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Ernst von Salomon

DIE GEÄCHTETEN

Roman
DIE VERSPRENGTEN

«Blut und Erkenntnis müssen zusammenfallen im


Leben. Dann entsteht Geist.»

FRANZ SCHAUWECKER

Wirre
Der Himmel über der Stadt schien mehr gerötet zu
sein als sonst. Das Licht der einsamen Laternen
prallte gegen den Novembernebel, färbte die feuchte,
gesättigte Luft und machte das Gewölke schwer und
milchig. Auf den Straßen war kaum ein Mensch zu
sehen. Von fernher kam gequält und hallend der
langhingezogene Ton einer Trompete. Das Geprassel
von Trommeln schlug drohend gegen die Häuser-
fronten, verfing sich in dunklen Höfen und machte die
verschlossenen Fenster zittern.
An der Hauptwache stand gedrängt eine Gruppe
von einigen zwanzig Schutzleuten. Sie hatten sehr
bleiche, fast schwammige Gesichter, und die Hände in
den weißen Handschuhen hingen schwer herunter.
An ihren braunen Koppeln hingen klotzig die drei-
eckigen Futterale ungefüger Pistolen. Sie standen und
warteten. Als meine Schritte über das Pflaster hallten,
wandten sie die Köpfe und folgten mir mit den Augen,
ohne daß sich sonst eine Miene ihrer Gesichter, ein
Glied ihrer Körper regte.
Einer von ihnen hatte das Band des Eisernen
Kreuzes im Knopfloch des blauen Uniformrockes. Er
stand einige Schritte vor dem geballten Haufen der
anderen und schien angespannt auf den Trompetenstoß
zu lauschen. «Geht's los?» fragte ich ihn und stockte,
und meine Stimme klang heiser. Der Schutzmann sah
mich mit stumpfen Augen an. Er stand unbeweglich
vor mir, wie ein Klotz; ich mußte den Kopf in den
Nacken senken, um ihn anzusehen. Er richtete seinen
müden Blick auf die blanken Knöpfe meiner Uniform,
sah mir dann erstaunt ins Gesicht, hob plötzlich die
riesige Hand auf meine Schulter und sagte: «Gehn
Sie man nach Hause und ziehen Sie Ihre Uniform
aus.» Und mir, der ich gewohnt war, Befehlen zu
gehorchen, schien dies wie ein Befehl: ich riß
erschreckt die Hacken zusammen wie vor einem
Offizier und sagte «Nein, nein — — — » und nach
einer unsagbar verwirrten Weile wieder «nein» und
ging dann, lief dann fast blind und stolpernd davon,
durch ausgestorbene Straßen mit blicklosen Häusern,
über weite Plätze, an deren Seiten nur vereinzelte
Schatten huschten, durch die Anlagen, in denen das
Laub auf dem Boden raschelte, daß ich vor dem Schritt
meiner eigenen Füße zusammenfuhr. Durch verhängte
Fenster drangen nur die schmalen Lichtlinien
umhüllter Lampen. Die Läden hatten eiserne Rolläden
mit kompakten Schlössern vor den weiten Flächen
ihrer Schaufenster. Fröstelnd hockte ich schließlich in
meiner Stube, indes der Hall der unheimlichen
Trompete durch die Straßen gellte.
Mich peinigte die Lautlosigkeit meines Zimmers.
Ich hatte auf dem Tische die Dinge aufgebaut, die mir
den Halt geben sollten. Das Bild meines Vaters, in
Uniform, bei Kriegsausbruch aufgenommen, die
Bilder von Freunden und Verwandten, die im Kriege
gefallen waren, die Feldbinde, den krummen
Husarensäbel, die Achselstücke, den französischen
Stahlhelm, die durchschossene Brieftasche meines
Bruders — das Blut war schon ganz dunkel und
fleckig geworden — die Epauletten meines
Großvaters mit den schweren, nun schwärzlichen
Silbertroddeln, ein Bündel Briefe aus dem Felde auf
stockigem Papier — aber ich konnte es nicht mehr
sehen, all das. Nein, ich konnte es nicht mehr sehen.
Dies alles war nicht mehr gültig. Dies alles gehörte
zum Bestande jener Siege, da aus allen Fenstern die
Fahnen hingen. Nun kamen keine Siege mehr, nun
hatten die Fahnen ihren leuchtenden Sinn verloren.
Nun, in diesem verworrenen Augenblick, da alles in
Trümmer ging, war der Weg verschüttet, der mir
vorgezeichnet war, stand ich unfaßlich vor dem
Neuen, vor dem, was sich herandrängte, ohne Gestalt
angenommen zu haben, ohne einen eindeutigen Anruf
klingen zu lassen, ohne eine Gewißheit zwingend ins
Hirn zu hämmern außer der, daß jene Welt, der ich
verhaftet war, zu der ich mich nicht zu bekennen
brauchte, da ich ihrer ein Teil, nun endgültig und
unwiderruflich in den Staub sank und nie mehr,
niemals wieder erstehen würde.
Ich beugte mich aus dem Fenster meiner Dach-
kammer. Unter mir in der Regenrinne klickerte das
Wasser. Ich sah die drohenden schwarzen Schatten
der Häuser, die nassen, zerflederten Bäume tief
drunten auf dem glitzernden Asphalt. Von der Straße
stieg ein fauliger Dunst herauf, kletterte am grauen
Stein, strömte in alle Ecken der kleinen Stube. Die
Kerze ging aus. Ich warf im Dunkeln die Dinge, die
auf dem Tische lagen, polternd in eine Schublade. Ich
schlief die ganze Nacht nicht. Ich war der gefährlichen
Stille ausgeliefert und wußte nur, daß ich zu bestehen
hatte, um jeden Preis zu bestehen, vor was es auch
immer sein möge. Denn was sich nun aus der Wirre
anbot, konnte nicht anders bezwungen werden als
durch die Unbeirrbarkeit einer Haltung, um die ich
von nun an zu ringen hatte.
Als ich am Morgen in die Küche kam, sah ich, wie
meine Mutter die weißen Achselklappen von meinem
Mantel trennte. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht
sehen, ich trank die dünne braune Brühe und griff
nach dem dunklen Brot, ich schnitt hastig zwei
feuchte Scheiben und saß kauend und mit gesenkten
Augen da. Dann nahm ich den Mantel, stieg in meine
Kammer und nähte die Achselklappen wieder an. Ich
ging leise, die Füße in den schweren, genagelten
halbschäftigen Kadettenstiefeln vorsichtig hebend, die
Stiege hinunter zum Vorplatz. Das Koppel schnallte
ich über den Mantel, entgegen der Vorschrift, die den
Kadetten das Unterschnallen gebot. Das Seiten-
gewehr, lang, schmal, in eleganter Lederscheide, war
blank und spitz, aber nicht geschliffen. Ich zog es
heraus und beschaute es verlegen.
Schließlich ging ich auf die Straße. Vor den Läden
standen wie immer die Frauen in langen Reihen. Sie
sprachen lebhaft miteinander. Die Hände über dem
Bauch gefaltet, die Taschen und Körbe am Arm, säen
sie mit rotgeränderten Augen aus grauem Gesicht
hinter mir her. Viele Geschäftsleute hatten ihre
Räume noch nicht geöffnet. Ein kleiner Mann mit
vergrämtem Gesicht stand auf hoher Leiter und
schraubte sorgfältig sein Hoflieferantenschild ab.
In der inneren Stadt hörte ich plötzlich aus einer
Hauptstraße, in die ich sofort einzubiegen beschloß,
lautes Getöse. Ich fühlte, wie sehr ich bleich wurde,
ich biß die Zähne zusammen und sagte mir:
«Haltung!» und zischte mir nochmals zu: «Haltung!»
und hörte Fetzen eines schrillen Gesanges, hörte
Schreie aus gesammelten Kehlen, ahnte Wirre und
Tumult. Eine riesige Fahne wurde einem langen Zuge
vorangetragen, und die Fahne war rot. Naß und trüb
hing sie an langer Stange und schwebte wie ein
blutiger Fleck über schnell zusammengeströmter
Menge. Ich blieb stehen und sah.
Der Fahne nach wälzten sich müde Haufen,
regellos durcheinanderstapfend. Weiber marschierten
an der Spitze. Sie schoben sich mit breiten Röcken
voran, die graue Haut der Gesichter hing in Falten
über spitzen Knochen. Der Hunger schien sie
ausgehöhlt zu haben. Sie sangen aus ihren dunklen,
zerfransten Umschlagetüchern heraus mit
scheppernden Stimmen ein Lied, dessen Rhythmus
nicht zu der zögernden Schwere ihres Ganges paßte.
Die Männer, alte und junge, Soldaten und Arbeiter
und viele Kleinbürger dazwischen, schritten mit
stumpfen, zermürbten Gesichtern, in denen ein
Schimmer dumpfer Entschlossenheit stand, und nichts
weiter als das, fielen immer wieder in Gleichschritt
und bemühten sich dann, wie ertappt, die Füße enger
oder weiter zu setzen. Viele trugen ihr Blechkännchen
mit sich, und hinter der nassen, vom Regen mit
dunklen Flecken getünchten roten Fahne beulten sich
Regenschirme über dem Zug.
So zogen sie, die Streiter der Revolution. Aus
diesem schwärzlichen Gewusel da sollte also die
glühende Flamme springen, sollte der Traum von Blut
und Barrikaden sich verwirklichen? Unmöglich, vor
denen da zu kapitulieren. Hohn über ihren Anspruch,
der keinen Stolz kennt, keine Siegessicherheit, keine
bändigenden Wellen. Gelächter über ihre Drohung,
denn diese da marschierten aus Hunger, aus
Müdigkeit, aus Neid, und unter diesen Zeichen hat
noch niemand gesiegt. Trotz über die Gefahr, denn
sie trug ein gestaltloses Antlitz, das Gesicht der
Masse, die sich breiig heranwälzt, bereit, alles in
ihren seimigen Strudel aufzunehmen, was sich nicht
widersetzt.
Ich aber wollte nicht dem Strudel verfallen. Ich
steifte mich und dachte «Kanaille» und «Pack» und
«Mob» und «Pöbel» und kniff die Augen zusammen
und besah diese dumpfen, ausgemergelten Gestalten;
wie Ratten, dachte ich, die den Staub der Gosse auf
ihren Rücken gen, sind sie, trippelnd und grau mit
kleinen, rotgeränderten Augen.
Auf einmal aber waren Matrosen da.
Matrosen waren da mit riesigen roten Schärpen;
Gewehre hatten sie in den Händen und lachende
Gesichter unter den bebänderten Mützen und breite,
elegante, flotte Hosen um lässig gesetzte Beine.
«Unsere blauen Jungens!» schoß es mir durch den
Kopf, und ich dachte, jetzt müsse mir der Ekel in den
Hals steigen, aber es war nicht der Ekel, es war Angst.
Die hatten die Revolution gemacht, diese jungen Kerls
mit den entschlossenen Gesichtern, die rüden
Burschen, die da Mädels untergehakt hatten und
sangen und lachten und johlten und dahinzogen, breit
und selbstbewußt mit nackten Hälsen und flatternden
Schlipsen. Ein Auto brauste heran, Matrosen standen
auf den Trittbrettern, hockten auf dem Kühler, und
das rote Tuch flatterte, bauschte sich wie ein Fanal.
Und einige waren dabei, die blickten frech, die schrien
heiser, die hatten gedrehte Locken in der Stirn, denen
kreischten die Weiber zu. Und die winkten herüber,
wohin winkten die, zu mir? Zu mir?
Da kam die Gefahr. Nicht ausweichen, dachte ich,
um Gottes willen nicht ausweichen! Ich griff nach
dem Seitengewehr und dachte daran, daß es nicht
geschliffen war, und ließ die Hand doch am Griff und
zog die Schultern zusammen und nahm das Kinn
zurück.
Vor mir aber ging ein Soldat, ohne Koppel, mit
braunen Gamaschen, ein junger Mensch mit Kneifer
und Aktentasche, und der hatte die Achselklappen
noch dran am langen Mantel. Und auf den gingen sie
zu, und einer, ein Artillerist, breit und untersetzt, mit
hohen, klobigen Stiefeln und mit der roten Kokarde an
der Feldmütze, der schrie: «Da ist ja noch einer!» und
hieb dem jungen Soldaten die Faust ins Gesicht und
riß ihm links, rechts die Achselklappen runter, daß er
taumelte, sich wandte, bleich, sehr bleich, und
stammelte: «Aber warum denn, warum denn nur?»
Und er zog den Kopf in die Schultern, und der
Kneifer splitterte, und das bleiche Gesicht wurde
feurigrot.
Diese Schweine, dachte ich, diese Bande, ich konnte
nichts anderes denken; aber dann stand der Artillerist
vor mir und hatte kleine, tückische Augen und
schmutziges Kinn und struppige Haare, und er hob die
Hände, rote, breite, behaarte Hände. Schnell sah ich
mich um. Viele Leute standen plötzlich im Kreis, auch
Frauen waren da und einer mit einem runden, steifen
Hut, und dieser hob den Regenschirm gegen mich,
und ein anderer lachte, viele lachten, aber ich dachte
nur an die Achselklappen. Alles hing an den
Achselklappen, meine Ehre — wie lächerlich, was lag
an den Achselklappen? — alles lag daran, und ich
griff zum Seitengewehr. Da pflanzte sich die Faust mir
mitten ins Gesicht.
Im Augenblick war alles dumpf, Auge, Nase und
Kinn, und warm rann das Blut. Stoß zu, dachte ich,
jetzt gibt es nur eins: stoß zu! Ich stieß, aber der
Artillerist spie mich an und lachte, und ich hatte den
Speichel im Gesicht, und eine Frau schrie: «Du Affe,
du Zierbengel, du Hosentrompeter», und ein Stock
flog mir ins Genick, und ich fiel. Einer trat mich, viele
traten und hieben, ich lag und stieß mit dem Fuß,
schlug um mich und wußte, es war umsonst, aber ich
war Kadett und die Achselklappen hatten sie nicht. Sie
lachten alle und johlten und schlugen, und mir lief das
Blut in die Augen, in die Nase, und plötzlich wurde es
still.
Aus dem Carlton-Hotel kam einer, ich sah ihn aus
verquollenen Augen, ein Offizier kam, der war
schlank und groß und trug blaue Husarenuniform und
hatte die Mütze schief auf und hatte Lackstiefel mit
Silberborte, und auf der Attila klebte das E.K. I. und
im Gesicht das Monokel. Er klatschte mit der Reit-
peitsche gegen die Stiefel und hatte ein schmales,
braunes, eckiges Gesicht, kam näher, klatschte mit der
Peitsche, hatte undurchdringliche Augen und ging
geradeswegs auf den Haufen zu. Die Weiber waren
still, der Haufen öffnete sich, der Mann mit dem
steifen Hut verschwand, der Artillerist war weg, der
Lange, Elegante, Blaue beugte sich, faßte mich am
Arm, ich taumelte hoch und stand stramm.
«Bitte, stehen Sie bequem», sagte er, er sagte: «Ich
bin auch Kadett gewesen, kommen Sie bitte in mein
Hotel.» Ich ging mit und wischte mir das Blut aus der
Nase und sagte: «Die Achselklappen haben sie mir
nicht abgerissen.»

Hoffnung
Damals, ich war gerade 16 Jahre alt und
Obersekundaner der 7. Kompanie der Königlich-
Preußischen Hauptkadettenanstalt, damals in den
ersten acht Tagen nach Ausbruch der Revolution
hatte ich den Plan, das Hauptquartier der Matrosen
auszuheben. Etwa achtzig Matrosen hatten in der
Stadt die Revolution gemacht, sie bildeten eine
Volksmarinedivision und saßen im Polizeipräsidium.
Mit einer Handvoll entschlossener Gesellen, so
dachte ich mir, mußte es möglich sein, sie auf einen
Schlag unschädlich zu machen. Aber es mußte
schnell geschehen, denn noch brodelte die Stadt, noch
knallten verlorene Schüsse in den Straßen, noch wußte
keiner, wie die Dinge sich gestalten würden. Das
Gebäude der «Volksstimme», das Polizeipräsidium,
die Post und der Bahnhof mußten in unsere Hand
gebracht werden, dann waren wir die Machthaber der
Stadt, bis die Soldaten der Front zurückkehrten. Mit
hundert Bewaffneten war dies wohl zu bewerk-
stelligen. Es galt nur, sie zu sammeln.
Es waren noch mehr Kadetten in der Stadt, ich
suchte sie der Reihe nach auf. Sie hatten alle das
sonderbarste Zivil angezogen, sie trugen kurze Hosen
aus früherer Knabenzeit oder umgearbeitete
feldgraue und dazu die blaue Litewka mit Schiller-
kragen. Sie schienen mit ihrer Uniform alle Sicherheit
der Haltung aufgegeben zu haben. Bleiche Mütter
fürchteten, ich würde ihre Söhne zu
Unbesonnenheiten verleiten, und die Söhne standen
verlegen dabei, und einer weinte, und ein anderer
sagte, er sei froh, daß die Revolution gekommen sei
und daß er nicht mehr ins Korps zurückbrauche, und
Ludendorff sei an allem schuld, das habe schon sein
Vater gesagt, und im Kasino sei ja doch bloß immer
nur von Pferden, Weibern und Saufen gesprochen
worden, und ein dritter, der still dabeistand, solange
seine Mutter klagte, lief mir auf der Treppe nach, als
ich gehen wollte, und flüsterte eilig, wenn ich etwas
vorhätte, sollte ich ihn benachrichtigen, aber seine
Mutter dürfe nichts davon wissen.
Tag für Tag strich ich um das Polizeipräsidium, ja,
ich wagte mich hinein, ließ mir den gutmütigen Spott
der Matrosen gefallen, die freilich in dem schüch-
ternen Kadetten keine Gefahr witterten, trotzdem das
Lacklederkoppel immer noch das ungeschliffene
Seitengewehr trug. Zwei Kriminalbeamte, die ich
kannte und die in ihren Zimmern saßen und ihren
Dienst unbehelligt weiter taten, machte ich empört auf
die Dreckwirtschaft aufmerksam, die durch die Matro-
sen in den Räumen herrschte, und sie hörten mich
freundlich an und lächelten, und dann sagte einer, sie
täten bloß ihre Pflicht als Kriminalbeamte, und das
weitere kümmere sie nicht. Und dann suchte ich den
Major Behring auf, einen Freund meines Vaters,
rotgesichtig, schnurrbärtig und leider wegen Hexen-
schusses nicht felddiensttauglich, und den weihte ich
ein in meinen Plan, und er war begeistert, und er
sagte, das würde ihm alle Hoffnung wiedergeben, daß
die deutsche Jugend so treu zum alten, herrlichen
Kaiserreich stünde und für die alten Ideale eintrete,
und er wünsche mir Gottes Segen zu meinem
Vorhaben, er selbst habe ja Frau und Kinder und ich
verstünde wohl, der verfluchte Hexenschuß, der ihn ja
auch leider, leider verhindert habe, seinem Kaiser zu
dienen — aber ich mußte weiter und ging und sah
unterwegs die Bekanntmachungen des Arbeiter- und
Soldaten-rates und stand davor und las und las und
verstand kein Wort und wußte nur, daß dies
feindlich war und daß dies ja alles gar nicht stimme,
und ich nahm freilich von den Zetteln, die ein Mann
mit roter Armbinde verteilte und die Beitrittser-
klärungen für die Sozialdemokratische Partei waren,
ich nahm einen ganzen Pack, aber nur, um sie
sorglich, über den Rinnstein gebückt, in einen
Kanalisationsschacht zu stecken. Ich irrte durch die
Straßen und prüfte und verwarf in Gedanken Hunderte
von Leuten, die ich hätte aufsuchen können, und
wetzte meinen Zorn an den vorbeipatrouillierenden
Matrosen mit ihren roten Armbinden und den roten
Papierblumen im Mützenband und kümmerte mich
längst nicht mehr um die vielen Blicke der Leute, die
meiner Uniform galten und dem Koppel und den
Kokarden. Die Stadt war ruhig, nur am Bahnhof
kamen noch kurze Demonstrationszüge vorbei; und
einmal, da stand an der Spitze des Zuges ein junger
Offizier, feldgrau, mit einer riesigen roten Schärpe,
und das war der Bahnhofskommandant; er hielt eine
Ansprache und erklärte, er bekenne sich voll und ganz
zur Sache, zur geheiligten Sache der Revolution. Und
ihn grüßte ich, ja, ihn grüßte ich, ich ging vorbei und
grüßte so stramm wie möglich, die Hand flitzte an
den Mützenrand, dicht an ihm ging ich vorbei und sah
ihn vorschriftsmäßig an, und er sah mich, und mitten
im Wort blieb sein Mund stehen, und seine Hand fuhr
zu halber Höhe und sank dann wieder zögernd, und er
wurde sehr rot im Gesicht.
Einen fand ich, der bereit war, mitzumachen. «Wir
wollen die rote Schweinebande schon ausräuchern»,
sagte er, und hatte auch einen Revolver, den er mir
zeigte, und vielleicht berührte nur dies mich peinlich
bei dieser unerwarteten Bereitschaft und der Art, sie
auszudrücken, daß es mein jüngerer Bruder war,
Kadett und Obertertianer. Sonst war keiner bereit,
nicht der Oberlehrer, der im dritten Stockwerk
wohnte, und der bebte vor Wut, wenn er nur das
Wort Sozialdemokrat hörte, aber nun murmelte er, die
Aufregung dieser Tage habe ihn ganz krank gemacht;
nicht der Kunstmaler von nebenan, Inhaber des
Kriegsverdienstkreuzes und Vorstandsmitglied des
Flottenvereins, der malte an einem Stilleben,
Erdbeeren auf einem Kohlblatt, und sagte, er müsse
erst seinem Werke leben; nicht der Kassenrendant,
Zahlmeister außer Dienst, der ging nach wie vor auf
sein Amt und hatte durchaus keine Zeit; nicht der
Vater meines lungenkranken Freundes, Textilfa-
brikant, der bangte um seinen Betrieb, fürchtete die
Wut seiner Arbeiter — und sie hatten alle recht, sie
hatten alle jenes verfluchte Recht für sich, die
maßvolle, weise Überlegung, mit der sie jeden Ein-
wand, jede auflodernde Begeisterung abwürgen
können. Und durch die Auflösung der bisherigen
Ordnung, die gleichzeitig geschah mit einer Freigabe
der tiefsten und geheimsten Wünsche und Süchte,
durch die Lockerung aller Bindungen entfernte sich
der eine vom anderen und brauchte es nicht mehr für
notwendig zu erachten, den eigentlichen Gehalt seines
Wesens ängstlich zu verschleiern. Ja, so standen sie
alle plötzlich für sich allein und konnten nur für sich
allein gewertet werden, und jede Freundschaft wurde
unmöglich.
Da ich Menschen nicht sammeln konnte, sammelte
ich Waffen, und es war leicht, Waffen zu sammeln.
In jedem Hause fast war mindestens ein Gewehr, und
meine Bekannten waren froh, daß ich ihnen die
gefährlichen Werkzeuge aus der Wohnung schleppte.
Nächtlicherweile trug ich Gewehr für Gewehr,
eingepackt und verschnürt, durch die Straßen und war
unendlich stolz, als sich die Waffen in meiner Dach-
kammer stapelten. Wenngleich ich nicht wußte, was
ich mit diesem Depot beginnen sollte, so vermittelte
mir das Bewußtsein des Besitzes jener Dinge doch
das erregende Glücksgefühl der Beherrschung tödli-
cher Mittel, und sicherlich war es die Gefahr ihres
Besitzes, die mich in ständiger Selbstachtung erhielt
und den Augenblicken meiner demütigenden Unt-
ätigkeit die Rechtfertigung verlieh.
Die Waffenstillstandsbedingungen wurden bekannt.
Mitten in einem großen Menschenhaufen stand ich
vor dem Gebäude der Zeitung. Da hingen die breiten
Bogen mit den knalligen Überschriften, und der Herr
vor mir las halblaut und stockend, und andere
drängten sich heran, sogar einer mit einer roten Binde
am Arm. Erst konnte ich nichts sehen, aber einer
lachte erregt und sagte, das wäre doch alles Unsinn,
das könnte doch gar nicht sein, und Wilson werde
schon dafür sorgen, daß... aber ein andrer sagte: «Ach
was, Wilson», und da war der erste still. Und einer
sagte, das hätten die Franzosen schon bei Ausbruch
des Krieges gesagt und gewollt; eine Frau schrie
heiser: «Aber da kommen ja die Franzosen bis
hierher?» Und dann stand ich vorne und las. Fett und
behäbig berichteten die Überschriften, und mein erstes
Gefühl war Ärger über die Zeitung, weil diese
entsetzlichen, trockenen, lakonischen Bedingungen fast
behaglich hergerichtet waren. Dann aber war mir, als
ob mir der Hunger, an den ich mich schon gewöhnt
glaubte, die Magenwände zusammenriß. Das stieg mir
bis zum Halse, füllte mir den Mund mit einer fauligen
Leere und ließ mir ein Flimmern in die Augen
schießen, so daß ich nicht mehr die Leute, die um
mich geballt standen, sehen konnte, daß ich überhaupt
nichts mehr sehen konnte außer dem Schwarz der
Buchstaben, die da eine Ungeheuerlichkeit nach der
anderen mit grauenhaftem Gleichmut in mein Hirn
schoben. Zuerst verstand ich nicht. Ich mußte mich
zwingen, zu verstehen. Ich glaubte, lachen zu müssen,
ich murmelte mit trockener Kehle vor mich hin, und je
länger meine Augen über die Zeilen hetzten, desto
schwerer stieg mir der Druck in den Hals. Schließlich
wußte ich nur eines, daß die Franzosen hierher kom-
men würden, daß die Franzosen als Sieger einrücken
würden in die Stadt.
Ich wandte mich an den Mann neben mir und
packte ihn am Arm und sah erst dann, daß er eine rote
Binde trug, und sagte trotzdem, und die Stimme war
brüchig: «Die Franzosen kommen her», und der sah
nur hin auf das Zeirungsblatt, und seine Augen hatten
einen starren Glanz; und einer sagte: «Die Flotte
müssen wir auch ausliefern» — und dann sprachen
sie alle durcheinander. Ich rannte aber nach Hause
und sah unterwegs, daß sich nichts verändert hatte,
während mir doch schien, als müsse die Stadt zu
schreien beginnen, als müsse es aus allen Gassen
brechen. Aber da standen nur vereinzelt Grüppchen an
den Ecken, Straßenredner holten mit mächtiger Geste
aus, und ich hörte, wenn Soldaten und Offiziere
gleiche Löhnung und gleiches Fresssen bekommen
hätten... aber da war doch noch ein alter Herr und
der meinte, heute sollten wir doch nicht nach Schuld
und Nichtschtschuld fragen, sondern da müsse das Volk
einig sein, denn die Franzosen kämen in die Stadt. Doch
man hörte nicht auf ihn, und es war rührend, zu sehen,
wie der alte Herr sich an einen nach dem anderen wandte
und auf ihn einsprach und wie sich einer nach dem
anderen nach kurzen Augenblicken anscheinend
gelangweilt abwandte und der alte Herr dann betrübt und
kopfschüttelnd weiterging. Einer, aber sagte und sah
hinter ihm her: «Man möchte bald sagen, lieber die
Franzosen im Land als die Roten», und erschrak dann
vor sich selber und ging mit eilig geschwungenem
Regenschirm davon.
Freilich rasten noch die Autos durch die Stadt,
vollbesetzt mit roten Bewaffneten, und ich musterte sie
genau und sah kräftige, entschlossene Gestalten, gepackt
vom Rausch der schnellen Fahrt, und überlegte mir, ob
ihnen auch der Rausch eines tollen Widerstandes gegen
den Einmarsch der Franzosen zuzutrauen sei. Und ich las
die Plakate, die roten Plakate mit den Bekanntmachungen
des Arbeiter- und Soldatenrates, und witterte hinter der
hallenden Wucht ihres Ausdrucks doch eine gefährliche,
bezaubernde Energie, hinter den prahlerischen Ver-
kündungen doch einen heißen Willen. Ja, da mir schien,
daß die fieberhafte Erwartung, die in den ersten Tagen
der Revolution der Stadt das Gepräge gab, immer mehr
einer stumpfen Resignation Platz gemacht habe,
wünschte ich mir Exzesse herbei und erschrak fast vor der
Befriedigung, die ich spürte, als es hieß, die Gefängnisse
seien gestürmt und geöffnet worden und man habe einen
fetten Gast des Café Astoria, der über einen
Demonstrationszug der Kriegsbeschädigten zu lachen
sich erdreistete, halb totgeprügelt. Die Bekleidungsdepots
wurden geplündert, und die Matrosen waren die
Anführer, und viele junge Mädchen der Stadt, die mit
den Matrosen befreundet waren, trugen auf einmal
notdürftig umgearbeitete feldgraue Mäntel. Aber in den
Straßen erschienen nach und nach an Stelle der
verwegenen Matrosenstreifen ältere Männer in schwar-
zem Rock und mit steifem Klappkragen, denen die rote
Binde seltsam genug auf dem Ärmel prangte, erschienen
die bleichen Soldaten der Amtsstuben, die statt der
Aktentasche das Gewehr trugen, mit der Mündung im
Dreck, wie es Sitte geworden war; aber was bei den
Matrosen als ein kühnes Zeichen der Aufehnung
erschien, war bei diesen nur der Ausdruck der geheimen
Angst, nicht als gefährlich betrachtet zu werden. Die
Matrosen zogen sich erbittert zurück, sie waren nicht
mehr die Helden der Revolution, sie fühlten sich
betrogen und strichen mit verbissenen Mienen an den
Ordnungssoldaten vorbei, an den Wachleuten, die überall
wichtig herumstanden und den vagierenden Matrosen
mit kleinen, kalt glitzernden Augen folgten.
In einer der Nächte zwischen jenen verworrenen Tagen
träumte ich vom Einmarsch der Franzosen. Ja, ich
träumte davon, obgleich ich außer den Kriegs-
gefangenen noch keine französischen Soldaten gesehen
hatte — und es sei hier gesagt, so, wie ich sie träumte,
so sah ich sie später, siebzehn Monate später, als sie
wirklich die Stadt besetzten —, und so sah ich sie: Sie
waren plötzlich in der Stadt, in der toten, gedämpften
Stadt, geschmeidige Gestalten, graublau wie das
Dämmerlicht, das zwischen den Häusern hing,
stumpfglänzende Helme über hellen Gesichtern, über
blonden Gesichtern, und sie gingen schnell, das
Gewehr geschultert und am Gewehr die Bajonette, sie
gingen mit federnden Knien, die Mäntel öffneten sich
vor ihren Knien, und sie stießen in die weiten, leeren
Plätze hinein, unbeirrbar, wie am Draht gezogen, und
vor ihnen wich der Dunst, der über der Stadt lagerte,
und es war, als stöhnte das Pflaster, als triebe jeder
Schritt einen spitzen Keil in den gemarterten Boden,
und es war, als duckten sich die Bäume und die
Häuser vor der jauchzenden Drohung des Sieges, vor
dem unbezwinglichen, tödlichen Rausch ihres
Marsches; Kolonnen marschierten, endlose, exakte,
prachtvolle Kolonnen, mit Geblitze und Gefunkel und
mit glänzenden Kupfernaben an den Rädern der Ge-
schütze; und wie ein Schrei stiegen die steilen Lichter
ihrer grellen Fahnen, wie ein Schrei fuhr über dem
Brausen der kurzen, knatternden Schritte plötzlich
das Schmettern der Clairons — wo sah ich das, wo
hörte ich das, den Marsch des Regimentes Sambre et
Meuse? —, eine wilde, hallende, todesmutige Musik,
die ihren gellenden Jubel an den Himmel hetzte, in
die Herzen der Gegner jagte, in die Steine preßte —
und vor ihr war Flucht, Panik und das namenlose
Entsetzen vor dem Unentrinnbaren. Maßlos war der
Hohn, marternd der Jubel, unerträglich das Gelächter
des Siegers, des Herrschers, über den Hunger, über
die Not, über das Gewinsel, über die flatternde,
brechende, verzweifelte Gegenwehr. Und dazwischen
kamen hurtige Kolonnen, kleine Gestalten, schmal,
gelenkig, bräunlich, wie Katzen; Tunesier, mit Pföt-
chenschritten und bleckenden Zähnen, sie schlängelten
sich, blitzend funkelnde Augen schweiften, Witterung
der Wüste, Unruhe unter glühheißer Sonne, über
flimmernden, weißen Sand; dazwischen in flattern-
den, leuchtenden Mänteln, auf winzigen, zähen
Pferden, wendig, geschickt, blutzischend, die Spahis;
dazwischen, schwarz wie die Pest, lange Beine,
muskulöse, seidige Körper, blanke Gesichter, ge-
wölbte, gierige Nüstern, die Neger! Und wir, über-
rannt, übertrampelt, gebändigt: das darf bei Gott nicht
sein! Unnennbare Wucht: und wir zerschmettert vor
ihr, wir in den Staub getreten, jeden Anspruchs bar,
Besiegte, Geschändete, Aufgegebene, nie wieder
Leuchtende ...
«Nach dieser Revolution wird der Usurpator
kommen», las ich in der Zeitung, und seiner Sache
gewiß verwies der «Generalanzeiger» auf das
Beispiel der Französischen Revolution und
Napoleons. Ich hatte noch ein Bild des Korsen im
Schrank — seit Kriegsausbruch hing es nicht mehr in
meinem Spind. Ich suchte nach dem Bild und erschrak
vor diesem Gesicht. Das war bleich und schwammig,
und ich dachte, wenn man mit einer Nadel hinein-
stäche, dann platzte die Haut und es müßte weißlich
und fett aus der Wunde quellen. Aber die Augen sta-
chen dunkel und voll der gefährlichsten Rätsel unter
der zerflederten Locke. Ja, Napoleon, der Usurpator,
stammte aus der Revolution. Dieser stürmische Blick,
hatte der nicht alles zusammenbrechen sehen, hatte
der nicht gebändigt, was schaumig auseinander-
zufließen drohte, stand nicht unter der unmittelbaren
Drohung dieses Blickes Frankreich und die Welt?
Wenn das neu war, was damals entstand, dann wurde
es neu, weil hinter dieser Stirn die flackernden
Wünsche der Menschen nach Gerechtigkeit, nach dem
Freisein, nach dem Brot, nach dem Ruhm und nach der
Liebe in den Wirbeln eines tollen Hohnes geballt, ge-
sammelt, eingekocht und in blitzende Energien
verwandelt wurden, weil diese zwingenden Augen in
sich sogen, was nach dem Niederbruch an Kraft und
Bewegung auf brachen Feldern lag, weil dieser
schmale, gebieterische Mund Worte formte, dieses
kalte, glühende Herz Pläne gebar, die das brodelnde
Paris, das zerfleischte Frankreich zusammenschleu-
derte zu einem einzigen, kompakten Kern, der wuchs
und wuchs und alle Grenzen sprengte, und alle
Grenzen sprengen sollte. Mit welch entflammendem
Schauder las ich von jenem gallischen, sengenden,
nüchternen Heroismus, der die zerfetzten, hungernden,
marodierenden Scharen gegen die eindringenden
Armeen trieb, der das Salpeter von den Kellerwänden
kratzte, um Pulver zu haben, der Generäle auf die
Guillotine schleppte, weil sie, entgegen dem Befehl,
nicht gesiegt. Aus diesen Bereichen wuchs der Korse,
das war die Revolution, die den Usurpator gebar.
Levée en masse — wer bot uns das Wort? das war
es, ja, das war es! Wir mußten alle aufstehen gegen
den Feind. Wir mußten der Revolution einen Sinn
geben, wir mußten das Land aufkochen lassen, die
Fahnen, die gültig waren, und seien es die roten, nach
vorn tragen — das mußten wir. Sollten wir nicht die
Revolution lieben lernen? Hatte nicht Kerenski
weitergekämpft und hatte nicht Lenin der ganzen
Welt den Krieg erklärt? Wir würden alle Waffen
tragen, und wir würden sie tragen mit der
Leidenschaft des Sieges, die uns mehr verhieß, als
seren Bestand zu wahren, die uns einer Mission wert
sein ließ, die der Verzweiflung ihren fahlen
Schimmer nahm und aus Busch und Hecke, aus
jedem Fenster, jedem Torweg unsern Haß und unsern
Glauben spritzte. Wer sollte widerstehen unserm
Aufstand? Der Mann, der uns das Wort bot, stand
nicht im Ruche krauser Phantasterei — wir sollten's
wagen!
Ich wollte die Revolution lieben lernen; vielleicht
waren ihre Energien noch nicht geweckt. Vielleicht
lauerten die Matrosen auf die Parole, vielleicht
standen die Arbeiter, die Soldaten bereits zu heim-
lichen Bataillonen geformt, vielleicht war die Sprache
der Aufrufe schon gesprüht aus den quirlenden Gluten
eines unmeßbaren, ungeheuerlichen, welttrotzenden
revolutionären Willens — die aktivsten Elemente der
Nation trugen die Waffen schon in den Händen.
Und ich lief durch die Stadt, aber die Stadt war
ruhig. Und ich drängte mich in die Versammlungen,
aber erhitzte Redner donnerten von Junkern, Pfaffen
und Schlotbaronen und vom fluchbeladenen
Hohenzollernregime. Und ich las mit Inbrunst die
Proklamationen, aber da stand etwas von einem
Demobilmachungskommissar und Anordnungen zur
Durchführung der Waffenstillstandsbedingungen.
Und ich rannte durch die Straßen, aber die Menschen
gingen zur Arbeit, sie blieben kaum stehen vor den
grellroten Plakaten, sie gingen müde in alten, ab-
geschabten Kleidern dem Erwerb nach, unendlich
geduldig, verdrossen, und wenn sie etwas sprachen,
dann war es wie gemurrt, und die Frauen standen wie
immer an den Ecken in langen Reihen und warteten
ergeben. Ich schmiß mich an die Wachleute, aber die
sahen mich mißtrauisch an und führten Worte im
Mund, die ich kannte, zerledert und abgekaut und
hundertmal gehört. Und ich sah geballte Massen mit
wehenden Fahnen und prangenden Schildern, aber da
schrie es über die Plätze: «Nie wieder Krieg!» und
«Gebt uns Brot!», und sie standen und sprachen vom
Generalstreik und von Betriebsrätewahlen. Und ich
wandte mich an meine Bekannten, an Bürger, an
Offiziere, an Beamte, aber die sagten, es müsse erst
Ordnung werden, und sprachen von der Schweine-
wirtschaft, mit der unsere zurückkehrenden Feldgrauen
schon aufräumen würden.
Aber die Matrosen, die Matrosen hatten die
Revolution gemacht, sie waren wie das mahnende
Gewissen aus ersten Tagen des Aufbruches, sie
strichen kühn durch die Stadt, sie waren Keim und
Träger jeder Erregung. Zum zweiten Male ging ich ins
Polizeipräsidium, stieg über die schmutzige, aus-
getretene Treppe, ging in ein Zimmer mit rohen
Holztischen und Bänken, auf denen Kochgeschirre,
Brotbeutel, Bierkannen, Seifenstücke, Kämme, Ta-
baksbeutel, Fettgläser, Speckstücke in tollem Wirrwar
lagen und dazwischen verstreut Patronen, Karabiner,
Seitengewehre, Lederzeug, indes ein Maschinen-
gewehr gebuckelt in der Ecke stand neben einer Kiste
Handgranaten. Da lagen, hockten, standen die
Matrosen, rauchten, spielten, dösten, aßen, sprachen,
und über ihnen hing die Luft, schwer und blau, aus
Schweiß und Staub und Rauch, der Ruch eines
Heerlagers, voll sonderbar beklemmender Würze,
gleich als ob alles ahnen ließe, daß hier Sprengstoffe
lagerten, die auf den zündenden und befreienden
Funken warteten.
Und ich erniedrigte mich, ließ mich anfahren oder
höhnisch belächeln, stand im Wege, ging nicht, bot
schlechten Tabak an, mischte mich heiser in rüde
Unterhaltung, belachte die Zoten, erzählte selber eine,
biederte mich an, schmiß mich heran, suchte mir
einen, zwei, die abseits saßen, holte Zeitungen vor.
Und einer, ein Kleiner, Junger, mit kessem Gesicht,
der fragte mich aus, den log ich an, beschimpfte den
Kaiser, ließ mir erzählen von prahlerischen Heldentaten,
wie sie ihre Offiziere verprügelt, wie viele Mädchen sie
über die Bank gezogen, bestaunte ihn, bis der
geschmeichelt duldete, daß ich über die Wachleute
herzog, über die schlappen Hunde, die die Revolution
verraten wollten, aus Furcht vor den Bourgeois und aus
Furcht vor den Franzosen. Und ob er wüßte, daß die
Franzosen herkämen, und was sie dann machen würden,
die Franzosen würden doch keine Bewaffneten dulden,
und ob sie kämpfen würden, ob sie kämpfen würden
gegen die Franzosen?
Da lachte der Kerl und sagte: «Wir nicht, wer noch?»
und spie in die Ecke.

Heimkehr

In der Mitte des Dezember rückten die Fronttruppen


in die Stadt. Es war nur eine Division; sie kam aus
der Gegend von Verdun.
Auf den Bürgersteigen drängte sich die Menge.
Einzelne Häuser zeigten schüchtern die schwarz-weiß-
roten Fahnen. Viele junge Mädchen und Frauen
standen da, einzelne von ihnen trugen Blumen in
Körben oder kleine Päckchen. Immer mehr Leute
kamen hinzu, die Hauptstraßen waren angefüllt mit
Massen, die sich nach mancherlei Bewegung geduldig
an die Bürgersteige schoben. Wir standen und warte-
ten auf die Front.
Es war, als ob der finstere Druck, der nun schon
seit Wochen über der Stadt lag, einen Teil seines
Gewichtes verloren hätte, als ob sich der Starrkrampf
gelöst hätte, der bislang die Menschen aus ihrer
Gemeinsamkeit gestoßen hatte. Es war fast so wie
früher, wenn ein großer Sieg gemeldet wurde. Wir
glaubten alle, einander zu erkennen, bereit, unserer
Stimmung Ausdruck zu geben, und von vornherein
geneigt, zu glauben, was uns erfülle, müsse auch die
anderen bewegen. Die Front kam. Nun würde es sich
entscheiden. Denn wir haben alle gelitten, da wir
spürten, daß inmitten des Wirbels, daß trotz der
Ereignisse, der Wandlungen, der Geschicke das Eigent-
liche, das Wahrhafte, das Wirkliche noch ausstand. Die
Front würde es bringen. Es war unmöglich, daß nun die
Lösung nicht einträfe; wir konnten es kaum ertragen, so
zu leben, so herausgerissen, so aufgegeben, so abseits
unseres eigenen Glaubens. Wir standen und reckten die
Hälse hoch, ob sie noch nicht kommen, und alle
Wünsche sammelten sich dem einen Punkt. Nun wurde
alles anders. Die Front kam und mußte mit sich tragen
den Hauch der Welt, die vier Jahre lang gültig war. Wir
standen und warteten auf die Besten der Nation. Ihr
Einsatz konnte doch nicht vergeblich gewesen sein. Die
Toten des Krieges fielen doch nicht umsonst, das durfte
ja nicht sein, das war unmöglich.
Ich dachte, da stehen wir nun alle und warten, und
jeder formuliert nun seine Wünsche, und sie sind
vielgestaltig genug. Aber eindeutig mußte doch sein die
Anerkenntnis ihrer Größe, sie lag schon im Verzicht auf
eine eigene Entscheidung. Die Front kehrte heim. Um
sie wob die Zuversicht einen strahlenden Schein. Auf
einmal waren unsere Reden und Meinungen wieder
befreit von dem muffigen Dunst der Hinterzimmer, in die
sie seit Wochen verbannt. Unsere Feldgrauen kehrten
heim, unsere schimmernde Armee, die ihre Pflicht tat bis
zum Äußersten, die unsere glänzendsten Siege erfocht,
Siege, deren Glanz uns nun fast unerträglich dünkte, nun,
da der Krieg verloren war. Das Heer war nicht besiegt.
Die Front stand bis zuletzt. Sie kam zurück und sie
würde alle Bindungen wieder knüpfen.
Die Vielfalt unsrer Wünsche, die der Masse die
eigentümliche Bewegung und Erregtheit verlieh, suchte
ihren Ausdruck. Es war Gemurmel in den Reihen,
Gruppen formten sich, es standen kleine Häuflein rund
geballt um eifrig gestikulierende Gestalten. Man
erzählte sich, die Truppen wären von der Front bis hier
zu Fuß marschiert. Sie hätten sich geweigert, Soldatenräte
einzurichten. Und ihnen auf dem Fuße folgten die
Franzosen. Ein Name, eine Zahl, sie standen plötzlich im
Kerne unseres Denkens. Fast niemand hatte vorher von
dieser Division gehört, von der 213. Infanterie-Division,
es war schlicht eine Division mit hoher Nummer, eine
von vielen, eine, die die ganzen Jahre an der Westfront
kämpfte. Zuletzt bei Verdun. Mehr wußte man nicht von
dieser Division, die nun in die Stadt marschieren sollte,
die nun mit herrisch stolzem, von allen unbedenklich
zuerkanntem Anspruch in die geheimsten Bezirke
unserer Erwägung griff. Sie sollte in der Stadt nicht
bleiben, am nächsten Tage zog sie weiter. Doch die
Stadt, sie spürte ihre freudige Pflicht, den tapferen
Kämpfern den festlichen Empfang zu spenden, der ihnen
wohl gebührte, den Dank der Heimat ihnen kundzutun,
mit offnen Armen sie zu grüßen, dankbar, stolz und
warmen Herzens. Das waren unsere Helden, die nun
nahten, die Unbesiegten, die ein neidisches Schicksal um
den Enderfolg gebracht. Und aller Trauer sehr zum Trotz
und ungeachtet, daß die Verhältnisse der Heimat sich
gewandelt, es war nicht mehr wie recht, in Einigkeit, fern
jedem kleinen Hader, sie willkommen heißend zu
empfangen.
Es wurde immer wieder hin und her gefragt. Noch
hörten wir das Brausen nicht, das ihre Ankunft melden
mußte. Noch klang das Schmettern der Trompeten nicht
und nicht der dumpfe Paukenkrach, noch tauchten nicht
die Fahnen auf.
Naßgrau war der Tag und kalt. Ich stand eingekeilt;
der Schweiß, den mir des unbekannten Nachbarn
Körperwärme schuf, bezog die Stirn mit ekler Schicht.
Das Summen der Erregung prallte an die Häuser, wir
warteten und lauschten, schwatzten, zitterten im Frost
und in der feuchten Wärme, gefoltert von der Spannung.
Plötzlich waren die Soldaten da. Man hörte sie
kaum, nur die Massen gerieten in kurze Bewegung.
Einzelne Zurufe erklangen, die niemand verstand, die
sofort wieder erstarben. Eine Frau begann zu weinen,
ihre Schultern hoben sich zuckend, sie schluchzte still
vor sich hin, die Hände ineinander gekrampft.
Die Wachleute breiteten die Arme aus und
stemmten sich gegen die Menge. Aber sie wurden
verschluckt, mit einem Ruck schob sich die
Menschenmauer vor.
Da kamen sie, ja, da kamen sie. Da waren sie auf
einmal, graue Gestalten, eine Reihe von Gewehren
über runden, stumpfen Helmen.
«Warum ist denn keine Musik?» flüsterte einer,
heiser atemlos. «Warum hat denn der Bürgermeister
keine Musik?» Unwilliges Gezisch. Und Totenstille.
Dann rief einer «Hurra...» Von ganz hinten. Und
wieder war Stille.
Ganz schnell gingen die Soldaten, dicht
aneinandergedrängt. Wie Schemen tauchten die
vordersten vier Mann auf. Sie hatten steinerne, starre
Gesichter. Der Leutnant, der neben der ersten
Gruppe ging, trug blanke, glitzernde Achselstücke auf
einem lehmgrauen, zerschlissenen Rock. Sie kamen
heran.
Die Augen lagen tief, im Schatten des Helmrands,
gebettet in dunkle, graue, scharfkantige Höhlen. Nicht
rechts, nicht links blickten die Augen. Immer
geradeaus, als seien sie gebannt von einem schreckli-
chen Ziel, als spähten sie aus Lehmloch und Graben
über zerrissene Erde. Vor ihnen blieb freier Raum.
Sie sprachen kein Wort. Kein Mund öffnete sich in
den hageren Gesichtern. Nur einmal, als ein Herr
vorsprang und, bittend fast, den Soldaten ein
Kistchen hinhielt, fuhr Leutnant mit unmutiger Hand
beiseite und sagte: «So lassen Sie das doch, hinter
uns kommt noch eine ganze Division. »
Die Soldaten marschierten. Eine Gruppe, dicht
aufgeschlossen die Rotten, die zweite Gruppe, die
dritte. Abstand. Weiter Abstand. Das war wohl eine
Kompanie? Wie, das war wohl eine ganze Kom-
panie? Drei Gruppen?
O Gott, wie sahen sie aus, wie sahen diese Männer
aus! Was war das, was da heranmarschierte? Diese
ausgemergelten, unbewegten Gesichter unter dem
Stahlhelm, diese knochigen Glieder, diese zerfetzten,
staubigen Uniformen! Schritt um Schritt marschierten
sie, und um sie herum war gleichsam unendliche
Leere. Ja, es war, als zögen sie einen Bannkreis um
sich, einen magischen Zirkel, in dem gefährliche
Gewalten, dem Auge der Ausgeschlossenen un-
sichtbar, geheimes Wesen trieben. Trugen sie noch,
zu einem Knäuel quirlender Visionen geballt, die
Wirre tosender Schlachten im Hirn, wie sie den Dreck
und den Staub der zerschluchteten Felder noch in den
Uniformen trugen? Dies war kaum zu ertragen. Sie
marschierten ja, als seien sie Abgesandte des Todes,
des Grauens, der tödlichsten, einsamsten, eisigsten
Kälte. Hier war doch die Heimat, hier wartete die
Wärme auf sie, das Glück, warum schwiegen sie,
warum schrien sie nicht, warum jubelten sie nicht,
warum lachten sie nicht?
Die nächste Kompanie rückte an. Die Menge,
zurückgeprallt vor der wütenden, überraschenden,
quälenden Wucht der ersten Gruppen, drängte wieder
vor. Aber die Soldaten stießen wie blind in die
Straßen hinein, in trappendem Gleichschritt, schnell,
geschlossen, unberührt von den tausend Wünschen,
Ahnungen, Grüßen, die sich um sie woben. Und die
Menge war still.
Nur wenige waren mit Blumen geschmückt. Und die
Blumensträußchen auf den Gewehrläufen hingen
verwelkt. Die jungen Mädchen hatten Blumen in den
Händen, aber nun standen sie da, bebend, hilflos,
verlegen, es zuckte in ihren Gesichtern, die, bleich den
Soldaten zugewandt, angstvolle Augen zeigten. Die
Soldaten marschierten. Ein Offizier trug achtlos einen
Lorbeerkranz in der Hand, schlenkerte ihn, zog die
Schultern hoch.
Die Menge raffte sich auf. Einzelne Schreie
prasselten, wie aus verrosteten Kehlen. Hier und da
wurde mit Taschentüchern gewinkt. Die Menge warb
um die Truppen, erschüttert stammelte einer: «Unsere
Helden, unsere Helden!» Da marschierten sie, unsere
Helden, da strichen sie vorbei, unerschütterlich, die
Schultern vorgeschoben, der Stahlhelm fast überragt
vom klotzigen Gepäck, schnurgerade ausgerichtet, mit
schleudernden, knackenden Knien, Kompanie auf
Kompanie zog vorüber, kleine, geballte Häuflein mit
weiten Abständen. Der Schweiß rann den Soldaten
aus dem Helm über die dürren, grauen Backen, die
Nasen sprangen spitz nach vorn.
Keine Fahne. Kein Zeichen des Sieges. Nun kamen
schon die Bagagewagen. Das war ein ganzes
Regiment.
Und wie ich diese tödlich entschlossenen Gesichter
sah, diese harten, wie aus Holz zurechtgehackten
Gesichter, diese Augen, die fremd an der Menge
vorbeisahen, fremd, unverbunden, feindlich — ja,
feindlich — da wußte ich, da überfiel es mich, da
erstarrte ich — — das war ja alles ganz anders, das
war ja alles ganz, ganz anders, das war ja alles gar
nicht so, wie wir es dachten, wir alle, die wir hier
standen, wie ich es dachte, jetzt und die ganzen Jahre
hindurch, das mußte ja alles ganz anders gewesen
sein. Was wußten wir denn? Was wußten wir denn
von diesen da? Von der Front? Von unseren Soldaten?
Nichts, nichts, nichts wußten wir. O Gott, dies war
entsetzlich. Das war ja alles gar nicht wahr; was hatte
man uns erzählt? Man hatte uns ja belogen, das waren
nicht unsere Feldgrauen, unsere Helden, unsere
Beschützer der Heimat — das waren Männer, die
nicht gehörten zu dem, was sich hier in den Straßen
gesammelt hatte, die nicht dazu gehören wollten, die
aus anderen Bereichen kamen, die andere Gesetze
kannten, andere Freundschaften spürten. Und auf
einmal, da dünkte mich alles schal und leer, das,
worauf ich gehofft hatte, das, was ich gewünscht
hatte, das, wofür ich mich begeistert hatte. Daß diese
da, die Männer, die da marschierten, das Gewehr
geschultert und strenge abgeschlossen von allem, was
nicht ihresgleichen war, daß diese da nicht zu uns
gehören wollten, das war es, das Entscheidende. Sie
gehörten nicht zu uns, sie gehörten nicht zu den
Roten, vor ihnen glitt unsere ganze, schaumige,
verkrampfte, lächerliche Wichtigkeit auseinander wie
das Wasser vor dem Bug eines Schiffes. Alles, was
wir gedacht hatten, was wir gehofft hatten, was wir
ausgesprochen hatten, war ungültig geworden. Welch
ein ungeheuerlicher Irrtum war es, der es vermochte,
uns vier Jahre lang glauben zu machen, wir gehörten
zueinander, welch ein Irrtum, der jetzt zerbrach!
Nun kam ein Offizier auf dürrem, kotigem Pferd.
Dicht an mir ritt er vorbei, ein Major, und ich riß die
Hacken zusammen. Aber er sah mich nicht einmal an.
Er wandte den Gaul, daß der vorne etwas stieg, mit
der breiten Kruppe, den stakenden Beinen die Menge
hinter sich beiseitefegte. Dann stand der Gaul, zu uns
in Front, der Major hob die Hand zum Helm und sah
der Truppe entgegen.
Ein Offizier sprang an seinen Platz und rief ein
Kommando. Das riß die Soldaten zusammen, das
drehte die Helme mit einem Ruck, die Beine zuckten
hoch, wie aus den Gelenken geschnellt, dann knallten
die Stiefel aufs Pflaster. Vorbeimarsch. Wie denn,
gab es das denn noch? Und ohne Musik?
Der Major saß gekrümmt auf dem Gaul. Sein
Regiment defilierte vorbei. Die müden, verrosteten
Beine hieben den Boden. Die Menge stand rundum
und regte sich nicht. Das hatte ja keinen Sinn, das da.
Wozu dieser Parademarsch, ohne Musik, ohne
Fahnen, ohne Anlaß, ohne Glanz? Oder hatte das doch
einen Sinn? Einen, der tiefer lag, ferner war, als wir
ihn verstehen konnten? Das war kein Schauspiel für
uns, oder sollte es doch eines sein? Das war, ja, das
war eine Herausforderung, das war Hohn, Trotz,
Verachtung, das war eine Demonstration der Front,
eine verbissene Provokation. Der verlachte
Parademarsch, das sinnlose Zusammenreißen und
Beineschmeißen! Ja seht, denen ist es nicht sinnlos,
die wissen, daß ihr euch nun schämt. Daß ihr nun
nicht lachen könnt, ihr Roten nicht und nicht ihr
Bürger, die ihr bereit wart, um eurer Ruhe willen, um
eurer Sicherheit, eurer Achtbarkeit willen zuzugeben,
daß so ein Parademarsch sinnlos sei. Und ihr glaubtet
gar, die Front sei mit euch einig, ihr Bürger? Ihr
glaubtet gar, die Front sei so liberal wie ihr, so
vernünftig, so voll einer nachsichtig begreifenden
Bonhomie?!
Das Regiment dröhnte vorbei. Nein, der
Wachmann wagte nicht, zu lächeln. Der Major setzte
den Gaul in einen schwerfälligen, holpernden Trab,
ritt nach vorn. Nun kamen wieder Bagagewagen.
Unbewegt saßen die Fahrer. Und wenn einer ihnen
was hinaufwarf, dann dankten sie nicht, dann grüßten
sie nicht, dann stopften sie schnell die Gabe in den
Karren und griffen wieder zu den Zügeln. Da waren
auch ein paar Fähnchen, billiges Tuch an kleinen
Stöcken, sie staken an den Wagen, matt hing das
Tuch. Maschinengewehrwagen rollten vorbei, mit
großflächigen bunten Klecksereien bemalt. Die
Männer marschierten hinter den Gewehren, den Gurt
über der Schulter, hinter jedem Wagen acht Mann.
Und dann kamen Geschütze. Die Bedienung
aufgesessen. Die Stahlhelme rutschten den Kanonieren
bei dem Geholper über das Pflaster schräg ins Gesicht.
Mutige Mädchen reichten ihnen Blumen hinauf. Einer
sah überhaupt nicht hin, einer nahm ohne Dank und
legte den Strauß neben sich, einer schaute überrascht
hoch, lächelte nicht, nahm die Blumen und hielt sie
verlegen in den Händen.
Und während dieser ganzen Zeit schluchzte die
Frau. Sie hauchte dumpfe, verlorene Töne durch
halbgeöffneten Mund, ganz tief und trocken gurgelte
das Weinen aus der Brust. Man hörte jeden Laut,
denn die Menge stand stumm und sah.
Wieder Infanterie. Nein, sie wollten nichts wissen
von uns. Oder stak ihnen noch das Grauen in den
Augen, in den Kehlen, waren sie noch nicht
Entlassene des Krieges? Diese Bataillone kamen
direkt von der Front. Sie kamen aus einer Landschaft,
die wir nicht kannten, von der wir nichts wußten, sie
kamen aus Bereichen, die glühend waren wie
Schmelztiegel, in denen sie umgegossen wurden,
ausgebrannt, ausgeschlackt, sie kamen aus einer
einmaligen Welt. Was diese Augen gesehen hatten,
die da unter dem Helme nach vorn stierten, davon
haben wir nichts gewußt, davon haben wir nur vage
gehört, nur verzerrte Berichte gelesen, nur schlechte
Bilder gesehen. Da marschierten sie, stumm, einsam,
und immer noch wie unter der steten Androhung des
Todes. Volk, Vaterland, Heimat, Pflicht. Ja, das haben
wir gesagt, diese Worte standen im Kurs — und
glaubten wir nicht an sie? Wir glaubten an sie?! Aber
diese? Die Front, die da vorüberzog?
Kompanie auf Kompanie zog vorüber, erbarmens-
würdig kleine Grüppchen, einen gefährlichen Hauch
mit sich führend, eine Witterung von Blut, Stahl,
Sprengstoff und jähem Zugriff. Ob sie die Revolution
haßten? Ob sie gegen die Revolution marschieren
werden? Ob sie, Arbeiter, Bauern, Studenten, nun
einrücken in unsere Welt, werden wie wir, mit unseren
Sorgen, unserem Wollen, unseren Kämpfen, unseren
Zielen?
Und plötzlich begriff ich: Dies, dies waren ja gar
nicht Arbeiter, Bauern, Studenten, nein, dies waren
nicht Handwerker, Angestellte, Kaufleute, Beamte,
dies waren Soldaten. Nicht Verkleidete, nicht Be-
fohlene, nicht Entsandte, dies waren Männer, die dem
Anruf gehorchten, dem geheimen Anruf des Blutes,
des Geistes, Freiwillige, so oder so, Männer, die eine
harte Gemeinsamkeit erfuhren und die Dinge hinter
den Dingen — und die im Kriege eine Heimat fanden.
Heimat, Vaterland, Volk, Nation! Da die großen Worte
— wenn wir sie aussprachen, dann war es nicht echt.
Darum, darum wollen sie nicht zu uns gehören. Darum
dieser stumme, gewaltige, gespenstische Einmarsch. —
Denn die Heimat war bei ihnen. Bei ihnen war die
Nation. Das, was wir marktschreierisch in die Welt
hinausprahlten, das hatte bei ihnen seinen geheimen Sinn
erfahren, dem hatten sie gelebt, das hieß sie das zu tun,
was wir wohlgefällig Pflicht nannten. Die Heimat war
plötzlich bei ihnen, sie hatte sich verlagert, sie wurde,
von ungeheuerlichem Strudel gepackt, hinausgewirbelt,
emporgeschleudert, sie kam zur Front.
Die Front war deren Heimat, war das Vaterland, die
Nation. Und niemals sprachen sie davon. Niemals
glaubten sie an das Wort, sie glaubten an sich. Der
Krieg zwang sie, der Krieg beherrschte sie, der Krieg
wird sie niemals entlassen, niemals werden sie
heimkehren können, niemals werden sie ganz zu uns
gehören, sie werden immer die Front im Blute tragen,
den nahen Tod, die Bereitschaft, das Grauen, den
Rausch, das Eisen. Was nun geschah, dieser Einmarsch,
dies Hineinfügen in die friedliche, in die gefügte, in die
bürgerliche Welt, das war eine Verpflanzung, eine
Verfälschung, das konnte niemals gelingen. Der Krieg ist
zu Ende. Die Krieger marschieren immer noch. Und da
hier die Masse steht, da hier die Menge steht, hier die in
Neuordnung begriffene deutsche Welt, gärend,
unbeholfen, aus tausend kleinen Süchten und Strömen,
wirkend durch ihr Gewicht, enthaltend alle Elemente,
darum werden sie, die Soldaten, marschieren für die
Revolution, für eine andere Revolution, ob sie wollen
oder nicht, gepeitscht von Gewalten, die wir nicht ahnen
können, Unzufriedene, wenn sie auseinandergehen,
Sprengstoff, wenn sie beisammenbleiben. Der Krieg hat
keine Antwort gegeben, keine Entscheidung fiel durch ihn,
die Krieger marschieren immer noch.
Da marschiert das letzte Regiment der Division. Ich
stehe, bedrängt, gepeinigt, in zitterndem Aufruhr. Die
letzten Gruppen schwenken ein. Noch stöhnt der Boden
von ihren Schritten, schon löst sich die Menge auf. Ich
sehe die Menge nicht, ich höre die nachhallenden Schritte
der Soldaten, was kümmert mich nun die Revolution...
Aufrufe hingen an den Straßenecken. Freiwillige
wurden gesucht. Formationen sollten zusammengestellt
werden für den Grenzschutz im Osten.
Am Tage nach dem Einmarsch der Truppen in die Stadt
ließ ich mich werben. Ich wurde genommen, ich wurde
eingekleidet, ich war Soldat.

Berlin
«Halt! Wer weitergeht, wird erschossen!» Aber der
geht ja weiter — soll ich schießen? Was für ein
Unsinn, das ist doch ein ganz harmloser Mensch.
Befehl ist Befehl. I was, das war früher mal, wie der
Gefreite Hoffmann immer sagt. Ein widerliches
Gefühl: dem kleinen Männchen, das da im schäbigen
Rock und ohne Mantel über den Platz geht, so mir
nichts, dir nichts in den Rücken schießen zu sollen...
Da, natürlich, jetzt gehn die andern auch über den
Platz. «Halt! Halt! Stehenbleiben, können Sie nicht
lesen? Zurück da! Hier darf niemand über den Platz!
Warum? Weil gleich geschossen wird!»
Und heute ist der vierundzwanzigste Dezember.
Und da ist die Schloßbrücke und da ist das Schloß und
da ist der Marstall und da hocken die Matrosen drin.
Es kracht. Da oben, in die Mauer staubt es,
Steinsplitter fliegen. Blitzschnell huscht ein Mann um
die Ecke und klebt sich an die Mauer und lacht. Und
ich lache auch. Aus dem Hausgang lugen Frauen.
Leute kommen ahnungslos vorbei. Ich rufe: «Halt!»
Schnell sammelt sich ein Grüppchen. Ein Schuß
kommt vom Schloß. «Hier können Sie nicht vorbei»,
sage ich und stecke das Kinn tief in den Mantel. Die
Handgranate baumelt mir am Koppel.
Der Unteroffizier kommt. Wir schnellen beide nach
vorn, hinter die Litfaßsäule. Vor dem Schloß stehen
viele Menschen. «Der General verhandelt», sagt der
Unteroffizier. Da laufen die anderen heran, das
Gewehr vorgestreckt. «Wir sollen zur Verstärkung
hin.» — «Was ist denn los?» — «Befehl: Es soll
keiner mehr durchgelassen werden.»
Eine Postenkette spannt sich um den Schloßplatz.
— «Was los ist? Die Brüder waren schon
eingeschlossen, da wollte der General verhandeln,
nun kamen die Matrosen alle heraus und auch
andere, nun stehen sie alle mitten unter uns: zurück
da!» Wir reihen uns ein. Auf einmal sind wir mitten
drin. Auf einmal stehe ich allein; ich sehe knapp noch
den Stahlhelm des Unteroffiziers.
Vor mir steht eine Frau und lacht. Breit steht sie da
und lacht mir mitten ins Gesicht, ganz nah. Dick ist
sie, grau ist sie und hat eine graue, grobe Bluse und
nur wenige Zähne und eine Warze dicht neben der
Nase. Warum lacht sie? Sie lacht mich an, sie schlägt
die Arme über den mächtigen Leib und prustet mir ins
Gesicht. Verflucht, dies Weib, diese Vettel, ich
könnte ihr den Kolben ins Gesicht rennen — aber ich
drehe den Kopf weg. Warum seh ich auch so jung
aus? Nun fangen die anderen auch noch an. Dicht
gedrängt stehen sie um mich rum und plötzlich sind
auch Matrosen da, Gewehre umgehängt, rote
Binden, sie schauen mich an, und einer sagt:
«Rindviecher, warum kämpft ihr gegen uns? Jagt doch
eure Offiziere zum Teufel, lauft doch den Leute-
schindern nicht nach!»
Was soll ich tun? Widerlich ist das. Ah, Gott sei
Dank, da kommt der Unteroffizier. Er schiebt sich
durch, sieht die Matrosen, sagt: «Immer mit die Ruhe,
kümmert ihr euch man um euren Dreck.»
Bewegung auf dem Platz! «Zurück!» schreit
plötzlich der Unteroffizier und reißt das Gewehr hoch.
Im Augenblick ist Platz. Vor uns Gebrüll, Weiber
kreischen. Ins Tor laufen die Matrosen. Wir rücken
langsam an. Am Fenster seh ich einen, einen jungen
Kerl, Matrose mit rotem Haar, der beugt sich prüfend
vor und mustert uns, dann zieht er ruhig eine
Handgranate ab.
Geknatter, hinlegen — Teufel, das spritzt ins
Pflaster. Ich springe hoch und rase zurück, es knallt
und pfeift.
Hinterm Pfeiler liegen schon drei Mann. Und auf
dem Platze, dort und dort, Häufchen, seltsame graue,
dunkle, langgestreckte Flecken — ach so.
Der Unteroffizier ist neben mir. «Wo steckt denn
das MG? Verflucht nochmal.» Da rattert es schon los,
vom anderen Pfeiler. «Hierher!» ruft der
Unteroffizier. Nun kommt das zweite MG. Wir
rücken enger aneinander. «So, nu geh du mal ran; ja,
du! Mal sehn, ob du was kannst. So, halt, noch nicht,
jetzt erst daherurn die Knarre, schieß mal erst dem
Kerl da auf der Brücke den Schniepel ab. Ja, ja, dem
Lehmann seine Steinfigur da, auf der Brücke. So,
war ganz gut, nu die Knarre, untere Reihe Fenster,
etwas höher halten, gut so, gut.»
Der breite Kolben haut mir in die Schulter. Ich seh
die Mündung tanzen, springen, sprühen, halte
knatternd hin. Die Fensterreihe steigt in mein Visier,
das Fenster, an dem vorhin der junge Matrose stand
— da steht er wieder und legt die Knarre an und
ballert nach uns hin —, mein Gewehr liegt ruhig;
Kimme, Korn, Finger krumm und los. Am Fenster
sehe ich nichts mehr.
Wir liegen lange. Es knallt um uns, wir knallen
wieder. «Sind knarsche Jungs, da drüben!» sagt der
Unteroffizier. «Zurück!» schreit einer. «Warum,
wieso? Ach so, Geschütze!» Wir kriechen schnell
zurück. Und an der Ecke steht auch schon auf
schlanken Rädern das Geschütz. Kaum sind wir da,
reißt einer an der Schnur, es hallt heraus und heult
und birst da drüben, reißt ein Loch in die Fassade,
läßt die Steine springen. Und aus dem Fenster
schleudert sich mit halbem Leib ein Mann, bleibt in
der Wölbung hängen. Und langsam wird es Nacht.
Gegenüber dem Admiralspalast fiel der Unteroffizier
Poessel mit Kopfschuß. Es war aber der Unteroffizier
Poessel ein Mann, der den Krieg vom ersten Tage der
Mobilmachung an mitgemacht hatte, und er war gut
durchgekommen, mit einer einzigen, nicht schweren
Verwundung, und hatte das E. K. I. Er lag da, an
einem braunen Bretterzaun, an dem sein Gehirn
hingespritzt klebte, und über ihm hing ein Plakat, ein
breites, gelbes Plakat mit der Ankündigung eines
Kriegerwitwen- und Bösen-Buben-Balles, und hinter
dem Zaun standen die Bretterbuden und Zelte eines
Vergnügungsparkes, allabendlich drehten sich dort
schmetternd die Karussells, fauchte die Berg- und
Talbahn, juchten die Mädels. Dort lag der
Unteroffizier Poessel. Wir trugen ihn dann ein Stück
bis zum MG-Wagen, der ihn ins Quartier bringen
sollte. Wir trugen ihn durch die engen, von
Menschen wimmelnden Straßen, vorbei an Luxus-
lokalen, aus deren von Zeit zu Zeit sich öffnenden
Türen ein schwüles, rotes Licht auf die Straßen drang,
wir hörten im keuchenden Vorbeischreiten
Niggermusik aus Bars und Dielen, sahen Schieber und
Kokotten, lärmvoll und besoffen, sahen die von uns
geschützten Bürger mit ihren Weibern in Logen
sitzen, eng umschlungen, vor Tischen mit blitzenden
Gläsern und Flaschen, sie steppten auf blanken,
spiegelnden Flächen ihre aufpeitschend entnervenden
Tänze. Und von fernher knallten noch die verlorenen
Schüsse der Kameraden.
Wir schossen uns mit den Dachschützen herum.
Wir strichen, an die Häuserwände gepreßt, um die
Ecken, das Gewehr schußbereit, nach offenen Luken
spähend, wir hockten hinter schnell getürmten
Barrikaden, wir lagen hinter Litfaßsäulen und
Kandelabern, wir schlugen Türen ein und stürmten
über dunkle Treppen, wir schossen auf alles, was
Waffen trug und nicht zur Truppe gehörte, und
manchmal lagen auf den Straßen auch Menschen, die
keine Waffen getragen hatten, manchmal lagen auch
Frauen da, und manchmal auch Kinder, und über ihre
Leiber flitzten die Geschosse, und es konnte
vorkommen, daß die Geschosse in die Toten fuhren,
dann war es, als ob sie noch einmal aufzuckten, und
wir hatten einen fauligen Geschmack im Mund.
Aber hinter der Front unserer Kampfgruppen strichen
die Huren. Sie wedelten in der Friedrichstraße auf
und ab, wenn wir Unter den Linden schössen. Sie
warfen sich an uns heran mit unsagbar fremdem
Hauch, wenn wir, noch gepackt von den Gesetzen
dieses wirren Kampfes, den Gegner über dem Visier
noch im gebannten Blick, zu kurzer Pause hinter den
schützenden Häuserfronten verweilten, und nicht das
flüsternde Anerbieten erschien uns so unerträglich,
sondern die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der
sie nach unseren Körpern griffen, die eben noch den
zuckenden Feuerbändern der Maschinengewehre
ausgesetzt. Und wenn wir, mit leerem Blick und
durch den Straßentrubel wie belästigt, noch aller
Spannung voll uns durch die Menge schoben, vorbei
an Reihen von Bettlern, von Kriegsbeschädigten, von
Schüttlern, von Blinden, vorbei an den schnell
zusammengezimmerten Ständen der Straßenhändler,
dann konnte es wohl sein, daß einer an uns herantrat
und Kokain anbot und ein anderer einen Brillantring
und ein dritter die letzten Kiesewetterverse. Und von
den Schaufenstern der kleinen Läden hingen die
Postkarten mit Bildern gelöster Mädchen, nichts
weniger als verführerisch, doch ebenso nackt wie das
Gesicht dieser Straßen der inneren Stadt.

6. Januar 1919.
«Abteilung halt!» Wir stehen, ein Unteroffizier,
acht Mann, an einer Straßenecke. Noch sind die
Straßen wenig belebt.
Der Unteroffizier tritt ein paar Schritte vor und
lugt die Hauptstraße rauf und runter. Er kommt
zurück und zuckt die Achseln: «Noch nischt zu
sehen.» Einzelne Leute bleiben stehen; ein alter Herr
geht vorbei, stockt und sagt strahlend zu uns: «Das
sind doch wenigstens noch Soldaten!» Er wendet sich
an den Unteroffizier: «Na, ihr werdet wohl bald
Schluß machen mit dieser Sauregierung?» Der
Unteroffizier sieht den Herrn ruhig an und sagt: «Ich
bin Sozialist.» Der Herr zuckt zusammen, wird rot
und geht rasch davon.
Bewegung unter uns acht Mann. Unteroffizier
Kleinschroth ist Sozialist? Dieser ruhige, dunkle,
ernsthafte Mensch? Ich sehe ihn scheu von der Seite
an. Der Gefreite Hoffmann dreht mir das fröhliche
Gesicht zu und lächelt: «Da staunste, was? Ich bin
auch Sozialist. Eingeschrieben seit 1913!»
Ich schweige betroffen. Hoffmann sagt halblaut
und eifrig: «Mensch, wir wollen doch den Staat!»
Und dann nach einer Weile: «Ich bin doch Arbeiter
gewesen, Eisendreher.» — «Arbeiter gewesen»,
denke ich, «gewesen, sagt er, warum sagt er
gewesen?» Hoffmann sieht angestrengt vor sich hin:
«Wenn wir sozialisieren wollen, dann lassen wir
doch nicht vorher kaputtmachen, was wir ...», und ist
wieder still.
Auf einmal ist ein Brausen in der Luft. Es kommt
von oben herab und füllt den Nebel, der schwer und
trächtig herniederhängt. Nein, es kommt nicht von
oben, es schiebt sich von links heran, schwillt und
schwillt, und verschluckt jedes Geräusch der Straße,
bläht sich im Raume und drückt gleichsam alle
Regung an die Häuserwände. Der Unteroffizier
springt einige Schritte vor und kommt schnell wieder
zurück. «Sie kommen!» sagt er und weist uns in
einen dunklen Torweg, der, die Straße macht eine
Biegung, schräg zum offenen Platze steht. Dort
stehen wir, im Schatten, ungesehen, doch selber alles
sehend. «Ruhe im Glied!» Der Unteroffizier sieht
vor sich hin, dann wendet er sich um, geht mit drei
Schritten auf mich zu, auf mich, den Jüngsten und
Kleinsten, der ich am linken Flügel stehe, und sagt
beinahe drohend: «Mensch, wenn deine Flinte
losgeht, bevor ich es befehle ...» Ich sage: «Nein,
Herr Unteroffizier!» Er sieht mich dunkel an, dann
geht er vor die Mitte unserer Front.
Viele Menschen sind auf einmal in der stillen
Straße. Aus den Häusern laufen Frauen herzu, Kinder
sammeln sich, Fuhrleute halten ihre Wagen an.
Immer mehr Leute kommen, junge Burschen, die
meisten in der feldgrauen Joppe, ziehen vorüber. Die
Straßenecken sind schon schwarz von Menschen. Das
Brausen verdichtet sich. Mit den Fetzen eines Liedes,
der Internationale, kommt fauchend und stöhnend ein
Lastwagen, auf dem sich eine rote Fahne breit und
riesig wölbt. Wir stehen atemlos im Torweg und
starren auf den Platz. Nicht einer rührt sich. Das
Koppel mit den Handgranaten drückt. Schwer lehnt
das Gewehr am Bein. Wir haben Fuß bei Fuß
gezogen, der Rücken strafft sich zu einer angespannt
geschwungenen Linie, die Augen spähen unterm
Helmrand vor.
In ganzer Breite ist die Straße schwarz. Die Straße
selber schiebt sich vor. Es ist, als wollten die Häuser
sich neigen, es rollt das wirre Band bedächtig, riesig,
unangreifbar, unaufhaltsam: Massen, Massen, Mas-
sen.
Knallig prunken die roten Flecken überm Haufen,
weiße Schilder schweben, eine gelle Stimme schreit:
Es lebe die Revolution! Die Masse brüllt: Hoch! Es
orgelt tief aus tausend Brüsten, schmeißt den Dunst
beiseite, Fenster klirren. Hoch und Hoch! Der Boden
dröhnt, es rollt und wälzt sich weiter. Volk! Es bricht
sich Bahn die Ahnung dessen was das heißt: das ist
das Volk! Nein, Massen sind es, Tausende, nur
Massen — und Mensch an Mensch und Leib an Leib
und Kopf an Kopf — die Wucht der Schritte läßt den
Rhythmus spüren, und wieder kommen Fahnen, sie
holpern mühsam vorwärts und zwischen den Bewaff-
neten, den Matrosen, den blinkenden Gewehren
schweben die Schilder: «Nieder mit den
Arbeiterverrätern, nieder Ebert, Scheidemann»,
«Hoch Liebknecht», «Hunger», «Friede, Freiheit,
Brot!»
Der Strom reißt nicht ab. Welch ungeheure Faust
erraffte diese Massen und stopfte gnadenlos den
Brodel in den engen Schlauch der Straße? Ja, wenn
sie wollten! Wer kann sich hier dagegenstemmen? Es
lärmt, sie schreien, der Haß spritzt aus den dunklen
Mündern. Bewaffnete marschieren, wirr kreuzen sich
die Gewehre, Wagen rattern vollgestopft, bedrängt
von Männern, es lugen die MGs mit rundem Auge,
indes die Reihen schimmernder Patronen zum Schuß
bereit aus ihren Bäuchen quellen.
Ein junger Mensch, sehr blaß und eifrig, kommt in
unseren Torweg Er schwingt erregt die Hände und
sprudelt hervor: «Es geht schon los sie haben diese
Nacht das ganze Zeitungsviertel besetzt. Liebknecht
spricht am Brandenburger Tor. Ihr werdet
totgeschlagen! Es ist mit den Berlinern nicht zu
spaßen...» Der Unteroffizier sagt: «Gehen Sie weg,
Mann, Sie haben hier nichts zu suchen.» Draußen
bricht jäh das Gebrülle ab. Einer steht auf einem
Wagen und spricht. Es ist ein kleiner, dunkler, blasser
Mensch, mit Kneifer, Spitzbart und Regenschirm Er
läßt ganz kurze, klare Sätze hallen. Die Worte
kommen schwer zu uns herüber: «Das internationale
Proletariat... Unsere Arbeitsgenossen in der ganzen
Welt... Unsere Brüder in Frankreich, England und
Italien... Deutschland trägt die Schuld...»
Der ganze Platz ist nun gefüllt. Wir sehen eine
Wand von Menschenrücken. Männer stehen
dazwischen, die haben weiße, zottige Pelze an, das
Koppel schnürt, daß sich das starre Fell unförmig
bauscht. Die Gewehre hängen umgekehrt. Und von
diesen Männern sieht uns einer.
Er fährt zurück, er schreit und winkt. Es geht mir
spritzig kalt durch alle Adern. Da starren uns,
vergiftend, lähmend, tausend Augen an. Sie brüllen
auf — nun gilt's — sie drängen an. «Schlagt sie tot,
das Mordgesindel —». Es zischt der Haß, wie Wasser
zischt auf heißem Herd. Im roten Nebel wirbeln
Köpfe, Hände und Körper, sie drängen sich flächig
und voller Wucht heran.
Da schreit der Unteroffizier — erlösend geht es
durch unsere verkrampften Körper —: «Laden und
sichern!» Wir reißen die Gewehre hoch, die
Mündung spitz der Masse ins Gesicht, wir fahren
mit den klammen Händen an das Schloß, Patronen
raus, es klirrt mit niederträchtigem Geräusch, es
knackt der Hebel, schnappt zurück — für Sekunden
ist es still.
Acht Gewehre drohen, Tod im Lauf. Und vor uns
weitet sich der Raum. Zwei Linien straffen sich.
Unerträglich biegt sich die Spannung, sie reißt und
zerrt wie ein dünner, glühender Faden, ein einziger
Atem hängt in der Luft, steigt es nicht heiß und
stöhnend aus dem Boden auf, so glasig, Gasdunst
letzter Augenblicke...
Da steht der kleine Mann mit Regenschirm, er
fuchtelt mit den Händen: «Zurück, nicht schießen!»
und stellt sich mitten zwischen beide starre Fronten.
«Weitergehen!» brüllt er, und sie gehorchen. Sie
lösen sich zögernd, er treibt sie vor sich her, er
wendet sich und sagt zu uns: «Und schämen sollt ihr
euch!»
Wir nehmen still das Gewehr bei Fuß. Mir kommt
ein Tröpfchen Schweiß der Stirne in das Auge. Ganz
rot sehe ich verwirrte Kreise, ich drehe mich schwach
und lehne mich, zwei Schritte weiter vor, an die
Mauer, und sehe mühsam hoch. Da hängt ein Plakat,
weiß, rot umrandet. Zwei große schwarze Zeilen
prallen aus dem Wust der kleinen Schrift: «Und das
ist Sozialismus!» schreit es von der Mauer. Und
unter diesem Worte haben wir gestanden.
Der Platz ist leer. Die Straße leer. Kalt, naß und
trüb der Himmel, schwer und grau.
Wir treten an. Der Unteroffizier befiehlt Entladen.
«Das hat noch gutgegangen», sagt er. Wir marschie-
ren ab.
Der Gefreite Hoffmann sagt: «Saudumm sind die,
die verpassen egal jeden richtigen Moment.»

