-
denen Dimension als dies am argumentativen Beginn der HABERMAS'schen
Ethikkonzeption der Fall war. Wenn die ideale Sprechsituation mit ihrer
allgemeinen Symmetrieforderung realisiert ist, so wird unterstellt, daß aus
strukturellen Gründen alle Einwände der am Diskurs beteiligten Sprecher zur
Sprache gekommen sind, und zwar nicht nur kritische Argumente, wie sie
auch ohne Realisierung der idealen Sprechsituation vorgebracht werden
könnten, sondern auch die Voraussetzungen dieser kritischen Argumente.
Dazu gehören auch alle Restriktionen, die aus der kommunikativen Situation
für das Vorbringen und die Akzeptanz von Argumenten entstehen können,
und die Gründe, die in Diskussionen ohne Realisierung einer idealen Sprech-
situation zu solchen Restriktionen führen.
Wenn aber alle Diskursteilnehmer nicht nur in der Lage sind, alle Argumente
vorzubringen und deren Voraussetzungen prinzipiell ohne Einschränkungen
zu diskutieren, sondern auch noch eine Reflexion auf die kommunikativen
Bedingungen des Vorbringens von Argumenten vornehmen können, die
geeignet ist, alle Restriktionen des Argumentierens zu beseitigen, so sind aus
strukturellen Gründen damit keine weiteren Einwände gegen die einmal
gefundene Wahrheit mehr möglich. Dies aber entspricht der Situation, aus
der der universelle Konsens am argumentativen Anfang der HABER-
MAS'schen Konzeption ethischer Wahrheit seine Stärke bezog.
Damit kann der Argumentationsgang dieser Ethikkonzeption auch als Re-
konstruktion der Ausgangsbasis auf dem durch die Begrenztheit des Kreises
möglicher Gesprächspartner erforderlichen eingeschränkten Niveau verstan-
den werden. Folglich kann die HABERMAS'sche Ethik auch so aufgefaßt
werden, daß ihr argumentativer Aufwand nur dem einen Zweck dient, den-
jenigen Konsensbegriff ethischer Wahrheit, der allein in der Lage ist, den
traditionellen Anforderungen an einen Wahrheitsbegriff zu genügen und eine
universelle und überzeitliche Geltung von Wahrheit zu garantieren, Sc> weit
auf ein sicheres Fundament zu stellen, daß er sich nicht mehr als apriorisches
Postulat darstellt, sondern aufgrund der vorgenommenen Rekonstruktion
eine eigenständige Ausweisung als Möglichkeitsbedingung von Rede und
Verständigung überhaupt erhält.
132 V. Verantwortlichkeit· Diskurs' Jürgen HABERMAS

7.
Die Begründung der Diskurstheorie aus der
Entwicklung zur sozio-kulturellen Lebensform

Mit der Begründung seiner Konzeption ethischer Wahrheit in der Notwen-


digkeit des Diskurses als ständig schon realisierter Möglichkeitsbedingung
von Verständigung ist die HABERMAS'sche Begründung eines ethischen
Wissens jedoch noch nicht an ihrem Ende angelangt. Der Argumentations-
gang impliziert vielmehr noch eine Begründung dafür, daß die Verständigung
zwischen Menschen eine Struktur aufweist, die eine solche Voraussetzung
notwendig zu denken verlangt. Auf diese Weise wird jedoch auch die ethische
Konzeption über die bisher skizzierte Argumentation hinaus noch durch eine
zusätzliche Begründung gerechtfertigt.
Nach HABERMAS ist die rational gegründete Verständigung und damit die
Möglichkeit der diskursiven Einlösung normativer Wahrheits ansprüche nicht
ein zeitunabhängig gegebenes Phänomen, sondern stellt das Produkt einer
Entwicklung dar, die gleichbedeutend mit der Entwicklung des Menschen zu
einem in kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnissen lebenden Wesen
ise 24 . Diese Entwicklung verläuft gleichzeitig in zwei Dimensionen:
- Die kulturelle und gesellschaftliche Lebensform des Menschen entsteht
mit den Fortschritten in der Beherrschung der Natur, in denen der Aus-
tausch von Gesellschaften mit ihrer äußeren Umwelt ein höheres Niveau
erreicht.
- Diese kulturelle Lebensform entsteht jedoch gleichzeitig mit Fortschritten
in der Beherrschung der »inneren Natur« der Gesellschaften, d. h. mit der
intensiver werdenden Sozialisation und Enkulturation ihrer Mitglieder.
Die Fortschritte in der Beherrschung der äußeren Natur finden mit Hilfe des
Mediums wahrheitsfähiger Äußerungen statt. HABERMAS formuliert dies so:
"Arbeit oder instrumentales Handeln richtet sich nach technischen Regeln;
diese verkörpern empirische Annahmen, die Wahrheits ansprüche, d. h. dis-
kursiveinlösbare und grundsätzlich kritisierbare Geltungsansprüche impli-

224 Vgl. H. GRIPP, ]ürgen HABERMAS, Paderborn u. a. 1984, S. 142 f; sowie S. JAKOB,
Zwischen Gespräch und Diskurs, Bern u. a. 1985, S. 196 ff.
7. Diskurstheorie' Entwicklung zur sozio-kulturellen Lebensform 133

zieren." 225 Dieses »Medium« befindet sich in einer Entwicklung, die prinzi-
piell rational nachkonstruierbaren Mustern folgt: "Die Kenntnis empirischer
Mechanismen ist zur Erklärung des weltgeschichtlich kumulativen Charak-
ters des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts notwendig, aber
nicht hinreichend; wir müssen vielmehr für die Entwicklung von Wissen-
schaft und Technik eine innere Logik vermuten, durch die eine Hierarchie
nicht umkehrbarer Sequenzen im vorhinein festgelegt ist." 226

Die zweite Dimension, durch die der Mensch zu einem kulturellen und
gesellschaftlichen Wesen wird, ist die gesellschaftliche Aneignung der »in-
neren Natur«. Damit sind die Prozesse der Sozialisation und Enkulturation
gemeint, durch die der junge Mensch in die Gesellschaft und ihre Normen
und Institutionen hineinwächst. HABERMAS' grundlegende Behauptung ist
hier, daß diese Prozesse über normative Strukturen ablaufen und damit
grundsätzlich rechtfertigungsbedürftig sind227 . Hier spielen kommunikative
Handlungen eine Rolle, die als solche auf Diskurse verweisen und damit
einen internen Wahrheits anspruch beinhalten. Die Aneignung der »inneren
Natur« ist damit eine Funktion der Veränderung normativer Strukturen, die
wiederum als rational nachkonstruierbar angesehen wird.

Damit wird die Begründung der Diskursethik eingelagert in eine Theorie der
sozialen Evolution228 . Generell formuliert HABERMAS deren Aufgabe folgen-
dermaßen: Es muß erklärbar werden, "daß sich der evolutionäre Lernprozeß
der Menschengattung im Rahmen einer Theorie begreifen läßt, die die
evolutionären Errungenschaften von Gesellschaftssystemen durch eine Ver-
knüpfung von zwei Fragestellungen erklärt:

225 J. HABERMAS, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, FrankfurtJMain 1973,


S. 20 f.
226 1. HABERMAS, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, a. a. 0., S. 22 f ..
227 HABERMAS lehnt sich hier an die Theorie der moralischen Entwicklung beim Kinde
an, wie sie von PlAGET ausgearbeitet wurde. Vgl. J. HABERMAS, Moralbewußtsein
und kommunikatives Handeln, FrankfurtJMain 1983.
228 Vgl. W. KUNSTMANN, Geschichte als Konstruktion der Vernunft. Bemerkungen zur
Evolutionstheorie von Jürgen HABERMAS, in: W. KUNSTMANN/E. SANDER, Hrsg.,
Kritische Theorie zwischen Theologie und Evolutionstheorie, München 1981.
134 V. Verantwortlichkeit· Diskurs' Jürgen HABERMAS

a) Welche Steuerungsprobleme sind innovativ gelöst worden?


b) Durch welche Lernkompetenzen sind solche Innovationen möglich ge-
worden" 229?

Von Evolution will HABERMAS nur dann sprechen, wenn kumulative Vor-
gänge vorliegen, die eine bestimmte Richtung erkennen lassen23o . Er bean-
sprucht jedoch nicht, solche gerichtete Prozesse durch die empirische Be-
schreibung von Entwicklungsvorgängen nachweisen zu können. Die Orien-
tierung der menschlichen Entwicklung an Wahrheit und Richtigkeit als
diskursiveinlösbarer Geltungsansprüche sieht HABERMAS vielmehr als eine
nur logisch nachkonstruierbare Tiefenstruktur der spezifisch menschlichen
Entwicklungsform.

Die grundsätzliche Behauptung lautet also, daß die Entwicklung der Regeln
kommunikativen Handeins einer eigenen Logik folgen, die sich nicht auf
empirische Entwicklungsvorgänge zurückführen läßt231 . Nur deshalb lernt
die Gattung nicht nur "in der für die Produktivkraftentfaltung entscheidenden
Dimension des technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in der für die
Interaktionsstrukturen ausschlaggebenden Dimension des moralisch-prakti-
schen Bewußtseins" 232. Die eigene Logik der Entwicklung der Regeln kom-
munikativen Handeins stellt sich nun als interne Entwicklungslogik Von
Lernniveaus dar. Diese Lernniveaus wiederum stehen in Zusammenhang mit
einer internen Logik der Entwicklung von Bewußtseinsstrukturen, so daß die
Entwicklung der Diskursivität unserer ethischen Normen davon abhängt, daß
in den kulturellen Deutungssystemen von Gesellschaftssystemen Bewußt-
seinsstrukturen zum Ausdruck kommen, "die in der Evolution über ein
rational nachkonstruierbares Muster von Entwicklungsstufen variieren" 233.

229 J. HABERMAS, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, FrankfurtIMain


1976, S. 136.
230 Vgl. J. HABERMAS, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, a. a. 0., S.
155.
231 Vgl. R. RODERICK, HABERMAS und das Problem der Rationalität, Hamburg 1989,
S. 124, zur Kritik S. 128 f.
232 J. HABERMAS, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, a. a. 0., S. 162
f. Vgl. dazu H. GRIPP, ]ürgen HABERMAS, Paderborn u. a. 1984, S. 68 ff.
233 J. HABERMAS, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, a. a. 0., S. 231.
7. Diskurstheorie' Entwicklung zur sozio-kulturellen Lebensform 135

Das Auftreten einer neuen Bewußtseinsstruktur wird damit mit Bezugnahme


auf das entwicklungslogische Muster vorangegangener Strukturen erklärt234 .
Die »Sozialintegration« einer Gesellschaft ist damit zwar nicht völlig von der
»Systemintegration« getrennt, aber die Variation der ersteren wird durch eine
Entwicklungslogik von Weltbildern beschränkt, "auf die Imperative der
Systemintegration keinen Einfluß haben; die vergesellschafteten Individuen
bilden eine unter Steuerungsgesichtspunkten paradoxe innere Umwelt" 235.
Eine solche innere Logik von Weltbild strukturen sieht HABERMAS etwa in
den folgenden historischen Entwicklungen gegeben:

,,- Expansion des Profanbereichs gegenüber der sakralen Sphäre;


- Tendenz von weitgehender Heteronomie zu zunehmender Autonomie;
- Entleerung von Weltbildern von kognitiven Gehalten
(von Kosmologie zum reinen Moralsystem);
- von Stammespartikularismus zu universalistischen und
zugleich individualistischen Orientierungen;
- zunehmende Reflexivität des Glaubensmodus, ablesbar an der Sequenz:
Mythos als unmittelbar gelebtes Orientierungssystem, Lehre, Offenba-
rungsreligion, Vernunftreligion, Ideologie." 236 .

Daß darin überhaupt eine interne Entwicklungslogik angelegt ist, dies


schreibt HABERMAS einer grundlegenden Gesetzlichkeit des Lernens von
Gesellschaften zu 237 • Die Entwicklung von Lernkapazitäten ist danach als
rationale Entwicklung zu verstehen. Diese Entwicklung beruht vor allem

234 Vgl. J. HABERMAS, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, a. a. 0.,


S. 233. Allerdings bedarf es dazu auch noch des Anstoßes durch problemerzeugende
Ereignisse. Die Entwicklungslogik von Bewußtseinsstrukturen eröffnet also nur
einen Spielraum von Möglichkeiten. Welche dieser Möglichkeiten dann historisch
realisiert wird, dies hängt auch von den einer Gesellschaft vorgegebenen Problem-
lagen ab.
235 J. HABERMAS, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, a. a. 0., S. 19. Der
Begriff der Systemintegration bezieht sich auf die Steuerungsleistungen, mit denen
ein Gesellschaftssystem sich in seiner äußeren Umwelt erhält. Sozialintegration
bezieht sich dagegen auf die Vergesellschaftung sprechender und handelnder Indi-
viduen.
236 1. HABERMAS, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, a. a. 0., S. 23.
237 Vgl. R. RODERICK, HABERMAS und das Problem der Rationalität, Hamburg 1989,
S. 142 f.
136 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

darauf, daß ein »Ent-Lernen« nicht möglich scheint; jedes Lernen baut
demzufolge auf dem bereits vorhandenen Wissen auf und kann nicht dahinter
zurückfallen. HABERMAS formuliert dies so: "Den fundamentalen Mechanis-
mus für gesellschaftliche Evolution überhaupt vermute ich allerdings in
einem Automatismus des Nicht-nicht-Iernen-Könnens: Nicht Lernen, son-
dern Nichtlernen ist auf sozio-kultureller Entwicklungsstufe das erklärungs-
bedürftige Phänomen." 238
Die HABERMAS'sche Theorie einer Entwicklungslogik, in der sich auch die
diskursive Ethik noch als Ergebnis einer rationalen gesellschaftlichen Ent-
wicklung begründen läßt, kann demnach in HABERMAS' Worten so zusam-
mengefaßt werden:
,,- Für die Ontogenese der Erkenntnis- und Handlungsfähigkeiten lassen
sich (im Sinne der kognitivistischen Entwicklungspsychologie) Ent-
wicklungsstufen unterscheiden. Diese Stufen verstehe ich als Lernni-
veaus, die die Bedingungen möglicher Lernprozesse festlegen. Da die
Lernmechanismen zur Ausstattung des (sprachfähigen) menschlichen
Organismus gehören, kann sich die soziale Evolution, wenn nur die (z.
T. phasenspezifischen) Randbedingungen erfüllt sind, auf individuelle
Lernkapazitäten stützen.
- Die zunächst von einzelnen Gesellschaftsmitgliedern oder marginalen
Gruppen erworbenen Lernkapazitäten finden über exemplarische Lern-
vorgänge Eingang in das Deutungssystem der Gesellschaft. Die kollektiv
geteilten Bewußtseinsstrukturen und Wissensvorräte stellen in terms
empirischer Erkenntnisse und moralisch-praktischer Einsichten ein kog-
nitives Potential dar, das gesellschaftlich genutzt werden kann.
- Wir dürfen auch bei Gesellschaften von einem evolutionären Lernvor-
gang sprechen, soweit sie Systemprobleme, die evolutionäre Herausfor-
derungen darstellen, lösen. Dies sind Probleme, welche die in den
Grenzen einer gegebenen Gesellschaftsformation zugänglichen Steue-
rungskapazitäten überfordern. Gesellschaften können evolutionär ler-
nen, indem sie die in Weltbildern enthaltenen kognitiven Potentiale für
die Umorganisation von Handlungssystemen nutzen. Dieser Vorgang
läßt sich als eine institutionelle Verkörperung von Rationalitätsstruktu-
ren vorstellen, die in Weltbildern schon ausgeprägt sind.

238 J. HABERMAS, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, a. a. 0., S. 27 ff.


8. Prinzip Verantwortung· Diskursethik von HABERMAS 137

- Die Einführung eines neuen Organisationsprinzips bedeutet die Etablie-


rung eines neuen Niveaus der sozialen Integration. Dieses wiederum
erlaubt die Implementierung vorhandenen (oder die Erzeugung neuen)
technisch-organisatorischen Wissens, d. h. eine Steigerung der Produk-
tivkräfte und eine Erweiterung der Systemkomplexität. Für die soziale
Evolution haben mithin Lernprozesse im Bereich des moralisch-prakti-
schen Bewußtseins Schrittmacherfunktion. " 239
Im HABERMAS' sehen Denkzusammenhang zeigt sich seine Diskursethik also
nicht nur als begründet in den Möglichkeitsbedingungen von Verständigung
zwischen Menschen, sondern sie erweist sich als Möglichkeitsbedingung
derjenigen Kommunikationsweise, die sich durch die Evolution von Gesell-
schaften in der Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Natur
herausgebildet hat. Die Behauptung lautet also grundsätzlich, daß gesell-
schaftliches Leben sich nur deshalb auf das modeme Niveau entwickeln
konnte, weil die Integrationsmechanismen menschlicher Gesellschaften so
strukturiert sind, daß sie von vornherein auf diskursive Begründung in der
Sozialintegration angelegt sind. Die diskursive Begründung ethischer Nor-
men läßt sich von daher als Fortsetzung und Ausdifferenzierung des Integra-
tionsmodus menschlicher Gesellschaften verstehen.

