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Konzept & Kritik

V i k t o r i a S e r e da

Geschichtslehrer des Volkes


… und Vasyl Holoborodkos Kolleginnen auf der Flucht

Geschichtslehrer wider Willen den politischen Protagonisten der Nachbarländer,


Als Wolodymyr Selenskyj im April 2019 die ukra­ sowohl im Westen als auch im Osten der Ukraine,
inischen Präsidentschaftswahlen gewann, wurde wo Geschichtspolitik und Gedenkpraktiken zum
ich eingeladen, an einer von der Harvard Univer­ Kernbestand der offiziellen Rhetorik gehören, zog
sity organisierten Diskussion teilzunehmen: No weder der fiktive Diener des Volkes noch der reale
Kidding, Let‘s Get Serious: Ukraine‘s Presidential Elec­ Wolodymyr Selenskyj die etablierten Register
tion. In der ironischen Sprache des neuen Ernstes einer verherrlichenden nationalen Erinnerung. Zu
verwies der leicht verspielte Titel auf verbreitete den wenigen Verweisen auf geschichtliche The­
Befürchtungen, die mit dem Aufstieg eines belieb­ men in der Fernsehserie gehört eine kurze Szene in
ten Komikers zum Führer eines vom Krieg zerrüt­ der ersten Folge, in dem der Lehrer Holoborodko
teten Landes einhergingen. Der frischgebackene gegenüber seinen Schülern die Notwendigkeit be­
Politiker schien im wirklichen Leben den Werde­ tont, aus der Geschichte zu lernen. Damit knüpft
gang einer Kunstfigur zu wiederholen, die er seit die Figur an didaktische Muster der sowjetischen
2015 in der beliebten Fernsehserie Diener des Volkes Filmtradition an, in der Geschichtslehrer häufig als
gespielt hatte: den Geschichtslehrer Vasyl Holobo­ ein wenig naiv, aber auch als moralische Vorbilder
rodko, der «zufällig» die ukrainischen Präsident­ ihrer Schüler dargestellt wurden – etwa in Filmen
schaftswahlen gewinnt. In der realen Wahl setzte wie Dozhivem do ponedelnika («Lasst uns bis Montag
sich Selenskyj mit 73 % der Stimmen durch, und es leben», 1968) oder Bolshaia Peremena («Lange Pause»,
gelang ihm, die sonst so prägenden Unterschiede 1973). Allerdings hat sich der Inhalt des Geschichts­
zwischen Regionen, zwischen Stadt und Land, unterrichts in ukrainischen Schulen seit der späten
zwischen Ethnien und Sprachgruppen zu über- Sowjetzeit offensichtlich verändert: So legt Holo­
brücken, die in früheren Zeiten die Wählerschaft borodko etwa Wert darauf, ungenaue Aussagen
gespalten hatten. Was hatte eine solche Einmütig­ seiner Schüler über Mykhailo Hrushevsky zu korri­
keit unter den Wählern bewirkt? gieren, jenen ukrainischen Historiker, der nach
Ein Schlüssel des Erfolges der Präsidentschafts­ dem Zusammenbruch des Russischen Reiches 1917
kampagne von 2019 war das Vermeiden konflikt­ zum Führer der ukrainischen Revolutionsbewe­
geladener historischer Themen. Im Gegensatz zu gung wurde, doch in der stalinistischen Periode aus

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Konzept & Kritik

den sowjetischen Geschichtslehrbüchern retu- Selenskyj vermied in seinen Präsidentschaftsan-


