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Analysis 2 für IT/WI/AV/VS/DS

XXM1.AN2

Andreas Henrici

19. Februar 2024


Inhaltsverzeichnis

1 Einführung in die Integralrechnung 2


1.1 Das unbestimmte Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
1.2 Das bestimmte Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1.3 Unbestimmtes und bestimmtes Integral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

2 Integrationsmethoden 18
2.1 Partielle Integration (Produktregel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
2.2 Integration durch Substitution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
2.3 Integration durch Partialbruchzerlegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

3 Anwendungen der Integralrechnung 26


3.1 Mittelwert einer Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
3.2 Bogenlänge einer Kurve . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
3.3 Schwerpunkt ebener Flächen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
3.4 Berechnungen an Rotationskörpern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

4 Uneigentliche Integrale 38
4.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
4.2 Uneigentliche Integrale erster Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
4.3 Uneigentliche Integrale zweiter Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

5 Taylorreihen 48
5.1 Potenzreihen und Taylorreihen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48
5.2 Berechnung der Taylor-Koeffizienten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
5.3 Konvergenzradius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
5.4 Grenzwertregel von Bernoulli-de l’Hospital . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

6 Differentialgleichungen 65
6.1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
6.2 Geometrische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72
6.3 Analytische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
6.4 Numerische Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86

1
Kapitel 1

Einführung in die Integralrechnung

Die Integralrechnung wird durch zwei verschiedene Fragestellungen motiviert. Erstens soll
der Prozess der Ableitung umgekehrt werden, d.h. zu einer gegebenen Ableitungsfunkti-
on f ′ (x) soll eine zugehörige Originalfunktion f (x) ermittelt werden. Dies führt auf den
Begriff der Stammfunktion und des unbestimmten Integrals. Zweitens sollen Formeln für
die Berechnung verschiedener geometrischer Grössen wie Flächen/Volumina/Bogenlängen
von Kurven hergeleitet werden. Dies führt auf den Begriff des bestimmten Integrals. Be-
stimmte Integrale kommena ber nicht nur bei geometrischen Problemen vor, sondern
auch in physikalischen Zusammenhängen wie etwa bei der Berechnung der durch eine
Kraft längs eines Wegs ausgeführten Arbeit, wenn die Kraft nicht konstant oder der Weg
nicht geradlinig ist, oder bei der Berechnung des Mittelwerts eines zeitlich veränderlichen
Stroms.
Die Berechnung bestimmter Integrale kann auf die Berechnung unbestimmter Integra-
le zurückgeführt werden, dies ist die Aussage des Hauptsatzes der Integralrechnung, der
theoretisch zentralen Aussage dieses Kapitels.

1.1 Das unbestimmte Integral


Stammfunktion und unbestimmtes Integral In der Differentialrechnung war das
zentrale Thema der Begriff und die Ermittlung der Ableitungsfunktion f ′ (x) zu einer
vorgegebenen Funktion f (x). Nun beschäftigen wir uns mit der umgekehrten Frage, d.h.
wie man aus einer gegebenen Ableitungsfunktion f ′ (x) eine Originalfunktion f (x) erhält.
Die Integration ist also gewissermassen die Umkehrung der Ableitung.
Definition 1.1.1. Sei f (x) eine auf einem Intervall I definierte Funktion. Eine Funktion
F (x) heisst Stammfunktion von f (x), falls für alle x ∈ I gilt:

F ′ (x) = f (x).

Beispiel. In der Physik ist diese Fragestelltung beispielsweise relevant, wenn man aus
einer bekannten Ortsfunktion v(t) die Geschwindigkeitsfunktion x(t) dieses Objekts be-

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stimmen will; für die eindeutige Bestimmung ist dann auch noch die Kenntnis des Startorts
x(0) notwendig.
Beispiel. a) Für die Funktion f (x) = 3(x − 2)2 ist beispielsweise
F (x) = (x − 2)3
eine Stammfunktion.
z
b) Für die Funktion f (z) = 2e 2 ist beispielweise
z
F (z) = 4e 2
eine Stammfunktion
Diese Behauptungen können durch Ableiten nachgeprüft werden. Nach einigen Überle-
gungen zur Nicht-Eindeutigkeit der Stammfunktion beschäftigen wir uns dann mit der
schwierigeren Frage, wie man eine Stammfunktion findet für eine gegebene Ursprungs-
funktion.
Zu einer gegebenen Funktion f (x) ist die Stammfunktion F (x) nicht eindeutig definiert,
ganz im Gegensatz zur Ableitung f ′ (x), die eindeutig definiert ist. Wenn nämlich F (x)
eine Stammfunktion von f (x) ist, lassen sich durch Addition einer Konstanten beliebig
viele weitere Stammfunktionen erzeugen. Daneben gibt es aber keine weiteren Stamm-
funktionen.
Geometrisch kann dieser Sachverhalt folgendermassen veranschaulicht werden: Alle Stamm-
funktionen der gleichen Funktion erhält man durch Verschieben einer einzigen Stamm-
funktion in y-Richtung.

Abbildung 1.1: Verschiedene Stammfunktionen der gleichen Funktion

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Satz 1.1.2. a) Falls F (x) eine Stammfunktion von f (x) auf dem Intervall I ist, so ist
für eine beliebige Konstante C ∈ R die Funktion G(x) = F (x) + C ebenfalls eine
Stammfunktion von f (x).
b) Sind F (x) und G(x) zwei verschiedene Stammfunktionen von f (x) auf dem Intervall
I, so gibt es eine Konstante C ∈ R, so dass gilt: F (x) = G(x) + C.
Beweis. a) Falls F ′ (x) = f (x) gilt, so gilt auch (F (x) + C)′ = F ′ (x) + 0 = f ′ (x), d.h.
F (x) + C ist auch eine Stammfunktion von f (x).
b) Seien F (x) und G(x) Stammfunktionen von f (x), d.h. F ′ (x) = f (x) und G′ (x) =
f (x). Dann gilt für die Differenz F (x)−G(x), dass (F (x)−G(x))′ = f (x)−f (x) = 0.
Die Differenz F (x) − G(x) hat demnach die Ableitung Null, also muss F (x) − G(x)
konstant sein, d.h. es muss eine Konstante C ∈ R geben mit der Eigenschaft F (x) −
G(x) = C.
Definition 1.1.3. Die Menge aller Stammfunktionen einer gegebenen Funktion f (x) auf
einem Intervall I heisst das unbestimmte Integral von f (x). Man schreibt dafür
Z
f (x) dx.

Die Funktion f (x) heisst auch der Integrand des Integrals.


Beispiel. Das unbestimmte Integral das Funktion f (x) = x3 ist
Z
1
x3 dx = x4 + C (C ∈ R),
4
wie man durch Ableiten leicht überprüfen kann.
Beispiel. Das unbestimmte Integral der Funktion f (x) = sin(3x) ist
Z
1
sin(3x) dx = − cos(3x) + C (C ∈ R),
3
wie man ebenfalls durch Ableiten überprüfen kann. Man beachte, dass der Vorfaktor − 31
dazu dient, die “innere Ableitung” 3 sowie das Minuszeichen zu kompensieren, die bei der
Ableitung von cos(3x) entstehen.
Wie beim Ableiten geht es nun darum, Regeln zu finden, mit denen man möglichst viele
Funktionen integrieren kann. Diese Regeln setzen sich zusammen aus Regeln über die Inte-
gration der Grundfunktionen sowie Regeln über die Integration von Zusammensetzungen.
Wir behandeln hier die meisten Grundintegrale sowie einige Regeln über die Integration
von Zusammensetzungen; die komplizierteren Integrationsregeln werden in den folgenden
Kapiteln behandelt. Man beachte aber, dass es für manche Funktionen unmöglich ist,
eine Stammfunktion durch elementare Funktionen auszudrücken, z.B. für die Funktionen
x2
f (x) = e− 2 oder f (x) = sin(x)
x
. Es gilt: “Ableiten ist eine Technik, und Integrieren ist
eine Kunst”.

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Integrale der Grundfunktionen Aus den Ableitungsregeln der elementaren Funk-


tionen erhalten wir folgende unbestimmte Integrale der elementaren Funktionen (dies ist
keine vollständige Liste):
Satz 1.1.4. Die unbestimmten Integrale der Grundfunktionen sind:
Z
1
a) xα dx = xα+1 + C (α ̸= −1)
α+1
Z
1
b) dx = ln |x| + C
x
Z
c) ex dx = ex + C

ax
Z
d) ax dx = +C (a > 0)
ln(a)
Z
e) ln(x) dx = x · ln(x) − x + C

x · ln(x) − x
Z
f) loga (x) dx = +C (a > 0)
ln(a)
Z
g) cos(x) dx = sin(x) + C
Z
h) sin(x) dx = − cos(x) + C
Z
i) tan(x) dx = − ln | cos(x)| + C
Z
1
j) dx = arctan(x) + C
1 + x2
Z
1
k) √ dx = arcsin(x) + C
1 − x2
−1
Z
l) √ dx = arccos(x) + C
1 − x2
Beweis. Die Regeln
R 1 können durch Ableiten nachgerechnet werden. Man beachte die Be-
1
tragsstriche bei x dx = ln |x| + C: damit wird sichergestellt, dass die Funktion x auch
im Bereich x < 0 eine Stammfunktion hat - denn ln(x) ist ja nur für x > 0 definiert. Für
x < 0 gilt nach der Kettenregel
d d 1 1
ln |x| = ln(−x) = · (−1) =
dx dx −x x

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Elementare Integrationsregeln Die folgenden Regeln betreffen einerseits die Integra-


tion von Linearkombinationen von Funktionen mit jeweils bekannten Stammfunktionen,
und andereseits die Integration von verschobenen oder gestreckten/gestauchten Versio-
nen von Funktionen mit bekannter Stammfunktion. Die letzten beiden Regeln können als
Spezialfälle des Prinzips “Integration durch Substitution” werden, das wir im nächsten
Kapitel behandeln werden.

Satz 1.1.5. Es seien die unbestimmten Integrale F (x) + C und G(x) + C der Funktionen
f (x) bzw. g(x) bekannt. Dann gelten die folgenden Regeln:

a) Das unbestimmte Integral der Linearkombination λ1 f (x) + λ2 g(x) ist


Z
(λ1 f (x) + λ2 g(x)) dx = λ1 F (x) + λ2 G(x) + C (λ1 , λ2 ∈ R). (1.1)

b) Das unbestimmte Integral der um den Betrag k in x-Richtung verschobenen Funk-


tion g(x) = f (x − k) ist
Z
f (x − k) dx = F (x − k) + C (k ∈ R). (1.2)

c) Das unbestimmte Integral der um den Faktor k in x-Richtung gestreckten/gestauch-


ten Funktion g(x) = f (k · x) ist
Z
1
f (k · x) dx = F (k · x) + C (k ̸= 0). (1.3)
k

Beweis. Die Regeln können durch Ableiten nachgerechnet werden.

Beispiel. Wir berechnen die folgenden unbestimmten Integrale:


Z
13
a) (−13x3 ) dx = − x4 + C, nach (1.1)
4
Z
b) (8x3 − 4x + 2) dx = 2x4 − 2x2 + 2x + C, nach (1.1)
Z
c) 25ex dx = 25ex + C, nach (1.1)
Z
1
d) dx = ln |x − 6| + C, nach (1.2)
x−6
Z
3 2 3
e) e 2 x dx = e 2 x + C, nach (1.3)
3

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1.2 Das bestimmte Integral


Wir betrachten nun ein anderes Problem, das mit dem vorher betrachteten Problem auf
den ersten Blick nichts zu tun hat. Es geht nämlich um die Berechnung von Flächen
(bzw. Volumina, Bogenlängen, . . . ), oder, etwas abstrakter, um die “Gesamtwirkung einer
Intensität” einer Funktion in einem bestimmten Bereich. Typischerweise möchten wir eine
Fläche berechnen, die durch die x-Achse, den Graphen einer Funktion f (x) sowie zwei
Parallelen zur y-Achse an den Stellen a und b (wobei a < b) begrenzt ist. Wir nehmen
dabei an, dass der Graph von f (x) im Intervall [a, b] oberhalb der x-Achse verläuft, d.h.
dass f (x) ≥ 0 für alle a ≤ x ≤ b gilt.
y

a b x

Abbildung 1.2: Fläche zwischen Kurve und x-Achse

Die Grundidee zur Berechnung des Flächeninhalts solcher Flächenstücke ist die folgende:
Man ersetzt krummlinig begrenzte Flächenstücke durch geradlinig begrenzte, leicht be-
rechenbare Flächenstücke, die den gesuchten Flächeninhalt approximieren. Je feiner die
Unterteilung in Teilflächen ist, desto kleiner wird der Fehler, den man durch die Erset-
zung begeht. Im Grenzwert “unendlich kleiner” Teilflächen ergibt sich dann eine exakte
Formel. Im Einzelnen gehen wir folgendermassen vor:

a) Wir zerlegen das Intervall [a, b] in n Teilintervalle, durch Einfügen von Zwischen-
werten:
a = x0 < x1 < x2 < . . . < xn−1 < xn = b
Die Länge des i-ten Intervalls wird mit ∆xi bezeichnet, d.h. es gilt ∆xi = xi − xi−1
für 2 ≤ i ≤ n. Meistens wählt man alle Teilintervalle gleich lang, d.h. ∆xi = b−a
n
,
dies ist aber nicht zwingend.

b) In jedem der so entstandenen Teilintervalle wird auf beliebige Weise eine Zwischen-
stelle ξi gewählt und der zugehörige Funktionswert f (ξi ) gebildet. Der Flächeninhalt
des senkrechten Flächenstreifens (unten von der x-Achse und oben vom Graphen
von f begrenzt) im i-ten Intervall wird dann durch die Fläche

Ai = f (ξ) · ∆ξi

des zugehörigen Rechtecks approximiert.

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c) Um einen Näherungswert für die gesamte Fläche unter dem Graphen von f zwischen
den Stellen a und b zu erhalten, summiert man alle Näherungswerte Ai der Rechtecke
auf und erhält so
n
X
Sn = A1 + A2 + . . . + An = f (ξi ) · ∆xi .
i=1

Die beschriebene Näherung für die gesuchte Fläche A wird umso besser, je grösser die
Anzahl der Zwischenpunkte und folglich je kleiner die Breite ∆xi der Teilintervalle
gewählt wird. Dies führt zum nächsten Schritt.

Abbildung 1.3: Approximatives Verfahren zur Berechnung von Flächen

d) Man erhält den gesuchten Flächeninhalt A als Grenzwert der Summen Sn , indem
man die Anzahl n der Teilintervalle gegen unendlich wachsen lässt, so dass gleich-
zeitig die Breite aller Teilintervalle ∆xi und damit insbesondere auch diejenige des
breitesten Teilintervalls ∆x = max1≤i≤n ∆xi gegen Null strebt. So erhält man
n
X
A = n→∞
lim Sn = n→∞
lim f (ξ) · ∆xi .
(∆x→0) (∆x→0) i=1

Diese Vorgehensweise ist natürlich nur sinnvoll, wenn dieser Grenzwert auch tatsächlich
existiert. Es lässt sich jedoch zeigen, dass der Grenzwert für stetige Funktionen im-
mer existiert und überdies unabhängig ist von der Art und Weise, wie man immer
mehr Zwischenstellen einfügt.

Wir führen dieses Verfahren jetzt an einem einzigen Beispiel durch. Es zeigt sich, dass die
konkrete Durchführung schon bei einer vergleichsweise einfachen Funktion sehr umständ-
lich ist, weshalb wir dann froh sind, eine andere Art der Berechnung zu finden.

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Beispiel. Gesucht ist die Fläche, die durch die Kurve der Funktion

f (x) = x2

und die x-Achse im Intervall I = [0, 2] begrenzt wird. Wir zerlegen das Intervall I in n
gleich breite Teilintervalle der Breite ∆x = n2 . Als Zwischenstelle ξi , an der der Funk-
tionswert f (ξ) verwendet wird, wählen wir immer das rechte Ende des entsprechenden
Teilintervalls [xi−1 , xi ], also
2
ξk = xk = k · ∆x = k · .
n
Damit erhalten wir als n-ten Näherungswert für die gesuchte Fläche A
n n n
X X 8 X 2
2 3
Sn = f (ξk ) · ∆xk = k · (∆x) = 3 k .
k=1 k=1
n k=1

Unter Benützung der Formel


n
X n(n + 1)(2n + 1)
k2 =
k=1
6

erhalten wir damit


  
8 n(n + 1)(2n + 1) 4 1 1
Sn = 3 · = · 1+ 2+ .
n 6 3 n n

Im Limes n → ∞ ergibt sich damit


4 8
A = lim Sn = ·1·2= . (1.4)
n→∞ 3 3
Definition 1.2.1. Sei f (x) eine auf dem Intervall [a, b] definierte Funktion. Der Grenzwert
n
X
lim
n→∞
f (ξk ) · ∆xi (1.5)
(∆x→0) k=1

heisst, falls er existiert, bestimmtes Integral von f über [a, b]. Man schreibt dafür
Z b
f (x) dx.
a

Das bestimmte Integral ist also eine “unendliche” Summe von “unendlich” schmalen Strei-
fen mit Breite dx und Höhe f (x); diese Summe von unendlich vielen Termen ist durch
einen Grenzübergang präzise definiert. Das bestimmte Integral von f über [a, b] ist also
eine Zahl, während das unbestimmte Integral einer auf [a, b] definierten Funktion eine
Menge von Funktionen ist.

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Wir beweisen hier nicht, dass dieser Grenzwert für stetige Funktionen existiert und un-
abhängig von den in der Approximation verwendeten Streifenbreiten ∆xi ist. Auch die
Voraussetzung von Stetigkeit istR übertrieben, das bestimmte Integral existiert
P auch für
viele unstetige Funktionen. Das -Symbol kann als eine Stilisierung des -Symbols ver-
standen werden, und das dx-Symbol als eine infinitesimale Version des ∆x-Symbols, ähn-
lich wie das schon in der Differentialrechnung vorgekommen ist.
Die im vorigen Beispiel benützte Methode zur Berechnung von bestimmten Integralen ist
im Allgemeinen viel zu umständlich; wir werden im folgenden Abschnitt eine Methode
zeigen, die die Berechnung bestimmter Integrale auf unbestimmte Integrale bzw. Stamm-
funktionen des Integranden f (x) zurückführt. Die Definition des bestimmten Integrals
hat aber nichts mit Stammfunktionen zu tun. Es kann aber Fälle geben, wo man zur
Berechnung eines bestimmten Integrals trotzdem auf die Definition zurückgreifen muss.
Zu diesem Zweck werden Algorithmen entwickelt, die in der Numerik diskutiert werden.
Bemerkung. Die Integrationsvariable kann beliebig umbenannt werden, es gilt also
Z b Z b
f (x) dx = f (t) dt.
a a

Bemerkung. Wir haben am Anfang des Abschnitts die Voraussetzung f (x) ≥ 0 genannt;
das bestimmte Integral ist aber auch
Z für Funktionen definiert, die diese Voraussetzung
b
nicht erfüllen, nur kann man dann f (x) dx nicht mehr direkt als Flächeninhalt der
a
Fläche unter der Kurve von f (x) interpretieren.

1.3 Unbestimmtes und bestimmtes Integral


Wie wir gesehen haben, lässt sich das bestimmte Integral
Z b
f (t) dt
a

als Flächeninhalt der zwischen der x-Achse, der Funktionskurve y = f (x) sowie den
Geraden x = a und x = b liegenden Fläche interpretieren. Wir halten nun die untere
Grenze a fest und variieren die obere Grenze, d.h. wir ersetzen die obere Grenze mit einer
Variablen x und erhalten auf diese Weise eine neue Funktion
Z x
Fa (x) = f (t) dt.
a

Diese Funktion nennt man die Integralfunktion oder Flächenfunktion zu f zur unteren
Grenze a.
Beispiel. Wir bestimmen die Integralfunktion Fa (x) für die Funktion f (x) = x für eine
fixierte untere Grenze a > 0 (für x > a). Man beachte, dass wir diese Integralfunktion noch

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ohne den unten erwähnten Hauptsatz bestimmen, sondern allein aufgrund geometrischer
Überlegungen.
Das Flächenstück zwischen der Funktionskurve y = x, der x-Achse und den vertikalen
Geraden bei fixiertem a und beliebigem x > a ist ein Trapez. Der Flächeninhalt eines
Trapezes ist durch A = (b+c)·h
2
gegeben, wobei b und c, bzw. h, die Seitenlängen der
beiden parallelen Seiten des Trapezes, bzw. seine Höhe sind. In unserem Beispiel gilt
b = x, c = a und h = x − a, also ergibt sich
(b + c) · h (x + a)(x − a) x 2 − a2 1 1
A= = = = x 2 − a2 (1.6)
2 2 2 2 2
Die gesuchte Flächenfunktion ist also F (x) = 21 x2 − 12 a2 , und es ist sofort ersichtlich, dass
dies eine Stammfunktion der Funktionskurve y = x ist, die die Fläche oben begrenzt.
Man beachte nochmals, dass wir dies auf rein geometrischem Weg und ohne Anwendung
von Satz 1.3.1 gefunden haben.
Je nach Anfangswert a erhält man also verschiedene Integralfunktionen, die sich aber alle
nur um eine additive Konstante unterscheiden, und deren Ableitungen Fa′ (x) immer die
Ausgangsfunktion f (x) an der Stelle x ergeben. Unabhängig von a gilt also Fa′ (x) = f (x).
Diese Beobachtung trifft für jede Ausgangsfunktion f (x) zu.
Satz 1.3.1 (Erster Hauptsatz der Integralrechnung). Sei f (x) eine im Intervall [a, b]
stetige Funktion. Dann ist die Integralfunktion Fa (x) von f (x) differenzierbar, und es gilt
Z x 
′ d
Fa (x) = f (t) dt = f (x).
dx a

D.h. die Integralfunktion Fa (x) von f (x) ist eine Stammfunktion von f (x).
Beweis. Nach Definition der Ableitung gilt
∆Fa (x) Fa (x + ∆x) − Fa (x)
Fa′ (x) = lim = lim .
∆x→0 ∆x ∆x→0 ∆x
Der Zähler des letzten Ausdrucks beschreibt den Flächeninhalt ∆Fa des Streifens im
Teilintervall [x, x + ∆x] unter der Kurve von f . Also gilt

m · ∆x ≤ ∆Fa (x) ≤ M · ∆x,

wobei m und M das Minimum bzw. das Maximum der Funktionswerte von f auf [x, x+∆x]
bezeichnen. Dividiert man diese Ungleichung durch ∆x, so erhält man
Fa (x + ∆x) − Fa (x)
m≤ ≤ M.
∆x
Lässt man jetzt ∆x gegen Null gehen, d.h. im Limes ∆x → 0, so streben sowohl m als
auch M gegen den Funktionswert f (x), da f stetig ist und das das Intervall [x, x+∆x] zur

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Stelle x zusammenschrumpft; der Term in der Mitte der Ungleichungskette strebt gegen
Fa′ (x). Im Limes ∆x → 0 gilt also
f (x) ≤ Fa′ (x) ≤ f (x).
Dies ist nur möglich, wenn überall Gleichheit herrscht, d.h. es muss
f (x) = Fa′ (x)
gelten.
Der erste Hauptsatz der Integralrechnung besagt also, dass jede Integralfunktion
Z x
Fa (x) = f (t) dt
a

eine Stammfunktion von f (x) ist. Wir möchten jetzt diese Aussage unabhängig von der
unteren Grenze a machen und betrachten deshalb eine beliebige Stammfunktion F (x)
von f (x). Bekanntlich unterscheiden sich zwei Stammfunktionen der gleichen Funktion
nur durch eine Konstante C, d.h. es muss gelten
Fa (x) = F (x) + C. (1.7)
Um C zu bestimmen, benützen wir, dass Fa (a) = 0 gelten muss. Wenn wir also x = a
in (1.7) einsetzen, ergibt sich 0 = F (a) + C und damit C = −F (a). Erneut eingesetzt in
(1.7), diesmal wieder für beliebige x, erhalten wir
Fa (x) = F (x) − F (a). (1.8)
Wenn wir nun x = b in (1.8) setzen, erhalten wir eine Formel, um ein bestimmtes Integral,
d.h. z.B. einen Flächeninhalt, mit Hilfe des unbestimmten Integrals, d.h. mittels einer
Stammfunktion des Integranden, zu berechnen:
Satz 1.3.2 (Zweiter Hauptsatz der Integralrechnung). Sei f (x) eine im Intervall [a, b]
stetige Funktion, und sei F (x) eine beliebige Stammfunktion von f (x). Dann gilt
Z b
f (t) dt = F (b) − F (a). (1.9)
a

Bemerkung. Für die Differenz F (b) − F (a) werden auch die Schreibweisen F (x)|ba oder
[F (x)]ba verwendet.
Bemerkung. Die Aussagen der beiden Hauptsätze der Integralrechnung, Satz 1.3.1 und
Satz 1.3.2, hängen nicht von der Voraussetzung f (x) ≥ 0 auf I = [a, b] ab. Falls diese
Voraussetzung nicht erfüllt ist, ist aber das bestimmte Integral nicht mehr gleich der
Fläche unter der Funktionskurve von f (x). Falls die Voraussetzung a ≤ b nicht erfüllt ist,
Rb
kann man das bestimmte Integral a f (t) dt immer noch mit der Formel (1.9) berechnen,
erhält aber dann im Allgemeinen ebenfalls nicht die Fläche unter der Funktionskurve.