8.
Das Prinzip Verantwortung
in der Diskursethik von HABERMAS

Damit kommt unter dem evolutionslogischen Aspekt wiederum das intersub-


jektive Element der HABERMAS'schen Ethik zur Geltung. Die Begründung
von Normen ist nicht nur durch die prinzipielle Zustimmungsbedürftigkeit
aller Menschen nur in einem kommunikativen Verhältnis zwischen Men-
schen möglich, sondern sie ist auch über die Genesis dieses Prinzips der
Normenbegründung in den Strukturen des Zusammenlebens in der Gesell-
schaft von vornherein dialogisch strukturiert. Damit gewinnt auch das Prin-

239 J. HABERMAS, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, a. a. 0., S. 176.


138 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

zipVerantwortung in der HABERMAS'schen Ethik eine zusätzliche Bedeu-


tung.
Zunächst ist eine handlungs leitende Maxime nur dann ethisch legitimiert,
wenn sie sich gegenüber prinzipiell allen Menschen verantworten läßt. In
dieser Form von Verallgemeinerungsfähigkeit liegt die Bedeutung einer
genuin ethischen Verantwortung im Sinne der HABERMAS' sehen Ethik. Auf-
grund der Genesis dieses Ethikprinzips läßt sich das genuin Ethische von
Verantwortung jedoch auch dadurch bestimmen, daß von Verantwortung im
ethischen Sinne nur dann gesprochen werden kann, wenn die nähere Aus-
zeichnung einer solchen Verantwortung sich in die grundlegenden Strukturen
des Zusammenlebens von Menschen auf gesellschaftlichem und kulturellem
Niveau einfügen läßt. Eine ethische Verantwortung steht damit in direktem
Zusammenhang mit der bloßen Tatsache, daß Menschen in gesellschaftlichen
Beziehungen leben.

Dies ist jedoch nur verständlich, wenn auch das Umgekehrte gilt: In gesell-
schaftlichen Beziehungen können Menschen nur dann leben, wenn zumindest
in der »Tiefenstruktur« der Formen ihres Zusammenlebens bereits eine
ethische Bestimmung realisiert ist. Demnach legitimiert sich das Prinzip
Verantwortung nach HABERMAS also auch daraus, daß gesellschaftliche
Beziehungen immer schon ein Element von Verantwortlichkeit enthalten.
Ohne dieses Element ist ein gesellschaftliches Zusammenleben auf sozio-kul-
tureller Entwicklungsstufe nicht möglich. Man könnte deshalb auf der Grund-
lage der HABERMAS'schen Gedankengänge auch formulieren: Verantwort-
lich sind wir, weil wir gesellschaftlich leben und dieser Lebensweise die
wechselseitige Verantwortlichkeit der Gesellschaftsmitglieder integriert ist.

Darüber hinaus ist dies aber auch auf den ethischen Charakter von Verant-
wortung zu übertragen. Die in der Diskursethik implizierte ethische Verant-
wortung läßt sich auf der Grundlage der HABERMAS' sehen Evolutionstheorie
von Gesellschaft bis in die Konstitutionsbedingungen des gesellschaftlichen
Zusammenlebens zurückverfolgen. Eine ethische Verantwortlichkeit besteht
also demnach, weil das Prinzip einer solchen Verantwortlichkeit bereits in
den Formen des Zusammenlebens von Menschen auf soziokultureller Ent-
wicklungsstufe impliziert ist. Nach HABERMAS können wir also wissen, was
9. Konzeption von Verantwortlichkeit· !CANT. HABERMAS 139

wir sollen, weil nur ein solches Wissen unser Zusammenleben mit anderen
Menschen in gesellschaftlicher Form möglich macht.

9.
Die Konzeption einer ethischen
Verantwortlichkeit bei KANT und HABERMAS

Es ist aufschlußreich zu sehen, wie sich eine Parallele dazu in KANTs Ethik
darstellt und wie die Unterschiede sich näher bestimmen. Mit der Selbst-
zweckformel entwickelt KANT den sittlichen Imperativ zu einem Gebot, das
eine genuin intersubjektive Bedeutung gewinnt. Mit dieser Formulierung des
kategorischen Imperativs wird das Ethische als Respektierung der Selbst-
zweckhaftigkeit und damit der Selbstbestimmungsfähigkeit und der Freiheit
anderer Personen ausgezeichnet und begründet. Der Begriff der Verantwor-
tung wird auf der Grundlage dieses Verhältnisses zu anderen Personen als
Selbstzweck aus dem Prinzip der Ethik abgeleitet.
HABERMAS dagegen begründet das Ethische und ethische Verantwortung
grundsätzlich als Bedingung von Verständigung zwischen Menschen in einer
Gesellschaft. Ethisch verpflichtet und verantwortlich sind wir, weil die
Grundstruktur von ethischer Verantwortlichkeit zugleich die Grundstruktur
des Zusammenlebens von Menschen in einer Gesellschaft darstellt. Proble-
matisch erscheint jedoch, ob HABERMAS dabei auch das Element der Perso-
nalität und damit der Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit der Gesell-
schaftsmitglieder berücksichtigt. Zunächst könnte es scheinen, als ob die
Diskursethik dafür keine Voraussetzungen bereitstellen könnte. Wie die
Verantwortlichkeit bestimmt wird, dies ist mit dem Prinzip dieser Ethik noch
nicht gegeben, sondern kann nur durch den Prozeß geklärt werden, der im
Diskurs die spezifische Interesselosigkeit herstellt, der für HABERMAS' Auf-
fassung ethischer Bestimmungen kennzeichnend ist.
Andererseits läßt sich aus dem Prinzip der Diskurstheorie der Wahrheit, in
der Wahrheit ebenso wie Richtigkeit zum Thema wird, doch auch ein Element
140 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

inhaltlicher Bestimmtheit bezüglich der Auffassung der möglichen Ge-


sprächspartner entnehmen. Die Diskurstheorie bezieht ihre Stärke ja gerade
daraus, daß sie Wahrheit nur in einem Verfahren als erreichbar ansieht, das
grundsätzlich niemanden als Diskussionspartner ausschließen darf. Obwohl
dieser Theorie zufolge kein einzelner Mensch die Wahrheit auf theoretischem
oder ethischem Gebiet finden kann, so muß sie doch ebenso jeden einzelnen
Menschen als prinzipiell wahrheitsfähig ansehen, um in der idealen Sprech-
situation theoretische und ethische Wahrheit finden zu können: "Als Argu-
mentationsteilnehmer wird nämlich jeder auf sich gestellt und bleibt doch in
einen universalen Zusammenhang eingebettet." 240 Die ideale Sprechsitua-
tion ist gerade dadurch gekennzeichnet, daß niemand aufgrund welcher
Eigenschaften auch immer davon ausgeschlossen werden kann. Daß HABER-
MAS schließlich auf» kompetente« und» vernünftige« Sprecher zurückgreifen
muß, oder sogar eine »advokatorische« Sprechsituation akzeptiert, dies geht
auf die irrealen Bedingungen der idealen Sprechsituation zurück, nicht aber
auf die prinzielle Ausschließbarkeit von Menschen aus dem Diskurs.
In diesem Sinne muß der Teilnehmer an einem Diskurs aber auch alle anderen
Sprecher als fähig zur Selbstbestimmung ansehen. Würde er sie als fremdbe-
stimmt ansehen, so könnte er auf ihre Teilnahme am Diskurs prinzipiell
verzichten, ohne daß der Wahrheitsfähigkeit dadurch Abbruch getan wäre.
Die Argumente, die sie vorbringen könnten, wären auf diese Weise ersetzbar
durch die Argumente anderer Gesprächsteilnehmer, durch die sie ihre Be-
stimmung erfahren haben. Wenn HABERMAS die Begründbarkeit ethischer
Normen aber von der Zustimmung aller möglichen Gesprächspartner abhän-
gig macht, so wird damit allen möglichen Gesprächspartnern eine unersetz-
bare Bedeutung zugeschrieben, die ihnen nur aufgrund ihrer Fähigkeit zur
Selbstbestimmung zukommen kann.
Der Diskurs kann folglich nur als Veranstaltung zur Auffindung ethischer
Handlungsmaximen dienen, wenn allen Gesprächsteilnehmern Freiheit zu-
geschrieben wird. Da aber nur bei Teilnahme aller sprachfähigen Subjekte
Wahrheit und ethische Richtigkeit bestimmbar sind, so setzt diese Konzep-

240 J. HABERMAS, Moral und Sittlichkeit, in: Merkur 12/1985, S. 1046.


9. Konzeption von Verantwortlichkeit· KANT· HABERMAS 141

tion voraus, daß alle sprachfahigen Subjekte auch über die Eigenschaft der
Freiheit verfügen241 • Freiheit bedeutet in diesem Zusammenhang ebenso wie
bei KANT die Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Würde ein sprachfähiges
Subjekt nicht als frei angesehen, so könnte auf seine Teilnahme am Diskurs
ebenso verzichtet werden, da es nur solche Beiträge leisten könnte, die nicht
durch es selbst bestimmt sind, sondern von anderen Personen oder von
unpersönlichen Mächten vorgegeben sind. Ebenso wie die ideale Sprechsi-
tuation im Rahmen der HABERMAs'schen Wahrheits theorie als eine kontra-
faktische, aber stets wirksame Unterstellung erscheint, so muß auch die
Freiheit und die Selbstbestimmungsfähigkeit jedes Diskursteilnehmers als
eine notwendige - wenn auch kontrafaktische - Voraussetzung für das Zu-
standekommen eines Diskurses aufgefaßt werden.
Dies führt zu einer weiteren Parallele zwischen den ethischen Konzeptionen
von KANT und HABERMAS. Bei KANT war die Anerkennung der Selbstzweck-
haftigkeit und damit der Selbstbestimmungsfähigkeit und der Freiheit ande-
rer Personen untrennbar mit der Bereitschaft des anerkennenden Subjekts
verbunden, in der Prüfung von Maximen auf ihre Verallgemeinerungsfähig-
keit nach ethischen Bestimmungsgründen seines HandeIns zu suchen. Diese
Bereitschaft zur Verallgemeinerung war also nicht nur Grundlage des Ethi-
schen, sondern auch der Konstituierung einer Verantwortung gegenüber
anderen Personen aufgrund ihrer Selbstzweckhaftigkeit und Freiheit.
Die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Verallgemeinerung ist bei HABERMAS
durch die Teilnahme an Diskursen gegeben242 . Im Diskurs muß prinzipiell
jede Vormeinung ernst genommen und auf ihren möglichen Wahrheitsgehalt
untersucht werden. Nur durch diese Bereitschaft zur Verallgemeinerung und
die damit gegebene Bereitschaft zur Teilnahme an Diskursen wird allen
anderen sprachfähigen Subjekten die Wahrheitsfahigkeit zugeschrieben, die
dazu verpflichtet, ihre Vormeinungen in das Prüfungs verfahren des Diskur-
ses einzubeziehen. Deshalb führt auch hier das Prinzip der Verallgemei-

241 Der Zustand der Freiheit muß darin jedenfalls antizipiert werden (vgl. Th.
MCCARTHY, Kritik der Verständigungsverhältnisse. Zur Theorie von Jürgen HABER-
MAS, FrankfurtiMain 1980, S. 219 f.).
242 Vgl. H. GRIPP, Jürgen HABERMAS, Paderborn u. a. 1984, S. 130 ff.
142 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

nerung zur Anerkennung anderer Personen als wahrheitsfahiger Wesen, was


ihre Respektierung als zur Selbstbestimmung und Freiheit fahig voraus-
setzt243 .
Das Verallgemeinerungsprinzip aber war von KANT eingeführt worden, um
das Besondere der Bestimmung eines guten Willens charakterisieren zu
können, der allein als gut im vollen Sinne des Wortes gelten kann. Ein solcher
Wille kann sich nicht durch inhaltliche Determinanten bestimmen, sondern
kann »gut« nur heißen, wenn er durch die reine Form, d. h. die bloße
Gesetzesförmigkeit - also das Prinzip der Allgemeinheit - bestimmt wird. Das
Universalisierbarkeitsprinzip bei HABERMAS dagegen entstammt einer gänz-
lich anderen Überlegung. Daß eine Maxime nur dann als ethisch gerechtfer-
tigt werden kann, wenn prinzipiell alle sprachfähigen Subjekte zustimmen
würden, dies entstammt dem Versuch, einen Wahrheitsbegriff auf der Grund-
lage einer Konsensustheorie zu formulieren, ohne die traditionelle Bestim-
mung der Wahrheit aufgeben zu müssen, wonach Wahrheit ihre Würde
gerade dadurch besitzt, daß sie Geltung auch bei Ablehnung durch andere
Menschen besitzt und so gegen die »Meinung« als Korrektiv geltend gemacht
werden kann. Indem die Konsensustheorie in die Diskurstheorie transfor-
miert wird, versucht HABERMAS gerade diesen Einwand auszuschalten.
Wenn tatsächlich alle sprachfähigen Subjekte zustimmen müssen, um über-
haupt von Wahrheit sprechen zu können, so ist dies gleichbedeutend mit der
Ausschaltung der Möglichkeit, daß noch abweichende Meinungen existieren
können. Grundsätzlich verstanden kann im Rahmen der Diskurstheorie ja
nicht von Wahrheit oder ethischer Richtigkeit die Rede sein, solange auch
nur die Möglichkeit besteht, daß jemals ein Mensch gegen die einmal
gefundene theoretische oder praktische Wahrheit noch Einwendungen erhe-
ben hätte können oder in der Zukunft können würde.
Das Verallgemeinerungsprinzip hat also bei HABERMAS die Funktion einer
Absicherung der einmal gefundenen Wahrheit gegen jeden Zweifel. KANT
dagegen sah darin die einzige Möglichkeit, einen guten Willen bestimmen
zu können und damit ein ethisches Prinzip formulieren zu können. In ihren
ersten gedanklichen Ursprüngen unterscheiden sich die ethischen Konzep-

243 Vgl. D. HORSTER, HABERMAS zur Einführung, Hamburg 1988, S. 71 f.


9. Konzeption von Verantwortlichkeit· KANT· HABERMAS 143

tionen von KANT und HABERMAS also fundamental. Nichtsdestoweniger


entwickeln sie aus diesen differierenden Ursprüngen ethische Theorien, die
sich in entscheidenden Hinsichten vergleichbarer Argumentationsformen
bedienen und das Prinzip des Ethischen auf vergleichbare Weise mit einem
intersubjektiven Verhältnis verbinden, das eine Anerkennung der Selbstbe-
stimmungsfähigkeit und der Freiheit anderer Personen verlangt, wobei
Selbstbestimmung und Freiheit jedoch nicht als ethische Forderungen erst
aus dem ethischen Prinzip entwickelt werden, sondern bereits als Vorausset-
zungen dieses Prinzips in seine Determinanten eingehen.
Damit hat das Problem der Verantwortung zwar nicht einen grundsätzlich
anderen Charakter angenommen, es zeigt sich jedoch durch die verschiedene
Fundierung in verschiedenen Formen, wenn ein Vergleich zwischen KANT
und HABERMAS vorgenommen wird. Konnte bei KANT die universalistische
Fragestellung, die der Verantwortung erst einen ethischen Charakter verleiht,
prinzipiell monologisch von einem Akteur für sich beantwortet werden, so
ist dies aufgrund der HABERMAS'schen Konzeption von Ethik nicht mehr
möglich244 . Die logische Maximenprüfung war jedem einzelnen als solchem
zugänglich. Auch wenn jeder gerade auf der Grundlage der Prüfung seiner
Maximen auf Verallgemeinerbarkeit zur Anerkennung fremder Personen als
fähig zur Selbstbestimmung und Freiheit gezwungen war, so erforderte die
implizierte Verantwortung in ihrer Bestimmungsweise doch nicht die Einbe-
ziehung von Betroffenen in den Entscheidungsprozeß.
Nach HABERMAS dagegen ist eine Entscheidung nur dann verantwortbar,
wenn entweder die freie Zustimmung aller möglicherweise in Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft zu dieser Entscheidung Stellung nehmenden Men-
schen eingeholt worden ist, oder wenn zumindest in einem in einer idealen
Sprechsituation stattfindenden Diskurs durch die Zustimmung aller kompe-
tenten Sprecher eine Lösung gefunden wurde. Damit wird auf jeden Fall die
tatsächliche Zustimmungsbedürftigkeit wirklicher Menschen in das Verant-
wortungskonzept eingebracht. In diesem Sinne wird dieses Konzept damit
von einem monologischen zu einem dialogischen erweitert245 . Allerdings

244 Vgl. W. REESE-SCHÄFER, ]ürgen HABERMAS, FrankfurtIMain 1991, S. 64 f.


245 Vgl. H. GRIPP, ]ürgen HABERMAS, Paderborn u. a. 1984, S. 121 ff.
144 V. Verantwortlichkeit· Diskurs· Jürgen HABERMAS

sollte nicht vergessen werden, daß Verantwortung sowohl in der Konzeption


von KANT als auch in der von HABERMAS stets die Respektierung fremder
Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit voraussetzt. Die Beteiligung ande-
rer Personen bei der Ausgestaltung von Verantwortung wird von KANT und
HABERMAS jedoch verschieden konzipiert. Bei KANT sind andere Personen
zwar in ihrer Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit zu berücksichtigen,
eine aktive Teilnahme an der Bestimmung ethischer Gehalte sieht die KANTi-
sche Ethik j edoch nicht vor. Nach HABERMAS dagegen kann der Gehalt einer
ethischen Norm überhaupt nicht ohne aktive Beteiligung prinzipiell aller
anderen Personen im Diskurs bzw. in der idealen Sprechsituation bestimmt
werden.