(Ein Jahr später berichtete die «Rote Fahne» von


diesem Tag: «Was am Montag in Berlin sich zeigte,
war vielleicht die größte proletarische Massentat, die
die Geschichte je gesehen hat. Wir glauben nicht, daß
in Rußland Massendemonstrationen dieses Umfangs
stattgefunden haben. Vom Roland bis zur Viktoria
standen die Proletarier Kopf an Kopf. Bis weit hinein in
den Tiergarten standen sie. Sie hatten ihre Waffen
mitgebracht, sie ließen ihre roten Banner wehen. Sie
waren bereit, alles zu tun, alles zu geben, das Leben
selbst. Eine Armee von 200 000 Mann, wie kein
Ludendorff sie gesehen.
Und da geschah das Unerhörte. Die Massen standen
von früh um 9 Uhr in Kälte und Nebel. Und irgendwo
saßen die Führer und berieten. Der Nebel stieg, und die
Massen standen weiter. Aber die Führer berieten. Der
Mittag kam, und dazu die Kälte und der Hunger. Und
die Führer berieten. Die Massen fieberten vor Erregung:
sie wollten eine Tat, auch nur ein Wort, das ihre
Erregung besänftigte. Doch keiner wußte, welches.
Denn die Führer berieten. Der Nebel fiel wieder, und mit
ihm die Dämmerung. Traurig gingen die Massen nach
Hause: sie hatten Großes gewollt und nichts getan. Denn
die Führer berieten. Im Marstall hatten sie beraten, dann
gingen sie weiter ins Polizeipräsidium und berieten
weiter. Draußen standen die Proletarier auf dem leeren
Alexanderplatz, die Knarre in der Hand, mit leichten
und schweren Maschinengewehren. Und drinnen
berieten die Führer. Im Präsidium wurden die Geschütze
klargemacht; Matrosen standen an jeder Ecke der Gänge,
im Vorderzimmer ein Gewimmel, Soldaten, Matrosen,
Proletarier. Und drinnen saßen die Führer und berieten.
Sie saßen den ganzen Abend und saßen die ganze Nacht
und berieten, sie saßen am nächsten Morgen, als der
Tag graute, teils noch, teils wieder und berieten. Und
wieder zogen die Scharen in die Siegesallee, und noch
saßen die Führer und berieten. Sie berieten, berieten,
berieten,
Nein! Diese Massen waren nicht reif, die Gewalt zu
übernehmen, sonst hätten sie aus eigenem Entschluß
Männer an ihre Spitze gestellt und die erste revolutionäre
Tat wäre gewesen, die Führer im Polizeipräsidium
aufhören zu machen, zu beraten.»)
Wir standen einsatzbereit in langer, grauer Kolonne.
Ein Auto kam, ein Herr erhob sich aus den Polstern und
musterte uns. Der Herr war groß, vierschrötig, mit
eckigen, etwas hochgezogenen Schultern und einer
ulkigen kleinen Brille unter dem Schlapphut. Unsere
Offiziere grüßten mit betonter Nonchalance und
wandten sich mit verzogenen Mundwinkeln um. Einer
sagte, das sei der neue Oberbefehlshaber Noske.
Wir marschierten durch die Vorstädte, und aus
ruhigen, in Vornehmheit und Grün gebetteten Häusern
fielen Begrüßungsrufe auf uns herab und Blumen. Viele
Bürger standen auf den Straßen und winkten und
einzelne Häuser waren beflaggt. Was sich hinter jenen
gerafften Vorhängen, hinter jenen blanken Scheiben
barg, an denen wir grau in grau, erschöpft und
entschlossen vorüberzogen, das war, so dachten wir,
wohl unseres Einsatzes wert. Denn wenn wir auch
spürten, daß hier das Leben sich eine andere Flutung
geschaffen hatte, eine andere Ebene, mit bis aufs
höchste verfeinerter Intensität, die schlecht zu unseren
groben Stiefeln und schmutzigen Händen paßte,
wenn wir auch wußten, daß unsere Begehrlichkeit
nicht an diese Räume reichte, die dort, sorgsam
eingehegt, alles beherbergten, was die Kultur des
eben verflossenen Jahrhunderts bestimmte, die Welt
des Bürgers, die Ideen, die das Bürgertum erst schuf,
die westliche Bildung, die persönliche Freiheit, den
Arbeitsstolz, die seelische Wachheit — dies alles war
hilflos ausgesetzt dem Ansturm der begehrlichen
Massen, und wenn wir es verteidigten, so verteidigten
wir es, weil es unwiederbringlich war.
Wir stießen in die Stadt hinein — auf allen
Anmarschstraßen zogen die Truppen; der Ring um die
Stadt entsandte strahlenförmig die Kolonnen. Und die
Stadt dünstete heiß von gefährlicher Lockung, in ihren
Straßen wehte ein Hauch bitterer Aufgewühltheit
gleich jenem nach dem Erwachen aus einem
schrecklichen, an harten Boden nagelnden Traum; die
Menschen hasteten in unbeteiligter Wachheit, die
stickige, flirrende Luft verhieß Entladungen in
Rausch und Tod. Wir nahmen Quartiere in Schulen
und Ämtern, wir lagerten in ausgeräumten, gekalkten
Stuben, in denen noch der Muff gestapelten Papiers,
trockener Berechnungen und subalterner Menschen
in allen Ecken stand, auf Bretterdielen, inmitten von
Helmen und Tornistern, Gewehren und Koch-
geschirren, Zeltbahnen und Munitionskästen, mit
diesen Dingen unendlich vertraut.
Wir standen Posten. Auf und ab gingen wir,
zählten die Granitplatten des Pflasters mit unseren
Schritten, wandten den Kopf nach jeder in Dunkel
und Nebel schattenhaft verschwindenden Gestalt,
horchten auf das Klacken ferner Schüsse. Wenn von
oben herab sich das hellere Grau des Morgens in die
Straßenschluchten schob, dann begann der Boden zu
beben von dem mühseligen Getrappel unzählig vieler
Schritte, von dem Rollen schwerer, hallender Wagen,
unheimlich und gleichförmig, und rief uns alle heraus
und drängte uns an die Ecken, und wir standen,
Gewehr im Arm, im Schatten der Häuser, gleichsam
ausgestoßen und doch im Banne der Stadt. Die
Passanten aber wurden von uns nach Waffen
durchsucht, unsere Hände fuhren an mißmutigen
Leibern hinauf und hinunter, und es bedrängte uns die
Schamlosigkeit unseres Tuns und mehr noch die
Rechtfertigung dieser Schamlosigkeit durch einen
bloßen Befehl. Es war aber so, daß die Passanten an
der Dorotheenstraße von uns durchsucht wurden und
am Zeughaus von den Unabhängigen und am Schloß
von der Volksmarinedivision und am Alexanderplatz
von der republikanischen Sicherheitswehr.
Wir verhafteten einen roten Agitator. Das war ein
schmaler, dunkler, älterer Mensch, den holten wir aus
seiner Wohnung heraus — und es war eine sehr
ärmliche Wohnung, im Hinterhaus, es war eigentlich
nicht einmal ein Zimmer, nur ein Verschlag —, und
dieser Agitator hatte einen bekannten Namen unter den
Revolutionären; nun ging er sehr still zwischen uns, und
es war, als lächle er in sich hinein; wir hatten die
Gewehre umgehängt und umgaben ihn, befehlsgemäß,
sehr dicht von allen Seiten. Die Leute auf den Straßen
drehten sich freilich um, doch schien das den Mann viel
weniger zu berühren als uns, wir gaben uns einen
Schubs Unbekümmertheit und ein Quentchen wichtiger
Bedeutung, indes er nichts um sich herum zu beachten
schien. Dabei wußten wir nicht, was er verbrochen hatte;
er schien aber um uns zu wissen, denn er sagte nur
einmal: «Ja, ja, das ist wohl eure Pflicht!» Und wir
schwiegen dazu. Da wir aber durch die Straßen
schritten, blieben einzelne Huren stehen und einige
gingen ein paar Schritte mit, und mir schien so, als
wären sie für ein paar Sekunden nicht geschminkt, aber
dann kamen Soldaten, und mit denen gingen sie
schließlich davon. Was dem Agitator später geschah, das
erfuhren wir nie.
Wohl aber erfuhren wir, was mit Karl Liebknecht
geschah und mit Rosa Luxemburg. Davon erfuhren wir
am 16. Januar. Am 19. Januar wählte das freie und
souveräne deutsche Volk.
Das Haus, das wir absuchen sollten, war eine
Mietskaserne im Norden der Stadt, mit vier Höfen und
Hunderten von Bewohnern, hoch, grau, mit Wänden,
von denen der Putz abgefallen war, und mit unzähligen,
nicht eben blanken Fensterscheiben. Die Straße war noch
in der Dunkelheit von beiden Seiten abgeriegelt worden
durch je zwei Gruppen, dann war noch ein Be-
reitschaftszug da, von dem wir jeden Augenblick
Verstärkung anfordern konnten.
Der Unteroffizier sagte im Torweg: «Immer
zusammenbleiben, niemals einer allein in einen Raum.
Alle Schränke und Betten nachsehen Wände abklopfen.
Zwei Mann bleiben immer im Treppenflur.
Verschlossene Türen aufbrechen, wenn die Leute nicht
freiwillig aufschließen. Die Leute ausfragen, wer im
Hause noch im Besitz von Waffen ist. Keine
Provokationen! Im Falle der Gefahr: einen Schuß zum
Fenster hinaus.»
Wir verteilten uns. Die Gruppe Kleinschroth sollte in
den hintersten Hof. Wir stolperten über das buckelige
Pflaster und merkten es kaum wenn wir aus dem
Torbogen in einen Hof kamen, denn die finsteren steilen
Schächte ließen das Licht des Morgenhimmels nicht bis
zur Erde gelangen. Das Haus war noch ganz still, und
wir verhielten an einer kleinen, schmalen Tür.
Kleinschroth klopfte an ein Fenster, das Fenster klirrte,
eine Frau schaute heraus und fuhr zurück, als sie unsere
Stahlhelme sah. «Aufmachen!» sagte Kleinschroth. Und
im selben Augenblick war das Haus lebendig.
Es war in den ersten Sekunden lebendig, wie etwa ein
Bienenstock, in den eine Hand hineinfuhr. Da war ein
bedrohliches Summen, das klein begann, dann plötzlich
sich zu schrillem, gefährlichem, bis zur Hysterie
gesteigertem Vibrieren schraubte, zu einer bösartigen
Bereitschaft in höchstem Diskant. Da trat der
Unteroffizier mit dem Stiefel die Tür ein. Das war,
als stöhnte das Haus. Fenster klirrten, Türen schlugen
hallend zu, auf einmal begann ein Grammophon zu
jaulen und hoch oben schrie eine Frau. Sie schrie
gellend, daß es in den Höfen hallte, daß es die
finstersten Ecken und Winkel wie mit spitzen Nadeln
füllte, und die Luft begann zu zittern, diese feuchte,
dumpfe Luft voll muffiger, gemischter Gerüche. Das
drang uns in die Brustkästen, spritzte unerträgliche
Spannung in die Adern, so daß sich das Blut mit
kurzen und harten Stößen gegen die Haut drängte.
Wir stießen die Helme in die Stirn und rannten in
den dunklen Schlund, der sich vor uns geöffnet. «Die
Noskes kommen! Die Noskes kommen!» so schrie
nun die Frau und ein Fenster schepperte und ein
Geschirr krachte herab, barst und schleuderte dunkle
Tropfen und Wellen üblen Gestanks.
Wir waren im Hause. Der Treppenflur war so
dunkel, daß ich über einen Eimer stolperte. Hoffmann
riß eine Tür auf, sprang in das Zimmer, und ich hörte
ihn sagen: «Mach keine Dummheiten, Mensch, gib
die Knarre her!» Da drinnen saß ein Mann, eben aus
dem Bette gefahren, und hatte ein Gewehr in der
Hand. Das drehte er einen Augenblick unschlüssig
und sah uns an. Er saß auf dem Rande eines
wackeligen Bettgestells, das Stroh unter buntge-
würfeltem Überzug ragte zerzaust, Strohhalme
hingen ihm noch im Haar. Die Stube war klein, ein
winziges Fenster mit halbblinden Scheiben ließ kaum
einiges Licht herein, ein Herd war noch in der Stube,
an dem feuchte Wäsche hing, und in der Ecke stand
eine noch junge Frau, in einem langen, zerknitterten,
an den Säumen schmutzigen Hemd; sie stand wie
gepreßt an der Wand und sagte nichts. Über dem Bett
aber hing ein gerahmtes Bild, wie es die Reservisten
nach Hause nahmen, in Buntdruck ein Soldat, der
Kopf eine aufgeklebte Photographie. Der Mann gab
zögernd das Gewehr herüber, dann sprang er
plötzlich auf, ergriff das Bild und schmiß es uns vor
die Füße, daß der Rahmen sprang und das Glas
splitterte. Dann hob er beinahe bedächtig den
nackten Fuß, als wolle er noch einmal das Bild mit
der Ferse zermalmen, hielt aber inne und sagte nur:
«Nun aber hinaus!» Wir gingen.
Nun standen wir wieder im Treppenflur und
wußten kaum, wohin wir uns wenden sollten. Das
aufgestörte Haus war uns im tiefsten feindlich; es
schien geladen zu sein von Haß, von Armut, von
hundert unbekannten, lauernden Gefahren. In
diesem Gemäuer klebten die Wohnungen Raum an
Raum, wie Waben im Bienenstock. Die Menschen
hockten aufeinander, Wand an Wand sonderte sich
das Leben. Die Stuben und Verschlage drohten zu
zerplatzen von dem Wirbel schrecklicher Dünste,
welche die hineingestopften Menschenleiber um sich
breiteten.
Wir suchten Wohnung für Wohnung ab. Wir
drangen in jede Kammer, wir klopften an jeden
Verschlag. Da waren dunkle Flure, in denen Eimer
standen und zerbrochene Besen, Lampen hingen
rußgeschwärzt so niedrig, daß mehr als eine gegen
unsere Helme pendelte die Dielen stöhnten bei
unseren Tritten und knackten, der Fuß trat zuweilen in
Mörtel und Sparren, von den Decken — und wie
niedrig waren die Decken — hing nacktes Mauerwerk,
bröckelte der Kalk. Tür stand neben Tür. Wenn uns
eine geöffnet wurde, dann fuhren auch die anderen
auf, und plötzlich stand der Gang dicht voll Men-
schen. Männer Frauen und viele Kinder, Kinder in
allen Größen, halbnackt die meisten und unsäglich
schmutzig und mit Gliedern, so dünn, daß man
meinen könnte, sie müßten zerbrechen, packte man
sie an, Kinder mit unheimlich großen Köpfen und
wirren, stacheligen blonden Haaren, — sie standen
an den Schwellen ihrer kargen, düsteren Stuben, und
viele Augenpaare starrten uns an. Wenn die anderen
hineingingen, dann stand ich allein vor der Tür,
stand allein ihnen gegenüber, und der Haß prallte mir
entgegen wie eine Wolke, entgegen prasselte mir das
Gezische! höhnischer Rufe, Weiber strichen an mir
vorbei und lachten und spuckten dann auf den Boden,
und die Männer, mit offenen Hemden, daß man die
krausen Haare ihrer Brust sah, riefen einander zu:
«Totschlagen müßte man die Bande!» und «Nehmt
dem Affen doch die Knarre ab!» Aber sie taten mir
nichts, sie hoben nur die Fäuste und schüttelten sie
mir vor den Augen und rühmten sich, mit einem
Finger mich wie eine Wanze zu zerquetschen. Bis die
anderen wiederkamen und in den nächsten Raum
traten.
Ich trat mit hinein und sah. Da war ein Raum,
nicht größter als vier Meter im Quadrat, und der Raum
stand voller Betten. Sieben Menschen schliefen in
diesem Raum, Männer, Weiber und Kinder. Und zwei
Frauen lagen noch im Bette und jede hatte noch ein
Kind bei sich, und als wir hineinkamen, da lachte die
eine, schrill, atemlos, und die anderen vor der Tür
drängten sich an die Schwelle. Der Unteroffizier kam
näher, da hob die Frau blitzschnell die Bettdecke und
das Hemd, und es prustete aus den blanken Backen.
Wir fuhren zurück, da kreischten die anderen auf, sie
lachten schallend und hieben sich auf die Schenkel, sie
konnten sich nicht genugtun mit Lachen, und auch die
Kinder lachten. «Bluthunde!» schrien sie,
«Bluthunde!» Die Kinder schrien es und die Weiber,
und plötzlich war der ganze Raum erfüllt mit durch-
einanderschreienden Gestalten, so daß wir Schritt für
Schritt zurückgingen, bis wir wieder auf dem Gang
standen.
Immer noch schmetterte das Grammophon. Das
war hinter einer winzigen Tür ganz hinten am Gang.
Wir drangen ein, da stand ein Mann und legte gerade
eine neue Platte auf, und es quäkte uns entgegen:
«Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen ...»Der
Gang schrie vor Entzücken, der Unteroffizier sprang
zurück und holte einmal tief Luft und brüllte:
«Zurück alles! Alles in seine Zimmer! Wenn der
Gang nicht sofort geräumt wird, lasse ich schießen!»
Für eine Sekunde war es still. Dann brodelte ein
Gemurmel auf und eine Frau begann zu schreien, so
daß es in dem Gange, im Treppenhaus von allen
Wänden widerhallte, ein langhingezogener Schrei,
wie ein Todesschrei, vor dem sich die Kinder
plötzlich verkrochen und der mehr als das Gerassel
unserer Gewehre bewirkte, daß der Gang sich leerte.
Aber in den Räumen kochte es weiter. Wir hörten
dumpfe Laute durch die zerbrechlichen Türen
quellen, Möbel wurden gerückt, Metall schepperte,
und die Frau schrie wie aus zugestopftem Halse.
Unten begannen sie die Internationale zu singen.
Das griff von Tür Tür, das drang durch alle Wände
und teilte sich den Höfen mit. Dazu trampelten sie
im Rhythmus mit den Füßen auf den Boden, so das
Haus zitterte und wir umbraust im finsteren Gang
standen. Und wir suchten weiter. In ein Zimmer
kamen wir hinein, da saß ein alter Mann am Tisch
und eine alte Frau stand am Fenster. Und der alte
Mann erhob sich langsam und trat mit zitternden
Knien auf uns zu. Dicht vor uns stand er und hob
dann langsam die Hand und röchelte: «Hinaus!» und
noch einmal: «Hinaus!» und kroch mit Augen, in
denen rote Äderchen schwollen, immer näher und
hob den Arm mit einer schwärzlichen, zerfurchten
Greisenhand und öffnete wie nit letzter Anstrengung
den faltigen Mund und keuchte heiser: «Hinaus!» Der
Unteroffizier wollte den Mann beruhigen, da
taumelte der plötzlich und schwankte und drehte sich
und fiel mit dem Oberkörper auf den Tisch. Die Frau
aber nahm den Unteroffizier am Arm, wie nan ein
unfolgsames Kind am Arme nimmt, und führte ihn
schweigend hinaus.
Der Unteroffizier war sehr bleich, als er mit uns
sich zur nächsten Tür wandte. Wir pochten, und es
öffnete niemand. Wir pochten nochmals und pochten
stärker, wir klopften mit nervöser, immer mehr
gesteigerter Hast, dann sprang Hoff mann vor und
trat die Tür ein. In diesem Zimmer war nur eine
Frau, ein junges Mädchen, klein und bleich und mit
wirrem, schwarzem Haar. Die stand vor uns und wich
etwas zurück und stützte sich mit den Händen auf
den Tisch, und in das plötzliche Schweigen fragte sie
mit einer sehr leisen, aber bis aufs äußerste
angespannten Stimme: «Was erdreistet ihr euch?
Was wagt ihr? Habt ihr noch nicht genug
gemordet?» Ihre Stimme wurde sehr dunkel. Sie
sagte: «Ihr dringt hier ein in dieses Haus wie die
Henkersknechte. Seid ihr ohne Scham? Woher
stammt ihr, daß ihr nicht wißt, daß wir Menschen
sind?» Sie sagte: «Hört ihr, was sie singen? Welcher
Zeit gehört ihr an? Von wem seid ihr geschickt?» An
der Tür standen die Leute wieder, aber nun
schwiegen sie und horchten. Und das Mädchen
sprach weiter: «Man möchte es euch in eure
dumpfen Schädel hämmern. Ihr schützt dieselbe
Klasse von Verruchten, die dieses Elend geschaffen
haben! Ihr seid Ausgebeutete, Verachtete wie wir!
Und nun kommt ihr euch groß vor mit euren
Gewehren, nun kitzelt euch die Macht, die man euch
gegeben hat. Legt doch eure Gewehre weg, oder nein,
gebt sie diesen da, die sie für ihre gerechte Sache
anzuwenden wissen!» Aber nun sagte der
Unter.offizier Kleinschroth unter seinem Stahlhelm
hervor: «Ach, mein Fräulein, das kennen wir alles,
das haben wir schon sehr oft gehört. Eben, um die
Waffen handelt es sich. Die suchen wir hier, mehr
wollen wir nicht. Sorgen Sie lieber dafür, daß die
Leute da keine Dummheiten machen. Und wir gehen
nun und suchen weiter.» Da machten wir kehrt und
waren wie erleichtert, obgleich es uns schien, als hätte
der Unteroffizier noch etwas mehr sagen müssen, aber
er blickte nur mit eigentümlich flachen Augen vor
sich hin, als wir uns unseren Weg durch die Leute
bahnten, und er sprach auch kein Wort mehr, solange
wir in diesem Hause waren.
Es war aber unmöglich, alles so zu durchsuchen,
wie es befohlen war, und wir hatten auch keine Lust
dazu. Wenn wir in ein Zimmer traten, dann drückte
der trostlose, abgestandene Ruch vieler zusam-
mengepferchter Menschen, die nie allein waren, der
Brodel stickiger Enge, tödlichsten Selbstverzehrs auf
unsere Schultern und zwang uns zu erbitterter
Schärfe, an die wir selbst nicht zu glauben
vermochten. Wir schienen uns gegen diesen Druck
nicht anders wehren zu können, als indem wir bei aller
inneren Benommenheit so fest wie möglich auftraten
und mit barscher Sicherheit so lässig wie möglich
handelten. Wenn uns aus kreischenden, verzerrten
Mündern der Haß entgegenspie, dann fühlten wir für
abgründige Sekunden das Nahen einer schrecklichen
Entscheidung.
Denn wären wir durch keinen Befehl gehetzt, auf
scharfkantigen Graten zu balancieren, dann könnten
wir dem Hasse unsere eigene Leidenschaft ent-
gegensetzen, die würde bitter, da wir dann den Haß
uns aus dem Augenblicke saugen müßten. Wir
könnten aber auch uns sinken lassen, fallen lassen,
flüchten, nicht vor der Gefahr, nur vor der eigenen
Wärme. Doch wir, wir klammerten uns an den
Befehl, wir schritten mit stumpfen Gesichtern durch
die Räume, wir griffen gleichmütig in die Strohsäcke,
stocherten unter die Betten, öffneten die Schränke,
fuhren mit dem Arm durch die armseligen
Kleidungsstücke, und doch war es so, als handelten
wir wie die Diebe. Unter der Prüfung stets starrender
Augen, die uns im Rücken brannten und das Kreuz
steiften, klopften wir an die Wände, pochten an
Türen, rissen Bettzeug auseinander und suchten. Und
fanden nichts. Fanden nichts im ganzen,
vielstöckigen Hause, außer dem einen Gewehr.
Draußen aber, in den vielen Zimmern, da sangen sie
weiter, und der abgeleierte, immer wiederholte
Gesang gab uns fast eine ruhige Frische.
Dann sammelten wir uns im Torweg. Durch die
Höfe kamen uns die anderen Gruppen entgegen. Als
wir abmarschieren wollten, stellte der Feldwebel fest,
daß zwei Mann fehlten. Der Bereitschaftszug begann,
nach ihnen zu suchen. Wir anderen rückten ab. Die
zwei Mann wurden nicht gefunden. Im Quartier
gingen die tollsten Gerüchte um. Der Gefreite
Hoffmann sagte: «Junge, Junge, ich kann dir gar
nicht sagen, wie dick ich den Kram habe!» Und nach
einer Weile: «Ich weiß, wo die beiden sind. Die sind
ganz einfach desertiert. »

Weimar
Am 20. Januar 1919, am Tage nach der Wahl zur
verfassunggebenden Nationalversammlung, kamen
die Kommandeure der in Berlin stehenden Truppen
zum Oberbefehlshaber Noske. Sie erklärten, sie
könnten für den Bestand der Truppen keine Garantie
übernehmen. Die Agitation der Unabhängigen und
Spartakisten unter den Soldaten sei derart intensiv,
daß ein längeres Verbleiben der Formationen in der
Stadt für den Geist der Truppe gefährlich sei. Es sei
zu erwägen, ob die Formationen nicht wieder auf die
Übungsplätze, Vororte und Dörfer zurückzunehmen
wären.
Die Regierung der Volksbeauftragten beschloß,
die Nationalversammlung in Weimar tagen zu lassen.
Das Freiwillige Landesjägerkorps Maercker galt
als die bestdisziplinierte Truppe, und es sollte wohl
eine Anerkennung bedeuten, daß General Maercker
den Auftrag bekam, die Tagung der Volksvertreter in
Weimar zu schützen. Der Arbeiter- und Soldaten-Rat
von Thüringen aber war nicht einverstanden mit
dieser Anerkennung und sandte ein gekränktes
Telegramm an den Oberbefehlshaber Noske. Die
Garnisonen von Thüringen seien allein imstande, die
Sicherheit der Volksvertreter zu garantieren, und
fremde Truppen seien in Thüringen durchaus
unerwünscht.
Die Bewegtheit jener Tage aber war bestimmt
durch den Kampf der Revolution um ihren Bestand.
Die Unabhängigen und Spartakusleute sahen im
Zusammentreten der Nationalversammlung eine
unmittelbare Bedrohung der revolutionären Er-
rungenschaften. Der von ihnen erstrebte und in den
Anfängen durchgeführte Räteaufbau des Staates
mußte, das wurde scharf anerkannt, dem bürgerlich-
demokratischen Prinzip gegenüber, durch welches
allein die Nationalversammlung und die in ihr zu
schaffende Verfassung ihre Geltung erhalten konnte,
mit allen Mitteln behauptet werden, sollte nicht aus
der Revolution ein Gebilde erwachsen, das deren
Sinn verfälschte. «Alle Macht den Arbeiter- und
Soldaten-Räten!» lautete darum die Parole der
Revolutionäre, und diese Parole wurde in unzähligen
Aufrufen verbreitet und fand in ebenso unzähligen
Entschließungen revolutionärer Kongresse und
Versammlungen ihren Widerhall. Im Reiche war die
Herrschaft der Räte noch fast völlig unangetastet. Nur
in Berlin war sie gebrochen. Aber schon marschierten
Truppen nach Bremen, schon schufen in
Willhelmshaven Offiziere und Soldaten unter dem
Korvettenkapitän Ehrhardt eine neue Ordnung, in der
die Räte ausgeschaltet waren.
Es beruhte jedoch die Macht der Arbeiter- und
Soldaten-Räte im Reiche einfach auf der Tatsache,
daß sie ihnen bislang noch niemand streitig gemacht
hatte. In den Betrieben waren die Belegschaften
zersplittert und die Arbeiter-Räte keineswegs einer
unbedingten Gefolgschaft sicher, die bewaffneten
Kampfkräfte klein an Zahl und nicht gehärtet. Selbst in
Berlin waren es immer nur die Einzelnen, die den
letzten Einsatz für die Revolution wagten, Ver-
sprengte, Unbestechliche, und freilich konnten sie
unter günstigen Umständen die Masse mit sich
zwingen. Aber es rief niemand anders sie als die
Stimme ihres Blutes, sie fanden sich auf den
Barrikaden zusammen, wie sich diese Männer immer
zusammenfinden dort, wo Gefahr ist, aber sie waren
nicht geeignet als blitzende Werkzeuge einer zu
bildenden Macht, sie erkannten keine Führung an, sie
gehorchten keinen Räten.
Von Bauern-Räten hat man nach den ersten Tagen
der Revolte niemals gehört.
Am aktivsten erschienen die Soldaten-Räte. Sie
führten in ihren Kundgebungen eine bedrohliche
Sprache, kontrollierten fast die gesamte Verwaltung
und traten mit herrischem Anspruch als die eigent-
lichen Machthaber überall auf. Aber sie waren
Soldaten-Räte ohne Soldaten. Das heimkehrende Heer
löste sich auf. Schon auf dem Marsch zu den
Garnisonen verringerten sich die Regimenter,
verließen große Teile der Mannschaft, von den
Offizieren gewißlich nicht gehindert, die Truppe,
drängten nach Haus. In den Garnisonen selbst lagen
die ältesten Jahrgänge und die jüngsten — Landsturm,
Rekruten und Garnisondiensttaugliche. Sie waren es,
welche die Räte im ersten Überschwang der Revolte
gewählt. Von den zurückkehrenden Frontsoldaten
erhielt ein jeder Urlaub, soviel er wollte, die anderen
nahmen sich den Urlaub selber. In den verödeten
Kasernen hausten als Alleinherrscher die Soldaten-
Räte, sie saßen fett und behaglich in den weiten
Räumen und verfaßten Entschließungen und erhielten
Löhnung und Zulagen und Tagegelder und zehrten
von den Vorräten und Lagerbeständen. Die Schreiber
der Abwicklungsstellen, die arbeitslosen jungen
Soldaten, die ihre Löhnung abholten, Deserteure und
wenige Berufssoldaten bildeten die Garnisonen. Es
waren aber die Garnisonen zu allem entschlossen,
außer zu arbeiten und zu kämpfen. Die Unabhängigen
hatten Wachregimenter aufgestellt und Sicher-
heitswehren, gebildet aus Arbeitern und entlassenen
oder entlaufenen Soldaten; die Matrosen lebten,
finster und entschlossen, in kargen Grüppchen,
Volksmarinedivisionen genannt, in ihren zu waffen-
starrenden Festungen umgewandelten Quartieren, wie
die Füchse im Bau, stets bereit, zu schießen, aber
keinem Befehle gefügig. Dann waren nur noch die
hungernden Massen da.
Die Freikorps aber, geworben für den Schutz der
Grenze im Osten, der Stamm der Frontsoldaten,
freiwillige Studenten, Schüler, Kadetten, Offiziere,
Arbeiter, Bauern, Handwerker und ewige Soldaten,
sie standen im Solde der Regierung, marschierten,
wie es Noske befahl.
Als die kleine Gruppe der Quartiermacher des
Landesjägerkorps nach Weimar kam, befahl der
Weimarer Soldatenrat, sie zu entwaffnen. Aber die
Quartiermacher eilten vor das Hauptquartier des
Rates; der Vorsitzende, zwischen zwei Maschinen-
gewehren stehend, erklärte, er weiche nur der Gewalt.
Da warfen die Landesjäger die Maschinengewehre
um und drangen in das Gebäude. Der Vorsitzende des
Soldatenrates Weimar aber wich. Dies war die einzige
kriegerische Handlung, die in Weimar geschah.
Wir erfuhren davon, als wir in die schlafende Stadt
einrückten. Am Bahnhof mußten wir die Seiten-
gewehre aufpflanzen. Unsere Quartiere lagen in
Ehringsdorf, wir zogen fröstelnd und übermüdet von
der langen, nächtlichen Fahrt durch die dunklen
Straßen. Am Nationaltheater machten wir halt. Wir
setzten die Gewehre zusammen und warteten.
Neugierig standen die Soldaten um das Denkmal
herum. Der Leutnant Kay kletterte auf den Sockel
und setzte sich zwischen die Füße der beiden
Bronzegestalten. Das Theater stand weiß und geruhig,
mit einfachen Linien, wie ein klarer, stiller Tempel in
der Nacht, Leutnant Kay sagte: «Der Tag ist wirklich
zu absurd. Konfuse, verwirrende Lehren und
verwirrter Handel walten über der Welt.» Und
klopfte Goethe kameradschaftlich auf den Schenkel.
Nach kurzer Weile marschierten wir weiter.
Weimar wurde vom Landesjägerkorps zerniert. In
der Stadt selbst lagen nur wenige Kompanien, im
Schloß, am Theater. Wir exerzierten in Ehringsdorf
und in Oberweimar, wir schoben Wache in
Umpferstedt und in Süßenborn, wir kampierten in
Tiefurt und in Hopfgarten. Wenn der Dienst zu Ende
war, hatten wir nicht immer Lust, nach Weimar
hineinzugehen; denn die geruhsame Stadt verlor
nichts von ihrer Farblosigkeit durch das schwärzliche
Gewimmel der Volksvertreter und deren mannig-
faltige Reden —, und uns brannte noch Berlin im
Blut.
Wir waren zu plötzlich herausgerissen aus dem
Strudel der tollen Wochen, die hinter uns lagen. Der
Abmarsch aus Berlin, der nie bezwungenen Stadt,
erschien uns wie Flucht und Verzicht. Und zwischen
Dienst und Wache, zwischen Suff und Schwoof
verloren wir uns in übersteigerten Gesprächen.
Anfangs besuchten wir die Versammlungen im
Städtchen, in denen Abgeordnete aller Parteien
sprachen, aber die geistigen Waffen, die dort den
Kriegern angepriesen wurden, ließen uns den Wert
von Fünfzehner-Langrohrgeschützen in noch
schärferem Licht erscheinen. Unser Leben vollzog sich
sehr abseits von dem, was die Vertreter des Volkes als
Kern und Wesen der Dinge betrachteten; wir standen
in jenen Tagen inmitten des Strudels, da, wo es am
stillsten ist. Und Leutnant Kay sagte: «Immer hübsch
kochen lassen und ab und an ein bißchen umrühren
und zuweilen ein kleines Feuerchen drunter!»
«Wie meinen Sie das mit dem Feuerchen
drunter?» fragte ich den Leutnant, meinen Zugführer,
bei dem Glase Wein, zu dem er mich eingeladen
hatte. Da drehte sich der Leutnant um, und drei
Tische weiter saß ein kleiner, rundlicher Herr im
schwarzen Rock, ein Herr mit Hornbrille und
Aktentasche. «Das ist Erzberger», flüsterte der
Leutnant und sah mich an. «Ein tüchtiger Mann,
sagenhaft fleißig!» Und drehte das Glas und beugte
sich über den Tisch. «Was meinen Sie, wie würde das
Hühnervolk gackern, wenn der eines Tages mal
gehörig verprügelt würde? Machen Sie mit?» Ich
sagte: «Jawohl, Herr Leutnant!»
Aber Erzberger flüchtete im Hemde zum Fenster
hinaus, als wir anrückten, und Noske war sehr böse
über uns. Es schien, wir fingen an, ihm Sorge zu
machen. Als Oberbefehlshaber zog er immer den Hut,
wenn es einem von den Soldaten einfiel, ihn zu
grüßen. Seit er Reichswehrminister war — es war da
ein Befehl, der lautete, der Reichswehrminister sei
vorschriftsmäßig zu grüßen —, seit dieser Zeit also
hob er immer nur zwei Finger bis knapp an die breite
Krempe seines Hutes. Und wir gaben uns doch solche
Mühe! Wenn wir, am Schlagbaum von Umpferstedt,
das Auto kommen sahen, dann freuten wir uns schon
und hielten den Wagen an und fragten nach dem Paß
und baten diensteifrig die Herren, auszusteigen, da
der Wagen nach Waffen durchsucht werden müsse.
«Ministerauto», wagte der Chauffeur zu sagen. «Das
kann jeder sagen», meinten wir knarsch und: «Paß
bittä!» Dann aber sahen wir den Paß, und das riß uns
plötzlich herum! Da krachte das Gewehr auf die
Schulter, daß der Helm rutschte, da holten wir
vielleicht mit dem rechten Fuß aus und knallten ihn
gegen den linken und sahen den Herrn eisern an. Und
der Herr Reichswehrminister hob mißtrauisch zwei
Finger, und wir rührten uns nicht eher, als bis aus der
Tiefe des Wagens der freundliche Wunsch brummte,
es möchte doch endlich der Schlagbaum geöffnet
werden.
Der Minister aber liebte es, bei Besichtigungen die
Front abzugehen und freundliche Fragen an einige
Leute zu stellen. Und ausgerechnet den Gefreiten
Hoffmann fragte er: «Was sind Sie von Beruf?» —
«Korbflechter, Euer Exzellenz!» kam prompt die
Antwort. Und der Hauptmann hatte später Gelegen-
heit, kopfschüttelnd zu sagen, nichts wie Unfug
hätten wir im Kopfe, und es müßte wohl ein bißchen
mehr exerziert werden.
Und es wurde mehr exerziert. Es wurde auch mehr
gesoffen. Leutnant Kay hatte eine Mischung
erfunden, die nannten wir den Geist von Weimar.
Nur war diese Mischung sehr fade, und man mußte
viel trinken, ehbevor man sich berauschte. Aber viel
trinken, das wollten wir, viel tanzen, das wollten wir
auch, und vor allen Dingen wollten wir nichts davon
hören, was in der Nationalversammlung besprochen
und beraten wurde.
Das harmlose Städtchen spreizte sich in dünner
Wichtigkeit. Als der Volksbeauftragte Ebert zum
Reichspräsidenten gewählt wurde, war es aus-
füllendes Stadtgespräch, daß er mit weichem grauem
Hut die Ehrenkompanie abschritt, nicht mit
Zylinder. Die sechzig Berliner Schutzleute
reräsentierten mit Würde Weltstadt. Jede Rede der
Frau Zietz fand in den Damenkränzchen aufgeregte
Besprechung. Wenn Pfarrer Traub sprach, flaggten
einige Häuser schwarz-weiß-rot. Die Läden wurden
fast gestürmt, als es hieß, die ersten Waggons
italienischer Apfelsinen seien eingetroffen. An
Sonntagen spielte die Landesjägerkapelle. Die jungen
Mädchen der Stadt ließen sich in öffentlichen Lokalen
nur mit Offizieren sehen, allenfalls mit Feldwebeln.
Die Herren Abgeordneten tranken abends ihren
Wein im «Elefanten» oder im «Schwan» und
betrauerten die Zukunft Deutschlands.
Im März kamen die Nachrichten von dem Aufstand in
Berlin. Gleichzeitig begann es in Mitteldeutschland zu
brodeln. Eine Abteilung des Landesjägerkorps rückte
nach Gotha, andere rüsteten zum Marsch nach Halle.
Im mitteldeutschen Industrierevier drohte der Streik.
In den Städten zogen hungernde Massen
demonstrierend durch die Straßen. In München war
am 21. Februar Kurt Eisner erschossen worden.
Daraufhin bemühten sich die Abgeordneten im
bayrischen Parlament nicht ohne Erfolg, sich
gegenseitig auszurotten. Im Ruhrgebiet herrschte
Anarchie, aus den Seehäfen liefen die Lebensmittel-
transporte nur spärlich ein. Im Osten knallten sich
schwache Grenzschutzformationen mit vorrückenden
polnischen Banden herum.
Und langsam wurden die Friedensbedingungen
bekannt.
Wir strichen unruhig durch die Straßen. Es war für
uns Soldaten kein Zweifel, daß die Weimarer Herren
annehmen würden. Wir aber hoben die Nasen
witternd in den Wind, gleich als ob wir die Vielfalt
röchen, um die uns das Leben noch niemals betrog.
Leutnant Kay nahm einzelne von uns beiseite. Er
sprach mit der Gruppe Kleinschroth, er suchte sich
die Kadetten zusammen, er saß in den Kompanie-
quartieren mit den Unteroffizieren, in den Kantinen
mit Leuten des anderen Bataillons, in den
Weinstuben Weimars mit Offizieren und Fähnrichen
und flüsterte herum.
Langsam fanden sich einige zwanzig Mann. Die
erkannten sich an einem Blick, an einem Wort, an
einem Lächeln, die wußten voneinander, daß sie
zusammengehörten.
Aber sie waren nicht regierungstreu, sie waren
beileibe nicht regierungstreu, nichts weniger als das.
Sie konnten keineswegs den Mann und den Befehl
achten, dem sie bislang gehorchten, und die Ordnung,
die sie schaffen helfen sollten, erschien ihnen ohne
Sinn.
Sie waren Herde der Unruhe in ihren Kompanien.
Der Krieg hatte sie noch nicht entlassen. Der Krieg
hatte sie geformt, er ließ ihre geheimsten Süchte wie
Funken durch die Kruste schlagen, er hatte ihrem
Leben einen Sinn gegeben und ihren Einsatz geheiligt.
Ungebärdige, Ungebändigte waren sie, Ausgestoßene
aus der Welt der bürgerlichen Normen, Versprengte,
die sich in kleinen Gruppen sammelten, ihre Front zu
suchen. Da waren viele Fahnen, um die sie sich
sammeln konnten — welche flatterte am stolzesten
im Wind? Da waren noch viele Burgen zu stürmen,
noch viele feindliche Haufen lagerten im Feld.
Landsknechte waren sie — wo war das Land, dem sie
Knechte waren? Den großen Betrug dieses Friedens
hatten sie erkannt, sie wollten nicht teilhaben an ihm.
Sie wollten nicht teilhaben an der bekömmlichen
Ordnung, die man ihnen schleimig pries. Sie waren
unter den Waffen geblieben nach einem unbeirrbaren
Instinkt. Sie knallten allerorts herum, weil ihnen das
Knallen Spaß machte, sie zogen durch das Land,
hierhin und dorthin, weil ihnen die fernen Felder
immer neue, gefährliche Dünste atmeten, weil ihnen
überall der Ruch herber Abenteuer winkte. Und
dennoch suchte jeder etwas anderes und gab andere
Gründe für sein Suchen an, das Wort war ihnen noch
nicht geboten. Sie ahnten das Wort, ja, sie sprachen
es aus und schämten sich vor dessen verwaschenem
Klang und drehten es, prüften es in geheimer Furcht
und ließen es aus dem Spiel mannigfaltiger
Gespräche, und es stand doch über ihnen. In tiefer
Dumpfe eingehüllt stand das Wort, verwittert,
lockend, geheimnisreich, magische Kräfte strahlend,
gespürt und doch nicht erkannt, geliebt und doch nicht
geboten. Das Wort aber hieß Deutschland.
Wo war Deutschland? In Weimar, in Berlin?
Einmal war es an der Front, aber die Front zerfiel.
Dann sollte es in der Heimat sein, aber die Heimat
trog. Es tönte in Lied und Rede, aber der Ton war
falsch. Man sprach von Vater- und Mutterland, aber
das hatte der Neger auch. Wo war Deutschland? War
es beim Volk? Aber das schrie nach Brot und wählte
seine dicken Bäuche. War es der Staat? Doch der
Staat suchte geschwätzig seine Form und fand sie im
Verzicht.
Deutschland brannte dunkel in verwegenen
Hirnen. Deutschland war da, wo um es gerungen
wurde, es zeigte sich, wo bewehrte Hände nach
seinem Bestände griffen, es strahlte grell, wo die
Besessenen seines Geistes um Deutschlands willen
den letzten Einsatz wagten. Deutschland war an der
Grenze. Die Artikel des Versailler Friedens sagten
uns, wo Deutschland war.
Wir waren für die Grenze geworben. In Weimar
hielt uns der Befehl. Wir schützten raschelndes
Paragraphenwerk, und die Grenze brannte. Wir lagen
in madigen Quartieren, aber im Rheinland
marschierten französische Kolonnen. Wir schossen
uns mit verwegenen Matrosen herum, aber im Osten
brandschatzten die Polen. Wir exerzierten und
stellten Ehrenkompanien für Regenschirme und
weiche Filzhüte, aber im Baltikum traten zum ersten
Male wieder deutsche Bataillone zum Vormarsch an.
Am 1. April 1919, dem Geburtstage Bismarcks —
die Rechtsparteien hielten patriotische Feiern ab —,
verließen wir, achtundzwanzig Mann, Leutnant Kay
an der Spitze, Weimar und die Truppe, ohne
Kündigung und Befehl, und fuhren nach dem
Baltikum.

Vormarsch
Im Zielfernrohr stand die Silhouette eines Gehöftes.
Ich lag mit meinem Gewehr auf einem
buschbewachsenen Hügel, dicht am Bahndamm.
Neben mir lag Leutnant Kay, seinen zum Stutzen
umgearbeiteten Karabiner vor sich und behängt mit
Leuchtpistole, Handgranatensäcken, Munitionsgür-
tel, Zeissglas und Kartentasche. Um uns herum, in
samtener Dunkelheit, kauerten dichtgedrängt die
Hamburger, leichte Maschinengewehre zwischen
sich. Die Minenwerfer in der Senke standen mit
drohend aufgerichteten Mäulern da. Vor uns
klickerte dunkel die Eckau, einzelne Sterne
spiegelten sich zitternd im schwarzen, schmalen,
leichtbewegten Wasser. Hinter der Waldecke stand
der Panzerzug unter sacht strömendem Dampf. Am
Bahndamm mußten die Geschütze stehen, von den
Pionieren gedeckt. Alles lag in der vordersten Front.
Alle Waffen drohten nach vorn. Menschen und
Sprengstoff lauerten in geheimnisreicher, mit
wütender Spannung geladener Nacht auf Erlösung.
Von der Rigaer Bucht bis Bauske lagen dicht
nebeneinander die gekrümmten Körper bereit zum
Ansprung. Der Bolschewik ahnte nichts.
Hinten, über Tetelminde war der Himmel gefärbt
mit gedämpftem Rot. Kein Postenruf erscholl, kein
Schuß weckte die Nacht. Ich betastete noch einmal
mein Gewehr. Der Gurt war eingeführt, die erste
Patrone im Lauf. Steif stand die Knarre auf ihren
Insektenbeinen. Die Hebel fest, der Mantel gefüllt.
Selbst das eine Ende des Schlauches war sorgfältig
vergraben, wie es die Vorschrift befahl. Ich legte den
Kopf auf die Arme. Wir warteten. Wir warteten auf das
Signal. Und vorne der Bolschewik ahnte nichts.
Mit jedem Atemzuge füllte ein sonderbar herber
Geruch die Lungen. Fast schmerzhaft würzig drang er
durch den ganzen Körper. Dieser Dunst der
kurländischen Erde ließ rnich dumpf spüren, was uns
dies Land zu bieten hatte. Ich krallte die Finger in die
satte Erde, die mich anzusaugen schien. Diesen Boden
hatten wir erobert. Nun forderte er von uns; auf einmal
war er uns verpflichtendes Symbol.
Sicherlich waren es nicht die Bolschewiken, die uns
zwangen, hier zu liegen in lechzender Lauer, in
wütender Gier. Da drüben, wo das lastende Dunkel den
Feind, gleich uns, an den Boden drückte, da drüben
beherrschte die Front ein glühender Zwang, ein
wahnwitziger Wille, eine göttliche Besessenheit, ein
einziger Glaube, der die durcheinanderfließenden
Horden der Soldaten und Bauern mit stählerner Zange
zusammenhielt und formte, der den Verlorenen die
Mission gab, die Zerlumpten zu Heroen hämmerte, die
Aufgegebenen zu Eroberern und ein ganzes Volk an die
Grenze hetzte. Wir aber waren Versprengte, kein Volk
gab uns den Auftrag, kein Symbol war uns gültig. Wir
lagen nun hier in knisternder Finsternis; wir suchten den
Eingang zur Welt, und Deutschland lag hinten irgendwo
im Nebel, wirrer Bilder voll; wir suchten den Boden,
der uns die Kraft geben sollte, und dieser Boden gab
sich nicht willig her; wir suchten die neue, die letzte
Möglichkeit, für Deutschland und für uns, und drüben
im heimlichen Dunkel barg sich jene unbekannte, jene
gestaltlose Macht, die, halb verwundert von uns und
halb gehaßt, unserem Drängen wehrte. Wir zogen aus,
die Grenze zu schützen, aber da war keine Grenze. Nun
waren wir die Grenze, wir hielten die Wege offen; wir
waren Einsatz im Spiel, da wir die Chance witterten,
und dieser Boden war das Feld, auf das wir gesetzt.
Die Balten, die drüben hinter jener vorspringenden
Waldecke an der Straße massiert lagerten und auf das
Signal zum Angriff warteten, fragten nicht nach dem
Sinn ihres Einsatzes. Ihnen war der Kampf, zu dem sie
sich gesammelt, geweiht, war ihnen das einzige Gebot
der Stunde. Sie drängten erbittert, Riga zu nehmen;
denn dies war ihre Stadt, und dort in der Zitadelle
waren die baltischen Geiseln, denen ein ähnliches
Schicksal drohte wie den Geiseln Mitaus. Leutnant Kay
hatte mich mitgenommen zu baltischen Familien, die
uns von der Bolschewistenzeit in Mitau berichten
konnten. Und da war nicht eine Familie, von der nicht
mindestens ein Mitglied verschleppt, gemartert oder
hingerichtet wurde, und viele Familien waren mitsamt
den Dienstleuten ermordet worden, und von vielen
lebten nur manche Frauen noch, und von den Frauen
nur die älteren. Es war aber so gewesen, daß es genügte,
auf der Straße deutsch zu sprechen, um erschlagen zu
werden, und daß das Wort «deutsch» als
ungeheuerlichstes Schimpfwort galt und der Deutsche
als die verhaßteste Ausgeburt dieser Welt. Die
baltischen Mädchen aber, aus ihren Häusern
gerissen, galten in ihrer straffen, gepflegten Herbheit
als begehrte Beute, und die bolschewistischen
Unmenschen hatten ihre Lust, sie zu schänden und
ihren edlen Willen in toller Brunst zu brechen, bis
sie, von ganzen Horden gefoltert, nackt und
zerrissen im Kot der Straßen lagen oder im Hofe
des Gefängnisses, indes über ihren Leichen die
baltischen Männer zusammengeschossen wurden.
Als die baltische Landeswehr, ohne Befehl,
gepeitscht vom wahnsinnigen Aufschrei ihres Blutes,
den letzten Stoß nach Mitau wagte, von Tückum her
im Sturm die Stadt anfiel, da wurden die Geiseln in
die Höfe ihrer Kerker getrieben, und in die
dichtgedrängte Masse der gepferchten Leiber flogen
gebündelte Handgranaten, zuckte aus der Mündung
schnell gerichteter Gewehre Schuß auf Schuß, daß
die geballten Körper immer wieder in die Höhe
schnellten und schließlich nichts von ihnen übrig-
blieb als ein einziger blutiger, formloser Brei.
Andere Geiseln aber wurden von roten Reitern an
die Gäule gebunden und mit Kantschuhieben aus
der Stadt nach Riga geschleift. An der Straße bis zur
Eckau konnte die Landeswehr noch viele Leichen
ihres Stammes zählen. Das Grab der Herzöge von
Kurland war erbrochen, die Mumien, mit deutschen
Stahlhelmen auf den Köpfen, standen aufrecht an
den Wänden, durchsiebt von sinnlos hingeknallten
Schüssen. Es waren lettische rote Regimenter, die so
in Mitau Rache an ihren früheren Herren nahmen.
Was uns aber aus dem geruhigen Mittelpunkte
des kreisenden Deutschlands Weimar nun an die
Peripherie geschleudert hatte, in dieses Land, in dem
wir nun schon sechs glühende Wochen im Gefechte
standen, das dünkte uns nur schwach erklärt durch
jene nüchternen Versprechen, die zum Schall der
Werbetrommeln uns geboten wurden. Als in den
Tagen der Revolte die Front der deutschen achten
Armee in den Ostseeländern zusammenkrachte,
plündernd, zuchtlos, aufgelöst auf allen Wegen der
Heimat zuströmte, drang prahlend und im
mächtigen Rausch eines wilden Überlegenheits-
glaubens die Rote Armee, in der sich die Elemente
eines neuen nationalen und sozialen Stolzes mit
asiatischer Willkür seltsam mischten, in das
preisgegebene Land. Riga fiel und Mitau, und bis
zur Windau strichen die zerlumpten, siegessicheren
Partisanengruppen. Da sammelten sich die Balten
und boten den ersten Widerstand. Und zu ihnen
stießen schwache deutsche Grenzschutztrupps. Die
lettische Regierung Ulmanis, geflohen von Riga
nach Libau, aber versprach den deutschen
Freiwilligen Land zur Siedlung, achtzig Morgen
Land und gewichtige Kredite und erhöhten Sold,
wenn sie das Land zurückeroberten. Die deutschen
Truppen hatten Auftrag, Ostpreußen und mit dieser
Provinz des deutschen Ostens Grenzen zu schützen.
Der deutsche Führer, General Graf Rüdiger von der
Goltz, glaubte, den Befehl nur durch die Offensive
er füllen zu können. Und der Feldzug begann in
Schnee und Eis, indes die ersten Frühlingsstürme
durch die Wälder heulten, mit wilden und
verwegenen Patrouillenritten, mit kurzen, jauch-
zenden Stößen, mit Überfall und Gewaltmarsch.
Mitau wurde befreit. An der Eckau bildete sich die
neue Front. Riga, die baltische Stadt, lag wild
ersehnt hinter den dunklen Wäldern. Aus ihr drang
wirre Botschaft bis zur deutschen Front, hervor-
gekeucht aus den erschöpften Lungen baltischer
Flüchtlinge, aufgefangen vom sowjetischen Funks-
pruch, gewaltsam erpreßt von gefangenen Rot-
gardisten. Aber die deutsche Regierung, fürchtend
die Drohung der Entente, verbot den deutschen
Truppen, die Stadt zu befreien.
Das Wort «Vormarsch» hatte für uns, die wir
nach dem Baltikum zogen, einen geheimnisvollen,
beglückend gefährlichen Sinn. Im Angriff erhofften
wir die letzte, befreiende Steigerung der Kräfte,
ersehnten wir, das Bewußtsein zu bestätigen, jedem
Schicksal gewachsen zu sein, hofften wir, die
wahren Werte der Welt in uns zu erfahren. Wir
marschierten, von anderen Zuversichten genährt, als
sie der Heimat gültig sein konnten. Wir glaubten an
die Augenblicke, in denen sich die Vielgestalt eines
Lebens ballt, das Glück einer Entscheidung.
«Vormarsch»: das hieß für uns nicht ein Marsch auf
ein militärisches Ziel, um einen Punkt auf der
Landkarte, eine Linie im Gelände zu erobern, das
hieß vielmehr den Sinn einer harten Gemeinsamkeit
erfahren, das hieß die Zeugung einer neuen
Spannung, die den Krieger auf eine höhere Ebene
stößt, das hieß die Lösung aller Bindungen an eine
versinkende, verrottete Welt, mit der der echte
Krieger keine Gemeinsamkeit mehr haben konnte.
Der Aufbruch der deutschen Bataillon im Baltikum
glich dem Aufbruch eines neuen Völkerstammes.
Jede Kompanie führte ihr eigenes Feldzeichen mit
sieh und focht ihr eigenes Gefecht. Das Feldzeichen
der Kompanie Hamburg war die Flagge der
deutschen Hansestadt. Aber über der Flagge wehte
noch ein schwarzer Wimpel, und als ich einen der
Hamburger fragte, ob dies ein Zeichen der Trauer sei
— und ich war selbst verlegen ob dieser Frage —, da
pfiff der die ersten Takte des Seeräuberliedes. Nein,
keine Trauer also, den schwarzen Wimpel hatte schon
Klaus Störtebeker am Maste der «Bunten Kuh»
geführt, und er wehte einstens über den Kriegs-
koggen der Vitalienbrüder. So hatte also die Flagge
der Hamburger im Baltikum ihren besonderen Sinn,
und sie flatterte an jedem Panjewagen der Kompanie
und auch an der Feldküche, ja, bei manchen Gefechten
— das war möglich im Baltikum, da war alles möglich
— bei manchen Gefechten wurde sie vorangetragen,
und sie leuchtete blutigrot mit ihren schmalen
weißen Türmen und dem düsteren Strich darüber. So
konnte es wohl vorkommen — und es war gewiß ein
gut Teil Absicht der Hamburger dabei —, daß die
Bolschewiken zauderten zu schießen, ungewiß, ob es
nicht rote Truppen seien, die da anrückten, und es
konnte auch vorkommen, daß die Balten auf die
Hamburger schössen — denn die Balten konnten
kein Rot sehen, ohne gleich zu schießen —, dann aber
brauchten die Hamburger nur «Hummel, Hummel»
zu rufen, und das Geballer hörte auf; denn die
Hamburger waren bekannt in ganz Kurland und ihr
Schlachtruf auch.
Sie waren so bekannt, daß die Juden und Krämer
ihre Läden bedachtsam schlössen, wenn die Ham-
burger zu kurzer Ruhe in Mitau einrückten, ihr
traditionelles Lied singend, das Seeräuberlied, oder
irgendeine Unflätigkeit. Die Soldaten der anderen
Truppenteile traten dann auf die Straße hinaus und
sahen sich die Hamburger an, kopfschüttelnd zumeist,
denn diese marschierten nicht etwa, wie es sich
gehört, beileibe nicht, sie kamen daher, rechts und
links der Straße in je einer langen Reihe, und trugen
das Gewehr, wie es ihnen bequem war, und
schritten, braungebrannt und mit offenen Röcken
und Knüppeln in den Händen. Die Haare und die
Barte hatten sie sich lang wachsen lassen, und sie
grüßten nur Offiziere, die ihnen bekannt und genehm
waren. Es war eine große Ehre für einen Offizier,
von den Hamburgern gegrüßt zu werden. Denn diese
verdrehte Formation stand unter keinem der gültigen
militärischen Gesetze, kein Zwang hatte sie gebildet
und keinen Zwang erkannte sie an. Der Wille des
Führers allein galt, und dieser wiederum war
gewachsen aus jener motorischen Kraft, die alle, die
sich um das Feldzeichen scharten, zueinander finden
ließ. Es war gefährlich, auch nur einem von ihnen
auf die Zehe zu treten: der Unvorsichtige hatte
sofort die ganze Rotte auf dem Hals. Die Beute
gehörte allen, wie allen das Wagnis gemeinsam war.
Und wo sich die Hamburger mit den Bolschewiken
trafen —, und sie trafen sich oft genug, denn wo ein
Befehl die Fronten in Starre band, da machten die
Hamburger für sich alleine Krieg —, hatten sie
voreinander den gleichen, tödlich-freundlichen
Respekt. Es konnte wohl vorkommen, daß einer aus
der Schar gegen die eisernen Gesetze des Clans
verstieß, dann trat die Kompanie zu kurzem
Feldgericht zusammen, und nachdem der Meuterer
begraben war, zogen die Hamburger weiter, das
Seeräuberlied singend und in wütender Verachtung
jeden Aktenkrams.
Die Kompanie Hamburg war früher ein Bataillon
gewesen. Aber schon in den ersten Gefechten des
verwegenen Vormarsches von der Windau bis Mitau
wurde das Bataillon so zusammengeschossen, daß
Leutnant Wuth, der Führer, froh sein konnte, einen
Bestand zu wahren, der wenigstens noch knapp eine
Kompanie darstellte. Der Stamm der Hamburger
bestand aus Niedersachsen der früheren Hansa-
Infanterie-Regimenter, die Leutnant Wuth schon
während des Rückmarsches um sich gesammelt und
durch das verwirrte Deutschland an die ost-
preußische Grenze und dann nach dem Baltikum
geführt hatte.
Leutnant Wuth, ein großer, brauner, eckiger Mann
— ein Eberzahn stach ihm aus dem Munde, den er an
borstigen Haaren seines Bärtchens zu wetzen pflegte
—, vertauschte vor jedem Gefecht seine Feldmütze
mit einem Samtbarett, wie es die Urpachanten und
die Wandervögel tragen. Denn schon in den
gleißenden Vorkriegstagen fand dieser hagere Mann
die einzig ihm gemäße Form in den Reihen jener
Jugend, die in der lauen Luft erstarrter Forderungen
nicht atmen konnte, vom Durchbrach träumte und
vom Sturm, der in die dumpfen Räume fahren sollte.
Und wenn es nun bei den Hamburgern irgend etwas
gab, das Disziplin zu nennen war, dann kam es aus
der Witterung für dieses Mannes Wesen und sein
Glück.
So stellten die Hamburger, zu denen ich mich
gesellte, eine besondere Klasse von Kriegern dar
inmitten der Heerhaufen des Baltikumkrieges.
Da gab es viele Kompanien im Baltikum,
geordnete Formationen unter sicheren Führern,
geworben und marschierend nach zwingendem
Befehl. Da gab es Haufen unruhgepeitschter
Abenteurer, die den Krieg suchten und mit ihm die
Beute und das Losgelassensein. Da gab es
patriotische Korps, die den Niederbruch der Heimat
nicht verwinden konnten und die Grenze wahren
wollten vor der brandenden roten Flut. Und es gab
die Baltische Landeswehr, formiert aus den Herren
dieses Landes, die ihre siebenhundertjährige
Tradition, die ihre überlegene, kräftige Filigran-
kultur, die das östlichste Bollwerk deutschen
Herrentumes um jeden Preis zu retten entschlossen
waren, und es gab deutsche Bataillone, gebildet aus
bäuerliche Menschen, die siedeln wollten, die nach
Land hungerten, die den Boden rochen und nach den
Kräften tasteten, die dieser herbe Boden ihnen bot.
Truppenteile, die für die Ordnune kämüfen wollten,
aab es keine. Und die Vielzahl der Parolen gab ihnen
die Sicherheit, ihnen allen war ein Quentlein
zugeacht, ein Quentlein Lohn und Hoffnung und ein
lockendes Ziel.
Aus der Masse aber, welche die zusammen-
gekrachte Westfront nach dem Osten schwemmte,
sonderten sich die Gleichen ab. Wir fanden uns wie
auf ein geheimes Zeichen hin. Wir fanden uns fernab
der Welt der bürgerlichen Normen, keines Lohnes,
keines Zieles bewußt. Uns war mehr zerbrochen als
die Werte, die wir alle in der Hand gehalten. Uns
brach die Kruste auch, die uns gefangenhielt. Die
Bindung brach, wir waren frei. Und riß uns auch
das Blut, aufzischend plötzlich, in Rausch und
Abenteuer, trieb uns das Blut in Weite und Gefahr,
es trieb auch zueinander, was sich als zutiefst
verwandt erkannte. Ein Bund von Kriegern waren
wir, durchtränkt mit aller Leidenschaft der Welt, toll
im Begehren, jauchzend im Nein und Ja.
Was wir wollten, wußten wir nicht, und was wir
wußten, wollten wir nicht. Krieg und Abenteuer,
Aufruhr und Zerstörung und ein unbekannter,
quälender, aus allen Winkeln unserer Herzen
peitschender Drang! Aufstoßen ein Tor durch die
umklammernde Mauer der Welt, marschieren über
glühende Felder, stampfen über Schutt und stiebende
Asche, jagen durch wirren Wald, über wehende
Heide, sich hineinfressen, stoßen, siegen nach Osten,
in das weiße, heiße, dunkle, kalte Land, das sich
zwischen uns und Asien spannte — wollten wir das?
Ich weiß nicht, ob wir es wollten, wir taten es.
Und die Frage nach dem Warum verblaßte unter
den Schatten immerwährender Gefechte.
Noch immer gloste der Himmel über Tetelminde.
Das Gewirr der Äste zeichnete sich dunkel ab. Ahnte
der Bolschewik wirklich nichts? Schon die ganzen
letzten Tage war Unruhe an der deutschen Front.
Gerade wollten die Formationen auf eigene Faust
losbrechen, den Sturm auf Riga wagen, als die
deutsche Regierung verschmitzt dem Oberkomman-
dierenden auf dessen Drängen hin hatte mitteilen
lassen, sie könne es nicht hindern, wenn die Baltische
Landeswehr Riga erobere, die deutschen Truppen
dürften dann die eigenen Linien sichern.
Am Abend, als der Befehl zum Vormarsch
verlesen wurde, ging es durch die Mannschaft wie ein
Ruck. Und indes die Haufen auseinanderspritzten, um
zu packen und zu rüsten, flammten auch schon an
allen Enden die verlassenen Häuser hoch. Die
Offiziere rannten fluchend hin und her, doch aus
immer mehr Dächern prasselten die roten Zungen,
beleuchteten den starren Waldrand, färbten den
dunklen Himmel weithin mit gespenstischem
Schein. Ganz Tetelminde brannte, eine grandiose
Fackel, angesteckt vom Urtrieb der Besessenen, in
denen plötzlich wieder die erste Lust des Menschen,
die Vernichtung, pochte und nach ihren Rechten
schrie.
Das Zifferblatt der Armbanduhr leuchtet. Gleich halb
zwei. Ich sehe zu Leutnant Wuth hinüber, der unweit
hinter einem Baume steht und durch das Glas nach
vorne stiert. Nun macht er eine Bewegung. Er bückt
sich halb und führt eine Leuchtpatrone in den Lauf
der Pistole ein. Er schiebt den Lauf zurecht, es
knackt.
Drüben im Gehöft kräht ein Hahn. Es ist, als ob die
ganze Front den Atem anhält. Ein Rauschen geht
durch den Wald. Unzählige linke Beine ziehen sich
zum Leib. Im Osten beginnt es zu dämmern. Auf
einmal hebt Leutnant Wuth den Arm und jagt das
Signal hoch in die Luft.
Die Front brüllt auf. Ich reiße mich herum und
drücke auf den Hebel. Schon höre ich das Rattern des
Gewehrs nicht mehr. Der Panzerzug ist da und greift
mit blitzenden Armen nach vorn. Alle Rohre speien,
und da liegt Mann an Mann, Geschütz an Geschütz,
MG an MG. Alles versinkt in wahnsinnigem Getöse.
Der Dampf zieht in dicken Schwaden durch das
Gebüsch und bleibt mit flatternden Fetzen an den
zerwirrten Ästen hängen. Drüben verschluckt eine
Staubwand das Gehöft. Ich halte zitternd den Hebel
fest. Der Gurt ist durch. Ich reiße mechanisch den
Hebel hoch und schlage die Kurbel vor. Mein Blick
tanzt über das Visier nach Ungewissem Ziel. Da
stehen starre, schwarze Bäume im Feld und sinken
wieder zusammen und stehen an anderer Stelle wieder
auf.
Ich sehe Hoffmann, er hängt mit halbem Leib über
seiner Knarre. Er drückt mit einer Hand den
Abzugshebel und brüllt sich seine Lust, weit
vorgebeugt, mit krallen Augen aus dem Herzen. Der
ganze Waldrand ist nun eine straffgespartnte Schnur
berauschter Leiber. Wir feuern, was nur immer aus
den Läufen will. Das Feld vor uns wird glattrasiert, es
ist, als zuckte alle Wirre, alle langgehemmte Wut aus
den Fingerspitzen und wandelte sich zu Metall und
Flamme. Heraus damit, heraus mit Feuer, Eisen,
Dampf und Schrei. Es geht erlösend durch den Wald,
der Donner unsagbarer Lüste schmeißt das Feld vor
uns zu Scherben.
Im fahlen Grau des Morgens, unter den ziehenden,
milchigen Fahnen des Nebels, tauchen breite braune
Erdflecken auf. Dort halte ich die spritzende Mündung
hin.
Die Pioniere schmeißen Bretter übers Wasser; der
Panzerzug rückt keuchend vor. Der Waldrand wird
lebendig, aus allen Büschen wimmelt es nach vorn.
Unwillig plätschert die Eckau, Ringe werfend, wie
die Hamburger ins flache Wasser springen, mit
hocherhobenen Gewehren waten, flink den Uferrand
erklettern.
Kaum sind wir über den schmalen Fluß, zischt uns
verdrossen von jenen Erdaufbauten Feuer um die
Beine. Wir, in den Ohren das Gedröhn der
Feuerwelle, erregt den feuchten Dunst der Pulvergase
atmend, stoßen vor. Schwerfällig erst, dann immer
schneller, taumeln, springen wir über dampfgefüllte
Trichter, stolpern über Ackerfurchen, und die
Beschleunigung des Schrittes reißt uns zwingend in
das Sprühen, steigert mit dem Lauf die hemmungs-
lose Erbitterung, läßt uns den Widerstand als dreisten
Hohn erscheinen, den in toller Hatz zu brechen einzig
Ziel des Augenblickes ist.
Die Hamburger sind schon heran. Ich sehe, wie am
Graben die Bälle der Handgranaten fliegen, wie sich
Gestalten von der Erde lösen und nach hinten eilen.
Ich reiße den Karabiner herunter und schieße lau-
fend einen Rahmen leer. Die zuckenden Bänder des
Stacheldrahtes zerren an meinen Beinen. Daß in
diesem Augenblick der Schütze drei mit Kopfschuß
fällt, das ungefüge Gewehr auf sich stürzen lassend,
empfinde ich mit springender Wut als einen mir
persönlich angetanen Akt der Rache. «Laß liegen»,
schreie ich dem Schützen zwei zu, der sofort die
Sporen des Schlittens fahren läßt, so daß die Knarre
polternd niedersaust. Wir springen in den Graben.
Quer liegt auf der Sohle ein unförmiger brauner
Körper, ich trete auf eine ausgestreckte Hand, ich
breche in eine holzverschalte Höhle, Stöhnen schlägt
mir entgegen, erdfahle, dumpfe Gesichter mit wirrem
Haar liegen eingebettet in glitschigem Lehm,
halbaufgerichtet hockt unter den Toten einer, der mir
den blutenden Arm entgegenstreckt. Ich muß weiter;
hinter der Brustwehr krachen dumpf die Detona-
tionen der Handgranaten. Ich laufe wie im Rausch.
Der Graben öffnet sich. Drei, vier Hamburger
schlüpfen aus qualmenden Unterständen. Wir klettern
über quergestürzte spanische Reiter, tauchen aus den
Sappen auf, gelangen in dürftiges Unterholz, das sich
zwischen Birken breitet. Ein MG tackt aus nahem
Busch. Die Hamburger brechen durch die Zweige.
Eine Lichtung tut sich auf, und plötzlich, unwirklich,
stehen zehn, zwölf erdbraune, zerlumpte Gestalten
vor uns, werfen klirrend die Gewehre weg, stoßen
die Arme hoch und kommen zögernd auf uns zu.
Aber die Hamburger, mit vorgestreckten Gewehren,
springen an, sie knallen blindlings in die Gruppe,
kaum verweilend. Die Gruppe steht, es lösen sich aus
ihr ein paar Gestalten, sinken in die Knie, fallen, einer
bricht zusammen mit hohem, langgezogenem Schrei.
Murawski, Schütze zwei, springt vor, sein Kolben
saust in steilem Bogen, da reiße ich den Karabiner
hoch und schieße auch. Ich fahre durch die letzten
Stehenden der Gruppe, knacke durch das Unterholz,
dem Schall des tackenden Maschinengewehrs
entgegen.
Mitten im Forst, geschmiegt an eine schmale
Lichtung, duckt sich ein Gesinde. Von dort her
kommt das Feuer. Wir hasten durch den Wald, von
keinem anderen Drang erfüllt, als die Gelüste
unseres Blutes zu stillen in blitzschnellem Ansprung
auf das besetzte Haus. Neben mir keucht Hoffmann
mit seinem Gewehr. Das Rad des Minenwerfers
knarrt auf einem Waldwege. Murawski läuft zurück,
unser Gewehr zu holen. Wir raffen durch den
Hummelruf zusammen, was an Hamburgern in der
Nähe ist. Am Waldrand werfen wir uns hin. Eine
Gruppe setzt von der Flanke aus zum Sturme an.
Wütend haut das MG-Feuer vom Gehöft in ihren
ersten Sprung. Doch indes sie zum zweiten Sprung
rüsten, indes der Gurt durch das Gewehr Hoffmanns
rattert, verläßt auch schon die erste Mine grell den
kurzen Lauf. Bevor die hochgespritzten Balken und
Sparren wieder zur Erde kommen, wachsen drei, vier
Tulpen vorm Haus, schwarze Ballen, die den
wahnsinnigen Krach durch den hallenden Wald
senden. Da sehe ich schon die dunklen Punkte der
Hamburger um das Gesinde wuseln. Wir lassen das
Gewehr im Stich und rennen los.
Der helle Tag ist da. Schon sind wir an den ersten
Zäunen, da kommt einer aus dem Hofe gelaufen. «Wir
haben Gefangene!» schreit er, und er schreit: «Dort
im Gebüsch soll Kleinschroth liegen!»
Kleinschroth war vor zwei Tagen von einer
Patrouille nicht zurückgekehrt. Ich renne auf die
Sträucher zu, da knackt Hoffmann durch die Büsche,
und da liegt Kleinschroth.
Ist das Kleinschroth? Dies blutrote Bündel da?
Wie, das war ein Mensch? Auf braunem Boden ein
Gemisch von Erdbrocken, Blut, Knochen, Därmen,
Kleiderfetzen. Der Kopf allein, abgeschnitten, daß
der Schlund gen Himmel ragt; ein dünner Faden Blut,
aus dem Mund zum Kinn, getrocknet; die Augen
offen, so daß nur das Weiße starrt, so liegt der Kopf.
Und der Boden rund um den armen Leib zerstampft,
zertrampelt, aufgewühlt — und weiß und körnig
kleine, fast verwehte Häufchen zwischen Blut und
Schleim — was ist das? Salz!
«Gefangene, sagst du?» frage ich den Mann,
«Gefangene?» Hoffmann ist schon fort. Ich rase auf
das Haus zu. Da sind Gefangene, und einer hat eine
blaue deutsche Husarenuniform und eine rote Schärpe
um den Leib. — «Was, Deutsche?» Hoffmann
schnellt auf diesen zu, «was, Deutsche?» röchelt er
und springt ihn an und hämmert ihm die Faust ins
Antlitz. Der aber fährt zurück, er taumelt, rafft sich
hoch. Jetzt schlägt er wieder, denke ich; da ist's, als
risse ihn Unnennbares zusammen, die Backen-
muskeln straffen sich und er wird bleich, so bleich,
wie ich noch niemals einen Menschen sah. Zwei
Leute klammern sich an Hoffmann, der rasend an den
Mann zu kommen strebt und sein «Was, Deutsche?»
zischt. — «Ja», sagt auf einmal der Gefangene und
preßt die Worte durch die Zähne, «ja, ich bin
Deutscher», sagt er, und es liegt ein unmeßbarer Haß
in diesem seinem Wort, «wir sind sehr viele
Deutsche drüben», keucht er, und er brüllt auf
einmal los: «Wir werden niemals ruhn, bis dies
verfluchte Deutschland ausgerottet ist» ...
Es sind im ganzen acht Gefangene, davon sind drei
Letten, zwei Tschechen, einer Pole, einer Wolgarusse,
einer Ukrainer und dann der Deutsche. Der Deutsche
ist aber Kriegsgefangener gewesen, in Sibirien, hatte
sich den roten Truppen eingefügt und gehört nun zum
Regiment Liebknecht, das zumeist aus deutschen und
österreich-ungarischen Kriegsgefangenen zusammen-
gesetzt ist. Er stammt aus der Provinz Sachsen und
war früher Monteur. Nein, sagt er im kurzen Verhör,
Angehörige habe er keine in Deutschland. Ja, er sei
Kommunist. Er hatte den Befehl über die Besatzung
des gestürmten Gesindes. Kleinschroth sei angeschos-
sen in ihre Hände gefallen und auf seine Anordnung
getötet worden. Was nun mit ihm geschehe, sei ihm
gleichgültig.
Hoffmann schaufelt schon in wütender Hast an
Kleinschroths Grab. Die Gefangenen werden an die
Mauer der Scheune geführt. Sie treten ruhig vor die
Gewehre. Die Letten und die Tschechen gehen fast
eilfertig an ihren Platz, sie sehen starr, finster und
gequält in die Mündungen. Der Russe und der
Ukrainer, beides Bauern mit völlig zerfetzten
Uniformen und verwilderten blonden Bärten,
nehmen die Mütze ab, als wollten sie sich
bekreuzigen. Sie lassen es aber. Der Pole zittert und
fängt leise an zu weinen. Der Deutsche schiebt sich
gleichgültig hin.
Leutnant Kay, der sich beim Sturm zum Gehöft
gefunden hatte, dreht sich plötzlich um und geht
davon. Ich sehe zu Hoffmann hin, der an
Kleinschroths Grab schaufelt. Ich zaudere, ob ich zu
ihm gehen soll. Da kracht die Salve.
Dann marschieren wir weiter. Wir kommen, durch
den breiten, dichten Waldgürtel stoßend, an die
Straße, wo wir uns sammeln. Dort drängen sich
schon die Kolonnen. Die breite Straße ist überfüllt
mit Truppen und Fahrzeugen, die alle nach vorn
streben. Wir gliedern uns ein und marschieren mit.
Dicht vor Thorensberg erfahren wir, daß Riga gefallen
ist.
Auf der Straße war die Abteilung v. Medem der
baltischen Landeswehr, mit dem baltischen
Stoßtrupp, Führer Leutnant Baron Hans v.
Manteuffel, und der deutschen Sturmbatterie, Führer
Leutnant Albert Leo Schlageter, im ersten Anhieb
durchgebrochen. In wahnsinnigem Tempo war die
Abteilung vormarschiert, kümmerte sich nicht um die
wirren, verlorenen Haufen der Bolschewiken rechts
und links der Straße, sauste im Karracho vorbei an
besetzten und befestigten Stellungen, überrannte die
Barrikaden, stürmte schnurgerade auf Riga zu. Hinter
der Abteilung schlug das Gefecht wieder zusammen,
aber die nachdrängenden deutschen Bataillone
zerschmetterten mit kurzen Stößen das brechende
Gefüge der roten Front. Die Balten hetzten indes
durch überraschte Massen, unbeirrt, unbezähmbar,
polterten durch die ersten Straßen der Rigaer Vorstadt
Thorensberg, jagten verbissen, mit röchelnden
Lungen und dreck-, schweiß- und blutbekrusteten Ge-
sichtern durch die Stadt, stießen zur Brücke vor,
brachen den kurzen Widerstand mit schnell
gewendeten Geschützen, besetzten den Brückenkopf,
hielten wütendem Gegensturm stand, sandten eine
Kolonne über die träge Düna nach Riga hinein,
hielten die einzige Brücke fest in der Hand. Der
Stoßtrupp erstickte aufflackernde Gegenwehr in Riga
mit rasendem Ingrimm, knallte sich durch die
brodelnde Stadt bis zur Zitadelle und kam fiebernd,
heulend, mit letzter, angespannter Kraft eben zurecht,
um die schon in die Todeskeller gepferchten Geiseln
zu befreien. Am 22. Mai 1919, des Nachmittags um
vier Uhr, war Riga in deutscher Hand. Leutnant v.
Manteuffel, der baltische Nationalheld, fiel vor der
Brücke durch Kopfschuß im Augenblick seines
höchsten Triumphes.
Dies erfuhren wir auf der Straße. Wir erfuhren dies
und noch mehr. Denn während wir über Rigas Fall
uns irre Worte der Freude in die Ohren schreien,
flattern dumpfe Gerüchte über bitterbösen Kampf im
Südosten, bei Bauske. Dort sollte Hauptmann v.
Brandis mit seinem Korps den rechten, ungedeckten
Flügel der deutschen Front nach vorne tragen. Aber
gerade dort hatte der Bolschewik für diesen Tag seine
Offensive angesetzt. Bei Bauske wollte die Rote
Armee durchstoßen bis zur Bahn Mitau-Schaulen, der
Lebensader der deutschen Front. Dort traten die roten
Regimenter an zum Sturm und stießen mitten hinein
in den deutschen Aufmarsch. Brandis und seine Leute
lagen vor Bauske auf freiem, ungedecktem Feld, und an
der dünnen Linie brandeten unaufhörlich die Sturm-
wellen der Roten Armee.
An den ersten Häusern der Vorstadt Thorensberg
erreicht uns der Befehl. Wir werden aus dem Angriff
herausgenommen und nach Südosten abgedreht. Unser
Bataillon sollte über Bad Baidon, Neuguth vorstoßen bis
Friedrichstadt und den Bolschewisten an der Flanke
packen, um Brandis Luft zu schaffen.
In aller Frühe weckte mich Leutnant Wuth. Eine
Patrouille solle nach Neuguth vorfühlen, eine Gruppe
Hamburger und mein Gewehr. Die Kompanie rückte auf
Panjewagen, die noch in der Nacht requiriert wurden,
sogleich nach. Es war drei Uhr morgens und schon
taghell, als wir auf den Hof traten und die drei
Panjewagen bestiegen, die dort standen. Die Gruppe der
Hamburger fuhr voraus. Ich mußte noch die Munition
verpacken und trabte dann hinterher. Am
Aussichtsturm von Bad Baidon rief mir einer herunter,
Neuguth sei wahrscheinlich schon geräumt. Man könne
oben vom Turm aus die Ortschaft mit ihrer
zerschossenen Kirche deutlich sehen.
Wir hockten ein bißchen stumpfsinnig und nachlässig,
ohne Koppel, auf unseren Karren. Der Panjegaul
stockerte lustig unter seinem hohen Kumt voran. Die
kleinen waldbestandenen Hügel von Bad Baldon lagen
frisch und anmutig im erwachenden Tag. Es war doch
schön so, in den Morgen hineinzufahren, in diese
wundervolle, friedliche Landschaft. Die Spannung der
Vormarschtage hatte sich wohltuend gelöst. Alles war
sehr selbstverständlich. Hinter mir, auf der Rückseite des
Karrens, unterhielten sich Bestmann und Gohlke, zwei
Mann meines Gewehrs, gedämpft und einschläfernd über
den Krieg. Beide waren alte Soldaten, hatten den ganzen
Krieg über im Westen gestanden. Bekannte Namen
flogen wie von weither an mein verschlafenes Ohr. Von
Douaumont sprach einer — richtig, Hauptmann v.
Brandis, der jetzt dort hinten mit seinem Korps einsam
im Gefecht lag und von dem die Sage ging, man sähe
ihn nur in zweierlei Zuständen, entweder kämpfend oder
besoffen —, der war ja einer der bekannten Stürmer von
Douaumont gewesen. Ich schloß die Augen und ließ
wohlig die monotonen Reden an mein Ohr plätschern.
Alle die Namen, die da fielen wie plumpe Steine in einen
trägen See, Flandern und Verdun, Somme und Chemin
des Dames, alle diese furchtbaren, blut- und
eisenhaltigen Namen, nun gleichmütig ausgesprochen
von Männern, die mit ihnen ein Erleben verbanden, von
dem ich mir nur eine ferne, matte Vorstellung bilden
konnte, alle diese Namen standen nun beinahe losgelöst
von jeder Wirklichkeit in dieser sonnenüberströmten,
gedämpft flimmernden Landschaft und ließen so das
Bild einer tiefen, gesättigten Ruhe desto eindringlicher
erscheinen. Bestmann und Gohlke plauderten, wie um
sich dunkle Schatten von der Seele zu streichen,
wurden aber nach und nach immer einsilbiger, und
schließlich sagte Gohlke mit einem kleinen Seufzer
abschließend: «Dies hier, das ist ja gar kein Krieg.»
Sie schwiegen eine Weile. Eine Lerche stieg aus dem
Feld. Über einem sanften Hügelrücken war gerade
noch die Kuppe des Neuguther Kirchturmes zu sehen.
«Wenn hier kein Krieg ist, warum seid ihr dann
hier?» fragte ich faul über die Schulter weg. «Ach,
das verstehst du nich», sagte Bestmann mit der
Überlegenheit des alten Soldaten, «das is hier doch
man ’n Übergang. Der Krieg is noch lange nich aus. Der
Krieg geht nie zu Ende. Wenigstens wir erleben's
nich.» — «Da hast du recht», betonte Gohlke, «bloß,
was sollen wir in Deutschland? Nee, da passen wir
nich mehr hin. Die denken, der Krieg war' aus. Ja,
Scheibe, solang wir verloren haben, is der Krieg nich
aus.» — «Das walte Gott», sagte Bestmann, «und jetzt
wer' ich noch 'n bißchen röcheln», und lehnte seinen
Kopf an einen Munitionskasten und schloß die Augen.
Der andere schwieg. Träge kreisten die Räder im
Sand.
Vor mir zuckelten die beiden anderen
Panjewägelchen. Nach einer langen Weile machten die
vorne halt. Unteroffizier Ebelt von den Hamburgern
kam zu mir heran und meinte, wir müßten jetzt wohl
runter von den Wagen und uns ranpirschen an
Neuguth. «Ach wo», knurrte ich, «da is doch nischt
los. Wir werden's schon merken, wenn wir Dunst
kriegen.» Ebelt lachte: «Also fahren wir weiter.» Wir
fuhren weiter, ein wenig aufmerksamer als bisher.
Nichts rührte sich in Neuguth.
Die ersten Häuser tauchten am Wege auf. Wir
trabten vergnügt drauflos. Einige Hühner flatterten
über den Zaun. «He, Panje», schrie Ebelt und knallte
mit der Peitsche. Aus der Tür des ersten Hauses kam
ein verstrubbelter Bauer und verschwand sofort
wieder, als er uns sah. Ebelt lachte und wir fuhren
weiter. Bald waren wir in der Ortschaft. Kein Mensch
war zu sehen. Doch, in einem der Häuser dicht am
Markt stand ein Mädchen am Fenster; Ebelt rief sie
an, und sie kam auch sogleich heraus. Es war ein sehr
hübsches Mädel, städtisch gekleidet, keine lettische
Bauerntrampel. Wir rissen alle die Augen auf. Und das
Mädel sprach deutsch! Herrgott, hatte sie eine
klingende Stimme! Nein, die Bolschewiken seien weg,
Gott sei Dank, gestern abend schon. Vielleicht hinten
bei den Vorwerken, da könnten noch einige sein. Sie
sei Flüchtling. Wohne beim Apotheker. Nein, sie ist
Russin, aber der Apotheker sei Balte. Die Roten
hätten schlimm gehaust im Ort. «Aber jetzt seid ihr
ja da», lachte sie. Ebelt grunzte befriedigt. Wir
wollten doch noch durch bis zum Vorwerk,
nachsehen. Dann kämen wir zurück. «Bis dahin also
—» Sie nickte und winkte uns nach, als wir
weitertrabten.
Wir sahen nur wenige Leute, Letten. Sie verstanden
uns nicht oder wollten uns nicht verstehen.
«Bolschewik nix», sagten sie.
Wir glaubten ihnen und fuhren zum Vorwerk. Auch
da waren keine Bolschewiken. Ebelt wollte nicht auf
dem gleichen Wege zurück. Er wollte erst durch die
Kastanienallee zur Kirche und da nach Rotgardisten
schnüffeln. Es müsse doch von dort noch ein Weg
zum Markte führen. Dicht an der Apotheke sei ja eine
schmale Straße abgegangen. Er solle nur zur Kirche
fahren, sagte ich hastig, ja, da müsse er wohl erst
noch hin. Ich würde an der Apotheke auf ihn warten.
Ebelt schien zu zaudern. Dann grinste er, nickte und
bog ab. Ich wendete den Karren und fuhr zurück.
Herrgott, die Welt ist wirklich schön.
Ich saß ganz vorne auf der Leiste des Karrens. Die
andern hockten tief drinnen und ließen gemütlich die
Beine baumeln. Da war schon die Apotheke in Sicht.
Ich knatterte über das dürftige Pflaster auf das Haus
zu.
Da schnitt ein Knall alle Fäden durch. Aus
unmittelbarer Nähe, dicht am Ohr riß es uns hoch. Der
Panjegaul stieg plötzlich, raste dann mit einem Satze
los. Ich flog vom Wagen, stolperte, fiel in den Dreck
und war umtanzt, umringt von zerlumpten
Rotgardisten, die ihre Gewehre schwangen und
stehend dem davonhetzenden Wagen Schüsse
nachpfefferten. Drei, vier stürzten sich auf mich,
prügelten mich hoch und zerrten mich fort. Ich war
gefangen.
Ich wußte kaum, was geschehen war. Einer hieb
mir mit einer Peitsche oder einem Stock quer übers
Gesicht und fragte mich was. Ich verstand ihn nicht,
ich verstand überhaupt nichts, es sauste mir nur durch
das Hirn: «Ich bin gefangen, das ist unmöglich, ich
bin gefangen.» Sie brüllten auf mich ein; ich wurde
hin- und hergezerrt, und auf einmal stand ich an einer
Mauer. Sie war weiß und die Sonne flimmerte auf ihr.
«Was soll ich an der Mauer?» dachte ich, ich
verstand gar nicht, was ich an der Mauer solle. Ich
drehte mich um und sah in die Mündungen der
Gewehre. Da wußte ich, was ich an der Mauer sollte.
Die Mündungen stehen vor mir, kleine runde,
schwarze Löcher. Es gibt nichts auf der Welt als diese
Mündungen. Ach, Unsinn. Es gibt nichts auf der Welt
außer mir. Die schwarzen Löcher aber werden größer,
immer größer, jetzt fangen sie an zu kreisen, werden
runde, schwarze Scheiben. Die Scheiben aber werden
rot, nein gelb, und weiß und blau und grün.Sie teilen
sich plötzlich und alles fängt an, sich langsam zu
drehen. Das hebt sich auf der einen Seite und
darunter ist nichts und dann schwenkt die ganze Welt
einfach um, mit einer einzigen großen, gütigen
Gebärde. Und ich bin entsetzlich einsam. Das ist so
kalt um mich. Ich bin wirklich ganz allein. Es ist ja
niemals etwas gewesen außer mir, ich müßte es ja
doch sehen, wenn irgend etwas außer mir jemals
gewesen wäre. Ich will doch die Augen aufmachen,
aber da merke ich, daß ich sie gar nicht zugemacht
habe. Bloß, mein Bauch ist eine gläserne Kugel.
Wenn daran getippt wird, dann ist Weltuntergang.
Dann muß der Bauch ja platzen, wie eine Seifenblase.
Und das ist unmöglich. Ich verstehe gar nicht, daß ich
je gelebt habe. Das war ja alles Unsinn. Sicher habe
ich mir das nur eingebildet, daß ich gelebt habe.
Leben ist Unsinn. Und Tod gibt es natürlich nicht.
Wenn es nur drinnen nicht so brüllend heiß wäre und
draußen so kalt. Irgendwo muß an mir Wasser sein.
Oder Eis. Ich weiß nicht. Es ist ja auch ganz gleich.
Eigentlich ist es ganz schön, zu wissen, daß man
ganz allein auf der Welt ist und daß es im Grunde gar
keine Welt gibt. Nun weiß ich auch, welche Farbe
alles hat. Lila. Einfach Lila. Es ist nur dumm, daß
man gar kein Glied bewegen kann. Ich glaube, ach
natürlich, ich habe ja auch gar keine Glieder. Das ist
jetzt zu Ende. Was ist zu Ende? Was?...
Das? ... Schüsse, Schüsse, Schüsse... Brausen in der
Luft.
Auf einmal stürzt der Strom in meine Adern, packt
mich, rüttelt, öffnet alle Poren.
Die Hamburger sind da — da ihre Fahne! Vor mir
liegt ein dunkles Häufchen, ein toter Bolschewik.
Und Ebelt streicht vorbei und sagt: «Da haste noch
mal Schwein gehabt!»
Ich lege mich ganz sanft zu Boden. Ein kleiner
Käfer, goldbraun, klettert eifrig über ulkige trockene
Krümel, verschwindet in einer Ritze der weißen
Mauer. Und eine kleine blaue Beere ist da. Blank ist
die runde Beere, und ich sehe in ihrem winzigen
Scheine die ganze Welt sich malen.