schiert worden war. Nach dieser kurzen Episode zu sprachen in den ersten Jahren sowohl sowjetische
urteilen, schien Holoborodkos Haltung gegenüber Geschichtslektionen als auch die Verherrlichung
Hrushevsky, einer Symbolfigur des ukrainischen des ukrainischen nationalistischen Untergrunds
Nationalismus, eher reserviert. In ähnlicher Weise aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Im Gegensatz
grenzte sich der Wahlkämpfer Selenskyj, der aus zum vorherigen Präsidenten Poroschenko bezeich-
der überwiegend russischsprachigen ostukraini- nete Selenskyj Russland nicht als Aggressor und
schen Industriestadt Kryvyi Rih stammt, von der die Sowjetunion nicht als totalitäres Regime, das
traditionellen nationalen Rhetorik seines präsidia- mit den Nazis vergleichbar sei. Auch wenn der Prä-
len Gegners Poroschenko ab. Ganz wie Holoborod- sident in einer Fernsehserie als Geschichtslehrer
ko und im populistischen Sinne eines «echten» gestartet war, präsentierte er seinen ukrainischen
Dieners des Volkes teilte der Politiker Selenskyj im Landsleuten als Präsident kein scharf umrissenes
Wahlkampf gegen das Establishment aus und ver- historisches Narrativ. Stattdessen waren seine Re-
sprach, die Korruption zu bekämpfen. den von einer Rhetorik der Versöhnung geprägt. In
Darüber hinaus kam Selenskyj im Jahr 2019 mit dieser Hinsicht folgte er einem seiner Vorgänger im
dem Versprechen an die Macht, Frieden zu schaf- Amt, dem ukrainischen Präsidenten Leonid Kut-
fen. Nach der Wahl rief er zu neuen Treffen im Nor- schmas (1994–2005), der den Glutkern historischer
mandie-Format auf, ordnete den Rückzug der ukra- Auseinandersetzungen in der politischen Debatte
inischen Streitkräfte von der Demarkationslinie so weit wie möglich auszublenden versuchte und
und die Einrichtung von entmilitarisierten Zonen überhaupt in historischen Schuldfragen auf Amne-
im Donbass an, wofür er von der neuen ukraini- sie gesetzt hatte. 2
schen Opposition scharf kritisiert wurde. In seiner Doch auch wenn Selenskyj als Präsident ver-
Neujahrsansprache im Jahr 2020 versuchte Präsi- söhnlichere Töne anschlug, veränderte sich die
dent Selenskyj ein umfassenderes Konzept der Praxis der ukrainischen Geschichtspolitik – entge-
ukrainischen Identität zu skizzieren, wobei er je- gen der weit verbreiteten Erwartung – nicht grund-
den direkten Bezug zur nationalen Geschichte und legend. So sprach sich der neue Leiter des ukraini-
zu sprachlich stark abgezirkelten Identitäten ver- schen Instituts für Nationales Gedenken, Anton
mied. Er betonte wiederholt die Notwendigkeit Drobowytsch, zwar gegen die Apotheose identi-
einer inklusiveren Geschichts- und Sprachpolitik: täts-politisch stark aufgeladener Zentralfiguren der
«Es spielt keine Rolle, wer du bist (...) wessen Denk- ukrainischen Geschichte aus, erklärte jedoch auch,
mal es ist, wenn du dort auf deine Geliebte wartest dass das Institut, von einigen Korrekturen und Re-
(...) [und] wie die Straße heißt, wenn sie beleuchtet formen abgesehen, seinen bisherigen Kurs fortset-
ist.» Der Populismus von Selenskyj beruhte darauf, zen werde. Zu den neuen Akzenten gehörten die
die nationalistische Mobilisierung herunterzuspie- «Dekommunisierung», das heißt die Loslösung
len: «In unserem Pass gibt es keine Zeile, in der vom kommunistischen Erbe, die Bemühungen
steht, ob man ‹Patriot›, ‹Maloros› [pejorativer Aus- um die internationale Anerkennung der Großen
druck für Ukrainer, die der russischen Kultur nahe- Hungersnot, des Holodomor, als Völkermord am
stehen], ‹Vatnik› [pejorativer Ausdruck für die ukrainischen Volk und die Stärkung der Rolle des
pro-russischen/pro-sowjetischen Ukrainer] oder Instituts bei der Bekämpfung russischer Aggressio-
‹Banderite› [Anhänger des radikalen Nationalisten- nen. 3
führers während und nach dem Zweiten Weltkrieg, Ab dem Sommer 2021 musste Selenskyj dann
Stepan Bandera] ist».1 auf geschichtspolitisch gespickte Reden von Präsi-