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Beispiel (Fortsetzung). Wir wissen schon aus einer mühsamen Rechnung, siehe (1.4),
dass die Fläche, die durch die Kurve der Funktion f (x) = x2 und die x-Achse im Intervall
I = [0, 2] begrenzt wird, den Flächeninhalt A = 83 hat. Mit Satz 1.3.2 können wir dieses
Resultat nun viel einfacher erhalten: Wir wählen von f (x) = x2 eine Stammfunktion, z.B.

x3
F (x) =
3
und erhalten Z 2
8 8
A= x2 dx = F (2) − F (0) = −0=
0 3 3
also dasselbe Resultat wie bei der Berechnung via die Definition des bestimmten Integrals.

Beispiel (Fortsetzung). Wir berechnen das bestimmte Integral


Z b
x dx
a

für beliebige a, b ∈ R mit a < b. Auch diese Fragestellung haben wir schon geometrisch
erörtert, siehe (1.6). Mit Satz 1.3.2 erhalten wir nun, nach der Wahl einer Stammfunk-
2
tionvon f (x) = x, z.B. F (x) = x2 ,
b b
x2 b 2 a2
Z
x dx = = −
a 2 a 2 2

Beispiel. Wir berechnen die folgenden bestimmten Integrale:


Z 2
√ √ 1 3
a) x dx: Eine Stammfunktion von f (x) = x = x 2 ist F (x) = 32 x 2 , also erhalten
1
wir
2 2  2 √

Z
2 3 2 3 
x dx = x 2 = 22 − 1 = 8−1
1 3 1 3 3
Z 3
b) (24t2 + 15t) dt: Eine Stammfunktion von f (t) = 24t2 + 15t ist F (t) = 8t3 + 15
2
t2 ,
1
also erhalten wir
Z 3   3
2 3 15 2 567 31
(24t + 15t) dt = 8t + t = − = 268
1 2 1 2 2

Beispiel. Wir berechnen den Flächeninhalt unter der Sinuskurve in der ersten Halbperi-
ode, d.h. im Intervall [0, π]. Eine Stammfunktion von f (x) = sin(x) ist F (x) = − cos(x),
also ergibt sich Z π
A= sin(x) dx = (− cos(x))|π0 = 1 − (−1) = 2
0

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Satz 1.3.3. Bei bestimmten Integralen gelten folgende Rechenregeln:


a) Vertauschung der Integrationsgrenzen:
Z a Z b
f (x) dx = − f (x) dx
b a

b) Identische Integrationsgrenzen:
Z a
f (x) dx = 0
a

c) Zerlegung des Integrationsbereichs:


Z c Z b Z c
f (x) dx = f (x) dx + f (x) dx (1.10)
a a b

Beweis. Diese Regeln können unmittelbar nachgeprüft werden durch Einsetzen in die
Formel (1.9) des 2. Hauptsatzes des Integralrechnung. Um z.B. (1.10) zu beweisen, be-
trachten wir beide Seiten der behaupteten Formel: Es ergibt sich mit (1.9)
Z c
f (x) dx = F (c) − F (a)
a
und Z b Z c
f (x) dx + f (x) dx = F (b) − F (a) + F (c) − F (b) = F (c) − F (a),
a b
also zweimal dasselbe.
Z 2
Beispiel. Wir berechnen f (x) dx für die Funktion
0
 2
x (x ≤ 1)
f (x) =
−x + 2 (x > 1)
Da die Funktion auf den verschiedenen Teilen des Integrationsbereichs durch verschiedene
Ausdrücke definiert ist, empfiehlt es sich, die Formel (1.10) anzuwenden und als Trenn-
stelle den Übergangspunkt von der einen zur anderen Formel zu verwenden. Mit (1.10)
für a = 0, c = 2 und b = 1 erhalten wir also
Z 2 Z 1 Z 2
f (x) dx = f (x) dx + f (x) dx
0 0 1
Z 1 Z 2
2
= x dx + −x + 2 dx
0 1
1 2
x3
 2
x
= + − + 2x
3 0 2 1
1 1
= +
3 2
5
=
6
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Flächeninhalte bei beliebigen stetigen Funktionen Bisher haben wir f (x) ≥ 0


vorausgesetzt, d.h. die Flächen, deren Inhalt zu berechnen war, lagen stets oberhalb der
x-Achse. Wenn wir diese Voraussetzung fallenlassen, so müssen wir die Nullstellen der
Funktion f (x) bestimmen, bevor wir Satz 1.3.2 anwenden können.

Abbildung 1.4: Flächenberechnung bei Funktionen mit wechselnden Vorzeichen

In jedem Teilbereich muss das bestimmte Integral separat berechnet werden, und an-
schliessend die Beträge aller Resultate aufaddiert werden: Die Resultate der Integration
in den Bereichen mit negativen Funktionswerten sind negativ, aber als Flächeninhalte
müssen sie natürlich trotzdem positiv gezählt werden.
Beispiel. Wir bestimmen die Fläche zwischen der Funktionskurve der Funktion f (x) =
x2 − 3 und der x-Achse im Intervall [0, 2]. Es ist f (0) = −3 und f (2) = 1, also liegt die
gesuchte Fläche teilweise unterhalb und teilweise oberhalb der x-Achse.
2
√ f (x) = x −3 im genannten Intervall:
Zunächst bestimmen wir die Nullstellen der Funktion
die einzige Nullstelle in diesem Bereich ist x0 = 3. Die gesuchte Fläche ist also
Z √3 Z 2
A = 2
(x − 3) dx + √ (x2 − 3) dx
0 3

 3 2
x3
  3 
x
= − 3x + − 3x √
3 0 3 3
√ 10 √
= −2 3 + − + 2 3
3
≈ 3.464 + 0.131
= 3.595
Im Allgemeinen gehen wir in solchen Situationen also folgendermassen vor:
• Wir berechnen die Nullstellen x1 , x2 , . . . , xn von f (x) im Intervall [a, b].
• Wir berechnen das bestimmte Integral über alle Teilintervalle einzeln und nehmen
jeweils die Beträge davon, um allfällige falsche Vorzeichen auszugleichen:
Z x1 Z x2 Z b
A= f (t) dt + f (t) dt + . . . + f (t) dt (1.11)
a x1 xn

15
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Z b
Ohne die Voraussetzung f (x) ≥ 0 kann die Berechnung von f (x) dx also unter Umständen
a
ein Ergebnis liefern, das nicht der Fläche zwischen der Funktionskurve und der x-Achse
entspricht. Man hat in einem solchen Fall nicht das Integral falsch berechnet, aber das
Integral entspricht dann nicht dem Flächeninhalt zwischen Kurve und x-Achse.

Fläche zwischen zwei Funktionskurven Wir betrachten nun die Aufgabe, die Fläche
zwischen zwei Funktionskurven f (x) und g(x) im Intervall [a, b] zu berechnen. Falls im
ganzen Integrationsbereich die Voraussetzung f (x) ≥ g(x) erfüllt ist, genügt es, die Dif-
ferenzfunktion f (x) − g(x) über [a, b] zu integrieren. Ansonsten müssen wegen des mögli-
cherweise wechselnden Vorzeichens von f (x) − g(x) zuerst die Nullstellen von f (x) − g(x)
ermittelt werden und dann eine Formel ähnlich wie (1.11) verwendet werden. Im einzelnen
gehen wir folgendermassen vor:
• Wir berechnen die Nullstellen x1 , x2 , . . . , xn von f (x) − g(x) im Intervall [a, b].
• Wir berechnen das bestimmte Integral über alle Teilintervalle einzeln und nehmen
jeweils die Beträge davon, um allfällige falsche Vorzeichen auszugleichen:
Z x1 Z x2 Z b
A= (f (t) − g(t)) dt + (f (t) − g(t)) dt + . . . + (f (t) − g(t)) dt
a x1 xn

Beispiel. Wir bestimmen die Fläche zwischen den Kurven der Funktionen f (x) = x − x3
und g(x) = x3 im Intervall [−1, 1]. Eine Skizze veranschaulicht die Situation:

Abbildung 1.5: Flächenberechnung bei Funktionen mit wechselnden Vorzeichen

16
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Die Schnittstellen der beiden Funktionen sind x1 = − √12 , x2 = 0 und x3 = √12 . Die
gesuchte Gesamtfläche lässt sich also als A = A1 + A2 + A3 + A4 schreiben. Aufgrund der
Symmetrie der Situation (f (x) und g(x) sind beide ungerade Funktionen) ist es klar, dass
A1 = A4 und A2 = A3 gilt. Es genügt also, A3 und A4 zu berechnen.

• Berechnung von A3 :
√1 √1
x2 x4
Z  
2 2 1
A3 = (x − 2x3 ) dx = − =
0 2 2 0 8

• Berechnung von A4 :
2 2
x2 x 4
Z  
3 1
A4 = (x − 2x ) dx = − =
√1 2 2 √1 8
2 2

Es stellt sich also heraus, dass A3 und A4 den gleichen Flächeninhalt haben, und damit
erhalten wir für die gesuchte Gesamtfläche
1 1 1 1 1
A= + + + =
8 8 8 8 2

17
Kapitel 2

Integrationsmethoden

Wir besprechen hier einige Methoden, mit denen sich Produkte, Quotienten und Verket-
tungen von Funktionen manchmal integrieren lassen. Die meisten dieser Methoden liefern
kein direktes Ergebnis der gesuchten Integrale, sondern ersetzen das gesuchte Integral
durch ein anderes, hoffentlich einfacheres Integral.

2.1 Partielle Integration (Produktregel)


Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Produktregel (u · v)′ = u′ · v + u · v ′ der Diffe-
rentialrechnung. Wir möchten diese Regel jetzt benutzen, um eine ähnliche Regel für die
Integralrechnung zu finden. Dazu notieren wir die Regel als
d
u′ (x) · v(x) = (u(x) · v(x)) − u(x) · v ′ (x).
dx
Eine Integration dieser Beziehung liefert die Integrationsformel
Z Z
u (x)v(x) dx = u(x) · v(x) − u(x)v ′ (x) dx.

(2.1)

Als Regel für bestimmte Integrale formuliert, erhalten wir


Z b b Z b

u (x) · v(x) dx = (u(x) · v(x)) − u(x) · v ′ (x) dx. (2.2)
a a a

Der Nutzen der Formeln


Z (2.1) und (2.2) ist nicht unmittelbar ersichtlich. Um sie auf ein
gesuchtes Integral f (x) · g(x) dx anzuwenden, schreiben wir entweder f (x) = u′ (x) und

R
g(x) = v(x) oder umgekehrt und hoffen dann, R ′ dass das Integral u(x)v (x) dx einfacher
ist als das ursprünglich gegebene Integral u (x)v(x) dx. In manchen Fällen kann es sich
auch als notwendig herausstellen, die Regel zweimal anzuwenden, oder einen Faktor 1
künstlich einzufügen, um die Regel anwenden zu können; oder die Anwendung der Regel
liefert eine Gleichung für das gesuchte Integral, die dann gelöst werden kann.

18
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Beispiel. Gesucht ist das Integral


Z
x · ex dx.

Wir setzen x = v(x) und ex = u′ (x). Dann gilt u(x) · v(x) = x · ex und u(x) · v ′ (x) = 1 · ex .
Es folgt
Z Z
x · e dx = x · e − 1 · ex dx = x · ex − ex + C = ex · (x − 1) + C.
x x

Beispiel. Wir berechnen das Integral


Z
ln(x) dx,

indem wir künstlich einen Faktor 1 ins Integral einfügen und dann partiell integrieren.
Wir schreiben also Z Z
ln(x) dx = 1 · ln(x) dx

mit u′ (x) = 1 und v(x) = ln(x). Es ergibt sich damit


Z Z
ln(x) dx = 1 · ln(x) dx
|{z}

| {z }
u (x) v(x)
Z
1
x · ln(x) −
= |{z} x · dx
| {z } |{z} x
u(x) v(x) u(x) |{z}
v ′ (x)
Z
= x · ln(x) − 1 dx
= x · ln(x) − x + C.
Beispiel. Um das Integral Z
x2 · ex dx.

zu berechnen, müssen wir zweimal partiell integrieren. Eine erste partielle Integration
ergibt Z Z
x · e dx = x e − 2xex dx,
2 x 2 x

eine zweite partielle Integration ergibt (dazu verwenden wir das Resultat des ersten Bei-
spiels) Z
2xex dx = 2ex · (x − 1) + C.

Eine Kombination der beiden Rechnungen ergibt das gesuchte Integral:


Z Z
x · e dx = x e − 2xex dx = x2 ex − 2ex · (x − 1) + C = ex (x2 − 2x + 2) + C.
2 x 2 x

19
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2.2 Integration durch Substitution


′ ′ ′
Z = F (g(x)) · g (x). Die-
Ausgangspunkt der Überlegungen ist die Kettenregel (F (g(x)))
se Regel ermöglicht die Integration bei Integralen vom Typ F ′ (g(x)) · g ′ (x) dx. Wir
möchten also im Integral eine Substitution u = g(x) durchführen und damit das x-Integral
in ein u-Integral überführen. Damit dies klappt, muss man aber die Substitutionsgleichung
u = g(x) ableiten und dann du dx
= g ′ (x) in der Form dx = g′du
(x)
oder du = g ′ (x)dx ins
Z
Integral einsetzen. Im einzelnen gehen wir bei der Berechnung eines Integrals f (x) dx
folgendermassen vor:

• Aufstellen und Ableiten der Substitutionsgleichungen:


du du
u = g(x), = g ′ (x), dx =
dx g ′ (x)

Wir behandeln hier die infinitesimalen Grössen dx und du so, als ob sie gewöhnliche
Rechengrössen wären; dies müsste genauer begründet werden, lässt sich aber (in
diesem Fall) dadurch rechtfertigen, dass das Verfahren das korrekte Ergebnis liefert.

• Durchführen der Substitution durch Einsetzen von u = g(x) und dx = du


g ′ (x)
ins
Z
Integral f (x) dx:
Z Z
f (x) dx = ϕ(u) du

Im neuen Integral ϕ(u) du kommt wegen des Einsetzens dx = g′du


R
(x)
neben der neuen
Variable u auch noch die alte Variable x vor; nur wenn diese alte Variable x durch
Kürzen zum Verschwinden gebracht werden kann, funktioniert die Methode. Wenn
ein bestimmtes Integral gefragt ist, müssen die x-Grenzen a und b durch die neuen
u-Grenzen g(a) und g(b) ersetzt werden; die entsprechende Formel lautet dann
Z b Z g(b)
f (x) dx = ϕ(u) du
a g(a)

• Berechnung des Integrals in der neuen Variable u:


Z
ϕ(u) du = Φ(u) + C

• Rücksubstitution (nur bei unbestimmten Integralen notwendig):

Φ(u) + C = Φ(g(x)) + C.

20
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Z
Beispiel. Wir berechnen das unbestimmte Integral x · cos(x2 ) dx auf die beschriebene
Art:
• Aufstellen und Ableiten der Substitutionsgleichungen:
du du
u = x2 , = 2x, dx =
dx 2x

• Einsetzen von u = x2 und dx = du


R
2x
ins Integral x · cos(x2 ) dx:
Z Z Z
2 du 1
x · cos(x ) dx = x · cos(u) = cos(u) du
2x 2

• Berechnung des Integrals in der neuen Variable u:


Z
1
cos(u) du = sin(u) + C
2

• Rücksubstitution:
1
sin(u) + C = sin(x2 ) + C.
2
Insgesamt erhalten wir Z
1
x · cos(x2 ) dx = sin(x2 ) + C,
2
was auch durch Ableiten nachgeprüft werden kann.
R
Man beachte hingegen, dass das Integral cos(x2 ) dx nicht elementar berechnet werden
kann; zwar ist es natürlich möglich, irgendwelche Substitutionen durchzuführen, sie brin-
gen das Integral aber nie auf eine elementar integrierbare Form. Stattdessen kann man
den Integranden f (x) = cos(x2 ) in eine Taylorreihe entwickeln (siehe Kapitel 5) und dann
die Integration gliedweise bis zur jeder beliebigen Genauigkeit durchführen.
Beispiel. Gesucht ist das unbestimmte Integral
Z √
x 1 + x2 dx.

2 2
√ dass hier verschiedene Substitutionen möglich sind, z.B. u = x , u = 1 + x
Man beachte,
2
oder u = 1 + x . Wir zeigen nur eine der verschiedenen Varianten, ermuntern aber dazu,
die anderen beiden Varianten selbst auszuprobieren.
• Aufstellen und Ableiten der Substitutionsgleichungen:

√ du x 1 + x2
u = 1 + x2 , =√ , dx = du
dx 1 + x2 x

21
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√ √ R √
• Einsetzen von u =
2
1 + x2 und dx = 1+x
x
du = ux du ins Integral x 1 + x2 dx:
Z √
u
Z Z
x 1 + x dx = xu du = u2 du
2
x

• Berechnung des Integrals in der neuen Variable u:


Z
1
u2 du = u3 + C
3

• Rücksubstitution:
1 3 1 3
u + C = (1 + x2 ) 2 + C.
3 3
Insgesamt erhalten wir
Z √ 1 3
x 1 + x2 dx = (1 + x2 ) 2 + C,
3
was auch durch Ableiten nachgeprüft werden kann (und wie erwähnt auch durch andere
Substitutionen gefunden werden kann).
R√
Das Integral 1 + x2 dx kann ebenfalls analytisch berechnet werden, es gilt nämlich
Z √
1 x√
1 + x2 dx = arsinh(x) + 1 + x2 (2.3)
2 2
Dabei ist arsinh(x) die Umkehrfunktion von y = sinh(x) = 12 (ex − e−x ) (“Sinus hyperbo-
licus”).
Beispiel. Sei f (x) eine beliebige Funktion. Wir bestimmen das unbestimmte Integral
Z ′
f (x)
dx.
f (x)
Die Substitution u = f (x), mit du
dx
= f ′ (x) und dx = f ′1(x) du, führt auf
Z ′ Z ′
f (x) f (x)
Z
1 1
dx = · ′ du = du
f (x) u f (x) u
Dieses Integral können wir problemlos berechnen zu
Z
1
du = ln |u| + C
u
und mit Rücksubstitution ergibt sich
Z ′
f (x)
dx = ln |f (x)| + C
f (x)
f ′ (x)
Entsprechend nennt man f (x)
manchmal die “logarithmische Ableitung” von f (x).

22
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2.3 Integration durch Partialbruchzerlegung


Hier geht es um die Integration von rationalen Funktionen f (x) = p(x)q(x)
, wobei p(x) und
q(x) Polynome sind. Die Idee ist es, f (x) als Summe möglichst einfacher Brüche (Partial-
brüche) darzustellen und dann jeden Partialbruch einzeln zu integrieren. Das Integral
von f (x) ist dann die Summe der Integrale der Partialbrüche. Partialbruchzerlegung ist
also nicht primär eine Integrationstechnik, sondern eine Methode der Darstellung von
rationalen Funktionen in einer Form, die die Integration erleichtert.
Als ersten Schritt stellen wir die rationale Funktion f (x) in der Form “Polynom + echt
gebrochen-rationale Funktion” dar, vgl. AN1, d.h. in der Form

f (x) = n(x) + r(x),

wobei n(x) ein Polynom und r(x) eine echt gebrochen-rationale Funktion ist. Wir be-
schränken uns im Folgenden auf die Partialbruchzerlegung einer echt-gebrochen-rationalen
Funktion r(x) = p(x)
q(x)
. Dazu gehen wir folgendermassen vor:

• Wir bestimmen die Nullstellen x1 , x2 , . . . , xn des Nennerpolynoms q(x), mit Viel-


fachheiten; wir nehmen hier an, dass sich q(x) vollständig in Linearfaktoren zerlegen
lässt.