Wende
Vier Wochen lang marschierten wir ziellos hin und
her. Wir marschierten in der glühenden Junihitze
durch die weiten Wälder, über die würzigen Heiden,
auf den dunstigen Sümpfen dieses wunderlichen
Landes, badeten in der Aa, in der Eckau, in der
Düna, stießen von Friedrichstadt aus bis weit nach
Lettgallen hinein und von Bauske aus bis weit nach
Litauen. Wir befuhren mit den winzigen, immer
trabenden Panjewägelchen das ganze Land, besuchten
die dumpfen litauischen Dörfer, die einsamen
kurländischen Gesinde, die schlicht sauberen
baltischen Herrensitze, fragten und erzählten, suchten
und tasteten, aber jene versprengten Rotarmisten von
Neuguth, die mich vor ihren kalten Läufen hatten,
waren die letzten Bolschewiken, die wir sahen. Wir
erfuhren nicht, was aus der Roten Armee geworden
ist, wir erfuhren auch nicht, was indessen in
Deutschland vor sich ging, aber von dem, was sich
droben in Nordlivland und in Riga ereignete, davon
kamen verworrene Gerüchte bis zu uns, und es war
schwer genug, diesen Gerüchten zu glauben.
Nach Riga aber waren wir nicht gekommen. Als die
ersten Gerüchte von der unglücklichen Schlacht bei
Wenden zur Truppe kamen, waren die Hamburger fast
befriedigt darüber, daß den hochnäsigen Balten eins
auf das Dach gegeben wurde, und vernahmen mit
dem Stolze, der alten Kriegern so wohl ansteht, von
dem Befehl, der das Bataillon gegen Ende des Monats
Juni 1919 nach der neugebildeten Front am Jägelsee
berief.
Folgendes war vorgegangen: Durch den deutschen
Vorstoß nach Riga war Moskau gezwungen worden,
auch den gegen die weißgardistische Armee
Judenitsch am Peipus-See kämpfenden Flügel der
Roten Armee zurückzunehmen. Dadurch wurde die
estnische Armee, die im Verbände Judenitschs focht,
entlastet. Judenitsch und die Esten aber hatten die
Unterstützung der Engländer. Die Unterstützung der
Engländer hatte auch der frühere, durch einen Putsch
des Barons Manteuffel in Libau am 16. April 1919
abgesetzte lettische Ministerpräsident Ulmanis. Die
Deutschen und Balten und Pastor Needra, der
deutschfreundliche lettische Ministerpräsident, hatten
die Freundschaft der Engländer nicht. Nichts weniger
als das. Denn England hatte Interessen im Baltikum.
Und wo England Interessen hat, da legt es Wert auf
das Gleichgewicht der nicht englischen Kräfte. Durch
den deutschen Sieg war dies Gleichgewicht gestört.
Und Ulmanis verbündete sich mit den Esten gegen
die Regierung Needra, die von den Baltikumtruppen
gestützt wurde.
Ulmanis fand Hilfe bei dem lettischen Obersten
Semitan, der lettische Truppen in Nordlivland
kommandierte. Die Esten beschuldigten die lettische
Regierung Needra der Grenzverletzung beim Vor-
marsch der Balten auf Wenden zu. Und in Wenden
wurden kleine baltische Abteilungen von Esten und
Semitan-Letten entwaffnet. Die Landeswehr eilte
ihren Kameraden zu Hilfe, deutsche Bataillone
schlössen sich den Balten an. Ulmanis organisierte
eine estnisch-lettische Armee, und diese Armee hatte
englische Ausrüstung, hatte englische Waffen, eng-
lische Offiziere und englisches Geld. In der Bucht von
Riga kreuzten plötzlich englische Kriegsschiffe, und
englische Kommissionen saßen in Riga herum. Der
«Bürgerkrieg» war da.
Die Landeswehr und starke Teile der Eisernen
Division, das Badische Sturmbataillon und die
Abteilung Michael rückten auf Wenden zu. Sie
nahmen Wenden, der Gegner wich aus. Er wich hier
aus und dort, er war nirgends zu fassen, niemand
wußte, wie stark er war, wo er stand, wer er war. Und
auf einmal war Wenden eingezäunt. Auf einmal war
Artillerie da, links, rechts, vorn und hinten, auf
einmal krachte es zwischen sorglos ziehende deutsche
Kolonnen, auf einmal war das Badische Sturm-
bataillon umzingelt, überrascht und überfallen von
Truppen, die deutsche Stahlhelme trugen und deutsch
sprachen und aus Deutschland stammten und doch
keine Deutschen waren und auch keine Letten oder
Esten oder Engländer, sondern Soldaten des
Oberleutnants Goldfeld, der mit seiner Truppe im
Baltikum meuterte und dann zu den Letten übertrat.
Auf einmal war die Landeswehr angegriffen, stand in
tollem Kreuzfeuer auf offenem Feld, verlor ihre
Kolonnen, überstand mühsam eine Panik und mußte
zurück. An der Livländischen Aa, an den Seen vor den
Toren der Stadt Riga bildete sich die neue deutsche
Front, und an dieser Front wurden alle verfügbaren
Bataillone eingesetzt. —
Leutnant Wuth wetzte seinen Zahn und sagte:
«Herrschaften, mal herhören: Wir sollen jetzt an die
Jägelfront. Da ist dicke Luft. Der Este hat
angegriffen. Wie er dazu kommt, weiß ich nicht. Wie
kommt Spinat aufs Dach? Wahrscheinlich steckt der
Engländer dahinter. Jedenfalls, die deutsche Regierung
hat verboten — Maulhalten dahinten —, hat verboten,
daß deutsche Truppen Riga betreten. Darum sind wir
jetzt lettische Staatsbürger. Daher der Name
Bürgerkrieg. — Ebelt, quasseln Sie nicht dauernd
dazwischen; wenn Sie was zu melden haben, dann
melden Sie das in Berlin. — Also, wir sind jetzt laut
höherem Befehl lettische Staatsbürger. Fragen wird
euch wohl keiner danach. Beim Marsch durch Riga
müssen wir einen tadellosen Eindruck schinden.
Gerubelt wird nicht. Vielmehr bitte ich mir Disziplin
aus. Es werden nur hochanständige Lieder gesungen.
Mit Gruppen rechts schwenkt marsch. Ab dafür.»
Die Disziplin der Hamburger war untadelig. Sie
war nur von besonderer Art. Denn es geschah nichts
weiter, außer, daß sie auf ihrem Marsch durch die
spröde Stadt das schöne Lied sangen von dem
Seemann, der im Puff erwacht, wobei ich nur die
Hoffnung hegte, daß die baltischen Mädchen in hellen
Kleidern, die uns am Alexander-Boulevard zuwinkten,
den rauhen Text des Liedes nicht verstanden.
Am Aa-Übergang zwischen den Seen bezogen wir
eine notdürftig vorbereitete Stellung. Zurückflutende
Abteilungen riefen uns zu, die Esten drängten mit
allen Kräften nach. Wir gruben uns ein, besetzten
Wald und Uferrand und befestigten die zerschossene
Zuckerfabrik, so gut es in der Dunkelheit ging.
Am nächsten Morgen schon, in aller Frühe, waren
die Esten da. Ein leichter Regen fusselte. Ich lag in
meiner Mulde und hatte die Zeltbahn über mich
gedeckt. Bestmann hatte Wache. Wütendes Krachen
weckte mich. Ich fuhr hoch und steckte den Kopf über
die Deckung. Sofort spritzte MG-Feuer in den Sand.
Wir legten uns platt in die Mulde, und Bestmann
begann ruhig, sich tiefer einzugraben. Vier bösartig
krachende Einschläge dreißig Meter vor uns im
feuchten Wiesenhang zur Aa überschütteten uns mit
klatschenden Brocken und surrenden Splittern, ohne
vorherige Ankündigung durch das Gejaule der
Flugbahn. «Was ist denn das?» fragte ich. «Ratscher»,
sagte Bestmann lakonisch. Ich hob vorsichtig die
Augen über die Deckung. Schon schleuderte es mich
zurück. Hinter uns barst es viermal. Man hörte
Abschuß und Einschlag fast gleichzeitig. «Die nächste
Salve sitzt!» sagte Bestmann und schmiegte sich dicht
an die Deckung. Das fing ja lieblich an, dachte ich,
und plötzlich hatte ich eine rasende Angst. Die
nächste Salve... dachte ich und preßte mich bebend an
den Boden. Da... «Zu weit», stellte Gohlke fest, aber
etwas pfiff und flitzte dicht vor meinem Kopf
glupschend in den Boden, und es war, als ob eine
gespenstische Riesenhand mir einen Ballen gepreßter
Luft ins Kreuz geschmissen hätte. Ich war hier zum
ersten Male in Granatfeuer. Also, so war das? Da,
schon wieder... Mein Gott! «Die müssen da, hinter
der Waldecke, stehen», sagte Bestmann und lugte
behutsam hinüber. «Das is man bloß eine Batterie.»
Dies Wort beruhigte mich etwas, aber ich hatte das
unklare Empfinden, daß ich jetzt vor den alten
Frontsoldaten meines Gewehres irgendwie einen
besonderen Mut zeigen müßte. Ich hob also den Kopf
und sagte: «Die können ja nischt» — «Kopp weg,
Mensch», brüllte Bestmann, «biste denn total
verrückt? Meinste, wir wollten allen Dunst
abkriegen?»
Und dies war sein letztes Wort. Ja, denn plötzlich
tat sich die Erde auf, sie riß vor uns auseinander mit
einem brutalen Ruck, der mich beiseiteschleuderte, die
Stichflamme der Sprengung krachte betäubend hoch,
Eisen, Knall und Geheul und Platzen aller Adern, ein
Hammerschlag aus zerflatterndem Himmel, stinkender
Qualm, Stein, Stahl und Glut. Mein Kopf hieb in den
Boden, und alles war schwarz und rot.
Jemand rüttelte mich. Doch schienen alle meine
Knochen aus den Gelenken gesprungen. Ich hob den
dumpfen Kopf aus gepreßter Schulter und betastete
mich. Die Erde vor mir war überzogen mit einem son-
derbaren, grünlichen Schimmer, das Maschinenge-
wehr lag umgestürzt und mit Dreck beworfen, der
ganze Boden war zerwühlt. Da bewegte sich einer,
und einer lag auf dem Rücken. Ich kroch hin. Gohlke
fingerte an dem Liegenden herum, halb aufgerichtet.
Da lag Bestmann. Aus seiner Brust quoll es rot, er
hob schwach die Hand. Das beschmutzte Gesicht war
grünlich bleich, und über die blauen, schmalen Lippen
drängte sich blasiger, roter Schaum. Die Hand fiel
wieder zurück, und ich legte müde den Kopf auf die
Erde und schämte mich sogleich, aber Gohlke
versuchte schweigend das Gewehr wieder aufzu-
richten, und ich mußte ihm dabei wohl helfen.
Nun aber kam von hinten eine Kette dumpfer
Explosionen. Es fauchte und gurgelte über uns, ließ
die Luft wütend erdröhnen und hieb dann vorne an
der Waldecke ein. Sechs Tulpen stiegen mit dumpfem
Ballern hoch, vermischten ihren Qualm zu einer
riesigen dunklen Wolke, die langsam und schwer sich
am Boden rollend hinzog. Gohlke schrie nach dem
Sanitäter. Rechts und links begannen unsere
Maschinengewehre zu rattern, und unsere Artillerie
sandte nun Schuß auf Schuß in den gegenüber-
liegenden Wald.
Also Bestmann war tot? Ich sah scheu zu ihm hin.
Der Regen war allmählich bis auf die Haut gedrungen,
die Kleider hingen wie nasse Lappen um meinen
Körper. Doch auch meine Haut schien mir ekeler-
regend faltig und weich, und sicherlich war es nur die
Feuchtigkeit, die mir plötzlich die Zähne klappern
ließ. Gohlke deckte eine Zeltbahn über den Toten,
und ich legte mich hinter das Gewehr. Schnell duckte
ich den Kopf, als drüben wieder Abschüsse
erdröhnten, doch der Este tastete nun nach unserer
Batterie, und die Geschosse jaulten über uns hinweg.
Wir lagen den ganzen Tag so. Ab und zu bekamen
wir Artilleriefeuer, und zuweilen spritzte uns eine
widerliche MG-Garbe um die Ohren. Von den Esten
war kaum etwas zu sehen; nur einmal sah ich durchs
Zielfernrohr am jenseitigen Waldrand hinter schmalen
Erdstrichen tellerförmige Helme. Gegen Abend wurde
auf beiden Seiten das Feuer stärker. Die Zuckerfabrik
ging in Flammen auf und erleuchtete das Vorfeld. Wir
arbeiteten emsig am Ausbau unserer MG-Nester.
Die Essenholer kamen, schlichen von Nest zu Nest
und erzählten, die Esten hätten die Rigaer
Wasserwerke gestürmt und das Wasser für die Stadt
abgesperrt.
Es fing wieder an zu regnen. Unteroffizier Schmitz
kam zu mir herüber; er war Bergarbeiter aus dem
Ruhrgebiet, wir rauchten und unterhielten uns. Nach
einer Weile kam auch Leutnant Kay. Er sagte, daß die
Kompanie bis jetzt sieben Tote habe. In Riga
befürchte man Unruhen. Wir lägen jetzt an der
exponiertesten Stelle der Front, zwischen zwei Seen,
an der Brücke, die den Esten den direkten Zugang zur
Stadt am leichtesten ermögliche. Hinter uns sei nichts
an Reserven, nur Artillerie. Wir kauerten dreckbe-
spritzt und durchfeuchtet in unserem Loch und
stierten nach vorn.
Leutnant Kay sagte: «Da liegen wir nun, in einer
dünnen Linie, in dieser verfluchten Ecke der Welt
zusammengepfercht. Das ist nun das letzte Stückchen
der deutschen Front, die einmal so lang war, daß sie
ganz Mitteleuropa umzäunte und noch ein bißchen
mehr, die einmal am Kanal in Flandern begann und
sich bis zur Schweiz hinzog, und von der Schweiz
über die Alpen ging, nach Oberitalien, und von dort
über den Karst bis Griechenland und von da zum
Schwarzen Meer bis zur Krim, bis zum Kaukasus und
quer durch Rußland bis Reval hinauf. Nicht einge-
rechnet die versprengten Fronten in allen Erdteilen,
und wir hier sind der Rest.» Er schwieg, und wir
schwiegen. Leutnant Kay sagte: «Dahinten liegt nun
Riga. Eine deutsche Stadt immerhin, von Deutschen
gegründet und aufgebaut und bewohnt. Schade, daß
Sie nicht das Schwarzhäupterhaus gesehen haben und
die Peterskirche. Die Brücke über die Düna heißt
Lübeckbrücke und ist gebaut von Pionieren der 8.
Armee. Immerhin also eine deutsche Stadt, gehörte
aber nie zum Deutschen Reich. Jetzt gehört sie zum
Deutschen Reich? Nein, jetzt ist sie die Hauptstadt
von Lettland, und wir sind gefälligst lettische
Staatsbürger. Das heißt, eigentlich sind wir deutsche
Soldaten, Soldaten der Deutschen Republik. Das
heißt, eigentlich gibt es das noch gar nicht, Deutsche
Republik; die sind ja noch nicht fertig in Weimar, und
der Friedensvertrag ist auch noch nicht fertig. Das
heißt, eigentlich ist er wohl schon fertig. In den
Grundzügen war er wohl schon 1914 fertig. Bloß wir
haben nichts zu sagen dabei. Und die Deutsche
Republik wird also auch so aussehen, daß jedermann
merken wird, wie wenig wir zu sagen hatten dabei.
Jedenfalls, wir liegen hier, das letzte Stückchen
deutscher Front, das die Welt zu sehen das Vergnügen
hätte, wenn sie zu sehen ein Vergnügen wäre. Wir
sind deutsche Soldaten, die nominell keine deutschen
Soldaten sind, und schützen eine deutsche Stadt, die
nominell keine deutsche Stadt ist. Und drüben sind
also Letten und Esten und Engländer und
Bolschewiken — nebenbei gesagt, die Bolschewiken
sind mir noch die liebsten von der ganzen Bande —,
und weiter im Süden, da sind also die Polen und
Tschechen, und dann weiter — ach, ihr wißt ja wohl
Bescheid. In Weimar beraten sie grade über
Zündholzsteuer oder ob sie künftig schwarz-rot-gold
flaggen wollen oder die alten ruhmreichen Farben,
wie ich mir sagen ließ, genau weiß ich's nicht, ist ja
auch herzlich wurscht. Tja, und wir halten also die
Stellung. Lange werden wir sie wohl nicht halten
können. Haben Sie 'ne Zigarette für mich, Fähnrich?
Danke.» Leutnant Kay putzte sein Monokel, das vom
dünnen Regen dicht besprüht war. Schmitz rauchte
unerschütterlich seine Pfeife und sagte: «Hier
kommen sie nicht durch.»
Gohlke schoß plötzlich eine Leuchtkugel ab. Wir
lugten starr über den Grabenrand. Die Senke lag in
magischem, gespenstisch zuckendem Schein, in dem
sich jeder Schatten dauernd veränderte. Anscheinend
hatte die Batterie hinten die Leuchtkugel als Signal
aufgefaßt, denn nach wenigen Sekunden tönten sechs
Abschüsse; die Geschosse fauchten über unsere Köpfe
und schlugen in prompter Folge drüben im Walde ein.
Sofort knatterte MG-Feuer. Gewehr Hoffmann
antwortete. Darauf feuerten hinter den Ruinen der
Fabrik die Minenwerfer. Das Feuer von drüben wurde
lebhafter, wieder schoß unsere Batterie. Aber nun
antworteten auch die Ratscher. Der Lärm ihrer
Abschüsse kam jedoch von einer anderen Stelle als
vorher. Die ganze Front wurde lebhaft. Überall gingen
Leuchtkugeln hoch. Plötzlich zerriß ein ohrenbe-
täubender Krach das Gebelfer der kleinen Kaliber,
dann stieg es hinter uns orgelnd und heulend in die
Luft, wälzte sich mit infernalischem Gekreisch über
unsere Köpfe nach vorn, daß wir uns unwillkürlich
duckten unter der Wucht einer schrecklichen
teuflischen Macht, und dann hieb es drüben ein, daß
der Boden rollte und zuckte und wie gepeinigt
stöhnte. Beim Esten krachte, splitterte und hallte es;
der Wald schien sekundenlang zu wanken und trug
den mächtigen Schlag von Baum zu Baum in die
Weite. Dann war völlige Stille, als ob unser
Einundzwanziger, unwillig über die Störung seiner
Nachtruhe, einen dicken, kategorischen Punkt gesetzt
hätte hinter diese nächtliche Feuerwerkerei.
Schmitz sog an seiner Pfeile und sagte: «Hier
kommen sie nicht durch. Und ich will Ihnen mal was
sagen, Herr Leutnant, selbst wenn wir hier die Front
aufgeben müßten, was ich nicht glaube, oder wenn
wir die Stadt verlassen müßten, was ich auch nicht
glaube, dann sind wir ja immer noch da. Wir sind
immer noch da, Herr Leutnant, und wir werden auch
immer da sein. Das ist schließlich ganz piepe, wo wir
stehen. Es ist ja auch möglich, daß wir mal aus
Kurland rausgehen müssen, ich glaub's nicht, aber
möglich ist es, und es ist auch möglich, daß mal die
Kompanie Hamburg auseinandergeht. Deswegen sind
wir immer noch da. Da können sie in Paris so viel
beraten, wie sie wollen, und was sie in Weimar
betratschen, das soll uns noch weniger angehn.
Jedenfalls, wir sind noch da, wir alle, und solange wir
da sind, geben wir auch keine Ruh. Dann wird eben
anderswo weitergekämpft. Es sieht nicht so aus, als
ob wir nicht noch gebraucht würden in den nächsten
Jahren. Und das sage ich Ihnen, Herr Leutnant, wenn
wir hier nischt erreichen, oder wir kommen nach
Deutschland und erreichen auch da nischt, und es soll
immer so weitergehn und die Herrschaften, die vor
dem Krieg dicke Bäuche gehabt haben auf unsere
Kosten und im Krieg dicke Bäuche auf Kosten von
unserm Blut und nach dem Krieg dicke Bäuche so gut
wie vorher — erinnern Sie sich, Herr Leutnant, in
Weimar? — wenn also die Burschuasie und die großen
Herrn weiter glauben, gute Geschäfte machen zu
können mit unserer Haut — und die scheren sich
verdammt nich um Deutschland, nee, tun sie nich —,
denn weiß ich für mein Teil, was ich tue, und ich
glaube, Sie, Herr Leutnant, und der Fähnrich wissen
das auch.» — «Schmitz, Sie sind 'n Spartakist», sagte
Leutnant Kay. Und Schmitz sagte gleichmütig: «Auch
das, wenn's sein muß.»
Ich drehte mich ein bißchen erschreckt um, aber
die anderen lagen in ihren Löchern und pennten. Nur
Gohlke stand Wache, und richtig, er wandte sich um
und sagte zu Kay: «Jedenfalls, für Ruhe und Ordnung
nich in die Lamäng»; grinste und schaute wieder
nach vorn.
Kay sagte bedrückt: «Ich kann das ja verstehn.
Aber so herum ist uns auch nicht geholfen. Sie sind ja
Bergarbeiter, Schmitz, nun, ich war mal Student.
Warum bin ich denn hier? Ich könnte ja auch an
meine Karriere denken und an mein Weiterkommen
und an mein Wohlergehn. Warum zum Teufel sitze
ich denn hier? Weil mir das alles wurscht ist, weil es
mich geradeheraus ankotzt, weil ich fühle, in drei
Deibels Namen, daß das hier wichtiger ist als
Paragraphen rausknobeln und Ehescheidungen
einleiten und Leute mahnen, die ihre Zahnarzt-
rechnungen nicht blechen können. Weil ich weiß,
Himmel, Arsch und Wolkenbruch, daß die eigentliche
Entscheidung des Krieges noch nicht gefallen ist, noch
nicht gefallen sein kann, und weil ich weiß, daß ich nicht
schlechter sein darf als die viertausend Gefallenen
meines früheren Regiments, und weil ich weiß — ach,
Kinder, gar nischt weiß ich, bloß, daß wir eben mit
reingebuttert werden müssen, und daß das unser
Schicksal ist, und daß ich bereit bin, es zu erfüllen.» —
«Ja, hops gehn wir woll bei der Geschichte», sagte
Schmitz, und dann schwiegen wir. —
Wir lagen vier Tage in dieser Stellung am Jägelsee. In
diesen vier Tagen wurden wir heftig beschossen, von
Tag zu Tag mehr. Der Wald vor uns schien bis an den
Rand gefüllt mit Truppen; wir stellten nach und nach
zwölf Batterien fest, die zu uns herüberfunkten. Wir
hatten einen vortrefflichen MG-Stand für uns gebaut,
aber oft mußten wir wieder zum Spaten greifen und die
Schäden ausbessern, die das Feuer riß. Die Essenholer
kamen nur nachts nach vorn, und die Kompanie hatte in
diesen vier Tagen zwölf Tote. Der Abhang zum
Flüßchen herunter war gespickt mit Trichtern, und
morgens blühten da die seltsamen Stauden, die das
unablässige Feuer schuf. Doch auch der Wald jenseits der
Niederung wurde langsam zerfledert. Manchmal
mischten sich in die krachenden Einschläge sonderbar
hohle und blaffe Explosionen, dann schrie gewöhnlich
einer: «Gas —»; aber es war ganz unnötig, daß so
geschrien wurde, denn daß dies Gas sei, sahen wir, und
Gasmasken hatten wir nicht; wir tauchten die
Taschentücher in die Wasserkästen und banden sie vor
Mund und Nase.
Am Abend des vierten Tages wurden wir abgelöst
durch eine Kompanie, die aus den Resten der Abteilung
Michael zusammengestellt war. Doch kamen wir zur
Ruhe in einen Wald, der nur wenige hundert Meter hinter
unserer eben verlassenen Stellung lag. Wir hörten, genau
so wie ganz vorn, wie sich das Feuer immer mehr
steigerte, bis zu einer Wut, wie wir es bislang nicht
kannten. So lagen wir die ganze Nacht hindurch
einsatzbereit.
Leutnant Wuth erzählte uns unterdessen, was sich in
Riga ereignet hatte. Zwei Tage vorher hatten sich
plötzlich in den lettischen Vorstädten die Letten
bewaffnet. Patrouillen der regierungstreuen Ballod-
Letten, nach ihrem Führer, Oberst Ballod, genannt,
durchzogen eifrig die unruhig gewordene Stadt. Am
Nachmittage fiel in der Gertrudenstraße ein Schuß aus
der dortigen lettischen Wache und tötete einen deutschen
Soldaten der Polizeikompanie. Dieser Schuß war wie ein
Signal zum Aufstand. Sofort brodelte in der ganzen, von
deutschen Truppen fast entblößten Stadt der Aufstand
los. An jeder Straßenecke krachte es; die Ballod-Letten
machten mit dem Mob der Vorstädte gemeinsame Sache;
Läden wurden geplündert, Balten erschlagen, die
deutschen Patrouillen beschossen. Die alten Rufe
«Straße frei» und «Fenster zu» machten hier, wie
seinerzeit im Deutschland der Revolutionsunruhen,
die Sache wichtig, und die schnell zusammengetrom-
melten deutschen Trupps säuberten mit einiger
Übung die Quartiere der Aufständischen.
Als die Panzerautos durch die Straßen rasten und
Leuchtkugeln in den lettischen Wachlokalen Feuer
zündeten, erklärten die Ballod-Letten freundlich, das
Ganze sei nur ein Mißverständnis. Doch wurde der
Aufstand unter der entschlossenen Drohung der
deutschen Gewehre erstickt. Zwei Tage später aber
hieben schwere Geschosse in die geprüfte Stadt. Die
Esten warfen in gleichmäßigen Abständen die Lagen
ihrer Fernbatterien nach Riga hinein. Zwar konnten
unsere Einundzwanziger die feindlichen Geschütze
zeitweilig niederkämpfen, doch wurde die Stadt von
Unruhe gepackt, einer Unruhe, die sich zur Panik
steigerte, als plötzlich auch die Dünabrücke unter
schwerem Feuer lag. Da zeigte es sich, daß das Feuer
von See her kam. Es zeigte sich, daß englische
Kriegsschiffe Riga beschossen. Hatte die lettische
Regierung Needra England den Krieg erklärt? Hatte
die deutsche Regierung die Feindseligkeiten wieder
aufgenommen? Hatten deutsche oder lettische oder
baltische Fischerboote vielleicht versucht, die
englische Flotte zu kapern? Nichts von alledem.
England hatte nur Interessen und verstand es, sie zu
verfechten. An vielen Stellen der offenen Stadt
loderten Brände. Die Wasserwerke waren in
estnischem Besitz; es konnte nicht gelöscht werden.
Die Beschießung der Stadt währte die Nacht
hindurch. An der Front ebbte das Feuer nachts ab. Wir
konnten deutlich den Donner der Einschläge in Riga
hören und sahen den roten Feuerschein. Vor uns lag
der Este, in unserem Rücken eine beschossene,
aufrührerische Stadt; die Dünabrücke, unsere einzige
Rückzugsader, lag unter englischem Beschüß.
«Übrigens», sagte Leutnant Wuth, «daß ich's nicht
vergesse, die deutsche Regierung hat die Baltikum-
truppen aufgefordert, sofort nach Deutschland
zurückzukehren, widrigenfalls — ja, weiß der Teufel,
ich glaube Verlust der Staatsangehörigkeit, Sperren
der Löhnung und der Grenzen und Gefängnisstrafen
glaub' ich, wer für die Baltikumer in Wort oder
Schrift wirbt. Hat vielleicht einer Lust, nach
Deutschland zurückzugehen?» — «Muß es gleich
sein?» fragte eine Stimme aus der Dunkelheit.
Im Morgengrauen wurde es an der Front sehr
unruhig. Unablässig blubberte es; das Feuer schlug in
den Wald, bis zu uns. Wir lagen übernächtig und
fröstelnd unter den Bäumen und lauschten nach vorn.
Leutnant Wuth setzte sein Barett auf. Das Feuer
steigerte sich. Wir preßten uns an den Boden, wenn
die Lagen dicht vor uns in die Erde hieben, ganze
Bäume splitternd mit sich reißend. Ich lag mit
meinem Gewehr am rechten Flügel der Kompanie.
Leutnant Kay mit einer Gruppe Hamburger lag
neben mir.
Nach zweieinhalbstündigem Beschuß war plötzlich
Stille. Leutnant Kay sagte laut: «Das sind Anfänger.
Von Sperrfeuer, Feuerwalze und ähnlichen Scherzen
haben die noch nischt gehört.» Einige lachten. Wir
wußten, daß sie jetzt angriffen vorn. Auch unsere
Artillerie schwieg. Aber auf einmal peitschten
Schüsse durch den Wald. «Liegenbleiben!» schrie
Wuth.
An der Straße, halblinks vor uns, war wirrer Lärm.
«Sie kommen, sie kommen ...» — «Ruhe,
liegenbleiben!» Wuth stand plötzlich neben mir.
«Fähnrich, sobald wir vorgehen, sausen Sie mit Ihrer
Knarre halbrechts, bis zu der Waldnase am Fluß, und
richten das Gewehr auf die Brücke ein, verstanden!
Über die Brücke müssen die Burschen ja doch
zurück!»
Einzelne Versprengte eilten zurück. «Alles in
Bruch, alles in Bruch», schrie einer. Leutnant Wuth
hob den Karabiner und stakte mit langen Beinen auf
die Straße zu. Die Hamburger erhoben sich bedächtig,
murmelten «Hummel, Hummel» und verschwanden
in den Büschen. Ich riß die Knarre hoch, und wir
stolperten, vier Mann, quer durch den Wald, auf die
bezeichnete Stelle zu. Links war tolles Gebrüll und
Geknatter aus vielen Gewehren. Wir eilten keuchend
vor. Der Wald öffnete sich, da lag die Stellung. Wir
tigerten gebückt zur Waldnase, erreichten sie, ohne
gesehen zu werden, und vertarnten uns im Gebüsch.
Die Brücke lag nun scharf links von uns und konnte
in ihrer ganzen Länge bestrichen werden. Ich richtete
das Gewehr ein, zog alle Hebel fest, legte die ganze
Munition parat, und dann warteten wir.
Auf der Brücke und dem Stückchen Straße, das in
unserem Schußbereich lag, war nun kein Mensch zu
sehen.
Wir horchten auf den Gefechtslärm an der Straße,
im Wald. Ganz wohl war uns nicht. Wie, wenn es
den Hamburgern nicht gelang, die Esten zurück-
zudrängen? Gohlke schien dasselbe gedacht zu haben,
denn er sagte: «Helm ab zum Gebet.» — «Ist das
immer noch kein Krieg?» fragte ich ihn. — «Noch
nicht», meinte er, «aber es kann noch einer werden.»
— «Danke», sagte ein dritter, «so viel Zunder wie
heute haben wir in Rußland auch nur selten gehabt.»
Wir hörten «Hummel, Hummel» und «Slah doot.»
Gedämpft klang es herüber, vom Walde aufgefangen,
und schien voll einer dumpfen und gefährlichen Wut.
Kam es nicht näher? Gohlke, kommt es nicht näher?
Verdammt, es kommt näher! Da, da kamen sie! Erst
einzelne, dann immer mehr; der Waldrand bewegte
sich von den Zurückhastenden, an der Straße kamen
sie in dicken Klumpen. Nun ratterten die
Maschinengewehre im Walde, an der Straße war
Tumult, deutlich sahen wir Durcheinanderwuseln,
Sichhinschmeißen, Wiederaufspringen, Zurückrennen.
Nun kamen wirre Haufen. Ich hockte mich mit
klammen, flatternden Händen an mein Gewehr. In uns
raste die Spannung des Jägers; ha, da hatten wir sie
endlich vorm Gewehr, und wie hatten wir sie. Ruhe,
Ruhe, Warten, das sind noch nicht genug. Immer noch
nicht genug. Abwarten, abwarten, jetzt sind sie an der
Brücke. Teufel, die ganze Straße wimmelte. Jetzt sind
es genug! Ich drückte auf den Hebel.
Das Gewehr bebte zwischen meinen Knien wie ein
Tier. Auf der Brücke purzelten sie, fielen sie,
platschten ins Wasser. Dicke, geballte Haufen
spritzten auseinander, fielen zusammen, wurden von
hinten gedrängt. Ja, sie mußten durch, sie mußten alle
durch; da stand die Garbe mit Hebeln fest, und das
Wasser kochte im Lauf. War es nicht, als spürte ich an
den zuckenden Metallteilen des Gewehrs, wie das
Feuer in warme, lebendige Menschenleiber schlug?
Satanische Lust, wie, bin ich nicht eins mit dem
Gewehr? Bin ich nicht Maschine — kaltes Metall?
Hinein, hinein in die wirren Haufen; hier ist ein Tor
errichtet, wer das passiert, dem wurde Gnade.
Wann bot sich je einem Gewehre solch ein Ziel?
Und dann war der Gurt alle, und ein neuer flog in
den Zuführer, doch schoß Gohlke jetzt, und ich lag
erschöpft und fröstelnd am Boden und sah nicht
einmal mehr auf. —
Später lagen wir in der Stellung. Die Hamburger
kamen nicht gleich, sie hatten erst Beute gemacht im
Wald. Fünfzehn Gefangene wurden eingebracht; vier
davon waren Engländer und drei Letten. Zwei Tote
hatten die Hamburger, — wieviel die Esten hatten,
machte sich niemand die Mühe zu zählen. Allein an
der Brücke lagen so viel, daß man den weißen Staub
der Straße kaum sehen konnte. Und von der
estnischen Front kam den ganzen Tag nicht ein
Schuß. Ja, die ganze Front schien erstarrt, und wir
wunderten uns, daß niemand mehr schoß. Wir
wunderten uns nicht mehr, als Leutnant Kay kam und
sagte, es wäre Waffenstillstand. Die Kompanie war
die einzige, die noch vorne lag.
Der Waffenstillstand aber lautete so: Die Deutschen
mußten zurück bis zur Olaistellung. Die Esten
mußten zurück bis zur estnisch-lettischen Grenze.
Die Ulmanis-Letten besetzten Riga, die Stadt; Pastor
Needra wurde unter die Anklage des Hochverrats
gestellt, und England hatte alles erreicht, was es
wollte.
Und wir marschierten zurück. Wir marschierten
durch die Stadt, als letzte deutsche Kompanie, und
die Hamburger sangen das Seeräuberlied.

Meuterei

Wahrscheinlich war Olai vor dem Kriege ein Komplex


von nicht allzu weit verstreuten Gesinden gewesen,
vielleicht vor mehreren Jahrhunderten eine
Grenzstation. Denn der auf der Karte mit «Olai»
bezeichnete Punkt liegt an der Misse, einem kleinen,
im Sommer ausgetrockneten Flüßchen, das sich
zwischen dem Mitauer Kronforst und dem Tirulsumpf
dahinschlängelt, und auf der Brücke über der
schnurgeraden Straße zwischen Mitau und Riga steht
ein plumper Obelisk mit den Wappen der
Herzogtümer Kurland und Livland. Aber sicherlich
hatte dieser Punkt Olai keine Bedeutung bis zu jenem
Tage, da er auf mancher deutschen und russischen
Generalstabskarte ein Fähnchen zum Schmuck
erhielt. Denn hier schnitt die deutsche Stellung die
Straße, genau die Entfernung zwischen den
Hauptstädten beider Ostseeprovinzen halbierend, und
so war Olai bis zum Jahre 1917, bis der deutsche
Vormarsch begann, wieder ein Grenzort geworden,
ohne daß freilich von dem Orte selber viel übrigblieb.
Und nun, zwei Jahre später, nisteten sich in die
verlassene Stellung wieder deutsche Soldaten ein und
starrten über das Vorfeld nach Riga hin, nach der
Stadt, die 22 Kilometer weit hinter dem ewigen
Dunst des Tirulsumpfes lag. Wieder zog sich hier
eine Grenze, an der Brücke standen Posten und
fragten nach dem Paß jedes Vorüberwandernden, und
6 Kilometer weiter nach Riga zu, dicht vor der
Ortschaft Katherinenhof, war die lettische Stellung,
und dies war früher, bis zum Jahre 1917, eben die
russische Linie gewesen. Dazwischen breitete sich der
Sumpf, eine weite, herbe Fläche mit wenigen
zerzausten Kusseln und vielen Gräben und Schwärmen
von Moskitos der unangenehmsten Art. Parallel der
Straße, sie bei ungünstigen Bodenverhältnissen
manchmal schneidend und auf die andere Seite
wechselnd, lief der Bahndamm.
Die Unterstände waren noch gut erhalten, stabil
gebaut, mit gehörigen Stämmen, und großen, nicht
einmal niedrigen Räumen. Aber sonderlich
bombensicher waren die Unterstände nicht angelegt,
auch die Gräben schienen vielmehr mit der Liebe und
Bedachtsamkeit gebaut zu sein, mit der gute Bürger
unter primitiven Verhältnissen etwa an die Schaffung
eines gemütlichen Heimes zu gehen pflegen. Diese
Stelle der Front bis zum Jahre 17 kann nicht
atemraubend aufregend gewesen sein. Nur spärlich
lagen Gräber am Waldrand, hübsch geschmückt mit
nun verwittertem Birkenholz. In den Unterständen
waren noch zwischen wucherndem Gras die
Bettgestelle aus Drahtgeflecht sichtbar und gut zu
benutzen. Durch den unheimlich dichten und wirren
Wald mit sumpfigem Boden gingen Knüppeldämme;
unversehens trat der Fuß auf verrostete Konserven-
dosen, auf vergessene Ausrüstungsgegenstände;
manchmal aber fanden wir auch noch die Reste von
den Leichen der im Mai gefallenen Bolschewiken.
Hier hausten die Hamburger drei Monate lang, die
Monate Juli, August und September des Jahres 1919.
Sie schoben Wache, sie lagen in den stabilen
Unterständen, sie jagten Flöhe und zündeten Abend
für Abend riesige Holzstöße an, um die Mücken zu
verjagen und um am Feuer zu zechen, zu singen und
zu spielen. Sie bekamen nur selten Urlaub nach
Mitau, weil sie den Urlaub nur selten einreichten. Sie
strichen durch den Wald, besuchten die Nachbar-
kompanien und machten ab und an eine streng
verbotene Patrouille ins Vorgelände, um die lettischen
Posten mit mannigfachen und seltsamen Geräuschen
um ihren Schlaf zu bringen. Wenn die lettischen
Posten schossen, dann war dies ein schleunigst nach
Mitau gemeldeter flagranter Bruch des Waffenstill-
standes und konnte natürlich nichts anderes bedeuten
als die Vorbereitung auf einen verbrecherischen,
heimtückischen und meuchlerischen Überfall.
Leutnant Wuth hatte sich in einem winzigen
Blockhäuschen einquartiert, in dem früher ein Herr
vom Stabe des rheinischen Jägerbataillons gehaust
haben mochte. Es mußte dies ein sehr patriotischer
Herr gewesen sein. Denn über dem Eingang der Hütte
hing ein hölzernes, nun etwas verwittertes Schild mit
der eindringlichen Aufforderung: «Zeichnet Kriegs-
anleihe!»
Die drängende Gewalt, die uns in dies Land getrieben,
in diesen Krieg, in diese fernen Striche, über deren
nun erstarrten Schlachtfeldern nur noch verlorene
Schüsse hallten, glühte von Anbeginn in uns, da wir
noch unter strahlenden Gesetzen standen, da wir noch
gebunden waren an die Werte, die uns heilig dünkten,
die in gehegter Tradition den Weg bestimmten, da wir
noch glaubten und im Bewußtsein dieses Glaubens
eines strengen Glückes sicher waren. Wir kannten
keine Probleme. Die Welt schien einfach und lag offen
vor uns hingebreitet, unsere Väter hatten an ihr
gearbeitet und geformt und ihr stolzes Genüge in ihr
gefunden. Ein reiches Erbe sollten wir antreten,
hineinwachsen in diese festgefügte Form und
weiterführen, was uns zu treuen Händen übergeben
war. Wir hatten gelernt, unsere Pflicht zu tun. Wir
hatten gelernt, unser Recht zu achten. Wir scheuten
keine Probe, und das Geschlecht, das in den
rauschenden Tagen des Jahres 1914 in den Krieg zog,
glaubte in den kommenden Gewittern die reinigende
Kraft herandämmern zu sehen, ein geheiligtes
Schicksal aus grauen Wolken, die sorgende Weisheit
geschichtlicher Bestimmung, gesandt, uns unseres
inneren Wertes, der unwandelbaren Substanz des
Deutschen ganz bewußt zu werden. Da war kaum ein
Geheimnis in unseren Siegen, da war alles Rausch,
Glanz und Heldenmut, und unseren Fahnenwogen
folgte in breiten, unbezwinglichen Wellen das ganze
Volk.
Und auf einmal war dies alles nicht mehr wahr. Auf
einmal pochten dunkle, geheime Geister an die
Mauern des glänzenden Reiches, und da klang es an
manchen Stellen hohl, und da waren manche Stellen,
da fiel die täuschende Tünche ab, und an manchen
Stellen brach der mürbe Stein. Die Fronten
erstarrten, sie versanken in Dreck, Schlamm und
Feuer, ein gespenstischer Finger zog blutige Linien
rund um das Reich. Der Krieg, den wir zu führen
gedachten, führte uns.
Er wuchs vor uns auf, aus den tiefsten Spalten der
Erde kommend, wie ein Nebel, wie ein graues
Gespenst, und rüttelte an den waffenstarrenden
Bastionen, er packte uns plötzlich mit glühender Faust
und würfelte die Regimenter zusammen und schmiß sie
wieder auseinander und hetzte sie durch die
donnernden Felder. Er kam durch die klirrenden Drähte
und nahm über Nacht den Feldherrn die Zügel aus den
erschrockenen Händen und wirrte sie durcheinander
und zerrte hier und dort, bis die Front brüchig wurde,
und zog dann weiter und strich in das Land und riß die
Fahnen von den Fenstern und spie dreimal aus. Und der
Speichel war Gift, und wo er fiel, da wuchs Hunger und
Not und Verzicht. Und der Krieg zog weiter, er war
überall, er warf seine Fackel in alle Teile der Welt, er
stöberte die geheimsten Wünsche auf und warf ihnen
prangende Mäntel um und färbte die Mäntel rot. Er
grub das Eisen aus zerschluchteter Erde und
schleuderte es in den Raum und ließ es zerspellend zu
Boden fallen. Der Krieg kam wie ein Riese über das
Land, und da war nichts, was ihm sich verbergen
konnte. Er kam wie ein Wolf und hetzte uns mit
reißenden Zähnen bis zu den höchsten Hängen und
durch die tiefsten Schluchten, er rammte mit einem
wahnwitzigen Schlage die Jugend in den Schlamm und
schleuderte das Leben in das Feuer und setzte den Stoff
gegen den Geist. Da krochen die Kämpfer vor ihm in
die dunkle Erde. Er aber zerstampfte die Landschaft mit
höhnischem Schrei und schuf eine Brache, schuf eine
einmalige Welt mit einmaligen Gesetzen, ein Reich, in
dem alle Leidenschaften der Steinzeitmenschen von
brüllenden Ängsten bis zu gellenden Triumphen ihren
Rang erfuhren, ein Reich, in dem das brausende Hurra
zum roten Urschrei wurde, geröchelt aus zerlaugten
und besessenen Leibern, ein schreckliches Geheul
beseelter Elemente. Und wie der Krieg sich seine
Landschaft schuf, so schuf er sich sein Heer. Da warf er
hin, was nicht bestand, er sonderte mit hartem Schlag
und zog die Lieblinge sich an die Brust, die Ekstatiker
des Krieges, die Einzelnen, die aus den Gräben
sprangen und ihr «Ja» jauchzten zur Umkrempelung
der Welt. Und er drängte die Pflichtgetreuen zu dichten
Haufen, in die er immer wieder zerschmetternd fuhr,
und malte ihnen das große Warum an den
glutbehauchten Himmel, dörrte ihnen die Adern und
brannte ihnen sein Mal in das entsetzte Hirn, wissend,
sie werden ihm nie entrinnen. Mit roten Narben
schmückte er die mageren Verwegnen seines Reiches,
er meißelte die kantigen Gesichter unter düsterem
Helm, die scharfen, schmalen Linien um den Mund, um
schroffes Kinn und starres, spähend zupackendes Auge.
Er schied die Heimat von der Front und die Nation vom
Vaterland. Sein heißer Atem aber fuhr in alle Winkel.
Da blätterte der angeklatschte Schmuck, es schmolz das
unechte Metall, die Kruste wurde mürbe, der Gasdunst
der Verwesung strich durch das Reich, und alle stolze
Bindung faserte und brach. Er riß die Masken vom
Gesicht, und wessen die Lüge war, der stand in Lüge
nackt und bloß, und wessen das Suchen war, der tastete
in leerem Raum. So wütete der Krieg, und die Stunden
klatschten sengend in die Herzen, und die Tage wurden
rauchend rot von Blut, die Jahre rannen unerbittlich
saugend, letztes Mark aus morschen Knochen ziehend,
Opfer heischend völliger Erschöpfung zu. Da schwelte
es im Haus, da wurden alle Pfeiler brüchig, es knackte
das Gebälk. Die Waffen sprangen aus gekrampften
Händen, was noch der Krieg in wachem Bann gehalten,
sank, das Reich fiel auseinander. Den Letzten war's, als
riefe eine Stimme ihnen zu: «Ihr scheutet keine Probe?
— Hier! — Besteht sie!»

Die Männer, die 1918 aus den Gräben stiegen, ahnten,


daß wir den Krieg verlieren mußten, um die Nation zu
gewinnen. Sie hatten die große Verwandlung an sich
erfahren, sie sahen, daß keinerlei Gestaltung da und
jede möglich war. Sie kamen — noch im Banne ihrer
Landschaft — und fanden das Reich wie eine offne
Wunde vor, an deren Ränder brutale Fäuste drückten,
daß Blut und Liter quoll. Sie standen vor dem
Trümmerhaufen und horchten mit ungläubigem
Staunen den Parolen und Programmen, die ihnen
marktschreierisch angeboten wurden als die Werte der
Zukunft und als die Weisheit und Wahrheit der Stunde.
Und da sie unter der steten Androhung des Todes
gelernt hatten, den echten Ton zu unterscheiden vom
falschen, so wurde es ihnen leicht, unbestechlich zu
sein. Sie machten sich schweigend an das, was zu tun
war. Da waren viele unter ihnen, die gingen mit
skeptisch verzogenen Mundwinkeln von dannen, an
nichts verzweifelnd und doch an nichts auch ihren
Glauben setzend als an sich selbst. Sie gingen einen
seltsamen Weg, diese Entlassenen der Front, die Heim-
kehrer des großen Krieges, sie gingen in Beruf, Amt
und Sorge, sehr einsam, außerordentlich ernüchtert, sie
kamen zu gegebener Stunde wieder und pochten mit
sonderbarem Anspruch an die Tore der bereits
vergebenen Welt.
Da waren andere, die der Krieg noch nicht aus seinen
Fängen ließ. Die sahen überall Verzicht und glaubten,
daß sie retten müßten, marschieren müßten in
unbedingter Pflichterfüllung, die ihnen ihren Halt
verlieh. Und unter diesen waren wieder welche, die
spürten, daß es eine Sendung geben müsse und daß
diese Sendung ihnen in die Hand gegeben sei. Wie
diese Sendung lautete, das wußte keiner, und alle
horchten auf die Forderung des Tages. Der
Forderungen aber waren viel. Es begann das Ringen um
das Reich.
Noch hatte sich das Blut mit der Erkenntnis nicht
vermählt. So waren wir bereit, zu handeln auf den
Anruf unseres Blutes hin. Und nicht das war wichtig,
daß, was wir taten, sich als recht erwies, sondern daß in
diesen aufgeschlossenen Tagen überhaupt gehandelt
wurde. Denn die Entscheidung über Deutschland war
jetzt in jedes einzelnen Hand gelegt, und jeder einzelne
war so auf unersetzlich gnadenreiche Augenblicke mit
dem deutschen Schicksal in Verhaft gesetzt.
Und wir marschierten. Da ging es lustig zu, immer
frei weg mit «Fenster zu» und «Straße frei» —. Der
aktivste Teil der deutschen Front marschierte, weil er
gelernt hatte, zu marschieren, schritt unter Gewehr
durch die Städte, mit dumpfem Ingrimm, geladen mit
einer springenden, ziellosen Wut, wissend, daß jetzt
gekämpft werden mußte, gekämpft um jeden Preis. Der
aktivste Teil der Front marschierte, rechts wie links.
Wir aber, die wir unter alten Fahnen fochten, wir
haben das Vaterland vor dem Chaos gerettet — Gott
verzeihe uns, das war unsere Sünde wider den Geist.
Wir glaubten den Bürger zu retten, und wir retteten den
Bourgeois.
Das Chaos ist dem Werdenden günstiger als die
Ordnung. Der Verzicht ist jeglicher Bewegung Feind.
Da wir das Vaterland vor dem Chaos retteten, machten
wir dem Werdenden die Fenster zu und gaben dem
Verzicht die Straße frei.

Wer dies erkannte, suchte einen höheren Sinn des


Kampfs. Wo immer nach dem Niederbruch sich
Männer fanden, die nicht verzichten wollten, erwachte
eine unbestimmte Hoffnung auf den Osten.
Die ersten, die das kommende Reich zu denken
wagten, ahnten mit lebendigem Instinkt, daß der
Ausgang des Krieges jede Bindung nach dem Westen
hart zerstören mußte. Sie wieder anzuknüpfen, das hieß
Unterwerfung, das hieß Sichfügen in den kalten
Rhythmus, der dem Westen seine ungeheuerliche
Macht über diesen Erdball gab. Das hieß, den in der
Unerbittlichkeit der Trichterfelder jäh erkannten Sinn
des deutschen Krieges fälschen.
Der Krieg ließ unsre Grenzen nach dem Osten offen.
Unter der Masse der Kämpfer des deutschen Nach-
krieges war nur ein kleiner Teil, der an die Grenzen
ging, und wiederum von diesem Teile zog eine
schwache Schar nur in das Baltikum. Was unseren
Kampf in Kurland möglich machte, das war die Furcht
des Westens vor dem Bolschewismus. Nicht einen
Vorstoß machten wir, der nicht genehmigt war vom
Gremium jener Männer, das Deutschland als Regierung
anerkannte. Nicht einen gültigen Befehl gab die
Regierung her, der nicht von alliierten Kabinetten
gesehen und gebilligt war. Bis unter unseren harten
Stößen das Rote Heer zerplatzte, waren wir Söldner
Englands, des Westens Schutzwall gegen den
geheimnisvollen Aufbruch eines Volkes, das, wie wir,
um seine Freiheit rang. Dies war unsere zweite Sünde
wider den Geist.
Wir zogen aus, die Grenze zu schützen, und
eroberten eine Provinz. Wir dachten, Deutschland
müsse so weit reichen wie seine Kraft. Wir waren
entschlossen, die Provinz zu halten, die Verpflichtung,
die das Blut unserer Gefallenen mit dunklem Anspruch
von uns heischte, zu erfüllen. Das Baltikum war nun,
da es gefährlich für die Sieger wurde, eine deutsche
Möglichkeit. Wir wollten sie nutzen.

Die Entente befahl die Räumung des Baltikums. Wir


hörten davon und wir lachten. Dann befahl die
Reichsregierung den Abtransport einiger Truppenteile.
Wir hielten das für einen Trick Noskes, der die
Alliierten hintergehen wolle, oder der mit einem
geschickten Manöver die Forderung der belfernden
Unabhängigen in der Nationalversammlung un-
schädlich zu machen versuche. Dann erfuhren wir, daß
aus der Estenfront Teile der Garde-Reserve-Division
und das Freikorps Pfeffer herausgezogen und
abtransportiert wurden, auf Befehl der Regierung,
angeblich, weil diese Truppen zum Grenzschutz
gebraucht wurden und dort nötiger waren als vor Riga.
Wir zweifelten nicht, daß diese Maßnahme nur
vorläufig sei und die Truppen bald wieder ins Baltikum
zurückkehren würden. Dann wurde erzählt, diese
Formationen wären gar nicht beim Grenzschutz
eingesetzt, die Garde-Reserve-Division zum Beispiel
sei kurzerhand aufgelöst worden, denn die Entente
verlange die Reduzierung der gesamten deutschen
Heeresmacht erst auf 150 000, dann auf 100 000 Mann.
Wir waren überzeugt, daß das nicht stimme; denn,
wenn schon aufgelöst werden müsse, dann waren die
untauglichen Garnisonen dran. Dann hieß es, die
Regierung verlange kategorisch unsere Rückkehr nach
Deutschland und drohe mit Entzug des Soldes. Wir
dachten, das könne nicht sein, denn die Regierung hatte
ja unsere Forderungen an Lettland und auf Siedlung
anerkannt und begünstigt. Schließlich verlautete,
Deutschland müsse dem Wunsche der Entente um
jeden Preis nachgeben. Doch alle Gerüchte, die aus
dem Reiche zu uns drangen, bestätigten, daß
Deutschland nie und nimmer den Friedensvertrag
unterzeichnen werde.

In jenen dumpfen Tagen des Sommers in Olai — Tage,


die zwischen zwei Zeiten stehen und zwischen zwei
Ordnungen — fühlten wir uns plötzlich nicht mehr am
Rande des deutschen Schicksals, waren wir eingewirrt
in einen Knäuel unentrinnbarer Fragen.
Wir saßen eines Tages, zu Beginn des Waffen-
stillstandes, in der Blockhütte des Leutnants Wuth.
Schlageter war zu Besuch gekommen, wir besprachen
die Möglichkeiten einer Siedlung in diesem Land.
Wuth wollte einen Hof kaufen und eine Sägemühle bei
Bad Baidon — noch waren die Letten dort. Da kam
Leutnant Kay ins Zimmer und sagte hastig in den
Tabakrauch hinein: «Deutschland hat den Friedensver-
trag unterzeichnet!»
Einen Augenblick war alles still, so still, daß der
Raum fast dröhnte, als Schlageter aufstand. Er hielt die
Klinke in der Hand und murmelte: «Soso, Deutschland
hat also unterzeichnet...», er hielt inne, blickte starr
geradeaus und sagte dann, und hatte auf einmal ein
bösen Ton in der Stimme: «Ich meine, was geht denn
das schließlich — uns an?» Und hieb die Tür ins
Schloß, daß der ganze Raum bebte, und war draußen.
Wir erschraken. Wir hörten dies an und erschraken
darüber, wie wenig in der Tat uns dies alles im Grunde
berührte. Wir erschraken mit jenem eiskalten,
ernüchternden Prickeln im Hirn, das immer ein setzt,
wenn der Schreck des Herzens ausbleibt. Klang nicht
die Botschaft wie von einem fernen, fremden Land, das
da hinten in einem Dunst von Hunger, Lüge und
Gewalt dem Unerbittlichen entgegen schmort? Das
Land da hinten, grau und müde und verdammt, ewig
unter dem naßkalten, trüben Schleier der Novembertage
fortzudämmern, ein Land, wie ein leerer Fleck auf der
Landkarte, in den die Hand des Topographen zögern
mußte Städte einzuzeichnen und Dörfer und Flüsse und
Grenzen, ein plumpes, passives Land, ein Land ohne
Wirklichkeit — wie? Was haben wir mit diesem Land
zu schaffen?
Wir sahen uns fröstelnd an. Wir spürten auf einmal
die Kälte einer unsagbaren Verlassenheit. Wir hatten
geglaubt, daß uns das Land niemals entließ, daß es uns
band mit einem unzerstörbaren Strom daß es unsere
geheimen Wünsche speiste und unserem Tun die
Rechtfertigung gab. Nun war alles zu Ende. Die
Unterschrift gab uns frei.

Am Bahnhof in Mitau standen Soldaten des 1.


Kurländischen Infanterie-Regiments mürrisch herum.
Es war der 24. August 1919. Der erste Transport sollte
nach widerwillig aufgenommenem Befehl ins Reich
abgehen. Die Offiziere gingen bleich hin und her und
antworteten mit verbissenen Mienen auf die
drängenden Fragen der Leute. Langsam füllte sich der
Zug. Noch war es Zeit. Alles wartete wie auf ein
Wunder auf das erlösende Wort.
Plötzlich entstand Bewegung an der Sperre. Ein
großer, braungebrannter Offizier trat auf den Bahnsteig.
An seinem Halse blinkte der Pour le mérite. Es war der
Führer der Eisernen Division, Major Bischoff. Er sah
zum Zuge, die Soldaten drängten sich, getrieben von
dumpfer Hoffnung, um ihn herum. Offiziere kamen
hinzu. Der Major hob die Hand.
«Ich verbiete hiermit den Abtransport der Eisernen
Division!»

Das war Meuterei. Vielleicht blitzte in diesem


Augenblick im Hin dieses Mannes der Name Yorck.
Wir brachten ihm am Abend eine Fackelzug.
Damals sangen die Soldaten im Baltikum ein
Marschlied, dessen erster Vers begann: «Wir sind die
letzten Deutschen, die am Feind geblieben.» Nun
fühlten wir uns als die letzten Deutschen überhaupt.
Fast waren wir der Regierung dankbar, daß sie vom
Reich uns ausschloß. Denn war die Bindung offiziell
zerrissen, dann konnte unser Tun uns mit des Reiches
Sorge nicht belasten. So wie wir handelten, so hätten
wir auf jeden Fall gehandelt. Wir konnten uns dem
Vaterlande nicht verpflichtet fühlen, weil wir es nicht
mehr achten zu können glaubten. Wir konnten das
Vaterland nicht achten, weil wir die Nation liebten. Uns
hielt nicht mehr ein Befehl zusammen, uns band nicht
mehr Sold und Brot und warmer Duft der Heimat. Uns
trieb ein dunkel nur erahnter Zwang, uns peitschte ein
Gesetz, von dem wir nur den Schatten sahen. Nun
standen wir im tollen Wirbel der Gefahr. Nun hielten
wir ein neues Kraftfeld, eine Ebene der Hoffnung, frei
vom Ballaste kläglicher Erfordernisse, die ein Volk von
hungernden Millionen Tag um Tag und Schritt für
Schritt in ausgeklügelt raffinierte Netze schnüren
mußten. Die Versprengten, Ausgestoßnen, die heimat-
losen Geusen hielten ihre Fackeln hoch.
Wir waren wahnsinnig. Und wir wußten, daß wir es
waren. Wir wußten, daß wir zusammengehauen wurden
von dem vereinten Ingrimm aller Völker, die um unsere
verwegene Heerschar brandeten. Doch wenn ein
Wahnsinn je Methode hatte, dann war es dieser. Wir,
Statthalter dieser Provinz für die noch ungeborene
Nation, wir wollten nicht verzichten — zu einer Zeit,
da der Verzicht die Forderung des Tages war. Wir
sagten «Nein» zum Reiche jener Tage, weil wir ein
«Ja» zum kommenden schon auf der Zunge hatten. So
war unser Wahnsinn Trotz. Wir wollten dieses Trotzes
Konsequenzen tragen. Mehr kann ein Mann nicht tun.

Jedem einzelnen von uns wurde die Frage vorgelegt, ob


er bleiben oder dem Befehle der Regierung folgen
wolle. Die ersten, die sich von uns sonderten, waren die
patriotischen Korps. Für deren altpreußisch gesinnte
Offiziere war Meuterei Meuterei. Dann folgten die
Marodeure, allerhand zusammengelaufenes, bewaff-
netes Gesindel zweifelhafter Herkunft, noch bis zum
letzten Augenblick nach Rubeln spähend, doch
fürchtend, in den harten Endkampf mitgezerrt zu
werden. Es verschwanden die Etappenformationen, die
Polizeikompanien, die Feldgendarmen. Nur wenige
Zahlmeister gingen nicht mit der Kasse durch.
Dann verabschiedete sich die Baltische Landeswehr
von uns. Sie kam unter den Befehl eines englischen
Offiziers und wurde an der neugebildeten lettischen
Bolschewikenfront eingesetzt
Den Balten ging es um das Letzte. Sie hatten nur den
einen Willen, ihren Bestand zu wahren, nicht das
Schicksal der russischen Emigranten teilen zu müssen.
Viele von uns gingen hin, die Balten noch einmal zu
begrüßen. Da stand in Reih und Glied, was immer von
den Männern dieses deutschen Stammes übriggeblieben
war und Waffen tragen konnte. Da standen Knaben,
den Lyceumsgürtel noch um die schmalen Hüften und
erliegend fast unter der Last des Gepäcks, und neben
ihnen standen Greise, Landmarschälle, Edelleute —
Kinderaugen unterm deutschen Stahlhelm und
zerfurchte, hagere Gesichter. Sie standen schweigend
und mit unzerbrochenem Hochmut und retteten durch
ihren bitteren Entschluß die karge Aussicht auf ein
Leben unter dem Banner ihrer ehemaligen Knechte.

Ein russischer Oberst, der Fürst Awaloff-Bermondt,


sammelte um diese Zeit russische Soldaten, meist
entlassene Kriegsgefangene, um eine weißgardistische
Armee aufzustellen und gegen die Bolschewiken zu
führen. Er kam ins Baltikum, nicht sonderlich gern
gesehen von den Engländern und eben darum von uns
geachtet. Er hatte phantastische Pläne unter seiner
tscherkessischen Pelzmütze und war geneigt, bei den
Baltikumern Unterstützung zu suchen. Denn England
wünschte den unruhigen Mann unter die Aufsicht des
englandergebenen General Judenitsch, und Bermondt,
dessen Befehlsgewalt bestreitend, fühlte sich nur sicher
unter dem Schutze der Gewehre der Baltikumer. Wir
aber waren bereit, uns mit dem Teufel selber zu
verbünden, wenn wir die Engländer ärgern und in
Kurland bleiben konnten. Verhandlungen gingen hin
und her, und schließlich wurde eine westrussische Re-
gierung gegründet mit der Basis Kurland und mit einer
westrussischen Armee, deren Stamm die Baltikumer
bilden sollten. Der deutsche Oberbefehlshaber, der
General Graf von der Goltz, folgte dem Ruf der
Reichsregierung, nahm aber seinen Abschied und ging
als Privatmann wieder zu seiner Truppe. Doch war nun
Bermondt nominell der Führer. An Lettland ging die
Aufforderung, im Falle eines westrussischen Angriffs
gegen den gemeinsamen Feind, den Bolschewismus,
zumindest neutral zu bleiben. Bermondt wollte über
Dünaburg vorstoßen, nach Rußland hinein, bis Moskau,
bitte! Nicht mehr und nicht weniger als das. Aber
Lettland forderte den Abmarsch der Deutschen. Und so
beschloß Bermondt, seinen Kreuzzug mit der
Eroberung Rigas zu beginnen. Und damit waren wir
einverstanden.
Wir hefteten die russische Kokarde an unsere
Mützen, nicht ohne verschmitzt die deutsche darüber
anzubringen. Wir nahmen erheitert das Papiergeld, das
Bermondt kurzerhand drucken ließ — Deckung: das
Heeresmaterial, das wir erbeuten würden —; wir
tranken mit Ingrimm den russischen Schnaps und
lernten, russisch zu fluchen. Also waren wir, da wir
nicht mehr Deutsche sein sollten, Russen geworden.
Die Parole «Kampf dem Bolschewismus» nahmen
wir nicht ernst. Wir hatten Gelegenheit genug gehabt,
zu erfahren, wem dieser Kampf denn nütze. Den ersten
Kampf gewannen wir für England. Im zweiten wollten
wir den Briten um den Preis des ersten prellen.
Wir disputierten über unsere Möglichkeiten. Wir
hockten rund um das Feuer, das die Hamburger am
Waldrand lodern ließen, und viele Stimmen schwirrten
durcheinander. Und lustiger noch als die Flammen
sprühten die tollen Spiele unserer Phantasie, nun, da
wir Gefechte witterten. Leutnant Kay hatte schon ein
russisches Lied gelernt und sang: «Wohin rollst du,
Äpfelchen?»
Ja, wohin rollst du, Äpfelchen?
«Nach Riga!» schrie ein Hamburger.
«Nach Moskau!» grölte Leutnant Wuth und lachte.
«Nach Berlin!» versank die gelle Stimme Kays im
jauchzenden Gebrüll der Hamburger.
«Nach Warschau?» fragte Schlageter, und trotzdem
er leise sprach, verstand ihn jeder, und es war plötzlich
still.
Da warf der Leutnant Wuth eine Münze hoch und
rief: «Kopf oder Adler — Mission oder Abenteuer?» —
Der Adler fiel nach oben.
In den ersten Tagen des Oktober kam die Nachricht,
der Lette rüste zu einer Offensive. Das konnte uns nicht
überraschen, denn wir rüsteten auch. Um dem Feind
zuvorzukommen, wurde der Angriff auf den 8. Oktober
festgesetzt.
Sturm