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Viktoria Sereda: Geschichtslehrer des Volkes

dent Putin reagieren, die mit imperial sich ausdeh­ tion» von 2004/05 und dem «Euromaidan» von
nenden Argumentationsketten die Expansions­ 2013/14. Obwohl Selenskyj an keiner der jüngsten
pläne des Kremls zu legitimieren versuchten. So ukrainischen Protestwellen als Demonstrant aktiv
wurde Selenskyj schließlich doch in die Rolle eines teilgenommen hatte, war er bereit, an deren demo­
«Geschichtslehrers des Volkes» wider Willen ge­ kratische Versprechen anzuknüpfen. Auch wenn
drängt. Ähnlich wie sein politischer Rivale und einige Experten sich kritisch äußerten, war die im
Vorgänger Poroschenko musste Selenskyj somit Fernsehen übertragene Show ein großer Publi­
zunehmend zwei widersprüchliche politische kumserfolg. In der Schlussszene bahnte sich ein
Agenden miteinander verbinden. Er musste einer­ kleines Mädchen, das die Ukraine symbolisierte,
seits eine integrative Erzählung für die ukrainische seinen Weg durch das Chaos und den Rauch des
Nation stiften und andererseits einer russischen Maidan, der annektierten Krim und der Schlacht­
politischen Propaganda entgegenarbeiten, die sich felder des Donbass in eine friedliche, glückliche
Geschichte zur Legitimation eines Angriffskrieges Zukunft, in der die Soldaten nicht mehr kämpfen
einverleibte. Im August 2021, während der offiziel­ müssen, sondern sich wieder mit ihren Familien
len Feierlichkeiten zum dreißigsten Jahrestag der vereinen können.
Unabhängigkeit der Ukraine, wurde Selenskyjs ba­ Doch anstatt eine neue helle Seite ihres Ge­
lancierende Erzählung der ukrainischen Geschich­ schichtsbuches aufzuschlagen, musste sich die
te als historisches Nationaldrama auf der Kiewer ukrainische Gesellschaft schon bald mit Krieg,
Hauptstraße Chreschtschatyk nachgespielt.4 Die Dauerbombardement und Terror auseinanderset­
volkspädagogische Inszenierung verwandte natio­ zen. Nach dem russischen Angriff blieb Selenskyj
nale und sowjetukrainische Narrative, wenn auch keine andere Wahl, als auf Putins historisch aufge­
mit großer Vorsicht. Beobachtern fiel etwa auf, rüstete, chauvinistische Rhetorik zu reagieren. Ge­
dass es keinerlei Hinweise auf den ukrainischen zwungenermaßen musste er nun als Präsident die
nationalistischen Untergrund aus der Zeit des Rolle des ersten «Geschichtslehrers» der ukraini­
Zweiten Weltkriegs oder auf die stalinistische De­ schen Nation übernehmen.
portation der Krimtataren und anderer Völker gab.
Viele andere zentrale, auch traumatische Momente Vasyl Holoborodkos Kolleginnen auf der Flucht
und Leidensgeschichten der ukrainischen Nation Auch viele andere, ganz reale ukrainische Ge­
wurden hingegen thematisiert. Neben der Großen schichtslehrer zwang die russische Militäraggres­
Hungersnot, die nach 1991 zum zentralen Bestand­ sion, die ja schon 2014 begann und 2022 in eine
teil einer nationalen Opfererzählung wurde, gab es umfassende Invasion überging, die verflochtene
auch Verweise auf den Holocaust. Die sowjetische russisch-ukrainische Geschichte noch einmal neu
Ära nach dem Zweiten Weltkrieg wurde als ambi­ nach historischen Lektionen abzusuchen. Dies gilt
valentes Erbe dargestellt, als eine anfangs euphori­ insbesondere für die vielen Pädagogen, die aus den
sche, fröhliche und friedliche Zeit, die von der Ver­ Regionen Krim und Donbass fliehen mussten. Im
folgung von Dissidenten und von tödlichen Fehlern Jahr 2016 habe ich im Rahmen des Projekts «Dis­
wie der Katastrophe in Tschernobyl immer mehr placed Memories» gemeinsam mit Kollegen zwei
überschattet wurde. Die Zeit nach der Unabhän­ vertriebene Geschichtslehrerinnen mittleren Al­
gigkeit schließlich wurde mit sportlichen Erfolgen, ters interviewt: «Anna», die vor dem militärischen
mit wissenschaftlichen Durchbrüchen und mit ei­ Konflikt in ihrer Heimatregion Donbass fliehen,
ner Serie von Revolutionen illustriert – der «Revolu­ und «Irina», die die Krim nach der Besetzung durch
tion auf Granit» von 1990, der «Orangen Revolu­ Russland im Jahr 2014 verlassen musste. 5