Es ist allerdings auch die Einschränkung zu sehen, die HABERMAS in seiner


Ausarbeitung einer Konzeption ethischer Wahrheit zum Begriff der idealen
Sprechsituation geführt hat. Die Verantwortung behält zwar ihren universa-
listischen Charakter, diese Universalität kann jedoch durch ein Substitut
hergestellt werden, so daß nicht die tatsächlich Betroffenen befragt werden
müssen und die Verantwortung nicht diese betrifft, sondern es genügt prin-
zipiell ein Gremium kompetenter und in einer idealen Sprechsituation disku-
tierender Gesprächspartner, die »advokatorisch« für alle sprechen, um der
V erantwortung genüge zu tun. Diese Reduzierung des Anspruchs der Dis-
kurstheorie ist aufgrund der Irrealität ihrer Voraussetzungen zwar notwendig,
aber sie birgt in sich doch die Gefahr, daß alle Ergebnisse der HABER-
MAS' schen Theorie in ihr Gegenteil verkehrt werden können.

Sobald ein »advokatorisch« geführter Diskurs zugelassen wird, ist im Grunde


die Stärke der HABERMAS'schen Ethikkonzeption dementiert. Es sind dar-
über hinaus auch alle intersubjektiven Elemente bedroht, die die Diskurstheo-
rie mit der KANTischen Ethik gemeinsam hat. Wenn zugelassen wird, daß auf
irgend welche Weise besonders befähigte Diskursteilnehmer für andere, nicht
teilnehmende Personen sprechen, so werden die letzteren nicht mehr als frei
und als fahig zur Selbstbestimmung aufgefaßt. Ihre Bestimmung wird nun
anderen übertragen, deren Äußerungen den nicht Teilnehmenden als deren
eigene unterstellt werden. Genau dies ist aber die Definition der Fremdbe-
stimmung.
9. Konzeption von Verantwortlichkeit· KANT· HABERMAS 145

Die HABERMAS'sche Ethik gewinnt dadurch einen ambivalenten Status.


Einerseits eröffnet sie die Möglichkeit zur Formulierung ethischer Normen
im Diskurs, der die KANTischen Intentionen durch die Aufnahme der Selbst-
bestimmungsfähigkeit und der Freiheit anderer Personen bewahrt, sie jedoch
um die Notwendigkeit einer aktiven und dialogischen Teilnahme der anderen
Personen erweitert und korrigiert. Andererseits eröffnet sie durch die Redu-
zierung auf advokatorisch geführte Diskurse auch die Möglichkeit, unter dem
N amen ethischer Wahrheit die einen für die anderen sprechen zu lassen, ohne
anzugeben, was die einen zu dieser Leistung befähigen könnte und ohne zu
erklären, wie darin die Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit der anderen
bewahrt werden könnte. Diese Problematik sollte nicht vergessen werden,
wenn HABERMAS seinen Entwurf mit folgenden Worten als Fortschritt ge-
genüber der KANTischen Ethik darstellt: "Statt allen anderen eine Maxime,
von der ich will, daß sie ein allgemeines Gesetz sei, als gültig vorzuschreiben,
muß ich meine Maxime zum Zweck der diskursiven Prüfung ihres Univer-
salitätsanspruchs allen anderen vorlegen. Das Gewicht verschiebt sich von
dem, was jeder (einzelne) ohne Widerspruch als allgemeines Gesetz wollen
kann, auf das, was alle in Übereinstimmung als universale Norm anerkennen
wollen." 246

246 J. HABERMAS, Kommunikatives Handeln und Moralbewußtsein, FrankfurtJMain


1983, S. 77.
VI.
Möglichkeiten und Grenzen des
Verantwortungsprinzips für die Unternehmensethik

1.
Die Grenzen der Verantwortung in der Freiheit des anderen

In einem ersten Zugang wurde in Kapitel II versucht, aus den Besonderheiten


der Existenz von Unternehmen als effektivitätsverbürgender Einheiten der
die materielle und kulturelle Existenz des Menschen sichernden Auseinan-
dersetzung mit der Natur die Eigenständigkeit einer Unternehmens ethik
abzuleiten und sie damit von der Auffassung abzugrenzen, sie sei nur ein
Anwendungsfall der allgemeinen Ethik und nicht ein spezifisches Produkt
der praktischen Vernunft. Mit dieser Grundlegung der genuinen Natur einer
Unternehmensethik wurde auch bereits eine Grundstruktur vorgegeben, der
eine Unternehmensethik folgen wird müssen, wenn sie ihre besondere Auf-
gabe erfüllen können soll. Diese Grundstruktur wurde in sehr allgemeiner
Form als Verantwortung bezeichnet und die Unternehmensethik damit in
Unterscheidung von Formen einer Individualethik als Interpersonalethik
charakterisiert.
Es wurde an dieser Stelle bereits auf einige grundsätzliche Probleme hinge-
wiesen, die das Konzept der Verantwortung in der Ethik mit sich bringt,
insbesondere betraf dies die Frage nach dem Subjekt der Verantwortung und
nach deren spezifisch ethischen Ausgestaltung, die sie von nicht-ethischen
Formen der Rechenschaftslegung unterscheidet. Inzwischen wurden drei
Positionen untersucht, die den Begriff der Verantwortung auf ganz verschie-
dene Weise im Zusammenhang der Diskussion einer philosophischen Ethik-
begründung untersuchen. Dabei wurden neben der» klassischen« Verantwor-
148 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

tungsethik von H. JONAS bewußt zwei Positionen herangezogen, die nicht


von vornherein den Verantwortungsbegriff in den Mittelpunkt der Erörterun-
gen stellen, sondern die ethische Begründung einer Verpflichtung gegen
andere Menschen, die das Wesen der Verantwortung darstellt, aus weit in die
Grundlagen der Vernunft und des vernünftigen Argumentierens zurückgrei-
fenden Untersuchungen entwickeln247 .

Als zentrale Fragestellung der Positionen von 1. KANT und J. HABERMAS kann
unter dieser Perspektive das Problem aufgefaßt werden, wie weit die Verant-
wortung reicht und wofür sie geleistet werden kann und soll. Umgekehrt ist
dies aber ebenso die Frage, wie weit Verantwortung reichen darf und damit
auch, wo sie aus ethischen Gründen enden muß. Diese Grenzen der Verant-
wortung werden bei beiden Denkern aber gerade aus einer Konzeption heraus
bestimmt, die den interpersonalen Aspekt der Ethik in den Mittelpunkt stellt.
Man könnte also auch so formulieren: Beide Denker kommen zu einer
Begrenzung der Verantwortung auf der Grundlage der Ausarbeitung einer
philosophisch begründeten Konzeption von Verantwortung. Daß die Verant-
wortung begrenzt ist, ergibt sich demnach daraus, daß wir wissen können,
was es heißt, verantwortlich zu sein.

Bei KANT zeigen sich diese Grenzen der Verantwortlichkeit gerade durch die
Bestimmung der Verantwortung, die als austauschbar mit dem grundlegen-
den Universalisierbarkeitskriterium des kategorischen Imperativs formuliert
worden war und somit selbst als letzte Grundlegung des Ethischen gelten
kann. So zu handeln, daß die Maximen der Handlungen gleichzeitig als
Richtschnur einer allgemeinen Gesetzgebung dienen können, heißt so zu
handeln, daß der andere nicht bloß als Mittel, sondern stets auch als Selbst-
zweck behandelt wird. Den anderen Menschen als Selbstzweck achten heißt
aber gerade, ihn in seiner Personalität zu respektieren und ihn nicht weiter zu
bestimmen, als es eben dieses Universalisierbarkeitskriterium zuläßt. Verant-

247 Im folgenden wird die Position von H. JONAS nicht zu argumentativen Zwecken
herangezogen. Neben der Problematik der explizit metaphysischen und »vor-mo-
dernen« Begründungslage sind dafür auch die argumentativen Schwächen seines
»patemalistischen« Begriffes von Verantwortung maßgeblich. Vgl. dazu die kriti-
schen Anmerkungen in den Kap. 1II.4 und 111.6.
1. Grenzen der Verantwortung in der Freiheit des anderen 149

wortlich handeln heißt demnach also so handeln, daß die Personalität des
anderen nicht beschädigt wird.
Darin liegt aber gleichzeitig eine Beschränkung der Verantwortlichkeit. Die
Personalität des anderen kann auch als seine Freiheit aufgefaßt werden, in
der er selbst fähig ist, ethisch verbindlich zu handeln. Die Verantwortlichkeit
endet also dort, wo die Freiheit des anderen tangiert wird. Sie ist damit gerade
eine Verantwortung für die Freiheit des anderen. Dies aber wäre sie nicht,
wenn sie seine Freiheit bestimmen würde. In diesem Sinne ist die Verantwor-
tung auch Verantwortung dafür, daß dem anderen seine Freiheit zur Selbst-
bestimmung nicht genommen wird, und sie ist Verantwortung dafür, daß ihm
eben diese Fähigkeit zur Selbstbestimmung erhalten bleibt.
In bezug auf die in Kapitel II entwickelten Konstitutiva einer eigenständigen
Unternehmens ethik, die als spezifische Ausprägung praktischer Vernunft
aufgefaßt werden kann, ergeben sich daraus erste Folgerungen. Die Verant-
wortung, die in der Unternehmens ethik schon deshalb zentral ist, weil sie die
Realisierung der Besonderheiten der Existenz von Unternehmen als Organi-
sationen zur Auseinandersetzung des Menschen mit der äußeren Natur ist,
kann nicht als Verantwortung für das bestimmte Dasein des anderen Men-
schen auftreten, der mit der Existenz von Unternehmen im sozialen Hand-
lungszusammenhang immer schon tangiert ist. Dies würde bedeuten, daß die
Verantwortung von Unternehmen - unabhängig davon, ob das Unternehmen
selbst als ethischer Akteur aufgefaßt wird oder ob nur die Rede sein soll vom
einzelnen Menschen als ethischem Akteur im Unternehmen - nur bis an die
Grenze der Freiheit anderer Menschen gehen kann. Diese Grenze aber ist
durch die Selbstbestimmungsfahigkeit definiert. Damit würde die Verant-
wortung von Unternehmen dort enden, wo die Selbstbestimmungsfahigkeit
anderer Menschen anfängt. In positiver Formulierung ausgedrückt, würde
dies jedoch bedeuten, daß die Verantwortung von Unternehmen genau bis
dahin reicht, wo die Selbstbestimmungsfahigkeit anderer Menschen beginnt.
Darüber hinaus aber läßt sich auf dieser Grundlage noch ein weiteres Krite-
rium für die Verantwortung von Unternehmen und deren Grenzen angeben.
Wenn Verantwortung überhaupt von der Existenz der Freiheit und der
Selbstbestimmungsfahigkeit anderer Menschen abhängt, so impliziert sie
150 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

schon durch ihre Existenz als ethisches Kriterium die Verantwortung für die
Erhaltung von Freiheit und Selbstbestimmungsfahigkeit. Das Unternehmen
wäre damit schon durch sein Wesen als Organisationseinheit einer arbeitstei-
ligen Ökonomie in seiner Bezogenheit auf den Sozialzusammenhang unter
der Perspektive der Auseinandersetzung mit der materiellen Umwelt in die
Verantwortung genommen für die Erhaltung der Selbstbestimmungsfahig-
keit von Menschen in eben diesem Sozialzusammenhang und unter eben
dieser Perspektive. Aufgabe von Unternehmen wäre es auf dieser gedankli-
chen Grundlage, die effektive Existenzsicherung des Menschen in materieller
und damit auch kultureller Hinsicht zu sichern unter der einschränkenden
Bedingung der gleichzeitigen Erhaltung der Freiheit und Selbstbestimmungs-
fähigkeit des Menschen in Zusammenhang mit seinem materiellen und
kulturellen Überleben.

In der ethischen Konzeption von 1. HABERMAS ist die Verantwortung noch


sehr viel unmittelbarer in den Kriterien einer ethisch begründbaren Entschei-
dung angelegt als dies bei I. KANT der Fall ist. Einen ethischen Charakter hat
eine Entscheidung demnach im Grunde nur dann, wenn sie in dem schon
begrifflich radikalsten Sinne »verantwortet« werden kann. In der radikalen
Fassung der Theorie von J. HABERMAS bedeutet dies, daß eine solche
Entscheidung gegenüber allen Menschen »verantwortet« werden können
muß, die gegenwärtig leben, gelebt haben oder künftig leben werden. Diese
Radikalität führt jedoch noch in eine andere Richtung: Eine Entscheidung ist
dann ethisch begründet, wenn sie gegenüber jedem Menschen solange »ver-
antwortet« werden kann, bis nicht nur faktisch, sondern prinzipiell keine
Möglichkeiten einer weiteren Forderung nach Verantwortung mehr offenste-
hen. Dies ist nach HABERMAS dann der Fall, wenn die »ideale Gesprächssi-
tuation« realisiert ist.

Darin liegt jedoch auch schon eine Beschränkung der Verantwortung. Diese
ist vor allem darin zu sehen, daß die verantwortbare Entscheidung nicht
unabhängig von den tatsächlichen Verantwortungsforderungen der Beteilig-
ten als verantwortlich bezeichnet werden kann. Es ist nach dieser Position
also nicht möglich, eine Entscheidung als »verantwortlich« oder »verantwor-
tungsbewußt« zu bezeichnen, die aufgrund eines abstrakten Wissens über
1. Grenzen der Verantwortung in der Freiheit des anderen 151

das, was richtig oder falsch ist, getroffen wurde. Entscheidend ist vielmehr
das Wissen derer, denen gegenüber die Verantwortung stattfindet. Es würde
dieser Konzeption auch widersprechen, wenn nur bestimmte Wissensformen
für den Prozeß der Verantwortung zugelassen würden. Auch wenn sachfrem-
de Überlegungen als Argumente vorgebracht werden, so ist es doch nicht
möglich, diese eben deswegen als irrelevant außer acht zu lassen. Sie müssen
vielmehr in einem erneuten kommunikativen Refiexionsprozeß als Vorrnei-
nungen thematisiert werden und können nur dann ausgeschlossen werden,
wenn in diesem Fortgang die Beteiligten frei einsehen, daß es sich tatsächlich
um Vormeinungen handelt, die als solche nicht für die fraglichen Entschei-
dungen ausschlaggebend sein können. HABERMAS spricht in diesem Zusam-
menhang vom "zwanglosen Zwang des besseren Argumentes".

Verantwortung kann auf dieser Grundlage also keine Leistung eines isolierten
Individuums sein, sondern kann nur kommunikativ verstanden werden.
Schon darin liegt eine Begrenzung des Verantwortungskonzepts, das auch
für die genuine Unternehmensethik von Bedeutung ist, deren zentrale Struk-
tur aufgrund der Besonderheiten der sie konstituierenden Gegebenheiten die
Verantwortung ist. Der unternehmensethische Akteur - sei es das Unterneh-
men selbst oder der ethische Akteur im Unternehmen - kann seiner Verant-
wortung gerade dann nicht gerecht werden, wenn er sie für sich und auf der
Grundlage nur seiner eigenen Vernunft ausüben will. Wer solipsistisch
verantwortungs bewußt handelt, handelt demnach gerade verantwortungslos,
weil er die Grundlagen der Verantwortung in einer kommunikativen Gemein-
schaft der Rechtfertigung außer Acht läßt. Man könnte dies auch so ausdrük-
ken: Wer nach eigenem Gutdünken verantwortlich sein will, der handelt
verantwortungslos, weil er seine Verantwortung nicht durch die Tat beweist,
was er nur durch das tatsächliche Sichverantworten in einem kommunikati-
ven Prozeß kann.

Gerade für die Diskussion der Unternehmensverantwortung in praktischen


Zusammenhängen ist damit eine beträchtliche Korrektur gegeben. In der
Selbstdarstellung von Unternehmen wird oftmals von Verantwortung gespro-
chen, die als selbst getragene Verantwortung aufgefaßt wird. Es ist also eine
Verantwortung nach eigenen Vorstellungen und Begriffen, die hier als ver-
152 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

antwortungsbewußtes Handeln ausgegeben wird. Genau dieses Verantwor-


tungsverständnis entspricht aber nach der HABERMAS'schen Argumentation
nicht einer philosophisch ausweisbaren Konzeption von Verantwortung, weil
durch den Rekurs auf die eigenen Vorstellungen und Begriffe gerade der
Bedeutungskern des Verantwortungsbegriffes dementiert wird, der stets ein
wirklich durchgeführtes Sichverantworten voraussetzt und fordert.

Darüber hinaus ergibt sich aus der Verantwortungskonzeption von HABER-


MAS ein Ergebnis, das im Prinzip der KANTischen Auffassung nahekommt,
wenn es sich auch in der argumentativen Ableitung davon unterscheidet.
Nach HABERMAS kann die konkrete Leistung des Sichverantwortens, die
allein geeignet ist, um überhaupt Verantwortung herstellen zu können, nur in
einer Situation der freien Rede verwirklicht werden, eben der "idealen
Gesprächssituation". Unabhängig von der Frage nach der Realisierbarkeit
dieser Situation in ihrer ganzen Radikalität kann doch gesagt werden, daß
damit zur Verantwortung - bzw. zum Sichverantworten - auch die Verant-
wortung für die Freiheit der anderen gehört, denen gegenüber konkret Ver-
antwortung geleistet werden muß. Die Verantwortung ist also nicht nur
begrenzt durch die Beschränkung auf das konkrete Sichverantworten gegen-
über anderen, sondern sie ist in sich auch konkretisiert und damit begrenzt
durch die Notwendigkeit, anderen die Möglichkeit verschaffen zu müssen,
ihre Vorstellungen und Meinungen frei vortragen zu können, unabhängig
davon, ob sie mit den eigenen Begriffen von Verantwortlichkeit übereinstim-
men oder nieht. Verantwortung impliziert damit nach HABERMAS einen
weitgehenden Verzieht auf die eigene Verantwortungsmacht. Sie kann nicht
nach eigenen Begriffen geleistet werden, und sie kann nicht geleistet werden
ohne die Freiheit der anderen.

