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Sereda Geschichtslehrer Des Volkes
Sereda Geschichtslehrer Des Volkes
V i k t o r i a S e r e da
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Konzept & Kritik
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Viktoria Sereda: Geschichtslehrer des Volkes
dent Putin reagieren, die mit imperial sich ausdeh tion» von 2004/05 und dem «Euromaidan» von
nenden Argumentationsketten die Expansions 2013/14. Obwohl Selenskyj an keiner der jüngsten
pläne des Kremls zu legitimieren versuchten. So ukrainischen Protestwellen als Demonstrant aktiv
wurde Selenskyj schließlich doch in die Rolle eines teilgenommen hatte, war er bereit, an deren demo
«Geschichtslehrers des Volkes» wider Willen ge kratische Versprechen anzuknüpfen. Auch wenn
drängt. Ähnlich wie sein politischer Rivale und einige Experten sich kritisch äußerten, war die im
Vorgänger Poroschenko musste Selenskyj somit Fernsehen übertragene Show ein großer Publi
zunehmend zwei widersprüchliche politische kumserfolg. In der Schlussszene bahnte sich ein
Agenden miteinander verbinden. Er musste einer kleines Mädchen, das die Ukraine symbolisierte,
seits eine integrative Erzählung für die ukrainische seinen Weg durch das Chaos und den Rauch des
Nation stiften und andererseits einer russischen Maidan, der annektierten Krim und der Schlacht
politischen Propaganda entgegenarbeiten, die sich felder des Donbass in eine friedliche, glückliche
Geschichte zur Legitimation eines Angriffskrieges Zukunft, in der die Soldaten nicht mehr kämpfen
einverleibte. Im August 2021, während der offiziel müssen, sondern sich wieder mit ihren Familien
len Feierlichkeiten zum dreißigsten Jahrestag der vereinen können.
Unabhängigkeit der Ukraine, wurde Selenskyjs ba Doch anstatt eine neue helle Seite ihres Ge
lancierende Erzählung der ukrainischen Geschich schichtsbuches aufzuschlagen, musste sich die
te als historisches Nationaldrama auf der Kiewer ukrainische Gesellschaft schon bald mit Krieg,
Hauptstraße Chreschtschatyk nachgespielt.4 Die Dauerbombardement und Terror auseinanderset
volkspädagogische Inszenierung verwandte natio zen. Nach dem russischen Angriff blieb Selenskyj
nale und sowjetukrainische Narrative, wenn auch keine andere Wahl, als auf Putins historisch aufge
mit großer Vorsicht. Beobachtern fiel etwa auf, rüstete, chauvinistische Rhetorik zu reagieren. Ge
dass es keinerlei Hinweise auf den ukrainischen zwungenermaßen musste er nun als Präsident die
nationalistischen Untergrund aus der Zeit des Rolle des ersten «Geschichtslehrers» der ukraini
Zweiten Weltkriegs oder auf die stalinistische De schen Nation übernehmen.
portation der Krimtataren und anderer Völker gab.
Viele andere zentrale, auch traumatische Momente Vasyl Holoborodkos Kolleginnen auf der Flucht
und Leidensgeschichten der ukrainischen Nation Auch viele andere, ganz reale ukrainische Ge
wurden hingegen thematisiert. Neben der Großen schichtslehrer zwang die russische Militäraggres
Hungersnot, die nach 1991 zum zentralen Bestand sion, die ja schon 2014 begann und 2022 in eine
teil einer nationalen Opfererzählung wurde, gab es umfassende Invasion überging, die verflochtene
auch Verweise auf den Holocaust. Die sowjetische russisch-ukrainische Geschichte noch einmal neu
Ära nach dem Zweiten Weltkrieg wurde als ambi nach historischen Lektionen abzusuchen. Dies gilt
valentes Erbe dargestellt, als eine anfangs euphori insbesondere für die vielen Pädagogen, die aus den
sche, fröhliche und friedliche Zeit, die von der Ver Regionen Krim und Donbass fliehen mussten. Im
folgung von Dissidenten und von tödlichen Fehlern Jahr 2016 habe ich im Rahmen des Projekts «Dis
wie der Katastrophe in Tschernobyl immer mehr placed Memories» gemeinsam mit Kollegen zwei
überschattet wurde. Die Zeit nach der Unabhän vertriebene Geschichtslehrerinnen mittleren Al
gigkeit schließlich wurde mit sportlichen Erfolgen, ters interviewt: «Anna», die vor dem militärischen
mit wissenschaftlichen Durchbrüchen und mit ei Konflikt in ihrer Heimatregion Donbass fliehen,
ner Serie von Revolutionen illustriert – der «Revolu und «Irina», die die Krim nach der Besetzung durch