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Konzept & Kritik

Vor dem Krieg unterrichtete Anna an einer uk- ethnischen Säuberungen in der Region Wolhynien
rainisch-sprachigen Schule. Während des Inter- eine zentrale Rolle spielen. Die Flucht nach Polen
views im Jahr 2016 zog sie es jedoch vor, Russisch brachte sie dazu, die ukrainische Geschichte aus
zu sprechen, obwohl sie sich als ukrainisch und einem neuen Sehewinkel zu betrachten: «Und
zweisprachig bezeichnete. Anna berichtete nur wenn man hierher kommt, ist es ein komplettes
wenig über ihre früheren Erfahrungen als Lehrerin schwarzes Loch und man versteht es nicht, es ist
im Donbass, begründete aber ihre Entscheidung unverständlich. Ich muss zugeben, dass ich bis zu
für den Umzug mit der Gefahr, die von den pro-rus- diesem Jahr nicht einmal wusste, was Wolhynien
sischen Separatisten ausging: «Wissen Sie, an unse- ist (…), obwohl ich vier Jahre lang in der Ukraine
rer Schule mussten der Direktor und ich pro-ukra- Geschichte unterrichtet habe. In der Schule waren
inische Plakate abnehmen, als die DPR [qua- es nur ein paar Zeilen in den Geschichtsbüchern, es
si-staatliche Entität ‹Donezker Volksrepublik›] in wurde totgeschwiegen. Wenn man hier ankommt,
die Schule kam. Diese Kinder haben in ihrem ju- versteht man, dass Geschichte auf unterschiedliche
gendlichen Maximalismus pro-ukrainische Plakate Weise interpretiert werden kann (…) Und wenn
gemalt und aufgehängt. Und wir, um nicht zu pro- man hierherkommt, sieht man den Schmerz der
vozieren, denn es war nicht klar, wer und mit Menschen. Ich sehe den Grund für den Konflikt mit
welchen Waffen... alles konnte schiefgehen. Wir der Ukraine. Ich kenne viele Polen, einer von ihnen
mussten ihnen erklären, dass wir uns um unsere ist Historiker. Sie haben mir ihre Position erklären
Sicherheit sorgen müssen. Und deshalb ... Ich habe müssen, denn ich hatte blinde Flecken.»
sogar jetzt eine Gänsehaut, es tut mir sehr leid für Irina, die früher als Geschichtslehrerin an einer
diese Kinder, denen jetzt wirklich das Mutterland russischen Schule auf der Krim unterrichtete, ent-
weggenommen wurde!» schied sich, während des Interviews Ukrainisch zu
Anna legte keinen besonderen Wert darauf, sich sprechen, obwohl sie am Ende des Gesprächs zu-
als Ukrainerin oder Bewohnerin des Donbass dar- gab, dass ihre Staatsangehörigkeit und ihre Mutter-
zustellen, vielmehr pochte sie auf ihre sowjetische sprache Russisch sind. Ähnlich wie Anna flüchtete
Identität: «Ich habe fünfzehn Jahre lang in der sie mit ihrer Familie nach Polen und hatte vor 2014
Schule gearbeitet. Und ich habe mein Kind, das nur wenig Kontakte mit der polnischen Gesell-
dort geboren wurde, im Donbass. Ja, auf dem Ge- schaft. Wie Anna sprach auch sie kaum über ihre
biet von Donezk, und er ist bereits Ukrainer. Ich früheren Erfahrungen als Lehrerin, begründete
bin immer noch ein Kind der Sowjetunion, denn aber ihre Entscheidung zum Umzug damit, dass sie
ich habe die meiste Zeit meines Lebens, nun ja, ei- nicht nach den Maßgaben des neu eingeführten
nen Teil meines Lebens in der Sowjetunion ver- russischen Schulprogramms unterrichten wollte:
bracht. Und mein Kind und meine Schüler wurden «Ich verstehe nicht, wie man ein Leben auf einer
bereits in der Ukraine geboren und sind unter den Lüge aufbauen kann! Es tut mir leid. Wie ist das
Bedingungen der Staatsgründung aufgewachsen, möglich? Ich war nicht in der Lage, weiter an der
und sie lieben die Ukraine wirklich.» Schule zu arbeiten. Also sagte ich zu allen: ‹Wie
Anna betonte in unserem Gespräch auch, wie können wir den Kindern die Lüge erzählen, dass es
fremd und geradezu minderwertig sie sich in Polen so und so ist?›»
fühle. Bei dem Versuch, ihren Platz im neuen Um- Besonders störte sie die «Sowjetnostalgie», also
feld zu finden, wurde Anna mit der polnischen na- die «Fanatiker – diese Babuschkas, die hoffen, dass
tionalen Geschichtsschreibung konfrontiert, in der die Sowjetunion zurückkehrt», und «das Gefühl
die polnisch-ukrainischen Feindseligkeiten und die der nationalen Überlegenheit und die Intoleranz