Sowohl KANT als auch HABERMAS kommen also auf verschiedenen argu-
mentativen Wegen zu dem Ergebnis, daß die Bedingung der Möglichkeit
eines verantwortlichen Handeins gerade die Beschränkung der eigenen Ver-
antwortungsfahigkeit durch die fremde Freiheit ist. Bei KANT ist es die
Universalisierbarkeit von Handlungsmaximen, die fordert, den anderen nie-
mals als Mittel, sondern ebenso als Selbstzweck und d. h. als Person in ihrer
Selbstbestimmungsfähigkeit anzusehen. Bei HABERMAS ist es das Prinzip des
2. Verantwortlichkeit als universaIisierte Handlungsorientierung 153

Diskurses, das die Freiheit des anderen als Bedingung eines Sichverantwor-
tens voraussetzt. Daraus resultiert sowohl für KANT als auch für HABERMAS
eine Implikation des Verantwortungs begriffes, die Verantwortlichkeit aus
eigener Machtvollkommenheit ausschließt und das Verantwortungskonzept
damit definiert, indem es die Verantwortlichkeit begrenzt durch die Freiheit
des anderen, dem gegenüber die Verantwortlichkeit als Leistung und als
Prozeß stattfindet.

2.
Verantwortlichkeit als
universalisierte Handlungsorientierung

Wenn Wirtschafts ethik als Sozialethik die Folgen des Handelns von Unter-
nehmen und des Handeins in Unternehmen für die Betroffenen unter Krite-
rien der ethischen Richtigkeit untersucht, so gehört zu ihren zentralen Auf-
gaben die Klärung des Begriffes der Verantwortung. Allgemein ist eine
Handlung dann nach ethischen Maßstäben richtig, wenn sie gerechtfertigt
werden kann. Verantwortlich handeln heißt folglich so handeln, daß die
Folgen dieses Handeins für die betroffenen Personen gerechtfertigt werden
können.
Das Problem ist damit offensichtlich auf das Problem der Rechtfertigung von
Handlungen verschoben. Zunächst wird eine Rechtfertigung aus Eigeninter-
esse nicht ausreichen, um von einer Anwendung ethischer Maßstäbe sprechen
zu können. Die Rechtfertigung muß vielmehr auf allgemeinere Regeln Bezug
nehmen, aus denen sie durch logisch stringente Verfahren abgeleitet werden
kann. Die in der modemen - deontischen - Ethik vorherrschende Form der
Rechtfertigung ist der Rekurs auf die Verallgemeinerbarkeit einer Norm, aus
der im konkreten Fall eine Handlungsanleitung zu gewinnen ist. Verantwort-
lich handeln heißt demzufolge, die Auswirkungen einer Handlung auf die
betroffenen Personen durch den Bezug auf eine verallgemeinerbare Norm
rechtfertigen können. Damit ist dem zunächst rein formalen Begriff der
154 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungs prinzips

Verantwortung eine erste Bestimmung gegeben, die möglicherweise einen


Weg zu einer inhaltlichen Ausfüllung eröffnet. Ohne eine solche Bestim-
mung stellt der Begriff Verantwortung ja nur eine inhaltslose Struktur dar,
die als solche noch keinen ethischen Bezug aufweisen muß. "Verantworten"
im Sinne eines Antwortens auf Rechtfertigungsaufforderungen muß sich
auch der Mafioso gegenüber seinem "Paten". Durch das Prinzip der Verall-
gemeinerbarkeit wird die Verantwortung jedoch von der Rechenschafts-
pflicht gegenüber einer bestimmten Gruppe oder Person gelöst.
Darüber hinaus kann verantwortlich nur jemand heißen, der eine "Tat"
begehen kann, d. h. der eine Veränderung in der Außenwelt induzieren kann,
die eine Wirkung einer Ursache darstellt, die mit diesem "jemand" zu
identifizieren ist. Die bloße Kausalbeziehung reicht jedoch offensichtlich
nicht aus, um von einem "Täter" sprechen zu können. Dazu müssen wir in
der Lage sein, jenen "jemand" für seine Tat zu beurteilen. Das tun wir, indem
wir seine Handlung mit anderen möglichen Handlungen vergleichen, die ihm
unter den gegebenen Umständen zugänglich gewesen wären, und die er durch
seine Wabl verworfen hat.
Bis zu einem gewissen Grad versetzen wir uns dazu in den anderen und seinen
Standpunkt, denn nicht, welche Möglichkeiten ihm objektiv offengestanden
hätten, ist für die Beurteilung entscheidend, sondern welche er von seinem
Standpunkt aus und unter seinen Bedingungen wahrnehmen konnte (bzw.
welche er unter seinen Bedingungen hätte wahrnehmen müssen, so daß er für
die Beschränkung seines Horizontes selbst verantwortlich gemacht werden
kann). Dies setzt aber voraus, daß wir den ,jemand", den wir beurteilen, nicht
als einen "Gegenstand" in der Welt verstehen, dessen Zustände durch die
Ursachenkette der Natur bestimmt sind, sondern ihn als fähig zur Wabl
auffassen, d. h. als jemanden, der seine Aktionen durch Gründe aus Alterna-
tiven auswählt.
Wenn wir einen Menschen nur unter diesen Bedingungen als verantwortungs-
fähig auffassen, so ist damit mit dem Begriff der Verantwortung offenbar der
der Freiheit verknüpft, der wiederum den des HandeIns nach Gründen, also
die Zweckhaftigkeit, einschließt. Für KANT ist nun mit der Freiheit auch
bereits gegeben, daß eine Handlung unter "Gesetzen der Verbindlichkeit"
2. Verantwortlichkeit als universalisierte Handlungsorientierung 155

steht. Als frei und damit als verantwortlich können wir jemanden aber dann
verstehen, wenn wir ihn als moralisch handlungsfahig auffassen und erfahren.
Dieser innere Zusammenhang der Moralität mit der Fähigkeit zur Verantwor-
tung kann nach KANT auch mit Hilfe des Begriffes der Person ausgedrückt
werden. Eine Person ist in der KANTischen Terminologie ein Wesen, das sich
selbst Zwecke setzen kann und deshalb als Zweck an sich selbst existiert.
Damit kann es als frei betrachtet werden und wird von anderen Menschen als
verantwortlich für seine Handlungen angesehen und hat auch selbst das
Bewußtsein der Verantwortlichkeit. Gleichzeitig ist eine Person aber ein
moralisches Wesen, das zu Handlungen fähig ist, für die eine genuin ethische
Bestimmung unterstellt werden kann. Die Beschäftigung mit der KANTischen
Moralphilosophie erbringt also zunächst eine Theorie über den Zusammen-
hang von Verantwortlichkeit und Moralität.

Darüber hinaus beginnt für KANT in diesem Zusammenhang jedoch auch


bereits der Weg zu der begründeten Ausarbeitung des moralischen Gesetzes.
Wenn die Freiheit des Willens vorausgesetzt wird, so kann ja nach KANT die
Begründung des sittlichen Imperativs auf analytischem Wege erreicht wer-
den. Indem das moralische Gesetz in eine Ableitungsbeziehung zur Freiheit
eines Willens gebracht wird, der sich nur mit Hilfe des kategorischen Impe-
rativs so bestimmen kann, daß er in seiner Freiheit doch handlungsfähig wird,
so ist die Möglichkeit der Verantwortung nicht nur mit dem Begriff der
Moralität zusammengeschlossen, sondern auch mit dem moralischen Gesetz.
Die Verantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen ist demnach
durch ihre Bedingungen immer schon mit seiner Moralität verbunden. Indem
er als verantwortlich beschrieben wird, ist er zugleich als ein moralisch
verbindliches Wesen aufgefaßt, bzw. es steht ihm auch schon die Ausfor-
mung des moralischen Gesetzes im kategorischen Imperativ zur Verfügung,
die es ihm wenigstens in gewissen Grenzen erlaubt zu wissen, was er tun soll.

Damit ließe sich mit KANT die Behauptung aufstellen, ein Wesen, das die
Eigenschaft der Verantwortungsfähigkeit besitzt, weiß gleichzeitig auch über
den Gehalt seiner Verantwortung Bescheid. Wenn es nur verantwortlich sein
kann, insofern es frei ist, wenn es dies jedoch nur durch seine Moralität zeigen
kann, und diese Freiheit sogar den Gehalt seiner Moralität bestimmt, so ist
156 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

der Bereich seiner Verantwortlichkeit auch durch seine Moralität, d. h. durch


seine gesetzesfähige Freiheit, umgrenzt. Ein verantwortliches Wesen könnte
demzufolge schon aufgrund seiner bloßen Verantwortlichkeit wenigstens
prinzipiell wissen, was es zu tun hat, um seiner Verantwortung gerecht zu
werden.

Die KANTische Konzeption ist in sich schlüssig und baut konsequent auf den
Grundlagen einer "kritischen" Ethik auf. Ihr wurde jedoch von Anfang an die
Inhaltsleere des ausgearbeiteten moralischen Gesetzes vorgeworfen. Es dürf-
te deshalb schwer sein, eine konkrete Entscheidung auf ökonomischem
Gebiet mit Hilfe der KANTischen Moralphilosophie auf ihre Verantwortbar-
keit gegenüber den Betroffenen hin zu untersuchen. Dies liegt vor allem
daran, daß der Begriff Verantwortung bisher nur sehr vage umschrieben ist.
Zwar ist der ethische Gehalt dieses Begriffes mit Hilfe des Begriffes der
Universalisierbarkeit charakterisiert. Es bleibt jedoch ein hoher Grad von
Unbestimmtheit. Um den Begriff der Verantwortung im ethischen Sinne für
unternehmensethische Fragestellungen anwenden zu können, scheint also
noch ein beträchtliches Maß an Verdeutlichung vonnöten.

Ein solcher Versuch zur Verdeutlichung und Aufklärung des Verantwor-


tungsbegriffes läßt sichjedoch bereits den Grundzügen der KANTischen Ethik
entnehmen. Ethisch handeln wir dann, wenn wir uns fragen, ob die Maxime
unserer Handlung so verallgemeinerbar ist, daß sie nicht zu einem Wider-
spruch führt, der die betreffende Handlung selbst unmöglich machen würde.
Man kann dabei zwei Interpretationen der KANTischen Ethik unterscheiden.
Nach einer strengeren Formulierung ist die logische Widerspruchslosigkeit
gefordert, so daß etwa die Erlaubtheit der Lüge die Möglichkeit der Lüge aus
rein logischen Gründen zerstören würde. Nach einer zweiten Auffassung
wird gefordert, daß eine Handlung dann unmoralisch ist, wenn sie uner-
wünscht wird, sobald alle Menschen gemäß der ihr zugrundeliegenden Ma-
xime handeln. Die Lüge wäre demzufolge unmoralisch, weil die entsprechen-
de Maxime gegenstandslos wird, wenn alle Menschen in die Richtschnur
ihrer Handlungen aufnehmen würden, dann die Unwahrheit zu sagen, wenn
es ihren Interessen entspricht.
2. Verantwortlichkeit als universalisierte Handlungsorientierung 157

Das Problem dieser Konzeption scheint es zu sein, daß auf der Grundlage der
KANTischen Ethik keine konkreten Maßstäbe für unser Handeln entwickelt
werden können. Zunächst kommt es auf der Grundlage des KANTischen
Ansatzes, demzufolge nur ein guter Wille gut im eigentlichen Sinne heißen
kann, zu einer Ethik der Innerlichkeit, für die die Folgen der Handlungen in
der Welt und damit auch für andere Menschen im Grunde für ihre ethische
Qualität bedeutungslos sind. KANT hat dafür zwar gute Gründe, da nur ein
guter Wille uneingeschränkt gut heißen kann, da in jedem anderen Fall die
Güte einer Handlung durch ihre Folgen, die wir nicht vollständig bestimmen
können, beeinträchtigt werden kann, so daß auch eine gute Handlung durch
ihre nicht-intendierten Nebenfolgen schlecht werden kann. Aber für eine
Ethik der Verantwortung und damit für eine Sozialethik, wie sie für die
ethischen Grundlagen des Verhaltens von Unternehmen gefordert wird,
scheint KANTS Konzeption unter diesem Aspekt nur schwer herangezogen
werden zu können.
Auch wenn solchen Einwänden eine Berechtigung zugestanden werden muß,
so sollte doch nicht vergessen werden, daß diese Situation gerade das Ergeb-
nis des argumentativen Gedankenganges der KANTischen Ethik darstellt. Es
sollte auch nicht vergessen werden, daß KANT eine "kritische" Ethik ausar-
beiten wollte, die in genauer Entsprechung zu seiner kritischen Philosophie
erforschen soll, was reine Vernunft auf dem Felde der Ethik herausfinden
kann. In der theoretischen Philosophie war das Ergebnis dabei weitgehend
negativ. Eine vergleichbare Lage ergibt sich auf dem Gebiet der Ethik.
Zunächst könnte als die Quintessenz der KANTischen Überlegungen auf dem
Gebiet der Ethik angesehen werden, daß reine Vernunft auch hier nur sehr
wenig beweisen kann und sich hauptsächlich auf die negative Auszeichnung
von Maximen als unmoralisch aufgrund logischer Inkonsistenz beschränken
muß. Auch dies kann bereits als ein positives Ergebnis angesehen werden,
das die menschliche Einsicht in das Wesen des Sollens auf einen höheren
Stand bringt.
158 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

3.
Verantwortlichkeit als Orientierung an der
Freiheit und Selbstbestimmungsfähigkeit von Personen

Auf dieser Grundlage erbringt die KANTische Ethik nichtsdestoweniger eine


Orientierung, auch wenn sie manche Forderungen nach konkreten Hand-
lungsanweisungen nicht zufriedenstellen kann. Zunächst zeigt sich Verant-
wortung als ein Phänomen, das aufs engste mit der Freiheit des Menschen
verbunden ist, so daß die letztere im Grunde nicht ohne die erstere gedacht
werden kann. Zum zweiten ist Verantwortlichkeit nach KANT nicht von
Moralität zu trennen und d. h. nicht als abstrakte Zurechnung einer Handlung
zu ihrem Verursacher im naturkausalen Sinne zu verstehen. Desweiteren ist
mit der Forderung nach Verallgemeinerbarkeit die Berücksichtigung aller
Menschen, also nicht nur einer bestimmten sozialen, nationalen, oder sonst-
wie abgrenzbaren Gruppe, in die Grundlage der Verantwortlichkeit und der
Moralität aufgenommen.

Darüber hinaus ist an die Umformung des kategorischen Imperativs in der


Selbstzweckformel zu denken. Darin gewinnt der kategorische Imperativ
automatisch eine Bedeutung für das Verhalten gegenüber anderen Menschen.
Indem er sich auf die Autonomie, d. h. die Fähigkeit, sich selbst verallgemei-
nerungsfahige Zwecke setzen zu können, gründet, muß er sich auch auf die
Autonomie anderer Menschen gründen, wenn diese eben als Zwecke an sich
selbst anzusehen sind. Damit ist aber für den mit der bloßen Tatsache der
Verantwortlichkeit gegebenen Gehalt der Verantwortung doch eine Bestim-
mung gegeben, die zwar nicht sehr konkret ist, aber auch nicht völlig leer.

Verantwortung für die eigenen Handlungen zu tragen fordert demzufolge,


darauf zu achten, daß durch diese Handlungen und ihre Folgen andere
Menschen nicht nur als Mittel behandelt werden. Dies schließt nicht aus, daß
sie bis zu einem gewissen Grad auch als Mittel behandelt werden dürfen. In
jeder wirtschaftlichen Tätigkeit werden Menschen auch als Mittel angesehen.
Etwa müssen sie im Personalmanagement auf ihre Eignung zu einem be-
stimmten Einsatz hin beurteilt werden. Aber in einem verantwortbaren Ver-
3. Verantwortlichkeit· Freiheit· Selbstbestimmungsfähigkeit 159

halten darf dies eben nicht die einzige Determinante ausmachen. Eine solche
"technische" Einstellung zu den Menschen, die durch ökonomische Entschei-
dungen betroffen werden, muß vielmehr von einer Haltung getragen und
durchwirkt sein, die in der Person des anderen die "Menschheit" als Selbst-
zweck betrachtet.
Verantwortlich handeln heißt demnach berücksichtigen, daß durch Entschei-
dungen menschliche Wesen betroffen werden, die sich selbst Zwecke setzen
können und dadurch Zwecke an sich selbst sind. Verantwortlich handeln
heißt folglich auch, in ökonomischen Entscheidungen mitbedenken, daß und
wie die Freiheit anderer Personen durch die Folgen verletzt werden könnte.
Wenn der Zusammenhang der KANTischen Moralphilosophie berücksichtigt
wird, so ist diese Charakterisierung von Verantwortung letztlich in dem
begründet, was Verantwortung überhaupt möglich macht, d. h. in der nur
durch die Moralität zu beweisenden Freiheit, die umgekehrt als Grundlage
der Moralität zum Grundsatz der Autonomie führt und damit die Forderung
impliziert, auch die Freiheit anderer in den eigenen Entscheidungen mitzu-
bedenken.
Damit sind nun zwei Folgen verbunden, die für eine Verantwortung im
ethischen Sinne wesentlich sind. Zum einen wird die Handlung aus ihrem
konkreten Kontext gelöst. Wenn in einem sozialen Zusammenhang gehandelt
wird, so sind Rechtfertigungen gegenüber den relevanten Personen dieses
Zusammenhanges dem sozialen Handeln selbst inhärent. Die ethische Di-
mension entrückt die Verantwortungjedoch diesem sozialen Zusammenhang
und distanziert den Handelnden damit auch von den personalen Beziehungen,
an denen er sich zunächst vermutlich orientieren wird. Die Folgen der
Handlung werden unter dem ethischen Aspekt also nicht mehr daran gemes-
sen, ob sie für die Personen des engeren sozialen Zusammenhanges vorteil-
haft oder nachteilig sind, bzw. ob sie von diesen Personen gebilligt werden
oder nicht, sondern es wird eine Perspektive eingenommen, unter der die
Handlung unter Absehung von diesem engeren sozialen Kontext beurteilt
wird.
160 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungs prinzips

Außer der Distanzierung von dem sozialen Kontext, in dem die Folgen einer
Handlung Bedeutung haben, distanziert sich der Handelnde in gewisser
Weise auch von sich selbst, wenn er seine Handlungen unter der Perspektive
der Verallgemeinerbarkeit betrachtet. Er verläßt damit die zunächst natürlich
eingenommene Position des Eigeninteresses und akzeptiert, daß seine Inter-
essen nicht einfach deshalb, weil sie seine Interessen sind, größeres Gewicht
haben als die Interessen anderer Menschen. Damit nimmt er eine Perspektive
ein, unter der er selbst als einer unter anderen erscheint und unter der seine
Interessen gleichrangig sind mit denen anderer Menschen.