tion auf Granit» von 1990, der «Orangen Revolu Russland im Jahr 2014 verlassen musste. 5
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Konzept & Kritik
Vor dem Krieg unterrichtete Anna an einer uk- ethnischen Säuberungen in der Region Wolhynien
rainisch-sprachigen Schule. Während des Inter- eine zentrale Rolle spielen. Die Flucht nach Polen
views im Jahr 2016 zog sie es jedoch vor, Russisch brachte sie dazu, die ukrainische Geschichte aus
zu sprechen, obwohl sie sich als ukrainisch und einem neuen Sehewinkel zu betrachten: «Und
zweisprachig bezeichnete. Anna berichtete nur wenn man hierher kommt, ist es ein komplettes
wenig über ihre früheren Erfahrungen als Lehrerin schwarzes Loch und man versteht es nicht, es ist
im Donbass, begründete aber ihre Entscheidung unverständlich. Ich muss zugeben, dass ich bis zu
für den Umzug mit der Gefahr, die von den pro-rus- diesem Jahr nicht einmal wusste, was Wolhynien
sischen Separatisten ausging: «Wissen Sie, an unse- ist (…), obwohl ich vier Jahre lang in der Ukraine
rer Schule mussten der Direktor und ich pro-ukra- Geschichte unterrichtet habe. In der Schule waren
inische Plakate abnehmen, als die DPR [qua- es nur ein paar Zeilen in den Geschichtsbüchern, es
si-staatliche Entität ‹Donezker Volksrepublik›] in wurde totgeschwiegen. Wenn man hier ankommt,
die Schule kam. Diese Kinder haben in ihrem ju- versteht man, dass Geschichte auf unterschiedliche
gendlichen Maximalismus pro-ukrainische Plakate Weise interpretiert werden kann (…) Und wenn
gemalt und aufgehängt. Und wir, um nicht zu pro- man hierherkommt, sieht man den Schmerz der
vozieren, denn es war nicht klar, wer und mit Menschen. Ich sehe den Grund für den Konflikt mit
welchen Waffen... alles konnte schiefgehen. Wir der Ukraine. Ich kenne viele Polen, einer von ihnen
mussten ihnen erklären, dass wir uns um unsere ist Historiker. Sie haben mir ihre Position erklären
Sicherheit sorgen müssen. Und deshalb ... Ich habe müssen, denn ich hatte blinde Flecken.»
sogar jetzt eine Gänsehaut, es tut mir sehr leid für Irina, die früher als Geschichtslehrerin an einer
diese Kinder, denen jetzt wirklich das Mutterland russischen Schule auf der Krim unterrichtete, ent-
weggenommen wurde!» schied sich, während des Interviews Ukrainisch zu
Anna legte keinen besonderen Wert darauf, sich sprechen, obwohl sie am Ende des Gesprächs zu-
als Ukrainerin oder Bewohnerin des Donbass dar- gab, dass ihre Staatsangehörigkeit und ihre Mutter-
zustellen, vielmehr pochte sie auf ihre sowjetische sprache Russisch sind. Ähnlich wie Anna flüchtete
Identität: «Ich habe fünfzehn Jahre lang in der sie mit ihrer Familie nach Polen und hatte vor 2014
Schule gearbeitet. Und ich habe mein Kind, das nur wenig Kontakte mit der polnischen Gesell-
dort geboren wurde, im Donbass. Ja, auf dem Ge- schaft. Wie Anna sprach auch sie kaum über ihre
biet von Donezk, und er ist bereits Ukrainer. Ich früheren Erfahrungen als Lehrerin, begründete
bin immer noch ein Kind der Sowjetunion, denn aber ihre Entscheidung zum Umzug damit, dass sie
ich habe die meiste Zeit meines Lebens, nun ja, ei- nicht nach den Maßgaben des neu eingeführten
nen Teil meines Lebens in der Sowjetunion ver- russischen Schulprogramms unterrichten wollte:
bracht. Und mein Kind und meine Schüler wurden «Ich verstehe nicht, wie man ein Leben auf einer
bereits in der Ukraine geboren und sind unter den Lüge aufbauen kann! Es tut mir leid. Wie ist das
Bedingungen der Staatsgründung aufgewachsen, möglich? Ich war nicht in der Lage, weiter an der
und sie lieben die Ukraine wirklich.» Schule zu arbeiten. Also sagte ich zu allen: ‹Wie
Anna betonte in unserem Gespräch auch, wie können wir den Kindern die Lüge erzählen, dass es
fremd und geradezu minderwertig sie sich in Polen so und so ist?›»
fühle. Bei dem Versuch, ihren Platz im neuen Um- Besonders störte sie die «Sowjetnostalgie», also
feld zu finden, wurde Anna mit der polnischen na- die «Fanatiker – diese Babuschkas, die hoffen, dass
tionalen Geschichtsschreibung konfrontiert, in der die Sowjetunion zurückkehrt», und «das Gefühl