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Viktoria Sereda: Geschichtslehrer des Volkes

gegenüber meinen Meinungen». Sie gab jedoch zu, Sie hielten keine Vorträge über Geschichte, mach­
dass sie lange gebraucht hatte bis sie nachvollzie­ ten keine historischen Schuldzuweisungen. Ihre
hen konnte, wie problematisch der russische Patri­ Erzählungen richteten sich fast ausschließlich auf
otismus ist: «Ich dachte, das ist ein Ausdruck der das «Jetzt» oder auf die «Zukunft», die sie sich au­
Liebe zu unserer Stadt. Wir lieben die Geschichte. ßerhalb ihres Heimatlandes und ihrer Region vor­
Und die Kinder sind so erzogen worden, dass sie stellten. Um sich in der neuen Gesellschaft zu­
das respektieren. Das fand ich sehr schön.» Erst rechtzufinden, mussten sich beide in einer ihnen
später verstand sie, dass es unmöglich war, Dissens zuvor unbekannten polnischen Geschichtskultur
darüber zu äußern. Am Gedenktag von Taras orientieren. Als nach dem Februar 2022 Millionen
Schewtschenko, des größten ukrainischen Dich­ von Ukrainern ins Ausland fliehen mussten, wurde
ters, der auch Teil des sowjetischen Literatur­ ihnen erst klar, wie wenig sie über ihre europäi­
kanons war, wurde sie vom pro-russischen Mob schen Nachbarn wussten und wie wenig umge­
an­gegriffen. «Sie kamen mit Peitschen und Me­ kehrt die Menschen im Ausland die Ukraine kann­
tallstöcken. Wir sind mit Worten, und sie sind mit ten.
ihren Peitschen auf uns los. Und dann haben sie uns Obwohl Anna und Irina aus den ukrainischen
auch noch vorgeworfen, dass die Banderiten ge­ Regionen stammen, die oft als besonders «pro-rus­
kommen sind.» Nach diesem Zwischenfall forderte sisch» bezeichnet werden, bestätigen sie nicht die
ihre Familie Irina auf, die Krim zu verlassen. Vorstellung von scharf getrennten ethnischen und
Irina erinnerte sich, dass sie sich bei ihrer An­ sprachlichen Zugehörigkeiten. Ihre Identitäten
kunft in Polen sofort mit dem neuen Umfeld solida­ sind vielschichtig verwoben, ohne klare Grenzen
risch verbunden fühlte: «Ich hatte das Gefühl, das zwischen transnationalem (sowjetischem), natio­
ist meine Stadt, das ist mein Land, nur aus irgendei­ nalem (russischem und ukrainischem), regionalem
nem Grund sprechen die Leute eine andere Spra­ und lokalem Patriotismus. Ihr Studium der sowjeti­
che!» Um die Erteilung eines Visums zu erleichtern, schen Geschichte führte offenbar nicht zu einer ex­
bediente sich Irinas Familie der Strategie der «Ent­ klusiven pro-russischen politischen Orientierung.
deckung» einer vergessenen ethnischen Herkunft: Auch die ihnen seit der Kindheit vertraute sowje­
«Der Ehemann berichtet vom Krieg, 1939. Das Le­ tisch-ukrainische Erzählung kann keine plausible
ben für seine Familie war schwierig. Er hatte eine Erklärung für die aktuellen Geschehnisse auf der
Stiefmutter. Und er weiß auch, dass die Mutter Krim oder im Donbass bieten. Das zunehmend
seines Vaters Polin war. Aber wir konnten noch dominanter werdende ukrainisch-nationale Ge­
keine Papiere finden, wir wissen nicht, wo wir su­ schichtsbild lehnen sie weder ab, noch nehmen sie
chen sollen.» Diese Konstruktion diente als Argu­ es vollständig an, sondern sehen es eher als eine
ment für die Zugehörigkeit zu Polen; Irina hielt Option für die nächste Generation von Ukrainern
aber gleichzeitig auch Kontakt zur lokalen ukra- aus dem industriellen Osten und Süden.
inischen Gemeinschaft: «Es gibt das ukrainische
Haus, dort finden Veranstaltungen statt, zu denen In der letzten Folge der ersten Staffel von Diener
Ukrainer und Polen eingeladen werden. Einige des Volkes erscheint dem zum Präsidenten gewor-
Schriftsteller, politische Persönlichkeiten. Ich ge­ denen Geschichtslehrer während einer Talkshow
höre dazu, das ist es, was mich interessiert.» eine furchteinflößende Gestalt im Kostüm des
Überraschenderweise gingen meine beiden Ge­ 16. Jahrhunderts. Iwan der Schreckliche versichert
sprächspartnerinnen praktisch nicht auf histori­ Holoborodko: «Bleibt tapfer, Blutsbrüder, bald be­
sche Ereignisse oder einzelne Zentralfiguren ein. freien wir euch!» Darauf antwortet dieser: «Nein