Verantwortlich handeln heißt damit, die Folgen seiner Handlungen weder


unter partikularen, noch unter individualistischen Perspektiven zu betrachten.
Die universalistische Perspektive ist jedoch im Grunde völlig unnatürlich. Im
allgemeinen handeln Menschen entweder aus Eigeninteresse oder aus Ver-
antwortung für die Menschen, die ihnen nahestehen. Das universalistische
Konzept der Verantwortung verlangt dagegen, sich an einer verallgemeiner-
baren Norm zu orientieren, die weder aus dem Eigeninteressse, noch aus den
Interessen der Menschen des engeren sozialen Zusammenhanges abzuleiten
ist, sondern u. U. sogar diesen Interessen entgegengesetzt sein kann.

Auf ganz andere Weise führt RAWLS ein Universalisierungsprinzip in die


Dimension der Verantwortlichkeit ein, die erst dadurch ethischen Charakter
erhält. Eine ethisch gerechtfertigte Handlungsdeterrnination kann demzufol-
ge dann gefunden werden, wenn der betreffende Akteur sich in einem
Gedankenexperiment von allen Besonderheiten seiner Individualität und von
seinen gesellschaftlichen und geschichtlichen Bedingungen befreit und sich
in einen Zustand versetzt, in dem ihm seine tatsächliche Lage in einer erst
später sich entwickelnden Handlungssituation vollkommen unbekannt ise48 •
Er muß dann über die Einrichtung einer künftigen Gesellschaft und damit
auch über das richtige Handeln so entscheiden, daß seine vernünftig begrün-
deten Interessen in jedem Falle gewahrt werden, ganz gleich, an welcher

248 Vgl. H. J. KÜHN, Soziale Gerechtigkeit als moralphilosophische Forderung. Zur


Theorie der Gerechtigkeit von lohn RAWLS, Bann 1984, S. 35 ff.; sowie A. SATIIG,
KANT und RA WLS. Eine kritische Untersuchung von RA WLS' Theorie der Gerechtigkeit
im Lichte der praktischen Philosophie KANTs, Diss. Mannheim 1985, S. 104 ff.
3. Verantwortlichkeit· Freiheit· Selbstbestirnrnungsfahigkeit 161

Position in der künftigen Gesellschaft er auch stehen wird. Die Entindividua-


lisierung und Universalisierung der Interessenberücksichtigung wird hier
monologisch und vom einzelnen Akteur für sich durchgeführt.
Ähnlich wie bei KANT kann der einzelne die richtige Entscheidung hier also
selbst finden und muß nicht in Kommunikationsprozesse eintreten. Er kann
seiner Verantwortung jedoch nicht gerecht werden durch eine logische Ver-
allgemeinerungsoperation, sondern nur durch eine fiktive Situation voraus-
setzungsloser Gleichheit aller vor der Ausbildung von Institutionen und des
durch sie vorgegebenen Handlungsrahmens. Der Akteur muß seine Entschei-
dung also prinzipiell vor allen rechtfertigen, er muß sich jedoch aktuell vor
niemandem rechtfertigen.
Ähnlich versucht HARE Moralprinzipien zu begründen durch die Bezugnah-
me auf die Präferenzen aller von einem zur Debatte stehenden Handlungstyp
potentiell Betroffenen249 • Ein verantwortliches Handeln muß demnach also
zunächst die Frage beantworten, welches Prinzip der Akteur akzeptieren
könnte, wenn er in einem Gedankenexperiment nacheinander alle Rollen
sämtlicher Betroffener durchlebt hat. Allerdings ist ein solches Gedankenex-
periment nach HARE nicht deshalb gefordert, weil nur so die wohlverstande-
nen Eigeninteressen der Beteiligten am besten berücksichtigt werden können,
sondern weil die "Sprache der Moral" bei Interessenkonflikten die Fiktion
eines Rollenwechsels bei der moralischen Meinungsbildung zwingend erfor-
dert25o .
Zunächst scheint HABERMAS' Konzeption ein entscheidendes und bereits in
der Semantik und im alltäglichen Gebrauch enthaltenes Moment von Verant-
wortung besser als KANT beibehalten zu können. Wenn wir von Verantwor-
tung sprechen, dann ist darin impliziert, daß wir einem anderen für eine
bestimmte Handlung oder ein bestimmtes Unterlassen begründet Rede und
Antwort stehen können. Eine ethische Dimension erhält dieses interpersonale
Element jedoch erst durch die Universalisierbarkeit, durch die die in sozialen

249 Vgl. H. HOPPE, Ethische Positionen im Vergleich: Utilitarismus (RARE) - Vertrags-


theorie (RA WLS) - Diskursethik (APELIRABERMAS), in: Deutsche Zeitschrift für Philo-
sophie40/1992, S. 503 - 512. '
250 Vgl. R. M. HARE, Die Sprache der Moral, FrankfurtJMain 1972.
162 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungs prinzips

Zusammenhängen gängige Verantwortlichkeit gegenüber bestimmten Perso-


nen oder Gruppen überschritten wird. Andererseits scheint dieses interperso-
nale Element in den Konzeptionen von KANT, RAWLS und HARE weitgehend
zu verschwinden. An seine Stelle tritt die logische Verallgemeinerungsfähig-
keit einer Handlungsmaxime bzw. das fiktive Sichversetzen in eine Situation
vor der Ausbildung von Institutionen oder in sämtliche potentiellen Hand-
lungsbetroffenen.

HABERMAS dagegen scheint das interpersonale Element zu bewahren, indem


seiner Konzeption zufolge nur dann ethisch gehandelt wird, wenn tatsächlich
alle Beteiligten die Möglichkeit haben, ihre Interessen frei von Restriktionen
in den Diskursprozeß einzubringen. Auch HABERMAS muß jedoch das inter-
personale Element weitgehend zurücknehmen, wenn er an die Stelle einer
Konsenstheorie eine Diskurstheorie setzt. Diese Substitution trägt der
Schwierigkeit Rechnung, für ein bestimmtes ethisches Problem eine ethische
Norm finden zu können, die faktisch von allen Menschen gebilligt werden
müßte. Wenn an die Stelle des Konsenses der Diskurs gesetzt wird, an dem
nur eine Auswahl der möglichen Gesprächspartner teilnimmt, die sich durch
bestimmte Eigenschaften auszeichnen (Kompetenz, Reflexionsfähigkeit, Fä-
higkeit zum Thematisieren aller Vormeinungen, Fähigkeit zum Außeracht-
lassen aller nicht-sachlichen Diskurshindernisse, etc.), so wird der interper-
sonale Bezug bis zu einem gewissen Grad wieder aufgehoben. Zwar handelt
es sich hier um reale Gesprächspartner, für diese muß jedoch eine kontrafak-
tische Gesprächssituation unterstellt werden, die auch diesem Verfahren zur
universalen Berücksichtigung aller Betroffenen einen fiktiven Charakter
verleiht.

KANT, HABERMAS, RAWLS und HARE stimmen offenbar grundsätzlich darin


überein, daß von einem ethisch dimensionierten Handeln nur dann gespro-
chen werden kann, wenn die Grundlagen des HandeIns so verantwortet
werden können, daß sie dem Prinzip der Universalisierbarkeit genügen. Wie
im Prozeß der Entscheidungsbildung dieses Prinzip der Universalisierung
aber realisiert werden kann, so daß eine verantwortbare Handlung zustande-
kommt, darüber offerieren die genannten Autorenjedoch verschiedene Ant-
worten.
4. Verantwortlichkeit· Universalisierbarkeit· Fallbeispiele 163

Die Universalisierung der Verantwortlichkeit, die Verantwortung erst zu


einem ethischen Grundkonzept macht, scheint also die Aufgabe oder zumin-
dest die Reduzierung des interpersonalen Moments des Sichverantwortens
sachlich zu fordern. Damit gerät eine am Konzept der Verantwortung orien-
tierte Unternehmens ethik in ein Dilemma. Einerseits fordert eine über die
rein ökonomische Rationalität hinausgehende Handlungsdeterminierung die
Orientierung an der Verantwortung der Entscheidungsträger eines Unterneh-
mens gegenüber den von dessen Handlungen Betroffenen. Die UniversaIi-
sierung, die eine solche Verantwortung jedoch erst in eine ethische Dimen-
sion stellt, ist nur um den Preis einer Aufgabe der interpersonalen Dimension
der Verantwortung zu verwirklichen.
Pointiert formuliert: verantwortlich handeln können die Entscheidungsträger
in Unternehmen nur dann, wenn sie ihr Handeln gerade nicht in interperso-
naler Auseinandersetzung gegenüber den direkt Betroffenen rechtfertigen.
Eine "kommunikative Unternehmensethik" könnte demnach die Anforderun-
gen an eine Unternehmensethik nicht erfüllen, sondern nur für eine bessere
Akzeptanz des Unternehmenshandelns sorgen. Die ethische Ebene der Hand-
lungsdetermination wäre auf diese Weise überhaupt nicht erreicht.

4.
Verantwortlichkeit und Universalisierbarkeit:
Fallbeispiele

Im folgenden wird versucht, das bisher Gesagte nach einigen Richtungen


auszuarbeiten und zu ergänzen. Dies betrifft vor allem den Begriff der
Verantwortung, dessen ethische Dimension auf der Grundlage der ausgear-
beiteten Universalisierbarkeitsthese präzisiert werden soll. Anhand zweier
Fallbeispiele ethisch relevanter Unternehmensentscheidungen aus jüngster
Zeit soll dieses Problem konkretisiert werden. Auf dieser Grundlage soll eine
Orientierung der Unternehmensethik an einer Ethik der Marktwirtschaft als
Orientierung an einem Prinzip mittleren Allgemeinheitsgrades vorgestellt
164 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

werden, das einen Mittelweg zwischen einer kommunikativ-personalen Ent-


scheidungsfindung ohne spezifisch ethische Grundlage und einer aufuniver-
salistischen Prinzipien beruhenden ethischen Handlungsbestimmung ohne
Anwendungsbezug ermöglicht.

Nach den vorangegangenen Erörterungen scheint ein verantwortliches Un-


ternehmenshandeln entweder auf den interpersonalen Charakter von Verant-
wortung oder auf den Universalisierungsanspruch der ethischen Dimension
verzichten zu müssen. Daß dieses Dilemma nicht nur theoretisch auf der
Grundlage von Überlegungen über den Zusammenhang von Ethik und Ver-
antwortung entsteht, zeigen zwei Beispiele aus dem Unternehmens bereich,
die in jüngster Zeit Aufsehen erregten.

In den achtziger Jahren sank der Anteil von General Motors am amerikani-
schen Automobilmarkt von ca. 45 % auf ca. 33 % ab. Die Ursachen waren
vor allem in einer aufgeblähten Bürokratie, einer hoch bezahlten und wenig
effizient organisierten Arbeitnehmerschaft zu suchen. Im August 1990 über-
nahm Robert C. Stempel das Amt des Chief Executive Officer (vergleichbar
dem Vorstandschef). Er versuchte, den überfälligen Arbeitsplatzabbau mög-
lichst behutsam und sozialverträglich zu gestalten. Bei der Mitarbeiterschaft
galt Stempel als sehr beliebt, vor allem wegen seines die Interessen der
Mitarbeiter berücksichtigenden Führungsstils.
Zwei Jahre später hatte General Motors von allen amerikanischen Automo-
bilproduzenten die ungünstigste Kostenstruktur, die unattraktivsten Modelle
und den Ruf für die schlechteste Qualität. Zeitweise versuchte GM mit
verlustbringenden Flottenverkäufen an Mietwagenfirmen die Auslastung der
Fabriken zu erhöhen. Diese Autos wurden nach wenigen Monaten Nutzung
weiterverkauft und ruinierten so den Händlern die Gebrauchtwagenpreise.
Im Durchschnitt liegen die Arbeitskosten heute etwa im Vergleich zu Ford
je Fahrzeug um 795 $ höher. In den Jahren 1990 und 1991 erreichten die
Verluste im nordamerikanischen Geschäft einen Betrag von 12 Milliarden $.
Bei den Pensionsrückstellungen ist GM mit 8 Milliarden $ im Rückstand. Zur
Zeit verliert der Konzern etwa 8,9 Millionen $ pro Arbeitstag.
4. Verantwortlichkeit· Universalisierbarkeit • Fallbeispiele 165

Anfang November 1992 wurde durch den Verwaltungsrat fast die gesamte
Führungsmannschaft von GM ausgewechselt. Die US-Belegschaft sollte
nunmehr bis Ende 1993 um 20.000 Angestellte und bis Ende 1994 um 54.000
Arbeiter schrumpfen. Nach Analystenmeinungen wird GM jedoch minde-
stens 100.000 Arbeitsplätze abbauen müssen. Die Quartalsdividende wurde
halbiert; zeitweise war der Aktienkurs des größten amerikanischen Unterneh-
mens so tief gefallen, daß der gesamte Börsenwert unter dem des vergleichs-
weise winzigen Softwareproduzenten Microsoft lag. Alle Lieferverträge
wurden gekündigt und von den Zulieferern wurden Preisreduzierungen um
20 % verlangt.

Auf dem europäischen Markt für Nutzfahrzeuge zeigte sich in den ersten neun
Monaten des Jahres 1993 ein Minus von 8 % bei den Neuzulassungen.
Verbandsschätzungen lauteten auf einen Nachfragerückgang von 15 bis
20 %, bei schweren Fahrzeugen wurde sogar ein Rückgang von 25 %
erwartet. Aufgrund von Überkapazitäten, KonjunktuITÜckgang und Wäh-
rungsveränderungen wird die Situation auf diesem Markt also deutlich
schwieriger werden. Die Mercedes-Benz AG hat auf diese Situation mit dem
Verzicht auf die Errichtung eines Lastwagenwerkes in Ahrensdorf in Bran-
denburg reagiert. Geplant war ursprünglich, dort die modernste Lkw-Fabrik
Europas mit 4.000 Arbeitsplätzen zu errichten. Damit wurde eines der größ-
ten Investitionsvorhaben in den neuen Bundesländern überhaupt gestrichen.