die polnisch-ukrainischen Feindseligkeiten und die der nationalen Überlegenheit und die Intoleranz
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gegenüber meinen Meinungen». Sie gab jedoch zu, Sie hielten keine Vorträge über Geschichte, mach
dass sie lange gebraucht hatte bis sie nachvollzie ten keine historischen Schuldzuweisungen. Ihre
hen konnte, wie problematisch der russische Patri Erzählungen richteten sich fast ausschließlich auf
otismus ist: «Ich dachte, das ist ein Ausdruck der das «Jetzt» oder auf die «Zukunft», die sie sich au
Liebe zu unserer Stadt. Wir lieben die Geschichte. ßerhalb ihres Heimatlandes und ihrer Region vor
Und die Kinder sind so erzogen worden, dass sie stellten. Um sich in der neuen Gesellschaft zu
das respektieren. Das fand ich sehr schön.» Erst rechtzufinden, mussten sich beide in einer ihnen
später verstand sie, dass es unmöglich war, Dissens zuvor unbekannten polnischen Geschichtskultur
darüber zu äußern. Am Gedenktag von Taras orientieren. Als nach dem Februar 2022 Millionen
Schewtschenko, des größten ukrainischen Dich von Ukrainern ins Ausland fliehen mussten, wurde
ters, der auch Teil des sowjetischen Literatur ihnen erst klar, wie wenig sie über ihre europäi
kanons war, wurde sie vom pro-russischen Mob schen Nachbarn wussten und wie wenig umge
angegriffen. «Sie kamen mit Peitschen und Me kehrt die Menschen im Ausland die Ukraine kann
tallstöcken. Wir sind mit Worten, und sie sind mit ten.
ihren Peitschen auf uns los. Und dann haben sie uns Obwohl Anna und Irina aus den ukrainischen
auch noch vorgeworfen, dass die Banderiten ge Regionen stammen, die oft als besonders «pro-rus
kommen sind.» Nach diesem Zwischenfall forderte sisch» bezeichnet werden, bestätigen sie nicht die
ihre Familie Irina auf, die Krim zu verlassen. Vorstellung von scharf getrennten ethnischen und
Irina erinnerte sich, dass sie sich bei ihrer An sprachlichen Zugehörigkeiten. Ihre Identitäten
kunft in Polen sofort mit dem neuen Umfeld solida sind vielschichtig verwoben, ohne klare Grenzen
risch verbunden fühlte: «Ich hatte das Gefühl, das zwischen transnationalem (sowjetischem), natio
ist meine Stadt, das ist mein Land, nur aus irgendei nalem (russischem und ukrainischem), regionalem
nem Grund sprechen die Leute eine andere Spra und lokalem Patriotismus. Ihr Studium der sowjeti
che!» Um die Erteilung eines Visums zu erleichtern, schen Geschichte führte offenbar nicht zu einer ex
bediente sich Irinas Familie der Strategie der «Ent klusiven pro-russischen politischen Orientierung.
deckung» einer vergessenen ethnischen Herkunft: Auch die ihnen seit der Kindheit vertraute sowje
«Der Ehemann berichtet vom Krieg, 1939. Das Le tisch-ukrainische Erzählung kann keine plausible
ben für seine Familie war schwierig. Er hatte eine Erklärung für die aktuellen Geschehnisse auf der
Stiefmutter. Und er weiß auch, dass die Mutter Krim oder im Donbass bieten. Das zunehmend
seines Vaters Polin war. Aber wir konnten noch dominanter werdende ukrainisch-nationale Ge
keine Papiere finden, wir wissen nicht, wo wir su schichtsbild lehnen sie weder ab, noch nehmen sie
chen sollen.» Diese Konstruktion diente als Argu es vollständig an, sondern sehen es eher als eine
ment für die Zugehörigkeit zu Polen; Irina hielt Option für die nächste Generation von Ukrainern
aber gleichzeitig auch Kontakt zur lokalen ukra- aus dem industriellen Osten und Süden.
inischen Gemeinschaft: «Es gibt das ukrainische
Haus, dort finden Veranstaltungen statt, zu denen In der letzten Folge der ersten Staffel von Diener
Ukrainer und Polen eingeladen werden. Einige des Volkes erscheint dem zum Präsidenten gewor-
Schriftsteller, politische Persönlichkeiten. Ich ge denen Geschichtslehrer während einer Talkshow
höre dazu, das ist es, was mich interessiert.» eine furchteinflößende Gestalt im Kostüm des
Überraschenderweise gingen meine beiden Ge 16. Jahrhunderts. Iwan der Schreckliche versichert
sprächspartnerinnen praktisch nicht auf histori Holoborodko: «Bleibt tapfer, Blutsbrüder, bald be
sche Ereignisse oder einzelne Zentralfiguren ein. freien wir euch!» Darauf antwortet dieser: «Nein
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