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Konzept & Kritik

danke, wir müssen nicht befreit werden (…) Wir 1 https://tsn.ua/politika/davayte-kozhen-chesno-


vidpovist-na-vazhlive-pitannya-hto-ya-novorichne-
gehören zu Europa. (…) Sie gehen einen Weg, wir
privitannya-prezidenta-zelenskogo-1468050.html.
gehen einen anderen. Gehen wir getrennte Wege
und sprechen uns in 300 Jahren wieder.» Die Szene 2 Für eine vergleichende Perspektive auf die Ansprachen
ukrainischer und russischer Präsidenten siehe Viktoria
mutet heute fast prophetisch an. Sereda: Istoricheskiy diskurs i natsionalʹnoye proshloye
Im Gegensatz zu den Pädagoginnen Anna und v ofitsialʹnykh rechakh prezidentov Ukrainy i Rossii, in:
Irina blieb Wolodymyr Selenskyj nicht nur in der Natsionalʹno-grazhdan skiye identichnosti i tole rant nostʹ.
Ukraine, sondern nahm eine gewaltige politische Opyt Rossii i Ukrainy v period transformatsii. Hg. von
L. Drobizhevoy / Ye. Golovakhi. K. Institut sotsiologii
Herausforderung an. Während die Geschichtsleh­
NAN Ukrainy; Institut sotsiologii RAN 2007.
rerinnen durch ihre Flucht gleichsam aus allen eta­
3 https://p.dw.com/p/3UyXm?maca=uk-EMail-sharing.
blierten historischen Narrativen fielen, musste aus
dem fiktiven Geschichtslehrer ein nationaler Ge­ 4 Vgl. https://www.president.gov.ua/en/videos/dnk-
ukrayini-ta-ukrayinciv-vidvojovuye-svoye-1921.
schichtspädagoge werden. Nach dem 24. Februar
2022 begann Selenskyj, sich von seinen früheren 5 Beide Namen sind geändert, um die Anonymität zu
moderaten Geschichtsbildern zu distanzieren. Der wahren.

Schock des Angriffs auf das eigene Territorium


machte Geschichte im Abwehrkampf zu einem In­
strument nationaler Sinnstiftung für die Ukrainer,
insbesondere für diejenigen, die sich angesichts der
brutalen russischen Bedrohung zunehmend mit
der ukrainischen Sache identifizieren. Es ist heute
schwer vorherzusagen, wie ukrainische Geschich­
te nach dem Krieg gelehrt werden wird. Auch
wenn der Krieg für viele junge Ukrainer das gene­
rationsstiftende Ereignis darstellt, so bedeutet er
doch keineswegs für alle die gleiche Erfahrung. Am
Ende wird vor allem der Ausgang des Krieges darü­
ber entscheiden, welche Lehren sie aus der Vergan­
genheit ihres Landes ziehen werden.

Aus dem Englischen von Daniel Schönpflug

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