Der brandenburgische Wirtschaftsminister kommentierte dies mit den Wor-


ten, daß ein "Leuchtturm der Hoffnung" nun nicht gebaut werde. Dies bezieht
sich auf die unbezweifelbare Tatsache, daß ein Investitionsverzicht von
Mercedes-Benz Signalwirkung für zahlreiche kleinere Unternehmen haben
dürfte. Die Entscheidung wurde im übrigen vom Gesamtbetriebsrat mitge-
tragen, der schon vor einiger Zeit gefordert hatte, neue Ausbaupläne zu
verschieben oder ganz zu streichen. Im Falle von Mercedes-Benz ist noch
darauf hinzuweisen, daß die Vorstands spitze stets darauf verwiesen hat, daß
ein Unternehmen von der Größenordnung von Daimler-Benz seine Entschei-
dungen nicht ausschließlich nach betriebswirtschaftlichen Erwägungen tref-
fen könne. Der damalige Vorstands vorsitzende Edzard Reuter hat den Daim-
ler-Benz-Konzern explizit als eine gesellschaftliche Veranstaltung begriffen,
166 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

die freilich auch Gewinn machen muß. Nach seinen Worten sollen Wirt-
schaftsunternehmen mehr sein als Instrumente einer partikularen Verstandes-
leistung von Technokraten; der Zweck ihres Handeins müsse vielmehr mo-
ralisch verstanden und bewertet werden. Auch nach der Entscheidung gegen
den Bau des Lkw-Werkes in Brandenburg hat der Leiter des Geschäftsbe-
reichs Nutzfahrzeuge, Bernd Gottschalk, erklärt, die Mercedes-Benz AG
bekenne sich zu ihrer gesellschaftspolitischen Verantwortung.
Am Beispiel von General Motors zeigt sich, daß eine personal verstandene
Verantwortung - hier insbesondere gegenüber der Belegschaft - zu Folgen
führen kann, die nicht nur die Belegschaft, sondern auch andere Gruppen,
gegenüber denen Verantwortung besteht, weit nachteiliger betreffen, als es
der Verzicht auf die kurzfristig verstandene Verantwortung für die Beleg-
schaft mit sich gebracht hätte. Der aufgrund einer wahrgenommenen Verant-
wortung gegenüber den Mitarbeitern zu langsam vorgenommene Personal-
abbau führt nun zu einem weit stärkeren Personalabbau, daneben wurden
Lieferanten, Händler, Aktionäre und möglicherweise Pensionäre mit erheb-
lichen materiellen und sozialen Kosten belastet.
Daraus könnte der Schluß gezogen werden, daß ein verantwortliches Unter-
nehmenshandeln, das sich auf den interpersonalen Charakter von Verantwor-
tung konzentriert, zu Konsequenzen führen kann, die notwendig in größeren
Nachteilen für andere Gruppen resultieren, als dies bei einem Verzicht auf
die Wahrnehmung einer solchen Verantwortung der Fall gewesen wäre.
Dabei kann der Fall von General Motors als Beispiel für viele ähnliche Fälle
dienen, bei denen die Konsequenzen nicht so gravierend sind und nicht so
viele Menschen beeinflussen. Der Verzicht auf die Anwendung strikt ökono-
mischer Rationalität zugunsten der Verantwortung für eine bestimmte Grup-
pe führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Nachteilen für andere Gruppen.
Dies können Gruppen sein, die dem Akteur nicht so nahe stehen wie die
eigenen Mitarbeiter, es kann sich aber auch um zeitliche Differenzierungen
handeln: Der Verzicht auf Rationalisierungsmaßnahmen erhält heute Ar-
beitsplätze und schafft morgen mehr Arbeitslose.
Ähnlich kann der Verzicht der Mercedes-Benz AG auf den Bau eines Lkw-
Werkes in einem der neuen Bundesländer gewertet werden. Hier handelt es
4. Verantwortlichkeit· Universalisierbarkeit· Fallbeispiele 167

sich jedoch nicht um den Versuch, eine personale Verantwortung gegenüber


einer bestimmten Gruppe wahrzunehmen, sondern um den Versuch, aus
sozialer Verantwortung am Aufbau in den neuen Bundesländern mitzuarbei-
ten. Auch soziale Verantwortung ist jedoch wiederum eine partikulare Ver-
antwortung, die sich auf eine bestimmte Situation in einem bestimmten
Gebiet beschränkt. Auch hier zeigen sich Nebenfolgen für andere Situationen
in anderen Gebieten. Der Aufbau des Werkes in Brandenburg hätte die
Auslastung der Nutzfahrzeugwerke in den alten Bundesländern vermindert,
bei denen sowieso schon Kurzarbeit besteht. Darüber hinaus hätte der Aufbau
neuer Kapazitäten bei ungenügender Nachfrage die Fixkostenbelastung er-
höht. Da in der gegenwärtigen Lage Kostenüberwälzungen auf die Nachfra-
ger kaum möglich sind, wären die Gewinne gesunken, was die Möglichkeit
zur Zahlung nicht-tariflicher Zulagen und der Gewährung von Sozialleistun-
gen vermindert hätte. Darüber hinaus wäre der Fonds für Zukunftsinvestitio-
nen geringer geworden, was Folgen sowohl für die Mitarbeiter als auch für
alle Marktpartner des Unternehmens gehabt hätte. Im Falle von Kostenum-
wälzungen auf die Abnehmer hätten deren Mitarbeiter und Marktpartner und
letztlich die Konsumenten die Kosten für die aus sozialer Verantwortung
getroffene Entscheidung zur Errichtung eines betriebs wirtschaftlich nicht
rentablen Werkes getragen.
Es stellt sich die Frage, ob in diesen beiden Fällen überhaupt sinnvoll von
einer moralischen Qualität der Ausgangsentscheidungen die Rede sein kann
- also der Entscheidung für einen sozialverträglichen Personalabbau bei
General Motors und der Entscheidung zur Errichtung eines Lkw-Werkes in
einem strukturschwachen Gebiet in einem der neuen Bundesländer. Nach den
eingangs diskutierten Kriterien für eine verantwortungsvolle Entscheidung,
der eine ethische Qualität zukommt, ist dies offensichtlich nicht der Fall. In
bei den Fällen wurde im Sinne einer partikularen Verantwortung entschieden,
der als solcher noch keine ethische Qualität zukommen kann. Dies zeigt sich
ganz praktisch an den Folgen dieser Entscheidungen. Es wurden im Grunde
nur die Kosten von Entscheidungen verlagert, ohne daß dies jedoch ausdrück-
lieh in den Entscheidungsprämissen zum Ausdruck kam.
168 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

Kann einer Entscheidung aber eine ethische Qualität zugesprochen werden,


die die Entscheidungskosten für eine Gruppe von Menschen erhöht, während
sie die Entscheidungskosten für eine andere Gruppe senkt? Dies ist offenbar
nur dann möglich, wenn die Entscheidung über die Verteilung der Entschei-
dungskosten selbst nach einem Prinzip getroffen wird, das nicht auf der
personalen Verantwortung gegenüber einer bestimmten Gruppe beruht, son-
dern selbst genuin ethisch determiniert ist. Eingangs wurde das Universali-
sierungsprinzip als das vorherrschende Prinzip der modemen Ethik charak-
terisiert, das es erlaubt, eine verantwortliche Entscheidung in eine ethische
Dimension zu erheben. Eine ethisch verantwortliche Unternehmensentschei-
dung kann demnach nicht identisch mit einer personal verantwortlichen
Entscheidung sein. Das allgemeine Ergebnis dieser Überlegungen kann
demnach so formuliert werden, daß eine in einem kommunikativen Prozeß
unter Berücksichtigung der Verantwortung gegenüber den Interessen von
Marktpartnern zustandegekommene Unternehmensentscheidung noch nicht
den Anforderungen an eine unternehmensethisch begründete Entscheidung
genügt.

Damit wird jedoch die andere Seite des Dilemmas virulent, das oben theore-
tisch entwickelt wurde. Es schien, als ob eine ethisch fundierte Entscheidung
prinzipiell auf jenes Moment verzichten müßte, das im alltäglichen Verständ-
nis für eine verantwortliche Entscheidung notwendig ist: die interpersonale
Rechtfertigungsfähigkeit im Sich-verantworten gegenüber Menschen, denen
Rechenschaft geschuldet wird. Dies begründet sich aus der Notwendigkeit,
ein Universalisierungsprinzip einführen zu müssen, um eine Entscheidung
überhaupt als eine ethische charakterisieren zu können. Die charakterisierten
Formen eines Universalisierungsprinzips weisen jedoch ein so hohes Allge-
meinheitsniveau auf, daß sie nur schwer für eine ethische Abwägung in
konkreten Entscheidungssituationen von Unternehmen herangezogen wer-
den können. Daß KANTs kategorischer Imperativ vorwiegend negativ einge-
setzt werden kann und darüber hinaus nur auf einen sehr begrenzten Bereich
von Entscheidungssituationen anwendbar ist, läßt KANTS Ethik nicht unmit-
telbar als einen gangbaren Weg für eine Entscheidungshilfe in konkreten
Unternehmenssituationen erscheinen. HABERMAS' Ethikkonzeption nähert
4. Verantwortlichkeit· Universalisierbarkeit • Fallbeispiele 169

sich in einer schwachen Version der Empfehlung einer kommunikativen


Entscheidungsfindung an, die in die Gefahr gerät, über der personalen Ver-
antwortung die ethische Dimension der Universalisierbarkeit zu verlieren. In
einer starken Version kann die Diskurssituation zwar zur Verdeutlichung der
theoretischen Bedingungen ethischer Wahrheitsfindung dienen, diese Ver-
sion verbleibt jedoch bei der theoretischen Grundlagenklärung und kann nur
wenig Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung in ethisch tangierenden
Situationen geben. Ähnliches gilt für die ethischen Konzeptionen von RAWLS
undHARE.
Dennoch ergibt die von diesen Autoren durchgeführte Grundlagenklärung,
daß von einer ethischen Handlungsdetermination nur dann gesprochen wer-
den kann, wenn die Orientierung an bestimmten Interessen und Gruppen
durch ein übergeordnetes Prinzip überschritten wird, das entindividualisie-
rend wirkt und von der konkreten Situation abstrahiert. Die Aufgabe einer
Ethik, die die ethische Dimension im vollen Sinne bewahrt und doch Hand-
lungsanleitungen für ethisch relevante Unternehmensentscheidungen geben
kann, kann folglich nicht vor der Ausarbeitung eines solchen Prinzips kapi-
tulieren.
Es kann jedoch gefragt werden, ob das ethische Universalisierungsprinzip
notwendig ohne weitere Vermittlungs schritte direkt auf die relevante Situa-
tion angewandt werden muß, oder ob die ethische Dimension nicht bewahrt
werden kann, wenn intermittierende Prinzipien zugelassen werden, die es
erlauben, die konkrete Situation ethisch zu beurteilen, ohne sich in folgenlo-
sen Allgemeinheiten verlieren zu müssen. Mit Bezug auf die erwähnten Fälle
kann eine Determinante eines solchen ethischen Prinzips mittleren Allge-
meinheitsgrades durch die Forderung gefunden werden, nicht nur die Inter-
essen einer bestimmten Gruppe von Teilnehmern am Wirtschaftsprozeß zu
berücksichtigen, sondern Unternehmens entscheidungen so zu gestalten, daß
sie in bestmöglicher Weise zur Befriedigung der Interessen aller Teilnehmer
des Wirtschaftsprozesses beitragen können.
Diese Determination eines ethischen Entscheidungsprinzips mittleren Allge-
meinheitsgrades scheint zunächst in die Forderung nach utilitaristischer
Abwägung des größten Nutzens der größten Zahl einzumünden. Damit wäre
170 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

jedoch erneut eine Überkomplexität geschaffen, die eine ethische Bestim-


mung von Unternehmensentscheidungen erschweren, ja sogar verunmögli-
chen würde251 . Dieses Problem der Überkomplexität führt jedoch wieder
zurück zu dem eingangs diskutierten Problem von individueller und kollek-
.
hver V erantwortung252 .

s.
Das Prinzip der Marktwirtschaft als Prinzip mittlerer
Reichweite für verantwortbare Unternehmensentscheidungen

Die Problematik der Unternehmensethik läßt sich durch eine grundsätzliche


Frontstellung beschreiben. Auf der einen Seite steht das Gewinnprinzip als
unverzichtbare Determinante unternehmerischen Handeins. Auf der anderen
Seite stehen ethische Prinzipien, die das erstere Prinzip bei konfligierenden
Interessen einschränken oder modifizieren sollen. Damit sind zwei Rationa-
litätstypen miteinander konfrontiert, die zunächst nur schwer auf gleicher
Ebene diskutierbar zu sein scheinen. Eine technisch-ökonomische Rationa-
lität steht Argumentationsformen praktischer Vernunft gegenüber. Diese
Konfrontation macht die Diskussion über unternehmensethische Probleme
oftmals schwierig, weil die Beteiligten nicht über die gleichen Argumen-
tationsformen verfügen und deshalb nur schwer zu einer Verständigung
gelangen.

251 V. VANBERG weist daraufhin, daß wir uns gerade deshalb auf allgemeine Regeln als
Ordnungsprinzipien stützen müssen, weil wir nicht in der Lage sind, alle Nebenfol-
gen und Fernwirkungen unseres Handeins zu bedenken und gegeneinander abzuwä-
gen (V. V ANBERG, Die Grenzen von Verantwortung und die Bedeutung von Regeln,
in: Ethik und Sozialwissenschaften 1/1990, S. 93 - 95).
252 V gl. K. HOMANN: "Niemand kann einen einzelnen moralisch oder rechtlich dafür
(mit)verantwortlich machen, daß er ein genuin kollektives Problem nicht gelöst hat."
... "Was die Ethik vom einzelnen in interdependenten Handlungszusammenhängen
verlangen kann, ist nicht das Tun, sondern das Reden." (K. HOMANN, Kollektive
Probleme und individualethisches Paradigma: Ein Kommentar zu dem Beitrag von
Hans LENK und Matthias MARING, in: Ethik und Sozialwissenschaften 1/1990, S. 67
- 69, S. 69).
5. Marktwirtschaft für verantwortbare Unternehmensentscheidungen 171

Diese Lage würde sich entscheidend ändern, wenn jene technisch-ökonomi-


sche Rationalität, die der Verfolgung des Gewinnprinzips zugrundeliegt, sich
selbst mit ethischen Begründungen ausweisen könnte. In diesem Falle wäre
die Unternehmensethik nicht darauf eingeschränkt, ethische Grenzen des
nicht im Bereich ethischer Begründungen liegenden Gewinnprinzips zu
untersuchen. Ihre Aufgabe würde sich vielmehr so verlagern, daß sie ethisch
begründete Grenzen des selbst ethisch begründeten Gewinnprinzips aufzu-
zeigen hätte. Damit wäre sie aber als eine eigenständige Disziplin in eine
stärkere Position versetzt. Sie könnte und müßte die Aufgabe übernehmen,
verschiedene ethische Anforderungen, die mit unternehmerischem Handeln
verbunden sind, in geeignete Verbindungen zu setzen, ihre möglichen Kon-
flikte zu untersuchen und innerhalb des Unternehmens Verfahren und Krite-
rien zu implementieren, die zu einer nach außen vertretbaren ethischen
Resultante führen, sowie diese Resultante offensiv mit ethischen Argumen-
ten gegenüber den externen Dialogpartnern der Unternehmung vertreten253 .

Eine solche Strategie kann die Unternehmens ethik dann einschlagen, wenn
sie aus ethischen Argumentationen einleuchtend ableiten kann, daß und
warum diejenigen Determinanten unternehmerischen Handeins, aufgrund
derer es zu Konflikten mit ethisch gestützten Forderungen anderer Interes-
sengruppen kommen kann, selbst eine argumentativ gut begründete ethische
Grundlage besitzen. Um das in der Einleitung erwähnte Beispiel aufzugrei-
fen: Es müßte gezeigt werden können, daß der Bankdirektor,derdemchrist-

253 Nach K. HOMANN ist der systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft
gerade der Bereich der Ordnungsregeln (vgl. K. HOMANN, Wettbewerb und Moral,
in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften 31/1990, S. 34 - 56): "Wollte man
vom einzelnen Marktteilnehmer unter Wettbewerbs bedingungen moralische Vorlei-
stungen verlangen, würde man ihm zumuten, daß er durch seine Konkurrenten aus
dem Markt gedrängt und wirtschaftlich ruiniert wird. Deshalb muß man moralische
Werte wettbewerbsneutral durchsetzen. Man muß sie in den Spielregeln geltend
machen, die für alle Marktteilnehmer gleichermaßen gelten, weil sonst moralisches
Verhalten bestraft und unmoralisches Verhalten belohnt wird. Eine Remoralisierung
der Spielzüge geht notwendig zu Lasten der Effizienz und revoziert somit die
Fortschrittsleistungen der Moderne, die gerade auf der Entmoralisierung der Spiel-
züge beruhen, auf der Entlastung von Forderungen also, die über die Beachtung der
sanktionsbewehrten Spielregeln hinausgehen." (K. HOMANN / 1. PIEs, Wirtschafts-
ethik und Gefangenendilemma, in: Das Wirtschaftsstudium 1991, Heft 12, S. 608 -
614).
172 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

lichen Gebot "wer von dir borgen will, den weise nicht ab" nicht ohne
Bonitätsprüfung gehorchen will, dies nicht aus Gründen rein technisch-öko-
nomischer Rationalität tut, sondern daß das zugrundeliegende Gewinn- und
Rentabilitätsprinzip selbst eine ethische Rechtfertigung besitzt, die im unter-
nehmerischen Handeln eines Bankinstituts ein Abweichen von jener christ-
lichen Forderung nicht nur erlaubt, sondern geradezu fordert.
Eine solche Strategie legt sich der Unternehmensethik noch unter einem
anderen Aspekt nahe. Wenn im Falle eines Konflikts zwischen ethischen
Forderungen aus der Umwelt des Unternehmens und der Verfolgung des
Gewinnprinzips das letztere verteidigt werden soll, so kann dies im Grunde
nur durch den Rekurs auf die Berechtigung dieses Prinzips erfolgen. In allen
anderen Fällen befindet sich die Unternehmensethik von vornherein in der
schwächeren Position. Sie stellt dann nämlich ein technisch-ökonomisches
Prinzip einer Forderung gegenüber, die sich aus einer Entscheidung über Gut
und Böse gerechtfertigt weiß. Jene Dialogpartner, die extern an die Unter-
nehmung ethische Forderungen herantragen, können in diesem Falle im
Grunde immer darauf hinweisen, daß jene technisch-ökonomischen Hand-
lungsgrundsätze geändert werden müssen, wenn sie mit ethischen Kriterien
nicht zu rechtfertigen sind. Dagegen aber kann der Vertreter der Unterneh-
mensethik prinzipiell nur mit der selbst ethischen Legitimation dieser tech-
nisch-ökonomischen Verhaltensmaximen, also insbesondere des Gewinn-
prinzips, argumentieren.
Um eine solche Strategie einschlagen zu können, wird die Unternehmens-
ethik auf die Wirtschaftsethik zurückgreifen müssen. In diesem Spezialgebiet
der Ethik müssen Argumentationen entwickelt werden, die die technisch-
ökonomische Vernunft des Gewinnprinzips selbst mit ethischen Gründen
rechtfertigen. Damit ist allerdings ein historisch und systematisch weites Feld
betreten254 • Für eine ethische Rechtfertigung des Gewinnprinzips als eines
auf gleicher Ebene zu verteidigenden Gutes wie die ethischen Einwände, die
seine uneingeschränkte Anwendung begrenzen, könnten viele Theoreme aus

254 Vgl. dazu und generell zu der Auszeichnung der Rahmenordnung als systemati-
schem Ort der Moral in der Wirtschaft K. HOMANN/F. BLOME-DREES, Wirtschafts-
und Unternehmensethik, Göttingen 1992, insbes. S. 20 ff.
5. Marktwirtschaft für verantwortbare Unternehmensentscheidungen 173

der Philosophie und den Staatswissenschaften herangezogen werden, die sich


mit dem Wirtschaften als einer Auseinandersetzung des Menschen und seiner
naturgegebenen Bedürfnisse mit den Bedingungen seiner natürlichen Um-
welt beschäftigen. Für die Unternehmensethik ist jedoch in erster Linie die
ethische Legitimation des Gewinnprinzips im Rahmen eines der praktischen
Vernunft entsprechenden Wirtschaftens von Bedeutung. Die abstrakte For-
mulierung des ökonomischen Prinzips als Grundsatz des geringsten Mittel-
einsatzes kann hier kaum weiterhelfen.