• Zuordnung eines Partialbruchs zu jeder Nullstelle xk von N (x), 1 ≤ k ≤ n: Für eine


A
einfache Nullstelle xk wird ein Term x−x k
angesetzt, für eine doppelte Nullstelle xl
B1 B2
wird ein Term x−xl + (x−xl )2 angesetzt, etc. Man gelangt so zu einer Darstellung der
Form
A B1 B2
f (x) = + + + ...,
x − x1 x − x2 (x − x2 )2
mit noch unbekannten Koeffizienten A, B1 , B2 , . . . .

• Diese Koeffizienten werden bestimmt, indem alle Partialbrüche auf den Hauptnenner
q(x) gebracht werden und geeignete x-Werte eingesetzt werden, was ein Gleichungs-
system für die Koeffizienten ergibt, das dann gelöst werden kann. (Alternativ könnte
man auch durch Koeffizientenvergleich ein Gleichungssystem für die gesuchten Ko-
effizienten erhalten.)

• Schliesslich werden die einzelnen Partialbrüche integriert, wozu man die Integrale
der entsprechenden Grundfunktionen benötigt:
Z
1
dx = ln |x − x1 | + C,
x − x1
Z
1 1 1
r
= − · + C (r ≥ 2).
(x − x1 ) r − 1 (x − x1 )r−1

23
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Beispiel. Gesucht ist das Integral


Z
1
dx.
x2 −1
Wir gehen nach dem skizzierten Schema vor:

• Die Nullstellen des Nenners x2 − 1 sind x1 = 1, x2 = −1.

• Wir erhalten damit den Ansatz


1 A B
= + .
x2 −1 x−1 x+1

• Wenn die rechte Seite auf den Hauptnenner gebracht wird, ergibt sich

1 A(x + 1) + B(x − 1)
= ,
x2 −1 x2 − 1
und damit mit dem Vergleich der Zähler der beiden Seiten dieser Gleichung die
Bedingung
1 = A(x + 1) + B(x − 1).
Einsetzen von x = −1 bzw. x = 1 in die letzte Gleichung liefert B = − 21 bzw.
A = 21 . Die gesuchte Partialbruchzerlegung ist also

1 1 1 1 1
= · − · .
x2 −1 2 x−1 2 x+1

• Wir können jetzt integrieren und erhalten

x−1
Z
1 1 1 1
2
dx = ln |x − 1| − ln |x + 1| + C = ln + C.
x −1 2 2 2 x+1

Beispiel. Wir berechnen das unbestimmte Integral


x+1
Z
dx.
x − 5x2 + 8x − 4
3

• Die Nullstellen des Nenners x3 −5x2 +8x−4 sind x1 = 1 (einfach), x2 = 2 (doppelt),


d.h. x3 − 5x2 + 8x − 4 = (x − 1)(x − 2)2 .

• Wir erhalten damit den Ansatz


x+1 A B1 B2
= + + .
x3 2
− 5x + 8x − 4 x − 1 x − 2 (x − 2)2

24
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• Wenn die rechte Seite auf den Hauptnenner gebracht wird, ergibt sich

x+1 A(x − 2)2 + B1 (x − 1)(x − 2) + B2 (x − 1)


= ,
x3 − 5x2 + 8x − 4 x3 − 5x2 + 8x − 4
und damit mit dem Vergleich der Zähler der beiden Seiten dieser Gleichung die
Bedingung
x + 1 = A(x − 2)2 + B1 (x − 1)(x − 2) + B2 (x − 1).
Einsetzen von x = 1, x = 2 und x = 0 (die beiden Nullstellen des Nenners und
irgendein anderer x-Wert) in die letzte Gleichung liefert ein Gleichungssystem für
A, B1 und B2 mit Lösung A = 2, B1 = −2 und B2 = 3. Die gesuchte Partialbruch-
zerlegung ist also
x+1 2 2 3
= − + .
x3 2
− 5x + 8x − 4 x − 1 x − 2 (x − 2)2

• Wir können jetzt integrieren und erhalten


x+1
Z
3
3 2
dx = 2 ln |x − 1| − 2 ln |x − 2| − + C.
x − 5x + 8x − 4 x−2

Bemerkung. Falls das Nennerpolynom sich nicht vollständig in Linearfaktoren zerlegen


x−β
lässt, also z.B. im Fall f (x) = x21+1 , treten Partialbrüche der Form (x−β) 1
2 +γ 2 oder (x−β)2 +γ 2

auf (mit γ ̸= 0). Diese lassen sich wie folgt integrieren:


x−β
Z p
dx = ln (x − β)2 + γ 2 + C,
(x − β)2 + γ 2
x−β
Z
1 1
2 2
dx = arctan + C.
(x − β) + γ γ γ
Das zweite Integral in dieser Liste ist eine Verallgemeinerung des Grundintegrals
Z
1
2
dx = arctan(x) + C
x +1
aus Satz 1.1.4.

Bemerkung. Wir haben bei weitem nicht alle möglichen Integrationstricks aufgeführt;
z.B. lassen sich Quotienten von trigonometrischen Ausdrücken durch geschickte Substi-
tutionen in rationale Funktionen überführen, die dann durch Partialbruchzerlegung inte-
griert werden können. Wir verweisen auf die Integraltabellen, die in den Formelsammlun-
gen enthalten sind. Es bleibt aber die Tatsache, dass nicht alle elementaren Funktionen
eine Stammfunktion haben, die durch elementare Funktionen darstellbar ist. Deswegen
benötigt man auch numerische Integrationsverfahren.

25
Kapitel 3

Anwendungen der Integralrechnung

Neben dem Flächeninhalt können verschiedene weitere geometrische (aber auch physika-
lische) Grössen durch bestimmte Integrale berechnet werden.

3.1 Mittelwert einer Funktion


Gegeben ist eine Funktion f (x) mit f (x) ≥ 0 für alle x ∈ [a, b]. Unter dem Mittelwert der
Funktion f (x) auf [a, b] verstehen wir die Höhe des Rechtecks, das
• eine Grundlinie der Länge b − a hat und

• dessen Flächeninhalt der Fläche unter der Kurve von f (x) im Intervall [a, b] ent-
spricht.

Abbildung 3.1: Mittelwert µ einer Funktion

Aus der Definition des Mittelwerts folgt sofort:


Satz 3.1.1. Sei f (x) eine auf dem Intervall [a, b] definierte Funktion mit f (x) ≥ 0 für alle
x ∈ [a, b]. Der Mittelwert µ von f (x) auf [a, b] ist gegeben durch
Z b
1
µ= f (x) dx.
b−a a

26
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Bemerkung. Man beachte, dass dieser Mittelwert im Allgemeinen nicht gleich dem
Durchschnitt der Funktionswerte am linken und rechten Endpunkt des Intervalls ist (dies
ist nur bei linearen Funktionen y = mx + q garantiert). Der Mittelwert ist vielmehr das
“Mittel” aller unendlich vieler Funktionswerte der Funktion. Diese Idee kann nur als In-
tegral verwirklicht werden und zeigt erneut den Wert der Vorstellung, dass ein Integral
sich oft als Gesamtwirkung einer Intensität verstehen lässt.
Beispiel. Wir berechnen den Mittelwert von f (x) = x2 + 2 auf dem Intervall [2, 4]. Es
gilt
Z 4  3 4
2 x 68
(x + 2) dx = + 2x = .
2 3 2 3
Also erhalten wir für den gesuchten Mittelwert
Z 4
1 1 68 34
µ= (x2 + 2) dx = · = ≈ 11.33.
4−2 2 2 3 3
Ein Vergleich mit den Funktionswerten am linken und rechten Ende des betrachteten
Bereichs (f (2) = 6 und f (4) = 18) zeigt, dass der Mittelwert der Funktion über den ganzen
Bereich kleiner ist als das arithmetische Mittel der beiden Randwerte. Dies reflektiert den
konvexen Verlauf der Funktionskurve, bzw. dass die Funktionskurve unterhalb der Gerade
verläuft, die die beiden Randwerte verbindet.

3.2 Bogenlänge einer Kurve


Wir möchten zu einer gegebenen Funktion f (x) die Länge L der Funktionskurve von f (x)
im Intervall [a, b] berechnet werden.

f
Δy
P
Δx x
a xk xk + Δx b

Abbildung 3.2: Bogenlänge einer Kurve

Wir berechnen die gesuchte Bogenlänge wieder mit einem approximativen Verfahren und
erhalten dann im Limes n → ∞ eine Integralformel:

27
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• Wir zerlegen die Kurve in n Stücke, die durch Geradenstücke approximiert werden
können. Mit der Bezeichnung ∆xk = xk+1 − xk erhält man für die Länge lk des k-ten
Geradenstücks die Formel
s  2
∆fk
q
2 2
lk = ∆xk + ∆fk = ∆xk · 1 + .
∆xk

• Aufsummieren der Geradenlängen l1 , l2 , . . . , ln liefert eine Näherung


n
X
Ln = lk
k=1

der gesuchten Bogeblänge L.


• Verfeinern der Unterteilung der Kurve in Geradenstücke resultiert in einer immer
besseren Näherung der gesuchten Länge L. Dabei werden wiederum bei wachsendem
n alle ∆xk immer kleiner. Im Grenzübergang n → ∞ erhält man dann die exakte
Formel für die Bogenlänge:
s
n n  2
X X ∆fk
L = lim Ln = lim lk = lim ∆xk · 1 + .
n→∞ n→∞
k=1
n→∞
k=1
∆x k

Ähnlich wie bei der Definition (1.5) des bestimmten Integrals als Flächeninhalt unter
der Kurve kann dieser letzte Ausdruck nun wieder als Integral geschrieben werden:
Z bp
L= 1 + (f ′ (x))2 dx.
a

Satz 3.2.1. Sei f (x) eine auf dem Intervall [a, b] definierte Funktion. Die Länge der
Funktionskurve von f (x) im Intervall [a, b] ist
Z bp
L= 1 + (f ′ (x))2 dx.
a

Beispiel. Wir berechnen die Länge der Funktionskurve der Funktionen


p √
a) f (x) = 3x + 2 im Intervall I = [0, 2]: Es gilt f ′ (x) = 3, also 1 + (f ′ (x))2 = 10
und damit Z 2√ √ 2 √
L= 10 dx = 10x = 2 10.
0 0
p √
b) f (x) = 12 x2 im Intervall I = [0, 3]: Es gilt f ′ (x) = x, also 1 + (f ′ (x))2 = 1 + x2
und damit Z 3√
L= 1 + x2 dx ≈ 5.653.
0
(Die Integration
√ wurde numerisch durchgeführt, obwohl eine Stammfunktion von
f (x) = 1 + x2 exakt berechenbar ist, vgl. (2.3)).

28
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p
c) fp(x) = sin(x) im Intervall I = [0, π]: Es gilt f ′ (x) = cos(x), also 1 + (f ′ (x))2 =
1 + cos2 (x) und damit
Z πp
L= 1 + cos2 (x) dx ≈ 3.820.
0

Diese Integration wurde ebenfalls numerisch durchgeführt, und es existiert


p keine
durch elementare Funktion ausdrückbare Stammfunktion von f (x) = 1 + cos2 (x).

3.3 Schwerpunkt ebener Flächen


Unter dem Schwerpunkt S eines Körpers bzw. einer Fläche verstehen wir denjenigen
Punkt, in dem die Gesamtmasse des Körpers bzw. der Fläche vereinigt gedacht werden
muss, damit dieser fiktive Massenpunkt sich gleich verhält wie der reale Körper selbst.
Wir gehen immer von einer konstanten Massenverteilung im Körper aus und betrachten
zuerst eine ebene Fläche, die zwischen x = a und x = b von zwei Funktionskurven
y = f (x) (oben) und y = g(x) (unten) berandet wird. Wir möchten also den Schwerpunkt
S = (xS , yS ) einer solchen Fläche bestimmen.

Abbildung 3.3: Schwerpunkt ebener Flächen

Um den Schwerpunkt einer solchen Fläche zu berechnen, teilen wir das Intervall [a, b] durch
Teilungspunkte a = x0 < x1 < . . . < xn = b wieder in n Teilintervalle und approximieren
die Fläche durch n Rechtecke; der Schwerpunkt Sk des k-ten Rechtecks ist ungefähr
 
1
Sk ≈ ξk , (f (ξk ) + g(ξk )) , (3.1)
2
wobei ξk ein beliebig gewählter Wert im Intervall [xk−1 , xk ] ist (für 1 ≤ k ≤ n). Dieser
Schwerpunkt Sk des k-ten Rechtecks trägt den Anteil AAk zum Schwerpunkt S der Ge-
samtfigur bei, wobei ∆Ak = (f (ξk ) − g(ξk )) · ∆xk die Fläche des k-ten Rechtecks und A
die Fläche der Gesamtfigur ist. Approximativ erhalten wir für S also
n
X ∆Ak
S≈ Sk · . (3.2)
k=1
A

29
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Wir teilen nun die Approximation(3.2) des Schwerpunkts S = (xS , yS ) in die x- und
y-Komponenten auf und setzen (3.1) ein. Für die x-Komponente erhalten wir
n
X (f (ξk ) − g(ξk )) · ∆xk
xS ≈ ξk ·
k=1
A
n
1X
= ξk · (f (ξk ) − g(ξk )) · ∆xk .
A k=1

Für die y-Komponente erhalten wir


n
X 1 (f (ξk ) − g(ξk )) · ∆xk
yS ≈ (f (ξk ) + g(ξk )) ·
k=1
2 A
n
1 X
= (f (ξk ) + g(ξk )) · (f (ξk ) − g(ξk )) · ∆xk
2A k=1
n
1 X
= (f (ξk )2 − g(ξk )2 ) · ∆xk .
2A k=1

Im Grenzübergang n → ∞ erhält man die folgenden exakten Formeln:

Satz 3.3.1. Die Koordinaten des Schwerpunkts S = (xS , yS ) einer ebenen Fläche mit
Flächeninhalt A, die von den Kurven y = f (x) und y = g(x) sowie den Geraden x = a
und x = b berandet wird, wobei a < b und g(x) ≤ f (x) für alle a ≤ x ≤ b gilt, sind durch
folgende Formeln gegeben:

1 b
Z
xS = x · (f (x) − g(x)) dx
A a
Z b
1
yS = (f (x)2 − g(x)2 ) dx
2A a
Bemerkung. Man beachte, dass der Flächeninhalt A der Fläche unter Umständen zuerst
durch ein weiteres Integral berechnet werden muss, nämlich
Z b
A= (f (x) − g(x)) dx.
a

Die Berechnung des Schwerpunkts kann also recht aufwändig sein; umso wichtiger ist es,
Symmetrien zu erkennen, die es evtl. ermöglichen, eine der beiden Koordinaten von S
ohne Integration zu ermitteln.

Beispiel. Wir bestimmen den Schwerpunkt S = (xS , yS ) der oberen Halbkreisfläche mit
Zentrum im Ursprung und Radius R. Aus Symmetriegründen ist klar, dass xS = 0 gilt.
Wir müssen also nur yS berechnen; dazu verwenden wir den bekannten Flächeninhalt

30
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2
A = πR2 des oberen Halbkreises. Die obere bzw. untere Begrenzungskurve des Halbkreises

ist f (x) = R2 − x2 bzw. g(x) = 0. Wir erhalten damit
Z b
1
yS = (f (x)2 − g(x)2 ) dx
2A a
Z R
1
= 2
(R2 − x2 ) dx
πR −R
R
x3

1 2
= R x−
πR2 3 −R
1 2R3
= · 2 ·
πR2 3
4R
= .

Der gesuchte Schwerpunkt des oberen Halbkreises ist also
 
4R
S = 0, .

Beispiel. Wir bestimmen den Schwerpunkt S = (xS , yS ) des Dreiecks mit Eckpunkten
(0, 0), (1, 0) und (0, 1). In diesem Fall ist aufgrund der Symmetrie klar, dass xS = yS
gelten muss. Es genügt also, z.B. xS zu berechnen. Dazu verwenden wir den bekannten
Flächeninhalt A = 12 des gegebenen Dreiecks. Die obere bzw. untere Begrenzungskurve
des Dreiecks ist f (x) = 1 − x bzw. g(x) = 0. Wir erhalten damit
Z b
1
xS = x · (f (x) − g(x)) dx
A a
Z 1
= 2· x · (1 − x) dx
0
 2 1
x x3
= 2 −
2 3 0
1
= 2·
6
1
= .
3
Der gesuchte Schwerpunkt des gegebenen Dreiecks ist also
 
1 1
S= , .
3 3

31
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3.4 Berechnungen an Rotationskörpern


Wird die Kurve einer gegebenen Funktion f (x) im Intervall [a, b] um die x-Achse rotiert, so
entsteht ein rotationssymmetrischer Körper. Wir möchten nun Formeln für das Volumen,
die Mantelfläche und den Schwerpunkt dieses Körpers herleiten.

Abbildung 3.4: Rotationskörper

Um das Volumen zu berechnen, gehen wir folgendermassen vor:

• Wir zerlegen den Körper in n Stücke, die durch Kreisscheiben (Zylinderstücke) ap-
proximiert werden können. Mit der Bezeichnung ∆xk = kk+1 − xk erhält man für
das Volumen vk des k-ten Zylinderstücks die Formel

vk = (f (ξk ))2 · π · ∆xk , (3.3)

wobei ξk ein beliebiger Wert aus dem Intervall [xk , xk+1 ] ist. Wir benützen dabei,
dass das Volumen eines senkrechten Kreiszylinders mit Radius r und Höhe h durch
V = πr2 h gegeben ist.

• Aufsummieren der Volumenstücke v1 , v2 , . . . , vn liefert eine Näherung


n
X
Vn = vk
k=1

des gesuchten Volumens V .

• Verfeinern der Unterteilung des Körpers in Zylinderstücke resultiert in einer immer


besseren Näherung des gesuchten Volumens V . Dabei werden wiederum bei wach-
sendem n alle ∆xk immer kleiner. Im Grenzübergang n → ∞ erhält man dann die
exakte Formel für das Volumen:
n
X n
X
V = lim Vn = lim vk = lim π · (f (ξk ))2 · ∆xk .
n→∞ n→∞ n→∞
k=1 k=1

32
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Ähnlich wie bei der Definition (1.5) des bestimmten Integrals als Flächeninhalt unter
der Kurve kann dieser letzte Ausdruck nun wieder als Integral geschrieben werden:
Z b
V =π (f (x))2 dx.
a

Insgesamt erhalten wir das Resultat:

Satz 3.4.1. Sei f (x) eine auf dem Intervall [a, b] definierte Funktion. Das Volumen des
durch Rotation von f (x) um die x-Achse entstehenden Rotationskörpers ist
Z b
V =π (f (x))2 dx. (3.4)
a

Beispiel. Wir berechnen das Volumen des Rotationskörpers der Funktionen

a) f (x) = 3x + 2 im Intervall I = [1, 2]: Es gilt f (x)2 = (3x + 2)2 = 9x2 + 12x + 4, also
erhalten wir
Z b
V = π (f (x))2 dx
Za 2
= π (9x2 + 12x + 4) dx
1
2
= π 3x3 + 6x2 + 4x 1
= 43π.

Man beachte, dass dieses Resultat auch elementargeometrisch erhalten werden könn-
te, nämlich mit der Formel V = hπ 3
(R2 + Rr + r2 ) für das Volumen eines Kegel-
stumpfs: Für die Werte h = 1, r = f (1) = 5 und R = f (2) = 8 ergibt sich
V = 1·π3
(82 + 8 · 5 + 52 ) = 129π
3
= 43π.

Abbildung 3.5: Kegelstumpf

33
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1 2 2 x4
b) f (x) = 12 x2 im Intervall I = [0, 3]: Es gilt f (x)2 =

2
x = 4
, also erhalten wir
Z b
V = π (f (x))2 dx
Za 3
x4
= π dx
0 4
 5 3
x
= π
20 0
243π
= .
20

c) f (x) = cos(x) im Intervall I = − π4 , π4 : Es gilt f (x)2 = cos2 (x), also erhalten wir
 

Z b
V = π (f (x))2 dx
a
Z π
4
= π cos2 (x) dx
− π4

4 1
= π (1 + cos(2x)) dx
− π4 2
  π4
π 1
= x + sin(2x)
2 2 − π4
 
π π 1
= ·2· +
2 4 2
π π 
= +1 .
2 2

Für die Berechnung der Mantelfläche (unter der Mantelfläche verstehen wir die Oberfläche
ohne Decke und Boden) gehen wir ähnlich vor. Wir benützen dabei, dass die Mantelfläche
eines Kegelstumpfs mit Radien R und r und Länge m der Mantellinie durch
R+r
F = 2π · · m = π · (R + r) · m
2
gegeben ist.

• Wir zerlegen den Körper in n Stücke, die durch Kreisscheiben approximiert wer-
den können, die wir jetzt aber als Kegelstümpfe auffassen und nicht nur als Zylin-
derstücke. Mit der Bezeichnung ∆xk = kk+1 − xk erhält man für die Mantelfläche
mk des k-ten Zylinderstücks die Formel

mk = π · (f (xk ) + f (xk+1 )) · lk ,

34
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wobei lk die Länge der Mantellinie des k-ten Zylinderstücks ist. Mit
s  2
∆fk
q
2 2
lk = ∆xk + ∆fk = ∆xk 1 +
∆xk

ergibt sich daraus


s  2
∆fk
mk = π · (f (xk ) + f (xk+1 )) · 1+ ∆xk .
∆xk

• Aufsummieren der Mantelflächen m1 , m2 , . . . , mn liefert eine Näherung


n
X
Mn = mk
k=1

der gesuchten Mantelfläche M .