Wieder stieg aus der Erde jener sonderbar herbe


Geruch, der mir seit dem Mai, als ich das erstemal
diesen Weg schritt, stets in Erinnerung geblieben war.
Freilich mischte sich damals der beizende Qualm
brennenden Gebälks in den Dunst, und der widerliche
Gestank der in der glühenden Maisonne verwesenden
Bolschewistenleichen, die überall herumlagen, nahm
dem Duft der aufbrechenden Erde beträchtlich von
seiner Frische. Aber diesmal lagerten Nebel über dem
taunassen Boden, und die Sonne, die rot und trüb den
Waldrand bestrahlte, konnte es nicht sein, die das Feld
zum Schwitzen brachte. Ich wußte noch ganz genau,
wie mir damals dieser Geruch alles in sich zu
vereinigen schien, was mich in Kurland an Hoffnung
und Gefahr bewegte. Mich reizte die gefährliche
Fremdheit dieses Landes, zu dem ich in einem
eigentümlichen Verhältnis stand. Gerade das Gefühl,
inmitten dieser lieblichen Landschaft eigentlich immer
auf schwankendem Sumpfboden zu stehen, der
unablässig seine Blasen warf, hatte doch dem Kriege
hier oben den bewegten, ständig wechselnden
Charakter gegeben, der vielleicht schon den deutschen
Ordensrittern jene schweifende Unruhe vermittelte, die
sie stets von neuem aus ihren festen Burgen zu kühnen
Fahrten trieb. Ich war um des Krieges willen
hergekommen, und dieser Krieg bedeutet mir ein
stärkeres Moment der Verwurzelung, als es den
Siedlern vielleicht der mühsam zu erwerbende
Bauernbesitz sein konnte. Die weite Ebene, in die wir
nun, uns vom Waldrande lösend, auf der schmalen,
erdigen Straße hineinmarschierten, atmete einen
anderen Dunst aus, als wir ihn von den Schlachtfeldern
des großen Krieges her kannten. Die Landschaft von
sanfter und heimtückischer Lieblichkeit breitete sich
vorsichtig hin und ließ doch ahnen, daß hinter
manchem Busch sich lauernd züngelnde Feindseligkeit
verbarg. Weit hinten am Horizont aber lag abgrenzend
die dunkle Linie der feindlichen Stellung, die es heute
zu erobern galt. Und von dort her grollte es in einzelnen
dumpfen Absätzen, so daß der Blick unwillkürlich den
Himmel abtastete, von woher denn ein Gewitter käme.
Leutnant Kay, neben dessen Pferd ich marschierte,
suchte mit dem Feldstecher den Horizont ab, dann
deutete er auf das grauweiße Band, das sich, aus dem
Walde heraustretend, auf die feindliche Stellung
hinzog. Dort waren einige dunkle Flecke zu sehen und
einzelne, sich schwach bewegende Punkte. Kay meinte,
das müsse wohl das erste Bataillon sein, welches auf
der Straße angreifen solle. Aber ich sah über dem
Haufen eine riesige Fahne, und da ich wußte, daß die
Russen, stolz auf ihr zaristisches Feldzeichen und
gleich wie, um am knatternden Tuch und an den
leuchtenden Farben ihre zwittrige Unsicherheit zu
ersticken, stets die Fahne mit sich führten und bei
Gelegenheiten wehen ließen, die uns Deutschen schon
lange nicht mehr das Gepräge heroischer Besonderheit
gaben, schloß ich, der Angriff müßte wohl ins Stocken
geraten sein, denn die Russen bildeten die Reserve, und
vor ihnen hätten wir am Feinde sein müssen. Der
Leutnant sandte mich, da wir der Kompanie ein Stück
voraus waren, zurück, ich solle die Leute etwas zur Eile
antreiben. Die Pionierkompanie bog soeben in die
Straße ein. Voran trug der baumlange Feldwebel an
schlanker Stange den dreieckigen Wimpel mit dem
Bundschuh, dem Feldzeichen der Kompanie. Hinter
ihm schwang ein Pionier die Ziehharmonika, den
preußischen Armeemarsch spielend, wie auf jedem der
langen und ermüdenden Märsche, die wir in diesem
Lande schon gemacht. Und dann, rechts und links der
Straße, in langer Kolonne, einer hinter dem andern, zog
die Kompanie dahin, ein jeder sein Gewehr nach
Belieben tragend, mit Stöcken in der Hand und kurzen
Pfeifen unter der Nase. Und zwischen den Reihen
klapperten die Panjewagen, beladen mit Maschinen-
gewehren und Munition. Freilich war die Marsch-
kolonne kein strahlend militärischer Anblick, zumal die
zerlumpten Röcke aller Waffengattungen und die
bärtigen Gesichter unter schiefer Mütze deutlich genug
zeigten, daß es in diesem Feldzug nicht so sehr auf Mi-
litärpersonen als auf Krieger ankam. Auch der
Maschinengewehrzug legte wenig Wert auf Äußerlich-
keiten, aber die Gewehre waren frisch geölt und lagen
sorglich verpackt aut den Panjewagen. Ich ging zu
meinem Gewehr und erfuhr dort, daß ich für die Dauer
des Gefechts der Pionierkompanie zugeteilt sei. Der
Oberleutnant von den Pionieren trat auch schon hinzu,
klatschte mit seiner zerflederten Fahrerpeitsche gegen
die schlechtgewickelten Gamaschen und meinte, ohne
die schwere Pfeife aus den Zähnen zu lassen, heute
hätten die MG-Leute mal Gelegenheit, zu zeigen, daß
sie mehr könnten, als allein rubeln und räubern. Ich
ärgerte mich und schwieg, aber der Unteroffizier
Schmitz sagte, neben dem Wagen herschreitend und
mit lässigem Gleichmut einen Munitionskasten
zurechtrückend, wenn er sich recht erinnere, dann seien
es ja wohl die Pioniere gewesen, die damals, bei
Baidon, zum Angriff zu spät gekommen seien, weil sie
über einen Weinkeller geraten waren. Der Oberleutnant
brummte etwas und ging dann mit verkniffenen Augen
hinter den Brillengläsern nach vorn zu seiner
Kompanie.
Es war allmählich sehr kalt geworden. Wir standen
unschlüssig auf der Straße, trampelten uns die Füße
warm und horchten unter kargen Worten auf das
Dröhnen an der Front.
Die Kompanien traten an. Der Lärm fernen Gefechts
wurde stärker. Wir marschierten an den Russen vorbei,
die in den Straßengräben lagerten und unseren Marsch
mit dumpfem und verlegenem Grinsen begleiteten. Wir
warfen ihnen die paar Brocken Russisch, die sich der
Feldsoldat im Kriege aneignete, gönnerhaft zu, und der
obszöne Sinn dieser Worte wurde von den Russen
freudig ob der Herablassung aufgenommen. Am
Bahnübergang stand ein Panzerauto. Die Stahlwände
wiesen mancherlei Einschüsse auf. Die Bemannung
arbeitete am Wagen, einige standen verschmiert und
mit Blutspritzern auf den Lederjacken um eine auf der
Straße ausgebreitete Zeltbahn herum, unter der sich die
Formen eines verkrümmten Körpers abzeichneten. Wir
marschierten vorbei, ohne eine Frage zu tun. Die
beiden Infanteriekompanien bogen nach links auf
einem schmalen Sumpfsteige ab. Allmählich wurde die
Straße belebter. Auf dem Felde rechts schwoll die gelbe
Hülle eines halbaufgeblasenen Fesselballons. Hinter
dem Bahnwärterhäuschen feuerte eine schwere
Batterie. Mit hellem Klingen zersprang ein einzelnes
Infanterie-geschoß an den Eisenbahnschienen.
Wir machten halt und luden die Gewehre ab. Da mir
der Feind noch fern schien, zerlegte ich mein MG und
wuchtete mir den Schlitten auf den Rücken. Die
Polsterung war abgerissen, und die beiden Wasser-
kästen, die ich noch vorn an die Sporne hing, drückten
mir das scharfkantige Eisen schmerzhaft in die
Schulter. Wir schwärmten auf der Straße nach links
aus, überkletterten den Graben und betraten den Sumpf.
Es war um die Mittagszeit. Wir hatten seit dem
Morgenkaffee noch nichts genossen. Der Sumpfboden
schwankte bei jedem Schritt. Eine glasige, dünne
Eiskruste hatte sich über dem Sumpfe gebildet. Der Fuß
trat zersplitternd hinein, das Wasser quoll sofort in die
Schuhe und schwemmte blasig über die Ränder der
runden Stapfen. Das ganze Sumpfgebiet war übersät
mit niederen Gebüschkusseln. Am Himmel jagten
grauweiße Wolkenfetzen, der Wind fuhr uns kältend
durch die dünnen Kleider. Einen Mantel hatte keiner
von uns. Ich keuchte unter meiner Last und warf den
Schlitten auf der Schulter von einem Knochen auf den
anderen.
Als wir etwa 500 Meter weit von der Straße entfernt
in den Sumpf eingedrungen waren, bekamen wir das
erste Feuer. Der unsichtbare Gegner prasselte uns eine
Garbe entgegen, die mit sonderbarem Zwitschern dicht
vor uns in den Boden fuhr und wie ein plötzlicher
Regenschauer überall kleine Fontänen aufglupschen
ließ. Wir warfen uns hin. Ich stolperte und fiel. Die
Wasserkästen polterten herunter, der Gewehrschlitten
bohrte sich in den Dreck und stieß mir seine Kanten in
die Brust. Meine Ellenbogen, meine Knie fuhren tief in
den matschigen Boden. Das eiskalte Wasser drang
sofort durch die Kleider. Neben mir begannen die
Infanteriegruppen zu feuern. Auch das Gewehr Schmitz
schoß. Bevor ich beginnen konnte, mein Gewehr
aufzumontieren, kam der Befehl zum Sprung. Die
feuchten Kleider sogen sich am Körper fest und
bildeten in den Falten ungemütliche Eiskrusten. Die
Handgranaten tanzten mir am Koppel und hinderten
mich am Lauf. Der Gegner begleitete unseren Sprung
mit fahrigem Gefeuer. Es fing an zu regnen. Kalte
Schauer peitschten das Gesicht. Über der feindlichen
Linie hing schweres, dunkles Gewölk. An drei, vier
Stellen ringsum am Horizont brannte es. Noch oft
warfen wir uns hin. Überall im Sumpf hockten die
lettischen Schützen. Über unsere Köpfe hinweg
fauchten und gurgelten die schweren Geschosse von
hinten, die mit dumpfem Krachen auf die Stellung
hämmerten. Endlich waren wir dichter heran. Zwischen
der Stellung und uns war freies Feld, eine sanftgrüne,
ebene, leicht auf uns zu geneigte Wiese, die strichweise
unter Wasser stand.
Es war vier Uhr nachmittags geworden. Wir lagen
hinter einer kleinen Bodenwelle, die einigermaßen
Schutz versprach. Die Füße steckten tief im Schlamm.
Vorne hob sich der graue Streif der Stellung deutlich
ab. An einzelnen Punkten waren anscheinend stark
ausgebaute Bastionen zu erkennen. Wir freuten uns
über jedes Geschoß, das dort hineinpolterte. Der Lette
schoß mit allen Kalibern. In die Wiese hieben die
Geschosse ein und zauberten seltsame Bäume aus
Schlamm und Rasenstücken. Aus dem dumpfen
Gedröhne der Schlacht sonderte sich immer wieder
grell das reißende Geknatter der Schnellgewehre. Wir
hatten rechts keinen Anschluß, erst dicht neben der
Straße mußten wieder Truppen liegen. Der Lette hatte
uns endlich gesichtet. Er setzte uns eine Lage Ratscher
dicht vor die Nase, die uns mit Schlamm übersprühte.
Anscheinend hatte der Lette im Vorfeld noch Nester
sitzen, denn Maschinengewehrfeuer fusselte streuend in
unsere Linie. Ich hatte meinen Schlitten vor mich
hingebaut und versuchte, unter seinem Schutz etwas zu
schlafen. Aus der Schützenlinie gellte der Ruf:
«Sanitäter!» — Wir hoben alle die Köpfe. Ein Pionier
kroch mühsam nach hinten. Der Sanitäter eilte herzu.
Durch die Linie ging das Gerede von einem Beinschuß.
Da schrie auch schon der zweite, gerade nachdem
wieder eine Lage eingehauen hatte. Wir lagen völlig
untätig und warteten. Immer wieder fuhren die Köpfe
hoch, die nach der Strohmiete spähten, ob der
Oberleutnant nicht endlich den Befehl zum Vorrücken
gäbe.
Wütendes Gefeuer auf unsere Linie setzte ein. Wir
lagen noch gut zweitausend Meter von der feindlichen
Stellung entfernt und sahen ohne einen Schuß dem
müden Gefecht zu. Dieser ganze Tag diente der
quälenden Vorbereitung zu einer Entscheidung, und bis
jetzt war noch nichts geschehen, was uns innerlich hätte
in Schwung versetzen können. Uns schien, als lägen
wir nun schon eine hoffnungslose Ewigkeit in diesem
Sumpf und als böte sich niemals eine Aussicht, aus ihm
herauszukommen. Das eintönige Gebrodel der Schlacht
hatte durchaus nichts Aufregendes, und viel un-
angenehmer als der Einschlag der Granaten waren das
koddrige Gefühl im Magen und die nassen und wund-
reibenden Kleider und Schuhe. Dieser Tag bestand aus
lauter Mosaiksteinchen, die, plump zusammengelegt,
ein entsetzlich spannungsloses Bild abgaben. Wir
waren in Kurland andere Gefechte gewöhnt. Und daß
nach langem Waffenstillstand der Krieg so begann,
schien uns ein niederdrückendes Zeichen.
Das Fähnchen der Pioniere stand an der Strohmiete
aufrecht, und der Wimpel hing an der Stange wie ein
nasses Handtuch. Der Wind blies uns schwarze
Rußflocken entgegen. Nun stand, soweit der Blick
reichte, kein Haus mehr, das nicht brannte. Es wurde
langsam dunkler. Strichweise war der Regen mit
Hagelschloßen untermischt. Die Stellung verschwamm
langsam, zeigte sich nur durch ein ständiges Aufblitzen
an. Plötzlich steigerte sich hinten unser Abschußlärm.
Ganze Salven fauchten über unsere Köpfe, schlugen
drüben ein. Immer toller wurde das Feuer. Der
Oberleutnant jagte eine rote Leuchtkugel hoch.
Sekunden später hieben vor uns in die Wiese die
Einschläge unserer Batterie, warfen den Schlamm in
die Höhe und bildeten einen schmalen Streifen Wald,
der sich langsam nach vorn wälzte.
Von hinten kam eine Schützenlinie heran. Die
Männer stapften mit breiten Abständen gebückt einher.
Auf den hochgepackten Tornistern lag quer das
Gewehr. An den Kokarden erkannten wir Bayern. Es
war das Bataillon Berthold. Kaum hatten sie unsere
Linie erreicht, als der Oberleutnant mit der Peitsche
nach vorn zeigte und aufsprang. Wir rappelten uns
mühsam hoch und stakten mit verkrampften, einge-
rosteten Gliedern mit den Bayern mit.
Mein Gewehrschlitten hieb mir bei jedem Schritt
eine Stange ins Kreuz. Ich rief den Schützen zwei
heran, der das Gewehr trug, und wollte bei der nächsten
Gelegenheit aufmontieren. Aber unentwegt schritt die
Linie vorwärts, nicht sonderlich schnell. Unsere Füße
platschten ins Wasser. Der Bayer neben mir sackte
zusammen, als habe ihn sein Tornister erdrückt. Der
Oberleutnant, der plötzlich vor mir lief, nahm die
Peitsche in die rechte Hand. Auf seiner linken bildete
sich ein blutiges Rinnsal. Der Marsch wurde schneller.
Ein Pionier brach aufjaulend wie ein Hund zusammen.
Schmitz rannte mit seinem Gewehr halb rechts voraus,
den Wasserkasten schwingend. Ich sah auf den
schwanken Erdboden unter mir und sprang keuchend
vorwärts, um mit der Linie mitzukommen. Ein Bayer
verlor seinen Tornister und lief weiter, ohne sich
umzusehen. Ein anderer blieb plötzlich stehen und
blickte traurig auf den Boden. Dann sank er sanft in die
Knie.
Ich hörte nichts mehr von dem Brausen, das um
meine Ohren schlug. Der Boden stieg an und wurde
fester. Es war dunkel geworden, aber die brennenden
Häuser warfen zuckende Lichter. Meine Nebenleute
hasteten als schwarze Schatten wirr durcheinander. Da
war vor mir ein Drahtverhau. Die Füße rissen wütend
am Gewirr, das sich wie ein federnder Schlangenknäuel
um die Knöchel wand. Ich schrie auf wie von Ekel vor
Gewürm gepackt. Einer sank gegen meine Schulter,
daß ich taumelte. Steil stieg eine Böschung an. Die
Wasserkästen hatte ich längst verloren. Mit freien
Händen, durch den Schlitten widerlich gehemmt, riß
ich mich an Grasbüscheln, die aus grellem Sande
ragten, hoch. Der Fuß rutschte ab. Einer packte mein
Gestell und zog. Ich wälzte mich hinauf, lag keuchend
auf der Böschung. Vor mir Gewimmel. Links zog sich
dunkel ein Verhau, an dem geballte Haufen ent-
langeilten, auf eine Lücke zu, die dicht vor mir sich
auftat. Plötzlich war Schmitz neben mir mit seinem
Gewehr. Ich warf meinen Schlitten ab und kroch zu
ihm. Er hatte sein Gewehr bereits gerichtet und
stampfte mit dem Absatz den Sporn fest. Der Schütze
hinterm Abzug griff sich an die Stirn und kollerte dann
langsam den Abhang hinunter. Ich warf mich hinter die
Knarre und zog die Hebel fest. Ich drückte los — die
ganze Dumpfheit dieses Tages wich. Das Gewehr
bäumte sich und schnellte wie ein Fisch, ich hielt es
fest und zärtlich in der Hand, ich klammerte seine
zitternden Flanken zwischen meine Knie und jagte
einen Gurt, den zweiten auch, hintereinander durch.
Der Dampf stieg zischend aus dem Rohr. Nichts sah
ich, doch Schmitz sprang tanzend, schreiend, johlend
auf der Böschung, stieß mich beiseite und kletterte an
meine Stelle.
Ich griff zur Handgranate und lief vor. Wir sprangen
in einen Graben. Ich trat auf weiche Leiber, die
merkwürdig nachgaben, an dunklen Höhlen, von
Stoffetzen verdeckt, vorbei; Gewehre, wirr in Haufen,
querten den engen Weg. Geschrei kam uns entgegen,
hinter Erdmauern scholl die dumpfe Detonation von
Handgranaten. Plötzlich war Schmitz über mir, warf
sein Gewehr wie eine Brücke über den Graben und
sprang hinüber. Ich wuchtete ihm die Knarre nach und
kletterte an der Grabenwand hoch. Da lag die Lücke
des Verhaus vor mir. Wir stolperten über Leichen.
Einer trat ich auf den Kopf. Hinter dem Verhau lag die
zweite Stellung, etwas höher und betoniert.
Dunkel und massig standen die Schattenrisse einer
Häusergruppe am Wege. Aus ihnen blitzte es auf. Ich
warf mich gegen eine Tür, hängte die Handgranate an
die Klinke und zog ab. Der Knall ließ das Gemäuer
beben. In die dunkle Öffnung schoß ein Pionier eine
Leuchtrakete. Fast im gleichen Augenblick loderte das
Haus. Aus dem Gang stürzt schreiend, die blutenden
Hände hoch, ein junger Kerl und schlägt lang hin. Die
Flamme leckt nach ihm und bläst uns glühheißen Dunst
entgegen. Noch einer taumelt aus dem Haus, Qualm
und Sprühen mit sich reißend. Da schnellt ein Trupp
sich von der Straße los. Wir greifen zu — der eine
Lette, hochgerissen, wird gepackt, geschleudert, wirbelt
längs zurück, fällt in die Glut, schreit einmal auf, die
Flammen schließen sich. Der zweite rutscht auf Knien,
doch wie sie nahen, springt er auf, schlägt sich die
Arme um den Kopf und wirft sich von selbst in das
Feuer.
Der Oberleutnant jagt an mir vorbei. Ich sehe noch,
wie tausend feine rötliche Spritzer sein Gesicht
bekleckert haben. Taghell flackern die Häuser, Ein
dumpfer Krach reißt eines auseinander. Aus der Glut
kommt wirres Knattern, die Balken fliegen quer über
den Weg. Der Oberleutnant kreist die Peitsche über
seinem Haupt und schreit nach seiner Kompanie. Ich
rase zurück, mir mein MG zu suchen. Aus
Unterständen kriechen Kerls, der eine schwingt ein
leuchtendes Kochgeschirr. Ich breche in einen
Unterstand und stoße einen Pionier beiseite. Ein
Haufen wunderbarer englischer Gummizeltbahnen
sticht mir in die Augen. Ich nehme eine, breite sie
beglückt im kargen Schein des Feuers, sie ist ganz neu,
kann auch als Umhang dienen. Der Pionier zieht
langsam einer Leiche die Schuhe aus. «Auf der Straße
sammeln!» schreit einer, ich laufe weiter. Überall
plündernde Gruppen. Schnapsflaschen stopft sich einer
in den Brotbeutel. Ein anderer greift mit allen
blutbekrusteten Fingern in einen Topf gelber
Marmelade, schleckt sich gierig, das Gesicht
bekleckernd, die Pfoten ab.
Allmählich kommen wir zur Straße. Auf ihr herrscht
wildes Durcheinander. Die Wege sind verstopft von
Kolonnen. Feldküchen werden gestürmt. Artillerie fährt
langsam vor. Wir drängen uns durch die Haufen.
Überall schreien die Kompanieführer ihren
Erkennungsruf. Der Oberleutnant steht auf einem noch
schwelenden Schutthaufen am Rande der Straße und
läßt antreten. Mein Gewehr ist vollständig zur Stelle.
Es wird abgezählt. Die Gruppenführer melden. Der
Oberleutnant zählt halblaut die Abgänge. Er hat ein
Taschentuch um die linke Hand gewunden. Er hat die
Pfeife nicht mehr im Munde. Es fehlt ein Viertel seiner
Kompanie. Vom Gewehr Schmitz fehlen zwei Mann.
Indes hinter unserer Front das Bataillon Berthold in
Marschkolonnen in die schwarze Nacht marschiert,
nach vorne, sagt der Oberleutnant, die Leistung des
MG-Zuges sei hervorragend gewesen, er habe es
während seiner ganzen Feldzugszeit nicht erlebt, daß
die schweren MG unter so schwierigen Verhältnissen
nicht nur nicht zurückblieben, sondern sogar noch vor
der Infanterie in die Stellung eingedrungen seien.
Schmitz murmelt was von einem Päckchen Tabak, das
ihm lieber wäre.
Dann schwenkten wir ein und schoben uns langsam
an den Kolonnen vorbei, die lodernden Häuser hinter
uns lassend. Der Wald nahm uns auf. Dicht an die
Straße drängte er sich heran, die ersten Stämme
streckten ihre Wurzeln in den Graben. Und dichtes
Gebüsch säumte den Waldrand. Die Nacht war
schwarz. Auf der Straße marschierten zwei Kolonnen
nebeneinander, in der Mitte bohrten sich Maschinen-
gewehrwagen mühsam vorwärts. Der Oberleutnant
fluchte sich mit einem Kolonnenführer herum. Ich
marschierte neben einem massigen Pferd, das mir
seinen Nüsteratem in die Seite blies. Das Gewehr hatte
ich auf dem Schlitten, es wurde von der Bedienung
getragen. Ich weiß nicht, warum ich beim Abmarsch
von der Stellung gerade die SMK-Munition zum
Tragen ausgesucht hatte. Auch eine Leuchtpistole hing
an meinem Koppel. Die Kästen waren schwer, ich hatte
keinen Tragegurt. So legte ich den einen Kasten auf die
Deichsel des neben mir stapfenden Pferdes. Fast nickte
ich im Gehen ein. Die schmerzenden Füße wollten sich
kaum heben. Ich hatte einen eklen Geschmack im
Munde, die Kleider klebten am Körper, die Kästen
zogen die Arme schwer hernieder. Wir tappten alle wie
blind voran. Fast jedes Sprechen war verstummt. Nur
die Räder knarrten, und das dumpfe Geräusch vieler
Schritte lullte ein. Wir stießen ins absolute Dunkel. Wir
stießen direkt auf das schwarze Tor zu, das auf einmal
den Rachen öffnet und uns aus spritzenden Rohren
Feuer entgegenknallt. Der Gaul neben mir kracht hoch,
der Kasten fällt, die Deichsel knirscht und bricht, ich
werde beiseite geschleudert, stürze, rolle in den Graben
— was ist das, was ist los — Überfall? Die Pferde
donnern schnaubend zurück durch brandendes
Geschrei. Auf der Straße wälzen sich Leiber, eine
glühende, zuckende Schlange züngelt nach vorn —
durch die Schwärze zieht sich eine Reihe flimmernder
Gedankenstriche — ah, denke ich, Leuchtmunition,
zwei, drei, vier solche Schlangen, hoch oben zwit-
schern sie über uns weg, es rattert nervös. «Ich bin
verwu-u-undet», lang hingezogen stöhnt es neben mir,
ich stoße gegen eine weiche Masse; — da ist mein
Gewehr, den Kasten habe ich noch in der Hand. Einer
greift zu, wir wuchten das Gewehr hoch, schieben es
auf den Grabenrand. Da steht das dunkle Tier, ein
schwarzes Ungeheuer, dicht vor uns sprüht es feuerrot
und knatternd — wir sind im toten Winkel, blitzschnell
freut es sich in mir, wir haben ja SMK-Munition, den
Gurt hinein, der Lauf fliegt rum, ich drücke los, es
knallt — da ist das Ziel, hinein in die dunkle Masse —
schon ist es still, das Vieh; nun sehe ich, daß Schmitz
es war, der mir half, er drängt mich weg. Ich verstehe
ihn sofort, er wird mich mit dem Gewehr decken.
Sofort setzt das Ungetüm wieder feuernd ein. Ich
krieche ein Stück rechts, stoße auf einen Kerl, der mir,
begreifend, fast zuvorkommt. Schmitz knallt los, wir
springen auf, einen, zwei, drei Schritt vor — abziehen,
weg damit, abziehen, Nummer zwei, es kollert, rollt,
tänzelt, stößt gegen hartes Eisen — ich reiße die
Leuchtpistole raus, Rakete aus der Hosentasche, der
Lauf schnappt ein, Arm vor, los — es zischt — weg,
zurück, ein metallenes Bersten, auf mich purzelt der
Kerl, schlägt in den Graben — blendend weiß sprüht es
auf. Im Nu öffnet sich ein Vulkan, schneeweiße
Qualmballen stößt die Erde aus, eine weißglühende
Wand baut sich auf, eine Hitzewelle dörrt uns den
Atem, der Panzerwagen brennt. Ein irrsinniger,
gurgelnder Schrei, zwei torkelnde Gestalten, brennend,
schlagen mit fuchtelnden Armen, purzeln in den
Graben. Es ist taghell. Es ist totenstill. Gespenstisch
steht die glühende Wand allein.
Am Grabenrand liege ich und bohre den Kopf in den
nassen Boden. Fast als hätte man mir alle Sehnen
durchschnitten. Am liebsten hätte ich geschlafen. Aber
Schmitz steht über mich gebeugt und fragt, ob ich eine
Zigarre habe für die beiden Engländer, die sich aus dem
brennenden Panzerwagen gerettet haben. Die stehen,
zerfetzt und blutig und verbrannt, und sehen mit toten,
rotgeränderten Augen still vor sich hin. Die Straße wird
lebendig. Wir gehen zurück, die Engländer zwischen
uns. Meinen Gummiumhang vermisse ich erst dicht vor
der gestürmten Stellung.
Und ich wollte um den einzigen materiellen Gewinn
dieses Tages nicht betrogen sein. Der Umhang war
meine Beute. Am Panzerwagen muß das Ding noch
liegen. Die Kompanie soll auf dem Friedhof in
Bereitschaft liegenbleiben. Zwischen den Grabkreuzen
stelle ich mein Gewehr auf, die Leute hauen sich völlig
erschöpft sofort hin, zwischen die zerwühlten Gräber.
Ich rüttele den knurrenden Schmitz am Arm und sage
ihm Bescheid. Dann stapfe ich auf der dunklen Straße
dem glühenden Punkt zu.
Der Gummiumhang nahm den ganzen Raum meines
Denkens ein. In ihm verdichtete sich ein Traum von
Wohlleben und Bequemlichkeit. Seine sammetweiche
Innenhaut, die zeitweilig meinen bloßen Nacken
streichelte, hatte mich erregt beglückt. Ich dachte mit
Freuden daran, daß er schmiegsam war, daß ein
Umhüllen mit ihm der Umarmung einer gepflegten
Frau gleichen mußte. Das Bewußtsein, daß er aus
England stammte, ließ mir gleich die Vision der
pfirsichzarten Haut einer englischen Schauspielerin
erstehen, die ich in Deutschland als Kind einmal
gesehen hatte. Sicherlich hatte der Umhang einem
Offizier gehört. Der Unterstand, in dem er lag, war
recht geräumig gewesen. Vielleicht hatten englische
Offiziere in ihm gehaust. Die Engländer stellten eine
große Anzahl Führer für die Letten. Wie der Tommy
aus dem Panzerwagen mich so tot und leer angesehen
hatte! Teufel, das muß ein peinliches Gefühl gewesen
sein, in den dumpfen Stahlkammern des Panzers, als
die Geschichte glühheiß aufbrannte. Da lag das
Ungetüm wieder vor mir, seine Wände glühten noch
schwach. Welch eine Idee, mutterseelenallein den
nächtlichen deutschen Vormarsch aufhalten zu wollen!
Ich näherte mich der ungeschlachten, viereckigen
Kiste, schon im weiten Umkreis stank es nach
verbrannter Farbe und nach verkohltem Fleisch. Ich
griff ein Gewehr aus dem Graben, das dort lehnte, und
stieß mit dem Lauf sachte gegen die heißdünstende
Wand. Ich ging rund um den Wagen, da war auf der
anderen Seite die Panzertür offen, hing in verbogenen
Scharnieren. Ich sah vorsichtig hinein. Ein Wirrwarr
von Gestängen und Eisenteilen. Auf dem Boden eine
schwärzliche, verkrustete, verkohlte Masse. Dies war
wohl ein Mensch. Ich stieß mit dem Lauf des Gewehrs
unsagbar neugierig hinein. Es zischte etwas, die
Außenhaut brach, das Gewehr fuhr tief hinein — es
war, als bewege sich der Klumpen. Augenblicklich
stieg mir der Magen zum Halse. Ich fuhr zurück vor
widerlichem Gestank, Pest und Verwesung, taumelnd
wandte ich mich ab.
Ich machte mich daran, meinen Umhang zu suchen.
Da kommen von hinten Schritte aus dem Dunkel. Eine
Gruppe versprengter Bayern macht im schwachen
Lichtschein halt. Sie suchen ihr Bataillon. Das liegt als
einziges weit vorn. Einer sagt, sie hätten den Bescheid
gekriegt, bis zum Bahnwärterhäuschen vorzumar-
schieren, dort müßten Teile des Bataillons liegen. Wo
denn das sei, in dieser gottverdammten Dunkelheit
fände sich kein Mensch zurecht. Ich kannte das
Gelände vom Maivormarsch auf Riga her. Ich
versuchte zu beschreiben, wo die gesuchte Stelle war.
Die Bayern stehen unschlüssig herum. Ob es noch weit
sei. Und ob ich nicht mitgehen könnte, um sie zu
führen. Ich überlege. Sehr weit ab konnte es nicht sein.
Die Bayern verlaufen sich in dieser barbarischen
Dunkelheit sicherlich und rennen am Ende den Letten
in die Finger. Der Wald zwischen Straße und Eisen-
bahndamm ist sehr unübersichtlich. Aber vielleicht
genügt es, bis zur Bahn vorzudringen und dann am
Geleise entlangzugehen. Bis zur Bahn will ich die
Bayern schon bringen. Den Umhang kann ich wohl auf
dem Rückweg oder am Morgen in aller Frühe holen.
Einer bietet mir Schnaps an. Das brennheiße Zeug
gurgelt mir die Kehle herunter. Ich bin im Augenblick
wieder frisch. Also, ich gehe mit.
Der Wald war voller Geheimnisse. Wir waren
entsetzlich einsam, und es kam uns fast wie eine
Erlösung vor, als wir plötzlich Schüsse hörten, vorne an
der Straße oder am Bahndamm, dort, wo das Bayern-
bataillon liegen mußte. Der Lärm dieser Schüsse hatte
etwas Aufgeregtes, seltsam Vibrierendes. Wir machten
augenblicklich und ohne Kommando allesamt eine
scharfe Linkswendung und rannten, wie magnetisch
angezogen, auf den Lärm zu. Zweimal hieb ich mit dem
Kopf an Bäume, ich stolperte über Wurzelwerk und
Geäst, von den anderen hörte ich ab und zu nur das
Geräusch, mit dem sie gleich mir durch das Dickicht
knackten. Bald knatterte es ununterbrochen an fünf,
sechs verschiedenen Stellen. Einzelne Geschosse
pfiffen schon matt vorbei und zerknallten an den
Stämmen. Vorn das Bataillon mußte in schwerem
Gefecht liegen. Wir konnten deutlich die feindlichen
und die deutschen Abschüsse voneinander unter-
scheiden. Das Bataillon rang anscheinend gegen eine
ungeheure Übermacht. Wir rannten wie gehetzt nach
vorn. Dabei mußten wir wohl nach rechts abgekommen
sein, denn plötzlich tauchte neben mir die niedere
Böschung des Bahndammes auf. Drei, vier Mann und
ich kletterten hinauf und jagten dann zwischen den
Schienen weiter, indes die anderen an der Böschung
entlangliefen. Links vorne steigerte sich der wüste
Lärm, einzelne langgezogene Schreie tönten. Schon sah
ich das Aufblitzen der Schüsse. Da war ein Weg, der
über die Bahn führte, da das Bahnwärterhäuschen. Wir
rannten darauf zu. Uns pfiffen die Geschosse um die
Ohren. Wir wurden, als wir polternd in den kleinen Hof
stürzten, scharf angerufen. Eine kleine Gruppe Bayern
lag hier und feuerte hinter einem Stapel Bahnschwellen
hervor. Auch ein leichtes MG war da. An der
Hausmauer lagen drei Verwundete, der eine rief mich
an, erzählte wirr und stockend von Überfall und
schweren Verlusten. Einer kam um die Ecke
geschossen und schrie keuchend, wir sollten am
Bahndamm weiter vorstoßen, dort müßte etwa 300
Meter weiter noch ein Haus sein, das sollten wir
besetzen und den Letten in der Flanke packen, damit
das Bataillon an der Straße etwas Luft kriege.
Ich lief gleich los, meine Bayerngruppe nach rascher
Verständigung hinterdrein. Die Bahn machte bald eine
sanfte Schwenkung nach links; ich wußte, daß sie etwas
weiter vorn, dort, wo sich das nächtliche Gefecht am
lautesten gebärdete, die Straße kreuzen würde.
Unschlüssig stand ich eine Weile still, indes im Wald
hallend die Schüsse krachten. Da sah einer halbrechts
vorn ein Licht. Das mußte das Haus sein; wir schlichen
darauf zu, über eine Lichtung, durch eine karge
Baumreihe, über freies Feld. Ein Kranz aufleuchtender
blauer Punkte zeigte, wo etwa der Feind zu suchen war.
Der Waldrand war wohl zum Teil von den Unseren
besetzt. Wir schlichen auf die dunkle Masse zu, aus der
verlassen und verloren ein rötlich erleuchtetes
Fensterchen in die Nacht blickte. Am Wegrande flitzten
wir auseinander zu kurzer Schützenlinie und rannten
dann los, stießen gegen eine Hofmauer, fanden ein Tor;
ich donnerte mit den Absätzen gegen das Holz. In
sekundenlanger, atemloser Pause hörten wir eilige
Schritte sich entfernen, eine schwache Stimme rief. Wir
brüllten: «Aufmachen!» aber nichts rührte sich mehr
außer der Stimme, die «Hilfe» stöhnte. Da warf sich
einer gegen das Tor, einer hieb mit dem Spaten ein
ungefüges Schloß herunter, bis das Holz zersplitterte.
Mit vorgehaltenen Gewehren drangen wir in den Hof.
Auf einem Misthaufen lag, vom schwachen
Lichtschein des Fensters getroffen, ein Soldat mit
offenem, blutgetränktem Rock. Er brabbelte stöhnend
und bewegte schwach die Hand. Das ganze Haus schien
von dumpfen, bebenden Geräuschen erfüllt zu sein. Ich
wurde auf einmal todmüde und wußte mit eisiger
Klarheit, daß an dieser Stätte Entsetzliches vorgefallen
sein mußte. Ganz stark spürte ich den lähmenden und
betäubenden Dunst, der mir bei Beginn des Tages als
der Atem dieser Landschaft und dieses Krieges
erschienen war. Aber jetzt war er mit süßlich-fauligem
Blutgeruch untermischt. Ich stützte mich auf mein
Gewehr, und es war mir, als könne ich zu keiner
Bewegung mehr erwachen.
Ich hörte das Aufbrüllen des einen Bayern, der
plötzlich mit pfeifender Stimme an mir vorbeilief, auf
die Haustür zu. «Schweine», keuchte er, «Schweine,
diese Schweine», und warf sich mit Wucht gegen die
Tür, die sofort nachgab. Sein Schreien — ein wildes,
langgezogenes Gurgeln aus fast gewaltsam zu-
geschnürter Kehle — tönte aus dem Haus, Gepolter und
Stoßen, als taumele er umher. Und dann noch ein
Schrei, der sich aus dumpfer Tiefe zum höchsten
Diskant erregend hinaufschraubte und den dunklen
Haufen vor der Tür in wirre Bewegung brachte. Mir
war, als platze mir eine Ader an der Schläfe, als koche
mein Blut plötzlich auf. Wir stürmten in die Tür, ein
widerlicher Gasdunst schlug uns entgegen und hüllte
die Lunge wie in einen feuchten Lappen. Es war, als
risse mir eine in den weitgeöffneten Mund gestoßene
Faust den Magen zur Kehle. Im Flur lag eine Leiche,
ich stolperte über ein Paar Stiefel und sank mit den
Knien auf ihren Leib. Da tastete die vorgeschnellte
Hand in ein Geschling feuchter, klebriger, glitschiger
Gedärme. Entsetzt fuhr ich zurück. Aber der brandende
Ruck des Blutes, das nun meine Hand netzte, schlug
wie eine Welle über mir zusammen und wischte alle
Hemmung weg. Ich raste auf plötzlichen Lichtschein
zu. Da lagen sie — ja, da sah ich, was ich wußte, da
lagen sie, auf stinkendem, blutbespritztem Stroh, mit
zerhauenen Schädeln, aus denen glasig verdrehte
Augen stierten, mit zerfetzten, schwärzlich-roten
Kleidern, mit zerschlitzten Bäuchen, verrenkten,
abgedrehten Gliedern, — hier lag allein ein Kopf, aus
dessen einziger, scheibenförmiger Wunde schwarzes
Rinnsal eine zerschluchtete, schwammige Masse schuf,
dort klebte graues, von feinen roten Äderchen
durchzogenes Hirn in dicken Platschen an den Wänden.
Aus offenem Schlund tropfte das Blut in den Rachen,
und das gab einen schnarchenden Ton an die Stille ab,
an die tödliche Stille, in der wir erstarrt standen. Wir
standen und sahen, schauten mit harten, gebannten
Augen auf die Leichen, aus deren jeder eine furchtbare
Wunde blühte — dort, aus dem Wust und Schwulst
herabgezerrter Kleider und Wäsche, im Zentrum jedes
Leibes, zwischen Lende und Schenkel.
Dies alles, dies und noch unendlich viel mehr ballte
sich in einem einzigen Bild, zwang sich in eine
Sekunde, hämmerte sich mit einem Schlage für alle
Ewigkeit in mein Hirn. Und nun schrien wir alle los.
Ich sah durch rote Schleier, wie der eine einen
Schmiedevorschlaghammer packte, der blutbesudelt in
der Ecke lag, aufbrüllend auf die Tür stürzte, wir
wandten uns hinaus, wir quetschten uns in die Tür,
scheuten in den Hof. Draußen knallte in der Nacht noch
immer das Gefecht. Wir aber kümmerten uns nicht
darum, wir stellten keine Posten aus, wir legten uns
nicht in Deckung, wir vergaßen Auftrag und Befehl,
wir rannten durch den Hof und stießen in jeden Winkel
hinein, durchrasten jede Kammer des Hauses, fegten
durch den Stall und die Scheune, bereit, alles zu
morden, was uns lebendig in die Finger fiel, alles
kaputtzuschlagen, was sich unseren Blicken bot. Da
zerrten sie unter Wagengerümpel einen Kerl hervor,
einen alten, langen, wimmernden Panje, und ehe der
taumelig auf beiden Füßen stand, schmetterte ihm der
Vorschlaghammer auf den Kopf, daß er zusammen-
sackte wie ein Tuch. Da fiel die Kuh im Stall nach
einem sinnlos hingeknallten Schuß, da traf ein
Kolbenschlag den kleinen, struppigen Hund und
zermalmte ihn zu blutigem Brei — es klirrten Bilder
von den Wänden, ein Spiegel fiel, die Töpfe krachten
scheppernd auf den Stein, die Türen der Kommoden
barsten, daß Stoff und Plunder quoll. Die Stühle
splitterten gleich wie der Tisch.
Erst als der Lärm des nächtlichen Gefechtes wieder
lauter zwischen das Klirren der Zerstörung tönte, erst
als der rote Rausch im Fusselregen auf dem Hof sich
dämpfte, besetzten wir die Mauer, fiebernd, heiser, mit
schlagenden Pulsen, und jagten sinnlos, nur um unsere
wilde Spannung zu lösen, Schuß auf Schuß in die
Nacht, dorthin, wo das Geknatter nicht abreißen wollte,
wo der Feind liegen mußte.
Erst in den Vormittagstunden kam ich mit den
Resten des zusammengeschossenen Bataillons Berthold
in die Friedhofstellung zurück. Meinen Gummiumhang
hatte ich nicht mehr gesucht. Ich legte mich auf ein
Grab und schlief, bis mich der Lärm des Gegenangriffs
weckte.
Endkampf

Etwa 500 Meter vor dem Friedhof erstreckte sich ein


langer, schmaler See parallel der Stellung bis dicht an
die Straße, da, wo das ausgebrannte Panzerauto stand.
In etwa 3000 Meter Entfernung lagen rechts und links
der Straße einige Gehöfte. Dort mußte der Lette
stecken. Rechts der Straße bis zum Bahndamm zog sich
bis zu den Gehöften ein Waldstreifen hin. Links der
Straße war das Gelände mit Gebüsch bedeckt wie ein
zerrupfter Teppich.
Leutnant Kay bekam den Auftrag, mit einer Gruppe
Hamburger und zwei Gewehren die schmale Senke
zwischen See und Panzerauto zu besetzen. Wir
machten uns auf den Weg. Das dichte Gebüsch war uns
beim Tragen der schweren Gewehre sehr hinderlich,
und wir kamen nur langsam vorwärts. Darum gedachte
ich, entgegen ausdrücklichem Befehl, auf die Straße zu
klettern und dort weiterzumarschieren. Ich winkte also
der Bedienung und wandte mich nach rechts. Am
Chausseegraben drehte ich mich um, bereit, den
Trägern des Gewehres zu helfen; da stand der Schütze
drei, Gohlke, mit weitgeöffnetem Mund und starrte
längs des Grabens nach vorn.
Ich riß meinen Kopf herum, und ein Eiskloß rann mir
langsam vom Hirn bis zur Sohle; denn 30 Meter vor
uns war das Gebüsch lebendig und im Graben rückten
in unabsehbarer Reihe die Letten an. Ich schrie auf,
Gohlke schmiß das Gewehr hin, in Gedankenschnelle
war der Gurt im Zuführer und ich konnte gerade noch
vor der Mündung beiseite springen, da knatterte Gohlke
auch schon los. Und vorne warf Kay eine Handgranate,
und im Augenblick blitzte es auf beiden Seiten
prasselnd auf. Wir waren mitten in den Gegenstoß
hineingetapert.
Die folgenden Sekunden ließen, trotz unbe-
schreiblicher Verwirrung, erkennen, daß die Letten
schon über den Punkt, den wir besetzen sollten,
hinausgedrungen waren und nun dichtgedrängt im
Busch der schmalen Senke liegen mußten. Es peitschte
mit einem widerlichen und entnervenden Laut durch
die Sträucher, kleine Äste und Blätter flitzten uns um
die Ohren, und rechts, links und überall spritzte der
Sand. Gohlke jagte einen Gurt um den anderen durch;
wir hatten glücklicherweise gehörig Munition
mitgenommen. Nun wurde hinten der Hügel auch
lebendig. Wir hörten eine Reihe der dunklen
Minenabschüsse, und unsere Batterie setzte eine Lage
haargenau 30 Meter vor uns hin. Jetzt rasselten auch
die Maschinengewehre des Friedhofes, aber sie
schossen zu kurz, und wir lagen nun glücklich in zwei
Feuern. Ich schrie und winkte wie verrückt nach hinten,
doch nun wurde es noch toller. Anscheinend dachte die
Besatzung des Friedhofes, der da winke, sei ein Lette;
es prasselte um uns herum; durch unser Winken
erkannten die Letten die Stelle genau, wo wir lagen,
und nun schien die Luft vie zerschnitten zu kleinen
Schnipfelchen, die unablässig auf uns herabregneten.
Von hinten kam Sperr- und Vernichtungsfeuer aus
allen Läufen und Rohren. Wir sahen im Busch die
schweren Ballen der Einschläge dicht aneinander-
gereiht. Wir hörten grelles Geschrei sich in das
Krachen mischen. Wir spürten, wie vorne flatternde
Bewegung entstand. Doch ging der Lette nicht zurück;
er drängte vor. Endlich hatten die auf dem Friedhof
gesehen, wo wir lagen, und legten das Feuer nach vorn.
Ich hatte keine Schußwaffe mitgenommen. Nichts ist
zermürbender, als in solcher Lage untätig zu sein.
Neben mir lag der Schütze Murawski, aber er schoß
nicht, der Bursche; er hatte sein Gewehr neben ich
liegen, den Kopf in den Erdboden gepreßt und schoß
nicht. Ich knuffte ihn, er sah hoch. «Was schießt du
nicht?» schrie ich ihn an. Er schrie bleich zurück — ich
hatte Mühe, ihn zu verstehen —: «Ich muß was
Schädliches gegessen haben!» und sah mich
vorwurfsvoll an. Ich mußte lachen und beruhigte mich
im Lachen etwas und forderte sein Gewehr und
Patronen. Ich schoß nun, entspannte mich, und als ich
nach wenigen Minuten zu Murawski hinsah, war er tot.
Allmählich schien das Feuer des Gegners unsicher zu
werden. Es war die höchste Zeit, denn unsere Munition
ging zu Ende. Kay, der einige Meter voraus dicht am
See im Busch lag — ich konnte gerade noch ein
Stückchen seines hellen Mantels sehen —, erhob sich
plötzlich und prang mit geschwungener Handgranate
vor. Ein paar der Hamburger folgten ihm.
Ich hörte die Detonationen im schwächer werdenden
Feuer der Minenwerfer und Artillerie. Wir ließen das
Gewehr im Graben stehen und rannten Leutnant Kay
nach. Von hinten kam Verstärkung. Wir jagten Leucht-
kugeln hoch, und die Einschläge wanderten vor uns
her. Nach wenigen Schritten stießen wir auf die ersten
Toten. Und nach wenigen weiteren Schritten war es
schwer, eilig zu gehen, ohne nicht unversehens auf
noch warme Leiber zu treten. In dem schmalen Strich
vom See zum Panzerauto zählte ich allein über zwanzig
tote Letten. Überall stöhnten Verwundete. Am
Nordrand der Senke erhielten wir MG-Feuer, und die
Gruppe Kay zog sich zurück, der Verstärkung den
Nachstoß überlassend.
Wir hatten vier Tote. Kays Mantel wies sieben
Einschüsse auf. Das Gewehr Schmitz war demoliert,
Schmitz selber hatte sich im heißen, hervorsprudelnden
Wasser seines eigenen Gewehres die Hand verbrüht.
Von den Hamburgern war nur einer völlig
unverwundet. Die toten und gefangenen Letten waren
sämtlich ganz neu eingekleidet, hatten englische
Gewehre und englisches Koppelzeug. Unter den
Gefangenen war ein Offizier, ein früherer lettischer
Schullehrer. Er war verwundet und hatte einen
Nervenschock. Gefragt, wollte er Auskunft geben, aber
ein lettischer Soldat mit blutendem Armstumpf schrie
ihm drohend etwas zu, und er schwieg vertattert.
Der lettische Gegenangriff war restlos zusammen-
gebrochen. Wii strichen den ganzen Nachmittag im
Vorgelände herum, ohne einer Schuß zu tun. Wir
verstanden nicht, warum wir nicht sofort nach Riga
hineinstoßen sollten. Doch im Südosten wurde noch
heftig gekämpft wir hörten blubberndes Geschützfeuer.
Es kam Nachricht vom Norden.
Dort waren die Russen an der Küste nach unzähligen
Kleingefechten im Dünengewirr bis zur Düna vor-
gedrungen. Bei Bolderaa sahen sie die englische Flotte
in der Rigaer Bucht mit drohend erhobenen Breitseiten
liegen, und sie sahen, wie vier lettische Dampfer eilig
über die Düna hin- und herfuhren, um die geschlagenen
lettischen Abteilungen überzusetzen. Die Russen
nahmen diese Dampfer sofort unter Feuer. Da sank von
den Masten der Schiffe der Union Jack, und die
lettische Flagge ging hoch. Dann wurden die Russen
durch die Salven der englischen Schiffsgeschütze mit
Stahl, Feuer und Sand zugedeckt England schützte
seinen treu ergebenen Knecht.
In der folgenden Nacht stürmte die Deutsche Legion
von Süden hei die Rigasche Vorstadt Thorensberg und
sperrte die Brücken. Unser Bataillon sollte über Baldon
hinaus den Dünabogen bei Üxküll in ganzer Breite
säubern und halten.

Die Below-Höhe ist die letzte, ziemlich unvermittelt


ansteigende Kuppe des Baldoner Hügelrückens,
genannt nach dem General v. Below, der im Jahre 1917
nicht weit von der Höhe den Dünaübergang zum
Angriff auf Riga erzwang. An den Hängen der Höhe
liegt eine Reihe von Kriegerfriedhöfen, mitten zwi-
schen Tannen und Birken. Die Straße nach Bad Baidon
schlängelt sich um die bewaldete Kuppe herum, in
einem Hohlweg, der flankiert ist von ziemlich
hochgelegenen Gehöften. Diese Gehöfte und die Hänge
der Höhe waren von einem lettischen Bataillon besetzt,
als die Abteilung von Liebermann, von Baidon
herkommend, gegen drei Uhr morgens auf der Straße
anmarschierte, um den Dünabogen zu besetzen.
Die Nacht war sehr dunkel, aber windstill und voll
angenehmer Luft. Es war eine Nacht, die Lust gibt, ein
Lied vor sich hinzusummen. Die Hamburger, die an der
Spitze des Zuges marschierten, taten das auch. Sie
sangen, aber nicht laut, sondern mit gedämpfter
Eindringlichkeit, gleichsam, als wollten sie sich
hinwegtäuschen über das Staunen, das den Soldaten oft
überfällt an Orten, an denen er sich plötzlich findet,
ohne recht zu begreifen, wie er gerade dahin kommt.
Als die ersten Gruppen die Brücke über einen dürftigen
Bach betraten, machte den Soldaten das hohle,
rhythmische Gepolter der Bohlen Spaß, und sie traten
im Takte des Liedes vom Kurlandmädchen kräftig auf.
Dann marschierten sie geruhig in den Hohlweg hinein.
Sie sahen wohl die Schatten von Gebäuden droben auf
dem nahen Hang, doch lag das Land in schweigender
Behaglichkeit.
Ich ging neben Leutnant Wuth, der auf seinem Gaule
saß und sich mit mir gedämpft unterhielt. Vor uns
knarrte der Wagen des Minenwerferzuges, hinter dem
der Unteroffizier Schmitz neben einem durch einen
Strick an den Wagen gebundenen Werfer im Gehen
schlafend dahinpendelte.
Und dann war auf einmal die Hölle los. Das erste,
was ich sah, war, daß Leutnant Wuth vom Gaul stürzte
und in den Graben fiel. Der Gaul schlug um sich und
legte sich dann hin. Ich sprang in den Graben zu Wuth
und fragte, ob er verwundet sei. Doch saß er aufrecht
an der Böschung und tauschte sorgsam die Feldmütze
mit dem Samtbarett, erklärend, er vermute, es würde
jetzt wohl ein Gefecht geben. Das zweite, was ich sah,
war, daß der Unteroffizier Schmitz das Seitengewehr
aus der Scheide riß und mit einem einzigen, gewaltigen
Hiebe das Tau zerschnitt, mit dem der Werfer an den
Wagen gebunden war. Dann schmiß er eine Minenkiste
vom Wagen, und ich stürzte hinzu und riß sie auf und
griff eine Mine, die er entsicherte und sofort in die Luft
jagte, irgendwohin. Das dritte, was ich sah, war, daß
die Kolonne in vollständiger Panik durcheinanderlief.
Leutnant Wuth rannte fluchend und mit der
Reitpeitsche um sich hauend die Straße entlang, aber
nach vorn und schrie: «Hinlegen! Schießen!» Als die
erste Mine krachte, war für einen Augenblick völlige
Stille, und ich hatte das Gefühl, als dächte jeder, —
was? unser Minenwerfer schießt ja, dann kann es nicht
so schlimm sein. Schmitz aber feuerte nun Schuß auf
Schuß, und dann setzte das Gewehr Hoffmann ein, und
dann lagen die Hamburger im Graben, hinter den
Wagen und toten Pferden und schossen, und im Lärm
unseres Feuers erstickte die Panik sogleich. Mein
Gewehr lag wohlverpackt in einem Wagen, aber ich
konnte nur eine Handgranatenkiste greifen, die zuoberst
lag, und steckte also mein Koppel dicht voll
Handgranaten. Und dann sah ich mich um, wo ich die
Dinger wohl verwenden könne.
Es blitzte am häufigsten von dem steilen Hang vor
den Häusern. Wir lagen eingekeilt zwischen zwei
feuernden Halbkreisen, und wir bekamen von allen
Seiten Dunst, außer von vorne, also außer von da, wo
die Straße weiterging. Ein Zurück war ganz unmöglich,
denn die Brücke mußte unter rasendem Beschuß liegen,
nach den Schreien zu urteilen, die von dorther kamen.
Schmitz streute mit seinem Werfer — mittlerweile
waren die beiden anderen Werfer auch schon in
Tätigkeit getreten — systematisch die Häuser und die
Hänge ab. Ich steckte Unteroffizier Ebelt, der mit
einigen Hamburgern hinter einem Wagen kauerte und
schoß, schweigend ein paar Handgranaten zu, und er
folgte mir mit seiner Gruppe sofort, als ich die Straße
entlang nach vorn rannte. Bald trafen wir Wuth und
Kay, die beide an einem LMG der Hamburger
herumarbeiteten. Wuth sah erstaunt hoch, als wir an
ihm vorbeirannten und riefen: «Wir machen jetzt für
uns alleine Krieg!» Ganz langsam wurde es Tag.
Wir liefen ein Stück die Straße längs, dann kletterten
wir den Steilhang hoch und sahen sofort die
Schützenlinie der Letten, an deren linkem Flügel wir
standen. Keiner hatte uns vermutet und kommen sehen.
Und nun rollten wir mit Handgranaten die Linie auf.
Ich konnte nicht viel sehen, ich konnte auch nicht viel
hören, ich wußte nur, daß mein Körper sich nach hinten
krümmte und wieder vorschnellte und daß dann eine
Sprengladung aus meiner Faust flitschte und die Wucht
des Wurfes mich ein paar Schritt nach vorne riß, gerade
so viel, wie nötig ist, um den nächsten Wurf zu
machen. Das ging ganz automatisch, genau nach
Vorschrift, das war oft geübt. Ich spürte mit einer
seltsamen Verzückung die Spannkraft meines Leibes,
und als etwas schmerzhaft gegen mein Schienbein
schlug, war doch kein Zweifel in mir, daß ich nicht
verletzt oder getötet werden könne. Als eines der
Häuser in Flammen aufging und den dämmernden Tag
strahlhell erleuchtete, verschwanden die letzten Letten
im Gehölz.
Kaum waren die ausgeschwärmten Kompanien
wieder zurück, als wir erneut heftig beschossen
wurden. Das Feuer kam aus einem Waldstück hinter
der Höhe.
Ich stand gerade mit Ebelt hinter der Feldküche und
zerschnitt die durchschossene und blutende Wickel-
gamasche des rechten Beines, um nach der Wunde zu
sehen, als dieser zweite Feuerüberfall geschah. Ebelt
sagte auf einmal: «Ich hab eine weg!», sah mich
fassungslos an, drehte sich um, ließ sein Gewehr fallen,
fiel langsam auf die Knie, stützte sich noch einmal mit
den Händen und blickte traurig zu Boden. Dann legte er
sich hin.
Die Hamburger gingen vor, sofort verstummte das
Feuer, und im Walde wurden nur drei tote Letten
gefunden. Als ich zurückkam, kniete der Bataillonsarzt
bei Ebelt und stellte glatten Herzschuß fest. Ich sagte,
das sei unmöglich, und erzählte, was ich gesehen hatte.
Doch der Doktor zuckte die Achseln und meinte, ich
phantasiere, und untersuchte meine Schienbeinwunde.
Es war nur ein Handgranatensplitter, wahrscheinlich
war ich in meinen eigenen Wurf hineingelaufen.
Die Hamburger hatten vier Tote, sie wurden auf den
Kriegerfriedhöfen des Jahres 17 beigesetzt. Mit Ebelt
begann eine neue Gräberreihe. Noch dreimal mußten
wir in den folgenden Wochen eine neue Gräberreihe
beginnen lassen.

Wir säuberten den Dünabogen. Wir mußten Gehöft für


Gehöft nehmen und das ganze breite Stück Land Busch
für Busch absuchen. Und wenn wir bis zum Strome
vorgedrungen waren, dann mußten wir wieder zurück
und die vor wenigen Tagen gestürmten Gesinde noch
einmal stürmen. Denn das Bataillon hatte einen
Abschnitt von 12 Kilometern Front zu halten, und die
Letten konnten überall durch. Wir lagen in zer-
schossenen Häusern und verfallenen Scheunen, wir
gingen Tag für Tag Patrouille, wir schoben Nacht für
Nacht Wache. Wir verloren den spärlichen Anschluß
nach rechts und links. Wir hatten keine rückwärtigen
Verbindungen, wir bekamen weder Proviant noch Sold
noch Munition heran, und unsere Meldereiter mußten
von starken Patrouillen bis Baidon begleitet werden.
Wir wurden in vier Wochen siebzehnmal angegriffen.
Wir standen an der Düna und sahen drüben am
jenseitigen Ufer den Rauch der Eisenbahnzüge, die
unablässig rollten, von Friedrichstadt nach Riga und
zurück, vollbesetzt mit Truppen. Wir sahen das feind-
liche Hinterland sich füllen mit Truppen, wir sahen die
Quartiere der Letten und die Batteriestellungen und
konnten sie zählen und wußten, da drüben steckt
fünfmal soviel wie bei uns. Wir zogen mit unseren
Minenwerfern hin und her und jagten hier ein paar
Schuß hinüber und dort ein paar und schickten
Leuchtkugeln in Massen in die Luft und knatterten mit
den Gewehren und mimten gewaltige Macht. Aber für
jeden Schuß von uns schickte der Lette zwanzig, und er
schickte auch Patrouillen, die waren gleich kompanie-
stark; er setzte sie nachts über, und wir mußten sie
morgens wieder zurückwerfen.
Wir waren bewaffnet bis an die Zähne und gerüstet
bis ans Herz, auf drei Mann kam ein M. G., und auf
zwanzig Mann kam ein Minenwerfer. Aber deswegen
war das ganze Bataillon doch nur hundertsechzig Mann
stark. Und die Köche und die Schreiber und die Fahrer
und die Sanitäter und die Herren vom Stabe, sie lagen
alle mit in der Front und schoben mit Wache und
gingen mit Patrouille. Aber deswegen blieb die
Gefechtsstärke doch nur hundertsechzig Mann. Wir
waren behängt mit Karabiner und Pistole und
Handgranaten und Leuchtpistole. Aber dafür hatten die
wenigsten von uns einen Mantel, und wenn sie einen
hatten, dann gehörte er früher einem Letten. Wir gingen
den Feind an, wo wir ihn trafen, gleichgültig, wie stark
er über die Düna kam. Aber das Stück Land, das wir
verteidigten, hatte bald kein Huhn mehr für uns, von
anderem Fleisch nicht erst zu reden, und von hinten
kam nichts heran.
Die ersten Tage des November brachten eine
schneidende Kälte mit sich und Schneegestöber. Wir
wickelten uns alte Lumpen um die Körper und hüllten
die Beine und die Hälse in zerfetzte Schals und be-
kamen mehr Läuse, als wir jemals hatten. Wir stapften
durch schneeverwehte Mulden und krochen durch
weiße, tiefe, stille Wälder. Wir strichen an der Düna
entlang und wir versteckten uns in bröckelnde
Erdhöhlen. Wir hatten nichts zu kochen; die spärlichen,
erfrorenen Kartoffeln waren nur geröstet genießbar.
Unsere Verwundeten bekamen den Brand und starben.
Wir hatten zwar einen Arzt, doch der lag mit im
Gefecht, und wir hatten weder Verbandzeug noch
Medikamente. Drüben die hatten alles.
Wir lagen des Nachts in Igelstellung um irgendein
Gehöft. Jede Kompanie in einer Stellung für sich und
die Kompanien je drei Kilometer weit auseinander.
Wurde eine Kompanie angegriffen, dann kam die
Hälfte der anderen zu Hilfe, aber meist wurden zwei
Kompanien angegriffen, oft auch alle drei. Wir hatten
keine einzige Nacht Ruhe. Die Pferde magerten ab,
denn woher sollten wir Futter nehmen; die
Küchengäule gingen zuerst ein, schwerer belgischer
Kaltschlag, dann die Pferde der Bagagewagen. Nur die
Panjegäule blieben munter. Die lettischen Bauern
hungerten und froren wie wir, doch waren die meisten
Gehöfte unbewohnt.
Wir hätten jeden wegen Verrates totgeschlagen, der
uns aufgefordert hätte, dem Befehl der Reichsregierung
gemäß nach Deutschland zu rückzukehren.
Gegen die Mitte des November begann die Düna
zuzufrieren. Nur kamen die Letten ungehindert über
den Strom. Nun hörten wir spärliche, aber böse
Nachrichten. Bei Bolderaa setzten die Letten unter dem
Schutz der englischen Schiffskanonen über und warfen
die Russen zurück. Bei Friedrichstadt wurde die
Deutsche Legion angegriffen, hielt sich mühsam in
tagelangem Gefecht und wich dann Schritt für Schritt.
Von Riga aus mißglückte ein lettischer Überfall auf
Thorensberg, ohne daß die folgenden dadurch
aufgegeben wurden.
Wir hielten den Dünabogen. Wir standen mit
klammen Gliedern, indes uns der schneidende Ostwind
kältend in die Knochen fuhr. Wir machten nun
unsererseits Vorstöße über die Düna, überfielen
lettische Feldwachen und stießen bis zur Bahnlinie vor,
die wir sprengten. Am nächsten Tage fuhren drüben die
Züge wieder. Am nächsten Tage war der Lette bei uns
und nahm Rache und deckte die Pionierkompanie mit
allen Kalibern zu. Wir schlichen wie geprügelte Hunde,
eingemummt, zerfetzt, ausgehungert, verfroren,
verlaust von Feldwache zu Feldwache, wir horchten auf
das dumpfe Grollen im Norden und Süden, wir sahen
des Nachts die Röte über dem Himmel, dort, hinter
jenem Hügelrücken, wir standen am Uferhang und
starrten mit brennenden Augen nach Riga, der Stadt.

Es kam der Befehl, wir mußten zurück. Noch am


Abend vorher waren die Hamburger umzingelt und
angegriffen worden, und der Lette hatte schwere
Verluste. Doch am Morgen kam der Befehl und wir
marschier ten zur Eckau ab. Was war geschehen?
fragten wir. Unsere Offiziere konnten es uns nicht
sagen. Die Meldereiter konnten es uns nicht sagen. Die
lettischen Gefangenen, die die Hamburger am letzten
Abend machten, die sagten es uns. Die Letten waren
dicht nördlich und dicht südlich von Thorensberg
durchgebrochen und umschlossen die Stadt, in der die
schwache Besatzung nach allen Seiten um ihr Leben
focht. Die Letten hatten bei Bolderaa die deutsche Linie
weit zurückgedrückt und bei Friedrichstadt waren sie
weit im Vorrücken. Die Esten hatten den Letten
Verstärkungen gesandt. Die Bolschewiken hatten einen
kurzen Waffenstillstand zugesichert. Die Litauer hatten
der russischen Westregierung, das heißt also uns, den
Krieg erklärt und den schwachen Bahnschutz unserer
einzigen Rückzugsader unvermutet angegriffen; und
bei den Letten und Esten und Litauern rollte Englands
Geld.
Da kam Roßbach. An der Weichsel beim
Grenzschutz erreichte ihn unser Ruf. Er kündigte der
Regierung den Gehorsam und brach mit seinem
Freikorps nach dem Baltikum auf. Eine Abteilung
Reichswehrjäger stellte sich ihm entgegen, auf Befehl
Noskes. Doch die Jäger schlossen sich Roßbach an. Die
Roßbacher marschierten durch Ostpreußen, sie kamen
zur Grenze. Sie überrumpelten die Grenzbesatzung und
marschierten nach Litauen hinein. Litauische
Abteilungen sperrten ihnen den Weg; sie räumten sie in
hurtigen Gefechten weg. Sie erreichten die Bahn und
setzten sie instand. Sie fuhren bis Mitau und hörten von
der Schlappe in Thorensberg. Sie traten vom Zuge aus
an und stürmten im Eilmarsch vor. Sie nahmen die
zurückflutenden Abteilungen auf und stießen dicht vor
der Stadt, nach wahnsinnigem Marsch, auf den Letten.
Und sie entwickelten sich aus der Marschkolonne
heraus zum Sturm, und zum ersten Male im Baltikum
erklangen die Hörner und jubelten das Infanteriesignal
zum Avancieren.
Roßbach stürmte. Roßbach fuhr in die sieges-
trunkenen Letten und raste in die Stadt hinein und warf
Feuer in die Häuser und prallte gegen geballte
Kolonnen und zersprengte sie und hieb die verzweifelt
fechtenden Umzingelten heraus und führte sie zurück.
Aber Thorensberg war und blieb verloren.
Die deutsche Regierung sandte fürsorglich einen
General, der die Baltikumer nunmehr an den
mütterlichen Busen der Heimat zurückbringen sollte.
Unter seinen Salonwagen flogen Handgranaten.
Die Letten folgten uns sofort. Kaum hatten wir einen
Wald verlassen, dann bewegten sich schon die
schneestäubenden Zweige der Bäume hinter uns, und es
knatterte uns um die Beine. Wir hieben nach rechts und
nach links, wir verhielten an jeder Ecke, an jedem
Waldstück, an jedem Bach. An der Eckau krochen wir
in brandgeschwärzte Ruinen und wendeten alle Rohre
dem nachdrängenden Letten zu. Und es schneite,
schneite, schneite.
Wir machten den letzten Stoß. Ja, wir erhoben uns
noch einmal und stürmten in ganzer Breite vor. Noch
einmal rissen wir den letzten Mann mit aus der
Deckung und stießen in den Wald hinein. Wir rannten
über die Schneefelder und brachen in den Wald. Wir
knallten in überraschte Haufen und tobten und schossen
und schlugen und jagten. Wie trieben die Letten wie
Hasen übers Feld und warfen Feuer in jedes Haus und
pulverten jede Brücke zu Staub und knickten jede
Telegraphenstange. Wir schmissen die Leichen in die
Brunnen und warfen Handgranaten hinterdrein. Wir
erschlugen, was uns in die Hände fiel, wir verbrannten,
was brennbar war. Wir sahen rot, wir hatten nichts
mehr von menschlichen Gefühlen im Herzen. Wo wir
gehaust hatten, da stöhnte der Boden unter der
Vernichtung. Wo wir gestürmt hatten, da lagen, wo
früher Häuser waren, Schutt, Asche und glimmende
Balken, gleich eitrigen Geschwüren im blanken Feld.
Eine riesige Rauchfahne bezeichnete unseren Weg. Wir
hatten einen Scheiterhaufen angezündet, da brannte
mehr als totes Material, da brannten unsere
Hoffnungen, unsere Sehnsüchte, da brannten die
bürgerlichen Tafeln, die Gesetze und Werte der
zivilisierten Welt, da brannte alles, was wir noch vom
Wortschatz und vom Glauben an die Dinge und Ideen
der Zeit, die uns entließ, wie verstaubtes Gerümpel mit
uns geschleppt.
Wir zogen zurück, prahlend, berauscht, mit Beute
beladen. Der Lette hatte nirgends standgehalten. Aber
am nächsten Morgen war er wieder da. Die Russen im
Norden waren weich und gaben nach. Im Süden die
Deutsche Legion, die ein riesiges Gebiet zu decken
hatte, ließ Lücken, in die sich der Lette hineintastete.
Eine ungeheure Zange bedrohte Mitau. Es kam der
Befehl, wir mußten zurück.
Die Wagen reichten nicht mehr. Die Pferde starben.
Wir hatten die Wahl, unser Gepäck weiter mitzu-
schleppen oder die Minenwerfermunition. Wir warfen
das gesamte Gepäck auf einen Haufen, Tornister und
Schreibstubenkram, Ausrüstungsgegenstände und
Beute. Wir steckten den Haufen an, packten die Minen
auf die Wagen und fuhren ab.

An der Aa verteilten sich die Reste der Kompanien. Ich


bekam eine Feldwache in einem Gehöft an einer
Biegung des zugefrorenen Flüßchens. Wir waren zehn
Mann, drei Panjewagen, zwei MGs, ein Minenwerfer.
Vor uns der Wald, rund um uns freies Feld,
nordwestlich lag Mitau wie ein breiter, verschwom-
mener, verblaßter Tintenfleck auf weißem Löschpapier.
In der Nacht wurde die Feldwache rechts von uns
überfallen. Wir funkten dem Angreifer in die Flanke,
und er mußte zurück. Am frühen Morgen war der Lette
vor uns im Wald. Wir schliefen dichtgedrängt um ein
kärgliches Feuerchen, das uns Ruß und Rauch auf die
schmutzigen Gesichter legte und die Tränen in die
rotgeränderten Augen trieb. Es weckte uns das
Geprassel gegen die dünnen Mauern des Hauses.
Wir lagen hinter Schneehügeln und feuerten. Wir
kauten vereistes Brot und schossen. Wir bekamen
Feuer von drei Seiten, von allen Kalibern bis zu den
russischen 18-Zentimeter-Brocken. Wir hatten keine
Verbindung zu den anderen Feldwachen mehr. Wir
sahen, wie in Mitau die Lagen einschlugen, wie ein
leichter Schleier sich über der Stadt bildete, wie sich
der Schleier verdichtete zu schwerem Rauch, wie der
Rauch einen roten Kern bekam, viele rote Kerne, wie
sich die Kerne zusammenschlossen zu einem einzigen
roten Meer. Und wir lagen den ganzen Tag und
schossen.
Der erste, der fiel, war Gohlke. Er lag hinter seinem
Gewehr und bekam einen Kopfschuß, der ihm die
ganze Hirnschale wegriß. Dann fiel ein Hamburger; ein
Ratscher zerschlitzte ihm den Bauch. Als der Abend
sank, wurde der dritte, ein Minenwerfer, schwer am
Bein verwundet und verblutete unter langanhaltendem
Stöhnen, da keiner ihm helfen konnte. Wir hatten längst
keine Verbandpäckchen mehr, und jedermann wurde an
der Waffe gebraucht.
Und Mitau brannte. Und der Lette jagte Schuß auf
Schuß zu uns. Aber er jagte keinen Schuß mehr nach
Mitau hinein. Da wußten wir, daß Mitau vom Letten
genommen war. Wir lagen einsam im Feld und
schossen.
Es wurde nicht dunkel, denn die Fackel Mitau färbte
den nun zerwühlten Schnee mit rosigem Schein. Der
Minenwerfer schoß unentwegt. Noch lagerten etwa
zwölf Minen im Schutze des Uferhangs der Aa, dort,
wo auch die bespannten Wagen standen. Da kam
Leutnant Kay angeprescht, hoch zu Roß. Er stürzte in
den Hof, indes das Dach des Hauses in Flammen
aufging und die Mauer bröckelte. Er schrie uns zu:
«Sofort zurück! Mitau ist von den Letten besetzt! Wir
können noch am Bahnhof durchstoßen und die Straße
nach Schaulen erreichen. Das Bataillon ist längst
abgerückt!» — der Melder, der uns holen sollte, war
nicht angekommen.
Wir gingen nicht eher, als bis die letzte Mine
abgeschossen war. Wir schleiften den Werfer auf das
Eis des Flusses, und indes die Gewehre und die
Munitionskästen auf die Wagen flogen, feuerte der
Werfer nach allen Richtungen. Ich überzeugte mich,
daß nicht ein Knopf liegenblieb. Die Toten luden wir
auf einen Wagen. Die Verwundeten, vier an der Zahl,
setzten sich dazu. Wir schoben die gleitenden Pferde
und rutschenden Karren mühsam über das Eis und
hoben sie fast an der jenseitigen Böschung hoch. Wir
waren mit Kay noch fünf intakte Kämpfer. Die
Geschosse peitschten mit widerlichem Pfeifen das Eis.
Als die letzte Mine triumphierend in den Waldrand
hieb, steckte ich eine Handgranate in den Lauf und zog
ab. Dann rannte ich los. Der Werfer barst mit
heulendem Knall. Den Wagen mit den Verwundeten
nahmen wir in die Mitte. Vorne und hinten lag
schußfertig ein MG auf dem Gestänge. So lösten wir
uns vom Feind.
Bis kurz vor Mitau verfolgte uns das Zischen der
Geschosse. Dann holperten wir schweigend der Stadt
zu. Die ersten Häuser waren bald erreicht. Kein
Mensch war auf der Straße; wir knatterten gespenstisch
über das Pflaster. Der hohle Lärm aus der Innenstadt
verfing sich in der schmalen Zeile und prallte an alle
Ecken. Plötzlich ruckte der vorderste Wagen los. Aus
einer Seitenstraße kamen einzelne Letten, ihre Schatten
zuckten im Flackerscheine brennender Häuser. Wir
rasten im Karracho an ihnen vorbei. Sie stoben
überrascht auseinander und pfefferten uns flirrende
Schüsse nach. Und da lag der Bahnhof, und dort geht es
zur Chaussee. Kay auf seinem Gaul hob den Arm, als
kommandiere er eine Batterie zum Trab, wir peitschten
auf die Pferde und sahen nicht rechts und nicht links.
Aber am Bahnhof standen Letten, sie schrien und
johlten und waren wahrscheinlich betrunken. Wir
rasten vorbei.
Kurz bevor wir die Chaussee erreichten, fiel ich vom
Wagen. Ich raffte mich mühsam hoch und lief
verzweifelt hinter den anderen her. Die Straße war
unbesetzt. Das Dunkel verschluckte uns. Ich war wohl
der letzte deutsche Soldat, der Mitau verließ.

Drohung

Dieselbe eigentümlich klare und heitere Leichtigkeit


des Empfindens, die dem Kämpfer nach starkem
Blutverlust plötzlich das Bewußtsein der Schwäche und
die Müde der Glieder durch den hohen Genuß einer
gleichsam unpersönlichen Betrachtung der Umwelt
aufhebt, ließ auch uns sogleich nach dem Überschreiten
der Grenze Deutschland wie durch geschliffenes Glas
sehen. Die Fremdheit dieser Erde und dieser Menschen
dämpfte sofort die Wirklichkeit unserer Entschlüsse,
wie sie gleichermaßen das krause Geäst eben erst
erlebter Geschehnisse in einen beschatteten
Hintergrund drängte. So stießen wir mit unserem
entschiedenen Rachewillen in einen leeren Raum und
verloren den heißen Atem unserer blinden Gelüste in
der dünnen und kühlen Luft des Reiches, bevor wir den
gesuchten und zu treffenden Gegner überhaupt erst
sahen. Wenn immer auf unserem Rückmarsch durch
die weiten Schneefelder Litauens in uns Zerlumpten
und Verlorenen sich Stolz und Zuversicht erhielt, dann
geschah dies durch das Bewußtsein, daß sich in uns, in
dieser kleinen und gehärteten Gemeinschaft, das
Schicksal des Frontheeres von 1918 wiederholte. Nicht
wiederholen aber sollte sich nach unserem Willen das
plötzliche Zerflattern der geballten Stoßkraft vor der
Vielfalt der verwirrenden Erscheinungen.
Wir erwarteten, das Reich in Gärung zu sehen, in
Städten die Unruhe zittern zu fühlen, das wachsende
Drängen, die Gewißheit einer nahen Verwandlung.
Aber das Reich schien ruhig, ein dünnes Häutchen war
über die Wunde gewachsen. An den stillen Elbdeichen
des Landes Kehdingen, wohin uns der eifrige Befehl
der Reichsregierung wies, verrieselte unsere Erwartung
wie das Wasser in den trägen Marschgräben. Die
Bauern gingen in schweren Stiefeln über das Feld, das
Vieh stand breit in den Ställen, wir hockten in den
blanken Stuben unserer Quartiere und halfen bei der
Arbeit und fügten uns in dieses warme Gleichmaß
unerschütterlichen Wirkens.
Des Abends stand ich oft auf dem Deich und sah den
Strom hinab. Das Mädchen erzählte mir, daß vor dem
Kriege die Lichter der Dampfer wie eine schimmernde
Kette über dem Wasser geblinkt hätten, aber nun war
die weite Fläche leer, der Hafen war tot, der Strom von
einer breiten, eintönigen, schimmernden Schwärze.
«Sie haben», sagte das Mädchen, «ja alle Schiffe
abliefern müssen! Wir standen alle auf dem Deich, als
sie zum letzten Male die Elbe herunterfuhren, und da
haben wir erst richtig geglaubt, daß wir den Krieg
verloren haben.» Wir sprachen viel auf dem
windgepeitschten Deich; er war mir in seiner
grandiosen Einsamkeit wie eine Brücke, die in die neue
Wirklichkeit führen könnte, wir sprachen von diesem
und jenem, doch immer endeten die geflüsterten
Heimlichkeiten bei Krieg und Revolution, und schließ-
lich schüttelte sie sich und sagte: «Ach du, mich friert,
komm, wir müssen heim.» Und ich war ärgerlich, daß
ich nun die ganze Zeit mit dem Mädchen von diesen
Dingen gesprochen hatte, aber es war diesmal so und
fast jedesmal.
Denn wir kamen nicht los von dem, was uns gepackt
hatte. Wir kamen nicht los davon in den dumpfen
Grogkneipen, nicht in den Tanzsälen, die Sonnabend
für Sonnabend sich füllten mit Mädchen und Burschen
und Soldaten, nicht in den behäbigen Straßen und
Lokalen von Stade, nicht in den ruhigen Höfen der
Marsch. Etwas trieb uns umher, und es war nicht die
Ungewißheit über das, was nun mit uns geschähe, es
war auch nicht die Sinnlosigkeit unseres Tuns; was es
war, wußten wir nicht. Wir zechten die Nächte
hindurch, und wenn wir nicht zechten, dann waren wir
in den Kammern der Mädchen, und wenn wir nicht dort
waren, dann verspielten wir unser Geld. Wir warteten
und wir wußten nicht recht, auf was. Wir behielten
unsere Waffen und wußten nicht, wann wir sie noch
einmal gebrauchten. Wir lebten ein abseitiges Leben,
wir stießen überall auf Mauern, wir gehörten
nirgendwo hin, wir waren Fremdlinge im Reich. Wir
spürten, daß man von uns Rechtfertigung fordere, aber
da war niemand, der uns da fragte, wo wir
Verantwortung trugen, und so verschlossen wir uns und
lebten schweigend, mit der ganzen Last des
Ungelösten, wissend, daß wir uns als Stein hingegeben
hatten an das Schicksal, aber der Stein war verworfen
worden.
Es ging die Rede, wir sollten bei Unruhen eingesetzt
werden. Aber für Ruhe und Ordnung wollten wir nicht
mehr kämpfen. Und bei Bromberg, auf der Fahrt von
Memel nach Stade, da waren wir aus dem Zuge
gesprungen, als wir erfuhren, diese Stadt solle polnisch
werden, und hatten Bromberg verteidigen wollen, oder
die Grenze, aber wir durften nicht und wir sollten nicht,
und wir wußten, man mißtraute uns, und das mit Recht.
Eines Tages kam eine Reichswehrkommission, Herren,
die erstaunt um sich schauten, als ihnen keine
Ehrenbezeugungen erwiesen wurden, und wir lachten,
als diese Herren verlangten, Befehl der Regierung, wir
sollten alle Warfen abliefern und alle Ausrüstungs-
gegenstände und die Wagen und Pferde. Da gingen wir
in der Nacht in die Ställe und holten die Gäule — denn
das waren unsere Gäule, wir hatten sie allesamt
mühsam genug erbeutet, da war kein einziges, das uns
die Regierung gab — und die Pferde verschwanden und
die Wagen auch und wurden nicht mehr gesehen. Der
Spieß zahlte am nächsten Tage jedem Manne einige
hundert Mark — von einem Gönner, wie er sagte. Die
Waffen aber waren ebenfalls plötzlich verschwunden,
nur wußten wir diesmal, wo sie geblieben waren. Und
als die Reichswehrkommission kam, konnte sie nichts
mitnehmen, außer einem Sack voll Hufnägel.
Als die Hamburger ins Baltikum zogen, waren sie
ein Bataillon von sechshundert Mann. Als sie in
Kehdingen einmarschierten, war der Bestand der
Kompanie ein Leutnant und vierundzwanzig Mann.
Von den vierundzwanzig Mann aber waren noch drei,
die seinerzeit von Weimar ins Baltikum gingen,
Schmitz, Hoffmann und ich. Und Leutnant Kay war
noch da; aber eines Tages, im Februar 1920, bat er uns
drei nach Stade, und als wir uns dort in einer Weinstube
trafen, da sagte er uns, daß er uns nun verlassen müsse.
Die Bürger von Stade tranken ihren Dämmerschoppen,
und sie sahen des öfteren mißbilligend nach unserem
Tisch. Denn wir tranken viel und Leutnant Kay hatte
von Natur eine gelle Stimme. «Wir stehen gelehnt am
Strome der Zeit», sagte er, «und wir sind die vom
Blutrausch erfaßte Militärkamarilla, die da Honig saugt
aus dem Mark der Knochen des Volkes und diesen
Honig dann dem Volke ums Maul schmiert.» Und
löffelte emsig in seinem Grog. «Spätere Geschlechter
werden uns fragen, was habt ihr gemacht? Und dann
werden wir antworten, wir haben Blut gerührt. Denn
die Seele ist der Dampf des Blutes, und das Blut kochte
und der Dampf stieg auf, und wir haben gerührt. Dann
werden die späteren Geschlechter sagen: das habt ihr
gut gemacht, einen rauf. Jene Bürger aber, die dort so
fett und behaglich sitzen — Prost! — die werden auch
gefragt werden, und sie werden antworten: wir haben
das Blut zu einer schönen, bekömmlichen Schwarz-
sauersuppe eingedickt, und das hat uns aber mal
geschmeckt. Und die späteren Geschlechter werden
sagen: Fünf, setzen! Und abermalen, am Tage des
Jüngsten Gerichts», und er trank und füllte sich neu und
zerdrückte sorgsam den Zucker im Glase, «da werden
wir unsen weitverstreuten Knochen sammeln und
vorzeigen zum Appell, und da wird es heißen — rechts
ran! Jene verstaubten Aktendeckel aber — Prost, Herr
Amtsrichter, auf Ihr Spezielles — werden sich
pflichtgetreu verneigen und werden sagen: Verzeihung,
Herr, wir können unsere Knochen nicht sammeln,
dieweilen wir nie welche hatten. Und es wird heißen:
Nach links, ihr Böcke, da wo ihr hingehört. Und ich
sage euch, es wird eine reinliche Scheidung sein.» Und
wir tranken und führten weise Gespräche, und die
Bürger sahen nun wütend zu uns herüber und waren
sehr wohlanständig. Leutnant Kay aber bekam es mit
dem heulenden Elend und fragte uns, ob er denn nun
wirklich gehen müsse und müsse Rechtsverdreher
werden, und ob denn nun wirklich alles aus sei? Ich
sagte ihm, es sei nicht aus, und blieb hartnäckig dabei,
aber Leutnant Kay wollte es nicht glauben und sagte, es
sei alles aus und er ginge jetzt büffeln und Examen
machen, und alles sei eine große Scheibe. Und dann
zerschmiß er einige Gläser und sagte: Sach-
beschädigung, und dann hieb er dem empörten
Apotheker unters Kinn und sagte Körperverletzung,
und dann ging er gegen den Stadtpolizisten an, den der
Wirt gerufen hatte, und sagte: Widerstand gegen die
Staatsgewalt. Wir konnten ihn nur mit Mühe zum Zuge
bringen, und er beugte sich weit aus dem Fenster und
winkte lange noch. Ich habe ihn nie wiedergesehn. Er
fiel einen Monat später am Rathaus zu Schöneberg.
Seine Leiche wurde nach den Papieren in der Tasche
identifiziert; denn sein Kopf war zu Brei getrampelt.
Einige Tage später ging auch Schmitz. Ich begleitete
ihn zum Bahnhof, und er sagte mir: «Dir kann ich's ja
sagen. Ich gehe ins Ruhrgebiet, zur Roten Armee. Die
soll da in Aufstellung begriffen sein.» Und ich nickte,
und er sagte: «Wir wollen da ein bißchen Blut rühren»,
und wir lachten beide in Erinnerung an Kay und dann
sagte ich: «Jedenfalls, auf Wiedersehen, und sollte es
auf den Barrikaden sein, dann können wir ja jetzt
ausmachen, wenn es denn nicht anders sein soll, dann
wollen wir uns in Anbetracht alter Freundschaft bloß
gegenseitig in die Fresse schlagen.» Aber Schmitz
lachte und sagte: «Nee, wennschon, dennschon. Da
kommt es nun wirklich drauf an, wer schneller
schießt!» So war Schmitz mir über, und ich konnte nur
noch bemerken, daß ich es verdammt fix mit dem
Schießen hätte. Wir schüttelten uns eifrig die Hände
und waren doch ein bißchen verlegen dabei, und dann
fuhr er ab.
Ich konnte nicht glauben, daß das Leben zwischen
Männern und Waffen nun zu Ende sei. Die Hamburger
klebten noch fest zusammen. Leutnant. Wuth war oft
unterwegs, und anfangs vermuteten wir, er habe ein
Mädchen in Hamburg, das er immer besuche; aber
eines Tages, zu Beginn des März, da holte er uns
zusammen, und wir erfuhren, warum er so oft im Lande
umherreise. Und er brachte einen frischen Wind mit
sich, reißende Wirbel, die unsere Stirnen streiften und
uns hastig atmen ließen. Es war, als ob er einen Spalt
öffnete, durch den mit einem Male ein Sonnenstrahl
griff und die Stäubchen tanzen ließ.
Im Reiche braute sich etwas zusammen. Da war ein
Heer, das entlassen werden mußte, den Artikeln des
Friedensvertrages gemäß, da war ein anderes,
heimliches Heer, das sich zu bilden begann.
Kommissionen waren im Lande, die herum-
schnüffelten, von dienernden Herren im Gehrock
umgeben. Da war Hunger und Streik und ein Grollen in
den Straßen, da fuhren in lackierten Autos Schieber mit
dicken Aktentaschen und quellendem Kinn, da suchten
Flüchtlinge aus allen geraubten Gebieten kärgliche
Unterkunft, und Ausländer kauften ganze Stadtviertel
auf. Unter der hauchdünnen Oberfläche, von arbeitsa-
men Bürgern jeglichen Formates emsig und ängstlich in
mühevoller und geschäftiger Betriebsamkeit gebildet,
wirbelte ein Hexentanz von Arbeitslosigkeit und
Börsengeschäften, von Hungerkrawallen und Fest-
bällen, von Massendemonstrationen und Regie-
rungskonferenzen, — und da war nichts, was sich dem
Taumel entziehen konnte, und viel, was in ihm
unterging. Über dem Lande raschelte Papier. Aufrufe
und Ultimaten, Verordnungen und Verbote,
Proklamationen und Proteste fielen wie Schneeflocken
über das Land, Energien vortäuschend, wo keine
Energien mehr waren, Hoffnungen weckend, auf die
Verzweiflung folgte. Über die abzuliefernden
Kohlenzüge tröstete amerikanischer Speck, über die
Brotkarten Aktphotographien. Es redeten viele vom
Wiederaufbau, aber das Material war schundig und der
Boden schwankte, und es redeten viele vom
Zusammenreißen, aber das Gerüst hielt bröckelnd
stand.
Die Grenzen aber waren flüssig. Heere bildeten die
Grenzen, Gewehre und Geschütze, doch wichen sie hier
und stießen dort vor, und die Landstriche flimmerten in
Unruhe, gefährliche Gebiete, in denen jeder fallende
Stein Katastrophen auslösen konnte, und es kam darauf
an, wer den Stein fallen ließ. Noch waren die Grenzen
flüssig, doch, wo begonnen wurde, sie sicher zu ziehen,
da schrie das Land, und die neuen Linien waren wie
Messerschnitte, die ihre blutigen Furchen zogen, und
ganze Provinzen fielen, wie Glieder, die ein
Betrunkener amputierte. Kleine versprengte Trupps
fochten an den Grenzen, standen unter den
Rauchfahnen des Kohlenreviers, verloren sich in den
Sümpfen und Heiden und Wäldern fast vergessener
Ebenen, würgten sich durch das Gewühl vom Aufstand
bedrohter Städte, hinter sich ein verzweifeltes, hilfloses
Land, das bereit war, sich aufzugeben, vor sich die
gierige Übermacht und in sich nur den wahnwitzigen
Willen zum Widerstand. Als aber diese Trupps
merkten, daß sie kein Hinterland hatten, keinen
zentralen Kraftkern, da wandten sie sich gegen Berlin.
Es kam die Brigade Ehrhardt aus Oberschlesien, es
lauerten die Freikorps Aulock und Schmidt, es kamen
die geächteten Baltikumer vom Osten und die Lützow
und Pfeffer aus dem Rheinland und dem Ruhrgebiet.
Und sie heischten Klarheit von Berlin, — Berlin aber
konnte keine Klarheit geben —, und sie standen finster
und entschlossen, das Gewehr in der Hand.
Die Entente beharrte auf ihrem Schein. Die alliierten
Kabinette sandten Ultimaten und drohten mit
Einmarsch. Die Reste des deutschen Heeres sollten
zerschlagen werden. Und die Reichsregierung gab
nach. Niemand kann sagen, ob sie es tat, weil sie,
bewußt einer Verantwortung, die freilich zu groß war
für sie, keinen anderen Weg sah und sehen konnte als
den des Nachgebens, oder weil ihr der Wind die
Witterung einer Gefahr zutrug, die von den gereizten
Soldaten ausging, oder weil sie, wenn je entschlossen,
dann jedenfalls, die Errungenschaften der von ihr selbst
urkundlich nicht gewollten Revolution gegen dunkel
gefühlte monarchistische Anwandlungen zu wahren. In
der Tat mochte sie hinter dem Anmarsch der drohenden
Truppen eine Parteiverschwörung ahnen, ein Komplott
der Reaktion, aber dies war es nicht, was die Soldaten
marschieren ließ, dies war es so wenig wie überhaupt
eine diskutierbare, organisierte politische Meinung und
Macht, dies war es nicht, es war im Urgrund einfach
die Verzweiflung, und die äußerte sich von jeher nicht
artikuliert. Doch die Männer, die da verzweifelten,
waren gewohnt, jedwedes gefährliche Ding anzu-
springen, im Angriff die beste Verteidigung zu sehen.
Und da ihnen die Macht sich weigerte, griffen sie zur
Macht.
Wir waren plötzlich durchströmt von einer
federnden, fassenden, springenden Kraft. Ganz leicht
und heiter und süß in der Verantwortung, so dünkte uns
das: Macht! Wir erfuhren an uns einen Grad der
Entschlossenheit, der uns die Dinge einfach erscheinen
ließ. Wir hatten es nicht gelernt, uns mit Problemen
herumzuschlagen. So also dachten wir, daß eben
gehandelt werden müsse, denn dann waren wir stärker
als die Dinge, und so waren die Dinge stärker als wir.
Der Entschluß rang sich durch achttausend Mann, mehr
waren es nicht, doch mochten die Achttausend
genügen, denn sie waren die einzigen, die bereit waren,
einen Entschluß bis zu den letzten Konsequenzen
durchzufechten. Es käme nur darauf an, daß er
durchgefochten wurde, dachten wir, und es würde wohl
einen bösen Kampf geben. Und weil wir wußten, daß es
einen bösen Kampf geben würde, bereiteten wir alles
auf den Kampf vor, nicht auf das, was nach ihm kam,
auf die Entscheidung, nicht auf das, was diese
Entscheidung erst wertvoll und gültig macht. Wir
glaubten, daß wir die Macht haben müßten, kein
anderer als wir, um Deutschlands willen. Denn wir
fühlten uns selber Deutschland. Wir fühlten uns so sehr
Deutschland, daß wir, wenn wir Idee sagten,
Deutschland meinten, daß wir, wenn wir Kampf sagten,
Einsatz, Leben, Opfer, Pflicht, daß wir dann immer
Deutschland meinten. Wir glaubten, daß wir ein
Anrecht hatten, dies zu tun. Die in Berlin, so dachten
wir, hatten ein Anrecht nicht. Denn was die in Berlin
taten, so dachten wir, das taten sie nicht unbedingt, es
war Deutschland ihnen nicht der zentrale Wert, wie
uns, da wir sagten, wir sind Deutschland. Es gab ja
wohl eine Verfassung und einen Vertrag mit dem
Westen.
Eben das hatte die, gegen die wir auszuziehen
entschlossen waren, dem zentralen Wert entfernt. Wenn
die Deutschland sagten, so dachten wir, dann meinten
sie Verfassung, und wenn sie Verfassung sagten, dann
meinten sie Friedensvertrag. Das Unbedingte, das war
es, was wir in Berlin vermißten, und darum dünkte uns
Macht so gnadenvoll und leicht. Hörten sie unser
drohendes Gemurr? Hörten sie es über dem Lesen und
Schreiben ihrer schalen Programme und Prokla-
mationen und Debatten und Noten und Zeitungsartikel?
Nein, dachten wir, sie hören es nicht, nun so werden sie
es zu spüren bekommen.
Der Hauptmann Berthold, Kommandeur des Bayern-
bataillons, Flieger mit 55 abgeschossenen Gegnern und
dem Orden Pour le mérite, ein Mann, der seinen
zerschossenen Körper nur noch mit Scharnieren und
Bandagen zusammenhielt, war der Motor, der uns in
diesen Tagen in Bewegung hielt. Er freilich hatte
seinen bayrischen Separathaß auf Berlin, doch war er
sicherlich von allen Offizieren der Baltikumer in
Kehdingen am wenigsten reaktionär.
Inzwischen begannen die Kompanien zu zerfasern.
Die Städte lockten und die Mädchen in den Städten.
Die Hamburger blieben intakt und die Bayern auch,
trotz ihrer Beschäftigungslosigkeit. Jedermann aber
wußte Bescheid; die Leute hielten ihre Offiziere an und
fragten drängend, wann es denn losginge; die Offiziere
lauerten den Kurieren auf, die von Berlin nach Stade
sausten, und die Kuriere berichteten von blödsinnigen
und trockenen Verhandlungen zwischen dem General
Lüttwitz und Noske, von Feilschen über Forderungen
und Versprechen und von wohlerworbenen Rechten
und ähnlichem verstaubtem Schmant, und sie
berichteten von dem üblen Gemenge dazwischen-
funkender Meinungen, Interessen und Ansprüche. Die
Sache sah nicht gut aus, und wir fürchteten, sie werde
mit einem Kompromiß enden, — dann aber waren wir
bereit, trotzdem zu marschieren, ohne Lüttwitz und
Kapp. Und vielleicht sogar — gegen sie.
Eben recht kam das scharfe und hochmütige
Auflösungsdekret. Nun hatten die Bürger und Bauern
keine Verpflichtung, uns weiter in Quartier zu behalten;
die Bauern wären wohl bereit gewesen, keinesfalls die
Bürger. Wir lassen uns nicht auflösen, sagten wir und
holten die Waffen aus den Verstecken und bestürmten
Wuth und Berthold; doch die waren im Augenblick
ratlos und warteten fiebernd auf Nachrichten aus
Berlin. In den Ortschaften standen die Soldaten in
dichten Gruppen herum, bewaffnet und noch
unschlüssig. Aber langsam setzten sich ohne Befehl die
Trupps in Bewegung, auf Stade zu. Als wir in der
kleinen, verdrießlichen Stadt ankamen, am 13. März
1920, des Nachmittags um 2 Uhr, da flatterten
Extrablätter, und Plakate wurden an die Wände geklebt.
In Berlin war in früher Morgenstunde die 2. Marine-
Brigade, Führer Korvettenkapitän Ehrhardt, ein-
marschiert und hatte das Regierungsviertel besetzt. Am
Brandenburger Tor begegnete den Soldaten der
Morgenspaziergänger Ludendorff. Die Reichsregierung
und die preußische flüchtete. General Lüttwitz und der
Generallandschaftsdirektor Kapp hatten die neue
Regierung gebildet und ein Plakat verbreiten lassen mit
der Überschrift: «Die Lüge vom monarchistischen
Putsch!»
Auf einmal war Stade angefüllt mit Truppen. Überall
marschierten Abteilungen; hochbepackt zogen einzelne
aufgelöste Gruppen durch die Straßen, Autos rasten,
Kuriere ritten nach den Ortschaften, an den
Straßenecken, vor den angeklatschten Plakaten und vor
dem Gebäude der Zeitung sammelten sich
dichtgedrängte Haufen Bürger, Soldaten, Arbeiter und
Bauern.
Hoffmann und ich buchstabierten über die Köpfe mit
den Armen erregt fuchtelnder Leute eine der
Bekanntmachungen. «Worte», sagte ein Arbeiter,
«Worte!» und spuckte höhnisch aus, verdrückte sich
aber, als er uns sah. Hoffmann las und sagte dann und
grinste mir von der Seite zu: «Worte!» und ich
beteuerte ihm, diesen Worten müßten wir eben einen
Sinn geben. Und wir gingen weiter und wunderten uns,
woher auf einmal die schwarz-weiß-roten Schleifchen
an die Knopflöcher der Bürger kamen und die vielen
Eisernen-Kreuz-Bändchen; diese Leute hatten uns doch
eben erst die Quartiere gekündigt?
Wuth kam angeprescht und sammelte seine
Kompanie; Berthold, berichtete er uns hastig, käme
andern Tages früh mit seinem Bataillon. Die
Hamburger Schupo habe sich neutral erklärt wie die
Berliner, — Gehaltsverdoppelung, dann würden sie
eben mitmachen —, wie die Reichswehr stünde, wüßte
er nicht, doch sei da wohl kein Zweifel, und dann:
«Herrschaften, mal herhören, die Bummelei hört nun
aber auf. Offiziere werden von jetzt an gegrüßt,
verstanden!» und in der Schule habe er für heute nacht
Quartier gemacht.
Nach erregter, durchwachter Nacht kam Berthold. Er
erklärte, er habe sich der neuen Regierung zur
Verfügung gestellt. Die Hamburger ordneten sich unter
seinen Befehl. Berthold wollte über Hamburg, Befehle
nicht abwartend, direkt nach Berlin. Doch mußte der
Rest der Waffen herbeigeschafft werden. Ich bekam
den Auftrag, aus sechs demolierten M. G.s, die noch
verstreut in den Ortschaften der Marsch lagen, so viel
brauchbare zusammenzubauen und zu übernehmen, als
ich immer fertigbringen konnte. Gleich ritt ich los. Am
frühen Nachmittag kam ich zurück mit vier
instandgesetzten Gewehren und dreitausend Schuß
gegürteter Munition. Das Bataillon stand auf dem
Markt, zum Abmarsch bereit.
Als wir aber zum Bahnhof kamen, da war alles tot
und leer. Ein Heizer kam aus einem der Schuppen, sah
uns, grinste, spie seinen Priem auf die Schienen, sagte:
«Generalstreik» und verschwand. Wir besetzten den
Bahnhof, Berthold suchte nach Sachverständigen, fand
zwei Leute in seinem Bataillon, die früher Eisenbahner
waren, und sandte sie zum Lokomotivheizhaus. Die
Maschine, die sich fand, mußte erst angeheizt werden,
dann begann ein wildes Rangieren mit viel Pfiff und
Geschrei und mit viel Gelächter über die Brücke
gebeugter streikender Eisenbahner.
Berthold ging nervös den Bahnsteig auf und ab. Er
trug den blauen Friedensüberrock, hatte den rasselnden
Säbel losgehakt und ließ ihn aufreizend schleifen. Wir
hatten die Gewehre zusammengesetzt und warteten.
Alles in allem waren wir etwa vierhundert Mann.
Ich hatte mir einen Stoß Zeitungen besorgt und saß
Wuth gegenüber im Wartesaal und las. Wer Kapp war,
wußte Wuth nicht, aber da waren noch mehr Namen,
Jagow und Wangenheim und Pfarrer Traub. Ein
bißchen viel alte Herren und alte Namen, meinte ich zu
Wuth. Lüttwitz ist auch alter General. Im Baltikum,
sagte ich, war zum Schluß der älteste Bischoff, ein
junger Major. Ich tippe, sagte ich zu Wuth, auf
Ehrhardt, auf niemanden sonst. Von Ehrhardt hatte ich
bis dahin kaum gehört, doch sollte er junger Kapitän
sein.
«Wurscht, ob alte Namen dabei», sagte Wuth, «dies
ist doch eine Sache der Jugend.» Und dachte nach und
sagte: «Wir müssen die Revolution rückgängig
machen.»
«Wir müssen die Revolution weiterführen!» sagte
ich und sah Wuth an und dachte, wie doch schon fünf
Jahre Altersunterschied einen Spalt treiben.
Da war der Zug fertig; wir bestiegen ihn polternd,
besetzten die Abteiltüren und die Maschine mit MGs
und fuhren dann singend in den dämmernden Abend
hinein.