Die als eine der Argumentationsgrundlagen der Unternehmensethik in An-


spruch zu nehmende Wirtschaftsethik wird deshalb am zweckmäßigsten die
Form einer ethischen Rechtfertigung der Marktwirtschaft annehmen. Jene
Verhaltensmaximen, die unter dem generellen Titel des Gewinnprinzips die
Unternehmensethik in die Frontstellung zwischen technisch-ökonomischer
Rationalität und praktischer Vernunft bringen, lassen sich allgemein als
Folgemaximen der marktwirtschaftlichen Steuerung als oberstem Funktions-
prinzip einer Wirtschaftsordnung zusammenfassen, die auf der nur durch
Gesetze eingeschränkten ökonomischen Handlungsfreiheit von Personen
beruht. Die Wirtschaftsethik, die der Unternehmensethik eine ethische Recht-
fertigung des Gewinnprinzips liefern kann, wird also die Gestalt einer "Ethik
der Marktwirtschaft" annehmen müssen.

Für eine solche Ethik der Marktwirtschaft können prinzipiell die gleichen
Argumentationsweisen herangezogen werden, die oben aus der philosophi-
schen Ethik für eine mögliche Verdeutlichung des Konzepts "Verantwor-
tung" und des damit zusammenhängenden Problems der Abgrenzung und
Bestimmung ihrer Allgemeinheit verwendet worden sind. Hier sind insbe-
sondere bei KANT und RAWLS wichtige Gedankengänge zu finden. Nach
KANT findet die Ethik ihre letzte Begründung darin, daß der Mensch nur in
seinem moralischen Handeln seine Freiheit gewinnt und beweist. Dies legt
ihm die Verpflichtung auf, auch andere Menschen als freie Wesen zu behan-
deln und sie unter keinen Umständen ihrer Freiheit oder der Möglichkeit dazu
zu berauben, außer wenn es um der Erhaltung der Freiheit selbst willen
notwendig ist. Von daher läßt sich die auf Marktprozessen beruhende Wirt-
schaftsordnung und das ihr integrierte Gewinnprinzip als ökonomische Rea-
174 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

lisierung der Freiheit der Person verstehen. Darüber hinaus formuliert KANT
in seiner Rechtsphilosophie das Eigentumsrecht als das fundamentale und
angeborene Recht eines jeden Menschen. Auch von dieser Seite aus läßt sich
die marktwirtschaftliehe Wirtschaftsordnung und das ihr zugehörige Ge-
winnprinzip aus ethischen Gründen rechtfertigen.
Darüber hinaus könnten durchaus Parallelen zwischen HABERMAS' Verfah-
rensethik und der Marktwirtschaft als einem kommunikativen Verhältnis
zwischen Anbietern und Nachfragern gezogen werden, wobei der Preis als
ein Medium der Verständigung aufgefaßt werden könnte, das bis zu einem
gewissen Grad ähnliche Funktionen erfüllt wie der ungehinderte Austausch
von Argumenten im freien Diskurs, der für HABERMAS die Grundlage ethi-
scher Verpflichtungen darstellt. Wenn sich diese Zusammenhänge verdeut-
lichen ließen, so könnte die kommunikative Ethik, die für die Unternehmens-
ethik zu fordern ist, bereits einige Grundlagen in den marktwirtschaftsethi-
schen Fundamenten finden, aus denen die Unternehmensethik die Rechtfer-
tigung des Gewinnprinzips als genauso ethisch legitimiert wie die zu seiner
Einschränkung vorgebrachten Forderungen beziehen kann255 •

Für die Unternehmensethik kann jedoch nicht die allgemeine Bedeutung der
Wirtschaftsethik im Mittelpunkt ihres Interesses stehen, sondern die Folge-
rungen, die sich aus dieser für die Legitimation unternehmerischen Handeins
am Leitfaden des Gewinnprinzips ergeben. Allgemein würde sich auf diese
Weise der Konfliktcharakter zwischen technisch-ökonomischer Rationalität
(Gewinnprinzip) auf der einen und deren ethisch geforderter Einschränkung
auf der anderen Seite verändern. Diese Auseinandersetzung könnte bei einem
entsprechenden Zusammenhang von Ethik der Marktwirtschaft und Unter-
nehmensethik nun als ein "inner-ethischer" Konflikt behandelt werden. Die
Unternehmensethik hätte es in diesem Falle mit der Diskussion und der in
kommunikativen Verfahren stattfindenden vernünftigen Aufklärung solcher
Probleme aus dem Unternehmenshandeln zu tun, die aus der ethisch gebote-
nen Entscheidungsorientierung am Prinzip der Marktwirtschaft stammen,

255 Zur historischen Diskussion über die Rechtfertigung des Gewinnprinzips vgl.
H. REICH, Eigennutz und Kapitalismus. Die Bedeutung des Gewinnstrebens im
klassischen ökonomischen Denken, Berlin 1991.
6. Marktwirtschaft· Unternehmensethik 175

wenn dagegen Einwände aus anderen ethischen Argumentationen vorge-


bracht werden. So würde z. B. bei notwendigen Personalfreisetzungen die
Frontstellung nicht Ethik gegen technische Rationalität (d. h.: Gewinnprin-
zip ) lauten, sondern es würden sozialethischen Argumenten Konsequenzen
aus dem ethisch legitimierten Prinzip der Marktwirtschaft entgegengesetzt
werden können.
Praktisch ergibt sich daraus zunächst eine erhöhte Begründungspflicht für die
Entscheidungsträger im Unternehmen - und damit eine erweiterte Aufgaben-
basis für eine Unternehmensethik, die u. U. sogar in Stabs stellen einen
organisatorischen Ort im Unternehmen finden müßte -, die sich bei dieser
Sachlage nicht hinter eine quasi-naturgesetzliche Notwendigkeit aus techni-
scher Rationalität zurückziehen können, sondern ökonomische Entscheidun-
gen auch bei ethisch begründetem Widerspruch ethisch offensiv verteidigen
müssen.

6.
Marktwirtschaft und Unternehmensethik

Das zentrale Problem und die grundlegende Aufgabe einer solchen Konzep-
tion von Unternehmensethik, die sich auf Vorgaben aus der Wirtschaftsethik
stützt, ist offenbar die möglichst detaillierte und praxisnahe Ausarbeitung der
ethischen Konsequenzen aus einer ethisch legitimierten Wirtschaftsweise,
die prinzipiell Marktgesetzen folgt und den durch Kaufkraft vermittelten
Ausgleich von Angebot und Nachfrage als Steuerungsmittel verwendet, um
eine optimale Güterversorgung aller Marktbeteiligten sicherzustellen256 • Zu-
nächst könnte hier an die Funktionsbedingungen einer solchen Wirtschafts-
weise selbst gedacht werden.

256 V gl. dazu K. HOMANN, Gewinnmaximierung und Kooperation - eine ordnungstheo-


retische Reflexion, unveröff. Ms. 1995.
176 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

Dazu gehören beispielsweise die Institution des Privateigentums, die Konsu-


mentensouveränität, die Möglichkeit, sich auf den Märkten ohne ungerecht-
fertigte Beschränkungen frei entfalten zu können, die Freiheit, alle zu Kon-
sum- und Produktionsentscheidungen notwendigen Informationen beschaf-
fen zu können usw. Insbesondere die Freiheit des Konsumenten, sein Ein-
kommen so verwenden zu können, wie es seinen eigenen Vorstellungen
entspricht, ist eine notwendige Bedingung dafür, daß durch das System der
Marktwirtschaft der volkswirtschaftliche Produktionsapparat auf die Konsu-
mentenwünsche ausgerichtet wird und damit im Sinne einer optimalen Be-
dürfnisbefriedigung wirkt. Solche Funktionsbedingungen der Marktwirt-
schaft können gewissermaßen die vermittelnden Faktoren zwischen der
ethischen Legitimierung der Marktwirtschaft und den daraus abzuleitenden
unternehmensethischen Normen darstellen 257 •

Für die Unternehmens ethik würde sich daraus grundsätzlich die Forderung
ergeben, das unternehmerische Entscheidungsverhalten so auszurichten, daß
dadurch die Funktionsbedingungen der sozialen Marktwirtschaft nicht ge-
fährdet werden258 • Um nur ein Beispiel zu nennen: Eine absichtlich verschlei-
ernde Informationspolitik über die eigenen Produkte und deren Wirkungen
würde sicherlich der marktwirtschaftlichen Funktionsbedingung der freien
Informationsmöglichkeiten der Marktteilnehmer widersprechen 259 • Ähnlich
wären z. B. künstlich aufgebaute Zugangsbeschränkungen zu Märkten zu
beurteilen, z. B. auch durch nicht marktentsprechende Preise zum Ausschluß

257 Vgl. zu den Grundlagen einer liberalen Marktwirtschaft K. HOMANN/I. PIES, Libe-
ralismus: kollektive Entwicklung individueller Freiheit - Zu Programm und Methode
einer liberalen Gesellschaftstheorie, in: Homo oeconomicus Bd. X, München 1993,
S. 297 - 347.
258 Vgl. E. GÖBEL, Das Management der sozialen Verantwortung, Berlin 1992, S. 71
ff.
259 Möglicherweise ließe sich in diesem Zusammenhang auch der berühmte "Fall
Nestle" unter unternehmens ethischen Aspekten analysieren; man könnte etwa darauf
hinweisen, daß die Vertreter der Firma Nestle ihre Verkaufspolitik wenigstens
teilweise auf die Unkenntnis der potentiellen Konsumenten über das Produkt und
seine Anwendungsfolgen aufgebaut hatten. Der entwickelte Verhaltenskodex der
Firma hat schließlich dieses Problem beseitigt. Damit wurden im Grunde einige
Funktionsvoraussetzungen der Marktwirtschaft in einem Marktsegment wieder her-
gestellt, in dem sie nicht von vornherein vorausgesetzt werden konnten.
6. Marktwirtschaft· Unternehmensethik 177
von Wettbewerbern 26o • Bezüglich des Gewinnprinzips ergäbe sich daraus die
Forderung, durch Unternehmenspolitik nicht jene Bedingungen zu gefähr-
den, die die positiven Wirkungen dieses Prinzips ermöglichen und garantie-
ren.
Die aus der Wirtschaftsethik als Ethik der Marktwirtschaft abgeleitete unter-
nehmensethische Grundnorm würde demnach also lauten, so zu handeln, daß
die Bedingungen der Möglichkeit der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit im
marktwirtschaftlichen System nicht gefährdet werden. Die Verantwortung
der Entscheidungsträger in den Unternehmen, von der eingangs als dem
ethischen Grundbegriff gesprochen wurde, würde dieser Argumentationsli-
nie zufolge also nicht nur die Personen und Personengruppen umfassen, die
von der unternehmerischen Tätigkeit betroffen werden, sondern würde auch
eine Verantwortung für die Funktion und die Erhaltung jener Ordnung der
wirtschaftlichen Betätigung einschließen, die dem Unternehmen die Verfol-
gung des Gewinnprinzips zwar unter ethischen Einschränkungen, aber doch
mit eigenständiger ethischer Legitimation erlaubt261 .

Wenn diese Wirtschaftsordnung sich aber als ethisch gerechtfertigt nachwei-


sen läßt, so wird die Unternehmensführung mit der Ausrichtung ihrer Ent-
scheidungen an der Erhaltung der Funktionsbedingungen dieser Ordnung
auch ihrer Verantwortung für ihre Marktpartner gerecht, so daß damit nicht
die Verpflichtung auf ein abstraktes Prinzip gefordert wird, sondern die
Unternehmensführung über den Umweg über ihre Verantwortung für die für

260 Bezüglich der· im Fallbeispiel erwähnten Firma General Motors wäre hier an die
Forderungen von Firmenvertretern nach einer protektionistischen Handelspolitik zu
denken.
261 Die Garantie der Marktwirtschaft erscheint danach nicht allein als staatliche Aufga-
be. Vgl. dazu H. KLIEMT: "Die Hauptaufgabe institutioneller Reform scheint in einer
freien Gesellschaft darin zu bestehen, individuelle Anreizsysteme so zu beeinflus-
sen, daß die Handlungsfolgen individueller Akte signifikant für den Handelnden
werden, indem sie durch Reaktionen anderer Individuen letztlich auf ihn selbst
zurückfallen. In Großgruppen-Interaktionen geschieht dies nicht von selbst. Es kann
nur durch kollektive Institutionen vermittelt werden. Diese müssen aber keineswegs
den Charakter von staatlichen, zur Einzelintervention autorisierten Instanzen erhal-
ten." (H. KLIEMT, Statische SozialJallen und repetitive Spiele, in: Ethik und Sozial-
wissenschaften 1/1990, S. 72 -74, S. 74).
178 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

ihre Marktpartner vorteilhafte Wirtschaftsordnung und deren Funktionsbe-


dingungen auch ihrer Verantwortung für die von ihren Entscheidungen
betroffenen Personen und Personengruppen nachkommt262 . Man könnte in
diesem Sinne geradezu versuchen, einen unternehmensethischen "kategori-
schen Imperativ der Marktwirtschaft" zu formulieren: Handle in allen unter-
nehmerischen Entscheidungen so, daß die Maximen deines Handeins jeder-
zeit mit den Grundprinzipien und Funktionsbedingungen der Marktwirt-
schaft vereinbar sind263 .
Ein solcher aus der Ethik der Marktwirtschaft abgeleiteter Ansatz einer
Unternehmensethik wird keinesfalls beanspruchen können, mit allen ethi-
schen Problemen umgehen zu können, die sich im Zusammenhang mit
unternehmerischem Handeln in einer immer komplexer werdenden Umwelt
stellen. Vor allem kann die Unternehmensethik auf diese Weise auch nicht
von der dialogisch-argumentativen Auseinandersetzung mit ethisch begrün-
deten Forderungen entlastet werden, die in Zukunft wohl noch verstärkt an
die Unternehmen herangetragen werden. Aber dieser Ansatz könnte doch
dazu beitragen, die unternehmensethische Diskussion von der in der Öffent-
lichkeit oftmals allein wahrgenommenen Frontstellung zwischen Gewinn-

262 Vgl. K. HOMANN: "Markt und Wettbewerb sind nicht nur' effizient', was immer man
darunter verstehen mag, Markt und Wettbewerb sind das beste bisher bekannte
Mittel zur Verwirklichung der Solidarität aller Menschen und haben daher im Prinzip
eine ethische Rechtfertigung." (K. HOMANN, Gewinnmaximierung und Koopera-
tion - eine ordnungstheoretische Reflexion, unveröff. Ms. 1995, S. 9). Daraus ergibt
sich: "Ethik muß das neoklassische Handlungsmodell mit Präferenzen!Anreizen,
Restriktionen und der rein positiven Rationalitätsannahme, d. h. das anreizgesteuerte
Handlungsmodell, intakt lassen und moralische Intentionen über die Handlungsbe-
dingungen geltend machen, die durch Ordnungspolitik gestaltet werden (können).
Wirtschaftsethik, aber auch moderne Ethik allgemein, ist hinsichtlich der Zugriffs-
ebene als Ordnungsethik zu entwickeln." (a. a. 0., S. 9).
263 Vgl. K. HOMANN: "Unter den Bedingungen der modernen Wirtschaft und Gesell-
schaft lautet der moralische Imperativ daher, die Spielregeln so zu gestalten, daß aus
den Aktionen zahlloser einzelner Akteure im Rahmen dieser Regeln möglichst ohne
Rückgriff auf moralische Motive das moralisch erwünschte Gesamtergebnis heraus-
kommt. Verantwortung gibt es - paradigmatisch - nur für die Spielregeln. Das
Schicksal unseres Globus entscheidet sich an der Frage, ob uns die Umstellung der
Ethik von der Individualethik, die auf Motiven und guten Absichten basiert, auf die
Institutionen- oder Ordnungsethik, die auf unpersönlichen Regeln basiert, gelingt
oder nicht." (K. HOMANN, Wirtschaft und Verantwortung. Die kollektive Verantwor-
tung der einzelnen, in: H. W. BEITE, Hrsg., Ohne mich. Der Mensch im Spannungs-
feld seiner Verantwortung, Freiburg 1991, S. 29 - 45, S. 43).
6. Marktwirtschaft· Unternehmensethik 179

Freiheit
als Grundprinzip der VVirtschaltsethik
Ethik .... Ethik der freien Marktwirtschaft
als Kommunikationsprozess
freier Wirtschaftssubjekte
mit dem Ziel eines
geldgesteuerten Ausgleichs
von Angebot und Nachfrage

,
Bedingungen der freien
Marktwirtschaft
bezüglich der Struktur des
Wirtschaftsprozesses und der
Handlungslahigkeit der Akteure

I U nternebmenshandeln

I
technisch -rationales
Unternehmenshandeln Unternehmenshandeln auf der
in Orientierung am Grundlage von
Gewinnprinzip Unternehmensethik
als Integration der
Unternehmung in die
Marktwirtschaft

Materiale und prozessuale


ethische Normen
auf dialogischer Grundlage
mit dem Ziel eines
vernunftgesteuerten
Ausgleichs der Interessen

* Dialog Anerkennung der


Wirtschaftsexterne * Kommunikation Partner im Markt
ethische Prinzipien ~ * Verantwortung als gleichwertige
* Berücksichtigung Teilnehmer des
fremder Interessen Wirtschaftsprozesses
180 VI. Möglichkeiten und Grenzen des Verantwortungsprinzips

prinzip und Ethik zu befreien264 • Zwar ist damit sicherlich nicht der Stein der
Weisen gefunden, der den immer wieder aufbrechenden Konflikt zwischen
diesen beiden Handlungsorientierungen auflösen könnte. Aber dieser Kon-
flikt ist damit in einen Rahmen gestellt und auf eine Diskussionsebene
gebracht, auf der die Untemehmensethik mit besseren Chancen gegen ideo-
logische Positionen argumentieren kann.
Das aufgeführte Schaubild versucht die für den hier vertretenen Ansatz einer
Unternehmens ethik grundlegenden Zusammenhänge zwischen Wirtschafts-
ethik und Untemehmensethik zu veranschaulichen.