• Verfeinern der Unterteilung des Körpers in Kegelstümpfe resultiert in einer im-


mer besseren Näherung der gesuchten Mantelfläche M . Dabei werden wiederum bei
wachsendem n alle ∆xk immer kleiner. Im Grenzübergang n → ∞ erhält man dann
die exakte Formel für die Mantelfläche:
s
n  2
X ∆fk
M = lim Mn = lim mk = lim π · (f (xk ) + f (xk+1 )) · 1 + ∆xk .
n→∞ n→∞
k=1
n→∞ ∆x k

Ähnlich wie bei der Definition (1.5) des bestimmten Integrals als Flächeninhalt unter
der Kurve kann dieser letzte Ausdruck nun wieder als Integral geschrieben werden:
Z b p
M = 2π f (x) · 1 + (f ′ (x))2 dx.
a

Insgesamt erhalten wir das Resultat:


Satz 3.4.2. Sei f (x) eine auf dem Intervall [a, b] definierte Funktion mit f (x) ≥ 0 für alle
x ∈ [a, b]. Die Mantelfläche des durch Rotation von f (x) um die x-Achse entstehenden
Rotationskörpers ist Z b p
M = 2π f (x) · 1 + (f ′ (x))2 dx.
a

Beispiel. Wir berechnen die Mantelfläche des Rotationskörpers der Funktionen


a) f (x) = 3x + 2 im Intervall I = [0, 2]: Es gilt
p √ √
f (x) · 1 + (f ′ (x))2 = (3x + 2) · 1 + 32 = 10(3x + 2)

35
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Wir erhalten damit


Z b p
M = 2π f (x) · 1 + (f ′ (x))2 dx
Za 2 √
= 2π 10(3x + 2) dx
0
2


3 2
= 2π 10 x + 2x
2 0

= 2π 10 · 10.

b) f (x) = x im Intervall I = [0, 1]: Es gilt f ′ (x) = 1

2 x
und somit
r r
p √ 1 1
f (x) · 1 + (f ′ (x))2 = x· 1+ = x+
4x 4
Wir erhalten damit
Z b p
M = 2π f (x) · 1 + (f ′ (x))2 dx
a
Z 1r
1
= 2π x+
dx
0 4
 3 ! 1
2 1 2
= 2π x+
3 4
  32 !0
2 5
= 2π · −1 .
3 4

Schliesslich berechnen wir noch den Schwerpunkt S = (xS , yS , zS ) eines durch Rotation
um die x-Achse entstehenden Rotationskörpers. Aus Symmetriegründen gilt offensichtlich
yS = zS = 0; wir müssen also nur xS berechnen.
Wir zerlegen das Intervall [a, b] wieder in n Teilintervalle und approximieren den Körper
durch n Kreiszylinder; die x-Komponente des Schwerpunkts Sk des k-ten Zylinders ist
ungefähr
x(Sk ) ≈ ξk (3.5)
wobei ξk wiederum ein beliebig gewählter Wert im Intervall [xk−1 , xk ] ist (für 1 ≤ k ≤ n).
Dieser Schwerpunkt Sk des k-ten Zylinders trägt den Anteil VVk zum Schwerpunkt S der
Gesamtfigur bei, wobei V das Volumen der Gesamtfigur und ∆vk = (f (ξk ))2 · π · ∆xk das
Volumen des k-ten Teilzylinders ist, vgl. (3.3). Approximativ erhalten wir für xS also
n
X ∆vk
xS ≈ x(Sk ) · (3.6)
k=1
V

36
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Wir setzen nun in die Approximation (3.6) von xS die Approximation (3.5) ein. Wir
erhalten so
n
X ∆vk
xS ≈ ξk ·
k=1
V
n
π X
= ξk · (f (ξk ))2 · ∆xk .
V k=1

Im Grenzübergang n → ∞ erhält man die folgenden exakten Formeln:

Satz 3.4.3. Die x-Koordinate des Schwerpunkts S = (xS , 0, 0) eines Rotationsköpers mit
Volumen V , der durch Rotation der Kurve y = f (x) um die x-Achse zwischen x = a und
x = b gebildet wird, wobei a < b und f (x) ≥ 0 für alle a ≤ x ≤ b gilt, ist durch folgende
Formel gegeben:
π b
Z
xS = x · f (x)2 dx
V a

Beispiel. Wir berechnen den Schwerpunkt des durch Rotation der Kurve y = 4 − x
um die x-Achse, 0 ≤ x ≤ 4, entstehenden Rotationskörpers. Zunächst müssen wir das
Volumen des Rotationskörpers berechnen. Nach der Formel (3.4) erhalten wir
4 4
x2
Z  
V =π (4 − x) dx = π 4x − = 8π.
0 2 0

Damit erhalten wir, mit x · f (x)2 = x · (4 − x) = 4x − x2 ,

π b
Z
xS = x · f (x)2 dx
V a
1 4
Z
= (4x − x2 ) dx
8 0
4
x3

1 2
= 2x −
8 3 0
1 32
= ·
8 3
4
= .
3
Der gesuchte Schwerpunkt des Rotationskörpers ist also
 
4
S= , 0, 0 .
3

37
Kapitel 4

Uneigentliche Integrale

4.1 Einführung
Bisher haben wir bestimmte Integrale einer Funktion f (x) mit (endlichen) Integrations-
grenzen a, b ∈ R betrachtet; die betrachtete Funktion f (x) wurde dabei als stetig auf
dem abgeschlossenen Intervall [a, b] betrachtet. Nun wollen wir den Integralbegriff auf
Integrale mit einem unendlich langen Integrationsintervall ausdehnen, d.h. wir betrach-
ten bestimmte Integrale, bei denen eine oder beide Integrationsgrenzen im Unendlichen
liegen. Ferner betrachten wir auch Integrale mit einem Pol im Integrationsintervall.

Definition 4.1.1. Ein uneigentliches Integral ist ein Integral vom Typ
Z ∞ Z b Z ∞
f (x) dx, f (x) dx, f (x) dx (f (x) ist stetig)
a −∞ −∞

oder vom Typ


Z b
f (x) dx (f (x) hat einen Pol im Intervall [a, b])
a

Abbildung 4.1: Uneigentliche Integrale von verschiedenen Typen

Wir motivieren die Betrachtung solcher Integrale zunächst durch ein physikalisches Bei-
spiel.

38
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Beispiel. Auf einen Körper im Gravitationsfeld der Erde wirkt nach dem Newton’schen
Gravitationsgesetz im Abstand r > 0 vom Erdmittelpunkt die Gewichtskraft
k
FG (r) = , k konstant. (4.1)
r2
Wir berechnen nun die Arbeit, die notwendig ist, um den Körper von Meereshöhe (d.h.
Entfernung Erdradius R vom Erdmittelpunkt) auf die Höhe h ü. M. anzuheben. Da die
zu leistende Kraft nicht konstant ist, ist die Arbeit W nicht durch W = F · h gegeben,
sondern infinitesimal durch ∆W = F (r) · ∆r bzw. dW = F (r) · dr. Insgesamt ergibt sich
das Integral Z R+h Z R+h
W = dW = FG (r) dr
R R

Mit (4.1) erhalten wir damit für die gesuchte Arbeit


R+h R+h   R+h
k k k k
Z Z
W = FG (r) dr = dr = − = −
R R r2 r R R R+h

Kann nun diese Formel auch für den Fall benützt werden, dass man den Körper unendlich
weit von der Erde wegbefördern möchte? Und wenn ja, was ist dann die dafür notwendige
Arbeit?
Geometrisch lautet die entsprechende Frage, ob es möglich ist, der ganzen“ Fläche unter

der Kurve FG (r) = rk2 zwischen r = R und r = ∞ einen endlichen Wert zuzuordnen. Die
Antwort lautet ja“, wie wir gleich sehen werden.

4.2 Uneigentliche Integrale erster Art


Wir diskutieren nun zuerst uneigentliche Integrale mit einem unendlichen Integrations-
intervall, und davon als erstes Integrale vom Typ
Z ∞
I= f (x) dx.
a

Abbildung 4.2: Integral mit einem unendlichen Integrationsintervall

39
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Ein solches Integral wird als Grenzwert des gewöhnlichen Integrals a
f (x) dx für λ → ∞
aufgefasst und berechnet. Konkret geht man folgendermassen vor:
1. Statt über das unendliche Intervall [a, ∞) integrieren wir über das endliche Intervall
[a, λ] für beliebige λ ≥ a:
Z λ
I(λ) = f (x) dx.
a

2. Das gesuchte Integral über dem unendlichen Intervall [a, ∞) ergibt sich als Grenz-
wert limλ→∞ I(λ):
Z ∞ Z λ 
I= f (x) dx = lim I(λ) = lim f (x) dx
a λ→∞ λ→∞ a

Definition 4.2.1. Falls der Grenzwert lim I(λ) existiert, heisst das uneigentliche Integral
Z ∞ λ→∞

f (x) dx konvergent, andernfalls divergent.


a

Bemerkung. Man beachte, dass diese Konstruktion eines uneigentlichen IntegralsR b gewis-
sermassen ein doppelter Grenzübergang ist, da ja schon das bestimmte Integral a f (x) dx
als Grenzwert von Riemannschen Summen für ∆x → 0 definiert ist.
Beispiel. Wir berechnen die Arbeit, die notwendig ist, um den Körper ganz“R ∞aus dem

Gravitationsfeld der Erde zu entfernen, d.h. wir berechnen das Integral W = R rk2 dr:
1. Integration über [R, λ]:
λ   λ
k k k
Z
1
I(λ) = k dr = − =− +
R r2 r R λ R

2. Grenzübergang limλ→∞ I(λ):


Z ∞  
k k k
I= f (r) dr = lim − + =
R λ→∞ λ R R

Wir sehen also, dass die zum vollständigen Entfernen eines Körpers aus dem Gravitati-
R∞
onsfeld der Erde notwendige Arbeit einen endlichen Wert hat; d.h. das Integral R r12 dr
ist konvergent.
Bemerkung. In vielen Fällen können uneigentliche Integrale direkt berechnet werden,
indem die Zahl“ ∞ als gewöhnliche obere Integrationsgrenze behandelt wird (so auch im

vorigen Beispiel); dies ist freilich streng genommen mathematisch unsauber und überdies
mit einer gewissen Unfallgefahr verbunden.
Beispiel. Wir berechnen die folgenden uneigentlichen Integrale:

40
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Z ∞
1
a) dx: Eine Berechnung bis zur oberen Grenze λ ∈ R liefert
1 x3
Z λ λ
1 1 1 1
3
dx = − 2
=− 2 +
1 x 2x 1 2λ 2
Im Grenzübergang λ → ∞ erhalten wir
Z ∞ Z λ   
1 1 1 1 1 1
3
dx = lim 3
dx = lim − 2 + =0+ =
1 x λ→∞ 1 x λ→∞ 2λ 2 2 2
Z ∞
b) e−x dx: Eine Berechnung bis zur oberen Grenze λ ∈ R liefert
0
Z λ
λ
e−x dx = −e−x 0
= −e−λ + 1
0

Im Grenzübergang λ → ∞ erhalten wir


Z ∞ Z λ 
−x
e dx = lim −e−λ + 1 = 0 + 1 = 1
−x

e dx = lim
0 λ→∞ 0 λ→∞

R∞ Rb
Genauso wie Integrale vom Typ I = a
f (x) dx können Integrale vom Typ I = −∞
f (x) dx
Rb
behandelt werden, nämlich als Grenzwert λ → −∞ von I(λ) = λ f (x) dx. Wir bezeich-
nen ein Integral Z b
I= f (x) dx
−∞
also als konvergent, falls der Grenzwert
Z b
lim f (x) dx
λ→−∞ λ

existiert, andernfalls als divergent. Das gesuchte Integral ist in diesem Fall
Z b Z b 
I= f (x) dx = lim I(λ) = lim f (x) dx .
−∞ λ→−∞ λ→−∞ λ
Z 0
Beispiel. Wir berechnen das uneigentliche Integral ex dx. Aus Symmetriegründen ist
−∞
klar,
R ∞ −xdass dieses Integral den gleichen Wert haben muss wie das vorhin berechnete Integral
0
e dx. Dies wird durch die Berechnung nach dem angegebenen Schema bestätigt: Eine
Berechnung bis zur unteren Grenze λ ∈ R liefert
Z 0
ex dx = ex |0λ = 1 − eλ
λ

41
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Im Grenzübergang λ → −∞ erhalten wir


Z 0 Z 0 
x
e dx = lim 1 − eλ = 1 + 0 = 1
x

e dx = lim
−∞ λ→−∞ λ λ→∞

Als letzte Klasse von uneigentlichen


R ∞ Integralen mit unendlichem Integrationsintervall be-
trachten wir Integrale vom Typ −∞ f (x) dx; diese werden durch Einfügen einer künstlichen
Integrationsgrenze c ∈ R (meistens c = 0, was aber nicht zwingend ist) in zwei Teilin-
tegrale zerlegt, die beide von einem der schon behandelten Typen sind. Wir schreiben
also Z ∞ Z c Z ∞
f (x) dx = f (x) dx + f (x) dx
−∞ −∞ c
R∞
und nennen das Integral I = −∞ f (x) dx konvergent, falls beide Teilintegrale konvergent
sind, und berechnen es zu
Z ∞ Z c  Z λ 
I= f (x) dx = lim f (x) dx + lim f (x) dx .
−∞ λ→∞ −λ λ→∞ c

Beispiel. Wir brerechnen das uneigentliche Integral


Z ∞
1
2
dx
−∞ 1 + x

indem wir es bei c = 0 in zwei Teile zerlegen, und erhalten


Z ∞ Z 0 Z ∞
1 1 1
2
dx = 2
dx + dx
−∞ 1 + x −∞ 1 + x 0 1 + x2
Aus Symmetriegründen ist klar, dass die beiden Teile den gleichen Wert haben (falls sie
konvergieren). Wir können damit (im Fall der Konvergenz) die Rechnung vereinfachen zu
Z ∞ Z ∞
1 1
2
dx = 2 · dx
−∞ 1 + x 0 1 + x2
Um das letzte Integral zu berechnen, gehen wir nach dem üblichen Schema vor und er-
halten zuerst für die obere Grenze λ ∈ R
Z λ
1
2
dx = arctan(x)|λ0 = arctan(λ) − 0 = arctan(λ)
0 1+x

und dann im Limes λ → ∞


Z ∞ Z λ 
1 1 π
dx = lim dx = lim (arctan(λ)) =
0 1 + x2 λ→∞ 0 1+x
2 λ→∞ 2
also insgesamt
∞ ∞
π
Z Z
1 1
dx = 2 · dx = 2 · = π
−∞ 1 + x2 0 1+x 2 2

42
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Bemerkung. Für gewisse uneigentliche Integrale gibt es Methoden zur analytischen Be-
rechnung, die selbst dann funktionieren, wenn es nicht möglich ist, eine Stammfunktion
des Integranden analytisch anzugeben. Diese Methoden benützen beruhen aber auf Hilfs-
mitteln, auf die wir hier nicht eingehen können (mehrfache Integale, komplexe Analysis).
Ein Beispiel ist das uneigentliche Integral
Z ∞
x2 √
e− 2 dx = 2π,
−∞

das in der Wahrscheinlichkeitstheorie von zentraler Bedeutung ist.


Z ∞
1
Beispiel. Wir untersuchen das uneigentliche Integral dx. Die endliche Approxima-
1 x
tion I(λ) berechnet sich zu
Z λ
1
I(λ) = dx = (ln |x|) |λ1 = ln(λ) − ln(1) = ln(λ).
1 x
R∞
Für λ → ∞ gilt lim ln(λ) = ∞, also ist das uneigentliche Integral 1 x1 dx divergent.
λ→∞
R∞
Bemerkung. Das Beispiel 1 x1 dx zeigt, dass ein uneigentliches Integral divergent sein
kann, obwohl der Integrand f (x) die Eigenschaft limx→∞ f (x) =R 0 hat. Umgekehrt ist

limx→∞ f (x) = 0 notwendig dafür, dass das uneigentliche Integral 1 f (x) dx konvergent
ist. Es gilt also die Implikation
Z ∞
f (x) dx konvergent =⇒ lim f (x) = 0,
1 x→∞

aber nichtPdie Umkehrung! Im übrigen gilt dieser Sachverhalt genauso für unendliche
Summen ∞ k=1 ak : Die Konvergenz
P limk→∞ ak = 0 ist notwendig, aber nicht hinreichend
für die Konvergenz der Summe ∞ k=1 ak .

Beispiel. Wir untersuchen, für welche Exponenten α ∈ R das uneigentliche Integral


Z ∞
1
dx
1 xα
konvergent ist, und berechnen den Wert des Integrals im Fall von Konvergenz. Wir haben
schon gesehen, dass das Integral für α = 1 divergent ist; deshalb können wir für die
Berechnung der Stammfunktionen im Folgenden die Annahme α ̸= 1 machen. Zunächst
berechnen wir das Integral mit oberer Grenze λ ∈ R:
Z λ Z λ   λ
1 −α 1 1
dx = x dx = x−α+1 = (λ−α+1 − 1)
1 xα 1 −α + 1 1 −α + 1

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Man beachte nun, dass der Grenzwert limλ→∞ λ−α+1 genau dann existiert, wenn der Ex-
ponent −α + 1 negativ ist, d.h. wenn α > 1 gilt (der Fall α = 1 wurde schon zu Beginn
ausgeschlossen). In diesem Fall, d.h. wenn
α>1
ist, gilt
Z ∞ Z λ
1 1
dx = lim dx
1 xα λ→∞ 1 x
α
 
1 −α+1
= lim (λ − 1)
λ→∞ −α + 1
1
= 0−
−α + 1
1
=
α−1
Man bemerke, dass die Rechnung
Z ∞
1 1
3
dx =
1 x 2
zu Beginn dieses Abschnitts sich nun als ein Spezialfall (nämlich α = 3) dieser allgemei-
neren Rechnung herausstellt.

4.3 Uneigentliche Integrale zweiter Art


Schliesslich betrachten wir jetzt noch Integrale mit einem Pol an einem Ende oder im
Innern des Integrationsintervalls.

Abbildung 4.3: Integrand mit einem Pol am Rand des Integrationsintervalls


R1
Beispiel. Gesucht ist das uneigentliche Integral 0 √1x dx. Eine Berechnung via Stamm-
funktionen liefert das Resultat
Z 1
1 √ 1
√ dx = 2 x 0 = 2.
0 x

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Dieses Resultat ist richtig, obwohl dieR b Berechnung eigentlich nicht zulässig ist, denn das
Konzept des bestimmten Integrals a f (x) dx setzt voraus, dass der Integrand auf dem
ganzen abgeschlossenen Integrationsintervall [a, b] stetig oder zumindest beschränkt ist,
was für die Funktion √1x auf [0, 1] nicht gegeben ist. Wir müssen also begründen, weshalb
dieses Verfahren in diesem Fall trotzdem funktioniert.
Rb
Wir betrachten nun allgemein die Situation eines Integrals a f (x)dx, bei dem der Inte-
grand f (x) auf dem halboffenen Intervall (a, b] definiert und stetig ist, bei x = a aber
einen Pol besitzt. Wie bei Integralen über einem unendlichen Integrationsintervall
Rb wird
ein solches Integral als Grenzwert eines gewöhnlichen Integrals a+ϵ f (x) dx für ϵ → 0
aufgefasst und berechnet. Konkret geht man folgendermassen vor:

1. Statt über das Intervall [a, b] integrieren wir über das Intervall [a + ϵ, b] für beliebige
ϵ > 0: Z b
I(ϵ) = f (x) dx.
a+ϵ

2. Das gesuchte Integral über dem unendlichen Intervall [a, b] ergibt sich als Grenzwert
limϵ→0 I(ϵ):
Z b Z b 
I= f (x) dx = lim I(ϵ) = lim f (x) dx
a ϵ→0 ϵ→0 a+ϵ

Rb
Wie vorher nennt man das uneigentliche Integral a
f (x)dx konvergent, falls der Limes
limϵ→0 I(ϵ) existiert, andernfalls divergent.
R1
Beispiel. Wir betrachten nochmals das uneigentliche Integral √1 dx. Wir integrieren
0 x
zuerst über [ϵ, b] und erhalten
Z 1
1 √ 1 √
√ dx = 2 x ϵ = 2 − 2 ϵ.
ϵ x
Im Grenzübergang ϵ → 0 ergibt sich
Z 1 Z 1
√

1 1
√ dx = lim √ dx = lim 2 − 2 ϵ = 2.
0 x ϵ→0 ϵ x ϵ→0

Die direkte“ Rechnung mit den Einsetzen der Polstelle x0 = 0 als Grenze in die Stamm-

funktion hat also das richtige Ergebnis gebracht.
Z 1
1
Beispiel. Wir untersuchen das uneigentliche Integral dx. Eine Integration über das
0 x
Intervall [ϵ, 1] liefert
Z 1
1
dx = (ln |x|)|1ϵ = 0 − ln(ϵ) = − ln(ϵ)
ϵ x

45
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Im Limes ϵ → 0 sehen wir, dass der Grenzwert


lim (− ln(ϵ))
ϵ→0
Z 1
1
in R nicht existiert, also ist das uneigentliche Integral dx divergent.
0 x
Man bemerke, dass wegen der Symmetrie des Graphen der Funktion y = x1 zur Hauptdia-
Z 1
1
gonalen y = x das uneigentliche Integral dx das gleiche Konvergenzverhalten haben
0 x Z ∞
1
muss wie das in Abschnitt 4.2 betrachtete uneigentliche Integral dx. Nun stellt sich
1 x
also heraus, dass die beiden Integrale beide divergent sind.
Bemerkung. Wenn sich der Pol des Integranden f (x) am rechten Ende oder im Innern
des Integrationsintervalls befindet, muss mit einem analogen Grenzprozess gearbeitet wer-
den. Wir verzichten auf weitere Details.
Beispiel. Wir untersuchen, für welche Exponenten α ∈ R das uneigentliche Integral
Z 1
1
α
dx
0 x

konvergent ist, und berechnen den Wert des Integrals im Fall von Konvergenz. Wir haben
schon gesehen, dass das Integral für α = 1 divergent ist; deshalb können wir für die
Berechnung der Stammfunktionen im Folgenden die Annahme α ̸= 1 machen. Zunächst
berechnen wir das Integral mit unterer Grenze ϵ > 0:
Z 1 Z 1  1
1 −α 1 −α+1 1
α
dx = x dx = x = (1 − ϵ−α+1 )
ϵ x ϵ −α + 1 ϵ −α + 1
Man beachte nun, dass der Grenzwert lim ϵ−α+1 genau dann existiert, wenn der Expo-
ϵ→0
nent −α + 1 positiv ist, d.h. wenn α < 1 gilt (der Fall α = 1 wurde schon zu Beginn
ausgeschlossen). In diesem Fall, d.h. wenn
α<1
ist, gilt
Z 1 Z 1 
1 1
dx = lim dx
0 xα ϵ→0 ϵ x
α
 
1 −α+1
= lim (1 − ϵ )
ϵ→0 −α + 1
1
= −0
−α + 1
1
=
1−α

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Man bemerke, dass die Rechnung


Z 1
1 1
√ dx =
0 x 2

zu Beginn dieses Abschnitts sich nun als ein Spezialfall (nämlich α = 21 ) dieser allgemei-
neren Rechnung herausstellt.
Interessant ist die Gegenüberstellung der Ergebnisse
Z λ
1 1
α
dx = (falls α > 1)
1 x α−1
und Z 1
1 1
α
dx = (falls α < 1)
0 x 1−α
Der Fall α = 1 Rist also der einzige Fall unter allen α ∈ R, für den sowohl das uneigentliche
λ R1
Integral 1. Art 1 x1α dx als auch das uneigentliche Integral 2. Art 0 x1α dx divergent sind.
Für alle α ̸= 1 ist genau eines der beiden uneigentlichen Integral konvergent.