Putsch
Niemals werde ich vergessen, wie die Schatten dieses
sinkenden Tages unserem Auszuge alle Schroffheit
nahmen. Die ganze Süßigkeit der Welt kam aus dem
runden und weichen Schimmer des Waldes, brach aus
den sich erschließenden Knospen der Birken, die sich
zitternd an den Bahndamm schmiegten. Der Boden
hielt den Atem an, die dunklen Lieder summten sich in
ihn hinein und schwebten lange noch in den
Gesträuchen, indes der Zug vorüberstampfte. Und alles
in der Welt war Schein, ja, selbst das Dunkel, das sich
nun samten senkte, war ein trügerischer Schleier, der
uns vom harten Tage schied, der die vielen unter uns
zum letzten Male träumen ließ von den
Versprechungen des Glücks. Das ließ uns schweigen,
legte eine bange Würde über uns, die Ahnung von der
zwingenden Gewalt, in deren offne Fänge wir
hineinmarschierten.
Der Zug hielt auf offner Strecke. Die schwarzen
Wände hochgekanteter Häuser standen rechts und links
des Bahndammes in drohender Steilheit. Leutnant
Wuth kam hastig am Zuge entlang geschritten und
sagte uns, wir könnten nicht weiterfahren, denn am
Bahnhof Harburg sei die Strecke gesperrt. Da schrillte
auch schon der Befehl: «Alles aussteigen.» Wir sollten
nur die Waffen mitnehmen, das Gepäck im Zuge
lassen. In Harburg sollte übernachtet werden, für den
nächsten Tag in der Frühe war die Weiterfahrt geplant,
oder, falls der Zug auch weiterhin nicht über Harburg
rollen könnte, der Fußmarsch über die Eibbrücke nach
Hamburg. Wir hoben vorsichtig die Gewehre aus den
Abteilen, kletterten fluchend und stolpernd über den
spitzen Schotter und über tückische Bahnschwellen und
kamen an eine Schranke, die eine breite Straße schloß.
Hier traten wir an.
Die dürftigen Laternen legten einen grünen, fahlen
Schein über die dunkle Masse, über der die Gewehre
ein wirres Verhau von Schatten bildeten. In den
Lichtkegel der Laternen traten plötzlich gespenstisch
einige Zivilisten, die erschreckt zusammenfuhren und
wie Schemen wieder im Dunkel verschwanden. Die
ganze, finstere Häuserfront der Straße zeigte nur ein
einziges viereckiges Licht. Es schwebte sehr hoch und
ganz unwirklich, beinahe losgelöst von jeglicher
Beziehung zur Erde, über unseren Häuptern.
Hauptmann Berthold kam säbelklirrend vorbei, ganz
allein, und ließ sich von der Finsternis wieder ver-
schlucken. Der Marsch begann.
Diese Stadt war feindlich. Wir hatten noch die
ruhigen Flächen der Marsch im Blick, den breiten
Spiegel des Stromes, die Geruhsamkeit einer bedächtig
hingebreiteten Landschaft. Hier stieß sich in engem
Räume Ding an Ding, schwarze Steinmassen bauten
sich aus dem Pflaster vor uns auf, Straßenschluchten
schnitten gefährliche Löcher in die Starre, an jeder
Ecke lauerte ein Geheimnis. Wir hatten nicht den
Eindruck, an Wohnungen der Lebenden vor-
beizumarschieren, wir glaubten Ruinen zu sehen,
riesige Schutthaufen mit kahlen, rauchgeschwärzten,
blicklosen Mauern, beengende Kälte von sich speiend,
getürmte Steine hinter einer splitternden Fassade von
Glas, Eisen und Verputz. Aus den Kellern schien es
garstig zu riechen, kein Stern drang durch den
gespaltenen Himmel dieser Straßen. Wir klirrten durch
einen Dunst von Rauch, Nebel und Gefahr, unsere
Schatten wuchsen im Bannkreis der spärlichen Lichter
zu scheußlichen Dämonen und schrumpften schüchtern
wieder zusammen, unsere Schritte polterten hohl, und
es war unmöglich, Gleichschritt zu halten.
Vorne bei den ersten Gruppen erhob sich ein dünner,
heiserer Gesang. Doch gleich verstummte er wieder,
denn ein Fenster schepperte auf, und dann hieb ein
grelles, tödliches Lachen in unsere Kolonne, ein
Lachen, wie ein höhnischer Schrei, wie ein spitzer,
vergifteter Pfeil, der durch die gefolterte Luft schwirrte
und unsichtbare Blechwände zerspellte. Das war eine
Frau, die so lachte, nein, das war die Stadt selbst oder
die Dämonin dieser Stadt. Dies Lachen mußte
erschlagen werden, es war unerträglich, es fernerhin zu
hören. Brüllen mußten wir, singen, daß uns die Hälse
schmerzten, und wir sangen, alle durcheinander, und
ich hatte die Hand am Koppel, die Faust umschloß eine
Handgranate, und ich ertappte mich bei dem fast
unbezähmbaren Wunsche, die Ladung Sprengstoff wild
in das offene Fenster zu schleudern. Doch nun sangen
sie im Takt, und wir bogen um eine Ecke, in eine
Straße, in der Bäume standen, eine breitere Straße, mit
Vorgärten und niedrigen Häusern.
Hier tauchten Menschen auf aus dem Dunkel. Aus
einer Gastwirtschaft drängten sich Leute ans Staket, ein
Gemurmel empfing uns, Fragen schnellten in unsere
Reihen. Ich ging neben Hoffmann, und ein Herr trat
plötzlich vor uns hin, daß wir fast erschraken, aber der
Herr hob die Hände und fragte mit einer Stimme, in der
das Alter, der Alkohol und die Freude bebten. «Jungs,
holt ihr unsern Kaiser wieder?» — Nun erschrak
Hoffmann wirklich und konnte erst antworten, als wir
schon zehn Schritte weiter waren. «N-nein, das nicht,
das nicht...» murmelte er und sah sich wie erwachend
um. Ich lachte leise, zwischen zerdrückten Flüchen,
aber es tat mir beinahe leid, daß wir nicht sagen
konnten: ja, wir holen den Kaiser wieder, denn dann
hätte unser Tun doch wenigstens einen Sinn gehabt —
hatte denn unser Marsch keinen Sinn? Auf welchen
Gedanken ertappte ich mich da? Das war diese ver-
fluchte Stadt, die dazu verführte, diese vermaledeite,
spritzige Dunkelheit, die uns die Sicherheit raubte. Was
gestern uns noch klar und zwingend schien, das
schwand hier in der satanischen Luft dieser Stadt, in
diesem vergiftenden Gemenge aus Furcht und Haß und
Schatten nahender Gefahr. Den Kaiser wiederholen?
Nein. Hier ging es doch um mehr als um den stillen
Mann in Doorn. Ich versuchte mir die Worte des Kapp-
Programmes zu verlebendigen. Doch hier, gerade hier
mußte ich die Spanne klaffen spüren. Begann nicht die
Verkündigung mit einer Abwehr? Das zeugte doch
wohl nicht von einem Glauben, der seiner Kraft gewiß.
Das reichte nicht für diesen Kampf, das verblaßte bei
der ersten Probe, und sei sie nur ein hastiges
Marschieren in den Rachen einer sprungbereiten Stadt.
Das war es nicht, was uns den Weg diktierte, nicht die
Worte des Programms. Der Sinn, der Sinn? Im Wagnis
lag der Sinn! Der Marsch ins Ungewisse war uns Sinn
genug; denn er entsprach den Forderungen unseres
Blutes. Wir wissen nicht, doch wie werden anders wir
denn jemals wissen? Daß wir nicht wußten, das bewies,
es könne unser Tun vielleicht Verbrechen sein, doch
niemals Reaktion. Gleich, wie die Würfel fielen, dachte
ich, sie sollen fallen, und wir, wir halten prüfend,
schüttelnd sie noch in der Hand. Der Gesang war
abgebrochen, Geflüster in den Reihen überall. Nicht
mich allein traf der Zweifel, packte aus den Sternen
fallend das Warum.
An einem freien Platze kam das Kommando: Halt!
Was suchen denn die bewaffneten Zivilisten da? Mit
weißen Armbinden? Bürgerwehr? Und die da mit roten
Armbinden? Arbeiterwehr? Wie wichtig die sich tun!
Und Berthold verhandelt mit denen? Ach so, wegen des
Quartiers! Abmarsch in die Heimfelder Mittelschule!
Das ist wohl das große Gebäude da drüben? Kinder,
was bin ich müde! Rechts schwenkt marsch. —
Wir packen die Gewehre in eine Ecke, stapeln die
Munition drumherum; ein Witzbold von den Bayern
malt noch hurtig ein paar Karikaturen von Berthold an
die Schultafel, dann hauen wir uns auf die harten,
schmalen Schulbänke, und ich ärgere mich im
Einschlafen, daß wir gerade ein Klassenzimmer der
ABC-Schützen erwischt haben; in den Bänken kann
man sich kaum rühren. —
Am Morgen stand Hoffmann mit fahlem,
unausgeschlafenem Gesicht vor mir und sagte: «Das
gefällt mir nicht!» — «Was denn?» — «Komm mal
mit», sagte Hoffmann und zerrte mich die Treppe hoch,
vorbei an offenen Schulzimmern, in denen sich die
erwachenden Soldaten rekelten. An einem Eckfenster
der Schule machte er halt. «Da vorne, siehst du, da
stehen Maschinengewehre im Hof! Da rechts zwischen
den Scheunen schleppen sie jetzt schon seit einer
halben Stunde Kästen vorbei, anscheinend Munition;
Frauen, Kinder, Männer! Auf den Straßen wimmelt es
nur so von bewaffneten Arbeitern. Aber das Schönste
ist doch noch dort hinten, auf dem freien Felde, sieh
einmal scharf hin, was ist das? Schützengräben,
regelrechte Schützengräben! Wir sind, schlicht und
einfach gesagt, eingeschlossen.» — «Das ist ja
sonderbar! Weiß Berthold? Und Wuth?» — «Wissen
beide! Da geht's schon seit einer halben Stunde mit
Deputationen und Kommissionen und Verhandlungen!
Arbeiterwehr und Bürgerwehr und Reichswehr...»
—«Was, Reichswehr liegt hier?» — «Ein
Pionierbataillon. Die 9. Pioniere liegen hier, das ist es
ja eben; die Schweinehunde haben heute früh ihre
Offiziere eingesperrt, die Magazine geöffnet und die
Waffen an die Arbeiter verteilt!» —
Das war ja lieblich. «Mensch, woher weißt du das
alles?» — «Ja, ich bin schon den ganzen Morgen auf
den Beinen, ich weiß nicht, ich hab so ein mulmiges
Gefühl im Balg. Mich trieb es dauernd rum. Die Stadt
ist schwer erregt.» Wir blickten aufmerksam zum
Fenster hinaus. Um die dünne Perlenkette der Posten
säumte sich ein breiter Strich von Menschen,
Unbewaffneten; die Bewaffneten standen dahinter und
verdrückten sich in die Straßenecken.
«Wir müssen zu Berthold», sagte ich. Auf den
Gängen standen überall die Soldaten herum und
starrten erstaunt durch die Fenster. «Ich weiß nicht, was
das mit mir ist», murmelte Hoffmann, «ich glaube, das
gibt ein Schlamassel, und ich... ich weiß nicht—»
—«Was ist dir, Mann, bist du krank? Hier nimm mal 'n
Schluck Wasser!» Der Becher an der Kette der Leitung
klirrte, ich drehte den Kran, es gurgelte und sprühte ein
bißchen, das Wasser lief nicht. «Das ist ja eine nette
Bescherung, holla, die Burschen haben das Wasser
abgestellt! Nun aber schnell zu Berthold.»
Wir rannten die Treppen hinunter. «Das kommt
davon», sagte ich grimmig. «Was denn?» fragte
Hoffmann. «Daß Flieger ein Infanteriebataillon im
Straßenkampf führen wollen! Zum Deubel, hier sitzen
wir ja schön in der Mausefalle, alle hübsch auf einem
Fleck. Statt sofort alle öffentlichen Gebäude zu
besetzen und sich eine starke, bewegliche Reserve zur
Hand zu behalten...» Ich öffnete die Tür und hörte
Berthold zu einigen Abgesandten der Bevölkerung
sagen: «Ja, meine Herren, Sie verlangen Abzug; ich
habe Ihnen doch schon gesagt, ich habe gar nicht die
Absicht, hier in Harburg zu bleiben, wir wollen weiter,
heute früh noch. Was sollen wir denn in Deibels
Namen in Harburg? Die Fahne? Die Fahne wird
eingezogen, sobald wir abmarschieren, nicht eher. Wir
marschieren bald ab, die Leute packen schon. Wenn Sie
uns nicht aufgehalten hätten, wären wir vielleicht schon
weg. Nun gehen Sie bitte und beruhigen Sie die
Bevölkerung, damit kein Malheur passiert. Aber nun
gehen Sie doch schon, meine Herren!»
«Sachen packen?» fragte ich zu Hoffmann hin. Der
zeigte stumm durchs Fenster. Der Platz war schwarz
von Menschen. Die Posten standen dicht umdrängt,
dort, wo die Hauptstraße auf den Platz mündete, war
die Postenlinie schon erheblich eingebeult. «So, mein
Lieber», sagte ich, «wir werden jetzt keine Sachen
packen, wir werden vielmehr die M. G.s in Stellung
bringen, das scheint mir wichtiger.» Hoffmann nickte,
und wir machten uns in Hast an die Arbeit. An jeder
Front des Hauses montierten wir ein Gewehr, eins kam
auf den Dachboden. Unten am Haupteingang hatten die
Bayern zwei leichte und ein schweres Gewehr, bauten
es aber noch nicht auf, sondern hielten es in einem
Klassenzimmer verborgen. Der Haupteingang mit dem
großen Treppenhaus ging nicht auf den Platz, sondern
auf eine breite Nebenstraße zu.
Im ersten Stockwerk standen die Hamburger am
Fenster. Ich reichte den Wasserkasten des M. G.s
herum, und wir füllten ihn unter schlechten Witzen auf
eine sehr natürliche Art. Wir hoben das MG auf die
Bänke, so daß wir es jeden Augenblick zum Schuß
fertig haben konnten. Unten war die Postenkette noch
weiter zurückgegangen. Alle Fenster des Platzes waren
nun offen, einzelne Köpfe zeigten sich verstohlen; die
Straßen, die auf den Platz mündeten, waren angefüllt
mit Menschen, soweit wir sehen konnten. Die Massen
quirlten erregt durcheinander, viele Frauen, auch
Kinder waren zu sehen. Wir hörten das unablässige
Gemurmel breit und betäubend anschwellen. Es
schienen vornehmlich Arbeiter zu sein, die da
bewaffnet standen.
Hoffmann und ich starrten auf den Platz. «Die sind ja
dämlich», sagte ich, «was wollen die eigentlich von
uns?» — «Ja», sagte Hoffmann und sah mich bleich an,
«ja, die Arbeiter sind dumm. Wir waren auch dumm,
als wir für Ruhe und Ordnung kämpften. Jetzt sind die
dumm.» Hinter uns stand Wuth. Er hatte sein Barett
auf. Also gab es heute noch Dunst. Hoffmann sagte
leise und eindringlich: «Jetzt wäre die Stunde für die
Arbeiter gekommen! Herr Leutnant, wenn man die
Macht erobern will, dann muß man auch wissen, wofür.
Wir wissen es nicht, ich glaube nicht, daß Kapp und die
Herren in Berlin wissen, wofür. Wenn jetzt die Arbeiter
schlau sind, dann gehen sie mit uns, dann schaffen wir
denen freien Raum, und die zeigen uns, wofür man
heute nur Macht haben kann und darf. Wenn die schlau
sind, Herr Leutnant, so schlau, wie wir verwegen, dann
hat die Geschichte Sinn!»
«Die sind nicht schlau», sagte Wuth. Und ich sagte:
«Vielleicht sind auch zu viel alte Herren bei unserer
Aktion!» —
Schreie und Pfiffe tönten auf dem Platz. Wir beugten
uns aus dem Fenster. Über die schmale Lichtung, die
der Postensaum bis jetzt noch wahren konnte, ging
Hauptmann Berthold, barhäuptig, sein schwarzer
Scheitel blinkte. Er ging auf die Menge zu, ging durch
die Postenkette, bahnte sich einen Weg durch die
drängenden Haufen und machte erst mitten zwischen
den Massen halt. Er hob die Hand. Mit einem Schlage
war alles ruhig. Er begann zu sprechen. Wir konnten
hier oben nicht verstehen, was er sagte. Wir sahen die
Massen eng zusammenrücken. Hinten stiegen sie auf
Treppen und Schwellen. Trupps mit roten Binden
boxten sich durch die Massen. Berthold sprach laut und
hallend. Man mußte ihn weit hören. Aber, was drängten
da hinten die Bewaffneten so? Was, zum Teufel, sollte
das bedeuten, daß plötzlich die Gewehre von den
Schultern flogen?
Die Bayern und die Hamburger nahmen vorsichtig
die Knarren hoch. Jetzt kreuzten sich über dem mit
wimmelnden Köpfen gefüllten Platz die magischen
Linien der Gewehre. Und Berthold sprach und sprach.
Eine Welle dumpfen Hasses stieg aus der Masse zu uns
herauf, der Haß zweier Rassen, der blinde Ekel
voreinander, der schmerzhafte Widerwille vor den
Gerüchen der anderen. Wir starrten mit spitzen Augen
auf die Masse, nicht auf die bewaffneten Gegner, die
doch viel gefährlicher waren. Allmählich legte sich ein
dunstiger, gelber Staub über das Meer von Köpfen da
drunten. Ich hatte eine sonderbare Art von Mitleid mit
Berthold, der dastand inmitten dieser blicklosen Menge
und gegen sie anredete. Der Staub stieg und schien die
züngelnden Linien der gerichteten, zielsuchenden
Gewehre zu weiten, schien an ihnen zu zerren, zu
reißen, daß sie sich in unerträglicher Spannung bogen.
Und da fiel der Schuß, auf den wir alle gewartet
hatten. Ein ganz schwacher Knall, nichts weiter, aber
das Geschoß fuhr durch jeden von uns, es platzte eine
Handvoll gepreßter Luft gegen die Mauern, es löste den
wirbelnden Aufschrei. Alle Gewehre flogen an die
Backe, und dann spritzte das Feuer aus jedem Winkel.
Hoffmann rannte aus dem Zimmer zu seinem
Gewehr. Ich kippte die Knarre auf das Fensterbrett und
schoß. Ich widerstand der wahnwitzigen Versuchung,
mitten in die flüchtende, kreischende Menge zu
knallen, der betäubende Lärm, das krachende Splittern,
das Beben der Mauern krallte mich zu steinerner Ruhe.
An der Ecke der Hauptstraße, in die sich die
todesängstlichen Massen wälzten, kauerte eine Gruppe
Rotbinden mit vorgeschobenem Gewehr, wartend, daß
sich die Menge verlaufe. Sie legte ich mit dem ersten
Strich meines knatternden Laufes um. Die Männer
lagen, präzis getroffen, in einer Reihe vor der Schwelle
eines Hauses, aus dessen offenen Fenstern das Feuer
uns entgegenpeitschte. Fenster für Fenster streute ich
ab, sah die Scheiben splittern, sah die puffenden
Wölkchen im Mörtel und Kalk der Wände steigen. Der
Platz war in wenigen rasenden Sekunden von Lebenden
geleert. Während der neue Gurt aus dem Kasten rollte,
beugte ich mich vor, erblickte dunkle, erbarmungs-
würdige Häufchen wie hingesät auf dem Platz, Männer,
Frauen, Kinder, die knisternde Luft täuschte gequälte
Bewegung der hingestreckten Leiber, die Geschosse
fuhren durch sie hindurch. Ein wahnsinniger Druck
stieg mir aus dem Magen zur Kehle, ich schrie heiser
irgendwas, es riß mich auf die Bank, mit halbem Leibe
aus dem Fenster ragend suchte ich neues Ziel. Scharf
links in einem düsteren Hofe, hinter geschwärzten
Mauern, richteten durcheinander hastende Männer ein
MG gegen uns. Mein Gewehr flog herum, es hing
schief, schwebend aus dem Fenster; ich stemmte das
Knie auf das Brett, klemmte mich mit tobenden Nerven
in den schwankenden Schlitten und schoß. Da zuckte
das Gewehr, bäumte sich plötzlich auf, daß ich fast aus
dem Fenster stürzte, glühheißes Wasser klatschte mir
sengend in die Augen, ins Gesicht. Ein zerreißender
Schlag schleuderte mich zurück, ich fiel, das Gewehr
auf mich zerrend, in den Klassenraum und stürzte
zwischen die Bänke. Mein rechter Arm tastete nach
einem Halt, griff in Blut und Staub; etwas stöhnte
schwer. Da lag der Hamburger, der mir den Gurt
gehalten, mit zermantschtem, zerfleischtem Gesicht,
rotüberströmt. Das Gewehr hatte fünf Schüsse im
Mantel, die tödliche Garbe riß vier Mann vom Leben
ins Nichts, und zauberte kreisrunde Löcher in die
Kreidekarikaturen Bertholds an der zersplitternden
Schultafel.
Das ganze Haus zitterte im rasenden Feuer, das
gegen die Wände prasselte. Glasscherben flogen mit
den Geschossen plärrend in den Raum, knallten
splitternd gegen den Boden und ritzten Tote und
Lebende. Die Luft explodierte vom harten, knallenden
Aufschlag jedes einzelnen der zerspellenden Bleikerne,
die Bilder an den Wänden tanzten gespenstisch und
polterten zerfetzt zu Boden. In den Wänden barst Stein
und Stahl, kleine zackige Klumpen schleudernd, der
Kalk rieselte, bestäubte den Raum, überzog Menschen,
Leichen und Dinge mit weißlichem Mehl, machte das
rinnende Blut zu klebrigem Brei. Holzsplitter flogen
zischend, es klaffte die Tür, die Tafel, das Pult, die
Wände zernarbten, bröckelten, unzählige kleine körnige
Trichter zauberte das Feuer an sie hin. Wir lagen dicht
an die Vorderwand gepreßt, unfähig, zu schießen, und
ließen den Regen über uns prasseln.
Die Tür sprang auf, Hoffmann trat ein, sank
blitzschnell zu Boden und kroch auf allen vieren zu mir
hin. Augenblicks donnerte eine Garbe in den Gang, und
die Tür sauste, von geheimnisvoller Hand bewegt,
bebend hin und her. Hoffmann starrte mich aus
bleichem, bestaubtem Gesicht an, wühlte in der Tasche
und zerrte einen kleinen Spiegel heraus, den er mir
vorhielt. Ich blickte hinein und sah mein Gesicht
blutbespritzt. Aus einer winzigen Wunde an der Schläfe
quoll es dunkel hervor. Ich wischte mit schmutzigem
Taschentuch, das ich bespie, und verschmierte mich
ganz. «Gewehr kaputt!» brüllte Hoffmann. Ich deutete
fragend auf mein MG, das umgestürzt am Boden lag.
Er zeigte nickend mit dem Daumen in die Richtung des
Raumes, aus dem er kam. Leutnant Wuth kam gebückt
in das Zimmer geflitzt. Sein Barett ließ Samtfetzen
flattern. Ein dünnes Rinnsal Blut floß von der Stirn ihm
zum Kinn. Sein Blick zerrte uns aus dem Raum. Wir
krochen am Boden bis zur Tür und witschten dann
einzeln durch in den Gang. Dort konnten wir, geschützt
durch die dicken Mauern, aufrecht stehen. «Das hat so
keinen Zweck», kreischte Wuth. «In jeden Raum soll
nur ein Mann, Schießscharten in die Mauern, beobach-
ten, alles andere in die Gänge. Munition sparen!» —
Die Gänge lagen voll von Toten und Verwundeten.
Wir schleiften auch die Toten unseres Raumes in den
Gang. Ein Hamburger hieb mit einer Eisenstange ein
Loch in die Mauer. Hoffmann und ich schleppten die
Munitionskästen heraus. Dann hetzten wir in
Hoffmanns Zimmer, auch dort die Munition zu bergen.
Im Treppenhaus hockten die Leute dichtgedrängt. In
der Nähe der Türen und Fenster aber war niemand, nur
Leichen lagen dort. Ich suchte jedes meiner Gewehre
auf, stolperte über die Toten und schnellte in die
Klassenräume. Aber kein Gewehr, nicht ein einziges
von uns, war noch intakt. Nur oben das leichte auf dem
Dachboden schoß noch unentwegt. Ich trug einige
Kästen Munition hinauf. Die Verwundeten riefen
stöhnend um Wasser. Der Doktor und die Sanitäter
verbanden blutige Glieder, rissen aus den Hemden der
Lebenden und Toten Stoffstreifen, denn das
Verbandzeug war aufgebraucht. Der Doktor hielt mich
an, fragend auf das Blut an meiner Stirn deutend, doch
ich winkte ihm ab.
Die Schule wurde von allen Seiten beschossen. Die
umliegenden Häuser und Höfe und Felder waren dicht
besetzt. Unablässig und gleichmäßig prasselte es gegen
unsere Mauern. Der Haß der ganzen Stadt sprühte
unerbittlich an den isolierten Stein. Aus einem
Schulzimmer kam einer der Hamburger und sagte:
«Nun schießen sie MG-Punktfeuer aus noch nicht
hundert Meter Entfernung! Jeden Stein schießen sie
einzeln heraus!» Der ganze Kasten bröckelte. Wenn
unten am Haupteingang einer der Bayern schoß, dann
hallte es donnernd im ganzen Hause, als krache eine
Mine hoch.
Die Bayern lagen schweigend auf den Steinfliesen
der Gänge und auf den Treppenabsätzen. Wenn ein
Schuß durch eine der Türen fuhr, rückten sie stumpf
etwas zusammen. In den Klassenräumen kauerten nur
noch die Beobachtungsposten. Hoffmann, Wuth und
ich legten uns zwischen die anderen. «Wo ist
Berthold?» fragte ich. «Am Haupttor», murmelte Wuth.
Ein junger bayrischer Offizier kam langsam über die
hingestreckten Körper geklettert, sah Wuth und sagte
mit brüchiger Stimme: «Die Zugwache muß doch
hören, was los ist? Es muß doch Nachricht nach Stade
gekommen sein? Balla und die anderen Bataillone
müssen doch wissen, daß wir im Druck sitzen?» —
Wuth schüttelte stumm den Kopf. Der Bayer sagte
eintönig: «Die Hamburger Schupo muß doch
eingreifen? Ich verstehe gar nicht, man kann uns doch
nicht einfach so sitzen lassen?» Wuth stand auf und
nahm den Offizier am Arm und führte ihn weg.
Einer kam und sagte: «In der Stadt wird
geschossen!» Sofort war die Hälfte der Leute auf den
Beinen. Die Klassenräume füllten sich wieder, alles
lauschte. «Das ist die Zugwache, die anrückt!» —
«Nein, das kommt von einer anderen Richtung, das
sind Hamburger!» Ich horchte angestrengt, aber ich
vernahm keine Abweichung von dem pausenlosen,
hämmernden Feuer, das gegen die Schule schlug. Einer
behauptete, ein Hurra gehört zu haben. Wuth kam und
sagte: «Herrschaften, nur nicht nervös werden. Alles in
die Gänge!» Er sah mich an und flüsterte: «Mann, der
Zug ist gestürmt, hinten im Felde schwenken sie unsere
Flagge.»
«Können das nicht die Unseren sein?»
«Nein, es sind Zivilisten!»
Das Feuer wurde stärker. Es schwoll und prasselte,
wie wenn ein Strich Hagel inmitten Platzregens auf
Wellblechdächer trommelt. Die Soldaten krochen eng
und enger aneinander. Nun aber sonderten sich wie
immer in den Augenblicken höchster Spannung die
einzelnen. Es hielt uns nicht im dicken Haufen. Wir
standen auf und strichen durch die beschossenen
Zimmer, huschten durch die Gänge, kletterten auf den
Dachboden, stöberten im Keller, schleppten Munition,
immer nur ein paar Mann, von hundert etwa drei bis
vier. Ich stolperte mit Hoffmann alle Eingänge ab. Da
war eine Tür, die auf den Schulhof führte, und diese
Tür lag im toten Winkel. Der Hof war mit einem
Bretterzaun umgeben. Konnte man nicht ungesehen bis
zu jenen Häusern vordringen? Die Häuser schienen
nicht besetzt zu sein. Von dort konnte man vielleicht
auf das freie Feld gelangen? Die Schützengräben lagen
weiter rechts. Ich winkte Hoffmann, er zeigte nach
oben; wir kletterten zum MG ins Dachgeschoß.
Ich ging in ein Klassenzimmer und warf mich vor die
Schießscharte. Der Bayer wälzte sich stumm zur Seite
und legte müde den Kopf auf die Arme. Das Feuer kam
von allen Seiten. Der Platz lag völlig tot. Ich konnte
nicht einen gegnerischen Schützen entdecken. «Durst»,
sagte der Bayer. Ich zuckte die Achseln. «Ihr Bayern
habt immer Durst.» — «Ach, quassel nicht.» — Ich
schlängelte mich wieder hinaus. Hoffmann sagte: «Die
Munition wird knapp.» Das Gewehr am Dach hatte
noch knapp einen Gurt. Ich stieg die Treppe hinunter.
Ein Treppenfenster war noch völlig heil. Es ging auf
den Hof zu und war durch den Seitenflügel des Hauses
gedeckt. Nur ein ganz schmaler Streifen Feldes war
durch dies Fenster einzusehen.
Wir traten, Hoffmann und ich, ans Fenster. Unten
riefen sie: «Munition!» — «Wir kommen gleich!»
schrie ich. Da krachte es ohrenbetäubend und splitterte,
zwei Arme griffen in die Luft, das Gewehr polterte die
Treppe hinunter. Etwas Schweres schlug mir an die
Brust, meine Knie knickten ein, ich fiel — und sah auf
meiner Brust den gurgelnden Kopf, die Wunde, den
höllischen Spalt aus Blut, Haar und Hirn — Hoffmann
— Hoffmann! —
Hoffmann war tot. Sanitä... ja, er war tot. Hoffmann
war tot. Ich legte ihn sanft hin. Dann hockte ich mich
auf den Treppenabsatz und sah stumpf in den Abgrund.
«Wann kommt die Munition?» hallte es von unten.
Wuth strich vorbei wie ein Gespenst, stutzte einen
Augenblick, sah und murmelte: «Fähnrich, die
Munition.» Jetzt krachte es. Das bayrische LMG am
Haupteingang donnerte einige unsagbar hallende
Schüsse. Ich torkelte hinunter. «Sie kommen, sie
kommen!» —
Wuth riß mich zu Boden, an das andere Gewehr. Ich
machte es mit flatternden Händen fertig zum Schuß.
Die Bayern der anderen Bedienung riefen zu uns
herüber, sie kämen aus den Häusern, steckten jetzt im
toten Winkel.
Wir lagen rechts und links des Haupteingangs, auf
dem ersten Treppenabsatz, etwa in Höhe des
Oberlichtes der Tür. Von den Häusern konnten wir nur
gerade noch das Erdgeschoß sehen, von der breiten
Straße nur einen kleinen Ausschnitt. Auf der Treppe
vor uns lag ein umgestürztes SMG total zerschossen,
daneben lagen zwei Tote, beide mit gräßlichen
Kopfschüssen, ähnlich wie Hoffmann — «Ruhe», sagte
Wuth, «Ruhe!» — Wir lagen bewegungslos hinterm
Gewehr.
Das andere Gewehr schoß. Von draußen klackte es
nur zaghaft gegen die Treppenstufen. Ich konnte nichts
sehen, öde lag der schmale Streif der Straße. Dann war
alles still. Nur auf dem Platz bruzzelte eintönig das
Feuer gegen das Haus.
Oben wurde nach Wuth gerufen. Er stand zögernd
auf, stieg dann eilig die Treppe hinan. Die Bayern, es
waren drei Mann, fragten, ob wir nichts von der
Zugwache gehört hätten, oder ob von Stade oder von
Hamburg Verstärkung oder Entsatz käme? Ich zuckte
die Achseln.
Wuth kam und sagte: «Befehl Hauptmann Berthold,
es soll nur im äußersten Notfall geschossen werden.»
Er hockte sich auf die Treppe und sah starr vor sich hin.
Fünf Stunden ging nun schon diese Schießerei. Ich
lugte angestrengt durch den schmalen Spalt der Tür. Da
wehte doch eben ein Schatten? Nein, drüben, in den
Häusern, in den Fenstern regte es sich. Ich fuhr mit der
Hand zum Gurt. «Nicht schießen», sagte Wuth. —
Ganz deutlich sehe ich einen Mann mit Gewehr am
Fenster. Er schaut angestrengt zu uns her. Ich richte
mein MG genau auf ihn ein. Nun scheint er mich zu
sehen — ja, er hebt das Gewehr, ja, er zielt...
blitzschnell werfe ich mich zur Seite, da knallt es auch
schon, spritzt und flackert und schlägt mir an den Arm.
Ich sehe erschrocken, wie der Ärmel sich blutig färbt.
«Verwundet?» fragt Wuth und ist im Augenblick neben
mir. «Achtung!» brülle ich und reiße ihn mit dem
linken Arm weg. — Wir untersuchen die Wunde. Ganz
harmlos, das Geschoß fuhr in den steinernen Pfeiler
neben mir, splitterte und jagte mir die kleinen
Sprengstücke in den rechten Unterarm. Es blutete stark.
«Rauf, verbinden!» befahl Wuth.
Der Doktor wand hastig einen Streifen Zeugs um den
Arm. Er kaute abgerissene Worte durch die Zähne und
sah sehr erschöpft aus. «Berthold will verhandeln,
verhandeln, wie soll das weitergehn...»
Ich ging zum toten Hoffmann. Er lag auf dem
Rücken, den Körper friedlich ausgestreckt. Wie,
bewegt er sich? Er röchelte doch eben? Hoffmann?
Nein, ach nein, das Blut tropfte ihm aus Stirn und Nase
in die Kehle und bahnte sich gurgelnd seinen Weg. So
schnarchte der Tote noch lange, und jedesmal fuhr ich
doch wieder zusammen. Ich konnte nicht so sitzen
bleiben, ich mußte weiter; ich streifte scheu an
Hoffmanns Hand und ging.
Berthold ließ eine Schultafel bemalen: «Waffenruhe!
Wir wollen verhandeln!» Die Tafel wurde an Stricke
gebunden und dann vorsichtig aus einem Fenster
gehängt. Sofort konzentrierte sich das Feuer auf diese
Stelle, binnen weniger Augenblicke war die Tafel
völlig zerfetzt. — Ich streife nun mit einem jungen
großen Bayern durch das Haus. Oben im Dachgeschoß
sitzen die zwei Mann des LMG schweigsam und ruhig
und lugen auf den Platz. Es sind zwei Bayern. Der eine
trägt Tressen, ist wohl Fahnenjunkerunteroffizier. Ich
spreche ihn an, er antwortet karg, ja, er ist Student. Ich
gehe mit meinem Begleiter wieder hinunter. Wir
kommen an einen Gang, in den durch die Türen immer
wieder Schüsse knallen. Der Bayer macht sich den
blödsinnigen Spaß, aufrecht vorbeizuspringen, und
lacht dabei und sieht sich triumphierend nach seinen
Kameraden um. Wieder springt er los, schnellt aber,
plötzlich eigentümlich gefedert, mitten im Sprung zur
Seite und fällt wie ein Klotz, das Gewehr fegt krachend
den Gang entlang. Tot.
Da ist der kleine, schmale, bayrische Offizier wieder.
«Es muß doch Entsatz kommen?» sagt er und sieht
mich beschwörend an. Ich will stumm an ihm vorbei,
da schreit es von der Treppe: «Offiziere zu Hauptmann
Berthold!» Wuth kommt mir entgegen. Ich gehe mit
ihm bis zu dem Raum, wo Berthold die Offiziere
versammelt. Es ist ein enges Zimmer, dicht am
Haupteingang. Wuth geht mit dem kleinen Bayer
hinein, ich sehe im Moment das Häufchen der
übriggebliebenen Offiziere dicht um den Hauptmann
stehen. Dann schließt sich die Tür. Aber ich kann nicht
hier draußen stehenbleiben, ich darf nicht und ich kann
nicht. Ich weiß mit entsetzlicher Bestimmtheit, daß da
drinnen um die Übergabe beraten wird. Und ich gebe
mir einen Ruck, öffne die Tür und trete ein.
«Herr Hauptmann!» sage ich heiser, die Worte
würgen sich trocken durch die Kehle, «Herr
Hauptmann», dann reiße ich die Knochen zusammen
und sage: «Bitte, eintreten zu dürfen.» Die Offiziere
fahren herum, Wuth tritt auf mich zu mit rascher
Bewegung, ich mache einen Schritt zur Seite und sehe
den Hauptmann an. Der sagt, den Kopf halb gewendet
und sehr bleich: «Ja, was ist?» Ich sage: «Herr
Hauptmann, ich weiß, wie es in Halle war, wir dürfen
die Übergabe nicht...» — ich beginne zu stammeln,
raffe mich zusammen und sage: «Wir können doch
noch einen Ausfall machen!» und fahre rasch fort:
«Hinten, die Tür zum Schulhof ist nicht eingesehen, ich
habe alles ausgekundschaftet, da ist ein Bretterzaun,
niemand sieht uns bis zu einer Häusergruppe an
offenem Feld. Die Gräben liegen weit rechts-ab, wir
müssen so durchstoßen können ins Freie.» Der
Hauptmann hebt die Hand: «Wieviel Munition haben
wir noch?» Wuth fährt hoch: «Alles in allem noch etwa
fünfhundert Schuß.» Der Hauptmann schweigt. Einige
Sekunden lang ist alles still, nur das Feuer draußen
plätschert eintönig weiter. Wuth sagt: «Das ist möglich,
Herr Hauptmann, nur müßte der Ausfall durch eine
Gruppe, die im Gebäude weiterschießt, verschleiert
werden.» Schnell sage ich: «Das geht, wir haben noch
drei intakte MGs, da bleiben wir einfach und feuern so
lange...» — «Und was geschieht mit diesen Leuten
dann?» fragt der Hauptmann und schnellt den Kopf zu
mir, wie ein Vogel. «Wir können», ich stottere, «Herr
Hauptmann, nur ein paar Mann, wir können vielleicht
uns doch noch durchschlagen nachher.» Der
Hauptmann sagt ruhig: «Nein. Meine Herren, wenn der
Ausfall beschlossen wird, dann werden die Offiziere
den Ausfall decken.» Die Offiziere fahren mit der Hand
an die Mütze. Ich sage: «Herr Hauptmann, ohne Sie
gehen die Leute nicht.» Berthold steht auf und sagt:
«Dann unterbleibt der Ausfall», überlegt zwei tödliche
Sekunden und spricht zögernd: «Wer von den Leuten
den Ausfall allein wagen will, kann es tun. — Es ist
gut, Sie können gehen.» Ich reiße mich hoch und
taumele zur Tür und weiß mit nagendem Schmerz, daß
dieser Entscheid Bertholds für ihn der einzig mögliche
ist. Ich finde mich bei der Leiche Hoffmanns wieder.
Es wird rasch dunkel.
Wir haben keine Munition, wir haben kein Wasser,
wir haben so viel Tote, daß wir die Lebenden zählen.
Wir haben auch keine Hoffnung mehr. Hoffmann
schnarcht periodisch. Es ist alles zu Ende. Was
kümmert es uns, daß draußen das Feuer nachläßt? Wuth
kommt und sagt, Berthold sei mit den Belagerern in
Verbindung getreten. Was kümmert's mich? Der kleine
bayrische Offizier tritt hinzu, er ist wie eine Klette, er
lauscht mit offenem Mund. Ich habe noch wenige Pa-
tronen in der Tasche. Drunten am Eingang wird es
lebhaft. Es ist schon sehr dunkel im Haus. Auf einmal
stehen zwei Arbeitersanitäter vor uns, ältere Leute,
fragen ruhig, wo Schwerverwundete seien. Einer mit
roter Armbinde kommt hinter ihnen und sagt mit halber
Stimme: «Freier Abzug ohne Waffen zugesichert. Bitte
legen Sie die Waffen ab.» Er sagt «bitte». Wuth lächelt
fatalistisch und schnallt das Koppel vom Mantel und
läßt es zu Boden fallen. Der kleine Bayer sagt aufgeregt
zu Wuth: «Aber das Koppel ist mein Privateigentum!»
— «Schnall's unter, du Rindvieh!» sagt Wuth grob und
dreht sich um. Das Schießen hat völlig aufgehört.
Wir drängen uns langsam auf den Haupteingang zu.
Schon sind einzelne Leute auf dem Platz, schon stehe
ich auf der Treppe und blicke über die schwarze,
bewegte Masse der Bewaffneten, da knallt es wieder
los. Die vorne spritzen erregt zurück, «Verrat» schreien
sie, «Verrat» und «Die Hunde schießen wieder ...» Ich
rase sofort hinauf auf das Dach zum letzten MG. Kaum
bin ich an der Tür, rattert es auch schon wieder los. Der
Kampf beginnt von neuem.
Es dauert nicht lang. Wir verknallen die letzten
Patronen. Zwei Rotbinden kommen mir auf dem Gang
entgegen und sagen: «Es hat doch keinen Zweck,
Leute, es hat doch keinen Zweck.» — «Ihr
Schweinehunde», sage ich, und fühle, wie ich bleich
werde. «So haltet ihr die Abmachung?» Die schweigen.
Schwere Dünste von Blut, Schweiß, Staub und
Pulver drücken auf die Lunge. Über die Leiche
Hoffmanns steigen mehrere Rotbinden mit
vorgehaltenem Gewehr. Ich habe eine irrsinnige Wut.
«Die Waffen weg!» rufen sie mir drohend zu. Ich
schmeiße das Gewehr beiseite und sage: «Hab sowieso
keine Patrone mehr.» Einer sagt, ein ganz junger Kerl:
«Ihr seid die Dummen, ihr seid ja bloß verführt. Aber
wenn wir einen von euren Offizieren erwischen!» Eben
biegt Wuth um die Ecke. Ich zerre ihn schleunigst
zurück. «Achselstücke runter!» zische ich ihm zu. Er
sieht mich entsetzt an, ich reiße ihm die Dinger kurzer-
hand vom Mantel. «Auf die Offiziere haben die's
abgesehn», sage ich; er zuckt die Achseln. Dann nimmt
er langsam und mit tödlich trauriger Miene das
Gefechtsbarett vom Kopf. Er hat einen einfachen
Mantel an. Ich stülpe ihm die blutige Mütze Hoffmanns
auf den Kopf. Er fährt zusammen und sagt: «Schnell zu
Berthold!»
Unten herrscht ein tolles Durcheinander im dunklen
Treppenhaus. Rotbinden, Zivilisten, die Unseren und
auch einige wenige Reichswehrleute wühlen sich
durcheinander. Da steht Berthold. Sein Pour le mérite
leuchtet für kurze Augenblicke. Nur wenige Leute
trennen uns noch von ihm. In diesem Moment reißt ein
Feldwebel der Reichswehrpioniere einen Mantel hoch,
schlingt ihn um Berthold und zischt: «Herr Hauptmann,
fliehen Sie, Sie sollen erschlagen werden!» Berthold
fährt herum, dann ruft er laut: «Nein, ich bleibe bei
meinen Leuten!»
Da stößt Wuth wie ein Keil durch den Haufen, er
schleudert die Leute beiseite, rennt den Hauptmann an,
boxt ihm die Faust ins Kreuz und zischt ingrimmig:
«Los, Berthold, verflucht nochmal, weg!» Der
Hauptmann stolpert vor, Wuth jagt hinter ihm drein,
treibt ihn mit raschen Stößen, auf einmal sehe ich beide
nicht mehr.
Ein riesiger Matrose reißt mir den Rock auf und
greift in die Brusttasche. «Ist das bei euch so Sitte?»
frage ich ihn. Er stößt mich schweigend zurück und
drängt sich weiter. Endlich stehe ich an der Tür. Die
Straße ist schwarz von Menschen. Eine schmale Gasse
öffnet sich, gesäumt von Bewaffneten, für die
Gefangenen. Jemand gibt mir einen Stoß, ich taumle
vor, sofort erhalte ich einen Schlag auf den Kopf. Ich
hebe den Arm, um das Gesicht zu schützen. Die
Schläge prasseln auf mich nieder, doch ich spüre kaum
etwas, ich sehe nur zu, daß ich weiterkomme. Hinten in
der Menge entsteht Tumult, ich bemerke, wie der
Haufen sich dorthin drängt, von mir abläßt. Ein großer
Bayer ist plötzlich neben mir, er flüstert stockend: «Da
erschlagen sie unsere Offiziere!»
Immer mehr Gefangene sammeln sich unter dem
wüsten Geschrei der Menge. Wir stehen apathisch da,
der Kopf ist mir benommen, ich sehe nur ein wirres,
unsagbar widerliches Durcheinander von verzerrten
Fratzen. Ich kann an nichts denken, ich will an nichts
denken. Einige Minuten bin ich völlig betäubt und
wünsche mir nur ein Glas Wasser. Da sehe ich Wuth,
einige Schritte vor mir. Er steht gleichgültig unter den
anderen. Gott sei Dank, denke ich und denke sofort,
ach, dann ist Berthold nicht durchgekommen! Aber von
Berthold ist nichts zu sehen.
Der Doktor drängt sich, begleitet von dem riesigen
Matrosen, zu uns durch, sieht mich, stürzt zitternd auf
mich zu: «Wo ist Leutnant Wuth? Wo ist Leutnant
Wuth! Ich muß ihm sagen, daß ich jetzt die Verletzten
verbinden soll. Wo ist denn Leutnant Wuth?» Der
Hamburger neben mir fährt auf: «Halt's Maul, du Idiot!
Hier sind keine Offiziere, du Idiot!» Jetzt begreift der
Doktor endlich, wird im Gesicht ganz grau, sein
Unterkiefer fällt weit herab. «Jaja, so, jaja, ja natürlich,
also, damit Sie Bescheid wissen, ich verbinde jetzt die
Verletzten. Ja...» Der Matrose zerrt ihn fort.
Wir marschieren los. Rechts und links gehen dicht
aufgeschlossen die Bewaffneten. Mein verletzter Arm
beginnt unerträglich zu schmerzen. Alle Nerven
konzentrieren sich auf den einen Punkt. Wir stolpern an
dem Zaun entlang, biegen dann rechts in eine stille
Straße ab. Die letzten Minuten fahlen Lichts vor dem
Einbruch der Nacht tauchen die Häuser in einen
verschwimmenden Dunst und lassen unseren Marsch
völlig unwirklich erscheinen.
«Halt!» schreit eine grelle Stimme. Die vordersten
Gruppen stoppen. Es läuft plötzlich wie ein elektrisches
Beben durch die Reihen, die Rotbinden wenden jäh uns
die entsicherten Gewehre zu. Ich renne erschreckt auf
meinen Vordermann auf. Was ist los, da muß Entsetz-
liches geschehen sein — «Da liegt euer Hauptmann,
seht ihn euch an —» —
Was, was schreit er da, der versoffene Hund? — Der
Hauptmann? Der Hauptmann? — —
«Der Hauptmann!» schreien die Bayern, das geht
wie ein Ruck durch die aufgestörte Kolonne; die
Bayern brüllen, drängen plötzlich vor.
Da liegt der Hauptmann. Da liegt Berthold. Im
Rinnstein, in der Gosse. Was haben sie mit dem
Hauptmann gemacht — er ist ja nackt, wo ist denn sein
Kopf? — Ein blutiger, zertretener, nackter Leib, die
Kehle durchgeschnitten, der Arm vom Rumpf gerissen,
der Körper voller roter Striemen, und Narbe an Narbe
an diesem Körper. Ist das wirklich Berthold? Da liegt
sein Kopf!
Der Hauptmann! Wir nehmen ihn mit! Wir nehmen
den Hauptmann mit. Die Bayern stöhnen auf. Wir
nehmen ihn mit! Und stoßen vor. Kolben fahren
dazwischen. Doch schon sind die ersten Gruppen
heran; einzelne Schüsse krachen los. Wir nehmen ihn
mit! Die Rotbinden jagen vor. Die Bayern hinten
drängen ruckartig nach. Die ersten Gruppen werden
von den folgenden Kameraden fortgerissen, die Masse
der Gefangenen wälzt sich weiter, um den Hauptmann
zu sehen, doch in diesen flirrenden Sekunden der
Verwirrung sind die Rotbinden schon verstärkt und
schieben sich dazwischen; Kolbenhiebe prasseln. Wir
sind vorbei. —
Ein tobender Troß von Menschen begleitet uns.
Weiber kreischen fäusteschüttelnd auf uns ein. Steine
fliegen, Töpfe, Stöcke. Die Wachleute werden
getroffen und rufen nun wütend zu den Weibern hin.
In eine Wirtschaft werden wir schnell hineingetrieben,
die Menge drängt nach, wird von den Bewaffneten
zurückgehalten. Wir kommen in einen mit Gasflammen
erleuchteten Tanzsaal. Verstaubter, billiger Vorstadt-
flitter baumelt an den Wänden, und unter der Decke
ziehen sich Papiergirlanden, an denen bunte Lampions
hängen. Wir müssen antreten. Die Wachleute komman-
dieren wild herum. Draußen grölt die Menge und
poltert gegen die Tür. Jetzt ist mir schon alles gleich.
Der Arm schmerzt rasend, ich drehe mich halb um. Wir
sind höchstens noch hundert Mann — von vierhundert
— und Wuth ist nicht dabei.
Einer von den Rotbinden spricht. Ich koche vor
dumpfer Wut. Was hat der Kerl für eine große
Schnauze! Das ist ein ziemlich junger Kerl noch,
schwarzes, langes, buschiges Haar, Hornbrille, sehr
rote Lippen, eine dunkle Russenbluse. Aha, den Typ
kennen wir. Er scheint der Anführer. Er geht unsere
Reihe entlang und fragt schallend: «Wo ist der Mann
mit der hellen Mütze, der gleich zu Anfang das
Maschinen-gewehr im ersten Stock bediente?» Er
bleibt vor mir stehen, stutzt, sieht wohl den besseren
Schnitt meines Rockes, meine Reithosen, sagt
herablassend: «Was ist denn das für einer. Bist du
Gemeiner?» Ich sehe rot. Ich sage: «Nicht so gemein
wie du!» und hebe versteckt das Bein, um es ihm sofort
in den Bauch zu treten, wenn er sich auch nur muckst.
Doch er geht schnell weiter. Meine helle Mütze, ach,
die liegt zerfetzt neben Hoffmann da droben in der
Schule.
Wir legen uns ermüdet auf den Boden. Vor der Tür
tobt die Menge. Von Zeit zu Zeit brüllt es los und
donnert an das Tor. Dann eilen die Wachleute wichtig
dahin. Endlich kommt die große Schnauze zu uns und
muß natürlich wieder eine Rede halten. Er fordert uns
auf, freiwillig eine Sammlung zu veranstalten für die
unglücklichen Hinterbliebenen unserer Opfer. Einige
wenige der Gefangenen greifen müde in die Tasche.
Aber jetzt gehe ich hoch. «Nicht einen Pfennig!»
knirsche ich den Gefangenen zu. «So wollen wir das
Dreckleben nun doch nicht erkaufen!» und fahre auf
die große Schnauze zu. «Aber, wenn Sie nichts stiften,
dann wird die Menge hier eindringen, Sie müssen die
erregten Massen besänftigen!» sagt der Kerl
fassungslos. Ich schnappe mir einen Stuhl und setze
ihm Wort für Wort dicht vor das zurückfahrende
Gesicht: «Wenn die Menge hier reinkommt, dann
wehren wir uns mit Stuhlbeinen, Fäusten und Zähnen,
und dann könnt ihr zählen, wer von euch noch
übrigbleibt.» Die Großschnauze weicht zurück. Ich
teile Posten von uns ein, die einige Stunden wachen
müssen, damit wir nicht von der vielleicht
eindringenden Menge überrascht werden. Dann hauen
wir uns auf die Dielen. Ich kann lange nicht
einschlafen, der verletzte Arm ist dick geschwollen, das
Blut hat den Verband durch-tränkt und schwärzlich
verkrustet. Endlich falle ich in eine Art wacher
Betäubung. —
Am frühen Morgen wurde plötzlich die Türe
aufgerissen, das Gejohle der schon wieder oder immer
noch vor dem Hause versammelten Menge dröhnte
aufreizend zu uns herein, und dann kam eilig eine
Gruppe Gefangener von draußen, unter den ersten auch
Wuth. Viele bluteten am Kopf, fast alle hatten Striemen
im Gesicht und zerfetzte Uniformen. Die Tür wurde
eilends geschlossen, wir mußten antreten. Ich schob
mich an Wuth heran und stellte mich neben ihn. Er war
sehr bleich, sein Gesicht schien erschreckend
abgemagert zu sein, sein Eberzahn stach weiß und
blank in das zerzauste Bärtchen. Die Soldaten,
vornehmlich die Hamburger, standen dichtgedrängt um
ihn herum. Sie kannten ihn alle, — als er in den Saal
trat, ging es wie ein Hauch der Erleichterung durch die
Gefangenen. Fast alle blickten ihn jetzt verstohlen an.
Die verdammte Großschnauze in der Russenbluse
sprach mit einem riesenhaften, bewaffneten, mit einer
dicken roten Armbinde gezierten Arbeiter. Dessen
Rock stand offen, die nackte braune Brust war mit
blauen und roten Tätowierungen bedeckt. Er hatte ei-
nen für seinen Körper kleinen, Vierkanten Kopf, aus
dem über einer starken und kühnen Nase die Augen
merkwürdig rötlich und fast ohne Wimpern die
Gefangenen musterten. Draußen schwoll das Toben der
Masse. Wir hörten die schrillen Schreie der Weiber,
Steine polterten gegen die Tür. Der Kerl in der
Russenbluse wandte sich nun zu uns und sagte: «Wir
wissen, daß noch Offiziere unter euch sind. Ihr habt
euch verführen lassen durch diese Schweine. Es soll
euch nichts geschehen, wenn ihr uns jetzt sagt, wer von
den Offizieren noch unter euch ist. Wer die Offiziere
nennt, dem passiert nichts; er wird sofort unter
sicherem Schutz nach Hamburg gebracht und
freigelassen. Wenn ihr die Offiziere nicht angebt, na,
dann werdet ihr ja sehen, was geschieht. Na, wird's
bald?»
Ich packte mit der linken Hand sofort Wuths Arm
und drückte ihn fest zusammen. Ich spürte, wie seine
Muskeln sich strafften, wie seine Knochen ein Beben
durchlief. Ich preßte eisern sein Handgelenk und zerrte
mit ganzer Kraft nach unten. Der ganze, starke, zähe
Mann strebte nach vorn. Wollte er sich durch das erste
Glied drängen, sich melden, um unsertwillen?
Niemals? Niemals darf das geschehen. Unsere beiden
Fäuste rangen miteinander. Ich sah ihm wütend ins Ge-
sicht; das war unheimlich gespannt, die Haut straffte
sich über die mageren Backenmuskeln, doch hatte er
die Zähne fest zusammengebissen. «Schnauze halten,
Wuth!» flüsterte ich. Die anderen Gefangenen standen
unbeweglich und stumm. Am rechten Flügel entstand
Unruhe. Ich sah erregt hin. Aber Tietje von den
Hamburgern hatte nur spielerisch und anscheinend
völlig unbeteiligt nach einer Stuhllehne gegriffen.
«Na, denn nicht», sagte die Russenbluse. Der
Riesenhafte drehte sich kurz um, hieb mit dem Kolben
rasselnd auf den Boden und stampfte hinaus. Die
Russenbluse sagte: «Ihr werdet jetzt abtransportiert.
Aber wir wollen noch eine Weile warten, es sind noch
nicht genug Leute draußen, die auf euch lauern.» Er
grinste und verkrümelte sich zum Eingang.
Sofort war um Wuth ein dicker Klumpen Ge-
fangener. Tietje sagte: «Für was halten uns die Brüder
eigentlich?» und schwenkte seinen Stuhl. Wuth zischte
durch die Zähne: «Herrschaften, wenn die draußen
prügeln, dann wiederprügeln. Keinen Hieb gefallen
lassen. Immer hinter oder neben dem Wachmann
gehen, damit der auch sein Teil abkriegt von seinen
eignen Leuten! Immer dicht zusammenbleiben. Einer
dem anderen beistehen. Die größten in die erste und in
die letzte Gruppe, die Verwundeten in die Mitte. Seht
zu, daß ihr die Stöcke ergattert, aber nicht aus der
Reihe springen. Auf mich achten, ich gehe in der ersten
Gruppe.» Nach einer kurzen Pause fragte er: «Wieviel
Hamburger sind eigentlich noch da?» Einer sagte:
«Zwölf.» Wir schwiegen.
Der Tätowierte kam herein, brüllte: «Antreten!» und
riß dann die Tür auf. Einige Sekunden lang hörte man
nur das Trappen unserer eiligen Schritte. Wuth ging als
erster ins Freie. Ich folgte dicht hinter ihm.
Wir rannten mit vorgeneigtem Kopf, die Arme
abwehrbereit erhoben, wie weggeschleudert in den
dumpfen Haufen. Sofort spaltete sich die Menge; es
war, wie wenn ein Keil in sie hineingetrieben wäre;
eine schmale Gasse riß sich in den Kern der Menge, wir
stießen in sie hinein. Wir wußten nicht, wohin sich
unser Weg ziehen sollte; wir wußten nicht, ob wir
ausgeliefert waren an die Masse, ob eine sichre Zu-
flucht winkte irgendwo; wir wußten nur, daß wir jetzt
uns zu wehren hatten; wir wußten, daß wir jetzt nur
durch unerbittlichen, keuchenden, letzten Ansprang
alles setzen mußten an das bißchen Lebensmut, das uns
die Welt erträglich machte. Ein Geflirre von
stolpernden Füßen war vor meinen Augen, und die
linke Faust stieß in ein Gesicht und fühlte, wie etwas
Knorpeliges brach. Ein schwerer Schlag sauste auf
meinen Kopf, vom Arm halb aufgefangen. Ein
manchestersamt-bespannter Bauch sprang ins Blickfeld
und beulte sich nach zielgenauem Stoß. Es fiel ein
steifer, schwarzer Hut; mein Fuß zerstampfte ihn, war-
um gab mir das solche wilde Freude? Was dröhnt mir
auf den Kopf? Was hämmert mir die Schulter wund?
Da ist ein Schienbein, hin den Nagelschuh! Ein Hieb
zuckt schmerzend auf den rechten Arm. Ein ungleich
Spiel, von denen kriegt nur jeder einen Schlag — doch
wieviel Schläge treffen uns?
Der Kerl, der Tätowierte, trabt jetzt neben mir. Er hat
die Knarre halb erhoben, doch sieht er unempfindlich
gradeaus und läßt die Schläge auf uns prasseln. Ich
sehe, wie ein Kuli einen langen Schlauch weit
ausholend niedersausen läßt, sofort spring ich zurück,
der Schlauch klatscht nieder, schlängelt pfeifend um
den tätowierten Wachmann. Der brüllt auf und fährt
herum und haut dem Kuli in die Fresse. Nun kommt er
doch in Fahrt, der Wachmann! Wuth boxt gekrümmt,
drei Schritte vor mir. Weiber dringen auf ihn ein. Die
Weiber, breit, in blauem Zeuge, mit nassen Schürzen
und zerschlampten Röcken, fauchrot die faltigen
Gesichter unter wirrzerzaustem Haar, mit Stöcken,
Steinen, Schläuchen und Geschirren, sie hämmern auf
uns los. Sie spucken, keifen, kreischen, — wir sind
heran, nun durch. Es röchelt neben mir im schnellen
Lauf ein kleiner Bayer, älter schon, und wie wir an den
Weibern sind, da hör ich eine kreischen: «Was schlagt
ihr denn die jungen, die alten Böcke müßt ihr prügeln!»
Der arme kleine Bayer kriegt sein Teil.
Da ist einer an der engen Gasse, ein junger, starker
Kerl, der ist mit großem Ernste bei der Arbeit. Er sucht
sich seine Leute aus, blickt prüfend und bedächtig erst
die Reihe längs, bevor er schlägt. Dann aber haut er
voller Wucht dem Auserwählten von unten rauf mit
ganzer Faust vom Kinn her an die Nase, daß die rote
Brühe spritzt. Er kommt an Wuth; das war verkehrt,
denn Wuth duckt blitzschnell sich, der Bursche taumelt,
und Wuth rennt ihm das Knie, die Wucht des ganzen
Körpers hintersetzend, in den unbewehrten Unterleib.
Der knickt zusammen, fällt, doch Wuth fällt mit ihm,
beide rollen. Ich bin heran und schnappe Wuth am
Kragen und zerr ihn hoch, wir rasen weiter. Jetzt spüre
ich den Schmerz des Armes nicht, jetzt schlag ich auch,
wo niemand mich bedroht. Die Bewaffneten laufen
neben uns. Es krachen Schüsse hinten, Schreie
dröhnen, es kommt Bewegung in die Massen. Doch aus
einer Seitenstraße bricht ein neuer Trupp, vornehmlich
Weiber. Die Weiber sind die schlimmsten. Männer
prügeln, Weiber spucken auch und keifen, und man
kann so ohne weiteres nicht die Faust in ihre Fratzen
pflanzen. Da steht, Idylle im Gewirr, ein altes Weib
und stützt sich auf den Schirm. Die guten alten Augen,
ach, unter jettbesticktem Häubchen! Kaum stehen kann
sie, ernsthaft blickt sie uns entgegen und hebt — und
hebt mit zitterigem Arm den alten Schirm, und schlägt
mich, schlägt mich! Heiland!
Schon wieder Schüsse. Wir laufen jetzt gehetzt,
gepeitscht von Schrei und Schlag. Die Massen rennen
hinter uns. Es baut sich eine hohe, rote Mauer vor. Ein
Tor fliegt auf. Wir flitzen durch. Wir sind jetzt in der
Pionierkaserne. Die Rotbinden sammeln sich am Tor
und wehren den Nachdrängenden den Eingang. Wir
stehen keuchend, blutend und zerschlagen auf dem Hof.
Die Reichswehrleute weisen uns zurecht und drängen
uns in das Quartier. Die Reithalle, der ganze Boden
dicht bedeckt mit grauem Erbsstroh, nimmt uns auf.
Es wurden sieben Mann von uns bei diesem
Sturmlauf von der Masse erschossen und erschlagen.
Wuth knirschte, auf den Boden der Halle hingeworfen:
«Das nächste Mal, bei Gott, da kommen wir mit
Fünfzehner-Langrohr über diese Stadt.» Doch Tietje,
unverbesserlich, behauptet: «Prügeln ist immer fein,
auch wenn man selber Hiebe kriegt.» —
Drei Tage lagen wir in der Reithalle. Wir lagen im
knisternden, staubigen Stroh, gereizt, müde, verbraucht,
voll einer dumpfen, fressenden Wut. Einer der Bayern
erzählte Tag für Tag eintönig, wie Berthold starb. Der
Mann war bis zuletzt bei dem Hauptmann gewesen.
Berthold war im Schutze des Mantels bis zu jener
Seitenstraße gelangt. Da kamen ihm Matrosen und
Arbeiter entgegen. Einer von denen erkannte ihn am
Pour le mérite. Sie fielen über ihn her, er wehrte sich,
er schlug um sich, ein Kolbenhieb auf seinen bloßen
Kopf ließ ihn umsinken. Er zog mühsam den Säbel, den
er noch umgeschnallt trug, doch wurde der ihm
entrissen. Er, halben Leibes an einen Laternenpfahl
gelehnt, kämpfte um den Orden. Man riß ihn herunter,
sie trampelten ihm auf die Beine, sie zerrten ihm den
Rock ab, sie brachen ihm den mehrfach zerschossenen
Arm. Berthold entriß einem Matrosen die Pistole, schoß
ihn nieder, sie stürzten sich auf ihn, ein Messer gleißte,
zerschnitt ihm die Kehle. Langsam verröchelte er,
einsam, kämpfend, in den Kot getrampelt. Seine
Mörder teilten sein Geld. Der Bayer lag in einem
Hausflur, verwundet, bewacht.
Einer von der Zugwache erzählte, wie sie
angegriffen und aufgerieben wurden, nur ganz wenige
lebten noch. Das Gepäck wurde geraubt.
Von den Reichswehrpionieren erzählte einer von den
gewaltigen Verlusten, die wir den Harburgern zugefügt.
Wir sagten diesem Soldaten, was wir von seiner
trefflichen Formation dächten, und er zog sich gekränkt
zurück. Aber der Feldwebel, der unsere Bewachung
leitete, berichtete schadenfroh, daß der Berliner Putsch
zusammengebrochen sei. Wir hörten ihm erstaunt zu.
Dann sagte Tietje: «Ja, richtig, wir wollten ja eigentlich
einen Putsch machen. Na, Putsch ist futsch und Kapp
ist hin.»
Und wir ließen diesen Heldenjüngling stehen und
hauten uns ins Stroh.
Was mit uns geschehen sollte, wußte niemand. Wir
saßen da und warteten und hatten viel Zeit zum
Nachdenken. Die Schwester des Hauptmanns kam und
brachte uns Zigaretten. Die Bayern standen stumm und
mit zuckenden Gesichtern um sie herum. Sie war still
und tapfer. An dem Abend dieses Besuches sprach in
der Reithalle keiner ein Wort.
Am dritten Abend sagte ich zu Wuth: «Je mehr ich
es mir überlege, desto sicherer weiß ich, daß unser
Kampf nicht zu Ende ist. Aber ich weiß auch, daß wir
bislang notwendig scheitern mußten. Wir werden
niemals wieder als Truppe eingesetzt werden. Jetzt muß
jeder einzelne seinen eigenen Kampf angehn. Was
wirst du tun, Wuth?»
Er lag und blickte, die Arme hinterm Kopf
verschränkt, an die Decke der Halle und sagte:
«Siedeln! Ja, siedeln. Wir werden, meine letzten zehn
Mann und ich, die letzten Hamburger, wir werden uns
zusammentun und siedeln. Bauer werden. Irgendwo,
verdammt, im Lokstedter Lager oder in der Lüneburger
Heide oder im Bremer Königsmoor, da werden wir
siedeln, Häuser baun, Bauern und Soldaten, das ist eine
gesunde Mischung.»
Ich sagte: «Ja, das ist ein Stück Arbeit. Aber keine
Arbeit für mich. Denn, siehst du, das ist wie eine
Krankheit. Ich glaube, ich werde niemals zur Ruhe
kommen. Was wir bis jetzt taten, das war bei Gott nicht
umsonst. Blut fließt nie umsonst, es meldet immer
seine Ansprüche an, die doch einmal erfüllt werden.
Aber für diesmal und jetzt, da scheint mir die Spanne
zwischen Aufwand und Erfolg zu groß. Das kommt,
glaube ich, daher, weil wir Abseitige waren im Grunde
— versteh mich recht, trotzdem wir immer im
Brennpunkte standen, wir kämpften doch auf einer
ganz anderen Ebene, als sie sich für das Reich gültig
erwies. Ich meine, was sich da nun formte, was nun
sogar vor unserem Putsch zusammenhielt, das entstand
anders, als wir dachten.»
Wuth setzte sich aufrecht hin und sah mich an. Ich
fuhr eifrig fort: «Ich meine, das entstand im Grunde
nicht durch Bewegung, sondern durch Gewicht. Das,
was am passivsten war, das hat sich durchgesetzt,
einfach, weil die aktiven Teile sich gegenseitig
auffraßen. Es ist ja doch nichts Neues entstanden durch
die Novemberrevolte. Wir haben keine Umschichtung
erlebt, geschweige denn eine Revolution. Alle die alten
Werte sind wieder da, sie sind nie verschwunden, aber
jetzt zeigen sie sich ohne die glänzende Bemalung, die
ihnen vor dem Kriege die Gültigkeit verlieh. Kirche,
Schule, Markt, Gesellschaft, es ist noch alles da, genau
so, wie es früher war. Nur das Heer ist futsch, und das
war noch das Beste an der ganzen Vorkriegsepoche.
Und die Fürsten — na ja. Sieh dir mal die Namen und
die Gesichter der Parlamentarier und Minister an. Wir
haben den Krieg verloren unter der alten Schicht. Da
die neue die gleiche ist wie die alte, von dem gleichen
Wortschatz lebt, — sie haben nur ein bißchen
«Verwechselt das Bäumchen» gespielt — den gleichen
Bedingungen und Verpflichtungen unterliegt, so kann
diese Schicht auch nicht den Verlust des Krieges
wettmachen, scheint mir. Ich hab Gründe zur
Annahme, daß sie das nicht einmal will. Es ist schon
richtig, was die Kommunisten sagen, nämlich, daß
dieselbe Bourgeoisie heute öffentlich herrscht, die bis
zum November 18 unter der Oberfläche herrschte. Also
haben wir keine Revolution gehabt. Also können wir
gegen die Revolution nicht angehn. Und sind wir
zufrieden mit dem, was heute ist? Gibt es auch nur
einen Ton, einen einzigen armseligen Ton dieses
Konzertes aus Verordnungen und Reden und
Programmen und Akten- und Zeitungspapier, der in uns
anklingt? Gibt es nur einen Namen, zu dem wir
Vertrauen haben? Gibt es nur ein Wort, dem wir
glauben können? Ist uns nicht alles in Bruch gegangen
durch den Krieg erst? Schön, es war nicht schade drum,
scheint mir, um das, was da in Bruch gegangen ist; aber
nachher, bot sich auch nur ein einziges Ziel in dem
Gemenge von angeblichen Erfordernissen und
Aufgaben? Ist nicht alles, was wir wollten, verhöhnt
und belächelt worden? Also, wenn dies so war, wenn
dies so ist, und wir erahnen, daß noch etwas auf uns
wartet, daß wir zu anderem berufen sind, als diesen
Dreh mitzumachen, was dann? Wenn die Revolution
nicht stattgefunden hat, was dann? Dann müssen wir
eben die Revolution machen.»
Jetzt lächelte Wuth. Ich schlug die Augen nieder und
sah angestrengt auf die Fußspitzen. Ich sagte: «Ich habe
die Auffassung, daß die Revolution nachgeholt werden
muß. Die parlamentarische Demokratie — na, schön.
Das war mal 1848 modern. Da hatte es vielleicht seinen
großen Sinn. Obgleich wir im Kadettenhaus dies Jahr
im Geschichtsunterricht nur spärlich durchzupauken
brauchten — denn was braucht ein königlich
preußischer Kadett vom Jahre 1848 viel zu wissen? —,
bin ich doch in einer Atmosphäre aufgewachsen, die
noch von diesem Jahre gesättigt war. Die Paulskirche in
Frankfurt — also da gibt's nichts. Das waren sehr
ehrliche Leute. Damals hatte das wohl viel Sinn. Und
der Marxismus? Da ist ein festes und solides
Programm, an das man wohl glauben mag, das man
wohl zur Bibel der Revolution machen kann. Aber die
Revolution ist doch nun mal nicht gekommen! Das
Ergebnis von 1918, das ist ein Gemix von 48, von
Wilhelminismus und Marx. Und so sieht es auch aus.
Alle Restbestände des Lagers sind mit hinein-
genommen in die neue Firma. Und wir stehen davor.
Und haben für Ruhe und Ordnung gekämpft. Ja.»
«Nun bin ich doch verdammt neugierig, worauf
dieser Jüngling eigentlich hinauswill!» sagte Wuth.
Jetzt hörten alle Hamburger zu. Ich sagte: «Vielleicht
kann ich mich nicht so ausquetschen, wie ich möchte.
Ich bin kein Volksredner. Ach nein. Aber ich meine,
wir müssen Revolution machen. Sozusagen 'ne
nationale Revolution. Na ja. Und ich meine, wir haben
schon angefangen damit. Denn: wehren wir uns nicht
alle, wenn gesagt wird, unser Putsch sei reaktionär? Ich
meine, alles, was wir bis jetzt taten, war schon ein
Stück Revolution. Im Ansatz. Nicht im Wollen
vielleicht, aber darauf kommt's ja nicht an. In der
Wirkung, nicht im Bewußtsein. Ich meine so: alle
Revolutionen der Weltgeschichte begannen mit dem
Aufstand des Geistes und endeten mit dem
Barrikadensturm. Wir haben es genau umgekehrt
gemacht. Wir fingen mit dem Barrikadensturm an. Und
sind gescheitert. Der Aufstand des Geistes, den meine
ich, wenn ich sage, wir müssen die Revolution
nachholen. Damit müssen wir jetzt beginnen.»
«Ach, mein Guter», sagte Wuth, «den Geist möchtest
du jetzt suchen? Mögest du ihn finden. Und möge es
ein guter sein.» Ich sagte: «Du mußt schon ent-
schuldigen, wenn ich mich unklar ausdrücke. Aber
weißt du, wie die russische Revolution sich vollzog?
Ich meine von ihren ersten Anfängen an? Weißt du,
wieviel «Bolschewiken» es bis zum Jahre 1917 gab?
Ich meine echte Bolschewiken, die diese und keine
andere Revolution wollten? Nicht ganz dreitausend, im
ganzen Riesenreich nicht ganz dreitausend, habe ich
mir sagen lassen, und ein guter Teil von denen hockte
noch im Ausland, in der Schweiz und weiß der
Kuckuck wo noch. Aber das waren Leute, die
unermüdlich an der Arbeit waren. Theoretiker der
Revolution zuerst und dann Praktiker. Da stand' Zug
um Zug fest, Wort um Wort, Idee um Idee. Und die
Leute beherrschten die revolutionäre Taktik wie die
revolutionäre Strategie. Zugegeben, sie hatten einen
Anhalt an der Marxschen Theorie. Aber das war
schließlich nur die Theorie, um die die Revolution ge-
macht werden sollte, nicht die Theorie der Revolution
selbst. Wir müssen die Revolution um der Nation
willen, um die Nation machen. Und da müssen wir erst
mal wissen, was Nation eigentlich ist. Wissen meine
ich, nicht ahnen. Wir ahnen alle schon. Aber wissen.
Und dann müssen wir wissen, wie wir die Nation, die
wir heute nicht haben, auch hinstellen. Und das zu
lernen, das scheint mir die Aufgabe.»
Ich schwieg, erschüttert über den Fluß meiner
eigenen Rede. Die Hamburger schwiegen auch. Ich
stand auf. Wuth fragte: «Was machst du jetzt?» Ich
sagte: «Ich gehe.» — «Wohin?» — Ich sagte: «Raus!»
Und ging auf die Posten an der Tür der Reithalle zu.
Die Hamburger sahen hinter mir her.
Bei den Reichswehrpionieren war ein Unteroffizier,
der war scharf auf meine Reithosen. Schon zweimal
hatte er mich gefragt, ob ich sie ihm nicht verkaufen
wolle. Jetzt nahm ich ihn beiseite und sagte: «Kannst
die Hosen haben.» Er fragte sofort: «Was soll ich dafür
ausgeben?» Ich sagte: «Paß mal auf: Ein Paar alte
Buchsen von euch, ein Koppel mit Säbeltroddel, ein
Paar Achselklappen von euch und eine Reichs-
wehrmütze mit dem schönen Eichenkranz, den ihr
tragen dürft, weil ihr so tapfer gesiegt habt.» — «Das
geht nicht», sagte der Pionier. «Du kannst mich mal»,
sagte ich und drehte mich um. «Halt, renn doch nicht
gleich weg!» Er stand und schaute unschlüssig. Dann
fragte er: «Ist das gutes Leder?» Ich sagte: «Eins A-
Leder, viel zu schön für dich, du machst es ja bloß voll,
du Hampelmann.» Er schaute und sann und sagte: «In
'ner halben Stunde bring ich das Gelump. Ich hab' dann
die Wache am Kasernentor. Hier kannste aber nicht
durch, hier stehn auch Arbeiter Posten.» — «Schön, du
Heldenjüngling, du hast ja kapiert. Also in 'ner halben
Stunde.» Dann ging ich zu den Hamburgern und zog
meine Reithose aus. Wuth verstand sofort. Ich nahm
Abschied von den Hamburgern. Ich drückte jedem
einzeln die Hand und viel Worte wurden nicht gemacht.
«Mach's gut» und «Hals- und Beinbruch» und dann
ging ich ins Stroh dicht an der Tür. Der Pionier kam
und steckte mir vorsichtig die Sachen zu. Ich gab ihm
die Reithose.
Dann ging ich an das dunkle, hintere Ende der
Reithalle. Dort lag das Stroh hochgetürmt bis zu einem
Fenster, das klein und vergessen in der Mauer stak.
Keiner achtete auf mich, außer den Hamburgern. Ich
setzte die Reichswehrmütze auf und schnallte das
Koppel um und befestigte die Achselklappen an
meinem Rock. Dann griff ich nach dem Fensterbrett.
Ich drehte mich noch einmal um nach den Hamburgern
und winkte.
Die Hamburger fingen auf einmal an, leise zu singen.
Die Bayern horchten erstaunt auf, die Wache am Tor
drehte sich ihnen zu. Die Hamburger — die letzten
zehn Mann der Kompanie, die einmal ein Bataillon war
— die Hamburger sangen das Seeräuberlied.
Ich zog mich hoch und schwang mich durch das
Fenster. Draußen klammerte ich mich an den starken
Ast einer großen Kastanie, ließ die Beine baumeln und
hangelte mich zu Boden. Dann ging ich über den
dunklen Hof zum Tor. Der Unteroffizier stand dort, trat
zwei Schritt zurück und ließ mich schweigend vorbei.
Durch die leeren, nächtlichen, hallenden Straßen
ging ich unendlich einsam, auf Hamburg zu.
DIE VERSCHWÖRER
Auftakt