264 Auf einen häufig anzutreffenden Aspekt dieser Frontstellung weist K. HOMANN hin:
"Versuche, die (staatliche) Ordnungspolitik durch einzelwirtschaftliche moralische
Engagements dauerhaft zu ersetzen, beruhen auf gesellschaftstheoretischen Mißver-
ständnissen, sie unterlaufen die Komplexität und Produktivität ausdifferenzierter
moderner Gesellschaften und dienen nicht selten dazu, Wettbewerbsbeschränkun-
gen mit einer ethischen Scheinlegitimierung auszustatten." (K. HOMANN, Gewinn-
maXimierung und Kooperation - eine ordnungstheoretische Reflexion, unveröff. Ms.
1995, S. 33).
VII.
Zusammenfassung

Das modeme Unternehmen besitzt aufgrund veränderter Rahmenbedingun-


gen einen Freiraum für sein Verhalten, in dem es.nicht durch Folgegesetze
des ökonomischen Prinzips bestimmt ist. In dieser Lage muß auch in Unter-
nehmen praktische Vernunft zur Anwendung kommen, um das Unterneh-
menshandeln gegenüber der äußeren und inneren Umwelt festlegen zu kön-
nen. Daraus ergibt sich die Frage, ob die allgemeine Ethik ausreichende
Handlungsorientierungen zur Bewältigung dieser Lage zur Verfügung stellen
kann, oder ob ethische Orientierungen ausgearbeitet werden müssen, die
speziell für das Unternehmenshandeln Geltung besitzen. Dieses Problem
gewinnt seine Bedeutung daraus, daß im Wirtschaftsleben manche intuitiv
plausiblen Forderungen der allgemeinen Ethik nur eingeschränkt gelten
können, wenn nicht das wirtschaftliche Handeln als solches infrage gestellt
werden soll.

Der Begriff der Verantwortung scheint nun besonders geeignet, um das


Problem lösungsorientiert formulieren zu können. Zum einen läßt sich unter
diesem Titel sowohl die Legitimation des Gewinnprinzips als der technisch-
rationalen als auch die Rechtfertigung der Ausfüllung des ökonomisch unbe-
stimmten Freiraums als der praktisch-rationalen Seite des Unternehmenshan-
delns unter einer einheitlichen ethischen Perspektive behandeln. Zum zwei-
ten stellt der Begriff der Verantwortung eine ethische Konzeption bereit, die
zum einen die Begrifflichkeit zur Beschreibung einer ethischen Verhaltens-
determination umfaßt, die zum anderen jedoch weit genug ist, um sich nicht
von vornherein auf eine spezielle ethische Theorie mit möglicherweise nur
begrenzten Akzeptanzchancen einschränken zu müssen.

H. JONAS' Entwurf ethischer Verantwortlichkeit als subjektiver Seite einer


ontologischen Wertlehre bietet sich für den Anfang einer solchen Untersu-
chung aus drei Gründen an: Zum einen verwendet JONAS den Begriff Ver-
antwortung explizit als Begründungsbasis für eine weitreichende ethische
182 VII. Zusammenfassung

Konzeption; zum zweiten hat die Popularität dieser Lehre dazu geführt, daß
das »Prinzip Verantwortung« in weiten Kreisen mit moderner Ethik über-
haupt identifiziert wird; zum dritten repräsentiert J ONAS' Ethik ein Paradigma
vor-modemen Begründens, das zugleich als Verständnisfolie für modernere
Verfahren ethischen Argurnentierens dienen kann.

JONAS versucht den Wertcharakter einer Ethik der Verantwortung aus dem
Sein selbst abzuleiten und ist deshalb gezwungen, die Verantwortlichkeit
durch eine metaphysische Lehre von der Subjektivität zu begründen. Eine
solche Metaphysik hat zunächst den Nachteil, daß sie dem modemen Be-
wußtsein nur schwer einleuchtet, weswegen die dadurch legitimierte Ethik
weitgehend ohne ihre argumentative Grundlage rezipiert wurde. Darüber
hinaus weist diese Metaphysik beträchtliche argumentative Schwachstellen
auf. Letztlich gelingt es auch JONAS nicht, den naturalistischen Fehlschluß
zu vermeiden und die Werthaftigkeit des Seins als objektive Grundlage
ethischer Verantwortung nachzuweisen.
Er bietet darüber hinaus jedoch eine weitere Begründungsform an, die
gleichzeitig auch als ein Paradigma ethischen Argumentierens aufgefaßt
werden kann. Die »Phänomenologie der Verantwortung« untersucht das
Vorkommen von Verantwortlichkeit im tatsächlichen Leben und versucht auf
dieser Grundlage die Universalität des Phänomens plausibel zu machen. Hier
kann JONAS zwar auf der Ebene der phänomenologischen Beschreibungen
nur schwer widersprochen werden, es bleibt jedoch unklar, wie auf dieser
Grundlage Verantwortlichkeit als ethisches Prinzip bestimmt werden könnte.
Die Kritik an JONAS' ethischer Konzeption führt deshalb zu der Frage, wie
Verantwortlichkeit ohne Rückgriff auf eine Seinslehre und doch mit einem
über die Möglichkeiten einer Phänomenologie hinausgehenden universellen
Anspruch begründet und bestimmt werden kann.

KANTs Ethik bietet sich hier zunächst deshalb an, weil sie das Paradigma
einer »deontischen« Ethik darstellt und die Universalität gerade zum Prinzip
des ethischen Argurnentierens erhebt. Darüber hinaus bietet sie mit eben
diesem Prinzip der Universalität ein Kriterium an, mit dem ethische Normen
von anderen Verhaltensregelungen unterschieden werden können. Schließ-
lich ist die KANTische Ethik zum Orientierungspunkt aller folgenden Kon-
VII. Zusammenfassung 183

zeptionen geworden, sei es im Sinne eines Anschlusses daran oder im Sinne


eines Sich-Abgrenzens davon.
Bezüglich des Begriffes der Verantwortlichkeit bietet KANTS Ethik nun
zunächst nur ein hochabstraktes Kriterium für die Bestimmung solcher
Maximen des HandeIns an, die aufgrund ihrer rein vernünftigen Bestim-
mungsweise gegenüber allen vernünftigen Wesen gerechtfertigt werden kön-
nen. Dieses Kriterium entwickelt er jedoch so weiter, daß es bereits als
solches mit der Rücksichtnahme auf alle anderen Menschen als Zwecke an
sich selbst identisch wird. Das Kriterium für den ethischen Gehalt einer
Handlung bzw. Maxime liegt demnach in der Berücksichtigung des absoluten
Wertes eines jeden Menschen.
Damit bleibt KANTS sittlicher Imperativ nicht ein abstraktes Prinzip, sondern
zeigt sich ohne Inanspruchnahme zusätzlicher Begründungsleistungen als
Forderung, jederzeit in dem Sinne verantwortlich zu handeln, daß andere
Menschen in ihrem Personcharakter dadurch nicht verletzt werden. Wenn wir
die Personalität der davon betroffenen Menschen in die Bestimmungsgründe
des Handelns aufnehmen, so handeln wir nach KANT mit Rücksicht auf die
Autonomie, auf die Selbstbestimmungsfähigkeit und damit die Freiheit an-
derer Menschen. Eine ethische Handlung ist also in doppeltem Sinne eine
freie Handlung: zum einen wird sie durch Freiheit bestimmt und demonstriert
damit die Freiheit; zum anderen konstituiert sie Freiheit, indem in diese
Bestimmung durch Freiheit die Rücksicht auf die Freiheit anderer Menschen
integriert ist. Eine der wichtigsten Folgen aus dieser ethischen Konzeption
ist deshalb die Begründung des Rechts als äußere Verwirklichung der ethi-
schen Verantwortlichkeit als Achtung vor der Freiheit anderer Personen.
Daraus ergibt sich negativ, daß eine verantwortliche Handlung nicht durch
die Berücksichtigung bestimmter Interessen bestimmter Personengruppen
gekennzeichnet ist. Positiv ist bei KANT jedoch eine Bestimmung des Gehalts
der Verantwortung zu finden, die sich direkt aus der argumentativen Grund-
legung des Bestehens von Verantwortlichkeit ableitet. Verantwortlich sind
wir danach für einen Zustand, der sich durch die Begriffe Personalität,
Selbstzweckhaftigkeit, Selbstbestimmung, Autonomie und Freiheit um-
schreiben läßt.
184 VII. Zusammenfassung

Damit ist einerseits mehr und andererseits weniger erreicht, als zunächst
gefordert war. Der Begriff der Verantwortung ist auf der Grundlage der
KANTischen Ethik nicht mehr eine formale Struktur, sondern hat einen Inhalt
gefunden, so daß nunmehr gesagt werden kann, wofür wir verantwortlich
sind. Wir werden dadurch jedoch nicht darüber informiert, wie wir in kon-
kreten Situationen handeln sollen und welche Interessen wir berücksichtigen
müssen, wenn wir verantwortlich handeln wollen. Dies ergibt sich jedoch
ebenso aus der Argumentation der KANTischen Ethik wie die Angabe des
Inhalts der Verantwortung als Freiheit und Personalität.
Ob sich der Inhalt der Verantwortlichkeit mit Hilfe ethischer Argumentatio-
nen über dieses Ergebnis hinaus bestimmen läßt, dies kann nun am besten
durch die Untersuchung einer Konzeption geprüft werden, die beansprucht,
den KANTischen Grundgedanken beibehalten und doch zu bestimmteren
Resultaten kommen zu können. Auch aus diesem Grund wurde die HABER-
MAS'sche Diskurstheorie für die Entwicklung moderner unternehmensethi-
scher Konzeptionen herangezogen.
Nach HABERMAS können wir prinzipiell nur dann begründet wissen, was wir
tun sollen, wenn wir nicht nur das Einverständnis aller lebenden Menschen
finden, sondern auch das Einverständnis der Menschen, die jemals auf der
Erde gelebt haben oder künftig auf ihr leben werden. Er berücksichtigt jedoch
weiter die Unmöglichkeit, sich eines solchen Einverständnisses zu vergewis-
sern, indem er den Diskurs und mit ihm die ideale Sprechsituation als
Surrogat einführt. Die strukturellen Bedingungen der idealen Sprechsituation
sollen es erlauben, einen wahren von einem falschen Konsens zu unterschei-
den und damit garantieren, daß der gefundene Konsens das freie Einverständ-
nis aller Menschen reflektiert.
Die HABERMAs'sche Ethikkonzeption folgt nicht nur bezüglich des Univer-
salisierungsprinzips der KANTischen Grundlegung einer ethischen Verant-
wortlichkeit. Auch der Diskurs setzt bei allen Teilnehmern die Fähigkeit der
Selbstbestimmung und damit die Freiheit voraus. Insofern funktioniert diese
»Veranstaltung« zur Bestimmung richtigen Handeins nur dann, wenn bereits
zuvor Verantwortlichkeit für die Freiheit, für die Selbstbestimmungsfähig-
keit und Personalität anderer Menschen übernommen wurde.
VII. Zusammenfassung 185

Darüber hinaus scheint in der Konzeption des Diskurses die Bestimmung der
Verantwortung durch den dialogischen statt monologischen Charakter der
Maximenbestimmung eher dem Wesen von Verantwortung zu entsprechen.
Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß nach der HABERMAS' sehen Ethik der
universalistische Charakter der Verantwortung auch durch ein Gremium
kompetenter und in einer idealen Sprechsituation diskutierender Gesprächs-
partner bewahrt werden kann, die »advokatorisch« für alle sprechen. Damit
aber ist der KANTische Gedanke einer Verantwortung für die Freiheit als
alleiniger Gehalt ethischer Verantwortung dementiert.
Die Lehre der HABERMAS'schen Ethikkonzeption lautet also: Die aus dem
Prinzip praktischer Vernunft entwickelte Verantwortung für die Freiheit kann
solange beibehalten werden, wie deren Gehalt auf eine Konstellation be-
schränkt bleibt, die nur mit den Begriffen Personalität, Selbstzweckhaftig-
keit, Autonomie, Selbstbestimmung und Freiheit zu umschreiben ist; diese
Verantwortung wird jedoch dementiert, wenn sie weiter bestimmt werden
soll. Dies entspricht der Lehre der KANTischen Ethik, deren Ergebnis durch
seinen eigenen Charakter eine allgemein verbindliche Bestimmung der Ver-
antwortlichkeit ausschließt, weil darin der Selbstwiderspruch einer Fremd-
bestimmung der Freiheit läge.
Als allgemeines Ergebnis dieser Erörterungen kann festgehalten werden, daß
der zu Beginn als fundamentales Konzept einer Unternehmensethik heraus-
gestellte Begriff der Verantwortung sich nur als Verantwortung für die
Freiheit begründen und bestimmen läßt. Verantwortlich handeln heißt also
zunächst, in ökonomischen Entscheidungen mitbedenken, daß und wie die
Freiheit anderer Personen durch die Folgen verletzt werden könnte. Verant-
wortlich handeln heißt des weiteren berücksichtigen, daß durch Entscheidun-
gen menschliche Wesen betroffen werden, die sich selbst Zwecke setzen
können und dadurch Werte an sich selbst sind. Verantwortlich handeln
fordert demzufolge, darauf zu achten, daß durch diese Handlungen und ihre
Folgen andere Menschen nicht nur als Mittel behandelt werden.
Auf dieser Grundlage wird eine Konkretisierung des entwickelten Verant-
wortungsbegriffs vorgeschlagen, die auf folgender Überlegung beruht: Wenn
es plausibel erscheint, daß das ethische Universalisierungsprinzip nicht not-
186 VII. Zusammenfassung

wendig ohne weitere Vermittlungs schritte direkt auf die relevante Situation
angewandt werden muß, so kann die ethische Dimension auch bewahrt
werden, wenn intermittierende Prinzipien zugelassen werden, die es erlau-
ben, die konkrete Situation ethisch zu beurteilen, ohne im Allgemeinen
verbleiben zu müssen. Eine solche Leistung könnte etwa das Prinzip der
Marktwirtschaft erbringen.
Eine Ethik der Marktwirtschaft als Fundierung einer konkreteren Unterneh-
mensethik könnte zunächst die technisch-ökonomische Rationalität des Ge-
winnprinzips ethisch begründen und damit die verschiedenen Rechtferti-
gungsformen unternehmerischen Handeins in einer einzigen Dimension
kompatibel machen. Darüber hinaus läßt sich die auf Marktprozessen beru-
hende Wirtschaftsordnung und das ihr integrierte Gewinnprinzip als ökono-
mische Realisierung der Freiheit der Person verstehen. Des weiteren kann
auf KANTs rechtsphilosophische Auszeichnung des Eigentumsrechts als des
angeborenen Freiheitsrechts zurückgegriffen werden. Schließlich könnten
Parallelen zwischen HABERMAS' Verfahrensethik und der Marktwirtschaft
als einem kommunikativen Verhältnis zwischen Anbietern und Nachfragern
gezogen werden, wobei der Preis als ein Medium der Verständigung aufge-
faßt werden könnte, das bis zu einem gewissen Grad ähnliche Funktionen
erfüllt wie der ungehinderte Austausch von Argumenten im freien Diskurs.
Daraus würde sich die grundsätzliche Forderung ergeben, das unternehmeri-
sche Entscheidungsverhalten so auszurichten, daß dadurch die Funktionsbe-
dingungen der freien Marktwirtschaft nicht gefährdet werden. Die Verant-
wortung der Entscheidungsträger würde danach die Erhaltung jener Ordnung
der wirtschaftlichen Betätigung einschließen, die dem Unternehmen die
Verfolgung des Gewinnprinzips zwar unter ethischen Einschränkungen, aber
doch mit eigenständiger ethischer Legitimation erlaubt. Dies könnte man in
einem unternehmensethischen »kategorischen Imperativ der Marktwirt-
schaft« zusammenfassen: Handle in allen unternehmerischen Entscheidun-
gen so, daß die Maximen deines Handeins jederzeit mit den Grundprinzipien
und Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft vereinbar sind.
VIII.
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