Beispiel. Bei einem Pol c im Innern des Integrationsintervalls [a, b], d.h. für a < c < b,
betrachtet man gelegentlich auch den Cauchyschen Hauptwert
Z b Z c−ϵ Z b 
P.V. f (x) dx = lim f (x) dx + f (x) dx . (4.2)
a ϵ→0 a c+ϵ

Rb
Falls das uneigentliche Integral a f (x) dx im vorher betrachteten strengen Sinn kon-
vergent ist, so stimmt sein Wert mit dem durch (4.2) definierten Cauchyschen Haupt-
Rb
wert überein. Es kann jedoch vorkommen, dass ein uneigentliches Integral a f (x) dx im
strengen
R1 1 Sinn divergent ist, jedoch einen endlichen Cauchyschen Hauptwert hat, so z.B.
−1 x
dx.

47
Kapitel 5

Taylorreihen

Wenn an einem Punkt x0 die Tangente an einen Funktionsgraphen y = f (x) gelegt wird,
erhält man für die Tangente die Funktionsgleichung
y = f (x0 ) + f ′ (x0 ) · (x − x0 )
Die Tangente ist eine lineare Funktion, die an der Stelle x0 den gleichen Funktionswert und
die gleiche Steigung wie die gegebene Funktion hat. Wir haben es also mit einem Polynom
1. Grades p1 (x) zu tun, das an der Stelle x0 in allen Ableitungen bis und mit Grad 1 mit der
gegebenen Funktion übereinstimmt: Es gilt p(x0 ) = f (x0 ) (die Funktionswerte betrachtet
man in diesem Zusammenhang als nullte Ableitung) und p′ (x0 ) = f ′ (x0 ). Wenn wir nun
dieses Prinzip verallgemeinern, aber bessere Approximationen als die Tangente erhalten
wollen, müssen wir Polynome höherer Ordnung verwenden. Wenn wir Übereinstimmung
bis zum (Ableitungs-)Grad n verlangen, müssen wir Polynome vom Grad n verwenden.
Beispiel. Wir bestimmen ein Polynom p2 (x) vom Grad n = 2, das mit der Funktion
f (x) = ex an der Stelle x0 = 0 in den Ableitungen bis zur Ordnung 2 übereinstimmt.
Die Ableitungen 1. und 2. Ordnung von f (x) = ex sind f ′ (x) = f ′′ (x) = ex , also f (0) =
f ′ (0) = f ′′ (0) = 1. Ein beliebiges Polynom 2. Ordnung p2 (x) = a0 + a1 x + a2 x2 hat
die Ableitungen p′2 (x) = a1 + 2a2 x sowie p′′2 (x) = 2a2 , also p2 (0) = a0 , p′2 (0) = a1 und
p′′2 (0) = 2a2 . Aus den Forderungen f (0) = p2 (0), f ′ (0) = p′2 (0) und f ′′ (0) = p′′2 (0) erhalten
wir damit die Bedingungen
a0 = 1, a1 = 1, 2a2 = 1
und damit a0 = a1 = 1 sowie a2 = 21 , also insgesamt
x2
p2 (x) = 1 + x + .
2

5.1 Potenzreihen und Taylorreihen


Bevor wir eine Methode angeben, mit der man die Koeffizienten des gesuchten Polynoms
systematisch berechnen kann, beschäftigen wir uns mit der Frage, was geschieht, wenn

48
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dieser Prozess für n → ∞ fortgesetzt wird. Man erhält dann ein Polynom unendlichen
” P
Grades“, eine Potenzreihe. Im Unterschied zu den bekannten Reihen ∞ a
k=1 k handelt es
sich dabei nicht um Zahlen, sondern um Funktionen.
Definition 5.1.1. Eine Potenzreihe ist eine unendliche Reihe vom Typ

X
2
p(x) = a0 + a1 x + a2 x + . . . = ak x k (5.1)
k=0

Die reellen Zahlen a0 , a1 , . . . sind die Koeffizienten der Potenzreihe.


Eine allgemeinere Form von Potenzreihen entsteht durch Verschiebung um x0 , man spricht
dann von einer Potenzreihe mit Zentrum x0 :

X
p(x) = a0 + a1 (x − x0 ) + a2 (x − x0 )2 + . . . = ak (x − x0 )k (5.2)
k=0

Definiton (5.1) ist dann also der Fall x0 = 0 von (5.2). Oft genügt es für prinzipielle
Überlegungen, Reihen der Form (5.1) zu betrachten.
P∞
Bemerkung.
P∞ Im Unterschied zu den konstanten Reihen k=0 ak ist also eine Potenzreihe
k
a
k=0 k x für jeden Wert von x eine andere konstante Reihe, die je nach x konvergiert
oder divergiert. Die Menge
( ∞
)
X
x∈R ak xk ist konvergent
k=0

heisst Konvergenzbereich der Potenzreihe. Wir werden auf das Problem von dessen Be-
stimmung später zurückkommen, siehe Definition 5.3.1.
Beispiel. Die folgenden Reihen sind typische Potenzreihen:
a) Die Reihe
1 + x + x2 + x 3 + . . .
ist eine Potenzreihe mit Zentrum x0 = 0 und Koeffizienten ak = 1 für alle k ∈ N.
Gleichzeitig ist sie auch eine geometrische Reihe mit A = 1 und q = x.
b) Die Reihe
x2 x3
1+x+ + + ... (5.3)
2! 3!
1
ist eine Potenzreihe mit Zentrum x0 = 0 und Koeffizienten ak = k!
für alle k ∈ N.
c) Die Reihe
(x − 1)2 (x − 1)3 (x − 1)4
(x − 1) − + − ± ... (5.4)
2 3 4
(−1)k+1
ist eine Potenzreihe mit Zentrum x0 = 1 und Koeffizienten ak = k
für alle
k ∈ N∗ .

49
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Es geht nun darum, Potenzreihen zur Lösung des gestellten Approximationsproblems


zu verwenden: Wir wollen zu einer gegebenen Funktion f (x) eine Potenzreihe tf (x) fin-
den, die an einer bestimmten Stelle x0 (meistens x0 = 0) in allen Ableitungen mit f (x)
übereinstimmt.

Bemerkung. Potenzreihen können unabhängig vom eingangs gestellten Problem der


Approximation von gegebenen Funktionen betrachtet werden. Wir werden Potenzreihen
hauptsächlich zur Lösung dieses Approximationsproblems verwenden; es gibt aber auch
andere Anwendungen von Potenzreihen, z.B. zur Lösung von Differentialgleichungen.

Definition 5.1.2. Die Taylor-Reihe oder Taylor-Entwicklung einer Funktion y = f (x)


an der Stelle x0 ist die Potenzreihe

X
tf = ak (x − x0 )k , (5.5)
k=0

deren Ableitungen an der Stelle x0 für alle k ∈ N mit den Ableitungen von f (x) an der
Stelle x0 übereinstimmen. D.h. die durch (5.5) gegeben Potenzreihe erfüllt die Bedingun-
gen
(k)
f (k) (x0 ) = tf (x0 ), k ∈ N. (5.6)
Die reellen Zahlen a0 , a1 , a2 , . . . sind die Taylor-Koeffizienten von f (x). Im Fall x0 = 0
ist manchmal statt von einer Taylorreihe von einer MacLaurin-Reihe die Rede.
Wenn die Potenzreihe (5.5) nach dem Term n-ter Ordnung abgebrochen wird, erhält man
das Taylor-Polynom n-ter Ordnung von f (x) an der Stelle x0 . Dementsprechend gilt dann
die Gleichheit (5.6) nur für k = 0, . . . , n.

Bemerkung. Das Taylor-Polynom 1. Ordnung ist also genau die Tangente an die Funk-
tionskurve von y = f (x) an der Stelle x0 . Die bekannte Formel für diese Tangente,
y = f (x0 ) + f ′ (x0 ) · (x − x0 ), wird sich als Spezialfall der allgemeinen Formel für die
Berechnung der Taylor-Koeffizienten herausstellen, siehe Satz 5.2.1.

Bemerkung. Die Bedingung (5.6) gilt für alle k ∈ N, d.h. inklusive k = 0. In diesem Fall
wird gefordert, dass die Funktionswerte von f (x) und tf (x) für x = x0 übereinstimmen
sollen (die nullte Ableitung ist die Funktion selbst).

Beispiel (Fortsetzung). Gesucht ist die Taylorreihe tf (x) = ∞ m


P
m=0 am x der Funktion
x
f (x) = e an der Stelle x0 = 0. Das Taylorpolynom 2. Ordnung wurde schon bestimmt
2
zu p2 (x) = 1 + x + x2 . Die k-te Ableitung von f (x) ist f (k) (x) = ex für alle k ∈ N, also
f (k) (0) = 1 für alle k ∈ N. Die k-te Ableitung der zu bestimmenden Potenzreihe tf (x) ist

X
(k)
tf (x) = m · (m − 1) · (m − 2) · . . . · (m − k + 1)am xm−k
m=0

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(k)
und damit tf (0) = k(k − 1)(k − 2) . . . 2 · 1 · ak = k!ak (nur der Term in der Reihe mit
k = m verschwindet nicht beim Einsetzen von x = 0). Aus der Gleichsetzung von f (k) (0)
(k)
und tf (0) erhalten wir damit die Bedingungen k!ak = 1 und somit
1
ak = (5.7)
k!
Die gesuchte Taylorreihe tf (x) ist also

x2 x3 X xk
tf (x) = 1 + x + + + ... = (5.8)
2 3! k=0
k!

Die schon genannte Potenzreihe (5.3) erweist sich damit als Taylorreihe der Exponential-
funktion im Ursprung.
Wenn man die Reihe nach dem n-ten Gleid “abschneidet”, erhält man das Taylorpolynom
n-ter Ordnung von f (x) = ex im Ursprung:
n
X xk x2 x3 xn
pn (x) = =1+x+ + + ... +
k=0
k! 2 3! n!

Wie die folgende Grafki zeigt, approximieren die Taylorpolynome die Exponentialfunktion
umso besser, je höher der Grad des Polynoms ist.

Abbildung 5.1: Exponentialfunktion mit verschiedenen Taylorpolynomen

5.2 Berechnung der Taylor-Koeffizienten


Wir entwickeln nun eine systematische Methode, die Taylorkoeffizienten einer gegebenen
Funktion zu berechnen. Ausgangspunkt ist dabei die Bedingung (5.6). Wir gehen von
der allgemeinen Form (5.5) von Taylorreihen aus; der Einfachheit halber setzen wir von
vornherein x0 = 0 voraus, also wird (5.5) zu

X
tf = ak x k . (5.9)
k=0

51
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Wir berechnen nun sukzessive die Ableitungen von (5.9) und setzen dann x0 = 0 ein; die
Bedingung (5.6) liefert dann eine Formel für ak .
• k = 0: Aus (5.9) folgt

tf (0) = a0 + a1 · 0 + a2 · 02 + . . . = a0
| {z }
=0

P∞
• k = 1: Die 1. Ableitung von (5.9) ist t′f (x) = k=1 k · ak xk−1 , also erhalten wir
durch Einsetzen von x0 = 0

t′f (0) = a1 + 2 · a2 · 0 + 3 · a3 · 02 + . . . = a1
| {z }
=0

P∞
• k = 2: Die 2. Ableitung von (5.9) ist t′′f (x) = k=2 k(k − 1) · ak xk−2 , also erhalten
wir durch Einsetzen von x0 = 0

t′′f (0) = 2a2 + 3 · 2 · a3 · 0 + 4 · 3 · a4 · 02 + . . . = 2a2


| {z }
=0

• k = 3: Ebenso erhält man


(3)
tf (0) = 3 · 2a3 = 6a3
und allgemein

• k ∈ N beliebig: Die k-te Ableitung von (5.9) ist



X
(k)
tf (x) = m(m − 1) . . . (m − k + 1) · am xm−k ,
m=k

also erhalten wir durch Einsetzen von x0 = 0


(k)
tf (0) = k · (k − 1) . . . · 1 · ak = k!ak (5.10)

Dieselbe
P∞ Herleitung funktioniert auch im Fall von allgemeinen Taylorreihen der Form
k
tf = k=0 ak (x − x0 ) , d.h. für den Fall x0 ̸= 0: Auch dann gilt für alle k ∈ N
(k)
tf (x0 ) = k!ak (5.11)
(k)
Wegen der Forderung (5.6), d.h. f (k) (x0 ) = tf (x0 ), sind die Formeln (5.10) und (5.11)
eine Bestimmungsgleichung für die gesuchten Taylor-Koeffizienten ak : Wir erhalten

f (k) (x0 )
ak = , k ∈ N. (5.12)
k!
Insgesamt erhalten wir aus (5.12) das folgende Resultat:

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Satz 5.2.1. Die Taylorreihe einer beliebig oft differenzierbaren Funktion f (x) an der
Stelle x0 ist gegeben durch
f ′′ (x0 ) f (3) (x0 )
tf (x) = f (x0 ) + f ′ (x0 ) · (x − x0 ) + · (x − x0 )2 + · (x − x0 )3 + . . .
2! 3!

X f (k) (x0 )
= · (x − x0 )k
k=0
k!

Bemerkung. Wie schon erwähnt, gilt nicht automatisch tf (x) = f (x) für alle x ∈ R,
auch wenn die Taylorreihe tf (x) auf ganz R konvergiert.
Beispiel (Fortsetzung). Wenn man die Formel (5.12) auf die Funktion f (x) = ex an
der Stelle x0 = 0 anwendet, kommt man auf die schon gefundene Formel (5.7) für die
Taylorkoeffizienten der Exponentialfunktion und damit wieder auf die Taylorreihe (5.8)

X xk
tf (x) = .
k=0
k!

der Exponentialfunktion. Man kann im übrigen diese Reihe auch dazu verwenden, die
Exponentialfunktion zu definieren.
Beispiel. Gegeben ist ein Polynom f (x) = b0 +b1 x+. . .+bn−1 xn−1 +bn xn . Dieses Polynom
ist seine eigene Taylorreihe an der Stelle x0 = 0, wie wir nun zeigen. Es gilt
f (0) = b0 , f ′ (0) = b1 , f ′′ (0) = 2b2 , f (3) (0) = 6b3 , . . . , f (k) (0) = k! · bk (k ≤ n)
Eingesetzt in (5.12) erhalten wir
 f (k) (0) k!·bk
ak = k!
= k!
= ak (k ≤ n)
0 (k = n)

also tf (x) = b0 + b1 x + . . . + bn−1 xn−1 + bn xn = f (x) (und diese Gleichheit ist jetzt nicht
wie bei anderen Funktionen nur als Übereinstimmung der Funktionswerte zu verstehen,
sondern als Gleichheit der Funktionsdarstellung!). Dies ist eine schöne Bestätigung des
Prinzips “Approximation durch Polynom”: Wenn eine Funktion bereits ein Polynom ist,
ändert sich nichts, wenn man sie durch ein Polynom vom gleichen oder höheren Grad
“approximiert”.
Beispiel. Wir bestimmen die Taylorreihe der Funktion f (x) = ln(x) an der Stelle x0 = 1.
Es gilt

′ 1 ′′ −1 (3) 2 (k) (−1)k+1 (k − 1)!


f (x) = f (x) = 2 f (x) = 3 f (x) =
x x x xk
also f (1) = 0 sowie
f ′ (1) = 1, f ′′ (1) = −1, f (3) = 2, f (k) (x) = (−1)k+1 (k − 1)!

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und damit
1 1 (−1)k+1 (k − 1)! (−1)k+1
a0 = 0, a1 = 1, a2 = − , a3 = , ak = =
2 3 k! k
Die Taylorreihen ergibt sich zu

(x − 1)2 (x − 1)3 (x − 1)4


tln (x) = (x − 1) − + − ± ...
2 3 4
also genau die Reihe (5.4), die einleitend genannt wurde.
Graphisch ist ersichtlich, dass die Taylorpolynome mit höherem Grad die Logarithmus-
funktion ebenfalls immer besser approximieren, allerdings auf dem Intervall (0, 2). Dies
hat mit dem Konvergenzradius der Reihe zu tun, siehe nächsten Abschnitt.

Abbildung 5.2: Logarithmusfunktion mit verschiedenen Taylor-Polynomen

Beispiel. Wir bestimmen die Taylorreihen der Funktionen f (x) = cos(x) und f (x) =
sin(x) an der Stelle x0 = 0. Zunächst betrachten wir f (x) = cos(x). Es gilt

f ′ (x) = − sin(x) f ′′ (x) = − cos(x) f (3) (x) = sin(x) f (4) = cos(x) ...

also f (0) = 1 sowie

f ′ (0) = 0, f ′′ (0) = −1, f (3) = 0, f (4) (x) = 1, . . .

und damit
1 1 1
a0 = 1, a1 = 0, a2 = , a3 = 0, a4 = , a2k = , a2k+1 = 0
2 4! (2k)!

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Dies bedeutet konkret, dass alle Taylorkoeffizienten mit ungeradem Index verschwinden.
Die Taylorreihe des Cosinus wird damit zu

x2 x4 X x2k
tcos (x) = 1 − + ∓= (−1)k
2! 4! k=0
(2k)!

Auf ähnliche Art (diesmal verschwinden alle Taylorkoeffizienten mit geradem Index) erhält
man die Taylorreihe des Sinus:

x3 x5 X x2k+1
tsin (x) = x − + ∓= (−1)k (5.13)
3! 5! k=0
(2k + 1)!

Abbildung 5.3: Cosinus mit Taylorpolyno-


Abbildung 5.4: Sinus mit Taylorpolynomen
men

Symmetriebetrachtungen Die Beobachtung, dass bei Cosinus bzw. Sinus alle Koef-
fizienten mit ungeradem bzw. mit geradem Index verschwinden, ist ein Hinweis auf die
Symmetrie dieser beiden Funktionen. Konkret beobachten wir, dass sich die Symmetrie
einer Funktion auf ihre Taylorreihe mit Zentrum x0 = 0 überträgt:

• Falls die betrachtete Funktion eine gerade Funktion ist, d.h. falls sie die Bedingung
f (−x) = f (x) für alle x ∈ R erfüllt (falls also ihr Graph symmetrisch bzgl. der
y-Achse ist), enthält die Taylorreihe von f (x) an der Stelle x0 = 0 nur Potenzen mit
geraden Exponenten, d.h. es gilt a2k+1 = 0 für alle k ∈ N (z.B. f (x) = cos(x)).

• Falls die betrachtete Funktion eine ungerade Funktion ist, d.h. falls sie die Bedingung
f (−x) = −f (x) für alle x ∈ R erfüllt (falls also ihr Graph punktsymmetrisch
bezüglich des Ursprungs ist), enthält die Taylorreihe von f (x) an der Stelle x0 = 0
nur Potenzen mit ungeraden Exponenten, d.h. es gilt a2k = 0 für alle k ∈ N (z.B.
f (x) = sin(x)).

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Binomialreihe Wir betrachten die Funktion

f (x) = (1 + x)α (5.14)

für α ∈ R. Das bedeutet also, dass α nicht unbedingt eine natürliche Zahl sein muss. Der
Fall α ∈ N, d.h. die Funktion (1 + x)n , ist leicht verständlich, da die Funktion in diesem
Fall ein Polynom ist und daher (vgl. obiges Beispiel) seine eigene Taylorreihe an der Stelle
x0 = 0 ist. Es gilt nämlich für n ∈ N nach dem Binomischen Lehrsatz
n    
n
X n k n n!
(1 + x) = x , = (0 ≤ k ≤ n). (5.15)
k=0
k k k!(n − k)!