Es bedurfte nur des Loslösens von der kriegerischen


Gemeinschaft, um mir sofort ins Bewußtsein treten zu
lassen, wie sehr siebzehnjährig ich war. Vollzog sich
auch die Trennung mit einem schneidenden Schmerz,
so hatte sie doch jene selbe Leichtigkeit des plötzlichen
hellsichtigen Aufgebenkönnens bisher gültiger Vor-
stellungen und Maxime für mich im Gefolge, die mich
in der Novembernacht des Jahres 1918 zugleich
erschreckte und beglückte. Mich beunruhigte der durch
unvermutete Scham nicht ganz zu Ende verfolgte
Gedanke, daß ich eine besondere Federung des Herzens
haben müsse, eine Art innerer Auffangkonstruktion, die
mir jeden waghalsigen Sprung, jeden abenteuerlichen
Vorstoß erlaubte, ohne mich fürchten zu lassen, daß ich
nach unvermeidlichem Rückstoß in das Bodenlose
fiele, in den offenen Rachen des scheußlichen Untiers,
das in der Brust jedes Menschen wohnend geglaubt
wird.
So konnte es wohl kommen, daß ich, nun
ausgeliefert der in ihrer realen Nüchternheit platten
Welt, völlig allein gegenüber dem unbekannten,
saugenden Rhythmus eines durch anscheinend sinnlose
und doch unerbittlich harte Mechanik geregelten
Lebens, fast symbolisch zuerst zu dem griff, was mir
einen vagen Begriff vom Leben auch zuerst vermittelte,
zum Buche. Bevor ich auszog wie der reine Tor der
Sage, hatte ich durch Bücher mir einen Damm gebaut
gegen die täglichen Kümmernisse meiner etwas
schwierigen Aufzucht. Nun aber, in diesem
Augenblicke, da mir, was auch immer ich sah und
spürte, so voll fahler Schatten und farblos schien,
konnte mir das Schaufenster einer Buchhandlung wie
auf einen geheimen Anruf hin die wütende Sehnsucht
nach jener leuchtenden Unmittelbarkeit erwecken, die
mir die Bücher gaben, ehe ich versuchte, meinem
Bruder Simplicius Simplicissimus nicht nur in der
Phantasie zu folgen.
Im Schaufenster aber lag, etwas in die Ecke gerückt
und ein wenig angestaubt, ein Buch mit dem Titel
«Von kommenden Dingen». Und durch diesen Titel
eigen-tümlich angezogen und berührt, ging ich in den
Laden und erstand mir das Buch. Ich stieg zu meiner
Mansardenstube hinauf, zündete mir die letzte große
Kerze an, setzte mich in den alten Plüschsessel, von
dem schon ein Bein verheizt war, nicht ohne das
ächzende Möbel durch eine Handgranatenkiste gestützt
zu haben, und begann frierend zu lesen. Ich las die
ganze Nacht hindurch.
Das Buch war von Walther Rathenau, dessen Name
mir dunkel als der eines Großindustriellen und
Wirtschaftsführers im großen Kriege in der Erinnerung
war. Gleich die ersten Sätze des Buches, die betonten,
es handele von materiellen Dingen, jedoch um des
Geistes willen, verliehen mir eine eigentümliche
Befriedigung: gerade das schien mir zu lesen jetzt gut
und notwendig zu sein.
Es war dies Buch mit einer flüsternden Ein-
dringlichkeit geschrieben, seltsam unplastisch und ganz
ohne Pathos, und selbst die wenigen Sätze, in denen das
warme Licht eines verklärten Optimismus leuchtete,
waren beschattet von einer Wehmut, die mich sofort
ergriff. Von kommenden Dingen war ich begierig von
dieser fernen, leidenschaftlichen, getragenen Stimme zu
hören, und ich las, das Ziel sei die menschliche
Freiheit. Da blätterte ich ernüchtert vor und zurück und
sah das Erscheinungsjahr 1917, und war wieder
gefangen von der Botschaft der Verklärung des
Göttlichen aus menschlichem Geiste, und es erging mir
so, daß ich gebannt die Zeilen verfolgte, und es erging
mir so, daß ich minutenlang aufwärts sah und zweifelnd
erwog, ob ich hier beteiligt sei. Denn dies Buch war
fremd und nah, es war gütig und kalt, es war tief und
schwerelos, es zeigte die schmalen Beziehungen zu den
Hintergründen, aber es zeigte die Hintergründe nicht.
Da war so vieles, was ich nicht verstand, da war so
vieles, was ich selbst gedacht, da sprach mich
hemmungslos Jugend an, und da dozierte mahnend ein
überlegener Greis. Jedwedes Ding war rundherum
beleuchtet und schimmerte, von spielerischer Hand
emporgehalten, gleich einem geschliffenen Kristall,
und ein Kristall, so dachte ich, kann freilich kein
drängendes Leben zeigen. Etwas fehlte hier, und etwas
war dort zu viel. Etwas strich sanft über die Wirre und
sänftigte sie, und etwas klang feindlich dazwischen. Ich
konnte lesen und Ja sagen, einmal Ja, zweimal Ja und
dreimal Ja und immer wieder fiebernd Ja und konnte
das Land schon ahnen, zu dem der Weg mich führte,
konnte die Landschaft schon liegen sehen, bestrahlt,
hingebreitet, nur wenig des Gestrüpps trennte noch —
und dann war eine Grenze da, dann wurde auf einmal
der Schritt müde, dann flatterte nur eine vage
Handbewegung über die kommenden Dinge, und voll
einer erbarmungswerten Resignation verlor der Klang
der eifervollen Stimme sich in dem Chor der Geister,
die sie selbst beschwor. Dinge, die mir wie Kiesel
waren, die der Fuß achtlos beiseite schiebt, erschienen
hier wie starre, die Ebene beherrschende Felsen, Dinge,
die mir verwickelt schienen wie Schlangenknäuel,
lösten hier sich einfach und klar und waren geordnet
mit sachter Hand, Dinge, die mich plastisch dünkten
und schlicht in den Linien und ohne Geheimnis, hier
zitterten sie plötzlich in magischem Schein. Dies war
ein außerordentliches Buch, und außerordentlich war
die Landschaft, die es zeigte, das mechanistische Reich
der Welt und die seelische Kraft des Geistes, die dieses
Reich zu kommenden Dingen forme. Aber eben dies,
die schmale Hoffnung auf eine Beseelung der
Mechanik durch den Geist, schien mir eine nur magere
Antwort auf das drängende Suchen, das sich in diesem
Buche wie in den Herzen der Jugend auf einmal
anmeldete; und da ich die Antwort nicht fand, nicht das
Eigentliche, nach dessen Enthüllung ich lechzte, so
mußte es mich bitterer noch schmerzen, zu finden, daß
auch keine Frage schärfer gestellt, keine Verantwortung
klarer umrissen sich zeigte, als es die Verkündigung
von der neuen Gerechtigkeit, von den Gütern der Seele,
heischen müßte.
So war dies Buch eine Bestätigung; denn da es den
Stoff zu veredeln suchte, erkannte es seine Herrschaft
an. Dies war, nun glaubte ich es zu erkennen, ein im
Geistigen reaktionäres Buch. Ein Verspäteter sprach
hier, nicht ein zu früh Geborener. Es blieb seine
Prophetie Kritik, und die Kritik am Seienden geschah
somit auch um des Seienden willen. Die Forderungen,
die erwuchsen, sie konnte man auf allen Gassen hören,
Volksstaat, Demokratie — es wälzten sich die Worte
lüstern lange schon in den Mäulern der Pausbäckigen,
dieselben Worte, deren edle Energien ein im tiefsten
Einsamer zu spät für die da draußen nun erkannte. Ich
glaubte die wehen Züge des Blinden zu sehen, der in
der Wüste sprach und horchte, da die Menschen
schwiegen, ob nicht die Steine sprächen. Aber die
Steine schwiegen auch. Was sollten die Werte, da die
Worte genügten?
Ich las und las und näherte mich dem Ende. Es
erschien mir alles wie ein Traumgebilde, wie durch
Glas gesehen, wie durch ein mattes, behauchtes Glas,
durch das die Welt fahl und bläulich schimmerte, ja,
wie eben die Landschaft, die ich nun durch das Fenster
sah — denn die Nacht neigte sich ihrem Ende, und die
Kerze verglomm, und die klotzigen Umrisse bis unter
das Dach mit Menschen vollbepackter Mietskasernen,
das Gewirr der Schlote und Kamine, die brüchigen
Linien der Dächer lösten sich gespenstisch vom
samtenen Hintergrund. Da stand ich auf und lehnte
mich hinaus und schaute in die Schluchten der
Hinterhöfe, in denen der Lärm des nahenden Tages
schon hallte, und fühlte mich siebzehnjährig genug, um
zu wissen, daß dies hier gebändigt werden müsse und
nicht beseelt, und ich klappte das Buch zu und dachte,
der leichte Schauer, der mir vom Nacken rieselte, rühre
wohl von der Morgenkühle her, die nun durch das
Fenster prallte.
In diesem Augenblicke rückten die Franzosen in die
Stadt. Ich hörte das Schmettern ihrer Clairons und
stürzte auf die Straße und sah. Die Wucht der
marschierenden Kolonnen klemmte mich fast an die
Mauern. In mir faserten noch die Gedanken des
Buches, das ich in der Nacht gelesen hatte. Hier
zerklirrte ein gläserner Traum unter dem gellenden
Siegesjubel, der über die Gewehre und Helme fuhr. Ich
tastete mir nach dem Gesicht, als wolle ich Spinnweben
von der Stirne wischen, und lauschte auf den
höhnischen Triumph, der durch die Straßen knallte, und
sah die Siegessicherheit, die Eleganz, die lächelnde
Verachtung, die von der Bestrafung reden durfte und
von Vergeltung. Die Stadt war ausgeliefert einem
fremden Willen, die Würde angetastet, und daß wir es
dulden mußten, das war unerträglich. Wie am Draht
gezogen schoben sich die glänzenden Glieder heran,
gleich riesigen Kellerasseln wälzten sich Tanks, eine
unerbittliche Masse gepanzerter Leiber, und ich stand
geduldet und waffenlos. In mir stieg die dumpfe
Proletarierwut. Ich sah, daß diese kleinen, schwarzen
Offiziere Lackstiefel trugen, schlanke Taillen hatten,
ich sah die gutgepflegten Pferde, die lässig stolzen
Blicke, Ordensbänder, ich sah, daß jener Capitaine mit
seinem Reitstock lachend zu dem Mädchen grüßte, das
nun vom Fenster erschreckt verschwand. Ja, daß sie
lachen durften, während wir verbrannten, daß sie
marschieren durften, mit ihrem Kriegerstolze prunken,
und wir in Demut standen, das jagte mir den roten Haß
ins Herz.
Ich lief den ganzen Vormittag durch die Stadt und
heulte fast vor Wut. Die Menschen, die mir begegneten,
gingen bleich und hastig, selbst den Lärm der Straße
schien ein leichtes Zittern zu durchwehn. Überall
gingen die Patrouillen der Franzosen zu drei und vier
Mann, und diese schritten schnell, knapp, mit
verschlossenen Gesichtern, gleichsam eine unsichtbare
Wand um sich tragend, indes stärkere Kolonnen sich
trippelnd durch die Straßen schoben und die Soldaten
fröhlich neugierig die eroberte Stadt zu mustern und
bekömmlich zu finden schienen. An einzelnen Plätzen,
am Hauptbahnhof, an der Oper, an der Hauptwache,
hatten sich Truppenlager gebildet, Maschinengewehre
standen schußbereit an den Ecken, die Gewehre waren
zusammengesetzt und zu kurzen Pyramidenreihen
aufgebaut. Offiziere schlenderten, nie allein, immer zu
zweien oder dreien, mit wippenden Reitstöckchen, auf
den Bürgersteigen, und die Mienen der Passanten wur-
den starr und ausdruckslos, wenn sie ihnen begegneten.
An einem Hotel wurde von geschäftigen Poilus die
Trikolore hochgezogen, indes die Offiziere aus- und
eineilten.
Ich versuchte meine Gedanken zu kontrollieren.
Irgend etwas anzuerkennen, etwa das starre und exakte
Funktionieren der militärischen Maschinerie, das gute
soldatische Aussehen der Truppen, die sauberen,
blonden und heiteren Gesichter der Leute, das erschien
mir wie Verrat. Ich wollte nichts anerkennen, ich
wollte, der Haß der Menge sollte eine granitene Mauer
um diese Sieger bauen, sie sollten sich in tödlicher
Isolierung finden, stets auf der Wippe zwischen Furcht
und Schrecken. Da kam eine Gruppe Neger, geführt
von einem weißen Korporal. Die Neger hatten dünne,
wadenlose Beine, an denen die Wickelgamaschen
rutschten, und gingen mit einwärts gestellten Füßen.
Sie grinsten unter den flachen Helmen mit großen,
leuchtenden Zähnen, drehten sich unbekümmert um
und kosteten sichtlich das Gefühl einer unvermuteten
Überlegenheit. Hier also marschierten die Vertreter der
Humanität und Demokratie, in ihrem Namen aus allen
Winkeln der Welt geholt, uns Barbaren zu züchtigen.
Vorzüglich, und nur keine falsche Scham! Wie, sind
wir nicht Barbaren? Nun, wir wollen Barbaren sein.
Und der letzte Rest des bebenden Traumes dieser Nacht
zersplitterte; denn hier zu widerstehen, reichten die
Güter der Seele nicht, die sich aus dem Geiste der
Gerechtigkeit speisen.
Die ganze Stadt war aufgestört. Nur zweimal hatte
ich bis dahin die Stadt unter solchem flirrenden Dunst
liegen sehen, in den Augusttagen des Jahres 1914 und
am Tage der Revolte. Es war, als habe sich die Unruhe
aller Herzen zum Nebel verdichtet und sei vibrierend
aufgestiegen, nun alles mit zitternder Spannung
erfüllend. An den Straßenecken bildeten sich kurze
Gruppen, die sofort vor den heranklirrenden Schritten
der Patrouillen wichen, aber hinter ihnen wieder zu-
sammenflössen. Um einen entwaffneten Sicherheits-
polizisten herum schob sich eine Menge, schweigend
und nervös. Alle fühlten, wie die Zeit brannte, alle
warteten auf etwas, das sich unerbittlich näher schob,
doch wußte niemand, wie die plötzliche Entladung
erfolgen werde.
Im Hofe der Hauptpost trat eine Kompanie an. Vor
den Toren der Einfahrt sammelte sich eine Menge, mit
der ich sofort Kontakt spürte. Überall schien durch die
Kruste des Alltags Elementares durchzubrechen. Die
Menschenmauer verdickte sich und ließ die Wellen
eines finsteren, kaum gebändigten Hasses in immer
kürzeren Räumen gegen die Truppe branden. Der
kommandierende Offizier klirrte unruhig hin und her,
die Soldaten schoben sich eng aneinander. Der Offizier
befahl etwas, die Soldaten rissen eilfertig die Bajonette
aus den Scheiden und pflanzten sie auf die Gewehre.
Ich begann zu johlen, laut «Oh!» zu rufen, sofort wogte
das Geschrei weiter. Der Offizier drehte sich zu uns
um, er war sehr bleich und hatte ein kleines schwarzes
Bärtchen und dunkle Augen und versuchte mit ihnen zu
funkeln. Das Gejohle schwoll. Nun trat er zurück,
wandte sich zu seiner Truppe und kommandierte. Die
Kompanie nahm Gewehr über. Aber es klappte nicht;
die Soldaten, unruhig geworden, klirrten mit den
Läufen gegeneinander, einem rutschte der Helm. Wir
schrien und lachten, der Hohn zwang sich durch den
Haß, eine gelle Strimme rief, sich überschlagend: «Das
Gewehr — über! Schlapp, noch mal!» Aus allen
Kehlen hallte Gelächter. Die Torbogen warfen das
Echo in die Winkel des Hofes. Der Offizier, völlig
irregemacht, ließ wahrhaftig noch einmal Gewehr bei
Fuß nehmen, um den Griff zu wiederholen. Nun kannte
das Gejohle kein Ende mehr. Da drehte sich der
Himmelblaue um, und plötzlich rückten die Soldaten
an, eine geschlossene, entschiedene Masse. Wir sahen
die weißen, gespannten Gesichter; da waren sie auch
schon heran. Die fürchterliche Drohung, die in diesen
Mienen lag, ließ die Menge zurückweichen; gleich-
zeitig trabte eine starke Patrouille Marokkaner durch
die Zeil, drängte sich mit vorgeschobenen Läufen an
den Bürgersteig, die Menge platzte. An den Ecken der
Nebenstraßen sammelten sich wieder kleine Haufen,
begleiteten den marschierenden Trupp mit höhnischen
Rufen, wichen hier vor den Patrouillen und klebten dort
wieder zusammen. Ein größerer Strom zog sich zur
Hauptwache. Ich folgte ihm.
Massen umsäumten den Platz. Vorm Schillerdenkmal
stand eine Gruppe Offiziere; die Soldaten lagen auf
dem Boden, erhoben sich aber bald und formierten sich
zu ungeordneten Gruppen in der Nähe ihrer
Gewehrpyramiden. Marokkaner, Neger und Weiße
ballten sich um die aufgestellten Maschinengewehre.
Schiller sah unbewegt und mit kühner Nase über den
Platz.
Vor der Hauptwache, direkt am Eingang für
«Frauen», stand ein sehr junger französischer Offizier,
der sich das Vergnügen machte, die Passanten, die zur
Straßenbahnhaltestelle wollten, mit einem Fuchteln
seines Reitstöckchens vom Steige zu weisen. Frauen
und Mädchen gegenüber aber war er von aufdringlicher
Galanterie. Die Bürger, die sich an der anderen Seite
der Hauptwache sammelten, standen murmelnd und
finster da und sahen zu dem Schlankgeschnürten hin.
Von der Schillerstraße kam im Strom der anderen
Passanten ein junger Mensch in blauem Anzug,
mittelgroß, stämmig und mit auffallend großen und
dunklen Augen. Der bog nicht mit den anderen vor der
Insel aus, die sich um den Offizier gebildet hatte,
sondern ging unbekümmert weiter, mit einer etwas
breiten Eleganz und großer Sicherheit. Er wollte an
dem Offizier vorbei, der rief ihm etwas zu; der junge
Mann kümmerte sich nicht darum; der Offizier wurde
puterrot und rannte ihm nach, und als der sich nicht
einmal wandte, berührte er ihn mit der geschlenkerten
Reitpeitsche.
In diesem Augenblick schrie die Menge auf. Denn
der junge Mensch drehte sich blitzschnell um, stieß mit
dem Arm von unten hoch, entriß dem Offizier die
Peitsche, fitzte sie ihm einmal über das Gesicht und
knackte sie dann zu drei Teilen, die er dem Franzosen
vor die Füße warf.
Der Franzose taumelte zurück, dann schnellte er
zusammen, pumpte sich voll Luft und stürzte sich,
indes sich der schmale Strich auf seiner Wange weiß im
blutrot gewordenen Gesicht abzeichnete, mit einem
dumpfen Knurren auf den jungen Mann. Der stand
breitbeinig, unbeweglich, mit gefährlichem Blick, bis
der Franzose auf einen halben Schritt heran war, dann
federte er kurz in den Knien, griff zu, schnappte den
Offizier an Brust und Hüfte und hob ihn mit Grandezza
hoch. In der Luft legte er den Strampelnden quer, trug
ihn drei Schritte weiter und warf ihn dann fast
nachlässig die Treppe zu «Frauen» hinunter. Dann
drehte er sich um, bog mit einer schlanken Wendung
um das niedrige Gebäude und verschwand mitten unter
der Gruppe der französischen Offiziere, die überrascht
auseinandertraten. Ein Marokkaner half dem
gezüchtigten Offizier hoch, der erregt zu seinen
Kameraden stürzte; gleich danach entstand heftige
Bewegung, und wenige Sekunden später knallten
Schüsse vom Roßmarkt her.
Aber nun drängten plötzlich die Massen an. Ein
wütendes Aufbrüllen scholl über den Platz. Die
Franzosen rannten durcheinander, die Posten ballerten
los. Ich lief quer über den Platz auf die Katherinen-
pforte zu. Die Schüsse peitschten das Pflaster,
witschten mir um die Beine, knallten in die Mauern.
Die Menge spritzte auseinander, um aus einer anderen
Ecke wieder vorzubrechen. Ich bog in eine Neben-
straße, auch hier pfiffen die Geschosse. Da sprang ich
in einen Hausgang.
Gleich darauf wehte etwas durch das Tor hinter mir
herein. Ich sah hoch und erkannte den jungen
Menschen, der nun, mit verschränkten Armen und sehr
gelassen, sich an das Treppengeländer lehnte. Draußen
war Geschrei und Knallen.
Ich ging auf den jungen Menschen zu und sagte
begeistert: «Das war zackig!»
«Ach, reden Sie nicht», sagte der, «helfen Sie mir
lieber. Wir müssen diese Stadt aufputschen!»
«Natürlich helfe ich!» schrie ich und stellte mich,
meinen Namen nennend, vor.
Der junge Mensch gab mir die Hand, verbeugte sich
und sagte: «Kern».

Sammlung

Die Stadt ließ sich nicht aufputschen. Nach der ersten


Probe ihres barbarischen Mutes versicherten die Bürger
der urbanen Handelsmetropole, die Franzosen seien
auch Menschen, wogegen sich füglich nichts ein-
wenden ließ. Doch schienen die Franzosen immerhin
Menschen zu sein, mit denen man nicht verkehren
konnte. Denn niemals gelang es ihnen, Eintritt zu
erhalten in die bürgerlichen Kreise, in die Gesellschaft
nicht, auch nicht in die Familien, bei denen sie
einquartiert waren. Niemals sah man ein Mädchen mit
einem Franzosen gehen. Die Franzosen waren völlig
isoliert, in einen eisigkühlen Bannkreis gestoßen.
Vielleicht beruhte diese Verhärtung der Gefühle nicht
auf Haß, sondern auf Enttäuschung, auf jener
Enttäuschung etwa, die ein Kaufmann empfindet, wenn
ein geschätzter und langjähriger Geschäftsfreund sich
plötzlich zum gefährlichen Konkurrenten wandelt und
dabei durch Anwendung unsauberer Mittel triumphiert.
Denn diese Stadt war immer stolz gewesen auf ihr
Weltbürgertum, auf ihre weite und großzügige Libertät,
es war eine Stadt, die dem Gedanken des Fortschritts
der Menschheit immer gehuldigt, und da waren früher
doch so viele innige Beziehungen gewesen zwischen
Frankreich und der Stadt, zwischen der Stadt und Paris,
dem glänzenden, ein wenig bewunderten und auch ein
wenig nachgeahmten Vorbild der Lebensart. Und nun
dies, nun diese Methoden: Besetzung durch die Horden
der französischen Soldateska, Siegerübermut und
verblendetes Rachegeschrei und Gewalt! Nun dies dem
Geiste der wahren Demokratie so abgewandte Pochen
auf die kriegerische Vertretung, dies Überreichen von
brutalen Forderungen auf den Spitzen der Bajonette!
Die Stadt verharrte in schweigender Verachtung. Und
nach einigen Monaten, nachdem die Reichswehr, die
den Aufstand der Roten Armee um Wesel nieder-
geworfen hatte, die neutrale Zone im Ruhrgebiet
räumte, verschwanden die Franzosen, ohne zum
Abschied noch einmal die Clairons gellen zu lassen,
nichts hinterlassend als einige Plakate mit der
Versicherung, daß Frankreich alle Verträge und
Versprechungen heilighalte.
Krieg und Revolte hatten der Stadt viel von ihrer
Eleganz, wenig von ihrer Behäbigkeit und nichts von
ihrer Liberalität geraubt. Aber die Luft der Stadt war
bitter, wie des ganzen Reiches Luft in diesem und in
den folgenden Jahren. Das ganze geruhige Leben der
Stadt war durchzittert von einer dicht bis an den
höchsten Grad gesteigerten inneren Nervosität. Die
kommenden Konflikte warfen ihre Schatten voraus, die
sich mit den unausgetragenen alten Konflikten
mengten, und schufen eine Atmosphäre, in der das
Bestreben, nach dem Gebote altväterischer Tugenden
die Herrschaft der Gemütlichkeit zu wahren, völlig
sinnlos erscheinen mußte.
Daß trotz der scheinbaren Ruhe etwas nicht stimmen
konnte, wußte jedermann. Jedermann spürte den
Betrug, und jedermann scheute sich, ihn aufzudecken.
Denn sobald die Decke gelüftet war und die Ordnung
erschüttert, mußte ja das andere hervorbrechen, das
Unbekannte, das Gefährdende, das, von dessen
eruptiver Gewalt nur schaudernde Ahnung in den
Gemütern der Menschen lebte.
Und doch war da etwas, das entschiedener leben
wollte. Unter der Oberfläche kräuselte sich der Rand
einer Bruchstelle, es stieg der Spiegel eines neuen
Inhalts in die alte Form. Viele waren heimatlos, und
viele fühlten sich ohne Maßstäbe noch, und viele waren
bereit, zu erkennen, daß neue Tugenden auf neuen
Ebenen wachsen müssen und daß die tiefsten Wünsche
nicht mehr im bloßen Fortschritt reifen konnten.
Nachdem ich einige Wochen lang in einer Gummi-
fabrik Konservengläserringe im Akkord gestanzt hatte,
erfuhr der Betriebsrat, daß ich im Baltikum gewesen
war. Ich hatte das beinahe schon vergessen; das
Baltikum lag hinter mir wie ein wüster, verworrener
Traum. Doch der Betriebsrat drohte mit einem Streik
der Belegschaft, wenn ich weiter beschäftigt würde,
und ich wurde entlassen. Darauf versuchte ich es als
Lehrling in einem Filmkonzern, doch hatte ich bald
Differenzen mit dem Chef, die mit einer gedrohten und
einer gehauenen Ohrfeige endeten. Gedroht hatte der
Chef. Endlich schrieb ich acht Stunden täglich in einem
Versicherungsbüro Prämienquittungen aus. Der
Abteilungsvorsteher lobte meinen Fleiß und tadelte
meine Handschrift. Von vier Uhr nachmittags an war
ich frei.
Auf den Betriebsversammlungen erörterten die
Kollegen mehrfach, ob es nicht angebracht wäre, dem
Direktor mit seinen 60000 Mark Jahreseinkommen eine
Schreibmaschine ins Kreuz zu schmeißen, um ihn zu
belehren, daß die untere Angestelltenschaft am
Verhungern sei. Ich ermahnte die Kollegen ernstlich,
nur mit geistigen Waffen zu kämpfen. Zwar hatte ich
immer Hunger, doch schien mir dessen Stillung eine
Frage untergeordneten Ranges.
Einen Mantel hatte ich nicht. Einen Hut hatte ich
nicht. Wenn ich ein frisches Hemd anziehen wollte,
dann mußte ich es abends waschen und über Nacht
trocknen lassen. Die Schuhe hielten, es waren erbeutete
englische aus dem Baltikum. Was nicht hielt, das war
die Hose. Sie zu flicken bedeutete mir tägliche
Erniedrigung. Auch der Rock löste sich langsam aber
beharrlich auf. Doch in der Krawatte trug ich eine auf-
fallend große, altertümliche Nadel, das letzte Stück der
Familienkleinode.
Meine Mansarde war vollgestopft mit den Waffen,
die ich in den Tagen der Revolte gesammelt. Unter dem
schmalen Eisenbett lagen drei Handgranatenkisten und
zehn Kästen Gewehrmunition. Die Gewehre, ein-
gefettet und verschnürt, nahmen gebündelt fast ein
Drittel des ganzen Raumes ein.
Kern, der noch aktiver Seeoffizier bei der
Reichsmarine war, kam alle Monate einmal auf der
Durchreise nach München, wo er geheimnisvolle
Konferenzen pflog, zu mir auf die Dachkammer
gestiegen. Er blieb dann meist ein oder zwei Tage und
schlief in einer Hängematte. Einmal wühlte er in
meinen Büchern. Ich hatte mir aus Kistenbrettern ein
Regal zusammengenagelt, auf dem Rathenau und
Nietzsche, Stendhal und Dostojewskij, Langbehn und
Marx wirr durcheinanderstanden. «Dies kann ich mir
einmal mitnehmen?» fragte Kern und hatte «Von
kommenden Dingen» in der zögernden Hand. «Gern»,
sagte ich, und war begierig, sein Urteil zu hören, und
war froh, daß er meine allerdings auffallende Neigung
zu Büchern nicht in den Bereich persönlicher Schrullen
verwies.

Ein großer vaterländischer Verband, aus einer


Zeitfreiwilligenformation hervorgegangen, wollte in
der Stadt eine Ortsgruppe gründen. Ich ging mit Kern
zur Gründungsversammlung.
Die Herren trugen alle weiße Stehkragen. Sie redeten
sich untereinander mit Bruder an. Wir stellten uns vor,
und es berührte mich angenehm, daß ich trotz meines
etwas derangierten Aufzuges von den Herren Brüdern
durchaus als ihresgleichen angesehen wurde. Doch
hatte dies seinen Grund; denn gleich die ersten Worte
des Versammlungsleiters wiesen eindringlich darauf
hin, daß der Orden es sich zur heiligen Pflicht und
Aufgabe gemacht habe, besonders die Überbrückung
der Klassen- und Standesgegensätze zu pflegen. Ich
lauschte aufmerksam und fürchtete nur den Kellner, der
mir immer ein Glas Bier hinstellen wollte. Es waren
etwa vierzig Herren im Lokal, meist jüngere und alle
aus den sogenannten besseren Ständen. Bei Zitierung
des Frontgeistes wurde die Stimmung wärmer. Dann
war vom achteckigen Kreuz der Wiedergeburt die
Rede, und mich interessierte das, weil ich, nach dem,
was ich von den Symbolen und Gebräuchen dieses
Bundes gehört hatte, hoffte, hier den Schimmer einer
neuen Romantik, den ersten Glanz eines mystischen
Lebensbewußtseins zu spüren. Ich beugte mich zu
meinem Nachbarn und fragte ihn flüsternd, was es mit
diesem Wiedergeburtskreuze auf sich habe. Er
antwortete: «Wees nich, is ja ooch wurscht!» Ich fuhr
einigermaßen erschrocken zurück und muß sagen, daß
ich etwas ernüchtert war. Der Bruder Gefolgschafts-
meister, so wurde der Vortragende genannt, war, wie
ich bei der Vorstellung erfuhr, Privatsekretär einer
Großbank. Nun sprach er von der Realpolitik und
forderte demgemäß ein einiges Großdeutschland und
die Ablehnung des durchaus undeutschen Sozialismus.
Die älteren Herren Brüder nickten eifrig, die jüngeren
hörten interessiert, aber schweigend zu. Der Parteigeist,
so sagte der Bruder Redner, habe das deutsche
Vaterland an den Abgrund des Verderbens geführt, und
nur eine sittliche, kulturelle, religiöse und politische
Erneuerung im Geiste der Brüderlichkeit des Ordens
könne es aus den Schmachbestimmungen des
Schanddiktates befreien. Der Beifall war groß und der
Kellner wollte mir wieder ein Glas Bier hinstellen. Ein
Herr dankte dem Redner für seine lichtvollen sowie
warmherzigen Ausführungen und eröffnete die
Aussprache. Sofort sprang ein ziemlich dunkellockiger
Herr, der die ganze Zeit schon sichtlich nervös in
meiner Nähe gesessen hatte, in die Höhe und fragte mit
einiger Erregung, wie es der Orden mit der Judenfrage
halte. Es folgte ein betretenes Schweigen, endlich
räusperte sich der Bruder Gefolgschaftsmeister und
bemerkte, daß der Orden in religiösen Dingen absolute
Neutralität bewahre. Der taktlose Frager, der so die
Sympathien für seine Rasse, wie mir schien, nicht zu
erhöhen vermochte, setzte sich stracks, und zwar neben
mich. Dann teilte er mir mit, daß er Vorstandsmitglied
des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutz-Bundes sei,
drückte mir begeistert einen Pack Schriften in die Hand
und sprudelte mir sämtliche Geheimnisse der Weisen
von Zion ins Ohr. Schon lag die Mitgliedskarte unter
seinem Federhalter, aber als ich ihm meinen Namen
nannte, wurde er merklich kühler und setzte sich bald
wieder an einen anderen Platz, mit seinem Nachbarn
eifrig tuschelnd. Inzwischen wurden noch verschiedene
Fragen gestellt, Hausbesitzer und Gewerbetreibende,
Vegetarier und pensionierte Majore heischten ein
Eintreten des Ordens für ihre wahren Ideale. Aber der
Orden war zu absoluter Neutralität jedesmal ent-
schlossen. Ich blickte zu Kern, der die ganze Zeit
schweigend dagesessen hatte, dann erhob ich mich
schüchtern und erlaubte mir die Frage, welche
konkreten Aufgaben sich der Bund denn gestellt habe.
Ich vermute, er solle zuerst einmal eine Art
Sammelbecken oder eine Fortsetzung der Zeitfrei-
willigenformationen darstellen, um so den drückenden
Fesseln des...? Da unterbrach mich auch schon ein
älterer Herr Bruder, Universitätsprofessor, wie ich
erfuhr, und erklärte eindringlich, nur auf legalem Wege
könne und wolle der Orden seine Bestrebungen
verwirklichen! Ich fragte, aber was, aber was denn nun
um Gottes willen die Bestrebungen des Ordens seien?
Und ich spürte, daß ich mich unbeliebt zu machen auf
dem besten Wege war. Doch schüttelte mir mein
Nachbar plötzlich die Hand und stellte sich vor. Er hieß
Heinz und sagte, er wolle gern mein Bier bezahlen. Ich
war ihm herzlich dankbar dafür.
Die Aussprache war beendet, und nun konnte, wie
der Bruder Gefolgschaftsmeister launig bemerkte, die
Fidelitas beginnen. Allmählich stieg der Bierkonsum.
Und wenn beim ersten Glase von der Überbrückung der
Klassen- und Standesgegensätze die Rede war, so
wurde beim zehnten Glase «Heil dir im Siegerkranz»
gesungen. Dies ärgerte mich nicht. Vielmehr ärgerte
mich, daß vor diesem Gesang sorgfältig die Fenster
geschlossen wurden.
Kern erhob sich. Heinz und ich folgten ihm.
Ziemlich betroffen machten wir uns auf den Heimweg.

Die patriotischen Verbände wuchsen wie Pilze aus der


Erde. In ihnen sammelten sich die Gläubigen der
aufgestörten Schichten. Es war dasselbe Gemisch der
Meinungen und der Menschen überall. Was immer an
Fetzen und Bruchstücken vergangener Werte und
Ideologien, Bekenntnisse und Gefühle aus dem
Schiffbruch gerettet wurde, mengte sich mit den
zugkräftigen Parolen und Halbwahrheiten des Tages,
mit verquollenen Einsichten und echter Witterung zu
einem stetig kreisenden Knäuel, aus dem der Faden
sich spann, von tausend geschäftigen Händen gezogen
und gewoben zu einem Teppich von verwirrender
Bunte. Aus dem grauen Grundton der Theorien
wuchsen die Blümelein redseliger Rauschebärte,
spritzten die Farbschreie betrogener und lichtdürstender
Jugend, zog sich deutscher Frauentugend zierliches Ge-
ranke. Die Welt der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer
steuerte ihr Scherflein sozialer Problematik bei; es
pflanzte seine Lichter der Wüstenruf glatzköpfiger
Parteivorstände nach der jungen Generation; es
schoben sich verschmitzt die Interessen
mannigfaltigster Gewerbe in den Raum. Bismarck,
umrahmt von dekorierten Generälen, drohte und
begeisterte in Gips aus Lorbeerbäumen; Windjacken
und Entbehrung, Fanfaren, Fahnen und Paraden und die
Qual nach echtem Ausdruck echter Kraft bestimmten
das Gepränge und Gepräge; ein wunderlich Gemisch
aus Bierdunst, Sonnenmythos, Militärmusik erschlug
die blasse Lebensangst. Der Grundakkord sehr lauten
Mannestumes ward in Weihe übertönt von
Schillerzitaten und Deutschlandlied; dazwischen grollte
Runengeraune und Rassegerassel. Rund um das
gesprenkelte Gemälde wand sich der Narrensaum mit
seinen Fransen von Sekten und Gemeinden, Propheten
und Aposteln. Die krauseste Romantik schloß Verträge
mit der nackten Zivilisation. Und Träume flirrten
überall, sie wirbelten durch alle Hirne, alle Herzen; die
Not, der Glaube und die brache Kraft erzeugten Pläne,
die den Rhein mit U-Booten bevölkerten, die englische
Flotte mit Todeswellen vernichten ließen und den
Polnischen Korridor mit sensenbewaffneten Bauern-
haufen aufrollten.
Diese Bünde waren ein Symptom. Hier sammelten
sich die Menschen, die sich von der Zeit verraten und
betrogen fühlten. Nichts war mehr wirklich, alle Pfeiler
schwankten. Da drängten sich die Hoffenden und die
Verzweifelnden, die Herzen waren alle offen, die
Hände klammerten sich dem Gewohnten an. Ihre
Sammlung förderte jenen geheimnisvollen Strudel, aus
dem in Spiel und Widerspiel, in Glaube und
Widerglaube das aufsteigen konnte, das wir das Neue
nannten. Wenn irgendwo, dann blüht das Neue aus dem
Chaos, dort, wo die Not das Leben tiefer macht, wo in
erhöhter Temperatur verbrennt, was nicht bestehen
kann, geläutert wird, was siegen soll. In diesen
gärenden, brodelnden Brei konnten wir unsere
Wünsche werfen, aus ihm konnten wir unsere
Hoffnungen dampfen sehen.
Kern hatte Heinz und mich aufgefordert, aus all den
vaterländischen Bünden die besten und aktivsten
Burschen herauszulesen, in jedem Verein eine Zelle zu
unterhalten und somit eine kleine, aber gehärtete Schar
zu sammeln, mit der man nicht nur Deutsche Abende
und fröhliche Kommerse, sondern auch gewisse Dinge
unternehmen könne, die allerdings mit der best-
gemeinten patriotischen Begeisterung allein nicht
geschafft werden konnten. Die Stadt, so rechnete Kern,
konnte unter Umständen das Zentrum einer
großangelegten Widerstandsverschwörung gegen die
interalliierte Besatzung im Rheinland werden. Das
Reich, so schien es, stand dicht vor dem völligen
Zerbröckeln. Es galt für den Augenblick des Zerfalls
gerüstet zu sein. Jede Stadt, jedes Dorf, so meinte Kern,
müßte dann gehalten werden. Verbindungen, so sagte
er, nach Ungarn, nach der Türkei, nach den übrigen
unterdrückten Völkern seien schon geschaffen. Und in
der Tat: da kamen geheimnisvolle Unbekannte genug,
von Kern gesandt, die kurze Nachricht brachten und
dann weiterreisten, die von Stadt zu Stadt, von Bund zu
Bund, von Land zu Land mannigfache Botschaft trugen
und so an einem lebendigen Netze arbeiteten. Überall
warteten kleine, zum Letzten bereite Trupps der
Jugend, die Patrouilleure der Erhebung — sie galt es
für uns auch hier zu sammeln.
Wir sammelten. Heinz hatte den Kopf voller Ideen.
Er war blutjunger Offizier gewesen, viermal
verwundet, in Freikorpskämpfen erprobt, nun
heimlicher Dichter und mit Betonung Ästhet. Er liebte
es, erbitterter Hasser jeglicher Sentimentalität,
melancholische Gefühlsschwummrigkeiten mit einem
einzigen Wort voll grausamster Ironie zu töten.
Tausend duftige Wässerlein standen auf seinem
Nachttisch — doch erfand er eine neue Art, aus Dreck
Sprengstoff herzustellen. Er machte vorzügliche
Sonette und schoß Herz As aus 50 Meter Entfernung.
Wir beide traten achtzehn Vereinen bei. Wo ein
junger Kerl war, der sich empörte gegen die langsame
Verkrustung mit patriotischen Sentiments, gegen die
unablässig plätschernden Reden geehrter Greise und
betagter Koryphäen, da traten wir an ihn heran und
lockten ihn. Wir griffen uns Arbeiter und Studenten,
Schüler und junge Kaufleute, Nichtstuer und
Alleskönner, glühende Idealisten und höhnende
Fanatiker. Wie wir in den Bünden die Fronde
organisierten ohne Organisation, so bildeten wir eine
Saalschutztruppe ohne Verpflichtung. Wir sicherten die
Versammlungen der nationalen Parteien und schlugen
uns mit den eindringenden Kommunisten herum. Wir
drangen in die Versammlungen der Demokraten und
Mehrheitssozialisten mit den Kommunisten gleichzeitig
ein und sprengten sie mit ihnen vereint. Wir
versuchten, Kommunistenversammlungen zu stören,
und das bekam uns schlecht. Aber bald wuchs die
Schar und spielte sich aufeinander ein.
Der Anführer des kommunistischen Stoßtrupps
wurde Otto gerufen und hatte die Rußbomben
erfunden, raffinierte Mischungen aus Gips, Ruß und
Wasser, die, in dem beworfenen Antlitz platzend, aus
einem klargesichtigen Bäcker einen blinden
Schornsteinfeger machten. Otto war bei jeder Keilerei
zu sehen. Wir kannten uns und grüßten uns, wenn wir
uns auf der Straße oder vor dem Gefecht begegneten.
Bald waren wir Freunde.
Jörg war Schupomann. Einmal räumte er ganz allein
eine Gastwirtschaft voller tobender polnischer
Wanderarbeiter, indem er eine Handgranate abzog und
sie still vor sich hinhaltend gegen die dichten Haufen
anrannte. Erst im allerletzten Augenblick warf er sie
durchs Fenster. Er schloß sich uns an, nachdem er
Mahrenholz, den Studenten, der in einer Arbeiter-
versammlung erklärte, er wisse wohl, daß er hier Perlen
vor die Säue werfe, und daraufhin halb totgeschlagen
wurde, mit uns herausgehauen hatte.
Wir stöberten in den entferntesten Bereichen. Wo
einer war, der bei irgendeiner noch so törichten
Gelegenheit Mut bewies, da machten wir uns an ihn
heran, und immer war er unser. Wir erkannten uns
meist schon beim ersten Blick. Unter hundert waren
immer drei, vier Mann, die fast von selber zu uns
kamen. Jörg schleppte Kameraden und Otto Genossen
herbei, knarsche Jungs; wir beschnüffelten uns ein
weniges und stellten fest, daß unsere diesbezüglichen
Weltanschauungen an den entscheidenden Punkten
beglückend übereinstimmten. Den Vogel schoß Heinz
ab. Er brachte uns einen überzeugt gewesenen
Pazifisten von der kriegerischsten Sorte.
Als wir fünfzig Mann stark waren, kam Kern
angebraust und stoppte die Werbung. Fünfzig Mann
waren vorläufig reichlich genug.

Eine Zeitlang reizte mich die Nationalökonomie. «Wir


haben», erklärte ich Heinz, «ja keinen blassen Dunst
von den wirtschaftlichen Bedingnissen und
Zwangsläufigkeiten!» «Wir reden», sagte ich, «völlig
blind daher!» — «Wir müssen», sagte ich, «noch
gewaltig lernen!» Und ich berannte die Vorlesungen im
Volksbildungsheim und in der Universität; ich kaufte
mir Bücher mit Statistiken und Anmerkungen und
Quellenangaben; meine Taschen steckten voller
Broschüren und Tabellen. Nichts verstand ich. Nichts
begriff ich. Das kommunistische Manifest kannte ich
auswendig und schlug so mit ihm in der Debatte glatt
den Otto.
Dann hatte ich's mit der Religion. «Die Erneuerung»,
sagte ich zu Heinz, «muß mit religiöser Inbrunst
verbunden sein.» — «Sind wir», fragte ich ihn, «etwa
religiös? Keine Ahnung davon!» — «Und doch», sagte
ich ihm ernst, «was uns treibt, ist religiösen Ursprungs.
Suchende sind wir, noch nicht Gläubige.» — «Wir
müssen», beteuerte ich, «Gläubige werden!» Und ich
besuchte die Kirchen, evangelische und katholische —
aus der Synagoge wurde ich ausgewiesen. Ich ließ mich
gefangennehmen von der volltönigen Begeisterung des
Predigers der Paulskirche, spürte die Schauer des
göttlichen Geheimnisses im Hochamt des Domes, rief
mit blonden Jungen im Taunus die Sonne an,
debattierte mit Jugendbewegten aller Bekenntnisse,
landete bei Nietzsche, verzweifelte und berauschte
mich und erklärte, wir müßten über Nietzsche hinaus.
«Die Literatur!» sagte ich zu Heinz. «Wir wissen ja
gar nicht, aus welchen geistigen Quellen sich unser
Handeln speist! Wenn wir die Deutschheit erkennen
wollen», beschwor ich ihn, «müssen wir die Werke
erobern, in denen sie sich spiegelt!» Und ich las. Ich las
mit wütender Inbrunst, Nächte hindurch, war der
Schrecken bücherbesitzender Freunde, Stammgast der
Stadtbibliothek, las wild durcheinander, von der Edda
bis Spengler, gleich, wie es kam, war Kunde der
kommunistischen «Bücherkiste» in der Passage und des
Borromäusvereins. Heinz bewarf mich mit dröhnenden
Gesängen der Göttlichen Komödie, ich schmiß ihm
peitschende Monologe Shakespeares entgegen; schließ-
lich einigten wir uns auf Hölderlin.
All die Monate hindurch schrieb ich täglich acht
Stunden lang Prämienquittungen. Die Kollegen wußten
immer, wenn in der Stadt eine politische Versammlung
gewesen war. An der Anzahl der Beulen an meinem
Kopfe glaubten sie die politische Richtung des jewei-
ligen Redners erkennen zu können. Sie belächelten
mich ob meines Unverstandes, mich in Dinge zu
mischen, die mich nun einmal partout nichts angingen.
Aber dafür nahmen sie es mir auch nicht weiter übel,
daß ich mich an ihren stundenlangen Debatten über
Gehaltserhöhungen und Manteltarife und Verbands-
wahlen durchaus nicht beteiligte.
Ich lebte das Leben dieser Stadt. Ich stellte mich vier
Stunden an der Theaterkasse an, um noch eine Karte
für die Galerie zu erlangen, und schloß dabei
Freundschaft mit den einzigen Sachverständigen unter
den Zuschauern. Ich bettelte um Freikarten für die
Montagskonzerte des Philharmonischen Orchesters, ich
schmuggelte mich ohne Eintrittskarte durch die
Eingangspforte des Palmengartens, tuend, als sei ich
langjähriger Abonnent. Ich promenierte vor dem
Konzertpavillon mit den anderen in der Lästerallee,
schmiß sieghafte Blicke zu den Mädchen und führte
philosophische Gespräche. Anfangs genierte ich mich
ein wenig über den Zustand meiner Garderobe, dann
machte ich eine Tugend aus der Not und benahm mich
erst recht wie ein Rüpel. Ich nahm Tanzstunde. Sie
kostete mich nichts, denn Madame Grunert, in
Verzweiflung, daß so wenig Herren und so viele
Damen ihr Institut beehrten, drückte wohlwollend und
mit äußerstem Takt beide Augen zu. Es gab keine Kerb
auf den Bauerndörfern der Umgegend, auf der ich nicht
zu finden war.
Ich fiel in Liebe. Ich fiel in die tiefste Schlucht wilder
Todessehnsucht und wurde im gleichen Augenblick an
die glühende Sonne der äußersten Lebensbejahung
geschleudert. Auf einen Wink von ihr war ich bereit,
mich, das Haus, die Stadt, die Welt in die Luft zu
sprengen. Dann kaufte ich das Büchlein in
Streichholzschachtelformat «Mozart auf der Reise nach
Prag» und wickelte es in zwölf Folioseiten eng-
geschriebenen Gedichts von mir an sie. Ich erwog, daß
ich bald eine zahlreiche Familie zu ernähren haben
werde, und beschloß, Überstunden im Prämien-
quittungenschreiben zu machen — und Gott allein
weiß, wie schwer mir das fiel. Die Kollegen auf dem
Büro wunderten sich, daß ich nun jeden Tag rasiert
war. Ihr schenkte ich vom ersten Überstundengeld ein
goldenes Kettchen; dann ließ ich mir ein Wunderwerk
von Anzug bauen. Übrigens wurde sie zehn Jahre
später meine Frau.

In jenen Tagen führte die Reichsregierung die große


Entwaffnungsaktion durch. Jedermann, der ein Gewehr
ablieferte, sollte hundert Mark erhalten. Kaum erfuhren
wir dies, so rannten wir los. Wir suchten jeden
vermögenden Mann auf, den auch nur von ferne ein
patriotisches Rüchlein umwitterte, wir klapperten die
Güter der Umgegend ab, wir rannten den Damen der
Gesellschaft die Häuser ein. Und bettelten. Wir
bettelten um Bargeld, schwindelten, wo uns der Mann
nicht sicher schien, brausten begeistert mit der
Wahrheit heraus, wo er gewaltig auf Regierung und
Franzosen schimpfte. Heinz bekam von einem Ritter-
gutsbesitzer statt Geldes eine Wurst geschenkt. Mir
reichte eine mildtätige Dame einen Teller Suppe ins
Treppenhaus. Auf deutschen Abenden beschworen wir
die Bürger, uns die Gewehre abzuliefern. Otto suchte
seine Genossen auf, doch wußten diese selber, wozu
Gewehre nützlich sind, und behielten sie. Wir stellten
uns in der Nähe der Polizeiwachen auf und blinzelten
den würdigen Herren zu, die, auf der Schulter das
Gewehr, für hundert Mark ihre staatsbürgerlichen
Pflichten erfüllen wollten, und zerrten günstig gesinnt
Scheinende in eine dunkle Ecke und boten hundertfünf.
So entrissen wir zahlreiche Waffen dem Moloch der
Vernichtung und schleppten sie nach Hause. Das fiel
nicht auf, denn auf allen Straßen schritten ernst die
Bürger mit den verpackten Flinten. Nur den Otto hielt
ein Kriminalbeamter an; denn Otto war zu wohl-
bekannt. Doch sah der Otto treu dem Kripo in das Auge
und erklärte: «Grade wollte ich's abliefern!» Der Kripo
aber ließ es sich nicht nehmen, den Otto bis zur Wache
zu begleiten, und so bekam der Otto seine hundert
Mark und verlor auf diese Weise fünf.
Jörg und seine Schupos aber schleppten die Gewehre
handkarrenweise weg. Allmählich hatte jeder von uns
ein Waffenlager so groß wie das meine. Aus der
zahmen bürgerlichen Mitte schwammen die Waffen so
zu den Aktivisten nach rechts und links.
Es war dies der Erfolg nicht ganz, den von dieser
Aktion die Reichsregierung erhoffte.

Es lag begründeter Anlaß vor, zu zweifeln, ob die


Reichsregierung überhaupt in der Lage war, irgend
etwas zu wünschen, außer der Möglichkeit ihrer
Existenz. Kompromißprodukt aller Gegensätze, die das
Reich spalteten, vermochte sie nicht, etwas Entschei-
dendes zu wagen; denn jedes Entscheidende ist ein
Wagnis, und da sich alle widereinander drängenden
Kräfte die Waage hielten, mußte ein einziger Schritt ins
Ungewisse den Balken mächtig, unberechenbar tief
nach unten schlagen lassen.
Der Westen drohte unerbittlich mit den Keulen-
schlägen der Milliardenforderungen. Ein Nein ihm
gegenüber hieß, die Schleusen öffnen jener Flut, die
schon die Dämme Polens überschwemmte, das Ja der
Unterwerfung hieß Erstickungstod. Die Reichsregie-
rung konnte nichts, als ihre Not ermattet in papierne
Formeln kleiden, Noten senden, Ultimaten wehren,
bitten, protestieren, appellieren und verzichten. Und
wie das Reich zermürbt, zerrieben stand zwischen den
Gewalten Ost und West, die um Herrschaft und um
Leben rangen, so stand des Reiches Regierung
zwischen allen Lagern, in denen in der feurigen
Erregung der Gefahr die Scharen sprungbereit des
Gegners Blößen witterten.
Nie werden wir vergessen, wie uns das Schicksal
fallen ließ, weil wir uns nicht zu ihm bekennen
konnten. Nie werden wir vergessen, wie das Leben
selbst sich seinen Ausweg suchte, wie die drängenden
Gewalten langsam und taumelnd zwischen allen
Gegensätzen sich ineinanderschroben und verbissen,
wie aus Druck und Gegendruck die tote Formel wuchs.
Nie werden wir vergessen, wie so des Reiches Formung
wurde, die Formung, die nimmermehr Gestaltung war,
wie über der Bewegung, wie über allem fieberhaften
Suchen, Wollen, Glühen langsam sich die Kruste
deckte.
«Stickluft, Stickluft!» sagte Kern. «Man muß Löcher in
die Kruste schlagen, damit ein frischer Wind in unsre
dumpfen deutschen Räume fährt!»
Er kam in meine Kammer und berichtete, er habe
seinen Abschied von der Reichsmarine genommen.
Nun gelte es, in hundert kleinen Einzelunternehmen
den Boden für die entscheidende Aktion zu schaffen. Er
saß gespannt, geduckt auf den Patronenkästen und
schilderte, wie überall im Reich im Meer der Müden,
Hungernden, Verbrauchten die Einzelnen sich rüsteten,
gleich uns. Noch, meinte er, sei nicht der Weg und
nicht das letzte Ziel bekannt. Doch bürge schon der
Schrei, der nach dem starken Manne in allen Gassen
sich erhebe, daß, da das Wort noch nicht geboten
worden sei, die Tat fürs Wort die Ohren öffnen müsse.
Er glaube, sagte er, an die innere Zwangsläufigkeit des
Geschehens. Der erste Vorstoß müsse uns in einen
Wirbelwind verketteter Gefahren schleudern, die leicht
und spielend uns begrüßten, um dann an unserm Tun zu
wachsen, um dann gewaltig, unentrinnbar uns in ihren
Bann zu ziehen.
Nach langer Unterhandlung stand er auf. Er holte,
sich besinnend, das Buch, das ich ihm lieh, aus seiner
Mappe und stellte es aufs Brett. Ich sah ihn forschend
an. Kern sagte nur: «So viel Funken und so wenig
Dynamit!»
Vorstoß

Zu uns kam zu Beginn des Jahres 1921 ein junger


Mensch namens Gabriel. Wir saßen, Kern, Heinz, ich,
in Heinzens Zimmer. Gabriel sagte:
«Man hat mir berichtet, daß hier Männer wären, die
mir helfen. Ich stamme aus der Pfalz. Ich war Offizier
in einem bayerischen Regiment. Ich hatte eine
Schwester. Vor vier Monaten ging ich mit ihr außerhalb
des Gutsbezirks. Wir waren bei einer befreundeten
Familie; es war schon spät abends, als wir uns auf den
Heimweg machten. An einer Feldscheune, etwas
abseits des Weges, kamen uns Franzosen entgegen.
Eine Patrouille, bestehend aus einem betrunkenen
Offizier und vier Mann. Sie hielten uns an. Der Offizier
verlangte einen Paß. Ich sagte ihm, es sei ein Paß nicht
nötig, wir brauchten niemals einen Paß, außer, wenn
wir zur Stadt führen. Ich versuchte vergebens, den
Offizier zu bereden. Er schrie mich an. Auch ich wurde
laut und fragte, ob das die vielgerühmte Disziplin der
französischen Armee sei. Der Mensch, der Kerl schlug
mich ins Gesicht. Ich hielt an mich. Meine Schwester
war bei mir. Meine Schwester schrie auf. Der Franzose
packte sie am Arm. Ich sagte ihm, er solle meine
Schwester freilassen. Er sagte, wir müßten zur Wache,
und schob seinen Arm unter den meiner Schwester.
Meine Schwester versuchte, sich loszumachen. Da
wollte der Kerl sie küssen. Ich riß seine Hand von ihr.
Da griff die Wache mich. Sie schlugen mich, sie zerrten
meine Schwester fort. Ich sah, wie sie versuchte zu
entfliehen. Sie schleppten sie, am Boden halb, zur
Feldscheune. Mich hielten sie fest. Mich prügelten sie.
Ich schrie, ich fluchte, ich drohte. Sie banden mich. Sie
rissen mich auf die Knie, sie fesselten mich an einen
Baum. Sie stopften mir einen Fetzen Zeugs in den
Mund. Meine Herren, ich habe mich gewehrt bis
zuletzt. Glauben Sie mir das, bitte, glauben Sie mir das!
Die Kerle rannten ihrem Offizier nach in die Scheune.
Dann hörte ich meine Schwester schreien. Ich hörte...»
«Genug!» schrie Kern, Er sagte aus trockener Kehle:
«Ich habe auch Schwestern.» Gabriel fuhr leise fort:
«Sie ertränkte sich einige Tage später. Ich war beim
Ortskommandanten, ich schilderte den Vorfall; aber er
höhnte, drohte, sagte etwas von deutschen Huren. Seit
vier Monaten suche ich den Kerl, der meine Schwester
auf dem Gewissen hat. Nun habe ich ihn gefunden. Er
ist jetzt in Mainz. Wollen Sie mir helfen?» —
Wir halfen ihm.
Mit der Empfehlung eines unserer Freunde in Kassel
kam ein geheimnisvoller Herr zu uns, ein stattlicher,
geradegereckter Herr mit sehr hohem, weißem, steifem
Kragen und gebräuntem Gesicht, das nur auf der Stirn
über einem glatten Strich noch gebleicht war. Der Herr,
vornehm und zurückhaltend, ließ vorsichtig
durchblicken, daß er über unsere Tätigkeit informiert
sei und sie, bis auf einige kleine Vorfälle vielleicht,
billige. Der Herr erinnerte Kern und Heinz, daß sie ja
Offiziere gewesen seien, und sprach einige gesetzte
Worte über die Not unseres Vaterlandes, über die
unermüdliche Arbeit, mit der ernste Männer und
glühende Patrioten selbst unter den veränderten
Verhältnissen an den Wiederaufbau gegangen seien
und gehen müßten, über das Opfer, welches das
Vaterland von jedem von uns verlange, ein Opfer, das
sogar so weit gehe, eine Mitarbeit unter scheinbarem
Aufgeben der selbstverständlich nach wie vor
unantastbaren Gesinnung anzunehmen. «Kurz», sagte
Kern, «Sie wünschen etwas Bestimmtes von uns, Herr
Hauptmann?» Der Herr wehrte entsetzt: «Bitte, Pardon,
nicht Hauptmann, nicht mehr Hauptmann, meine
Herren!» Und erklärte dann, es habe sich herausgestellt,
daß die französische Nachrichtenabteilung mit einem
Heer von deutschen Spitzeln arbeite. Die Tätigkeit
dieser Spitzel gelte es zu unterbinden. Ob nicht die
Möglichkeit bestünde, daß von uns aus eine
Gegenorganisation, eine Art Spitzelabwehr, gegründet
werde, natürlich ganz privat, denn der Friedensvertrag
verbiete ja leider, leider den deutschen Behörden diese
Art Tätigkeit — doch könne er — hier sah sich der
Herr vorsichtig um und flüsterte vorgebeugt, könne er
wohl zu verstehen geben, daß Schwierigkeiten
irgendwelcher Art von seiner Behörde jedenfalls kaum
zu er warten seien. Der Herr dämpfte seine Stimme
noch etwas mehr und hielt einen längeren Vortrag. Zum
Schluß sagte der Herr: «Natürlich meine Herren, muß
Ihre Tätigkeit unter allen Umständen geheim bleiben.
Absolut geheim und unter allen Umständen. Selbst
meine Behörde darf...» — «Ich verstehe», sagte Kern
verächtlich. Heinz fragte sinnend: «Wenn ich Sie recht
begriffen habe, Herr..., geht also unsere Aufgabe dahin,
Namen und Persönlichkeiten der in französischem Sold
stehenden deutschen und französischen Spitzel
festzustellen...? - «Und die weitere Tätigkeit dieser
Leute», sagte der Herr voll Würde, «zu unterbinden!»
«Das heißt also», sagte ich und war bemüht meiner
Stimme die angemessene militärische Schärfe zu
geben, «das heißt also, sie zu erledigen?» Der Herr war
peinlich berührt. «Das heißt: mit den Mitteln, die Ihnen
zur Verfügung stehen, an ihrem verderblichen Hand-
werk zu hindern!» sagte er. Heinz stützte das Kinn auf
die Hand und sagte: «Gesetzt, einer von uns käme im
Verfolg sei ner Aufgabe durch einen unglücklichen
Zufall in einen Konflikt mit den Gesetzen, die...» —
Der Herr erhob sich zu seiner ganzen, achtung-
gebietenden Größe: «Meine Herren! Sie sind deutsche
Männer! Wir alle müssen Opfer bringen. Wir alle
müssen unsere kleinen persönlichen Sorgen zurücktre-
ten lassen vor den großen und erhabenen Forderungen
unseres geliebten Vaterlandes! Wir alle...» — «Es ist
gut», sagte Kern, stand auf und hielt die rechte Hand
beharrlich hinter seinem Rücken.
Der Herr ging. Ein glühender Patriot, unantastbar,
pflichtbewußt.

Schon war das Netz gespannt. In der Pfalz wirkte


Gabriel. Er stand auf gefährlichem Posten; denn der
Kommandant seines Heimatortes kam von einem
Jagdgang nicht zurück, und Gabriel war in Verdacht. In
Mainz, in Köln, in Koblenz, überall bildeten sich die
kleinen, elastischen Gruppen; in Worms, in Trier, in
Aachen nisteten sie, immer gefährdet, versteckt,
unermüdlich. Im Gewirr der Städte, an den Wein-
hängen der Mosel und der Saar, in den weiten Ebenen
des Niederrheins, in den Dörfern der Pfalz strichen die
Jungen, im Schatten des Verrats, knüpften die
Verbindungen, lauerten, forschten, berichteten. Sie
bohrten sich in das Gefüge, das, vom Deuxieme Bureau
routiniert aufgebaut und durch den unablässig rollenden
Franc mit einer Armee von Spitzeln deutscher Staats-
angehörigkeit aufgefüllt, alle Gebiete des deutschen
öffentlichen und nicht öffentlichen Lebens beherrschte.
Sie spürten den geheimen Wegen nach, die der Franc
nahm. Sie schlichen um geschlossene Häuser, hinter
deren verhängten Fenstern die Schatten huschten, sie
lungerten in den Kneipen, in denen sich verdächtige
Gestalten trafen und von dunkelblickenden Herren mit
schwarzem Mantel und Melone Anweisungen entge-
gennahmen. Sie traten plötzlich, jung, kühn, ohne
jeglichen Respekt, vor gewichtige Körperschaften,
warnten, drohten, rieten. Sie führten das große Wort in
den Versammlungen erregter Arbeiter, auf den
Fabrikhöfen, an den Förderschächten, in rauchigen
Sälen. Sie standen plötzlich auf den Trittbrettern der
Autos eiliger Separatistenführer, den gezückten
Photographenapparat in der Hand, sie fetzten die
Plakate der Separatisten von den Wänden, tauchten mit
Gebrüll in deren Versammlungen auf, Anführer von in-
ventarzertrümmernden Haufen.
Sie waren wie das wache Gewissen der Provinz. Die
Mädchen, die mit den Franzosen gingen, fürchteten für
ihre Zöpfe. Die Bürger, die mit den Offizieren der
Besatzung verkehrten, sorgten, daß dies heimlich
geschehe. Die französische Gendarmerie, die Kriminal-
polizei — und nicht nur die französische! — hetzte
hinter ihnen her. Die deutschen Verwaltungs-behörden
mieden sie wie die Pest. Sie, ohne Hoffnung, ohne
Mittel, ohne Dank, standen in allen Lagern, sprachen in
allen Idiomen, waren für die Franzosen die einzige
nahe Gefahr. Sie waren in keiner Stadt mehr als
zwanzig Mann. Uns gingen die Berichte zu von
Rheinhessen und dem Saargebiet. In Elberfeld war die
Zentrale für die Rheinprovinz, in Mannheim für die
Pfalz.
Einen von den Mainzern nahmen französische
Kriminalbeamte fest. Auf der Wache wurde er
verprügelt. Zwei Zähne wurden ihm ausgeschlagen. Er
sollte sagen, wo die Waffen lagerten. Er sollte sagen,
wer Heinz, wer Kern wäre. Er schwieg. Sie rissen ihm
die Kleider vom Oberkörper, sie schlugen ihn mit
Fahrerpeitschen. Er biß die Zähne aufeinander, blutend,
wankend, schwieg. Ein Franzose zündete sich eine
Zigarette an, trat dicht vor ihn und näherte das
glühende Pünktchen seiner Haut. Er schrie vor
Schmerz, der Franzose betupfte ihn mit der Glut, fragte
mit höhnischer Höflichkeit. Doch er schwieg. Nach drei
Wochen mußten ihn die Franzosen entlassen, die
deutschen Behörden wurden unbequem.
Wir wurden also bespitzelt. Kern war bleich vor
Zorn. Selbst in so kleinen Gemeinschaften also mußten
Verräter stecken! Es galt, um jeden Preis, zu erfahren,
wer im Solde der Franzosen stand. Heinz fragte, ob
unter den Männern der Gruppe einer sei, der zu zoten
pflege. Wer zotet, übt Verrat.

Kern und Heinz waren, wie so oft, in geheimer Mission


verreist. Müllnitz, Sohn eines Generals, Student und
Fähnrich, kam zu mir und brachte eine ältere Dame
mit. Die Dame erzählte, sie betreibe ein kleines
Handelsgeschäft in Spitzen und Bijouterien. Ihr Handel
führe sie auch des öfteren in das besetzte Gebiet, nach
Wiesbaden und nach Mainz. Im Kurpark zu
Wiesbaden, wo sie mit einer Geschäftsfreundin einen
gelegentlichen Kauf abschloß, stellte diese ihr einen
französischen Offizier vor. Der war, wie es sich
herausstellte, Elsässer, hieß früher Schröder und leitete
nun die französische Nachrichtenstelle in Mainz. Dieser
Herr wußte im Laufe des liebenswürdigen Gesprächs
ihr nahezubringen, daß mit ihrem Handel doch nur
wenig Geld zu verdienen sei im Vergleich zu einer
Tätigkeit, mit der sie ihm persönlich noch obendrein
einen Gefallen erweisen würde. Die Dame, verwirrt,
unbekannt mit den Gebräuchen der niederen Politik,
verharrte als erfahrene Geschäftsfrau abwartend, doch
nicht unfreundlich. Der Offizier, Capitaine im Range,
redete auf sie ein, spitze, widerhakige Andeutungen
fallen lassend, harmlos mit den Augen zwinkernd, um
den Kern der Sache schleichend, geduldig, zäh und
seiner Sache gewiß. Nur nötig sei, ihm gute Bekannte
der Dame zuzuführen, vielleicht Herren, die einmal in
der Reichswehr waren oder noch dort Dienst taten, oder
vielleicht in der Schutzpolizei? Herren, die gerne in
diesen schlechten Zeiten sich einen kleinen
Nebenverdienst erwerben möchten, nicht wahr, oder,
wer weiß, vielleicht sogar einen großen? Die Dame
blieb still. Sie ließ die Sache offen. Der Capitaine,
durchaus nicht böse, gab ihr seine Adresse, entfernte
sich nach verbindlichem Abschied. Die Geschäfts-
freundin aber drängte, sie solle doch nicht töricht sein,
es wäre doch nichts dabei, der Herr Capitaine sei so
nett und sehr, sehr freigebig; sie selbst habe doch
schon... natürlich nur Kleinigkeiten, hier und dort eine
kleine Gefälligkeit, ganz ohne Gefahr, Tausende täten
es. Die Dame, die im Müllnitzschen Hause verkehrte,
teilte dort den Inhalt dieses Gesprächs zitternd mit.
Wir berieten. Dann entschloß ich mich, die Spinne in
ihrem Schlupfwinkel aufzusuchen. —
Monsieur le Capitaine ließ bitten. Wir traten ein. Das
Zimmer war geräumig, in der Mitte stand ein riesiger
Schreibtisch. Der Capitaine, ein noch junger, dunkler
Herr, glattrasiert, gepflegt, gewandt, begrüßte die Dame
mit Herzlichkeit. «Ich habe Ihnen», sagte sie, «hier
zwei junge Freunde mitgebracht, die unter Umständen
geneigt wären, Ihnen nützlich zu sein. Der eine der
Herren», sagte sie und wies auf Müllnitz, «ist
Angehöriger der Reichswehr, der andere ist bei der
Schutzpolizei.»

Der Herr Capitaine war erfreut. Zwar gab er nur der


Dame die Hand, doch bat er zuvorkommend, Platz zu
nehmen. Ich setzte mich auf einen Stuhl, der dicht
hinter dem Schreibtisch stand, die Dame saß auf der
anderen Seite, dem Capitaine halb im Rücken, Müllnitz
ihm direkt gegenüber. Müllnitz sagte stockend, er habe
gehört, der Herr Capitaine sei dankbar für
Informationen. Der Capitaine holte eine blaue Mappe
hervor, hob sacht die Hand und bat um unsere Namen.
Auf der blauen Mappe, ich entzifferte mühsam die
Buchstaben, da ich sie verkehrt lesen mußte, stand mit
Rotstift geschrieben: «Journeaux des canailles». Der
Capitaine wandte sich zu mir. «Ich heiße Schröder!»
sagte ich. Der Capitaine zuckte etwas zurück, sah mich
brennend an. Ich blickte ihm steinern ins Gesicht und
reichte ihm einen Paß. Der Paß lautete auf
Unterwachtmeister Schröder von der Schutzpolizei.
Mein Bild klebte gestempelt auf dem Deckblatt. Der
Capitaine schlug die Mappe auf und trug den Namen in
eine lange Liste ein. Müllnitz nannte seinen Namen. Er
war ungeheuer bleich, und ich sah, wie seine weißen
Finger am Stuhlrand zitterten. Der Capitaine schlug die
Mappe wieder zu und schob sie an den Rand des
Schreibtisches, dicht vor mich hin. Ich warf blitzschnell
einen Blick zu Müllnitz; er verstand. «Ich bin Schleswi-
ger», sagte ich zu dem Capitaine, «ich stamme aus
Hadersleben.» Der Capitaine sagte sofort: «Ah, ich
habe die Ehre, in Ihnen den Angehörigen eines Volkes
zu begrüßen, das, von preußischer Willkür bedrückt,
die Wiedervereinigung mit seinem Vaterlande
erstrebt?» Ich, unfähig ein Wort weiter zu sagen,
verneigte mich. Der Capitaine sprach deutsch ohne
jeden Akzent. «Und Sie, Herr Müllnitz?» Müllnitz
würgte heraus, und seine Backenmuskeln bebten:
«Mein Vater ist General, und...» O Gott, weshalb sagt
er das, zuckte es mir durch den Kopf, doch der
Capitaine, gewandt, unterbrach ihn schon: «Ich
begreife, meine Herren, Sie sind Ihres Standes entsetzt,
verarmt, dienen ohne Überzeugung. Die Bolschewisten
sind eine Gefahr. Nicht nur für Sie. Die größte Gefahr
steht noch bevor: Preußische Bolschewisten. Sie sind,
Herr Müllnitz, wie ich ersehe, Bayer?» Müllnitz bejaht.
Der Capitaine beginnt, plaudernd, flüssig, elegant, zu
fragen. Er wendet sich fast immer an Müllnitz. Aus der
blauen Mappe vor mir blinkt ein Zipfel weißen Papiers.
Langsam hebt sich meine Hand, hegt auf dem Tisch,
rückt unmerklich zur blauen Mappe vor. Müllnitz
stammelt, plappert, erzählt Persönliches, will begreif-
lich machen, warum er Verbindung mit dem Herrn
Capitaine suche. Der trommelt mit den Fingern auf der
Stuhllehne. Ich werfe einen beschwörenden Blick auf
die Dame, die schweigend dasitzt. Sie beugt sich auf
einmal vor, Müllnitz wendet sich: «Nicht wahr, gnädige
Frau?» zu ihr; sie sagt etwas, der Capitaine dreht sich
sogleich höflich zu ihr; meine Hand beginnt rasend zu
zittern, zieht, zupft, der Bogen segelt plötzlich zu
Boden, mir zu Füßen. Ich höre, wie der Capitaine
scherzt, der Franc stünde besser als die Mark. Ich bücke
mich, tue, als bringe ich den Schuhsenkel in Ordnung,
rolle den Bogen und schiebe ihn mit flatternden
Händen in den Strumpf. Müllnitz stiert mich an, ich
nicke ihm unmerklich zu, muß auf die Zähne beißen,
muß die Füße aneinanderpressen, um den Aufruhr
meines Blutes zu ersticken. Müllnitz, kurz
entschlossen, erhebt sich, verspricht, mit Material
wiederzukommen. Wir murmeln Abschiedsworte, der
Capitaine reicht Madame die Hand, verbeugt sich
knapp; wir gehen.
Der Bogen, den ich stahl, enthielt eine lange Liste,
die Namen der Canailles. Der Herr in Kassel konnte
zufrieden sein.