Falls aber α ∈ R \ N, ist die durch (5.14) definierte Funktion kein Polynom, kann aber in
eine Taylorreihe entwickelt werden, wie wir nun zeigen. Die dabei erhaltene Formel ähnelt
der binomischen Formel (5.15).
Durch Berechnen der Ableitungen von f (x) erhalten wir mit (5.12)

f (k) (0) α(α − 1)(α − 2) . . . (α − k + 1)


ak = =
k! k!
Wir definieren nun die verallgemeinerten Binomialkoeffizienten als
   
α α α(α − 1)(α − 2) . . . (α − k + 1)
= 1, = (α ∈ R, k ∈ N) (5.16)
0 k k!
und erhalten damit als Taylorreihe der durch (5.14) definierten Funktion f (x)
      ∞  
α α 2 α 3 X α k
tf (x) = 1 + x+ x + x + ... = x (5.17)
1 2 3 k=0
k

Die durch (5.17) definierte Potenzreihe heisst Binomialreihe. Man beachte jetzt die Be-
ziehung der bekannten binomischen Formel (5.15) mit der Binomialreihe (5.17): Im Fall
α ∈ N bricht die Reihe (5.17) ab und geht in das Polynom (5.15) über.
1
Beispiel. Wir betrachten den Fall α = −1, d.h. die Funktion f (x) = 1+x . Wir berechnen
die Binomialkoeffizienten (5.16) für diesen Fall,
       
−1 −1 −1 −1 (−1) · (−2) −1 (−1)(−2)(−3)
= 1, = = −1, = = 1, = = −1
0 1 1! 2 2! 3 3!
und allgemein  
−1 (−1)(−2) . . . (−k)
= = (−1)k
k k!
und sehen damit, dass die Taylorreihe (5.17) in diesem Fall die Reihe

1 − x + x2 − x3 ± . . . (5.18)

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ist. Nun wissen wir schon, dass die Reihe (5.18) eine geometrische Reihe ist und für
1
|x| < 1 konvergiert, mit unendlicher Summe 1+x . In diesem Fall erkennen wir die bekannte
geometrische Reihe (5.18) also als Beispiel einer Binomialreihe vom Typ (5.17). Anders
ausgedrückt: Die als unendliche geometrische Reihe bekannte Beziehung
1
= 1 − x + x2 − x3 ± . . . (|x| < 1)
1−x
1
erhält jetzt eine Neuinterpretation als Taylorreihe der Funktion f (x) = 1−x
.
Beispiel. Wir berechnen einige Terme der Binomialreihe im Fall α = 12 , d.h. für die

Funktion f (x) = 1 + x. Die ersten paar Koeffizienten sind
1 1 −1 1 −1 −3
· 2 · ·
       
1/2 1/2 2 1 1/2 2 1 1/2 1
= 1, = = , = =− , = 2 2 2 =
0 1 1! 2 2 2! 8 3 3! 16
Dies ergibt das Taylorpolynom 3. Ordnung
x x2 x3
p3 (x) = 1 + − +
2 8 16

der Funktion f (x) = 1 + x.
Beispiel (Integration). Taylorpolynome können dazu verwendet werden, Integrale ap-
proximativ zu berechnen, die dem gewöhnlichen Kalkül über Stammfunktionen nicht
zugänglich sind. Als Beispiel dazu betrachten wir das “Gauss’sche Fehlerintegral”
Z x
2
F (x) = e−t dt. (5.19)
0

Wir verwenden hier (ohne Beweis) die Tatsache, dass wir die Taylorreihe der Funktion
2
e−t erhalten, indem wir von der bekannten Taylorreihe texp (x) der Exponentialfunktion
2
ausgehen und anschliessend x = −t2 substituieren. Wenn wir also für e−t die Taylorreihe
(5.8) einsetzen, erhalten wir für den Integranden in (5.19) die Darstellung
2 t4 t6 t8
e−t ≈ 1 − t2 + − + ∓ ...
2! 3! 4!
Durch gliedweise Integration ergibt sich für das Integral (5.19)
Z x
2 x3 x5 x7 x9
F (x) = e−t dt ≈ x − + − + ∓ ...
0 3 5 · 2! 7 · 3! 9 · 4!
Für x = 1 ergibt sich der Wert

F (1) ≈ 0.746824132812427

Wenn man die Reihe nach dem 10. Term abbricht, erhält man eine Genauigkeit von 7
Nachkommastellen.

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5.3 Konvergenzradius
Wir beschäftigen uns jetzt mit der Frage, wie gut die Taylorreihe tf (x) bzw, die Taylor-
Polynome pn (x) einer Funktion f (x) diese Funktion approximieren. In verschiedenen Bei-
spielen haben wir gesehen, dass diese Approximation umso besser wird, je höher der Grad
des Polynoms ist; die Taylorreihe ergibt sogar oft die identischen Werte wie die Funktion.
Man sagt dann, dass die Funktion durch ihre Taylorreihe dargestellt wird.
Wir fragen also, für welche x ∈ R die Gleichung f (x) = tf (x) gilt. Dies kann nur dann
der Fall sein, wenn

i) die Taylorreihe tf (x) eine konvergente Reihe ist, und

ii) die Werte der Funktion und der konvergenten Reihe übereinstimmen.

Wir beschäftigen und hier nur mit der Frage i); wenn dies erfüllt ist, ist meistens auch ii)
wahr, zumindest in den für Anwendungen relevanten Beispielen.
Die Frage nach der Konvergenz einer Potenzreihe stellt sich unabhängig davon, ob diese
Potenzreihe die Taylorreihe einer gegebenen Funktion ist oder nicht. Sei also

X
p(x) = ak (x − x0 )k
k=0

eine Potenzreihe, vgl. (5.2).

Definition 5.3.1. Die Menge


( ∞
)
X
x ∈ R p(x) = ak (x − x0 )k ist konvergent
k=0

heisst der Konvergenzbereich der Potenzreihe p(x).

Der Konvergenzbereich ist also eine Teilmenge von R. Es ist naheliegend, dass ein x ∈ R
eher zum Konvergenzbereich gehört, wenn es nahe beim Entwicklungspunkt x0 der Po-
tenzreihe liegt, als wenn es weit davon entfernt ist. Tatsächlich ist der Konvergenzbereich
immer ein Intervall mit Zentrum x0 . Den Abstand zwischen x0 und dem Rand des Konver-
genzbereichs nennen wir den Konvergenzradius der Potenzreihe (von einem Radius spricht
man, weil in einer komplexen statt reellen Betrachtungsweise der Konvergenzbereich eine
Kreisscheibe ist).

Definition 5.3.2. Der Konvergenzradius ρ einer Potenzreihe p(x) = ∞ k


P
k=0 ak (x − x0 )
ist eine Zahl mit folgenden Eigenschaften:

• Für alle x ∈ R mit |x − x0 | < ρ konvergiert die Reihe p(x).

• Für alle x ∈ R mit |x − x0 | > ρ divergiert die Reihe p(x).

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Man beachte, dass über die Konvergenz in den Fällen |x − x0 | = ρ (d.h. reell x = x0 + ρ
oder x = x0 − ρ) keine allgemeine Aussage gemacht werden kann.
Satz 5.3.3. Sei ρ der Konvergenzradius einer Potenzreihe p(x) = ∞ k
P
k=0 ak (x − x0 ) . Der
(reelle) Konvergenzbereich von p(x) ist das Intervall (x0 − ρ, x0 + ρ) zusammen mit 0,1
oder 2 Randpunkten dieses Intervalls.
Bemerkung. Es können also folgende Extremfälle von Konvergenzradien auftreten:
• Konvergenzradius ρ = 0: Dann konvergiert die Reihe p(x) nur für x = x0 .
• Konvergenzradius ρ = ∞: Dann konvergiert die Reihe p(x) für alle x ∈ R.
Wie kann nun für eine gegebene Potenzreihe der Konvergenzradius
P∞ k ρ berechnet werden?
Wir erinnern daran, dass eine geometrische Reihe s(q) = k=0 q genau dann konvergiert,
wenn |q| < 1 gilt. Die Idee bei der Berechnung des Konvergenzradius einer beliebigen
Potenzreihe ist es nun, die gegebene Potenzreihe p(x) mit einer geometrischen Reihe s(q)
zu vergleichen und daraus Aussagen über den Konvergenzradius von p(x) zu gewinnen.
Auf diese Art erhält man eine von mehreren möglichen Formeln für ρ.
Satz 5.3.4. Der Konvergenzradius ρ einer Potenzreihe p(x) = ∞ k
P
k=0 ak (x − x0 ) kann mit
folgenden Formeln berechnet werden:
ak
ρ = lim (5.20)
k→∞ ak+1
oder
1
ρ = lim p
k→∞ k
|ak |
Diese Formeln sind beide richtig und ergeben das gleiche Resultat, wenn beide Grenz-
werte existieren; es kann aber vorkommen, dass einer (oder beide) Grenzwerte nicht de-
finiert sind. Falls beide Grenzwerte nicht definiert sind, muss auf kompliziertere Formeln
zurückgegriffen werden. Wenn es ein c > 0 gibt mit |ak | < ck für alle k ≥ k0 , so gilt ρ ≥ 1c .
Beispiel (Fortsetzung). Wir bestimmen den Konvergenzradius der Taylorreihe

X xk
tf (x) =
k=0
k!

(siehe (5.8)) der Funktion f (x) = ex an der Stelle x0 = 0. Wir wenden die Formel (5.20)
an und berechnen zunächst
1
ak k! (k + 1)!
= 1 = =k+1
ak+1 (k+1)!
k!
und erhalten somit
ak
ρ = lim = lim (k + 1) = ∞
k→∞ ak+1 k→∞

Diese Taylorreihe konvergiert also auf ganz R.

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Beispiel (Fortsetzung). Wir bestimmen den Konvergenzradius der Taylorreihe



X (−1)k+1
tln(x) = (x − 1)k
k=1
k

der Funktion f (x) = ln(x) an der Stelle x0 = 1. Wir wenden die Formel (5.20) an und
berechnen zunächst
(−1)k+1
ak k+1 1
= (−1)kk+2 = =1+
ak+1 k k
(k+1)

und erhalten somit  


ak 1
ρ = lim = lim 1 + =1
k→∞ ak+1 k→∞ k
Diese Reihe konvergiert also sicher auf dem offenen Intervall (0, 2), und sicher nicht für
x < 0 oder x > 2. Dies ist auch eine plausible Erklärung (wenn auch kein strenger
Beweis) für das in Abbildung 5.2 beobachtete Auseinanderdriften der Taylorpolynome
von y = ln(x) ausserhalb dieses Bereichs. Für die Randpunkte x = 0 und x = 2 des
Konvergenzbereichs müssen wir die Konvergenz noch separat untersuchen:
(−1)k+1
• x = 0: Wenn wir x = 0 in die Reihe ∞ (x − 1)k einsetzen, erhalten wir die
P
k=1 k
konstante Reihe
∞ ∞ ∞
(−1)k+1 (−1)2k+1
 
X
k
X X 1 1 1
(−1) = =− = − 1 + + + ...
k=1
k k=1
k k=1
k 2 3

Diese Reihe ist divergent (harmonische Reihe).


(−1)k+1
• x = 2: Wenn wir x = 2 in die Reihe ∞ (x − 1)k einsetzen, erhalten wir die
P
k=1 k
konstante Reihe
∞ ∞
X (−1)k+1 k
X (−1)k+1 1 1 1
1 = =1− + − ± ...
k=1
k k=1
k 2 3 4

Diese Reihe ist konvergent (alternierende harmonische Reihe), und der Summenwert
ist tatsächlich ln(2) (ohne Beweis).
Insgesamt hat die Taylorreihe von y = ln(x) bei x0 = 1 also den Konvergenzbereich (0, 2].
In diesen Beispielen haben wir innerhalb des Konvergenzbereichs eine perfekte Überein-
stimmung zwischen der Funktion und ihrer Taylorreihe. Beim Taylor-Polynom pn (x) ist
die Übereinstimmung im Allgemeinen nicht perfekt; man kann den Fehler, der durch das
Restglied
Rn (x) = f (x) − pn (x) (5.21)
dargestellt wird, aber folgendermassen abschätzen:

60
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Satz 5.3.5 (Restgliedformel nach Lagrange). Sei f : R → R mindestens (n+1)-mal stetig


differenzierbar, und sei pn (x) das Taylorpolynom n-ten Grades von f (x) an der Stelle x0 .
Dann gibt es ein ξ zwischen x0 und x, so dass für das durch (5.21) definierte Restglied
Rn (x) gilt:
f (n+1) (ξ)
Rn (x) = (x − x0 )n+1 (5.22)
(n + 1)!
Beispiel. Sei f zweimal stetig differenzierbar, n = 1. Das Taylorpolynom 1. Grades im
Entwicklungspunkt x0 , p1 (x) = f (x0 )+f ′ (x0 )·(x−x0 ), (d.h. die Tangente an den Graphen
von f an der Stelle x0 ) hat für x ≥ x0 die Fehlerschranke
|f ′′ (ξ)|
|p1 (x) − f (x)| ≤ max (x − x0 )2 .
ξ∈[x0 ,x] 2
Beispiel. Wir berechnen den maximalen Fehler, den man bei der Approximation von
2 3
f (x) = ex durch das Taylorpolynom 3. Ordnung, p3 (x) = 1 + x + x2 + x6 , auf dem
Intervall [0, 1] macht. Um die Formel (5.22) anzuwenden, schätzen wir folgendermassen
ab (n = 3):
f 4 (ξ) eξ e
max ≤ max ≤
ξ∈[0,1] 4! ξ∈[0,1] 4! 24
also ist der Fehler höchstens
e
R4 (x) ≤ · 14 ≈ 0.113
24
Tatsächlich erhalten wir durch Vergleich von f (x) und p3 (x) an der Stelle x = 1:
1 1 8
f (1) = e1 ≈ 2.718, p3 (1) = 1 + 1 + + = ≈ 2.667
2 6 3
einen Fehler von ≈ 0.51, also eine Bestätigung der durch die Restgliedformel erhaltenen
Abschätzung des Fehlers bei Approximation der Funktion durch das Taylorpolynom.

5.4 Grenzwertregel von Bernoulli-de l’Hospital


Die Entwicklung von Funktionen in Taylorreihen ermöglicht es, bestimmte Grenzwerte zu

berechnen, die zunächst von der Form 00 oder ∞ sind.
ex − 1 x2 − 4
Beispiel. Die Grenzwerte lim oder lim sind von dieser Art.
x→0 x x→∞ 2x2 + 3x + 7

Wir nehmen jetzt an, dass f (x0 ) = g(x0 ) = 0 gilt, und berechnen den Grenzwert
f (x)
lim , indem wir f (x) und g(x) an der Stelle x0 in eine Taylorreihe entwickeln. Im Fall
x→x0 g(x)
limx→0 f (x0 ) = limx→0 g(x0 ) = ∞ führt ein ähnliches Vorgehen zum Ziel. (Voraussetzung
ist natürlich, dass diese Taylorentwicklungen möglich sind.) Wir erhalten auf diese Art

61
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′′
f (x) f (x0 ) + f ′ (x0 )(x − x0 ) + f 2!(x0 )
(x − x0 )2 + . . .
= ′′ (x )
g(x) g(x0 ) + g ′ (x0 )(x − x0 ) + g 2! 0
(x − x0 )2 + . . .
f ′′ (x0 )
f ′ (x0 )(x − x0 ) + 2
(x − x0 )2 + . . .
= g ′′ (x0 )
g ′ (x0 )(x − x0 ) + 2
(x − x0 )2 + . . .
Wir können jetzt einen Faktor x − x0 kürzen und erhalten
f ′′ (x0 )
f (x) f ′ (x0 ) + 2!
(x − x0 ) + . . .
= g ′′ (x0 )
g(x) g ′ (x0 ) + (x − x0 ) + . . .
2!

Damit erhalten wir


f ′′ (x0 )
f (x) f ′ (x0 ) + 2!
(x − x0 ) + . . . f ′ (x0 )
lim = lim ′′ =
x→x0 g(x) x→x0 g ′ (x ) +
0
g (x0 )
(x − x0 ) + . . . g ′ (x0 )
2!

Damit haben wir die gesuchte Grenzwertregel erhalten:


Satz 5.4.1 (Grenzwertregel von Bernoulli-de l’Hospital). Die Funktionen f (x) und g(x)
seien an der Stelle x0 stetig differenzierbar. Für Grenzwerte, die auf einen unbestimmten
Ausdruck der Form 00 oder ∞ ∞
führen, gilt die Regel

f (x) f ′ (x)
lim = lim ′ (5.23)
x→x0 g(x) x→x0 g (x)
f ′ (x)
Bemerkung. Falls der neue Grenzwert lim immer noch von einer unbestimmten
x→x0 g ′ (x)
f ′′ (x)
Form ist, muss man die Regel nochmals anwenden, d.h. lim ′′ betrachten. Es gibt
x→x0 g (x)
aber auch Fälle, wo die Regel versagt, d.h. wo man nach beliebig vielen Ableitungen
immer bei unbestimmten Ausdrücken bleibt. Dann muss man versuchen, den verlangten
Grenzwert mit anderen Methoden zu bestimmen.
Beispiel. Wir berechnen den Grenzwert
ex − 1
lim
x→0 x
Gemäss (5.23) erhalten wir
ex − 1 ex
lim = lim =1
x→0 x x→0 1

Beispiel. Wir berechnen den Grenzwert


x2 − 4
lim
x→∞ 2x2 + 3x + 7

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Durch zweimalige Anwendung von (5.23) erhalten wir

x2 − 4 2x 2 1
lim 2
= lim = lim =
x→∞ 2x + 3x + 7 x→∞ 4x + 3 x→∞ 4 2
Manchmal muss ein Term zuerst etwas umgeformt werden, damit er in das Schema von
Satz 5.4.1 passt. Dies gilt insbesondere bei Grenzwerten der unbestimmten Form 0 · ∞
oder ∞ − ∞:
a) Wenn ein Grenzwert lim f (x) · g(x) von der Form 0 · ∞ ist, schreiben wir
x→x0

f (x)
f (x) · g(x) = 1 (5.24)
g(x)

(oder umgekehrt) und wenden dann Satz 5.4.1 an.

b) Wenn ein Grenzwert lim (f (x) − g(x)) von der Form ∞ − ∞ ist, schreiben wir
x→x0

1 1
g(x)
− f (x)
f (x) − g(x) = 1 (5.25)
f (x)·g(x)

und wenden dann Satz 5.4.1 an.


Beispiel. Wir berechnen den Grenzwert

lim (x2 · ln(x))


x→0

Dazu schreiben wir den Ausdruck x2 · ln(x) gemäss (5.24) zunächst als
ln(x)
x2 · ln(x) = 1
x2

und wenden dann die Regel an:


1  2
2 ln(x) x x
lim (x · ln(x)) = lim 1 = lim = lim − =0
x→0 x→0
x2
x→0 − x23 x→0 2

Beispiel. Berechnen Sie den Grenzwert


 
1 1
lim −
x→0 tan(x) x
1 1
Dazu schreiben wir den Ausdruck tan(x)
− x
gemäss (5.25) zunächst als

1 1 x − tan(x)
− =
tan(x) x x tan(x)

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und wenden dann Satz 5.4.1 zweimal an:


 
1 1 x − tan(x)
lim − = lim
x→0 tan(x) x x→0 x tan(x)

1 − (1 + tan2 (x))
= lim
x→0 tan(x) + x(1 + tan2 (x))

− tan2 (x)
= lim
x→0 x + tan(x) + x tan2 (x)

−2 tan(x)(1 + tan2 (x))


= lim
x→0 1 + 1 + tan2 (x) + tan2 (x) + 2x tan(x)(1 + tan2 (x))
0
= =0
2

64
Kapitel 6

Differentialgleichungen

6.1 Einführung
Viele Vorgänge in der Natur, aber auch in der Technik und in der Ökonomie lassen sich
durch dynamische Modelle beschreiben. Wenn ein solches Modell quantitativ formuliert
wird, erhält man oft eine Gleichung, in der eine Funktion, ihre Ableitungen und die
unabhängige Variable in irgendwelchen Kombinationen vorkommen. Solche Gleichungen
nennt man Differentialgleichungen (DGL) bzw. ordinary differential equations (ODE).
Differentialgleichungen sind also ein wichtiges Werkzeug, mit dem mathematische Modelle
realer Situationen erstellt werden.
Die wissenschaftliche Arbeit besteht nun sowohl im Aufstellen als auch im Lösen der
betreffenden DGL. Das Aufstellen einer DGL bzw. das Modellieren eines Anwendungs-
problems erfordert Wissen aus dem betreffenden Anwendungsbereich und wird hier nur
an einigen Beispielen vorgeführt. Das Lösen der erhaltenen DGL steht hier im Zentrum,
wobei Lösen“ in einem sehr allgemeinen Sinn zu verstehen ist. In den meisten Fällen

ist es nicht möglich, eine geschlossene Formel für die Lösung hinzuschreiben, sodass man
dann auf numerische Verfahren angewiesen ist. Einige wichtige Klassen von DGL können
aber analytisch gelöst werden (v.a. separierbare und lineare DGL). In allen Fällen sind
aber neben der Lösungsformel andere, eher qualitative Aspekte der Lösung von Interesse,
wie z.B. das asymptotische Verhalten für t → ∞, die Stabilität von Fixpunkten oder
Bifurkationen im Parameterbereich.
Eine Differentialgleichung hat im Allgemeinen unendlich viele Lösungen; die Lösung wird
erst eindeutig, wenn zusätzlich zur DGL auch eine oder mehrere Anfangsbedingungen
vorgegeben werden. Deshalb unterscheiden wir zwischen der Differentialgleichung an sich
und dem zu ihr gehörenden Anfangswertproblem. Wir sprechen von DGL n-ter Ordnung,
wenn in der DGL Ableitungen der gesuchten Funktion bis zur Ordnung n vorkommen.
Grob gesagt ist eine Differentialgleichung eine Gleichung, in der eine Funktion und ihre
Ableitungen bis zur Ordnung n sowie die unabhängige Variable auftauchen. Eine Lösung
einer DGL ist eine Funktion, durch die die DGL erfüllt wird. Präzise haben wir die
folgenden Definitionen:

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Definition 6.1.1. Sei I ⊆ R ein Intervall, Ω ⊆ I × Rn+1 ein Bereich und F : Ω → R eine
stetige Funktion. Eine Differentialgleichung n-ter Ordnung ist eine Gleichung

F (x, y, y ′ , y ′′ , . . . , y (n) ) = 0, (6.1)

für eine gesuchte Funktion y = y(x), in der Ableitungen von y(x) auftreten. Dabei ist der
Term F (x, y, y ′ , y ′′ , . . . , y (n) ) ein algebraischer Ausdruck, in welchem die gesuchte Funktion
y(x), ihre Ableitungen y ′ , y ′′ , . . . , y (n) sowie evtl. die unabhängige Variable x vorkommen.
Falls die DGL (6.1) nach y (n) aufgelöst ist, nennt man die DGL explizit, ansonsten implizit.
Eine explizite DGL n-ter Ordnung ist also von der Form

y (n) = G(x, y, y ′ , y ′′ , . . . , y (n−1) ). (6.2)

Beispiel. Gegeben ist die Differentialgleichung 1. Ordnung

y ′ = y.

Hier ist also F (x, y, y ′ ) = y ′ − y. Die Ableitung der gesuchten Funktion soll mit der
Funktion selbst übereinstimmen. Die Lösungen können erraten werden und sind

y = Cex , C ∈ R. (6.3)

Bemerkung. Oft ist I = R, Ω = R×Rn+1 und damit F : R×Rn+1 → R. Wir müssen aber
auch den Fall zu lassen, dass F (x, y, . . . , y (n) ) nicht für alle x ∈ R und (y, . . . , y (n) ) ∈ Rn
definiert ist.

Beispiel. Gegeben ist die Differentialgleichung 1. Ordnung


x
y′ = − .
y

Hier ist also F (x, y, y ′ ) = y ′ + xy . Die Lösungen können hier nicht unmittelbar erraten
werden.