Wir saßen bis spät in die Nacht und warteten auf Jörg,
der uns Bericht geben sollte über den Verlauf einer
Waffenschiebung in einen Taunusort. Kern war
beunruhigt, Jörg hätte schon am Nachmittag da sein
sollen. Gegen Mitternacht stürmte er die Treppe hoch
und taumelte ins Zimmer, bleich, verstört, verschwitzt.
«Otto und Mahrenholz ...», keuchte er, «beide
geschnappt. In Mainz.» —
Die Waffen waren glücklich durch die Demarkations-
linie gebracht. Am verabredeten Ort warteten die
Empfänger, Bauernburschen der Gruppe des Taunus-
gebietes. Die Waffen wurden gleich verteilt und
versteckt. Dann gingen die Kameraden in ein Gasthaus,
um auszuruhn. Jemand mußte den Franzosen Nachricht
gegeben haben. Auf dem Heimweg, am Ausgang des
Ortes, kamen Marokkaner, geführt von französischen
Gendarmen. Sie traten plötzlich aus einem Hofe, mit
angelegten Gewehren. Die Gruppe spritzte sofort
auseinander; die Franzosen schossen, vier Mann
wurden umzingelt und gefangen, darunter Otto und
Mahrenholz. Jörg konnte sich durchschlagen. Er hetzte
übers Feld in ein benachbartes Dorf, holte sich dort ein
Fahrrad bei einem befreundeten Bauern, fuhr, überall
am Wege verstohlen fragend, nach Mainz. Die vier
waren noch nicht ins Gefängnis gebracht worden, son-
dern saßen in der Marokkanerkaserne, sollten
wahrscheinlich noch eingehender verhört werden.
Noch in der Nacht trieben wir Müllnitz aus dem Bett,
der seinen Onkel wiederum bedrängte. Dieser Onkel
hatte einen alten, aber schnellen Adlerwagen. Ich
schrieb einen Zettel für meine Firma, der, wie so oft
schon, vermeldete, ich sei krank und müßte leider das
Bett hüten.
Am Morgen fuhren wir los, Kern und ich im Wagen,
den Müllnitz lenkte, Heinz, Jörg, zwei Schupos in Zivil
und ein junger Kommunist, Freund Ottos, mit der
Bahn. Jeder von uns hatte in beiden Hosentaschen je
eine Pistole, in beiden Rocktaschen je eine Eier-
handgranate. Kern hatte noch zwei Stielhandgranaten
im Mantel.
Die Mainzer, schon am vergangenen Tag durch Jörg
ins Bild gesetzt, hatten erfahren, daß die Gefangenen
innerhalb der Marokkanerkaserne, einer früheren
Schule, in der Turnhalle eingesperrt seien. Kern ließ
sich die Lage der Halle aufzeichnen und berichtete
seinen Plan. Dann machten wir uns auf den Weg. Das
Auto wartete in der Nähe der Kaserne, gedeckt von
Jörg und Heinz. Die Mainzer und die anderen drei
verteilten sich auf die umliegenden Straßen. Kern und
ich gingen, ohne daß das Tempo unserer Schritte mit
dem unseres Herzschlages übereinstimmte, auf das Tor
der Kaserne zu.
Ein Marokkaner stand Posten. Er ging mit kurzen,
trippelnden Schritten auf und ab. Unzählige
französische Soldaten und Offiziere gingen vorbei,
schlenderten durch das Tor. Die Turnhalle stand frei im
Hof. Ich blieb in der Nähe des Postens stehen, beide
Hände in den Hosentaschen, die Griffe der Pistolen
umklammert, die Pistolen entsichert. Kern bog elegant
um die Ecke, strich mit höflichem Hutschwenken an
dem Posten vorbei. Der ließ ihn ohne weiteres durch.
Es ist unbegreiflich, wie viel ich in den wenigen
folgenden Sekunden sah. Die Sonne bestrahlte prall den
Hof, blinkte in vielen Kieseln wider, ließ Fenster-
scheiben blitzen und die Glasscherben auf den Mauern.
Eine Schar Sperlinge schilpte auf einem Fleck, im
Schatten einer großen Kastanie, die im ersten Schmuck
des Vorfrühlings braunglänzende Knospen mit
zartgrünen Spitzen stolz in die Höhe reckte. Wie
anmutig schief saßen die Käppis der vorbeiflanierenden
Franzosen.
Der Posten hatte ein gelbes, fahles Gesicht und
tiefliegende Augen mit bläulichen Schatten. Seine
Uniform schlenkerte um den schmalen Körper; er war
behängt mit grobgewebtem, festem Koppelzeug, der
flache Helm saß ihm im Nacken. Und Kern, Kern ging
mit selbstverständlicher Leichtigkeit, sein Lodenmantel
bauschte sich durch seinen schnellen Schritt, einzelne
Kiesel flogen und spritzten unter seinem Fuß. Nun
stand er am Tor der Halle. Nun griff er in die
Manteltaschen...
Ich krächzte heiser, machte ein, zwei Schritte auf den
Posten zu, der sich zu mir wandte. Und Kern holte eine
Handgranate vor, hängte sie an die Klinke der Tür und
zog ab. Und trat mit kurzer Wendung an die Seite,
schmiegte sich an die Mauer, in einen Winkel hinein.
Der Posten musterte mich befremdet. Ich sah ihm starr
ins Gesicht und zählte in Gedanken mit. Fünf
Sekunden, fünf Sekunden, dann...
Ein dumpfer Krach. Der Posten schrak zusammen,
fuhr herum. Mit zwei Schritten war ich an ihm. Ich sah
jetzt nichts, ich sah den Posten nur, der starrte aus
geweiteten, geschwärzten Höhlen, ließ den Unterkiefer
fallen, zerrte am Gewehr. Da schnellten meine Hände
aus den Taschen, die Pistolen zuckten hoch, ich schrie:
«A bas les armes!» Der Posten taumelte zurück, weit
offen, unbegreifend Aug' und Mund, und starrte in die
Mündungen. Da, Schritte, Schatten, Lärm. Kern war da,
die andern auch, Franzosen wimmelten herbei; ich
sprang zurück, ich sah, wie Otto einem herangeeilten
Poilu die Faust unter das Kinn setzte, daß der seinem
Kameraden in die Arme taumelte. Und Kern, beide
Arme hoch, feuerte die Schüsse in die Luft; ich wandte
mich und stolperte und raste los.
Dies verfluchte Pflaster dieser Stadt! Wieviele
Menschen waren auf den Straßen! Das waren
Menschen doch, oder Schatten? Bleiche Scheiben, statt
Gesichter, schmale Striche, statt Gestalten; weiter,
weiter. Da ist Jörg, da das Auto. Die Schläge fliegen
auf, wir werfen uns hinein; der Wagen stöhnt und ruckt
und fährt.
«Schnell zur Brücke», ruft Kern, «so schnell wie
möglich über die Brücke!» Laut hupend braust der
Wagen, Müllnitz hockt am Steuer wie aus Stein.
Wir liegen aufeinandergewürfelt. Otto, Mahrenholz,
die beiden Bauernburschen. Kern neben Müllnitz. Ich
teile Pistolen aus. «Geladen und gesichert», sage ich.
Jeder hält jetzt eine Waffe schußbereit in der Faust.
Wir rasen über die Brücke. Wie behäbig breitet sich der
Strom. «Der Rhein, der Rhein», sage ich, murmle
immer wieder: «Der Rhein.» Bis wir drüben sind. Der
Wagen schlingt das grauweiße Band der Chaussee.
«Obacht geben an der Demarkationslinie», wendet sich
Kern, den Hut haltend. «Sicher haben sie allen Posten
telephoniert!» Wir nicken und schweigen. Der Wald
streicht vorbei. Mahrenholz sieht mich lachend an,
nickt, breitet die Arme. Ich verstehe; er will sagen:
schön ist die Welt.
Eine Gruppe Häuser. Soldaten auf dem Weg. Schon
sind wir heran. Die Soldaten schwenken die Gewehre,
immer neue eilen aus dem Gehöft.
«Durch!» schreit Kern. Müllnitz gibt noch einmal
Gas. Der Wagen macht einen Sprung, quietscht, heult,
rast. Es knallt, sie schießen...
Und wir sind durch, wir sind durch!
Mahrenholz bückt sich vornüber. Was hat er? Blut
auf seiner Backe? Mahrenholz ist tot.
Viele noch werden ihm folgen.
O.S.

Im Jahre 1917 wurde von deutschen Politikern,


Generälen und Staatsmännern das Königreich Polen
neugegründet. Im Jahre 1918 verwandelte die dankbare
und befreite Bevölkerung des Königreiches dies Reich
in eine Republik, und in den deutschen Provinzen
Posen und Westpreußen die proletarische Revolte in
eine polnische. Im Jahre 1919 vollzog sich in
erbittertem Kampfe mit den schwachen deutschen
Grenzschutzkräften, jedoch nicht ohne das Wohlwollen
deutscher Behörden, die polnische Besetzung der
beiden Provinzen und wurde durch den Friedensvertrag
von Versailles sanktioniert. Gleichzeitig schuf der
Friedensvertrag den Freistaat Danzig, den Polnischen
Korridor und das Abstimmungsgebiet Oberschlesien.
Die deutsche Nationalversammlung und Regierung
erhob gegen den Vertrag Protest und unterschrieb ihn.
Das Reichtaler Ländchen, dicht nordöstlich von
Namslau, der Geburtsort des ehemals deutschen
Reichtstagsabgeordneten Korfanty, wurde von den
Polen im Eifer der Besetzung gleich mit in die Grenzen
des neuen polnischen Staates einbezogen; obwohl der
Friedensvertrag diesbezüglich anders lautete, fiel dies
nicht weiter auf. In Oberschlesien erfolgte der erste
polnische Insurgentenaufstand und wurde von
deutschen Freikorps und Grenzschutztruppen nieder-
geschlagen.
Im Jahre 1920, am 11. Februar, übernahm unter
Führung des französischen Generals Le Rond die
Interalliierte Abstimmungs-Kommission, genannt
IAK., die Regierungsgewalt in Oberschlesien. Im Som-
mer dieses Jahres brach der russisch-polnische Krieg
aus. Die Reiterarmee des sowjetischen Generals
Budjonni schlug die Polen und drang bis weit in den
Polnischen Korridor in ehemals deutsches Gebiet hin-
ein. Polen schien verloren. Deutsche Phantasten, die als
Nationalbolschewiken dem Fluch der öffentlichen
Lächerlichkeit verfielen, hofften, daß dieser einmalige,
nie wiederkehrende Augenblick, der allen deutschen
Möglichkeiten die Tore öffnete, von Deutschland
ausgenutzt, eine deutsch-russische Waffenbrüderschaft
herbeigeführt und Polen und damit der stärkste östliche
Pfeiler des Westens vernichtet werde. Doch wurde in
Ostpreußen und in der Grenzmark die Schutzpolizei
verstärkt, ein Internierungslager für übertretende
Bolschewiken eingerichtet und strengste Neutralität
gewahrt. Im August 1920 brach in Oberschlesien der
zweite polnische Aufstand los, nachdem es einer von
französischen Offizieren organisierten, ausgerüsteten
und geführten polnischen Armee gelungen war, die in
der Luft hängenden sowjetischen Truppen abzuriegeln
oder zurückzuwerfen. Der zweite polnische Aufstand in
Oberschlesien, durchgeführt von den Sokoln, wurde
von deutscher Schutzpolizei unterdrückt. Nachdem dies
geschehen war, verfügte die IAK. — im Oktober — die
Entfernung der Schutzpolizei und richtete eine zur
Hälfte aus Polen und zur Hälfte aus Deutschen
bestehende Abstimmungspolizei, die Apo, ein. Der 20.
März 1921 wurde von der IAK. für die Abstimmung
festgesetzt.
Inzwischen waren drei Konferenzen, Spa, Brüssel
und London, in denen über die Reparationsfrage
verhandelt wurde, in für Deutschland ungünstigem
Sinne verlaufen. Die Entente hatte die Ruhrhäfen
Duisburg, Ruhrort und Düsseldorf besetzt und drohte
mit weiteren Sanktionen. In diesem Zeichen fand die
Abstimmung in Oberschlesien statt. 70 Prozent der
abgegebenen Stimmen wurden für Deutschland gezählt.
Die deutsche Öffentlichkeit feierte erfreut diesen Sieg.
Korfanty verlangte auf Grund des Abstimmungs-
ergebnisses die Oder als Grenze Polens. Er organisierte
unter den Augen der IAK die polnischen Sokoln, er
stellte eine Armee von Insurgenten auf, er sammelte
reguläre und irreguläre Truppen an den Grenzen,
bewaffnete sie und bereitete so den Aufstand vor. Die
deutsche Regierung führte etwa gleichzeitig die große
Entwaffnungsaktion durch und löste die Orgesch und
die ihr verwandten Organisationen auf. Am 3. Mai
1921 begann der dritte polnische Aufstand in
Oberschlesien. Insurgenten, Sokoln und Hallertruppen
drangen westlich bis zur Oder, nördlich bis über
Kreuzburg hinaus vor, besetzten das Land, von den
Franzosen offen, von den Italienern heimlich, von den
Engländern durch Abwarten unterstützt. Einzig in den
Städten des Industriereviers versahen Apo und alliierte
Truppen noch Dienst.

Auf der Protestversammlung gegen die Vergewaltigung


Oberschlesiens sprach am 22. Mai 1921, sieben Tage
vor der Übernahme des Wiederaufbauministeriums im
neugebildeten Kabinett Wirth, Dr. Walther Rathenau.
Er sagte:
«Als am 4. August 1914 ein deutscher Staatsmann
das unglücklichste politische Wort sprach, das je in
unserem Lande vernommen wurde, als er von einem
Fetzen Papier sprach und einen Vertrag meinte, da ging
ein Sturm durch das britische Weltreich, und dieser
Sturm führte zum Kriege. Wir sagten damals: es ist
Notwehr. Aber das britische Imperium sagte: Verträge
müssen gehalten werden. Darin liegt Wahrheit. Denn
gegenüber der rücksichtslosen Gewalt, in die Völker
verfallen, wenn sie ungebändigt ihre Interessen
verfolgen, gibt es nur ein einziges völkerrechtliches
Mittel, das Mittel des Vertrages, das Mittel des
geheiligten Vertrages zwischen Völkern.
Ein solcher Vertrag ist abgeschlossen worden
zwischen allen zivilisierten Nationen der Erde. Nicht
ein Vertrag der Gerechtigkeit, aber ein Vertrag, der
unterschrieben wurde von 28 Völkern, versehen mit
allen Zeichen der Heiligkeit, die internationalen
Verträgen zugebilligt wird. Zwei Jahre besteht dieser
Vertrag. Was ist aus ihm geworden? Wo ist die
Heiligkeit dieses Vertrages von Versailles geblieben?
Angenagt im Westen und gebrochen im Osten.
Wer hat diesen Vertrag im Osten gebrochen? Das
Volk der Polen. 120 Jahre lang haben die Polen in der
Welt sich beklagt über geschehenes Unrecht, über
Vergewaltigung. Ihre Männer sind als Sendboten durch
die Länder der Erde gezogen und haben aufgerufen für
das Recht und gegen die Gewalt. Und jedesmal, wenn
dieser Aufruf durch Europa ging, hat er Widerhall
gefunden. Selbst in Deutschland. Denn nie hat sich das
deutsche Gewissen dem verschlossen, der Recht suchte
und der an Gerechtigkeit appellierte.
Dieses Polen ist wiederum erwacht zur selbständigen
und souveränen Nation. Seine erste Handlung ist die
des Bruches desjenigen Vertrages, dem es seine
Souveränität und Nationalität verdankt. Lloyd George
hatte die Polen gefragt: Worauf stützt ihr euch denn,
habt ihr diesen Vertrag von Versailles verfochten, mit
wessen Blut ist dieser Krieg und Sieg erkämpft worden,
etwa mit dem Blute der Polen? Diese Frage hat man in
Warschau beantwortet mit einer Flut von Insulten. Eine
Antwort der Vernunft konnte nicht gegeben werden.
Die Vergewaltigten aber sind wir. Wir haben den
Vertrag unterschrieben. Wir haben das Ultimatum
unterschrieben. Und da wir eine Nation der Billigkeit
sind, so werden wir das halten, wozu wir uns
verpflichtet haben. Wir rufen unser Volk nicht auf zum
Haß und nicht zur Revanche. Aber dafür verlangen wir
die Gerechtigkeit vor der Welt, und diese Gerechtigkeit
kann uns nicht verweigert werden. Die Gerechtigkeit
hat sich noch immer auf Erden wiederhergestellt nach
langer oder nach kurzer Zeit.
Wir haben in Deutschland Unsägliches dulden
müssen. Unser Land ist zerfleischt, unsere Mittel sind
erschöpft. Wir sehen einer trüben Zukunft entgegen.
Was uns aber aufrecht erhält, das ist der Glaube an
unsere unverbrüchliche Gemeinschaft.
Der Aufruf zur Einigkeit, den Sie gehört haben, ist
der Aufruf zur Stunde. Wir sind und bleiben ein Volk
von 60 Millionen, und die Welt soll wissen, daß dieses
Volk sich seiner Kraft bewußt ist. Nicht zum Kriege,
aber zur Arbeit. Und nicht nur zur Arbeit, sondern auch
zur Vertretung seines Rechts.
Mit friedlichen Mitteln werden wir dieses Recht
vertreten. Aber es wird uns nicht genommen werden
können. Und wenn der unglückselige Fall eintreten
sollte, wenn unverantwortliche Menschen es wagen
sollten, dieses Land vorübergehend von Deutschland zu
trennen, dann wird ein Fall in der Welt entstehen, der
weit schwerer auf dem Frieden und auf dem Gewissen
der Nationen lasten wird als Elsaß-Lothringen. Dann
wird eine Wunde in der Mitte von Europa entstehen,
die sich niemals schließt und die nur geheilt werden
kann durch Gerechtigkeit.
Diese Versammlung ist ein Aufschrei unseres
Gewissens, und dieser Aufschrei richtet sich an alle
Mächte der Sitte, der Vernunft und des Gewissens in
der Welt. Diese Mächte sind nicht erstorben. Es ist von
einem der Herren Redner ein Wort unseres großen
Freiheitsdichters erwähnt worden. Deswegen mag die
Versammlung ausklingen in einem anderen Wort
desselben großen Dichters, den wir in dieser schweren
Zeit doppelt als den unseren fühlen. Er legt es einem
Volk in den Mund, das ebenso wie wir Unrecht leidet,
und er sagt:

«Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,


Wenn unerträglich wird die Last — greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ew'gen Rechte,
Die droben hangen unveräußerlich
Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst.»
Am gleichen Tage, zu derselben Stunde, da der
künftige Minister in Berlin diese Rede hielt, wurde
Müllnitz, auf entferntem Posten Wache stehend, von
Polen überfallen, erschlagen und schändlich
zugerichtet. Am gleichen Tage fiel Paul Töllner,
Marburger Teutone, mit einem Herzschuß beim
Vorgehen auf die besetzte Mühle von Leschna. Am
gleichen Tage scholl der Lärm nächtlichen Gefechts
von Zembowitz herüber, dröhnte das Rollen der
polnischen Munitionskolonnen auf der Straße
Guttentag—Rosenberg dicht vor uns, schlichen die
Patrouillen der Hallerarmee durch den Eichenforst, der
Leschna, das von uns besetzte Walddorf in
Oberschlesien, südöstlich Kreuzburg-Sausenberg, von
allen Seiten dunkel rauschend umgab. Am gleichen
Tage war die Lage der Insurgentenarmee verzweifelt,
denn der Sturm des Korps Oberland auf den Annaberg
hatte dem polnischen Sieg ins Herz getroffen. Am
gleichen Tage warteten die versprengten, fechtenden,
siegenden, vorstoßenden Trupps der deutschen Jugend,
die Befreier Oberschlesiens, die Erstreiter der Nation,
auf den Befehl — was sag ich — auf die stille Duldung
der Reichsregierung, die den vor der Abstimmungszone
harrenden Selbstschutzformationen den Weg zu ihren
kämpfenden Kameraden freigab; denn es stand der
deutsche Sieg auf Nadelspitze. Am gleichen Tag kam
die scharfe Note Briands über die Auflösung der
deutschen Selbstschutzformationen.
Am nächsten Tage erließ die Reichsregierung auf
Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung zur
Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und
Ordnung folgende Verordnung:
§ 1: Wer es unternimmt, ohne Genehmigung der
zuständigen Stellen Personen zu Verbänden
militärischer Art zusammenzuschließen, oder wer sonst
an solchen Verbänden teilnimmt, wird mit Geldstrafe
bis zu 100 000 Mark oder mit Gefängnis bestraft.
§ 2: Diese Verordnung tritt sofort in Kraft.

Unter denen, die todesbereit und kampfbegierig nach


Oberschlesien gezogen, war nicht einer, der es um der
Heiligkeit der Verträge willen tat. Nicht einer
marschierte in den Reihen, um an die Mächte der Sitte,
der Vernunft und des Gewissens zu appellieren. Und
wenn unter ihnen einer je am Himmel droben ein
ewiges Recht unveräußerlich hangen sah, dann war es
das Recht der Jugend, in der Rache die Gerechtigkeit
zu suchen. Denn zum ersten Male im deutschen
Nachkrieg war hier ein Kampf von aller Problematik
frei. Es traf der Ruf uns in das Herz, er tötete im
Augenblicke alle zweifelnde Erwägung. Dies Land war
deutsch, es war bedroht, und wir marschierten, es aufs
neue zu erstreiten.
Nichts schmälerte die Wucht der Forderung, die uns
auf einmal zwingend überfiel, nichts konnte sie
verstärken. Was sollte uns der Angstruf der Regierung,
der sich nicht an uns, nicht an die wache Kraft der
Jugend wandte, sondern an das Weltgewissen? Was
mochten uns die Argumente kümmern, tausendfältig
von der Presse, von den Ämtern, aus lauem Munde
ausgespien? Nicht ging uns an, was mit Zahlen und
Statistiken, mit Noten, Ultimaten, mit Erbanspruch und
Wahlergebnis zu begründen war. Doch daß die Polen
nun im Lande standen und uns Hohn zu bieten wagten,
das ging uns an.
Die Provinz, fern, kaum bekannt, ein Keil, der
eingeschoben zwischen Polen und Tschechei
angreiferisch — und drum von uns geliebt — in seiner
Spitze alle Energien barg, stand, weil gefährdet, nun im
Brennpunkt der Nation. Das war erkannt von allen, die
das metaphysische Gesetz beherrschte, durch welches
die Nation allein erfaßbar wird. Dies Gesetz verlangt
den Einsatz. So wurde Oberschlesien uns zum
Prüfstein, uns, dem Lande und dem Volke. Es handelte
im letzten sich nicht um Industrie und Kohlen-
produktion, um Volkswirtschaft und Kartoffelbau, nicht
um die Erhaltung der deutschen Kultur und nicht um
das Wohlergehen der Bewohner der Provinz. Es
handelte sich darum, das Gesetz der Nation zu erfüllen.
Für die, die darum wußten, gab es kein Warum.
Ich stand als Posten an den Unterstand gelehnt. Rund
um das Gehöft zogen sich die dunklen Linien des
Grabens. Die anderen Postenstände lagen, verschluckt
von der Dunkelheit, an der Dorfstraße und an den Feld-
und Waldwegen. Ganz schwach klang Gewehrfeuer
von Zembowitz her und von Rosenberg. Rund um die
schmale Lichtung, in der das Dorf Leschna gebettet lag,
wölbte sich voll brütender Geheimnisse der
Eichenforst.
Mich überfiel das Staunen über die unbekannte
Macht, die mich an diesen Ort geschleudert. Und doch
war das, was mich umgab, trotz der blauen, magischen
Schleier der leise heranglimmenden Dämmerung, voll
zwingender Wirklichkeit. Ganz unwirklich aber schien
mir die laute Bewegung der vergangenen Tage, schien
mir der Nachhall jener Welt, die mich doch eben noch
im Bann gehalten.
Ich dachte an die Stunde, da die Zeitungen die ersten
Nachrichten vom polnischen Aufstand brachten, am 4.
Mai des Nachmittags um 6 Uhr. Ich las, auf der Straße
stehend, und sagte mir, es sei Zeit. Ich ging nach
Hause, packte den Rucksack und beeilte mich, zum
Neunuhrzuge zurechtzukommen. Auf dem Wege zum
Bahnhof traf ich einen älteren Kollegen meiner Firma;
ihm sagte ich, er möge bitte der Direktion mitteilen,
daß ich nicht mehr ins Büro kommen könne, ich führe
nach Oberschlesien. Der Kollege murmelte erstaunt
und wohlwollend, ja, ja, die jungen Leute hätten's gut,
wer sich doch auch noch verändern und verbessern
könnte, und viel Glück wünsche er mir und hoffentlich
bekäme ich in meiner neuen Stellung mehr Gehalt.
Sichtlich glaubte der wackere Kollege, ich ginge nach
Oberschlesien, um dort Prämienquittungen aus-
zuschreiben. Ich klärte ihn nicht auf, ich wandte mich
eilends grüßend ab, doch schon kam mir Major Behring
entgegen, Vorstand vieler Vereine; ihm sagte ich, was
ich vorhatte, und er schüttelte mir mit markigem
Männerdruck beide Hände und sagte, solange
Deutschland über solche jungen Helden verfüge wie
mich, könne es nicht untergehen. Und ich solle doch ja
nicht verabsäumen, ihm eine der oberschlesischen
Abstimmungsbriefmarken für seine Sammlung
mitzubringen, natürlich mit dem Poststempel des
Abstimmungstages.
Der Zug brauste in die Nacht. Ich stand auf dem
Gang und schmeckte mit dem Kohlenrauch, der durch
alle Ritzen drang, die Ahnung kommender Ereignisse.
In Bebra stieg einer in Windjacke in den überfüllten D-
Zug-Gang und trat mir auf den Fuß. Da ich wiedertrat,
ergab sich ein Gespräch, dessen Wirkung bald durch
blitzhaftes Erkennen stark gewandelt wurde. Das war
einer von der Elberfelder Gruppe, mir dem Namen nach
bekannt. Versöhnt strich ich mit ihm durch die Gänge.
Überall, in allen Abteilen, saßen oder standen junge
Leute. Sie hockten neben schnarchenden Handlungs-
reisenden und stullenverzehrenden Geschäftsleuten; sie
wurden mißtrauisch beobachtet von den Bahnbeamten,
sie trugen verschossenes Feldgrau und geflickte
Breeches gleich mir, sie sahen mit ihren blonden
Schöpfen und hochmütigen Gesichtern einer dem
andern außerordentlich ähnlich, ohne daß der Grund
dieser Ähnlichkeit für den, der nicht um die
Gleichartigkeit ihres Schicksals wußte, erkennbar war.
Wir erkannten uns sofort, wir begrüßten uns, wir
kamen aus allen Teilen des Reiches, Kämpfe witternd
und Gefahr, ohne voneinander zu wissen, ohne Marsch-
befehl und ohne ein bestimmteres Reiseziel, als einfach
dies: Oberschlesien! Noch im Zuge, bildeten wir schon
den Stamm einer Kompanie, ein Führer war nach
wenigen Minuten des Gesprächs bald erkannt, sofort
und selbstverständlich in seiner Autorität geachtet;
einer machte, zukünftiger Kompaniefeldwebel, schon
eine Liste fertig.
In Leipzig stiegen junge Leute ein, die an ihren
Mützen eine Feder trugen, bayrisch sprachen und
seltsames Gepäck mit sich führten: Wagenräder und in
Leinwand verschnürte schwere Walzen und sonderbare,
in Kartons verpackte Eisenteile. Ich strich an ihnen
vorbei, klopfte an eine solche Walze und flüsterte:
«Geschütze?» Und der zunächst stand, grinste:
«Oberland!»
In Dresden kam ein Trupp Forstschüler, grüne
Uniform, Hirschfänger, aufgeschlagener Jägerhut,
Studenten einer Forstakademie. Die ganze Akademie,
die Lehrer als Offiziere, war aufgebrochen nach
Oberschlesien. Sie verstauten sorglich schwere
Waschkörbe in die Gepäcknetze und versicherten dem
Schaffner, dies seien Vermessungsinstrumente für die
oberschlesischen Wälder.
In Breslau erklärte der Bahnhofsvorsteher, die
Demarkationslinie sei gesperrt, und Selbstschutzforma-
tionen seien illegal und würden nicht weiterbefördert.
Unbehaglich und scheu wichen die Reisenden, als wir
einen Zug beschlagnahmten und bestiegen und
erklärten, wir würden den Bahnhof zusammenhauen,
wenn der Zug nicht sofort weiterführe. Der Zug fuhr
weiter.
In Namslau stiegen wir aus, und hier formierte sich
aus den mit jedem Zuge eintreffenden Freiwilligen das
Selbstschutzbataillon. Aus allen Landschaften und allen
Bünden hatten sich die Kämpfer, die Suchenden
ausgesondert, vielerlei Dialekte waren zu hören und
viele Abzeichen zu sehen. Jungdeutsche waren da,
Stahlhelmer, Roßbacher, Baltikumer, Landesjäger,
Kapp-Putschisten, Leute von Rhein und Ruhr, aus
Bayern welche und welche aus Dithmarschen. Ganze
Studentenverbindungen waren geschlossen erschienen,
Arbeitskommandos, Siedler und Soldaten traten an.
Arbeiter und junge Kaufleute. Balten und Schweden
und Finnen, Siebenbürger und Tiroler, Ostpreußen und
Saarländer kamen, alle jung, alle bereit. Und jedem
dritten Manne war ich irgendwo und irgendwann schon
einmal begegnet in einem der Gefechte des deutschen
Nachkrieges. Und wem ich nicht schon begegnet war,
der hatte einen Freund, der mich kannte, den ich
kannte, oder der hatte einmal auf demselben Felde
gefochten wie ich; nach dreiminütigem Gespräch
wußten wir voneinander Bescheid.
In wenigen Tagen stand eine Kompanie abmarsch-
bereit. Auf dem Bahnhof Namslau rollten versiegelte
Waggons auf ein Nebengleis. Im Morgengrauen traten
wir an und luden aus. Auf dem Frachtschein stand:
Maschinenteile. Nun hatte jeder ein Gewehr, doch blieb
die Munition immer knapp. Ich traf Schlageter. Er, aus
den Städten im Süden kommend, Waffen zu
schmuggeln und Behörden zu bearbeiten, erbarmte sich
unserer ihm von mir geschilderten Not. Nachts brachen
wir in das Waffenmagazin der verärgerten Reichswehr
ein und stahlen ein L. M. G. und viele Kästen Patronen.
Schlageter berichtete mir, er habe Heinz gesehen, der
schon unten im Städtedreieck des Indusrriereviers in
Fühlung mit der Spezialpolizei Hauensteins an der
Arbeit sei. Dann erfuhr ich, daß Müllnitz bei der
Nachbarformation stecke und Otto bei Oberland im
Süden. Jörg traf ich wenige Tage später; er hatte den
Auftrag erhalten, ein Geschütz von Waldeck-Pyrmont
nach Oberschlesien zu schaffen. Da zog er mit seinen
drei Schupos ohne Urlaub los, requirierte aus einer
schlechtbewachten Brauerei einen Lastkraftwagen,
belud ihn mit Munition, band die Kanone mit starken
Stricken hinten an und fuhr, quer durch Sachsen und
Schlesien, als Schupo von niemandem angehalten, in
sanfter Forsche nach Oberschlesien. Ich aber
befürchtete ein Versagen meines sonst so wachen
Instinktes, der mich doch stets an die Stätten der
Entscheidung geführt hatte und diesmal mich im
Norden der Provinz landen ließ, indes im Süden der
Kampf entbrannte.
Wir hörten mancherlei Gerüchte von Oppeln her,
von Schloß Löwen, wo General Höfer saß, der Führer
der Selbstschutztruppen, von Cosel und Ratibor und
Beuthen. Wir wußten, daß Verhandlungen im Gange
waren, Verhandlungen! Und wir wußten, daß bei diesen
Verhandlungen nichts anderes würde verhandelt
werden als wir und das Land, und wir wußten, daß es
auf jede Stunde ankam, in der gefochten wurde.
Einförmig bogen sich die Halme. Ein Teil der
Böschung bröckelte und klatschte dumpf und
zerstiebend auf die Grabensohle. Ich horchte an-
gestrengt und bohrte meine Augen in die Dämmerung.
Nichts war zu hören im Wald, nur von Rosenberg her
tönte der verlorene Schall des Gewehrfeuers heftiger.
Dort lagen die Roßbacher vor der Stadt. Sie hatten hier
im Norden den ersten Stoß geführt. Sie hatten
Kreuzburg befreit und Sausenberg gestürmt und das
Schloß Wendrin. Nun lagen sie vor der Stadt und
konnten nicht weiter. Und wir lagen hier versprengt im
weiten Forst und konnten auch nicht weiter. Warum,
warum konnten wir nicht weiter? Niemand gab uns die
Antwort, uns band ein Befehl. Ein Befehl, nichts sonst;
denn die Polen widerstanden uns kaum, sie wichen vor
uns überall; aber wir lagen nun hier und ließen ihnen
Zeit, sich erneut zu sammeln. Als wir bei Konstadt über
die Abstimmungsgrenze rückten, verschwand die
italienische Wache auf einen Schlag, wie nach Befehl,
in ihre Häuser. Die Engländer, die mit ihren schnellen
Autos die Straßen bevölkerten, grüßten unsere
Kolonnen. Kurz bevor Schlageter uns wieder verließ,
um in die Städte sich durchzuschlagen, sprach er mit
einigen englischen Offizieren, die von ihren Ver-
bündeten, den Franzosen und Italienern, und von den
Polen zusammenfassend nur als von den weißen
Niggern redeten. Die Engländer dünkte ihre eigene
Rolle in diesem oberschlesischen Spiel nicht sauber.
Sie murmelten uns durch die Zähne zu, wir sollten,
damned, doch die white niggers zum Teufel jagen. In
Sausenberg begannen wir mit diesem Geschäft. Wir
sollten sogleich eingesetzt werden. Leschna nehmen,
Verbindung sichern von Rosenberg nach Zembowitz
und die Straße Rosenberg — Guttentag beobachten.
Und nun lagen wir hier, weit vorgeschoben, inmitten
des Waldes, nun lagen wir hier, vier Tage schon, und
kamen nicht weiter.
Ich hörte das Klirren eines Gewehrverschlusses. War
das vorn? Der Tag war da. Der Postenstand am
Gasthaus war zu sehen. Ich winkte hinüber, der Posten
fummelte an seinem Karabinerschloß, in das wohl Sand
geraten sein mochte. Als wir vor vier Tagen, kurz vorm
Sinken der nächtlichen Schatten, vorsichtig aus dem
Schutz des Waldes traten, tönte uns aus dem Gasthaus
Musik und Kreischen entgegen. Wir schlichen mit
vorgehaltenen Gewehren durch die menschenleere Dorf
straße. Denn in Leschna sollten die Polen liegen, und
außerdem hatte das ganze Dorf, mit Ausnahme einer
einzigen Stimme, polnisch gewählt, und die Leschnaer
hatten bei Ausbruch des Aufstandes, wie uns berichtet
wurde, die deutschen Sausenberger überfallen und viele
erschlagen und mißhandelt. Denn so war der Aufstand
hier im Norden geschehen; die örtlichen Sokoln rissen
die Macht an sich, und die deutschen Dörfer wurden
von den polnischen angegriffen, und lange konnten sich
die Heimattreuen nicht wehren, denn hinter den
Insurgenten rückten reguläre polnische Truppen nach,
kongreßpolnische von jenseits der Grenze und
Hallerlegionäre. Die Polen leugneten das, und wir
waren begierig, es ihnen zu beweisen. Als wir die
Musik hörten, hielten wir es für eine Falle; auch
krachten bald einige Schüsse. Schnell stürmten wir vor
und sahen, wie eine Menge Burschen bewaffnet aus der
Tür des Gasthauses stürzten und dem nahen Walde
schreiend zuliefen. Wir knallten hinter ihnen her, aber
als wir zum Gasthause gelangten, erkannten wir, daß
gerade Hochzeit gefeiert wurde; das ganze Dorf war
versammelt; nun blieben nur die heulenden Weiber
zurück. Uns entgegen trat bleich die Braut, die hohe,
stolze, grüne Brautkrone noch auf dem Haupt, ein
Prunkgebäude aus Tannen- und Eichenzweigen, mit
roten und weißen Bändern geschmückt. Die Tische
waren besetzt, und Schnapsflaschen standen herum; wir
dachten an Seydlitz bei Roßbach und setzten uns
schleunigst an die Tische zum Hochzeitsmahle, und
einige polnische Mädchen waren gar nicht so feindlich,
wie wir dachten; die Braut freilich zürnte uns weinend.
Am nächsten Morgen in der Frühe griffen die Polen an.
Sie schossen plötzlich und überraschend aus dem
Gebüsch, aber eine starke Patrouille von uns brach auf
und stieß ihnen in die Flanke, und unser M. G., auf das
Dach eines Hauses montiert, setzte ihnen derb zu. Sie
mußten zurück, aber im Gebüsch ließen sie
Verwundete liegen, und einer der Verwundeten war der
Bräutigam. Er hatte einen bösen Lendenschuß, und wir
trugen ihn zögernd in das Haus, in dem seine Braut
noch im Brautstaat hinterm Ofen saß, und dann sandten
wir den Sanitäter hinein und standen draußen in
Gruppen herum. Aber wir hörten die Braut nicht
aufkreischen, wie wir es gefürchtet, und etwas später,
als der Kompanieführer zum Verhör schritt, saß das
Mädchen, oder die junge Frau, zwar bleich und mit
geröteten Augen, aber still am Bett. Der Verwundete
war ein großer, schlanker Bursche, mit frischem,
offenem, intelligentem Gesicht, der Sohn eines der
reichsten Bauern im Ort. Gefragt, sagte er, und es klang
ein merkwürdiger Stolz aus seinem Wort, er sei Soldat
gewesen und im Feld und habe bei den Elisabethern
gedient. Und als wir ihn überrascht fragten, wie er zu
den Insurgenten käme, sagte er, er sei Pole, aber er
sprach deutsch besser als kongreßpolnisch, war nie in
Polen drüben gewesen, er war gern Soldat, und sein
Bruder war heimattreu, er aber sei Pole. Der Sanitäter,
stud. med. im achten Semester, erbat sich Ruhe für den
Verletzten, und wir zogen kopfschüttelnd und
debattierend ab. Und dann kam der zweite Angriff.
Wir wurden an jedem Tag zweimal angegriffen. Wir
zogen Gräben um das Gehöft am Südrande des Dorfes
und stellten Wachen aus und sandten Patrouillen weit
herum. Am zweiten Tage fiel Toellner beim Gegenstoß
auf die Mühle von Leschna, die in einem Waldgrunde
lag, dicht an der Straße, und wir mußten für kurze Zeit
zurück, und als wir wieder vorstießen, fanden wir den
Leichnam entkleidet und verstümmelt. Und da
beschlossen wir, daß der verwundete Bräutigam der
einzige Gefangene sein müsse, den wir am Leben
ließen. Noch am Nachmittage fuhren wir einer
polnischen Angriffskolonne überraschend in den
Aufmarsch, zerschlugen sie und machten zwei Ge-
fangene, Soldaten des regulären polnischen Infanterie-
Regiments 27, in polnischer Ausrüstung und mit
französischen Gewehren. Hier hatten wir den Beweis,
daß reguläre polnische Regimenter gegen uns fochten,
und ich widersetzte mich heftig, daß diese lebenden
Beweisstücke durch Erschießen ihres Wertes beraubt
würden; doch wurde ich noch zwei Tage lang
bezichtigt, humanitären Einflüssen nicht unzugänglich
zu sein. Die Gefangenen wurden nach Sausenberg
gesandt.
Eine Lerche stieg vorn aus dem Kornfeld hoch. Dort
mußten noch viele polnische Leichen liegen; am Tage,
wenn die glühende Sonne dieses heißen Maimonats auf
das Feld brannte, kamen schwere Dünste herüber.
Niemand von uns hatte sich die Mühe gemacht,
nachzusuchen; wir lagen tagsüber völlig entkleidet im
glühheißen Sand und ließen uns von der Sonne braten,
und als wir am Nachmittage angegriffen wurden, war
nicht Zeit gewesen zum Ankleiden, und seltsam genug
mochte der Anblick der nackten Männer gewesen sein,
die in den Gräben standen und schössen, die dann zum
Gegenstoße vorgingen, blanken Leibes, nur das
Gewehr in der Hand, weiße, glänzende Jugend, nackt
und wehrhaft in der gleißenden Sonne. Noch im Walde
schimmerten die schlanken Körper durch die Stämme,
und dieser unser Angriff war der tollste und
beschwingteste, den ich je erlebt. —
Es war völlig Tag geworden. Der Tau glitzerte an
den Halmen, und der weiße Sand war feucht. Aber
nichts rührte sich in den Gräben. Da lag nun die
Kompanie. Welcher Wind hatte uns zusammengeweht?
Da lagen die Männer in den Erdlöchern, eng
aneinandergepreßt. Da lag Lindig, der Schmiedegesell,
und Busch, Oberleutnant zur See a. D. Sie bliesen sich
ihren Atem gegenseitig ins Gesicht, und ihr Atem
mischte sich; da lag Nawroth, oberschlesischer Berg-
arbeiter, und v. Unruh, Sohn eines willhelminischen
Staatsministers; da lag Kenstier, siebenbürgischer
Bauernsohn, und Bergson, baltischer Student. Aus allen
Bereichen kamen wir und waren uns doch nicht fremd.
Wir waren uns nah, wir waren immer uns nah gewesen.
Und keine Dämme konnten bestehen; denn wir dienten
alle demselben Gesetz, einem einzigen Gesetz. Und
darum waren wir wahrhaft frei. Darum konnte uns nicht
gelten, was bürgerlicher Wertung unterlag, darum gab
es für uns keine Fragestellung der Vergangenheit und
der Gegenwart, die unlösbar wäre. Und keinem von uns
fiel es auch ein, den Lösungen nachzugrübeln.
Einmalig war unser Geschick, und darum voll der
höchsten Potenz.
Glücklich waren wir, die im Reiche kaum einer
verstand, glücklich waren wir in der Wirre, denn wir
fühlten uns eins mit der Zeit. Glücklich waren wir unter
der Last und glücklich im Schmerz; denn wir wußten,
daß wir wert befunden wurden, so alle Elemente des
Lebens in unseren Herzen zu erfahren. Wir wußten, daß
es uns vergönnt war, entschiedener zu leben, und so
zeigten sich uns auch die Verwandlungen des Lebens
entschiedener an. Wir hatten teil an den tiefsten
Energien, die nun zum Durchbruch drängten, und
fühlten uns durchbraust von ihren Wirbeln, und wurden
so zum Tode mehr noch als zum Leben reif.
Es knackte im Unterholz. Die Halme rauschten,
verworren mischte sich Lärm in das Schwirren der
Blätter. Ich hastete durch den Graben und keuchte in
jedes Erdloch, und das alte Zauberwort der Front: «Sie
kommen!» stieß die Schlafenden hoch, zerriß die
Schleier der Träume, spannte die Nerven, füllte die
Gräben.
Wir hörten sie schreien. «Na pravo» — «Na lewo»
— die Polen entwickelten im Walde die Linie zum
Angriff. Sie schnatterten sich zu, sie mußten sich mit
mutigen Worten das Zittern aus den Gliedern treiben.
Dies Schnattern vor dem Angriff ist das Kennzeichen
der Soldaten kleiner Völker. Die Esten, die Letten, die
Litauer schnatterten so, diese Völker standen zu lange
unter dem Druck, als daß sie schweigende Ent-
schlossenheit kennen konnten.
Der Kompanieführer eilte durch den Graben:
«Keinen Schuß, bevor ich's befehle!» Das M. G.
richtete ich auf die Senke ein, die den Weg im Walde
aufnahm. Da brach es durch das Gebüsch am
Waldrand. — Wir schossen.

Warum ging es nicht weiter, warum mußten wir


zurück, wer gab den verräterischen Befehl? Die Polen
liefen doch, wo wir kamen? Wo wir marschierten,
jubelten uns die Deutschen zu! Und nun zurück, zurück
in die alten Quartiere um Konstadt, nun wieder warten
und zweifeln und verdammt sein zu lähmender Unrast,
und dies im rauschhaften Augenblicke des Siegs?
Heinz kam, wund, fiebernd, mit zerschossenem Arm,
und erzählte uns.
Von Neustadt aus hatte Korps Oberland, insgesamt
eintausend Mann, in den ersten Stunden des 21. Mai
1921 den Angriff gegen den Annaberg vorgetragen,
gegen die Schlüsselstellung der Insurgentenfront. Die
Oberländer stürmten durch die Wälder, über die
Senken, über die Hänge, in drei Gruppen, trafen
überraschend den Polen, der den Angriff vom Süden
erwartete, erstiegen im Feuer, das aus allen Büschen,
aus allen Luken der Häuser zischte, die Höhen. Um 12
Uhr mittags war der Annaberg in deutscher Hand und
über ein Viertel der Oberländer lebte nicht mehr.
Und dann stießen die Bayern, die Tiroler, die
Schlesier, die versprengten Kämpfer aller deutschen
Stämme, in das Land hinein, hinein in die un-
übersichtlichen, verschwimmenden Wälder, hinein in
fliehende, hastende, aufgelöste Kolonnen der Polen —
und sie rissen den Sieg mit sich und verbreiterten den
Keil, und in Hunderten von befreiten Orten läuteten die
Glocken, wehten die deutschen Fahnen, und sie
schnellten voran und das Land verschluckte sie. Denn
hinter ihnen kam nichts.
Als sie zur Besinnung kamen, waren sie allein.
Allein und verloren standen sie im Land, kleine,
verwegene Haufen, versteckt in Gehölzen, rastend in
verlassenen Gehöften, schnaufend in Schlucht und Tal.
Und vor ihnen bildete sich erneut die Insurgentenfront.
Die deutsche Regierung aber sperrte die Grenze
West von Oberschlesien. Die deutsche Regierung
sandte im Augenblick des Sieges ihre Sipohundert-
schaften und drohte mit Gefängnis und hielt die an der
Oder, an der Linie lagernden Selbstschutzbataillone an.
Und vorne wurde jeder Mann gebraucht. Vorne ging es
um das Letzte, ging es darum, daß frische Kräfte die
vorgeschnellten Trupps von Annaberg mit neuer Wucht
erfüllten, um in einem Zuge durch die verwirrten,
aufgestörten Insurgentenhaufen das Land zu fegen, die
Städte zu befreien. Ein letzter Stoß, ein Stoß mit nicht
nur ausgepumpten Gruppen, und das Land war frei.
Und an der Grenze West harrten die Bataillone, tobten,
grollten — sie durften nicht, sie konnten nicht. So, wie
auf Befehl der Reichsregierung die Sipo Grenzwacht
hielt, so hatten die Italiener nicht und nicht die
Franzosen Grenzwacht gehalten.
Die vom Annaberg aber wußten, daß sie verraten
waren.

Als Rosenberg sturmreif war, kam eine Abteilung


Franzosen, marschierte an uns und den Roßbachern
vorbei und besetzte die Stadt. Der Bürgermeister und
die Ehrenjungfrauen empfingen festlich und mit hohen
Worten preisend die «Befreier» — die Polen flüchteten
ungehindert.
Die Franzosen zogen eine neue Linie, schufen eine
neutrale Zone, vier Kilometer breit, und in dieser Zone
durften die Polen schweifen, und wir konnten erst
dazwischenknallen, wenn wir uns durch die
Postenketten der Poilus hindurchgeschlängelt hatten.
Die Korfanty-Linie war durch unsere Aktion zerfetzt.
Der ganze Norden der Provinz konnte von den Polen
nicht gehalten werden. Bis zu den Kreisen Pleß und
Rybnik im Süden war unsere Linie nicht vorgedrungen.
Dort war die polnische Herrschaft sanktioniert. In den
Städten aber tobte der Kampf weiter.
Durch die Städte, über denen der Kohlendunst hing
und der Hunger und die Verzweiflung, strichen,
abgerissen, gehetzt, verleugnet, die Gruppen. Kleine
Trupps, die nicht der Zufall, die der Anruf der Nation
zusammenwürfelte, die jungen Burschen, die der
Teufel nicht vergaß und nicht der Tod, die Ekstatiker
ihrer kargen, rußgeschwärzten Heimat kämpften hier,
funkten durch das Dunkel von Schüssen zerrissener
Nächte, immer bereit, immer auf dem Sprung, das
Letzte zu wagen, krochen, vom Verrat umwittert, durch
die engen Gänge der Gassen, schlichen zwischen
Halden und Kühltürmen, verloren sich in den
Schächten, kletterten über die Dächer, hockten an den
Eingängen der Landstraßen und sicherten, von
niemandem gekannt und von allen mißtraut, die Städte,
verteidigten sie gegen die Insurgentenhaufen, die vor
den Toren gierig lungerten, verteidigten sie gegen die
IAK und französische Wachabteilungen, gegen pol-
nische Apo und gegen die feigen Gelüste ruhesüchtiger
Bürger, verräterischer Beamter, geschäftewitternder
Bourgeoisie.
Aber einer nach dem anderen von ihnen verschwand.
Die Leute Hauensteins, die das heimliche Netz
organisierten, bei den hohen Behörden als die Männer
der Spezialpolizei bekannt, verzweifelten fast, wenn
täglich die Nachrichten einliefen, wenn die kargen
Berichte kamen, wenn sie erfuhren, erlebten, wie die
Gruppen zusammenschmolzen, wie hier einer
erschossen aufgefunden wurde, wie dort einer
verröchelte unter den Kolbenhieben. Eine Armee von
Spitzeln umsurrte die Einsamen, die Gefängnisse
verschluckten sie, an den Mauern spritzte ihr Blut —
Bergerhoff sank und Krenek, den Nauenstein holten sie
in letzter Sekunde aus dem Gefängnis, Schlageter hieb
sich dreimal durch, Jörg schoß den Otto aus einem
tobenden Insurgentenhaufen heraus, doch starb Otto am
nächsten Tage, seine Gedärme waren zerfetzt. Die
anderen aber, Eichler und Becker und Fahlbusch und
Klapproth und wie sie alle hießen, die Letzten, die
Versprengten, sie hielten stand.
Die Städte, in denen die Gruppen zerrieben waren, in
denen kein Mann mehr focht, wurden von den
Franzosen den Polen überlassen. Die Städte, in denen
hohläugig, fanatisch die Reste der Gruppen noch die
verrieselnden Energien bannten, blieben von der IAK
weiter besetzt, blieben von Insurgenten befreit.
Und so zog sich die neue Linie, Sforza-Linie
genannt, weil ausgetüftelt von dem italienischen
Kommissar Sforza, quer durch das Kohlenrevier, quer
durch die Provinz, festgelegt vom geheiligten Völ-
kerbund, anerkannt von der Reichsregierung, knurrend
ertragen von Korfanty und den Polen. Und es erwies
sich, daß die Linie fast genau verlief wie jene, die die
Front des deutschen Selbstschutzes nach dem
Annabergsturm und nach der Roßbachaktion gebildet.
Und es erwies sich, daß Beuthen, daß Gleiwitz, daß
Hindenburg deutsch blieben, obgleich selbst Sforza die
Städte für Polen in seine Linie einbezog, deutsch
blieben, weil dort noch die bröckelnden Reste der
deutschen Aktionsgruppen die Städte gehalten,
gehalten trotz des Verrats, trotz der nagenden,
vergeblichen Hoffnung auf deutschen Entsatz. Der
Selbstschutz hat zwei Drittel der Provinz für
Deutschland gerettet, und das letzte Drittel konnte er
nicht retten, denn eine deutsche Verordnung brach ihm
das Kreuz.
Denen, die Polen mit dem Weltgewissen drohten und
uns mit Gefängnisstrafen, hatten wir einen Sieg wie
eine kostbare Schale auf unseren opferbereiten Händen
angetragen. Und sie ließen den Sieg fallen, und er
zerschellte zu ihren Füßen.
Indes in den Kneipen, in den Biersälen überall in
Deutschland ungezählte Protestversammlungen
Oberschlesiens Schicksal betrauerten, bargen wir, um
zu retten, was noch zu retten war, wenigstens die
Waffen, die wir geführt. Wir schmuggelten sie auf
verschlungenen Wegen durch die Grenze West — denn
die preußische Polizei belauerte unser Tun mit
scheeleren Augen als die IAK. Wir vergruben sie in
den Wäldern, gaben sie in die Hände der Heimattreuen,
verfrachteten sie unter harmloser Deklarierung ins
Reich, ins Ruhrgebiet, in die Provinzen, von denen wir
schnüffelnd witterten, dort wurden sie gebraucht.
Zwei Monate lang blieben wir noch in Ober-
schlesien. Freiwillige Landarbeiter, hieß es, seien wir,
und tagsüber banden wir Garben, stakten sie auf
schwankende Wagen, droschen und mähten. Des
Nachts schmuggelten wir Waffen, sicherten die
polnische Grenze.
In der brütenden Hitze dieses dürren Sommers 1921
aber wuchs aus Blut, Wirre und Gefahr ein Gespenst.
Von ihm erzählten sich tuschelnd die Menschen, die
Ungläubigen lernten zu schweigen, die Verantwor-
tlichen traten vorsichtig zurück. Aus wütendem Brodel
stieg es auf, gesättigt von der wüsten Ernte unserer
Erfahrungen, und seine Parole tropfte wie glühendes
Blei in die Herzen: Verräter verfallen der Feme!

O.C.

Es begann in München. Dort wurde der Abgeordnete


der Unabhängigen-Sozialdemokratischen Partei,
Gareis, in der Nähe seiner Wohnung auf der Straße
erschossen aufgefunden, nachdem er am Abend vorher
Enthüllungen über das geheime Fortbestehen der
Einwohnerwehren angekündigt hatte. Sein Tod erregte
großes Aufsehen, doch gelang es nicht, den oder die
Mörder dingfest zu machen.
Wenige Wochen später ging der Abgeordnete
Matthias Erzberger, Reichsminister a. D., mit seinem
Fraktionskollegen Diehl am Fuße des Kniebis im
badischen Schwarzwald, Nähe Griesbach, spazieren.
Ihn überholten zwei junge Leute, die sich plötzlich
wandten und den Abgeordneten fragten, ob er
Erzberger sei. Auf die erstaunt bejahende Antwort
zogen die jungen Leute Pistolen und schossen
Erzberger nieder, indes der sofort und eilends
flüchtende Abgeordnete Diehl einen Armschuß erhielt.
Als Täter wurden ermittelt zwei ehemalige See-
offiziere, frühere Angehörige der Brigade Ehrhardt.
Die Polizei, bemüht, mit einem bis dahin noch nicht
gekannten Aufwand an kriminaltechnischen Mitteln,
den geheimnisvollen Mord aufzuklären, fand Spuren,
die nach München, nach Oberschlesien, nach Sachsen,
nach Ungarn, nach dem Rheinland, nach Berlin, nach
Frankfurt am Main führten. Es gelang ihrem
unermüdlichen Eifer, zahllose Verhaftungen vor-
zunehmen, die sämtlich wieder rückgängig gemacht
werden mußten. Es gelang ihrem Eifer ferner, die
beiden Täter nicht zu verhaften.
In einer Fülle von sachdienenden Zuschriften und
Beobachtungen jeder Art offenbarte sich die Entrüstung
weiter Volkskreise über die schändliche Tat. Die
Polizei entdeckte ein Dokument, welches das Bestehen
einer Geheimorganisation mit Namen O. C. zu
beweisen schien. Eine der Statuten dieses Bundes
lautete: Verräter verfallen der Feme. Nach Bekanntgabe
dieses außerordentlichen Fundes wurde die Fülle der
Zuschriften mager.
Die Leute, die sich gewundert hatten, wie es möglich
war, daß binnen weniger Tage in Oberschlesien
plötzlich eine deutsche Armee stand, bewaffnet und
kampfbereit, ohne daß die deutsche Öffentlichkeit auch
nur den Schimmer einer Mobilmachung erblickte,
wunderten sich nicht mehr, als sie von dem Bestehen
einer Geheimorganisation erfuhren. Sie wunderten sich
auch nicht, als langsam dunkle Kunde von Oberschle-
sien her ins Land drang, getuschelte Berichte kamen,
seltsam im Zwielicht bleibende Andeutungen. Ihr
Staunen wich vielmehr einem zum Schweigen
verpflichtenden Schrecken. Denn das Walten der O. C.
wurde bald fürchterlich offenbar.
Durch die Gassen schlich der Mord. Gift, Dolch,
Pistole und Bombe schienen die Werkzeuge einer aus
dem Dunkel der deutschen Wirrnis emportauchenden
Schar kaltherziger Verbrecher. In den Städten krachten
Detonationen. Männer, die weithin sichtbar standen, als
Führer von den Massen geduldet und in der Tat ihrer
wert, fielen im Feuer. Das Volk, ausgehungert,
störrisch, verbittert, streikend, geriet in dumpfe
Bewegung. In wütende Demonstrationen mitgerissen,
protestierte das Volk gegen eine unfaßbare, deutliche
Schatten vorauswerfende Gefahr. Jede einzelne Tat
schlug ihre Kreise. Die Kreise aber schnitten sich,
wuchsen ineinander. Bald konnte kein Zweifel mehr
bestehen, daß hier nach einem einheitlichen, düsteren
Plan gehandelt wurde. Die O. C. begann anscheinend in
voller Öffentlichkeit ihr verwerfliches Handwerk zu
treiben. Die Erregung wuchs, mit ihr der Abscheu.
Aber es wuchs auch zugleich eine unbegreifliche
magnetische Kraft, die immer größere Teile des Volkes
in den verbrecherischen Strudel sog, der sich unterhalb
der Oberfläche gebildet hatte. Die allgemeingültige
Vorstellung von der O. C. ließ überall ihren Einfluß
wittern. Jedwedes Tun erzeugte die flirrende Luft, in
der die Spiele der Phantasie Gestalt annahmen.
Es war wie eine Pest, welche die friedlichen Bürger
heimsuchte. Die Luft war geschwängert mit den
Stickgerüchen der Katakomben. Es drang aus den
Türritzen verschwiegener Hinterzimmer mit dem
säuerlichen Hauch der Verschwörung. Der scharfe
Wind messerkalter Zynismen fuhr selbst aus den
Bezirken als legal und idealistisch bekannter Vereine.
Bald fühlten sich ungezählte Liedertafeln als Organe
der geheimnisvollen Macht und spürten sich berufen
und gebenedeit, Retter des Vaterlandes zu sein. Das
ging mit husch und husch und pst und pst durch alle
Kneipen, Keller, Kammern. Mehr noch, das Lied der
Brigade Ehrhardt, die Melodie eines alten englischen
Operettenschlagers, mit den abgehackten Sätzen des
Soldatentextes, erscholl auf allen Gassen. Die Kinder
sangen das Lied, vaterländische Verbände pflegten es
auf ihren deutschen Abenden, in den Lokalen spielten
es auf vielfachen Wunsch die Kapellen. Durch die
Schauer des Geheimnisses, die den Bund und sein Tun
umwitterten, wuchs um das Lied der kecke Trotz der
Auflehnung. Der Männer waren Legion, die sich hohen
Ruhmes befleißigten und dies zu beweisen suchten. Sie
flüsterten das Zauberwort, «Befehl vom Chef», und
niemand wagte, nachzuforschen, und die Gefolgschaft
war gesichert. Wenn irgendwo im Volke die
Geschichte einer Waffenschiebung, eines
Bombenattentates, eines Mordanschlages ruchbar
wurde, dann wußte man: O. C.
Und es war seltsam und bedenklich zugleich, daß die
brausende Entrüstung nur allzuoft und allzubald
gemengt war mit einem heimlichen Vergnügen, die
bange Furcht mit einem süßen Kitzel. Es gab
Augenblicke, hervorgerufen durch gespenstische
Kunde von der O. C., wo selbst dem genügsamsten und
staatstreuesten Subalternbeamten die Begeisterung
emporstieg wie der Schaum in dem vor ihm stehenden
Bierglase.
Wie eine gasgefüllte Wolke dehnte sich der ruchlose
Geist des Geheimbundes aus. Bald schien es gar eine
Ehre, ihm anzugehören. Viele brüsteten sich im
vertrauten Kreise, Mitglieder des Bundes zu sein,
manche brüsteten sich sogar öffentlich. Es gab Männer,
von denen die ganze Stadt wußte, daß sie führende
Persönlichkeiten der O. C. waren, und die Verwun-
derung wechselte mit der Entrüstung, daß sie nicht
schon längst ergriffen und ins Zuchthaus gesteckt
waren. Die Angelegenheit wurde zu einem öffentlichen
Skandal. Die schärfsten Verfügungen und Dekrete der
Behörden, die strengsten Verfolgungen führten zu
keinem Ergebnis. Alle staatserhaltenden Begriffe von
Ehre, Moral, Sitte und Pflicht mußten bald ins Wanken
geraten. Aber selbst bis in die höchsten Kreise drang
das Gift. Diesem Treiben mußte ein Ende gemacht
werden. Alle verantwortungsvollen Elemente begrüßten
es mit Genugtuung, als die Polizei endlich in manchen
offenkundigen Fällen zu Verhaftungen schritt.
Aber hier zeigte sich erst die ganze Gefährlichkeit
der O. C. Denn in keinem Falle gelang es, die
Delinquenten zu einem Geständnis zu bringen, die
Hintergründe der Verschwörung zu beleuchten.
Sekundaner, die im Kreise ihrer Klassenkameraden den
Ruf genossen, O. C.-Leute zu sein, ehrwürdige Majore
und achtbare patriotische Vereinsvorstände, um die es
gefährlich munkelte, beteuerten lebhaft, nichts mit der
O. C. zu tun zu haben. Männer, die der Brigade
Ehrhardt angehört hatten, mit ihren Kameraden in
München und im Reiche noch mancherlei Verbindung
pflogen, die offen von ihrem «Chef» sprachen, sagten
vor der Polizei mit kalter Stirn aus, daß sie nicht einmal
wüßten, was das sei: O.C. In den Polizeipräsidien, auf
den Redaktionsschreibtischen sammelte sich das
Material zu Bergen, immer wieder wurde die
Öffentlichkeit beunruhigt durch neue, aufregende
Nachrichten, Tatbestände, Spuren, Verdächtigungen. In
den Zeitungen las man, daß bald hier, bald dort unter
geheimnisvollen Umständen eine Leiche aufgefunden
sei, ein Mord geschah; und da nähere Anhaltspunkte
über die Person des Mörders fehlten, mußte das
Verbrechen mit der O. C. in Zusammenhang gebracht
werden. Man las, daß in verschiedenen Orten des
Reiches es gelungen sei, verdächtige Mitglieder
verdächtiger Organisationen zu verhaften und die
Organisationen aufzulösen; wahrscheinlich handele es
sich hier um die O. C. Aber man gelangte zu keinem
positiven Resultat. Was war das für eine gefährliche
Macht, die, bei allem Lärm um sie, so sich in
Schweigen zu hüllen verstand? Was war das für eine
Macht, die in einzelnen, ganz wenigen und un-
ergiebigen Fällen, in denen der eine oder der andere der
Sistierten in der Bedrängnis zugegeben hatte, Mitglied
der O. C. zu sein, so wirkte, daß der Betreffende nicht
imstande war, anzugeben, wer seine Mitverschwörer
seien, wer der Vorgesetzte, was die Ziele der Orga-
nisation?
Das Gespenst der O. C. rasselte vernehmlich mit
seinen unsichtbaren Knochen. Die Pest griff um sich.
Die Republik stand unmittelbar in Gefahr. Überall
tauchten Pläne auf, die Umsturz und Bürgerkrieg
bezweckten, überall wurde geheimnisvoll gerüstet. Das
Land geriet in Gärung; es gerieten die Vereine und
Verbände in Fieber, die Behörden in Bestürzung. Von
London, von Paris kam erst vertraulich, dann mit
verhaltener Drohung die Frage, was ist es mit dieser
O.C.? Die Beschwörungen in der Presse, die Anfragen
in den Parlamenten häuften sich. Aber die unterirdische
Macht der O. C. wuchs und wuchs.
Die schärfste Waffe in der Hand der O. C. aber und
die ungeheuerlichste Gefahr, die aus ihr erwuchs, war
die Tatsache, daß sie niemals bestand.
«Primitive Naturen», sagte Kern, der es manchmal
liebte, mit erhobenem Zeigefinger zu dozieren, «haben
das Bedürfnis, den unbekannten Mächten, denen sie
sich unterworfen fühlen, einen Teil ihres Schreckens zu
nehmen, indem sie ihnen einen Namen geben. Es ist
nicht unwahrscheinlich, daß die Verwandlung der
Religiosität in Religion auf dieses menschliche
Bedürfnis zurückzuführen ist. Das Wort bannt. Der
Gott, den ich mit Namen anrufe, dem ich Altäre baue,
dessen Bild ich mir schnitzen kann, um es anzubeten,
verliert den besten Teil seiner Dämonie, wird aus einem
Gott der Rache ein Gott des Gesetzes. Der Teufel, in
sein Reich, die Hölle, verwiesen, ausgestattet mit
Pferdefuß, Schwefelgestank und Großmutter, wird ein
Dämon zum Hausgebrauch. Der Blitz ist lange nicht
mehr so entsetzlich, seitdem man weiß, er ist nichts
weiter als ein elektrischer Funke, den in verkleinertem
Maßstabe jedermann erzeugen kann. Seitdem man
schlicht und tapfer sagen kann: Wilhelm von
Hohenzollern, statt Seine Majestät, hat der Kaiser den
erhebenden Nimbus des Gottesgnadentumes, das zu
begreifen freilich nicht jedermanns Sache war und das
darum bis zuletzt seine gewaltige Kraft erhielt, gar
sichtbarlich verloren. Das Unbegreifliche, das jetzt und
heute geschieht, wird bekömmlich und wohlanständig,
wenn man es nur richtig einzuordnen weiß. Da sind die
Weisen von Zion zum Beispiel, die Weltverschwörung
des Judentumes, der Freimaurerei, der Jesuiten, kurz,
die überstaatlichen Mächte — wie einfach ist die Welt,
die man begreift! Und so scheint mir auch, wenn der
Begriff der O. C. nicht schon da wäre, müßte er
erfunden werden. Man bedenke: Ein Geheimbund von
Männern, die bereit sind, mit allen Mitteln um die
Macht zu kämpfen, unverbrüchlich untereinander und
nach oben verbunden durch Schweigepflicht und
unbedingten Gehorsam, mit Todesandrohung für die
Verräter, ein Bund mit solch rätselhaften Statuten, eine
Verschwörung mit Ortsgruppen, Vorsitzendem und
Kassenwart — und immerzu geheim: vorzüglich! Ist
nicht die Gefahr, da man sie kennt, schon halb
gewendet?»
Kern sagte: «Es ist wohl so, daß das Leben selbst
sich zum Durchbruch anschickt, eindringt in den
legitimen Raum. Die braven Leute, die das Walten
urgezeugter Energien spüren, glauben ihnen zu dienen,
wenn sie diese zu materialisieren gedenken. Sie stehen
im Banne neuer Bilder, die sie erschreckt als ewig
erkennen müssen. Das Anonyme spüren sie und wollen
es berechnen, wollen drum herum. Aber man muß eben
hindurch. Im Grunde verteidigen die braven Leute nur
die Ordnung, keine sittlichen Prinzipien. Wie denn
auch, wo sind die absoluten Werte, die verteidigt
werden müßten? Das schlechte Gewissen sucht die
Kraft zu bannen, die es bedroht. Es schafft sich einen
Popanz, den es anstinken kann, und glaubt, so sei die
Sicherheit gewahrt. Und die auf der andern Seite, die
für die O. C. optieren, was tun sie anders, als eine
Rückversicherung suchen? Wenn ich einem begegne,
der sagt, er sei O. C, dann weiß ich, er ist entweder
Nair oder Hochstapler oder Kriminalbeamter. Es ist
nützlich, dies zu wissen. Es ist nützlich, wenn der
Gegner dem Schein der Dinge verfällt und so deren
Wesen verkennt. Es ist nützlich, durch kühle Skepsis zu
verhüten, daß man selber das Leben mit einer seiner
Formen verwechselt. Die Suggestion ist groß. Sie
schafft den Schleier, hinter dem gut arbeiten ist für
unsereins. Wir müssen jenes Dokument begrüßen, jenes
barbarische Dokument, das nun durch die gütige
Mitwirkung unserer tüchtigen, aber in bezug auf ihre
intellektuellen Fähigkeiten leider etwas ver-
nachlässigten Polizei der Anlaß wurde, die
Verschwörungspsychose ins Un-gemessene zu steigern.
Der Mann übrigens, der dies interessante Schriftstück
entwarf und der Polizei in die Hände spielte, ist sehr
nah verwandt und verschwägert mit mir. Böse Zungen
behaupten, er habe eine Schwäche für praktische
Philosophie.»
Dies sagte Kern behaglich, auf einem kleinen
Geldschrank in meiner Wechselstube sitzend, mehr zu
Heinz, der an die niedere Tür gelehnt stand, als zu mir,
der ich am Schalter einen Pack schmutziger Geld-
scheine zählte. Denn seit ich aus Oberschlesien
zurückgekehrt war, saß ich in einem kleinen hölzernen
Kiosk mitten in der Bahnhofshalle und schlug für eine
Berliner Bankfirma Vorteil aus der beginnenden In-
flation. Außer einem schmalen Tisch, einem Stuhl, dem
Telephon, der Devisenmappe und dem Geldschrank
war nichts in dem Räume, und es hätte auch nichts
mehr in ihn hineingepaßt. Als Kern seine dunkle Rede
beendet hatte, bat ich ihn, er möchte doch, wenn ich
wegen eines Kunden telephonieren müßte, unauffällig
mit einem Finger die Taste des Apparates nieder-
drücken.
Und schon kam ein Kunde und wollte Dollars
gewechselt haben. Eilfertig versprach ich ihm, den
neuesten Kurs einzuholen, und hob den Hörer ab. In
den tauben Apparat hinein verlangte ich die Devisenab-
teilung und bat um den letzten Kurs. Geld oder Brief?
fragte ich, zwoundachtzig, danke, sagte ich, hängte ein
und zahlte dem Beglückten weit unter Kurs.
«Aber das ist ja Betrug!» staunte Kern fassungslos
und Heinz grinste. In der Tat, das sei Betrug,
versicherte ich ihm, alles, was ich in diesem famosen
Kiosk triebe, sei Betrug, ein Betrug nach Anweisung,
ein right honourable Betrug, ein Betrug, der die Seele
dieses Geschäftes ist. Und ich erzählte ihm von den
erbaulichen kleinen Kniffen, von dem System kleiner
Schweinereien, als da sind, größere Geschäfte in die
Bücher als eine Anzahl kleinere einzutragen, weil ein
Umsatz über dreitausend Mark versteuert werden muß,
nichtsdestotrotz aber den Kunden die Steuer zahlen zu
lassen und sie dann für die Firma einzusäckeln; ein
Ring der Wechselstuben zur offiziellen Niederhaltung
der Kurse bei Käufen und zu intensivem Hoch-
schrauben bei Verkäufen; und was dergleichen Dinge
mehr sind.
«Man muß», sagte ich zu Kern, «auch das können.
Wir haben noch viel zu lernen, bevor wir reif sind, den
Kampf mit den verheerenden Gewalten der Zivilisation
aufzunehmen. Du hast», sagte ich unvermittelt, «mir
vorhin erzählt, die Mainzer klagten, sie seien in ihrer
Aktionsfreiheit behindert durch den Mangel an Geld»,
und schob ihm ein Bündel Scheine zu. Er fuhr zurück
und sagte scharf: «Wenn andere Leute Lumpen sind,
dünkt mich, sollte dies für dich keine Veranlassung
sein, auch einer zu werden.»
«Es steht zu vermuten», sagte ich und zahlte einem
Polen mit schwarzen Fingernägeln die Summe aus,
«daß du von bürgerlichen Sentiments noch immer
angekränkelt bist. Es steht zu vermuten», und kassierte
von einem vornehm schweigenden Engländer die
weiße, wie Puderpapier anzufühlende 10 Pfundnote,
«daß selbst, wenn hier alles sauber wäre, die Tatsache
der Aktionsunfähigkeit der Mainzer wegen Geld-
mangels Veranlassung genug für mich ist» — und
prallte etwas zurück vor der Parfümwolke einer nicht
mehr jungen Französin, die gierig die Scheine zählte,
«sowohl auf den Profit meiner hochangesehenen
Bankfirma», und beschummelte einen mißtrauischen
Dänen doch um mindestens 10 Prozent, «als auch auf
die Reinheit der sittlichen Prinzipien meiner un-
behüteten neunzehn Jahre keine Rücksicht zu nehmen»,
und zahlte einer kleinen Dame von der nächtlichen
Kaiserstraße für ihren holländischen Gulden den
einzigen anständigen Kurs des Tages aus.
«Es steht zu vermuten», sagte Heinz, «daß man
bestimmte Dinge nur in geschraubtem Deutsch sagen
kann.»
«Ich kann das Geld nicht nehmen», blieb Kern
störrisch.
«Wenn ich dies Geld nicht durch Spekulation,
sondern durch Betrug gewonnen hätte», sagte ich
beleidigt, «dann sei versichert, hätte ich keinerlei
Andeutungen gemacht, die dich zu beängstigenden
Schlüssen zu veranlassen geeignet wären.»
«Die Verwirrung der Gefühle», sagte Heinz, «scheint
mir das erfolgreichste Kampfmittel der O. C. zu sein.»

Mein Kiosk wurde bald das Finanzierungsinstitut für


die Rheinlandaktionen. Selbst Heinz mußte sich
entschließen, zu arbeiten, um sein Teil für die
Sicherstellung der für unsere Tätigkeit im besetzten Ge-
biet unabänderlich notwendigen Summen beizutragen.
Es gelang uns, in gewagten Spekulationen einen zwar
nicht unerschöpflichen, doch für unseren bescheidenen
Bedarf ersprießlichen Fonds zu schaffen. Denn seit
Oberschlesien gab es viel zu tun.

In Oberschlesien, dem Orte der Generalversammlung


der Aktivisten Deutschlands, ergab es sich von selbst,
daß die Männer, die in allen Landesteilen wie
Sprengpulver wirkten, nunmehr voneinander erfuhren
und so in der Lage waren, den einzelnen Aktionen
durch Zusammenspielen stärkere Wucht und größere
Bedeutung zu verleihen. In den folgenden Monaten
entstand ein zähes, unsichtbares, federndes Netz,
dessen einzelne Maschen sofort reagierten, wenn an
irgendeiner Stelle das Signal gegeben wurde. Das
geschah ohne jede nur denkbare Bindung durch eine
Organisation, ohne Plan und Auftrag, einzig durch das
Wirken einer spontanen und selbstverständlichen
Solidarität. In allen Bünden hockten die Männer, in
allen Lagern, allen Berufen. Sie warfen sich die Bälle
zu, informierten sich, warnten einander, gaben
brauchbare Tips und handelten in der rauschhaften
Erfahrung, daß bald an hundert verschiedenen Orten
gleichzeitig und unabhängig voneinander dieselben
Gedanken und Ideen aufsprangen, dieselben
Berufungen, dieselben Zielsetzungen, daß dieselbe
Situation überall gegeben war und dieselben
Handlungen zeugte. So erwuchs für sie eine große und
einheitliche Willensrichtung. Um sie schlang sich ein
Band, das fester war, als es Treueschwüre und
Organisationsstatuten sein könnten, sie fesselte der
gleiche Rhythmus, der in ihren Adern schlug. Es erwies
sich, daß eine Reihe von neuen Geboten, von ihnen
allen mit der gleichen elementaren Sicherheit
anerkannt, sie in die gleiche Linie zwang. Sie hielten
sich wie Menschen von einer Rasse, sie spürten die
gleichen Wehen in sich und die gleichen Ströme. In
ihnen sprangen die gleichen Zweifel auf. Sie waren
Apodiktiker des Zweifels, bereit, jeden Ballast auf
ihren suchenden Wegen von sich zu werfen, beglückt,
da sie erkannten, daß der gleiche Drang in allen ihrer
Art sie in die gleichen Konflikte warf und ihre gleiche
Lösung finden ließ.
Die Männer, immer noch in ihren Bereichen Ver-
einzelte, tauchten unter in die Masse der Namenlosen
und stießen wieder empor, getrieben von unfaßbaren
Kräften, sie zogen einen bebenden Kreis der Unruhe
um sich herum, immer bereit, zögernde Gewalten durch
tollen Ansprang zum Ausbruch zu treiben, immer tätig,
aufsteigende Forderungen zu überhitzen und zu
durchglühen, immer gewillt, bis zur letzten Schärfe der
Fragestellung vorzudringen. Es gab kein Feld, das sie
nicht zu durchschreiten wagten, kein Bündnis, dem sie
auswichen. Es erstarkte in ihnen die Gewißheit, daß die
Gesetze eines Staates anerkennen den Staat selber
anerkennen hieß. Es blitzte ihnen die Erkenntnis auf,
daß ein neues Wollen neue Gesetze verlangte, Gesetze,
die sich in den rastlos arbeitenden Hirnen der einsamen
Kämpfer formulierten und ihnen eine ungeheuerliche
Verantwortung aufbürdeten, die nur der zu tragen
vermochte, der gerüstet war, sich ohne Vorbehalt
hinzugeben. Sie zwangen sich zu der unerbittlichen
Folgerung, daß es nicht genügen konnte, wenn schon
von Opfern die Rede sein sollte, das Leben zu opfern,
sondern das, was ihnen höher stand als das Leben: Ehre
und Gewissen.
So entfremdeten sie sich der Welt, die sie als
verrottet, als breiig verschwommen, als unsagbar
unwahrscheinlich empfanden, trotzdem diese Welt
ihnen täglich von der zerrenden Gewalt ihres Daseins
Beweis erbrachte. So handelten sie, dynamische Men-
schen in dynamischer Zeit, die nur mit dynamischen
Maßen gemessen werden konnten, auf einer Ebene, die
der Umwelt gespenstisch und bedrohlich erscheinen
mußte. So wurden sie aus Fremden Geächtete, aus
Begehrten Gemiedene, aus Handelnden Verbrecher.
Und sie wußten das, und sie waren nicht geneigt, es zu
betrauern.
Eine Aktion zog die andere nach sich. Mit
unheimlicher Folgerichtigkeit sprudelte der Strom den
Fällen zu, uns mit sich reißend. Wir lebten doppelt.
Was wir tagsüber in gehaßter Fron an materiellen Er-
gebnissen erlangten, ermöglichte uns die Tätigkeit der
Nächte und der freien Stunden. Wir schnellten im
hitzigen Atem der Tat von einer Spannung zur anderen.
Voneinander erfuhren wir in hastigen Begegnungen,
die alle einem ständig wechselnden Zwecke dienten.
Gabriel erstickte mit den geduckten Gruppen seiner
Gesammelten mühsam die ersten Zuckungen der
Separatistenbewegung in der Pfalz durch nackten,
blutigen Terror, ohne freilich den von Paris
wohlgespeisten Apparat zerstören zu können. Die
Elberfelder, bespitzelt von den mißtrauischen Kommu-
nisten, von Separatisten und Franzosen gleichermaßen
wie von den deutschen Behörden, wachsam unter der
steten, unmittelbaren, seit Jahren wie eine Wolke
hängenden Drohung einer französischen Besetzung des
Ruhrgebietes, arbeiteten an den Fundamenten eines
unerbittlichen Widerstandes, unterstützt von Schlageter
und seinen Aktivisten, die ihre Basis von Oberschlesien
nach den verrußten Städten des Industriebezirkes an der
Ruhr verlegt hatten. In der Grenzmark, in den östlichen
Provinzen, in Brandenburg baute Schulz die getarnte
Landesverteidigung, die schwarze Reichswehr auf. In
München die Männer, in zermürbendem Kampf mit
den Unzulänglichkeiten sentimentsberauschter
Patrioten, fühlten mit spitzen Fingern vor in die Bezirke
der niederen, der hohen, der ganz hohen Politik, ohne
einen anderen Eindruck zu gewinnen als den des
unaussprechlichsten Ekels, fanden noch Zeit, den
französisch inspirierten Machenschaften der bayrischen
Separatisten ein zielgenaues Ende zu bereiten, tasteten
nach Österreich hinüber, bohrten in Ungarn und der
Türkei, speisten die Quellen des südtirolischen
Widerstandes. Von Kern erfuhren wir, war er, wie so
oft, im Reiche unterwegs, die Etappen seiner Straße
durch die Berichte, die uns von allen Seiten zugingen,
Berichte über eine Waffenschiebung in Ostpreußen,
über eine Irreführung der Polizei, die nach den
Erzberger-Mördern fahndete, über die Indienstnahme
von sechstausend Dithmarscher Bauern, über den
wilden Fang eines Separatistenführers in der Nähe von
Köln, über die Organisierung sudetendeutscher
Aktivisten, über etwas gewaltsame Gespräche mit
Reichswehrgruppenkommandeuren, über Gefangenen-
befreiungen im besetzten Gebiet.
Kern wurde so in kurzer Zeit einer der führenden
Aktivisten. Sollte in Danzig eine Waffenschiebung
steigen oder in Hamburg ein Sprengstoff-Attentat, dann
rief man ihn als Leiter. Bald wob sich um ihn ein
Legendenkranz. Er, immer mindestens drei neue Pläne
im Kopf und einen zur Ausführung fertig in der Tasche,
beständig unterwegs, überall frischen Wind mit sich
reißend, glühte von einem inneren Brand, dessen
Flammen in seiner Nähe keine Lauheit duldeten.
Rücksichtslos in seinen Forderungen gegen andere,
weil ebenso rücksichtslos gegen sich selbst, übte dieser
mittelgroße, breite Mann mit den offenen Zügen und
dunklen Augen, dem man Willens- und Körperkraft
sofort ansah, einen zwingenden, suggestiven Einfluß
aus, den er nur in solchen Fällen mißbrauchte, in denen
der Preis des Einsatzes höher stand als dessen Wert
oder in denen die Akteure sich als minderrangig er-
wiesen. Die Unbedingtheit seines Wesens zwang sein
Denken zu überraschenden Resultaten. So war er,
begabt mit einem ausgesprochenen Sinn für Rang und
Wesen, immer bereit, jeden Gefühlswert
leiden.schaftlich zu verteidigen, so lange, bis er dessen
innere Unwahrhaftigkeit erkannte, um ihn dann
kurzentschlossen über Bord zu werfen. Nichts gab ihm
mehr Elan als die Ahnung seines frühen Todes.
In der Stadt aber erhielt unterdes die Gruppe Glanz
und Ansehen. Jedes Wochenende sah uns in Mainz
oder im Taunusgebiet oder in den Brückenköpfen. Die
Zahl der in den Listen der Besatzungsarmee im
Rheinland als Deserteure Gemeldeten wuchs in einem
Maß, welches die Nachrichtenstelle in Mainz
veranlaßte, noch mehr als bisher ihr Augenmerk auf
uns zu richten. Bald tauchten die Spitzel selbst in un-
seren geheimsten Schlupfwinkeln auf und gaben sich
als treudeutsche Männer, was sie von vornherein
verdächtig machte. Bald wandte sich an uns, wer
immer eine Blutrache zu erfüllen hatte drüben, wer
Hilfe brauchte zu geheimem Tun, wer Dinge wußte, die
von den deutschen Behörden achselzuckend nicht
verfolgt werden konnten. Bald wandten sich an uns
Behörden selbst. Wir trieben manchen vorbedachten
Keil zwischen Dienststelle und Dienststelle, zwischen
Ressort und Ressort, zwischen Amt und Amt. Bald
waren wir Fangball und bald dirigierten wir selber das
Spiel.
In München aber saß zu dieser Zeit ein stattlicher
Herr mittleren Alters als Prokurist einer optischen
Firma und bastelte an der Erfindung eines Kinder-
spielzeuges. Polizeilich gemeldet war der Herr als
Konsul Eichwald. Die O. schien ihren C. zu haben. Und
sie war genau so echt wie dieser Name und dieser Titel.