Bemerkung. Die Lösung einer Differentialgleichung ist also nicht eine Zahl, sondern
eine Funktion, bzw. präzise: eine Menge von Funktionen. Im Allgemeinen ist die Lösung
einer Differentialgleichung nämlich erst dann eindeutig bestimmt, wenn zusätzlich zur
Gleichung noch ein oder mehrere Anfangswerte vorgegeben werden, man spricht dann
von einem Anfangswertproblem, siehe Definition 6.1.3.

Definition 6.1.2. Eine Lösung der Differentialgleichung (6.1) ist eine n mal differenzier-
bare Funktion y = y(x), für die die Gleichung (6.1) für alle x ∈ I erfüllt ist.

Damit die Lösung einer DGL n-ter Ordnung eindeutig ist, müssen für ein bestimmtes
x0 ∈ R im Allgemeinen n Anfangswerte y(x0 ), y ′ (x0 ), . . . , y (n−1) (x0 ) vorgegeben werden.

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Definition 6.1.3. Sei I ⊆ R ein Intervall, Ω ⊆ I × Rn+1 ein Bereich und F : Ω → R eine
stetige Funktion, und seien x0 , y0 , y1 , . . . , yn−1 ∈ R. Ein Anfangswertproblem einer DGL
n-ter Ordnung ist


 F (x, y, y ′ , y ′′ , . . . , y (n) ) = 0, (x, y, . . . y (n) ) ∈ Ω
y(x0 ) = y0




y ′ (x0 ) = y1 (6.4)
 ..


 .
y (n−1) (x ) = y


0 n−1

Wichtig sind insbesondere Anfangswertprobleme für explizite DGL 1. Ordnung, d.h. Pro-
bleme der Form
y ′ = F (x, y), (x, y, y ′ ) ∈ Ω ⊆ R × R2

(6.5)
y(x0 ) = y0 .

Neben Anfangswertproblemen kommen manchmal auch Randwertprobleme vor. Typi-


scherweise treten diese bei DGL 2. Ordnung auf, z.B. als Probleme der Form

 F (x, y, y ′ , y ′′ , . . . , y (n) ) = 0 (a < x < b)
y(a) = α
y(b) = β

für a < b und vorgegebene Werte α, β ∈ R. Wir behandeln diesen Typ von Problem nicht.
Bei Randwertproblemen treten völlig andere Phänomene auf als bei Anfangswertproble-
men, insbesondere gelten die Existenz- und Eindeutigkeitsaussagen für AWPs (Satz ??)
nicht mehr.

Beispiel (Fortsetzung). Gegeben ist das AWP

y′ = y


y(0) = 3

Die eindeutige Lösung dieses AWPs ist

y = 3ex . (6.6)

Definition 6.1.4. Die Menge aller Lösungen einer Differentialgleichung (6.1) nennt man
die allgemeine Lösung der DGL. Die Lösung eines Anfangswertproblems (6.4) nennt man
eine spezielle bzw. partikuläre Lösung der Differentialgleichung.

Beispiel (Fortsetzung). Die allgemeine Lösung der DGL y ′ = y ist durch (6.3) gegeben,
während (6.6) eine partikuläre Lösung dieser DGL ist.

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Bemerkung. Das Lösen von Differentialgleichungen ist eine Verallgemeinerung des Pro-
blems, unbestimmte Integrale zu finden. Bei einem unbestimmten Integral ist eine Funk-
tion f (x) gegeben, deren Stammfunktionen F (x) man finden möchte. Dies bedeutet aber
nichts anderes, als dass man Lösungen der Differentialgleichung

y ′ = f (x) (6.7)

sucht. Auch bei unbestimmten Integralen wird die Lösung erst durch die Vorgabe eines
Anfangswerts eindeutig.

Beispiel. Gegeben ist die Differentialgleichung

y ′ = x3 .

Die allgemeine Lösung dieser Differentialgleichung ist die Menge aller Stammfunktionen
von x3 , also die Funktionen
1
y = x4 + C, C ∈ R
4
Es gibt also unendlich viele Lösungen. Suchen wir die Lösung durch den Punkt P = (2, 1),
so wird C = −3, und wir erhalten die spezielle Lösung
1
y = x4 − 3.
4
Bemerkung. Im Unterschied zu unbestimmten Integralen muss die freie Konstante in
der allgemeinen Lösung einer Differentialgleichung freilich nicht immer eine Konstante
sein, die addiert wird; sie kann auch multipliziert werden oder in irgendeiner anderen
Form in der Lösung vorkommen, vgl. (6.3).

Bevor wir uns Lösungsmethoden für einige Klassen von Differentialgleichungen zuwen-
den, diskutieren wir zuerst einige wichtige Anwendungsbeispiele von Differentialgleichun-
gen und geben anschliessend Kriterien an, nach denen Differentialgleichungen klassifiziert
werden können. Wir betonen aber, dass es für viele Differentialgleichungen keine analyti-
schen, sondern lediglich numerische Lösungsmethoden gibt.

Radioaktiver Zerfall Sei N (t) die Konzentration einer radioaktiven Substanz. Die
Zerfallsrate Ṅ (t) der Substanz ist proportional zur momentanen Konzentration N (t), mit
einer Proportionalitätskonstante k. Dies führt zur Differentialgleichung Ṅ (t) = −k · N (t).
Zusammen mit der Anfangskonzentration N (0) = N0 ergibt sich dabei das Anfangswert-
problem 
Ṅ (t) = −k · N (t)
(6.8)
N (0) = N0

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Fadenpendel Wir betrachten einen Massenpunkt der Masse m, der reibungsfrei an ei-
nem Faden der Länge l pendelt. Gesucht ist der Ausschlag ϕ(t) als Funktion der Zeit. Wir
analysieren die in dem System vorkommenden Kräfte und leiten dann mit dem Newton-
schen Gesetz F⃗ = m · ⃗a eine Differentialgleichung für ϕ(t) her. An der Masse wirkt die
Gewichtskraft F⃗G , welche sich in eine radiale und eine tangentiale Komponente aufteilt,

F⃗G = F⃗rad + F⃗tan .

Wir müssen nur die tangentiale Komponenten F⃗tan


berücksichtigen, da die radiale Komponente F⃗rad durch ei-
ne entsprechende Gegenkraft des Fadens kompensiert wird.
Die tangentiale Komponente F⃗tan wirkt der Auslenkung ent-
gegen und ist gegeben durch

F⃗tan = −|F⃗G | · sin(ϕ) = −mg sin(ϕ).

Zwischen der Beschleunigung a(t) und der Auslenkung ϕ(t)


besteht der Zusammenhang

a(t) = v̇(t) = lω̇(t) = lϕ̈(t).

Für die Bewegung des Pendels ergibt sich aus F⃗ = m · ⃗a


bzw. aus der tangentialen Komponente dieses Gesetzes also
die Gleichung −mg sin(ϕ) = mlϕ̈ oder nach Vereinfachung
Abbildung 6.1: Fadenpendel
l · ϕ̈ + g · sin(ϕ) = 0. (6.9)

Diese Differentialgleichung wird erst dann analytisch lösbar, wenn die Taylor-
Approximation 1. Ordnung sin(ϕ) ≈ ϕ vorgenommen wird (siehe Kapitel 5), womit die
nichtlineare DGL (6.9) in die lineare DGL

l · ϕ̈ + g · ϕ = 0 (6.10)

übergeht, welche einfach gelöst werden kann.

Elektrischer Schwingkreis Wir betrachten einen elektrischen RLC-Schwingkreis aus


einer Spule L, einem Kondensator C und einem Widerstand R ohne externe Anregung.
Aus den Kirchhoffschen Regeln für den Schwingkreis ergibt sich das System

L · i′ (t) = −u(t) − R · i(t)


C · u′ (t) = i(t)

von DGL für die Spannung u(t) im Kondensator und den Strom i(t) in der Spule.

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Durch Elimination von u(t) erhält man daraus die Differentialgleichung


R ′ 1
i′′ (t) + i (t) + i(t) = 0 (6.11)
L LC
für den Strom i(t). Falls von aussen zusätzlich eine Spannung ua (t)
angelegt wird, ergibt sich anstelle von (6.11) die Differentialgleichung
R ′ 1 1
i′′ (t) + i (t) + i(t) = ua (t). (6.12)
L LC L
Die Gleichungen (6.11) und (6.12) sind die Grundmuster für homo- Abbildung 6.2:
gene bzw. inhomogene lineare Differentialgleichungen 2. Ordnung mit Schwingkreis
konstanten Koeffizienten.

Freier Fall, Luftwiderstand, Erdbeschleunigung Beim freien Fall ohne Luftwider-


stand wirkt einzig die Gewichtskraft auf den fallenden Körper, d.h. aus dem Newtonschen
Gesetz F = m · a folgt mit F = FG = m · g, dass der fallende Körper die konstante Be-
schleunigung a = g hat, d.h. für die Fallgeschwindigkeit v(t) gilt die Differentialgleichung

v̇(t) = g. (6.13)

Die allgemeine Lösung dieser Differentialgleichung ist v(t) = gt + C, wobei C ∈ R ei-


ne beliebige Konstante ist. Um diese Konstante C zu bestimmen, müssen wir noch die
Anfangsgeschwindigkeit v0 vorgeben, d.h. wir stellen das Anfangswertproblem

v̇ = g
v(0) = v0

und erhalten die Lösung v(t) = gt + v0 .


Wenn wir nun beim fallenden Körper auch den Luftwiderstand berücksichtigen, wirkt auf
den Körper nicht nur die Gewichtskraft mg, sondern auch eine Reibungskraft, welche der
Fallrichtung entgegengesetzt ist und von der wir annehmen, dass sie proportional zum
Quadrat1 der Fallgeschwindigkeit ist, FR = −k · v 2 . Die vollständige Bewegungsgleichung
lautet dann
m · a = m · g − k · v2.
Für die Fallgeschwindigkeit v(t) ergibt sich damit anstelle von (6.13) die Differentialglei-
chung
k
v̇(t) = g − · v2. (6.14)
m
Diese DGL (6.14) des freien Falls mit Luftwiderstand ist schon erheblich schwieriger zu
lösen als die DGL (6.13) des freien Falls ohne Luftwiderstand.
1
Man kann auch annehmen, dass sie zur Fallgeschwindigkeit linear proportional ist, was auf ein anderes,
aber qualitativ ähnliches Modell führt.

70
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Klassifikation Differentialgleichungen können nach verschiedenen Kriterien klassifiziert


werden. Neben der Ordnung einer DGL interessieren wir uns dafür, ob eine DGL linear,
homogen, separierbar oder autonom ist; man beachte, dass sich diese Eigenschaften nicht
gegenseitig ausschliessen, umgekehrt kann eine DGL auch gar keines dieser Merkmale
erfüllen.

Definition 6.1.5. • Eine Differentialgleichung n-ter Ordnung linear, falls sie auf die
Form
an (x) · y (n) + . . . + a1 (x) · y ′ + a0 (x) · y = g(x) (6.15)
gebracht werden kann, wobei an (x), . . . , a1 (x), a0 (x) und g(x) fest vorgegebene
Funktionen sind.

• Eine lineare Differentialgleichung vom Typ (6.15) heisst homogen, falls g(x) = 0 gilt
für alle x ∈ I; sonst heisst die DGL inhomogen, und g(x) ist die Inhomogenität oder
Störfunktion.

• Eine lineare Differentialgleichung vom Typ (6.15) hat konstante Koeffizienten, falls
die Funktionen an (x), . . . , a1 (x), a0 (x) konstant sind, d.h. falls die DGL von der
Form
an · y (n) + . . . + a1 · y ′ + a0 · y = g(x) (6.16)
ist, mit an ̸= 0 (von der Störfunktion g(x) verlangt man also nicht, dass sie konstant
ist).

Die Unterscheidung zwischen homogenen und inhomogenen DGL kann oft auch physika-
lisch verstanden werden: Homogene DGL beschreiben Systeme, die sich selbst überlassen
werden, während Systeme, die extern angeregt werden, durch inhomogene DGL beschrie-
ben werden. Homogene DGL sind einfacher zu lösen als inhomogene, manchmal braucht
man aber für die Lösung einer inhomogenen Gleichung die Lösung der zugehörigen ho-
mogenen Gleichung.

Beispiel.

a) y ′ = f (x) Inhomogene lineare DGL für y(x) mit Störfunktion f (x)


b) m · v̇ = m · g − k · v 2 Nichtlineare DGL für v(t)
c) l · ϕ̈ + g · sin(ϕ) = 0 Nichtlineare DGL für ϕ(t)
d) l · ϕ̈ + g · ϕ = 0 Homogene lineare DGL für ϕ(t)
e) l · ϕ̈ + g · ϕ = sin(ωt) Inhomogene lineare DGL für ϕ(t) mit Störfunktion sin(ωt)
f) i′′ + RL
i′ + LC
1
i=0 Homogene lineare DGL für i(t)

Ein wichtiger Spezialfall sind explizite DGL 1. Ordnung, d.h. DGL der Form (vgl. (6.5))

y ′ = F (x, y). (6.17)

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Definition 6.1.6. • Die DGL (6.17) heisst separierbar, falls F (x, y) also Produkt
eines x- und eines y-Anteils geschrieben werden kann, d.h. falls die DGL von der
Form
y ′ = g(x) · h(y) (6.18)
ist, für irgendwelche Funktionen g(x) und h(y).
• Die DGL (6.17) heisst autonom, falls F (x, y) nur von y abhängt, d.h. falls die DGL
von der Form
y ′ = f (y) (6.19)
ist.
Physikalisch bedeutet die Autonomie einer DGL, dass sie einen Zustand beschreibt, dessen
Änderungsrate nur vom momentanen Zustand und nicht explizit von der Zeit abhängt.
Bemerkung. Jede autonome DGL ist auch separierbar, denn (6.19) geht mit g(x) = 1 in
die Form (6.18) über. Viele wichtige Anwendungen führen auf autonome DGL; wir werden
ein Lösungsverfahren für separierbare DGL entwickeln, das damit auch auf autonome
DGL anwendbar ist. Hingegen sind DGL vom Typ ünbestimmtes Integral”, d.h. (6.7),
zwar ebenfalls separierbar (mit h(y) = 1), aber nicht autonom.
Beispiel. Die DGL (6.8) des radioaktiven Zerfalls ist autonom, ebenso die DGL (6.13)
und (6.14) des freien Falls mit und ohne Luftwiderstand.

6.2 Geometrische Verfahren


Wir betrachten nun eine geometrische Art, wie man explizite DGL 1. Ordnung verstehen
kann; dies führt nicht zu Lösungsformeln, aber oft zu einem guten qualitativen Verständnis
der durch die DGL beschriebenen Situation. Wie schon erwähnt, sind solche DGL allge-
meine von der Form (6.17), d.h.
y ′ = F (x, y). (6.20)
Geometrisch kann die Darstellung y ′ = F (x, y) folgendermassen interpretiert werden:
Jedem Punkt (x, y) im betrachteten Bereich B wird durch F (x, y) ein Wert zugeordnet,
der die Steigung der Lösungskurve durch diesen Punkt (x, y) angibt. Damit erhält man
das Richtungsfeld der Differentialgleichung.

Abbildung 6.3: Verschiedene Richtungsfelder

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Die Differentialgleichungen zu lösen, bedeutet dann geometrisch also, zu einem gegebenen


Richtungsfeld Lösungskurven y(x) suchen, die an jeder Stelle x die durch das Richtungsfeld
vorgegebene Steigung F (x, y(x)) haben.

Beispiel. Die folgende Skizze zeigt das Richtungsfeld der Differentialgleichung y ′ = x−y.

Abbildung 6.4: Richtungsfeld einer Differentialgleichung

Die allgemeine Lösung dieser Differentialgleichung ist durch y = C · e−x + x − 1 gegeben.


Wenn wir diese Lösungen für verschiedene Werte von C ins Richtungsfeld einzeichnen,
sehen wir, dass die Richtungsfeldvektoren tatsächlich tangential zu den Lösungskurven
sind.

Abbildung 6.5: Richtungsfeld einr Differentialgleichung mit einigen Lösungskurven

Oft kann die ungefähre Art der Lösung auch in Fällen ermittelt werden, wo keine explizite
Lösungsformel zur Verfügung steht.

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Beispiel. Die Differentialgleichung

ẋ = sin(tx)

ist analytisch nicht lösbar. Aus dem Richtungsfeld können die Lösungskurven aber etwa
abgelesen werden.

Abbildung 6.6: Richtungsfeld einr Differentialgleichung mit einigen Lösungskurven

Man beachte, dass im Fall von DGL des Typs Unbestimmtes Integral“ die rechte Seite von

y ′ = F (x, y) nicht von y abhängt und damit das Richtungsfeld ebenfalls y-unabhängig ist,
vgl. (6.7). Umgekehrt ist das Richtungsfeld x-unabhängig im Fall von autonomen DGL,
bei denen die rechte Seite von y ′ = F (x, y) nicht von x abhängt, vgl. (6.19).

Abbildung 6.7: Unbestimmtes Integral Abbildung 6.8: Autonome DGL

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Konstante Lösungen von autonomen DGL Bei autonomen DGL, d.h. DGL vom
Typ
y ′ = f (y), (6.21)
vgl. (6.19), spielen konstante Lösungen eine wichtige Rolle. Falls f (y0 ) = 0 gilt, ist

y = y0 (6.22)

eine konstante Lösung der DGL (6.21), denn für konstante Funktionen ist die Ableitung
gleich Null, also sind für die Funktion (6.22) sowohl die linke als auch die rechte Seite von
(6.21) gleich Null.
Beispiel. Die DGL
y ′ = y(y − 2)(y − 5)
hat die konstanten Lösungen y1 = 0, y2 = 2, y3 = 5. Eine Betrachtung von verschiedenen
Lösungen der DGL zeigt nun, dass es stabile und instabile konstanten Lösungen gibt:

Abbildung 6.9: Stabile und instabile konstante Lösungen

Die konstanten Lösungen y1 = 0 und y3 = 5 stossen benachbarte Lösungen ab, d.h. sie
sind instabil, während die konstante Lösung y2 = 2 benachbarte Lösungen anzieht, d.h.
stabil ist. Dies lässt sich auch am Graphen der Funktion f (y) = y(y − 2)(y − 5) ablesen:

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Abbildung 6.10: Zum Vorzeichen von y ′

Aus Abbildung (6.10) ist ersichtlich, dass y ′ positiv ist für 0 < y < 2 sowie y > 5. Wenn wir
also die DGL mit einem Anfangswert zwischen 0 und 2 lösen, sind wir immer im Bereich
positiver Werte von y ′ , d.h. die Lösung ist immer monoton steigend und konvergiert gegen
die stabile konstante Lösung y = 2. Wenn wir die DGL hingegen mit einem Anfangswert
zwischen 2 und 5 lösen, sind wir immer im Bereich negativer Werte von y ′ , d.h. die Lösung
ist immer monoton fallend und konvergiert ebenso gegen die stabile konstante Lösung
y = 2. Ebenso sieht man, dass die konstanten Lösung y = 0 und y = 5 instabil sind, da
sich Lösungen mit einem nahe gelegenen Anfangswert wegen entsprechender Vorzeichen
von y ′ immer weiter von diesen konstanten Lösungen entfernen.
Neben stabilen und instabilen konstanten Lösungen gibt es auch semistabile konstante
Lösungen, d.h. konstante Lösungen, die benachbarte Lösungen auf der einen Seite anzie-
hen und auf der anderen Seite abstossen.
Beispiel. Wir finden und klassifizieren Sie die konstanten Lösungen der DGL
y ′ = y 2 (y − 1)
Die konstanten Lösungen sind die Nullstellen der Funktion f (y) = y 2 (y − 1), also y1 = 0
und y2 = 1. Um deren Stabilität zu bestimmen, betrachten wir den Graphen der Funktion
f (y):

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Durch die Betrachtung des Vorzeichens von f (y) (und damit des Wachstumsverhaltens
von Lösungen der DGL) in der Nähe der Fixpunkte stellen wir fest, dass y1 = 0 ein
semi-stabiler und y2 = 1 ein instabiler Fixpunkt der DGL ist. Dies wird auch durch das
Richtungsfeld der DGL bestätigt:

Abbildung 6.11: Semistabile und instabile konstante Lösungen

6.3 Analytische Verfahren


Separierbare Differentialgleichungen Wir erinnern an die Definition (6.18) von se-
parierbaren DGL: Wenn sich eine explizite DGL 1. Ordnung y ′ = f (x, y) in der Form

y ′ = g(x) · h(y) (6.23)

darstellen lässt, ist sie separierbar. Wichtige Spezialfälle sind unbestimmte Integrale, bei
denen auf der rechten Seite von (6.23) kein y vorhanden ist

y ′ = g(x), (6.24)

und autonome DGL, bei denen auf der rechten Seite von (6.23) kein x-Anteil vorhanden
ist,
y ′ = h(y).
Eine DGL vom Typ (6.24) lässt sich durch eine einzige Integration lösen, und man erhält
als allgemeine Lösung Z
y = g(x) dx.

Im allgemeinen Fall (6.23) müssen wir die DGL hingegen zuerst geeignet umformen, bevor
wir integrieren können. Wir demonstrieren das Vorgehen zur Lösung einer separierbaren
DGL zunächst anhand eines Beispiels.

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Beispiel. Wir bestimmen die allgemeine Lösung der Differentialgleichung y ′ = − xy . Dem


Richtungsfeld der DGL entnehmen wir die Vermutung, dass die Lösungskurven Halbkreise
sind; diese Vermutung wollen wir nun rechnerisch bestätigen.

Abbildung 6.12: Richtungsfeld der Differentialgleichung y ′ = − xy

• Wir schreiben die Gleichung als


dy x
=− .
dx y

• Wir bringen alle x-Terme auf die linke Seite und alle y-Terme auf die rechte Seite:

y dy = −x dx.

• Wir integrieren auf beiden Seiten unbestimmt und erhalten


Z Z
1 1
ydy = − xdx =⇒ y 2 = − x2 + C, C ∈ R.
2 2
Eigentlich würden links und rechts je eine Integrationskonstante C1 bzw. C2 an-
fallen, aber wir können diese beiden Konstanten zu einer einzigen Konstanten C
zusammenfassen.

• Wir lösen nach y auf und erhalten



y = ± K − x2 , K ∈ R (wobei K = 2C).

Die Lösungen sind also konzentrische Halbkreise um den Ursprung, wie aufgrund
des Richtungsfelds vermutet.

78
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Wir können also das Vorgehen zur Lösung von separierbaren Differentialgleichungen der
Form y ′ = g(x) · h(y) folgendermassen beschreiben:

• Wir schreiben die Gleichung als


dy
= g(x) · h(y).
dx

• Wir schauen zuerst, ob die Funktion h(y) eine Nullstelle y0 hat, d.h. wir untersuchen
die Gleichung h(y0 ) = 0. Für ein solches y0 ist y = y0 eine (konstante) Lösung der
gegebenen DGL, die durch das im Folgenden beschriebene Separationsverfahren oft
nicht gefunden wird; vgl. die Diskussion von konstanten Lösungen in Abschnitt 6.2.

• Wir bringen alle x-Terme auf die linke und alle y-Terme auf die rechte Seite. Ins-
besondere behandeln wir die infinitesimalen Grössen dx und dy als gewöhnliche
Rechengrössen:
1
dy = g(x) dx.
h(y)
• Wir integrieren auf beiden Seiten unbestimmt,
Z Z
1
dy = g(x) dx. (6.25)
h(y)

• Wir lösen nach die entstandene Gleichung nach y auf und erhalten die allgemeine
Lösung der Differentialgleichung. Durch die bei der Integration entstandene Integra-
tionskonstante wird die Schar der Lösungskurven parametrisiert. Falls eine Anfangs-
bedingung gegeben ist, bestimmen wir die Konstante durch Einsetzen der Anfangs-
bedingung, ähnlich wie bei Integralen. Alternativ können wir bei einer gegebenen
Anfangsbedingung y(x0 ) = y0 anstelle der unbestimmten Integrationen (6.25) direkt
mit unteren Grenzen x0 bzw. y0 integrieren,
Z y Z x
1
ds = g(t) dt. (6.26)
y0 h(s) x0

Wir können das Verfahren folgendermassen zusammenfassen (erinnern aber nochmals


daran, dass allfällige konstante Lösungen separat gesucht werden müssen).

Satz 6.3.1. Seien g(x), x ∈ I und h(y), y ∈ J stetige Funktionen auf offenen Intervallen
I ⊆ R bzw. J ⊆ R, und seien x0 ∈ I und y0 ∈ J, mit h(y0 ) ̸= 0. Dann hat das
Anfangswertproblem
y ′ = g(x)h(y)


y(x0 ) = y0
genau eine Lösung. Diese ergibt sich durch Auflösen von (6.26) nach y.

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Beispiel. Wir bestimmen die allgemeine Lösung der Differentialgleichung

y′ = x · y

sowie die Lösung zum Anfangswert y(0) = 1. Die einzige konstante Lösung der DGL ist
y = 0, sie erfüllt aber nicht die gegebene Anfangsbedingung. Das Separationsverfahren
läuft bei diesem Beispiel folgendermassen ab: Es gilt g(x) = x und h(y) = y. Separation
der Variablen liefert Z Z
1
dy = x dx.
y
Durch Ausführen der Integration erhalten wir
x2
ln |y| = +C (C ∈ R)
2
Auflösen nach y liefert (man beachte, dass das ± wegen des Weglassens der Betragsstriche
erforderlich ist)
x2
y = ±e 2 +C
Durch das Zusammenfassen von ±eC zu einer neuen Konstanten K erhalten wir die all-
gemeine Lösung
x2
y = Ke 2 (K ∈ R)
Einsetzen der Anfangsbedingung y(0) = 1 in die allgemeine Lösung liefert K = 1 und
damit die Lösung
x2
y=e2
des Anfangswerproblems.
Wir können nun einige der in Abschnitt 6.1 beschriebenen Beispiele lösen.
Beispiel. Gemäss (6.8) ist die Differentialgleichung des radioaktiven Zerfalls mit Zerfalls-
konstante k durch
Ṅ (t) = −k · N (t)
gegeben. Wir geben zusätzlich die Anfangsbedingung N (0) = N0 vor (wobei N0 ̸= 0). Wir
lösen dieses Anfangswertproblem durch Separation der Variablen.
Die konstante Lösung der DGL N = 0 entspricht nicht der gegebenen Anfangsbedingung.
Das Separationsverfahren läuft bei diesem Beispiel folgendermassen ab: Es gilt g(t) = −k
und h(N ) = N (die Konstante −k könnte auch zu h(N ) hinzugenommen werden, ohne
dass sich das Endergebnis ändert). Separation der Variablen liefert
Z Z
1
dN = (−k) dt.
N
Durch Ausführen der Integration erhalten wir

ln |N | = −kt + C (C ∈ R)

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Auflösen nach N liefert (man beachte, dass das ± wegen des Weglassens der Betragsstriche
erforderlich ist)
N = ±e−kt+C
Durch das Zusammenfassen von ±eC zu einer neuen Konstanten M erhalten wir die
allgemeine Lösung
N = M e−kt (M ∈ R)
Einsetzen der Anfangsbedingung N (0) = N0 in die allgemeine Lösung liefert M = N0
und damit die Lösung
N = N0 e−kt
des Anfangswerproblems.
Die Halbwertzeit T ist die Zeit, die verstreicht, bis die ursprünglich vorhandene Masse auf
die Hälfte abgesunken ist. Sie kann durch Auflösen von N20 = N0 e−kT ermittelt werden und
beträgt T = ln(2)
k
, ist also unabhängig von der Masse am Anfang und nur vom radioaktiven
Material (dessen Eigenschaften in der Konstanten k enthalten sind) abhängig.

Beispiel (Freier Fall). Der freie Fall ohne Luftwiderstand wird durch die DGL (6.13),
v̇ = g, für die Fallgeschwindigkeit v(t) modelliert; diese DGL ist vom Typ unbestimmtes
Integral. Zusammen mit der Anfangsbedingung v(0) = 0 (Fall aus der Ruhelage) ergibt
sich daraus die Lösung v(t) = gt.
Der freie Fall eines Körpers mit Luftwiderstand wird hingegen durch die DGL (6.14),

m · v̇ = m · g − k · v 2 ,
k
für die Fallgeschwindigkit v(t) modelliert. Mit der Konstanten α2 = mg
lässt sich dies als

dv
= g(1 − α2 v 2 ).
dt
schreiben. Auch hier beachten wir zunächst, dass es die konstanten Lösungen v = ± α1 gibt.
Während v = − α1 physikalisch irrelevant ist (die Fallgeschwindigkeit ist in physikalisch
relevanten Situationen nicht negativ), ist v = α1 derjenige Wert der Fallgeschwindigkeit,
bei dem sich die Gravitations- und die Reibungskraft gerade gegenseitig aufhaben. Wir
kommen am Ende der nun folgenden Rechnung nochmals auf diese konstante Lösung
zurück.
Nach Separation der Variablen und Integration erhalten wir
Z Z
dv
= g dt = gt + C, C ∈ R (6.27)
1 − α2 v 2
R dv
Das Integral 1−α 2 v 2 kann mit Partialbruchzerlegung berechnet werden zu

1 + αv
Z
dv 1
2 2
= ln (6.28)
1−α v 2α 1 − αv

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Aufgelöst nach v ergibt sich aus (6.27) und (6.28)

1 Ke2αgt − 1
v(t) = , K ∈ R. (6.29)
α Ke2αgt + 1
Falls die Anfangsbedingung v(0) = 0 (freier Fall aus der Ruhelage) in (6.29) eingesetzt
wird, erhalten wir K = 1 und damit

1 e2αgt − 1 1
v(t) = 2αgt
= tanh(αgt). (6.30)
αe +1 α
1
Interessant ist das asymptotische Verhalten für t → ∞ diese Lösung v = α
tanh(αgt) des
Anfangswertproblems: Es gilt limx→∞ tanh(x) = 1, also
1 1
limtanh(αgt) =
t→∞ α α
Dies ist die oben ermittelte konstante Lösung der DGL. Die Lösung des Anfangswert-
problems konvergiert also für t → ∞ gegen die (stabile) konstante Lösung der DGL,
was physikalisch der Beobachtung entspricht, dass der fallende Körper sich allmählich ei-
ner Geschwindigkeit annähert, bei der sich Gravitations- und Reibungsraft aufheben. Die
mathematischen und physikalischen Beobachtungen entsprechen sich also genau!

Beispiel (Wachstumsmodelle). Wenn das Wachstum einer Population von N Individuen


proportional zu ihrer Grösse ist, Ṅ = kN , erhält man ein exponentielles Wachstum,
N (t) = N0 ekt , vgl. das Beispiel über radioaktiven Zerfall.
Bei manchen Wachstumsmodellen ist es aber so, dass die Wachstumsrate nicht nur von
der momentanen Grösse der Population abhängig ist, sondern auch eine obere Grenze A
hat, die nicht überschritten werden kann (z.B. wegen beschränkter Ressourcen); je näher
also N (t) dieser Schranke A kommt, desto stärker flacht das Wachstum ab.
Die Wachstumsrate Ṅ (t) ist also nicht nur proportional zur Grösse N (t) der Population,
sondern kann auch eine gewisse Schranke A nicht überschreiten. Dies führt dazu, das die
Wachstumsrate auch proportional zu A−N (t) ist, und damit auf die Differentialgleichung

Ṅ = kN (A − N ) (A > 0, k > 0). (6.31)

Diese Differentialgleichung hat zwei konstante Lösungen,

N (t) = 0 und N (t) = A für alle t ∈ R.

Alle anderen Lösungen können durch Separation der Variablen gefunden werden, und man
erhält die vom Parameter C ∈ R abhängige Schar von Lösungskurven

CAekAt A
N (t) = = . (6.32)
1 + CekAt 1 + C −1 e−kAt

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Man bezeichnet die durch (6.32) gegebene Funktion als logistische Funktion. Wegen der
Konvergenz e−kAt → 0 für t → ∞ sieht man, dass N (t) → A für t → ∞. Der Fixpunkt
N = 0 ist instabil, während N = A stabil ist, wie man durch die in Abschnitt 6.2 gezeigte
Methode ermitteln kann. Dies wird durch das asymptotische Verhalten der Lösungskurven
(6.32) bestätigt.

Abbildung 6.13: logistische Funktion

Lineare Differentialgleichungen 1. Ordnung Wir diskutieren nun DGL, die nicht


separierbar sind. Die folgenden Techniken betreffen nur lineare DGL; wenn eine DGL we-
der separierbar noch linear ist, besteht wenig Aussicht auf eine analytische Lösungsmethode.
Eine lineare DGL 1. Ordnung ist allgemein von der Form
y ′ + f (x)y = g(x) (6.33)
für gegebene Funktionen f (x) und g(x). Sie ist homogen, falls g(x) = 0. Wir betrach-
ten zuerst diesen Fall, denn in diesem Fall ist die Differentialgleichung gleichzeitig auch
separierbar. Anschliessend benützen wir die Lösung der homogenen Gleichung, um die
inhomogene Gleichung zu lösen.
Bevor wir Lösungsmethoden zu (6.33) betrachten, untersuchen wir also die Lösungen der
zu (6.33) gehörenden homogenen Gleichung
y ′ + f (x)y = 0 (6.34)
und den Lösungen der inhomogenen Gleichung (6.33).
• Bestimmung von Lösungen der homogenen DGL: Die homogene DGL (6.34) ist
separierbar und kann damit nach dem Schema von Satz 6.3.1 gelöst werden. Es
ergibt sich als allgemeine Lösung der homogenen DGL y ′ + f (x) · y = 0
y = K · e−F (x) , K ∈ R, (6.35)
wobei F (x) eine Stammfunktion von f (x) ist.
• Bestimmung von Lösungen der inhomogenen DGL: Um Lösungen von (6.33) zu
finden, sind verschiedene Methoden möglich. Wir diskutieren nur die Methode “Va-
riation der Konstanten”.

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Variation der Konstanten Wir beschreiben nun ein Verfahren zur Lösung der inho-
mogenen Gleichung (6.33), nämlich Variation der Konstanten. Ausgehend von (6.35), d.h.
der Lösung y = K · e−F (x) der homogenen Gleichung (6.34), setzen wir den Ansatz

y = K(x) · e−F (x) (6.36)

in die inhomogene DGL (6.33) ein. Die Konstante K wurde also variiert, d.h. durch die
noch zu bestimmende Funktion K(x) ersetzt. Wenn der Ansatz (6.36) in (6.33) eingesetzt
wird, ergibt sich für den noch unbekannten Faktor K(x) ein unbestimmtes Integral, was
dann insgesamt eine Lösung der gegebenen inhomogenen DGL (6.33) ergibt. Im Detail
erhält man mit dieser Vorgehensweise (mit der Produkt- und Kettenregel)

y ′ (x) = K ′ (x)e−F (x) − K(x)f (x)eF (x) + f (x) K(x)e−F (x) +g(x).
| {z }
y

Daraus folgt K ′ (x) = g(x)eF (x) , woraus K(x) zu


Z
K(x) = g(x)eF (x) dx (6.37)

bestimmt werden kann, falls diese Integration elementar möglich ist.


Aus (6.36) und (6.37) erhalten wir also:

Satz 6.3.2. Die allgemeine Lösung der inhomogenen Differentialgleichung

y ′ + f (x)y = g(x) (6.38)

ist gegeben durch Z


−F (x)
y=e · g(x)eF (x) dx, (6.39)

wobei F (x) eine Stammfunktion von f (x) ist.

Beispiel. Gesucht sind die allgemeine Lösung der Differentialgleichung


y 1
y′ = + 4
x x
sowie die spezielle Lösung zur Anfangsbedingung y(1) = 0. Um die Formel (6.39) an-
wenden zu können, müssen wir die gegebene DGL zunächst ist die Standardform (6.38)
bringen, d.h. wir schreiben sie als
y 1
y′ − = 4
x x
1 1
Es ist also f (x) = − x und g(x) = x4 . Daraus erhalten wir F (x) = ln |x|; wobei wir hier
direkt x > 0 annehmen können (aus der DGL ist ersichtlich, dass Lösungskurven an der

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Stelle x = 0 nicht existieren), also F (x) = − ln(x), und damit eF (x) = 1


x
und e−F (x) = x1 .
Einsetzen in (6.39) liefert also
Z   Z
1 1 1
y =x· · dx = x · dx
x4 x x5

Die Integration ergibt Z


1 1
5
dx = − 4 + C,
x 4x
also eingesetzt  
1 1
y = x · − 4 + C = − 3 + Cx (C ∈ R)
4x 4x
Einsetzen der Anfangsbedingung y(1) = 0 liefert C = 41 , also ist die Lösung des Anfangs-
wertproblems
1 x
y=− 3 +
4x 4
Beispiel. Gesucht sind die allgemeine Lösung der Differentialgleichung

2y ′ + y = 3x2

sowie die spezielle Lösung zur Anfangsbedingung y(0) = 1. Auch hier müssen wir die
DGL zunächst in die Standardform (6.38) bringen, d.h. wir schreiben sie als

y 3x2
y′ + =
2 2
2 x
Es ist also f (x) = 12 und g(x) = 3x2 . Daraus erhalten wir F (x) = x
2
und damit eF (x) = e 2
x
und e−F (x) = e− 2 . Einsetzen in (6.39) liefert also
Z  2 
− x2 3x x
y=e · · e 2 dx
2

Das Integral kann durch zweimalige partielle Integration berechnet werden, und wir er-
halten Z  2 
3x x x
· e 2 dx = (3x2 − 12x + 24)e 2 + C
2
also eingesetzt
x x x
y = e− 2 · (3x2 − 12x + 24)e 2 + C = 3x2 − 12x + 24 + Ce− 2

(C ∈ R)

Einsetzen der Anfangsbedingung y(0) = 1 liefert C = −23, also ist die Lösung des An-
fangswertproblems
x
y = 3x2 − 12x + 24 − 23e− 2

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6.4 Numerische Verfahren


Wir betrachten hier Anfangswertprobleme für DGL 1. Ordnung, d.h. das Problem

ẋ = f (t, x)
(6.40)
x(t0 ) = x0

für eine stetige Funktion f (t, x), vgl. (6.5). Alle im Folgenden konstruierten Verfahren
führen auf eine Funktion x̂(t), die eine Approximation der wahren (aber unbekannten)
Lösung x(t) von (6.40) sein soll. Dabei werden Näherungswerte (xk )k∈N an Stützstellen
(tk )k∈N berechnet und x̂(t) durch lineare Interpolation zwischen diesen Stützstellen ge-
bildet. Die Güte der Approximation wird durch den Fehler gemessen, den man bei der
Approximation von x(t) durch x̂(t) macht.
Als Motivation für den Gebrauch numerischer Verfahren betrachten wir ein Beispiel, bei
die DGL zwar separierbar ist, die nach den Integrationen entstehende implizite Formel
für x(t) aber nicht analytisch nach x auflösbar ist.

Beispiel. Wir betrachten das AWP



ẋ(t) = x2 (1 − x)
(6.41)
x(0) = 0.01

eines Vebrennungsprozesses. Nach Separation der Variablen erhält man für die DGL (6.41)
den Ausdruck    
x 1 − x0 x − x0
t = ln + ln + + t0
x0 1−x xx0
der analytisch nicht nach x auflösbar ist, vgl. (6.4). Die DGL (6.41) kann aber numerisch
gelöst werden, und man erhält ein anschauliches und den physikalischen Erwartungen
entsprechendes Bild der Lösung:

Abbildung 6.14: Verbrennungsprozess

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Explizites Euler-Verfahren Wir betrachten nun ein konkretes Verfahren zur Berech-
nung der Näherungswerte (xk )k∈N an den Stützstellen (tk )k∈N . Wir wählen eine konstante
Schrittweite
h = tk+1 − tk . (6.42)
Also sind die Stützstellen tk gegeben durch die explizite Formel

tk = t0 + k · h, k ∈ N. (6.43)

Es ist aber auch möglich, variable Schrittweiten hk zu wählen; wir beschränken uns auf
den konstanten Fall.
Das einfachste Verfahren ist das explizite Euler-Verfahren (auch Polygonzugmethode ge-
nannt). Dabei wird auf die geometrische Idee des Richtungsfelds der DGL ẋ = f (t, x)
zurückgegriffen, vgl. Abbildung 6.3. Da f (t0 , x0 ) die Steigung des Graphen der Lösung
x(t) an der Stelle t0 angibt, approximiert man x(t) dadurch, dass man ein Stück lang der
Tangente mit Steigung f (t0 , x0 ) entlanggeht, bis man an der Stelle t1 = t0 + h am Punkt
(t1 , x1 ) angelangt ist, mit
x1 = x0 + h · f (t0 , x0 ).
Ausgehend vom Punkt (t1 , x1 ) wird dann diese Vorgehen iterativ wiederholt, mit

xk+1 = xk + h · f (tk , xk ),

bis man an der gewünschten Stelle tn = t0 + n · h angelangt ist, vgl. (6.43). Der auf diese
Weise erhaltene x-Wert xn wir dann als Approximation für den wahren (aber unbekann-
ten) Funktionswert x(tn ) gesetzt.

Abbildung 6.15: Euler-Verfahren

Damit ergibt sich also der Algorithmus



tk+1 = tk + h
(6.44)
xk+1 = xk + h · f (tk , xk )

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Beispiel. Wir betrachten das AWP



ẋ(t) = λ · x(t)
x(0) = 1

mit der exakten Lösung x(t) = eλt , und konstruieren aus dem Algorithmus (6.44) eine
explizite Formel für xn . Nach (6.43) gilt für die tk ’s die explizite Formel

tk = t0 + k · h = kh. (6.45)

Wenn wir f (t, x) = λx in (6.44) einsetzen, erhalten wir für die xk ’s die Rekursionsformel

xk+1 = xk + h · λxk = (1 + hλ)xk

und damit mit dem Startwert x0 = 1 die explizite Formel

xn = (1 + hλ)n · x0 = (1 + hλ)n . (6.46)

Wir halten nun einen Punkt t fest und variieren die Schrittweite h; nach (6.45) gilt dann
h = nt . Eingesetzt in (6.46) ergibt sich
 n
n λt
xn = (1 + hλ) = 1 + .
n
Im Limes h → 0 und damit n → ∞ ergibt sich
 n
λt
lim xn = lim 1 + = eλt ,
n→∞ n→∞ n
nach der allgemeinen Formel  z n
ez = lim 1+ .
n→∞ n
Wir sehen also, dass die durch das numerische Verfahren erhaltene Approximation für im-
mer kleinere Schrittweiten tatsächlich gegen die exakte Lösung des Problems konvergiert.
Beispiel. Die exakte Lösung des AWP’s

ẋ(t) = −2t · x2
(6.47)
x(0) = 1

ist x(t) = t21+1 (Separation der Variablen). Es gilt also f (t, x) = −2t · x2 , und der Algo-
rithmus (6.44) wird in diesem Fall zu

tk+1 = tk + h
xk+1 = xk + h · (−2tk · x2k ) = xk (1 − 2htk xk )

Wir führen einige Iterationsschritte für h = 0.1 aus:

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Die tk ’s sind
t0 = 0, t1 = 0.1, t2 = 0.2 , t3 = 0.3, . . . ,
und die xk ’s sind

x0 = 1
x1 = x0 (1 − 2ht0 x0 ) = 1
x2 = x1 (1 − 2ht1 x1 ) = 0.98
x3 = x2 (1 − 2ht2 x2 ) = 0.941584
x4 = ...

Da wir auch hier die exakte Lösung kennen, nämlich x = t21+1 , können wir die durch diese
Rechnungen erhaltenen Approximationen direkt mit den exakten Werten vergleichen, und
zwar indem wir den Fehler
ek = x(tk ) − xk
berechnen:

Abbildung 6.16: Fehler bei verschiedenen Schrittweiten

Es lässt sich beobachten, dass der Fehler proportional zu h ist; d.h. es gibt eine Konstante
C, so dass gilt:
|ek | = |x(tk ) − xk | ≤ C · h
Bei verbesserten numerischen Verfahren (z.B. Runge-Kutta-Verfahren höherer Ordnung)
ist der Fehler hingegen proportional zu höheren Potenzen von h, z.B. h2 oder h4 .

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Danksagung
Einige Teile des Skripts und viele Übungsaufgaben wurden übernommen von Samuel Beer,
Heidi Gebauer, Lukas Lichtensteiger, Johanna Schönenberger-Deuel, Ines Stassen Böhlen
und Christoph Zaugg. Ich bedanke mich bei all diesen Kolleginnen und Kollegen herzlich
für die Zusammenarbeit.

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Literaturverzeichnis

[1] Lothar Papula, Mathematik für Ingenieure und Naturwissenschaftler, Band 2 und
3. 13. Auflage, Springer Vieweg Verlag, 2012.

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