Längst schon kümmerte uns nicht, was offiziell


geschah, gingen uns nichts die Sorgen der Gewählten
und der Wähler an. Die Beratungen der Parlamente, die
Verordnungen der Minister, die Konferenzen der
Mächte konnten trotz des lautesten Geplätschers ihre
Kreise nicht bis zu uns gelangen lassen. Denn wir
standen unter der Oberfläche, und nichts vermochte,
was von oben kam, die Gewässer bis zum Grunde
aufzuwühlen.
Was wir als Politik erkannten, das war schick-
salsmäßig bedingt. Jenseits unserer Welt aber war
Politik interessenmäßig bedingt. Und wenn wir auch
kühn in jene geheimnisvollen Bereiche griffen, in
denen das Leben seinen Durchbruch am schärfsten
akzentuiert, weil wir entschlossen waren, keiner
Belastung auszuweichen, uns um keine Notwendigkeit
herumzudrücken, weil wir die Erscheinungen angingen,
wie sie sich uns boten auf dem Wege zu uns selbst, so
erkannten wir doch, daß keinerlei Verständigung
möglich war auf irgendeinem Gebiete zwischen jener
Welt und unserer. Und wir suchten darum eine
Verständigung nicht.
So konnten wir auch nicht antworten auf die Frage,
die so oft vom jenseitigen Rande der Schlucht zu uns
herüberschallte, auf die Frage: Was wollt ihr
eigentlich? Wir konnten nicht antworten, denn wir
verstanden die Frage nicht, und jene hätten die Antwort
nicht verstanden. Die Kontrahenten rangen nicht um
denselben Preis. Denn drüben ging es um Besitz und
Bestand, uns aber ging es um Läuterung. Uns ging es ja
nicht um System und Ordnungen, um Parolen und
Programme. Wir wirkten ja nicht nach Plan und
festumrissenem Ziel. Wir wirkten nicht, es wirkte in
uns. Und so schien uns die Frage dumm und platt. Die
Frage schien uns nicht tiefer ritzend als gerade die
Oberfläche unseres Seins. Unsere Verheißung sprach
stumm zu uns. Und iast fürchteten wir, sie könne zu
tönen beginnen, bevor unsere Sendung erfüllet war.
Denn das Reich lag offen wie ein umgebrochener
Acker; jedweden Samen aufzunehmen war es bereit.
Der Samen aber, der allein aufgehen durfte, dies war
unser fester Wille, durfte einzig die Frucht unserer
Träume sein.
Noch war keinerlei Gestaltung da und jede möglich.
Wie eine stagnierende, überkältete Flüssigkeit war das
Reich, in die nur ein einziges Tröpfchen zu fallen
braucht, damit sie gefriert mit einem knisternden
Schlage. Dies Tröpfchen mußte unsere Essenz
enthalten, oder unser Schicksal war ohne Sinn.
Und wir blickten uns um, wer der Mann sein könnte,
der vor uns das Wort zu sprechen imstande war. Längst
wußten wir, daß Männer entscheiden, nicht Maß-
nahmen. Aber wo wir uns auch unter den Männern der
neuen deutschen Oberschicht umschauten nach dem
einen Mann, konnten wir nur spöttisch mustern und
weiterblicken. Wo war da ein Mann von
geschichtlicher Substanz, einer, der mehr war als eine
Tagesgröße, außer dem einen schweigenden Seeckt?
Der besonnene Ebert etwa, oder der pausbäckige
Scheidemann? Der bescheidene Hermann Müller, der
ehrwürdige Fehrenbach, der kreuzbrave Wirth? Oder
Rathenau — Rathenau?

Rathenau sprach im Volksbildungsheim. Es gelang


Kern und mir nicht, im überfüllten Saale einen anderen
Platz zu erhalten als einen Stehplatz an einer Säule, drei
Meter vom Rednerpult entfernt. Aus der Menge der
schwarzberockten Herren, die den Vorstandstisch
umlagerten, sonderte sich der Minister durch die
Noblesse seiner Erscheinung sofort heraus. Als er ans
Pult trat, als über dem blanken Holz der schmale, edle
Schädel mit der zwingend aufgebauten Stirn erschien,
erstarb das geschäftige Gemurmel der Versammlung,
und er stand sekundenlang im Schweigen, unendlich
gepflegt, mit dunklen, klugen Augen und einer leichten
Lässigkeit der Haltung. Dann begann er zu sprechen.
Was mich überraschte, war nicht der Ton der
Stimme, er war ebenso, wie ich ihn mir beim Lesen der
Schriften Rathenaus vorgestellt, kühl und warm
zugleich. Was mich überraschte, war das Pathos, mit
dem die ersten Sätze der Rede erfüllt waren, und war
die Unmöglichkeit, zu zweifeln, daß dies Pathos echt
war. «Schmerzgebannt», sagte der Minister, «stehen
wir vor der Entwirrung des oberschlesischen
Dramas...» Und er sprach diese ersten Worte leise aus,
sehr eindringlich, und ließ die tiefe Trauer spüren, die
ihn bannte. Das Objekt dieser Trauer aber war die
Verletzung des Prinzipes der Gerechtigkeit.
Der erste volle Akkord beherrschte das ganze Thema
der Rede. Und dies Thema war die Rechtfertigung der
Erfüllungspolitik. Der Minister machte es sich nicht
leicht, er sprach wie einer, der aus dem
Verantwortungsgefühl seines Dienstwillens heraus um
Bewußtheit rang und nun die Ergebnisse der gewissen-
haften Untersuchung, die unter dem Leitstern eines als
absolut erkannten Ideales stand, zögernd fast vor die
profanen Augen breitete. Und doch mußte ihm die
Schlüssigkeit seiner Beweisführung Sicherheit verleihn.
Eine Sicherheit, die ihn nicht scheuen ließ, zur
Stützung seiner These jene historische Proklamation als
Vergleich heranzuziehen, die im Jahre 1871 vor der
französischen Nationalversammlung in Bordeaux
gesprochen wurde, mit der sich die elsaß-lothringischen
Abgeordneten von Frankreich verabschiedeten und die
mit den gegen das siegreiche Deutschland gerichteten
Worten begann: «Aller Gerechtigkeit zum Hohn ...»
Unter diesem Aspekt aber, nämlich der Voraus-
setzung, daß es eine Gerechtigkeit gäbe, daß dieser
Begriff keine Fiktion wäre, oder als Forderung nicht
unsittlich, unter diesem Aspekt freilich war alles, was
der Minister sagte, folgerichtig und geschlossen. Dieser
Mann schien erfüllt von einem Ethos, das nicht neu
war, neu nur als beherrschendes Motiv im Herzen eines
Staatsmannes, und es gab sicherlich, auf die deutsche
Politik angewandt, dieser auf einmal, was sie so lange
entbehrte: Fülle und Richtung und Sinn. Denn die
Gerechtigkeit, als absoluter Wert betrachtet, verlangt
die absolute Gleichheit aller Ordnungen. Damit wir,
besiegt, beschuldigt und verdächtigt, zu dieser Gleich-
heit zugelassen werden, bedürfen wir des Vertrauens.
Dies Vertrauen zu erlangen, müssen wir erfüllen. Durch
die Erfüllung offenbart sich unser guter Wille und das
Maß seiner Kraft. Nach dem Maße dieser Kraft gewährt
uns dann Gerechtigkeit die Freiheit. Hier fehlt kein
Strich. Hier ragt der Zipfel einer deutschen Sendung
wieder über die Erde. Hier knüpft sich die zerrissene
Bindung wieder, fügt sich die Deutschheit in das
System der geheiligten Grundsätze der zivilisierten
Welt, in die Demokratie, ihr durch Opfer, Sühne und
Glauben erneut die Würde gebend.
Der Minister trug seine Rede wie eine Botschaft zu
den Bürgern, die aufmerksam und angenehm gefesselt
lauschten. Er war hingegeben seinen eigenen Worten,
er sprach geschliffen, mit einer kleinen Freude an den
eigenen Gedanken. Er redete, sich seines Wertes wohl
bewußt und angeregt von der Welle warmen Ver-
ständnisses, die ihm aus dem Saale entgegenschlug.
Nirgends freilich konnte auch der Zauber dieses
Mannes so wirken wie in dieser Stadt. Denn die Bürger
dieser Stadt waren stolz auf den Geist, der in ihren
Mauern waltete, der verkörpert war in den beiden
großen Namen, die ewig mit dem Namen der Stadt
verbunden sind. Rathenau aber trug um sich einen
Hauch von dem, was diese beiden Namen
großgemacht. Er selber hatte einmal angedeutet, was in
ihm Wirklichkeit zu werden schien, als er sagte, zum
Staatsmanne gehöre die Mischung zweier Polaritäten:
er muß wie Napoleon und Bismarck halb Römer, halb
Levantiner, halb Baidur, halb Loki sein. Die Mischung
zweier Polaritäten war auch das Geheimnis seines
Wesens; in ihm verschmolz, was den Bürgern dieser
Stadt — manchmal zweifelnd, wem der Vorrang denn
gebühre — als charakteristisch schien an den beiden
Großen ihrer Heimat: Goethe und Rothschild.
Und indes ich so, zwar streng der Rede lauschend,
den Arabesken meiner Gedanken folgte, die sich um
den Mann dort oben auf dem Rednerpult verschlungen
zogen, ward mir plötzlich klar, nach welcher Seite
seine Objektivität sich rang, und auch, von welcher
Seite sie ihren Ausgang nahm. Daß unser Denken polar
sei, hatte dieser Mann gesagt, und hatte Mut und Furcht
als die gegensätzlichen Urelemente aufzuzeigen sich
bemüht. Aber was er in seiner Verkündung scheu zu
verschleiern suchte, das trat ans Licht im Tone seiner
Stimme, in der Gebärde seiner Hand, im Suchen seiner
Augen; das nämlich, wem seine Liebe gehörte. Sie
gehörte dem Furchtmenschen.
Und dies begreifend, zog ich unwillkürlich den Blick
von diesem Manne und wandte mich zu Kern. Der
stand, die Arme vor der Brust verschlungen, fast
unbeweglich, an der Säule neben mir. Und da geschah
das Unbegreifliche. Es geschah, während der Minister
sprach von Führertum und Vertrauen, während seine
Stimme sich bohrte in den totenstillen Raum, in den
Dunst welterfahrener Behäbigkeit, der über der
Versammlung lag. Sicherlich, es kann nicht anders
sein, schlug jene eine tödliche Sekunde in jedes Herz.
Es muß wie ein Pochen gewesen sein, zwei Pulsschläge
lang, ein Pochen in jeder Brust, beklemmend, jäh,
aufreißend ein Tor zum Tode, von einem Blitzschlag
erhellt, und schon vorbei. Vorbei, wie weggewischt,
unwirklich nun und doch geschehen. Ich sah, wie Kern,
halb vorgebeugt, nicht ganz drei Schritt von Rathenau
entfernt, ihn in den Bannkreis seiner Augen zwang. Ich
sah in seinen dunklen Augen metallisch grünen Schein,
ich sah die Bleiche seiner Stirn, die Starre seiner Kraft,
ich sah den Raum sich schnell verflüchtigen, daß nichts
mehr blieb von ihm als dieser eine arme Kreis und in
dem Kreis zwei Menschen nur.
Der Minister aber wandte sich zögernd, sah flüchtig
erst, verwirrt sodann nach jener Säule, stockte, suchte
mühsam, fand sich dann und wischte fahrig mit der
Hand sich von der Stirn, was ihm angeflogen war.
Doch sprach er nun fortan zu Kern allein. Beschwörend
fast, so richtete er seine Worte zu dem Mann an jener
Säule und wurde langsam müde, als der die Haltung
nicht veränderte. Das Ende seiner Rede hörte ich nur
unverstehend.
Als wir uns durch den Ausgang drängten, gelangte
Kern bis dicht vor den Minister. Rathenau, von
geschwätzigen Herren umringt, sah ihn fragend an.
Doch Kern schob sich zögernd an ihm vorbei, und sein
Gesicht schien augenlos.

Aktion

Im Oktober des Jahres 1917 sichtete U 27,


Kommandant Kapitänleutnant Patzig, im Ärmelkanal
den englischen Dampfer «Landowry Castle». Das
Schiff war als Lazarettschiff kenntlich gemacht. Doch
Kapitänleutnant Patzig glaubte Geschützaufbauten zu
erkennen und, denkend an den Fall Baralong, befahl er,
den Dampfer zu versenken. Dies geschah. Von einer
späteren Ausfahrt kehrte Kapitänleutnant Patzig nicht
zurück.
Gegen keine ihm in den Waffenstillstands- und
Friedensverträgen aufgebürdeten Bedingungen hatte
das deutsche Volk so eindringlich protestiert wie gegen
die Auslieferung der sogenannten Kriegsverbrecher.
Jedermann wird sich noch entsinnen jenes Sturmes der
Entrüstung, des einzigen der vielen Stürme, der keinen
inferioren Charakter trug, welcher damals Deutschland
sozusagen durchbrauste. Es schien der Entente
gefährlich, den Bogen zu überspannen, und, da der
Bogen ja in der Tat schon genügend straff gespannt
war, und die Gefahr, einen Präzedenzfall zu liefern, bei
der bekannten deutschen Mentalität nicht gefürchtet zu
werden brauchte, so war sie geneigt, in diesem Punkte
nachzugeben. Niemand hatte allerdings erwartet, daß
das deutsche Volk einmütig und entschlossen aufstand
gerade gegen diese Bestimmung des Vertrages, den die
Deutschen einen Schandvertrag nannten, nicht
bedenkend, daß den die Schande trifft, der sie durch
Unterschrift und Siegel anerkennt. Doch, nichtswürdig,
glaubten in Deutschland die Leute damals, sei die
Nation, die nicht ihr Alles freudig setze an ihre Ehre.
Die deutsche Regierung aber, erwägend, daß man Ehre
nicht essen kann, ließ sich zu Verhandlungen herbei
und feierte es als einen Erfolg, als die Alliierten sich
dazu herbeiließen, die Bestrafung der deutschen
Kriegsverbrecher dem deutschen Reichsgericht zu
überlassen. Auf der englischen Liste der
Kriegsverbrecher aber stand auch der Name des
Kapitänleutnants Patzig.
Da Patzig gefallen war, glaubte die deutsche
Reichsregierung ein übriges tun zu müssen und forderte
die beiden Wachoffiziere des U-Bootes vor Gericht, die
Oberleutnants z. S. Boldt und Dittmar, deren Namen
nicht auf der Liste standen. Der Oberreichsanwalt
Ebermayer glaubte es der Würde des Reichsgerichts,
des höchsten deutschen Gerichts, über den ganzen
Erdball hin bekannt als die unerschütterliche Wahrerin
der heiligsten Rechtsgüter, schuldig zu sein, durch eine
besondere Demonstration auch nach außen hin zu
zeigen, als was er die beiden Offiziere im Auftrage der
Entente und der Reichsregierung anzusehen geneigt
war, und ordnete ihre Fesselung an. Die englischen
Offiziere, die zur Beobachtung des Verfahrens nach
Leipzig gesandt wurden, quittierten diese welt-
männische Courtoisie mit unbewegten Mienen. Das
Reichsgericht aber verurteilte die beiden Seeoffiziere,
die vor dem Feinde dem Befehl ihres Vorgesetzten
bedingungslos gehorcht hatten, wegen dieser
verdammenswürdigen Handlung zu vier Jahren
Gefängnis. Denn das Reichsgericht ist ein objektives
Gericht. Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.

Dem älteren Herrn, der auf einem vaterländischen


Abend flammend ein Gedicht vortrug, welches sich mit
diesem Urteil befaßte und in dem viel von einem
Schmutzflecken auf dem blanken deutschen Ehren-
schild die Rede war, hörten auch Kern, Heinz und ich
zu. In die sekundenlange Pause zwischen dem Ende der
Deklamation und dem Einsetzen des brausenden
Beifallssturmes konnte sich Heinz nicht enthalten hin-
einzurufen: «Ober, ein Bier!» Da somit die Festlichkeit
einigermaßen gestört war, verfügten wir uns in die
Bahnhofshalle zu meinem Kiosk und berieten, wie
Boldt und Dittmar aus dem Gefängnis herauszuholen
wären.
Da anzunehmen war, daß in diesem Augenblick im
ganzen Reiche die Putschisten aller Städte über den
gleichen Plänen brüteten, schien Eile geboten. Ich
verfocht mit Eifer den Standpunkt, daß sofort gehandelt
werden müsse, da noch die beiden im Reichsgerichts-
gefängnis saßen, noch nicht in verschiedene Straf-
gefängnisse abtransportiert und somit noch beisammen
und mit einem einzigen Schlage herauszuholen wären.
Meinem Vorschlage folgte ein vieldeutiges Schweigen.
Erstaunt vernahm ich dann, daß einige Seeoffiziere,
darunter auch Kern und Fischer aus Freiberg in
Sachsen, in Schupouniformen gehüllt, unlängst in
einem Auto zu abendlicher Stunde vor das Reichs-
gerichtsgefängnis in der Beethovenstraße in Leipzig
vorgefahren waren, ein gut gefälschtes Papier als
Transportanweisung vorgezeigt und gefordert hatten,
die beiden Gefangenen eiligst ihnen auszuliefern, da sie
noch zum Nachtzuge zurechtkommen müßten und die
Überführung der Gefangenen tunlichst in aller
Heimlichkeit zu geschehen habe, weil leider zu
befürchten stand, daß die beiden Seeoffiziere von der
O. C. befreit würden. Die sächsischen Gefängnis-
beamten aber krochen ihnen nicht auf diesen Leim,
rasselten vielmehr vernehmlich mit den Schlüsseln,
täuschten dienstbereite Eilfertigkeit vor und alarmierten
heimlich die Schupowache. Diese, pflichtbewußt und
nicht geneigt, dunklen Gewalten anders als offen zu
begegnen, drehten erst einmal sämtliche Lichtschalter
an, so daß der ganze Platz taghell erleuchtet war. So ro-
chen Kern und Fischer Lunte, stiegen schleunigst in ihr
Vehikel und brausten davon. Später erfuhren sie, daß
der Plan verraten war, und Kern verkündete
nachdenklich die Prophezeiung, daß nach der Welle des
Antisemitismus, die unser geliebtes Vaterland bis zum
Grunde aufwühlte, mit Sicherheit eine andere Welle
folgen werde, die des Antisachsismus.
Da auf diese betrübliche Weise die erste Aktion
gescheitert war, mußte in der Tat das Unternehmen
geteilt werden. Es galt abzuwarten, in welche
Gefängnisse Boldt und Dittmar abtransportiert wurden.
Doch konnte immerhin der Plan der Aktion schon in
großen Zügen besprochen werden. Kern aber war der
Ansicht, daß die Befreiung der «Kriegsverbrecher» eine
Ehrensache der Marine sei, und forderte von Heinz und
mir den Verzicht auf die direkte Teilnahme an der
geplanten Aktion. Nachdem wir zuerst die Absicht
hatten, ihn für dies Ansinnen auf Pistolen zu fordern,
gaben wir nach unter der Bedingung, daß wiederum
eine andere Aktion unserer beider Geschicklichkeit
völlig allein überlassen werde, und wurden daraufhin
als Kompromißlernaturen wüst beschimpft.

Die Affäre Boldt funktionierte glatt. Hilfsbeamte des


Hamburger Gefängnisses waren Angehörige der
Marine und später der Brigade Ehrhardt gewesen.
Dittmar war ins Gefängnis nach Naumburg an der
Saale gekommen. Nach langwierigen Vorbereitungen
gelang es, ihm einen Schweißapparat in die Zelle zu
schmuggeln. Einige Seeoffiziere forderten, daß die
Befreiung zum Geburtstage des Obersten Kriegsherren
der Kaiserlichen Marine erfolgen müsse, am 27. Januar
1922. Doch im letzten Augenblick fiel der Seeoffizier,
der das Fluchtauto zu lenken übernommen hatte, aus,
und Kern, in Verlegenheit, so schnell Ersatz zu
schaffen, wählte als Chauffeur einen gewissen Weigelt,
der bei der Orgesch in Thüringen angestellt gewesen
war und angab, Fliegeroffizier zu sein. Das
Unternehmen geschah einen Tag später als vorgesehen,
am 28. Januar 1922.
Nach den Berichten aber hatte sich die Befreiung des
Oberleutnants Dittmar so zugetragen:
An die Gefängnismauer in Naumburg grenzt eine
Gärtnerei. Das Zellenfenster Dittmars war von der
Gärtnerei aus einzusehen. Des Abends drangen die
Befreier in den Garten ein und erstiegen die Mauer; sie
ließen eine Strickleiter in den Gefängnishof hinab und
hielten die Pistolen schußbereit. Rund um das
Gefängnis stellten sie Posten aus; das Auto hielt in
einer Nebenstraße. Schon zu dieser Zeit war der
Chauffeur Weigelt betrunken. Dittmar schweißte die
Gitterstäbe durch und befestigte an die Stümpfe das
lange Seil, welches er sich mühsam aus seinem
blaukarierten und in lange Streifen gerissenen Bettuch
gedreht hatte. Der Gang der Ronde war genau
ausgekundschaftet. Als die Wache im Gebäude
verschwunden war, schob sich Dittmar, atemlos
beobachtet von seinen Kameraden und von seiner
jungen Frau, durch das Fenster und ließ sich vom
dritten Stockwerk herab.
Doch unter seinen Bewegungen begann das Seil zu
pendeln. Mehrfach schlug Dittmar mit dem Körper
gegen das Mauerwerk. Er versuchte, sich mit den
Beinen vom Gemäuer abzustemmen — und trat
klirrend in das Glas des unter ihm liegenden
Zellenfensters.
Das ganze Gefängnis geriet in Aufruhr. Dittmar, eilig
weiterrutschend, trat noch einmal in Glas. Die
Gefangenen, voller Neid, daß einer der Ihren die
Freiheit suchen konnte, schrien, der Kriegsverbrecher
rückt aus. Das Glas schepperte, die Gefangenen tobten,
im Bau knallten Türen, die Lichter flammten auf. Da
begann Dieter, Kapitänleutnant a. D., an einer
entfernten Ecke der Mauer fürchterlich zu randalieren.
Die Wache, aus dem Gebäude stürzend, horchte
unschlüssig auf den Lärm und rannte schließlich an die
Stelle, an der Dieter Skandal machte.
Dittmar war bis zur Höhe des ersten Stockwerkes
heruntergerutscht, als das Seil riß. Er stürzte und schlug
dumpf unten auf. Im gleichen Augenblick war Kern
von der Mauer herunter, im Hof. Fischer und die
tapfere junge Frau hockten auf der Mauer, die Pistole
entsichert. Die Gefängniswachtmeister forschten zu
ihrem eigenen Glück immer noch erregt nach der
Ursache des Dieterschen Lärms. Kern und ein Kamerad
aber hoben Dittmar, der am Rückgrat schwer verletzt
war, auf und schleppten ihn zur Strickleiter, ihn dann
mühsam emporwuchtend. In derselben Sekunde, da die
Beamten das Seil an Dittmars Zelle erblickten und, die
Karabiner schwingend, herbeieilten, verschwand der
Spuk über die Mauer.
Als die Befreier und der Befreite keuchend die
Straße erreichten, war das ganze Stadtviertel alarmiert.
Aber sofort kamen die Posten, die Schmiere gestanden
hatten, und sicherten die Straße. Das Auto wurde in
tollem Lauf erreicht, als die Verfolger schon aus einer
Seitenstraße brachen. Dittmar war schon verfrachtet
und Kern zu ihm in den Wagen gestiegen, als der
Chauffeur Weigelt, nervös und bleich, erklärte, er
könne nicht fahren, der Motor sei eingefroren. Da
sprang Fischer an den Führersitz, hielt Weigelt die
Pistole an die Schläfe und kommandierte: «Eins —
zwei —.» Bei «drei» fuhr der Wagen an. Die Verfolger
knallten wütend hinterher.
Bei keiner Nation der Welt ist das Pflichtgefühl so
ausgeprägt wie bei der deutschen. Die Polizei war
ungemein tätig. Sofort wurden sämtliche Landstraßen,
Bahnhöfe und Grenzen gesperrt. Der Telegraph spielte,
wie in solchen Fällen üblich, alle Landjägerposten,
Polizeiwachen und Schupostreifen fieberten, den
Verbrecher Dittmar einzufangen und der Gerechtigkeit
wieder zu überliefern. Ein Steckbrief wurde erlassen,
der bald an vielen Mauern klebte.
Während aber die Grenzen des Reiches bewacht
wurden, saß Dittmar keine zwei Kilometer vom
Gefängnis entfernt im Turme der Burg Saaleck,
gegenüber der Rudelsburg, und wartete seine Genesung
und das Ende des Eisenbahnerstreiks ab.

Nichtsahnend saß ich in meinem Kiosk und wechselte


Geld. Die Reisenden strömten durch die Bahnhofshalle,
Gepäckträger eilten vorbei, es war ein Kommen und
Gehen. Nur die beiden Herren, die am Haupteingang zu
den Bahnsteigen standen, kamen zwar, aber sie gingen
nicht. Der eine trug einen steifen, schwarzen Hut und
der andere eine legere Reisemütze. Beide waren in
subalterne Mäntel gehüllt und hatten völlig
ausdruckslose Gesichter. Diese beiden Herren, sagte
ich mir, kennst du. Eilig malte ich ein Schild:
«Geschlossen aus familiären Rücksichten» und hing es
vor den Schalter; dann riegelte ich den Kiosk zu und
rief Heinz an. «Jawohl», sagte ich, «Kripo. Und zwar
Popo! Die Herren sind nicht geneigt, bei ihrem
kärglichen Gehalt etwas umsonst zu tun. Dicke Luft,
wie man zu sagen pflegt. Ich erwarte alles, was Beine
hat, to do his duty. Schluß.»
Zehn Minuten später trafen die ersten ein. Heinz
sagte sofort, daß Kern unterwegs sei. Wahrscheinlich
käme er heute an, und wahrscheinlich sei Dittmar bei
ihm. Wir stellten fest, daß sämtliche Ausgänge von der
Kriminalpolizei besetzt waren. Und zwar standen an
den Toren zu den Bahnsteigen je zwei, an den Toren
zum Bahnhofsplatz aber nur je einer von den Beamten.
Heinz sah nach, welche Züge aus Thüringen kamen. In
wenigen Minuten wurde der D-Zug erwartet. Bald
waren etwa zwanzig Mann von uns im Bahnhof, die
sich unauffällig postierten. Ich nahm eine
Bahnsteigkarte und ging durch die Sperre. Der Zug lief
ein.
Als ich Kern sah, schoß ich auf ihn zu. Mit drei
Worten war er informiert. Dicht hinter ihm ging
Dittmar. Wir drängten uns durch die Sperre. Hier stand
sonderbarerweise kein Kripo. Dicht neben dem
Haupteingang hing die Tafel mit den amtlichen
Verlautbarungen. Ein roter Zettel prangte dort, der
Steckbrief Dittmars. Vor ihm staute sich ein Grüppchen
Neugieriger. Kern steuerte sofort auf den Steckbrief
los.
«Unerhörte Schweinerei!» schrie er. «Dieser Mann»,
brüllte er, «wird wie ein Verbrecher verfolgt und hat
nichts getan als seine verdammte Pflicht und
Schuldigkeit. Runter mit dem Fetzen!» Und riß den
Steckbrief ab.
Im Augenblick sammelte sich das reisende
Publikum. Die beiden Kripos schnellten erst mit den
Augen, dann mit den Köpfen, dann mit den Schultern,
dann mit den Beinen auf Kern los. Der eine blieb je-
doch sogleich wieder stehen, sah aber angestrengt
seinem Kollegen zu, der sich durch die Menge drängte.
Kern fluchte fürchterlich. Der Kripo wand sich immer
näher an ihn heran. Da schoß eine grüne Uniform wie
ein Keil durch den Haufen, blanke Knöpfe glitzerten,
und ein Schupo legte die schwere Hand auf Kerns
Schulter. «Folgen Sie mir auf die Wache", sagte der
Schupo ernst. Und der Schupo war Jörg.
Der Kripo drehte sich beruhigt um. Und Kern, mit
schnellem Blick erfassend, daß gerade Dittmar flüchtig
vorbeiwitschte, mitten durch die beiden pflicht-
schwitzenden Beamten, wurde plötzlich friedlich und
ging mit Armesündermiene neben dem gewichtigen
Jörg einher. Als Dittmar aus dem Bahnhof trat, löste
sich langsam der Ring, der sich unvermittelt um den
Kripo am Haupttor gebildet hatte.
Jörg sagte bekümmert zu Kern: «Hoffentlich
forschen die Kripos nicht nach meiner Meldung.» Doch
die Kripos forschten, und Jörg flog aus der Schupo.

Daß die Mengen Stoffes, die Heinz in jener


Februarnacht des Jahres 1922 bereitgestellt hatte,
ausreichen würden, erschien uns zweifelhaft. Dem
Dämon, den wir zu Gast geladen hatten, mußten wir
gewaltig opfern, sonst fuhr er uns mit Zangenfingern an
das Herz und preßte es zum Spaße ein wenig
zusammen.
Denn Dittmar und Kern und die junge Frau saßen im
D-Zug nach Basel. Sie wollten uns sogleich Nachricht
geben, sobald die Grenze überschritten war. Auf den
einzelnen Stationen aber standen beim Einlaufen des
Zuges die ortsansässigen Putschisten und überwachten
den reibungslosen Ablauf der Reise, bereit, sofort
einzuspringen, sollte die tüchtige deutsche Kriminal-
polizei Gelegenheit gehabt haben, das zu tun, was sie
mit knödeligem Tone als ihre Pflicht zu bezeichnen oft
und gern Veranlassung nahm.
In unserer Kumpanei befand sich ein Schweinehund.
Wir hatten das aus mancherlei Anzeichen entnehmen
können. So hatte Jörg auf dem Polizeipräsidium
erfahren, daß der Aufenthalt Ditrmars in der Stadt
bekannt war. Dittmars Abreise mußte beschleunigt
werden. Einer erzählte, daß Weigelt, als er sich Kern
gegenüber bereit erklärte, an der Befreiung teil-
zunehmen, als besonderes Zeugnis seiner Vertrauens-
würdigkeit zu verstehen gab, er habe von der
mißglückten Aktion in Leipzig genaue Kunde. Eine
Waffenschiebung von Sachsen nach der Tschecho-
slowakei für die Sudetendeutschen mußte im letzten
Augenblick abgestoppt werden, da verschiedentlich
würdige Herren mit niedrigen Gummikragen und
abgeschabten dunklen Mänteln, die vorgaben, vom
Wohnungsamt zu kommen, sich nach der Tätigkeit und
dem ständig wechselnden Aufenthaltsort Fischers, des
Leiters der sächsischen Aktionen, erkundigt hatten.
Zweimal schon war Heinz in kurzer Untersuchungshaft
gewesen. Verschiedene Aktenbände, die auf den
Polizeiämtern vieler Städte des Reiches lagerten, trugen
Namen auf dem Deckel, die zwar alle nicht Kern
lauteten, aber doch mit dem Buchstaben K begannen.
Wenn es schon schwer war, in einer Halbmillionen-
stadt fünfzig zuverlässige Männer zusammenzusuchen,
war es schwerer noch, unter diesen fünf zu finden, die
nicht schwatzten. Noch hatte unsere Gemeinschaft
keine saubere Begrenzung erfahren, keinen Kodex, der
uns in jedem Punkte gültiger war als die nützliche
Moral der Welt. Doch wuchs uns bald die strikte
Isolierung zu als ein Gebot des Kampfes, der ein
Kampf war um uns selbst. Je aufgelockerter die
Bindung wurde, die uns einstmals in Stand und
Tradition und Form erhielt, desto fester fügte sich die
neue Oberschicht. Bei jedem Schritt verstrickten wir
uns in Konflikte, und was bei uns Impuls war und Trotz
und starke Regung, das war bei jenen, die sich nun
fundierten, kalte Sicherheit und Rechnung. Die
Menschen des Nutzens hatten uns umzingelt. Das Spiel
wurde ungleich, wenn es nicht gelang, durch straffe
Zucht der Inbrunst ihre Härte zu verleihen. Verräter
konnten nicht geduldet werden.
Von Heidelberg kam der erste telephonische Anruf
in Stichworten, daß der Zug mit Dittmar sicher passiert
sei. Gabriel erzählte von den Kampfmethoden der
Faschisten, die in Italien gerade gewaltig von sich
hören machten, Verräter wurden bei den Faschisten
bestraft, indem man sie auf einem öffentlichen Platz der
Ortschaft, in welcher die Verräter beheimatet waren, an
einen Pfahl fesselte, ihnen die Hosenbeine zuband und
dann ein angemessenes Quantum Rizinus einfiltrierte.
Wir fanden diese Methode zwar ansprechend, weil sie
auch den leisesten Hauch eines heroischen
Märtyrertumes bei den Betroffenen völlig zu beseitigen
durchaus geeignet war, doch schien sie uns zu human
und in ihrer weiteren praktischen Folge für deutsche
Verhältnisse insofern nicht zweckentsprechend, als bei
der bekannten deutschen Nationaleigenrümlichkeit zu
erwarten war, daß dem Delinquenten das embryonal
entwickelte persönliche Schamgefühl nicht gebieten
würde, über den Grund des Verfahrens zu schweigen
und daß somit weiterer Verrat nicht ausgeschlossen
sein konnte.
Als der telephonische Anruf aus Karlsruhe einlief,
mußte der Vorrat an scharfen Flüssigkeiten ergänzt
werden, und das Gespräch wandte sich mit
beispielloser Roheit den verschiedenen Todesarten zu,
die den einzelnen Abarten des Verrates zu folgen
hatten. Heinz belegte seine blutdürstigen Äußerungen
mit dies-bezüglichen Stellen aus den Werken einer
ganzen Reihe von modernen deutschen Dichtern, ein
Verfahren, welches wir jedoch ablehnten, da die
angeführten Herren sich der Protektion höchster Kreise
und Behörden erfreuten und sohin mit Bestimmtheit
weder ihre sachverständige Kenntnis aus dem Leben
gezogen, noch sie anders als zu Nutz und Frommen
menschlicher Gesittung angewandt haben konnten.
Immerhin erfuhren wir aus Heinzens Zitaten doch
einige Anregung und hatten bald nur noch nötig, den
ver-schiedenen Methoden die entsprechenden Namen
zu geben, was mit «Killen», «Knacken» und «Prosten»
endlich getan war.
Freiburg meldete sich. Der Zug mußte sich nun der
Grenze nähern. In die summende Unterhaltung der
Zechenden fiel erneut der Name Weigelt. Plötzlich war
alles still. Einer hatte einen Brief Fischers bei sich, den
er nun verlas. Danach hatte die Ablieferung des
Fluchtautos nicht geklappt. Das Auto gehörte einem
vermögenden und merkwürdigerweise trotzdem
brauchbaren und uneigennützigen Hallenser Fa-
brikanten. Fischer kam zu Weigelt, der ihm gegenüber
vorgab, er müsse flüchten. Denn in den kleinen Städten
Thüringens begann ein Gemunkel, die Dittmarbef
reiung betreffend, das bald zu Nachforschungen der
Polizei führte. Weigelt gab Fischer zu, daß er,
Stammgast kleinstädtischer Vergnügungsetablisse-
ments, den Bardamen gegenüber kein Hehl aus seiner
Heldenhaftigkeit gemacht habe. Fischer zwang
Weigelt, das Auto zurückzugeben, gab ihm jedoch eine
größere Summe, damit er auf der Flucht nicht mittellos
sei. Doch das Geld steckten sich die Mädchen in den
Strumpf, und Weigelt verschwand zwar, aber mehrere
Gutsbesitzer Thüringens erzählten wenige Tage später,
ein junger Herr, gewesener Fliegeroberleutnant, habe
bei ihnen vorgesprodien, sich als den Befreier Dittmars
ausgegeben und um Geld und Unterstützung gebeten.
Auch ein Brief Dieters wurde verlesen. Dieter habe
sich für Weigelts Vergangenheit interessiert und
nachgeforscht. Weigelt sei zwar kein Flieger gewesen,
dafür aber beim Train.
Die Reichswehr fahnde nach ihm, denn ein ihm
anvertrauter Wagenpark sei verschoben worden. Die
nun aufgelöste Orgesch habe ihn wegen Unregel-
mäßigkeiten entlassen müssen. Wahrscheinlich habe
sich Weigelt nach dem Rheinland gewandt.
Hier griff Gabriel ein. Weigelt sei bei Kern und ihm
erschienen, geschmückt mit Pelzmantel und Monokel,
und habe ihnen seine ernstliche Befürchtung ent-
wickelt, er könne, falls er nicht dauernd reichlich mit
Geldmitteln versehen, doch leicht in die Hände der
Polizei fallen und dann natürlich nicht garantieren, daß
nicht die Dirtmarsache und noch weitere interessante
Dinge aufgedeckt und verschiedene Namen in die zu
erwartende Untersuchung einbezogen würden. Kern
habe ihm mehrfach kleinere Beträge ausgehändigt,
dann auf sein stetes Drängen hin auch größere, Weigelt
habe aber angekündigt, er würde in Bälde mehr
benötigen.
Wir waren auf einmal sehr nüchtern und schwiegen.
Fahrplanmäßig mußte der Zug nun in Basel
eingetroffen sein. Die Kannen leerten sich. Wir spülten
unablässig die schwärzesten Gedanken in den Abgrund
und schielten scheu nach dem Telephon. Die Uhr tickte
quälend.
Mitten in die nervenzermahlende Stille rasselte
schrill das Läutewerk. Heinz sprang über zwei Sessel
zum Apparat und hob den Hörer. «Ferngespräch aus
Basel... —» Wir stiegen auf die Tische und schmissen
die Gläser an die Wand.

Einige Tage später kam Gabriel, düster wie immer,


mager und fanatisch, in meine Wohnung, in der Kern
und ich saßen. Er legte schweigend eine Liste der
Spitzelabwehr, die in Kassel ergänzt und an die
Gruppen verteilt worden war, auf den Tisch und deutete
mit gleichgültiger Miene auf einen Namen. Kern las,
fuhr hoch und ging dann lange stumm und mit
verkniffenem Gesicht im Zimmer hin und her.
Ich sah in die Liste ein und sagte: «Es gibt da
natürlich verschiedene Möglichkeiten. Man könnte
Weigelt auf Pistolen fordern. Doch ist anzunehmen,
daß er kneift. Man könnte ihn auch wegen Erpressung
und Landesverrat anzeigen. Aber man soll die
bürgerlichen Gerichte nicht beschäftigen, wenn man sie
bekämpft. Man könnte ihn auch durch die
Spitzelabwehr auf geschickte Weise den Franzosen, bei
denen er in Dienst zu stehen scheint, verdächtig
machen, und sie würden die Angelegenheit von sich
aus regeln. Doch ist das für unsereins wohl kaum
diskutabel. Dann gibt es natürlich noch eine vierte
Möglichkeit ...»

Feme

Es war nicht schwer, den Weigelt zu einem Ausflug ins


Gebirge zu bereden. Schwerer war es schon, ihn aus
den Nachtlokalen des Weltbades herauszulocken, zu
denen er zielsicher strebte, sobald sie in Sicht waren.
Spät abends machten wir uns auf den Heimweg. Wir
gingen durch den Kurpark. Es widerstrebte mir,
irgendeine Art von düsterer Vorbereitung zu treffen;
denn ich konnte mich zu diesem Mann nicht anders
einstellen wie etwa zu einer Wanze, die im geeigneten
Augenblick zertreten werden mußte. Darum schritten
wir auch, Kern und ich, ohne Plan und Ziel den Weg,
der sich gerade bot, Weigelt in die Mitte nehmend und
auf die entscheidende Sekunde wartend, ohne sie
vorher bestimmt zu haben.
Der Nebel stand milchig in der Nacht. Einzelne
Laternen spendeten mit grünlichem Lichthof ihren
matten Schein. Von den Bäumen tropfte es kühl.
Weigelt schob fröstelnd seinen Arm unter den meinen
und strebte ununterbrochen schwatzend vorwärts.
Der dunkle Weg im Park schien ins Nichts zu führen.
Die zerfledderten Äste des Gebüsches stachen ruppig
um die drohenden Schatten dicker Bäume. Weigelt
preßte seinen Arm an meine Hüfte und bemerkte, der
sei es unheimlich. Mir stieg plötzlich eine geheime
Angst wie ein Pfropfen in die Kehle. Der Gedanke
sprang mich an, daß nach den Satzungen der Menschen
verwerflich war, was schon im Schatten dieser Stunde
unabwendbar uns entgegenwuchs. Abwehrend
formulierte ich mir, daß wir Richter seien; doch spürte
ich sogleich die Schwäche dieses Argumentes. Denn
wir, bewußt verhaftet nur der engsten Gemeinschaft,
durften nicht Entschuldigung suchen für unser Tun der
Gesamtheit gegenüber, wenn wir den Willen der
Gesamtheit nicht anerkennen wollten. Der Teufel hole
das Grübeln. Was ging die anderen an, was hier
geschehen sollte? Wir schritten hier entgegen dem
Schlußakt einer Auseinandersetzung, die für uns allein
gültig sich vollzog. Dei Verräter verfiel der Feme. Was
hieß ihn auch im Würfelspiel verlieren? Was hieß ihn,
sich in unseren verpflichtenden Bereich zu drängen? Da
schritt er schnatternd neben mir, unwürdig, seicht, wie
Ungeziefer lästig.
Er stolperte und hing schwer in meinem Arm. Ich riß
mich rüde los. Schluß mit der Komödie! Was galt sein
Leben uns, da er es selber nur, pendelnd zwischen
Rausch und Schwäche, zu verludern wußte? An einer
Stelle, da der Weg durch Busch und Park sich dicht an
einen See heranschob, blieb Weigelt stehn und horchte
auf das Klickern, mit dem das Wasser an das Ufer
schlug. Er brachte plötzlich seine Augen nah an Kerns
Gesicht und fragte zögernd, kläglich fast, ob wir ihn
wohl in diesen See zu werfen Absicht hätten? Dann
fing er an zu lachen. Kern fuhr zurück, dann murrte er,
dies sei in der Tat ein Gedanke, der Erwägung wert.
Weigelt aber schritt eilig weiter, mich am Arme
zerrend. Bald sang und johlte er wieder, freute sich am
Schall, den das Gebüsch zurückwarf, hüpfte munter,
nach Schnaps und Mädchen gierend.
Er schien von der Warnung selber fasziniert.
Wissend um die Gefahr, betrog er sich um ihre Nähe.
Ich verspürte einen Augenblick Mitleid mit ihm. Es
wollten sich geheime Fragen an mich herandrängen.
Aber ich sagte mir, daß, nachdem der Entschluß, diesen
Menschen auszulöschen, gefaßt war, jede moralische
Problematik absurd sei. Ein scharfer Wind zerfetzte
rund um uns den Nebel, trieb ihn in faserigen Schleiern
über den See, ließ Wolken an der schmalen Sichel des
Mondes dieser Märznacht wie an Schnüren gezogen
vorüberstreichen. Die Schatten der Bäume streckten
sich und verblichen wieder. In der Ferne schimmerten
Lichter über den See. Schwer krachte ein Ast in der
Nähe und ließ Weigelt zusammenfahren. Er sang laut,
mit krächzender Stimme, indes wir ihn unerbittlich
flankierten. Wir schritten immer schneller aus, wir
wußten nicht, wohin der Weg führte. Endlich liefen wir
fast. Ein Auto stieß uns den grellen Arm des
Scheinwerfers ins Gesicht, raste dann knatternd hinter
einem Streifen von Bäumen vorbei. Dort mußte also
eine Straße sein. Fensterscheiben blinkten im
magnesiumbleichen Licht, dunkle kompakte Massen
ließen Häuser vermuten. Weigelt sang sich die kalte
Angst vom Leibe.
Der See streckte eine Zunge bis an den schlüpfrigen
Weg. Die Bäume traten zurück, das Gebüsch schmiegte
sich tiefer an das Ufer heran. Am Wasser zeichnete sich
das verschlungene Gebälk eines Geländers ab. Fern
blinkte ein einsames Licht. Weigelt begann laut zu
deklamieren. Er blieb plötzlich stehen und sprach mit
erhobenem Finger akzentuiert: «Ach, wenn das
Mädchen mit dem roten Hute...» Aber er konnte den
widerlichen Schüttelreim nicht zu Ende führen.
Denn Kern schnellte die Faust an den Himmel und
ließ sie mit der Wucht eines Hammers auf Weigelts
Schädel niedersausen. Weigelt knickte zusammen und
schlug blitzschnell, mit dröhnendem Hall, langhin zu
Boden und rührte sich nicht. Der Hut rollte den Abhang
hinunter, und die Brille klirrte zersplitternd gegen einen
Stein.
Kern sah mich mit wilden Augen an. Sein Mantel
stand im Winde gebläht. Scharf war die Silhouette
seiner Gestalt gegen das sacht bewegte Wasser
abgezeichnet. Ich beugte mich über Weigelt. Der hob
den Kopf, gurgelte dumpf, versuchte, sich aufzurichten.
Ich kniete bei ihm nieder. In seinen weitaufgerissenen
Augen stand das Unbegreifen. Er erkannte mich,
bäumte sich plötzlich hoch und stand taumelnd, ehe
Kern sich wenden konnte. Weigelt riß den Arm hoch,
drohend hing seine Faust über Kerns Kopf. Und in der
Faust stak der Totschläger. Ich schrie auf, sprang
Weigelt an und packte das Handgelenk. Kern fuhr
herum. Doch die Lederschlaufe hielt das Instrument an
der Faust. Weigelt befreite sich mit einem Ruck von
meinem klammernden Griff, sein Arm, wegschnellend,
pfiff hoch; dann traf mit voller Wucht der federnde
Knüppel mein Gesicht. Ich fühlte, wie der Nasen-
knorpel knirschend brach. Heiß und rot strömte der Saft
in Augen und Mund. Blind tastete ich vor, griff einen
Körper, verbiß mich in harte Knochen, durch den
dicken Stoff des Mantels den Ellenbogen spürend. Den
zappelnden Arm klemmte ich, instinktiv mich
wendend, unter die Achsel, faßte die kalte Hand, spürte
die Waffe und brach fast bedächtig einen krallenden
Finger los. Der Finger knickte nach hinten, die Hand
wurde locker. «Du Aas», keuchte ich, «du Aas ...»
Weigelt schrie gellend um Hilfe.
Nun schoß mir das Blut in breitem Strome aus der
Nase. Ich ließ Weigelt los und rieb mir das fühllose
Gesicht.
Neben mir dröhnte der Kampf.
Alles vergebens, dachte ich, er wehrt sich, der
Schweinehund; Gott sei Dank, dachte ich, er wehrt
sich; nun drauf. Ich raffte mich mühsam, sah hoch, sah
Kern stolpern und Weigelt über ihm. Nun trat ich ihm
den Stiefel in den Bauch. Er brüllte: «Hilfe, Mörder!»
Er stieß schrill das i-i-i-i in die Nacht, daß es sich
reißend seine Bahn durch die Bäume suchte, über den
See hinfuhr wie ein Pfeil. Dann war ich an ihm, schlug
ihm die Finger um den Hals, griff ihm in die Augen,
krachte die Faust ihm in die Zähne, erstickte den
Schrei. Die Zähne wollte ich ihm in den Rachen
schlagen; er spie mir röchelnd eine breite Suppe Blutes
ins Gesicht. Das fuhr mir in den offnen Mund; ich
quetschte die Zunge an den Gaumen und schmeckte,
indes der Ekel mich jach überfiel, den rinnenden
Schleim, dick, süßlich, unerträglich warm. Dann sackte
Weigelt zusammen. Erschöpft, geschüttelt taumelte ich
zurück.
Die Nacht wurde lebendig. Der Hilfeschrei hatte alle
Gespenster geweckt. Schritte glaubte ich zu hören.
Doch was kümmerten mich Schritte! Nun mochte
geschehen, was da wollte. Schon war Weigelt wieder
hoch! Kern hieb ihn augenblicks wieder zu Boden. Ich
glaubte, daß ich etwas sagen müsse, und keuchte:
«Verdammt zäh!» Kern stieß Weigelt mit dem Fuße an.
Der war plötzlich auf den Knien und hob bettelnd die
Arme. «Kämpf!» schrie Kern, und das Wort prallte
hallend an die Bäume. «Ich will», brabbelte Weigelt
klagend, «ich will auch nichts mehr verraten ...» —
«Kämpf!» schrie ich.
Weigelt rannte plötzlich dahin, wo Licht war, an das
Geländer des Sees. Kern war an ihm, bevor ich begriff,
daß Weigelt die Pistole gezogen hatte. Ich sah auf
einmal den Lauf in seiner Hand. Den Arm konnte ich
ihm hochschlagen, doch ging der Schuß nicht los.
Weigelt hielt sich mit der Linken ans Geländer
geklammert und stieß mit den Füßen wild nach uns hin.
Ich warf mich an ihn, umpreßte ihn mit beiden Armen;
er sprudelte mir wieder Blut an meinen Mund. Dann
traf mich ein Fußtritt; ich ließ ihn locker, doch hatte
Kern nun die Pistole.
Weigelt schrie. Und jeder seiner Schreie stachelte
erneut die rote Wut. Wir stürzten vor; er zappelte, er
schlug, er traf. Kern packte sein zum Stoß erhobenes
Bein und riß es hoch, und zerrte, und plötzlich glitt der
ganze Körper Weigelts über das Geländer, stürzte —
rauschend fuhr der Schatten in das Wasser, die Spritzer
sprangen netzend uns in die Gesichter.
Ich hing über das Geländer gebeugt. Das Wasser
warf Blasen. Doch etwas uferab tauchte das Gesicht
Weigelts auf. Der Mund hob sich entsetzlich verzerrt
aus dem Wasser, die Arme schlugen durch die Luft,
Tropfenregen schleudernd. Und dann brach aus dem
Wasser das Gekreisch der letzten Angst, Gott
beschwörend, Panik in die Herzen jagend, Flut,
Himmel, Erde, Wald und Menschen anrufend zu
Zeugen unsagbarer Qual. Und Kern zerschoß den
Schrei; er knallte übers Wasser, einmal, zweimal, hielt
die Pistole mit erhobenem Lauf, schoß und ließ sich
von der Stille langsam an das Geländer pressen.
Weigelt ruderte mit langem Arm seitlich dem Ufer
zu. Ich wand Kern die Pistole aus der Hand und rannte
auf der steilen Böschung, stieß mit dem Kopf an
Bäume, riß mich aus dem zerrenden Geranke des
Gebüschs, hieb mir die Zehen und die Knie wund an
Wurzeln, Steinen, Ästen, lief ächzend, fiebernd unterm
Zwang des Tötens an jene seichte Stelle, an die sich
Weigelt retten wollte. Dann stand ich vor ihm.
Er ragte halben Leibes aus dem Wasser. Bei meinem
Kommen hob er beide Arme. Ich packte seinen Rock,
weit vorgebeugt, und setzte ihm langsam die Pistole an
die Schläfe. Er stöhnte schwer. Er hob mir sein
blutendes Gesicht entgegen, gleichsam ergeben sich an
die kalte Mündung der Pistole schmiegend. Er
murmelte leise; schwer formten sich die Worte in
seinem zerschlagenen Mund. Er hob mühsam die
Augen, blickte völlig leer mir ins Gesicht und hielt die
Hände zitternd hoch. Er wimmerte; ich hatte Mühe, ihn
zu verstehn. Er sagte: «Bitte, bitte, bitte, bitte...» Er
holte gequält Atem und sagte: «Gnade, Erbarmen ...»
Er murmelte: «Leben, leben!» —
Ich spuckte ihm die Worte gleichsam ins Gesicht.
«Du Hund, du Schwein, du Verräter... !» — Er klagte
leise, mit pfeifendem Ton: «Ich will nichts verraten. Ich
will nie mehr verraten. Ich will alles tun, was ihr wollt.
Laßt mich leben, leben...»
Ich nahm langsam Druckpunkt. «Du Erbärmlicher»,
sagte ich. «Du hast verraten! Du sollst...» Aber dann
wurde ich unendlich müde. Ich sah ihm stumpf in das
verzerrte Gesicht und sagte: «Lauf!» Er stammelte leise
etwas, das ich nicht verstand. Ich drehte mich um und
ging langsam zurück.
Kern stand noch in derselben Lage am Geländer, wie
an einen Pfosten geworfen. Als ich vor ihm lehnte, mit
hängenden Armen, die Pistole schwer in der matten
Hand, richtete er sich auf. Wir schwiegen beide lange.
Hinten hörte ich Plätschern und Stöhnen. Kern sagte
bitter: «Pfui Deibel, das war keine Heldentat.»
Erleichtert flüsterte ich: «Weigelt lebt.» Kern sagte:
«Ich weiß.» Er stemmte sich von dem Geländer ab,
machte zögernd einige Schritte, dann wandte er sich
zum Wege, der Stadt zu. Wir gingen zurück.
Wir gingen Stunde um Stunde. Wir mußten, um nach
Hause zu gelangen, quer durch den ganzen Taunus. Der
Ruch des Blutes stieg uns widerlich in die Nase. Wir
schlugen fröstelnd die Mantelkragen hoch. Das
schmerzende Hirn ließ uns fast blind die dunklen
Straßen entlangtappen. Wir schwiegen beide auf dem
ganzen langen Wege. Die Wellen des üblen Gestankes
betäubten uns fast. Das Blut war durch Mantel, Rock
und Wäsche bis auf die Haut gedrungen. In einem
Bergbach wuschen wir uns mühsam. Doch löste unser
Schweiß erneut das Blut, es bildete eine ekelhafte Krust
auf der Haut, schleimig und bis zur Übelkeit vergiftend.
Wir erreichten am frühen Morgen die erste Straßen-
bahn, schmiegten uns eng in die dunkelste Ecke der
Plattform. Als wir, erschöpft und doch immer noch von
der entsetzlichen Spannung des Geschehenen krampfig
zusammengehalten, in der Stadt ankamen, schob sich
aus einem eleganten Vergnügungspalais die Menge der
heimkehrenden Ballgäste. Die Herren standen mit
zerknitterten weißen Hemdbrüsten und schief
aufgesetzten Zylindern und pfiffen nach den Wagen.
Drei junge Mädchen in kostbaren Abendmänteln,
begleitet von fetten Kavalieren, strichen an uns vorbei.
Sie waren kostümiert, trugen seidene Höschen und
ließen die nackten Schultern unter den zerzausten
flaumigen Pelzen leuchten. Sie sangen ausgelassen, mit
spitzen Stimmen: «Wir versaufen unsrer Oma ihr klein
Häuschen — mitsamt der ersten und der zweiten
Hypothek...»

Gespräch

Zu jener Zeit, da die Kämpfe, die sich auf allen Ebenen


abspielten, auch von uns und in unseren Herzen mit all
ihrer blinden Schärfe und ausweglosen Unbedingtheit
ausgetragen werden mußten, konnte unser
unbekümmertes Tun nur wachsen aus den wenigen
klaren und einfachen Gewißheiten, die uns das Leben
selber zutrug. Nicht geübt in jener zweifellos
angenehmsten Kampfesart, die in den Spalten aller
Zeitungen als ein Kampf mit geistigen Waffen
schmatzend angepriesen wurde, mühten wir uns doch
in den wenigen besinnlichen Stunden zwischen Tat und
Tat, aus dem Wortchaos nach brauchbaren Aus-
druckstrümmern für unser Wollen zu fischen, so die
kommende Handlung vorbereitend, indem wir sie mit
dem Sinn unseres Wesens in Einklang brachten.
Spürten wir doch sehr bestimmt, daß jene Gewalt, die
uns trieb, nicht eigentlich unser eigen Wesen war,
sondern Ausfluß mystischer Mächte, die zu erkennen
der reine Intellekt mit allen seinen Methoden nicht
ausreichen konnte. Jede einzelne unserer Taten, mochte
sie noch so unbedenklich aus dem Augenblick geboren
sein, mochte sie für das Auge scharfblickender
Realpolitiker noch so geringen praktischen Erfolg
haben, peitschte zumindest die Entwicklung weiter,
warf zumindest höhere Wellen als die wichtigen
Beratungen und Verordnungen jeweiliger Minister, als
die eifervollen Reden und Beschlüsse der Parlamente,
als die aufwandreichen Bemühungen und Versprechen
der Parteien und Verbände. Jede Tat erschütterte
weithin das Gefüge der Systeme, griff die mühsam
genug konstruierten Gegebenheiten an, forderte von der
bedrohten Ordnung Gegenschläge heraus, die unaus-
weichlich zu erneuter Handlung zwangen. Wir
unterwarfen uns bewußt dem Zwang, wir sprangen
hemmungslos in jede Steigerung, wir" erfuhren an uns
selbst das Wort vom Fluch der bösen Tat, die fortzeu-
gend Böses muß gebären, ohne freilich weder den
Fluch noch das Böse im Range niedrig anzusetzen. Im
Banne der beglückenden Erfahrung dieser
Gesetzmäßigkeit aber erwuchs uns verpflichtend die
Gewißheit, Vollstrecker eines geschichtlichen Willens
zu sein. Daß diese Gewißheit uns nichts vom vollen
Gehalte des Wagnisses nahm, daß sie uns von keiner
Verantwortung entband, das gab unserem Tun erst die
rechte Würze. Der Wille zur Gestaltung, der uns nicht
hinderte zu vernichten, der, in diese Zeit
hineingetrieben, die Vernichtung erst möglich und
notwendig machte, ließ uns in nächtlichen und überstei-
gerten Gesprächen, in denen sich der Gleichklang
unsres Denkens, unsrer Sprache rauschhaft offenbarte,
in entfernte Räume tasten, nach dem Sinn unsrer
Sendung suchen, nach der Richtung forschen, welche
die sich schon auf allen Wegen meldenden Kräfte
nahmen; nicht nach Rechtfertigung zielte der Wunsch,
das ungefüge Bild unserer Träume zu umreißen,
sondern nach der Sicherheit, im Schatten nahender Ent-
scheidungen nicht durch leichte Lösung zu gewinnen.
Je näher uns der Wirbel vom Rande an das Zentrum
riß, desto härter wurden die Wege zum Entschluß. Was
erst fast Spiel war, schlichteste Reflexbewegung
wacher Witterung, Draufgehen und Zupacken, weil
nichts sonst selbstverständlich war, das heischte mit der
schärferen Ahnung des Gesetzes, dem wir hingegeben
waren, die volle Haftung, das stellte uns den Zweck
verpflichtend vor die Leidenschaft.
Nicht alle zügelte die unsichtbare Forderung; so
wurde es für Kern nicht leicht, jene Gesellen wieder in
die Zucht der kleinen Gemeinschaft einzufügen, die
den Plan hegten, den Zug, der den Sowjetminister
Tschitscherin zur Konferenz nach Genua bringen sollte,
durch Sprengen einer Eisenbahnunterführung
entgleisen zu lassen. Ich hatte Kern Bericht erstattet, als
er wiederum für kurze Tage in die Stadt kam. Er
verhinderte sofort das verwegene Unterfangen, er
zwang grob die Männer zum Verzicht, die, den
Blutdunst erster Baltikumgefechte w der in der Nase,
jeden andern als Kern feiger Schwächlichkeit geziehen
hätten. Kern gab keine Gründe für sein Verhalten an.
Am Abend dieses Tages kam er zu mir.
Wir saßen und sprachen in das Dunkel hinein, das uns
strenge umgab. Ich sagte zögernd und fühlte, wie meine
Worte unsicher in die Stille tropften:
«Niemals habe ich so stark das Gefühl gehabt wie
gerade in diesen Tagen, daß alle Ereignisse und alle
Bewegung sich zu einem einzigen Punkte drängen.
Vielleicht unterliege ich der allgemeinen Stimmung,
die, aus tausend Hoffnungen und Wünschen geboren,
sich dem qualvollen Warten auf die große Wendung
ergibt. Wenn aber wirklich nun die Entscheidung fällt
— wo stehen dann wir?»
Kern sagte: «Es gibt keine wirkliche Entscheidung,
die nicht im Banne derselben Kräfte steht, denen wir,
gerade wir, verhaftet sind. Es gibt keine wirkliche
Entscheidung, deren Exponenten Männer sind, die in
Haltung, Herkunft und Wollen einer Zeit angehören,
die ihre einzige harte Probe, den großen Krieg, nicht
bestand, die in diesem Kriege verbrannte. Wenn die
Weltgeschichte ihren Sinn verloren hätte», sagte Kern
und lachte, «an dem Tage, da der Kaiser auf weißem
Rosse durch das Brandenburger Tor einziehen würde,
dann wäre sie niemals auch einem Sinne unterworfen
gewesen, wenn sie sich zu Trägern ihrer großen
Augenblicke jene Gestalten auserwählte, die schon vor
den Maßstäben, die sie selber schaffen halfen, nicht
genügten. Sie mögen noch so geschäftig tun, sie füllten
nicht eine schweigende Minute mit vollem und reinem
Klang. Sie mögen reden und streiten und Verträge
schließen, sie treten nicht mit einem Schritt aus ihrer
ausgetretenen Bahn. Sie mögen handeln und befehlen,
sie mögen schreiben und verkünden, nicht einmal reißt
ihr Ruf die Herzen über den Tag hinaus. Die Räume,
die sie mit ihrem wirren Gelärm erfüllen, sind nicht die
Felder der Entscheidung. Die liegen noch, von keinem
Fuß betreten, hinter dem breiten Gürtel des Dickichts,
durch das wir uns mit harten Schlägen hauen. Da
werden wir dann stehen.»
«Was gibt uns das Anrecht zu unserem vermessenen
Glauben? Wir, ohne Macht als die, in deren Banne wir
zu stehn vermeinen, ohne Können als Schießen und
Sprengen, ohne Wissen als das der Verschwörung,
ohne Erfahrung als die unsrer Fehlschläge, wir, verfolgt
und selber verfolgend, geächtet und selber ächtend, von
niemand anerkannt, uns ekelnd vor unserm eignen Tun,
wir sind berufen?»
«Nicht berufen, die letzten Träume zu verwirklichen,
nicht berufen, die Ernte einzubringen; aber, geht es uns
um den Erfolg? Es geht uns um die Erfüllung. Nein,
wir haben keinen Erfolg gehabt. Wir werden nie Erfolg
haben. Wir sind marschiert und haben eine Ordnung
geschaffen, in deren stickigem Dunst wir jetzt nach
freien Winden lechzen. Wir haben den Vormarsch nach
dem Osten angetreten und sind nicht nach Warschau
gestoßen, haben vor Riga nicht gesiegt. Wir trugen
unsere Flagge nach Berlin und trugen sie wieder
zurück. Wir fegten Oberschlesien sauberer, als es
jemals gewesen, und mußten es zerstückelt hegen
lassen. Wir übten uns in nackter Anarchie und sind kei-
nen Schritt weiter als zuvor. Wir hörten uns an, daß wir
auf verlorenem Posten stünden, und konnten nichts
erwidern, als daß dies kein Grund für uns sei, den
Posten zu verlassen. Was uns den Glauben dennoch
gibt, fragst du? Nichts anderes als unser Tun, nichts
anderes als die Möglichkeit unseres Tuns, nichts
anderes als die Fähigkeit zu unserem Tun. Wir
gestatten uns, uns symptomatisch zu werten. Gesellen
wie wir, Siege erfechtend, die keinen Ruhm brachten,
geprügelt in Niederlagen, die uns nichts anhaben
konnten, stiegen immer aus dem Schatten des
Kommenden. Hatten wir uns nicht einst das
Wikingerschiff auf den Ärmel geheftet? Rufen uns die
erschreckten Bürger nicht «Landsknechte» zu? Wann
hätte man je gehört, daß ohne Männer unseres Schlages
eine Wandlung sich vollziehen konnte, die der folgen-
den Epoche das Gesicht gab? Wann aber wurde jemals
eine Jugend in eine solche Zeit gestellt, wie wir sie zu
erleben begnadet sind? Ich kann nicht glauben, daß ein
Geschlecht wie unseres, hineingeschleudert in den
Kampf, durch ihn erzogen und gehärtet, nun bestimmt
sein soll, auf seinen Kampf gehorsam zu verzichten auf
den seichten Anruf derer hin, die vor den
Konsequenzen ihres eignen Wollens nun erschrecken.
Ich kann nicht glauben, daß eine Kraft erstirbt, bevor
sie sich verbraucht.»
Wir schwiegen. Ich konnte Kern nur an dem dunklen
Umriß erkennen, der sich von der gekalkten Wand
abzeichnete. Ich stand auf und warf mich auf das Bett.
Ich sagte:
«Ich will mehr. Ich will nicht bloßes Opfer sein. Ich
will das Reich liegen sehn, für das ich streite. Ich will
Macht. Ich will ein Ziel, das meinen Tag erfüllt. Ich
will das Leben ganz, mit aller Süße dieser Welt. Ich
will wissen, daß der Einsatz lohnt.»
Kern lehnte sich zurück und schmiegte sich in seine
Ecke.
«Was soll das große Wort Opfer! Wir opfern nicht
und werden nicht geopfert. Ich vermag mich anders
nicht als durch die Umwelt zu begreifen. Ich fürchte, du
begreifst die Umwelt nur durch dich.»
«Nein, denn ich will nicht ausgeschlossen sein von
dieser Umwelt. Was in unsere Hand gegeben, das
genügt mir nicht. Ich will beteiligt sein an einer
Leistung, die nicht mir, die dem Lande weiterhilft. Das
willst du auch. Da draußen wird um die Macht
gerungen. Mag sein, daß keiner, der sie ergreift, ihrer
wert ist, ihrer wert sein kann. Aber sie beherrschen den
Apparat. Die wir bekämpfen und verachten, die halten
in unwürdigen Händen das Instrument, das unserer Zeit
nur dienen kann, wenn es in Ehrfurcht angepackt, zu
einem höhern Ziel verwandt wird. In jedem kleinen Tag
wird draußen um die Macht gerungen. Und was rätst du
uns?»
«Auf den kleinen Tag zu verzichten, um für den
großen reif zu werden.»
«Das heißt nichts anderes, als weiter unsrem wilden
Zwang zu leben und...?»
«Warten.»
«Ich kann nicht warten, ich will nicht warten.»
«Beschäftigungsneurose?»
«Das nicht; sage das nicht. Wir können nicht genug
tun, niemals können wir genug tun. Das ist mir nicht
genug, was wir jetzt tun. Ich sehe die Sonne nicht, die
über unserer letzten Steigerung stehen muß.»
«Freilich, Napoleon war mit sechsundzwanzig
Jahren Brigadegeneral.»
«Verdammt, hör mit dem Spotten auf. Sage mir,
wenn du es weißt, an welchem Zipfel wir denn Gottes
Mantel fassen sollen, wenn er vorüberweht.»
«Verdammt, hör mit dem Fragen auf. Sage mir,
wenn du es weißt, ein größeres Glück, wenn du schon
nach dem Glück gierst, als jenes, in uns, in uns allein
und gerade nur in uns und gerade nur durch die Gewalt,
in der wir dienend vor die Hunde gehn, zu erfahren,
was unser Leben glühend macht. Wie anders denn, als
daß wir uns ans nackte, unverfälschte Leben zu werfen
den Mut haben, als daß wir sind, was wir nicht anders
sein können, ohne vor uns selber zu erröten, wie anders
denn kann uns Erfüllung werden und durch uns
Erfüllung unsres deutschen Schicksals?»
«Was unser Leben glühend macht, das ist die
Forderung der Nation. Sie trifft die anderen gleich uns.
Gibst du dich schon so schnell zufrieden? Du sagst
Schicksal, wo die andern Hunger sagen, wenn sie
deuten wollen.»
«Ich sage Schicksal, weil ich die Nation als Kraft
begreifen muß und nicht als Stoff.»
«Dann ist dir die Nation doch nicht das letzte Ziel?»
«Du bist nicht aus sengenden Träumen
aufgeschreckt, die du in Wachheit dann in ihrem
tiefsten Sinn erkanntest? Wenn wir berufen sind, dann
sind wir es, in unseren Herzen zu bewahren, was durch
Jahrhunderte hindurch zu uns gelangte, durch jegliche
Verschüttung sich erhielt, was uns erst wert macht,
Volk zu sein. Kein Volk, das sich in seiner Kraft
vollenden will, verzichtet auf den Anspruch, zu be-
herrschen, soweit die Fülle seines urtümlichen Gehaltes
reicht. Ich erkenne keine Haftung an, denn eine,
gegenüber dieser Kraft.»
«Nun denn, in welchem Traume zeigt sich die
Erfüllung dieser Kraft?»
«Im Sieg der Deutschheit über die Erde.»

Da waren viele Dinge, um die wir in jener Nacht


stritten. Und es war so, daß wir immer erst zu den
Begriffen finden mußten, ehbevor wir uns verständigen
konnten. Denn das eine erfuhren wir stark: es konnte
uns nicht mehr genügen, einander an der Haltung zu
erkennen. Nicht genügen konnte es uns, zu sehen, daß
wir uns durch sie von den anderen unterschieden. Wir
fragten nach dem Warum. Und da wir wußten, daß
diese Frage nun in allen Lagern der Jugend aus der
Wirre aufsprang, glaubten wir, sie schärfer stellen zu
müssen, da wir dieser Haltung auch schärfer gelebt.
Das konnte aber nichts anderes bedeuten, als auch in
der Frage radikal zu sein, das heißt, bis zur radix, bis
zur Wurzel vorzudringen. Damit unterwarfen wir uns
der Tyrannei des Wortes, wie wir ja bereit waren, uns
jeder Tyrannei zu unterwerfen, in der wir stark werden
konnten. Und Kern sagte: «Einer Tyrannei können wir
uns niemals unterwerfen: der wirtschaftlichen; denn da
sie unserem Wesen völlig fremd, können wir unter ihr
nicht erstarken. Sie wird unerträglich, da sie im Rang
zu niedrig steht. Hier ist der Punkt, an dem sich das
Kriterium bildet, um den man wissen muß, auch ohne
nach Beweis zu fragen. Man fühlt den Rang, man kann
sich nicht mit denen, die ihn leugnen, über ihn
verständigen.»
Ich sagte zögernd: «Die von Verständigung reden,
setzen den Rang der Tyrannei des Wirtschaftlichen
hoch.»
«Die von Verständigung reden, reden auch von
Versöhnung. Aber eine Versöhnung kann, wenn die
breite Bahn vergossenen Blutes zwischen den Parteien
steht, nur da sich vollziehen, wo die Kämpfer im
Augenblick der höchsten Tapferkeit einander erkennen.
Wie können Gegner anders voreinander Achtung
haben, als wenn sie sich bewußt sind ihres Wertes und
der Gegensätzlichkeit ihres Wertes?»
«Die von Versöhnung reden, glauben an einen
absoluten Wert.»
«Das scheidet uns von ihnen. Was haben die
Männer, die jetzt so ernst und betriebsam nach Genua
reisen, einzusetzen an Substanz, die ihr eigen ist? Sie
sprechen die Sprache des Gegners, sie denken in seinen
Begriffen. Ihr gewichtigstes Argument ist immer
wieder, daß die Schädigung der deutschen Wirtschaft
die Wirtschaft der Welt schädigt. Ihr großer Ehrgeiz ist
immer wieder, gleichberechtigt in das System der
Großmächte Europas, des Westens, eingefügt zu sein.
Und wenn ich «der Westen» sage, dann meine ich die
Mächte, die sich der Tyrannei des Wirtschaftlichen
unterworfen haben, weil sie unter ihr stark werden
konnten.»
«Wenn ich recht berichtet bin, fährt auch
Tschitscherin nach Genua.»
«Wenn ich recht berichtet bin, fährt Tschitscherin
nach Genua, um zum ersten Male seit Bestehen der
Sowjetunion für Rußland mit dem Anspruch der Nation
auf des Westens eignem Felde anzutreten.»
«Der Bolschewismus als ein Anspruch der Nation?
Ich werde morgen Bolschewik.»
«Tu das, und ich betrachte dich als Russen. Das ist es
ja, was mir die Gewißheit gibt vom Aufstieg der Nation
als richtungweisendem Begriff. Kämpf gegen eine neue
Idee, und du triffst ein Land.
Wie wir, ringt auch das Rußland Tschitscherins um
seine Freiheit, die sich erfüllt im Finden einer eigenen
Haltung. In ihrer ganzen Geschichte haben das
Russentum wie das Deutschtum sich immer gegen
Überfremdungen zu wehren gehabt. Nur hat, scheint
mir, die deutsche Willensbegabung stets das deutsche
Weltbild in die Mitte des Kampfes gestellt, indes
innerhalb des Russentums eine Überfremdung gegen
die andere stritt. Wie, wenn der Russe, sich gegen den
Westen zu wehren, die Hilfe einer Komponente nahm,
die sich innerhalb des Westens gegen diesen selber
gebildet hat? Das hieße doch den Teufel Kapitalismus
mit dem Beelzebub Marxismus austreiben! Nun gut,
und das ist wichtig, daß dieser Beelzebub die
Schaffellmütze auf den Schädel setzte und unter seiner
Tyrannei der Russe stärker wurde, als er je gewesen.
Und das ist wichtig, daß nun ein Angriff auf den
Bolschewismus ist ein Angriff auf die russisch-
nationale Freiheit. Weil dort die Gegensätze schärfer
herausgestellt waren, wurden sie auch schärfer ausge-
fochten. So also fand die Sowjet-Union — eine Union
nationaler Republiken mit streng hierarchischem
Aufbau übrigens — im Bolschewismus die ihm gemäße
staatliche Ausdrucksform, wie sie die Deutsche
Republik in Weimar nicht fand.»
«Diese sonderbaren Nationalisten sagen: Welt-
revolution.»
«Sie sagen Weltrevolution und glauben Rußland. Ein
Volk reicht, soweit seine Kraft reicht, und so weit
reicht auch seine Idee. Die russische Idee der
Weltrevolution reichte immerhin so weit, das Land von
fremden Armeen reinzufegen, einen Einfall in Polen zu
wagen, den Westen mit Angstträumen zu quälen und in
allen Staaten der Welt eine kostenlose, bereitwillige
und gutgläubige Armee der Irredenta marschieren zu
lassen.»
«Schlagen wir uns zu dieser Armee der Irredenta!»
«Darum können wir uns nicht zu den deutschen
Kommunisten schlagen, weil sie nach russischem
Willen nicht siegen dürfen. Sie dürfen nicht siegen,
weil sie nach ihrem Siege als russische Irredenta
ausfielen, weil sich dann bei ihnen derselbe Prozeß
vollziehen muß, der Prozeß des Einwachsens
elementarer Kräfte, der Rußland im Bolschewismus
erst zur Nation machte. Darum dürfen sie nach unserem
Willen nicht siegen, weil sie sich der Nation versagen.»
Ich sagte erregt: «Aber es geht doch um den Kampf
gegen den Westen, gegen den Kapitalismus! Werden
wir Kommunisten! Ich bin bereit, mit jedem zu
paktieren, der meinen Kampf kämpft. Ich habe kein
Interesse, einen Besitzstand zu schützen, zu dem ich in
keinerlei Beziehungen stehe.»
«Es handelt sich nicht um Interessen. Bei den
Kommunisten handelt es sich darum. Wenn wir ihnen
das Interesse streitig machen, dann tun wir es nicht,
weil es das ihre ist, sondern weil wir überhaupt kein
Interesse als das der Nation anerkennen können. Setzen
wir statt Gesellschaft oder «Klasse» die Nation, und du
wirst begreifen, was ich meine.»
«Das bedeutet aber doch Sozialismus in seiner
reinsten Form!»
«In der Tat, das bedeutet Sozialismus. Und nur in
seiner reinsten Form, in der preußischen nämlich. Ein
Sozialismus auf allen Gebieten, einer, mit dem wir
nicht nur die Tyrannei des Wirtschaftlichen brechen
durch die innigste Bindung, durch den letztmöglichen
Einsatz für die deutsche Gesamtheit, einer, durch den
wir auch die innere Haltung, die geistige Ge-
schlossenheit wiederfinden, um die uns das neunzehnte
Jahrhundert betrog. Um diesen Sozialismus kämpfen
wir, und wer sich diesem Kampf versagt, der ist der
Gegner. Ja, sie sind so gute Deutsche alle, so warme
Patrioten. Wenn sie mit aller ihrer Inbrunst «deutsch»
sagen, dann meinen sie genau ebendas, was dem
verflossenen Jahrhundert das Gepräge gab. Dann
meinen sie ebendas, an was der große Krieg den Hebel
setzte. Sie meinen keinesfalls das, was uns den Inhalt
gibt. Wie könnten sie auch! Es gibt keine Versöhnung
zwischen ihnen und uns; denn ihnen ist die letzte
Tapferkeit nicht mehr möglich. Wenn es eine Macht
gibt, die wir vernichten, mit allen Mitteln zu vernichten
die Aufgabe haben, dann ist es der Westen und die
deutsche Schicht, die sich von ihm überfremden ließ.
Sie sagen «deutsch» und drängen in ihr Mutterland
Europa. Sie jammern vor der Unterwerfung und sehnen
sich nach ihr. Sie wollen, daß wir leben, und sind
bereit, den letzten Rest der deutschen Substanz
preiszugeben um der einzigen Tyrannei willen, die sie
begreifen können. Und sie wundern sich, daß die
Deutschen immer noch gefürchtet werden. Aber nicht
werden diese Männer der Unterwerfung gefürchtet,
etwa weil ihre Beweise und Forderungen, ihr Wollen
und ihre Haltung gefährlich sind, sondern die
Deutschen werden gefürchtet, weil wir da sind. Weil in
uns und hunderttausend anderen durch Krieg und
Nachkrieg wieder aufgebrochen ist, was uns dem
Westen erst gefährlich macht. Und das ist gut so, daß
ist dreimal gut so. Denn so wirkt unsere Zeit für uns
und wir wirken für unsere Zeit. So können wir
vielleicht noch gutmachen, was wir verschuldet, da wir
den ungeheuerlichsten Solidaritätsbruch der Welt-
geschichte gegenüber den vom Westen unterdrückten
und nun erwachenden Völkern begangen, als wir, als
vom Westen unterdrücktes Volk, nicht unsern eignen
Freiheitskampf begannen. Als wir passiv waren, wo wir
unter allen Umständen aktiv sein mußten!»
«Rathenau begann aktive Politik. Um seiner aktiven
Politik willen geht er nach Genua.»
«Rathenau? Ja, Rathenau. —» Kern stand auf und
lehnte sich ans Fenster. «Dieser Mann ist Hoffnung.
Denn er ist gefährlich.» Kern ging auf und ab. Er stieß
im Dunkeln an. Er stieß an die Handgranatenkisten, an
die Gewehre, die in der Ecke gestapelt lagen. Er sprach
leise und eindringlich. «In seine Hand ist mehr gelegt,
als je in eine Hand seit dem November 18. Wenn zu
einem Manne das Schicksal mit seiner Forderung kam,
mit seiner leidenschaftlichsten Forderung, dann ist es
dieser Mann. Er hat die bitterste Kritik der Menschen
und der Mächte seiner Zeit geschrieben. Und doch ist
er ein Mensch dieser Zeit und hingegeben diesen
Mächten. Er ist ihre reifste, letzte Frucht, in sich
vereinigend, was seine Zeit an Wert und an Gedanken,
an Ethos und an Pathos, an Würde und an Glaube in
sich barg. Er sah, was keiner sah, und forderte, was
keiner forderte.» Kern ging zum Fenster und riß es auf.
Er beugte sich hinaus. Er wandte sich. «Er hat nie den
letzten Schritt getan, den Schritt, der ihn frei machen
muß. Ich glaube, ich spüre es bei jedem Satze seiner
Reden, seiner Schriften, er sparte sich den letzten
Schritt für eine Zeit, da er entscheidend werden muß.
Ich glaube, diese Zeit ist da. Ich glaube, er will ihn
gehen. Für uns kann nur bestimmend sein, wohin er
führt.» Ich stand auf und begegnete Kern in der Mitte
des Raumes. Kern sagte: «Ich könnte es nicht ertragen,
wenn aus dem zerbröckelnden, aus dem verruchten
Bestände dieser Zeit noch einmal Größe wüchse. Möge
er das treiben, was die Schwätzer Erfüllungspolitik
nennen. Was geht das uns an, die wir um höhere Dinge
fechten. Wir fechten nicht, damit das Volk glücklich
werde. Wir fechten, um es in seine Schicksalslinie zu
zwingen. Aber wenn dieser Mann dem Volke noch
einmal einen Glauben schenkte, wenn er es noch
einmal emporrisse zu einem Willen, zu einer Form, die
Willen und Form sind einer Zeit, die im Kriege starb,
die tot ist, dreimal tot, das ertrüge ich nicht.»
«Dann ist der Gegner erkannt», sagte ich, «die Frage
ist, wie greift man ihn in seinem innersten Bestände
an?»
Ich fragte Kern: «Wie hast du als kaiserlicher Offizier
den neunten November 1918 überstehen können?»
Kern sagte: «Ich überstand ihn nicht. Ich habe mir,
wie es die Ehre befahl, am neunten November 1918
eine Kugel in den Kopf gejagt. Ich bin tot; was an mir
lebt, bin nicht ich. Ich kenne kein Ich mehr seit jenem
Tage. Ich will nicht schlechter sein als jene zwei
Millionen Tote. Ich starb für die Nation, so lebt in mir
alles nun einzig für die Nation. Wie könnte ich es
ertragen, wäre es anders! Ich tue, was ich muß. Weil
ich sterben konnte, sterbe ich jeden Tag. Weil, was ich
tue, der einzigen Kraft gegeben ist, ist alles, was ich
tue, Ausfluß dieser Kraft. Diese Kraft will Vernichtung,
und ich vernichte. Bisher hat sie nur Vernichtung
gewollt. Wer mit dem Tod paktiert, muß zu dem Teufel
Oheim sagen können. Ich weiß, daß ich zerrieben
werde, fallen werde, wenn mich die Kraft aus ihrem
Dienst entläßt. Nichts bleibt mir, als zu tun, was mir
mit meinem vollen Willen ist diktiert. Nichts bleibt mir,
als mich zur schönen Härte meines Schicksals zu
bekennen.»

Plan

Ein Telegramm Kerns ließ mich nach Berlin reisen.


Dort traf ich ihn und Fischer in einer obskuren, aber
billigen Pension. Kern war von jener freien und
leichten Heiterkeit, die in den Schwingungen ihrer
Kraft tausend Pläne reifen läßt und tausend
Möglichkeiten birgt. Der Mißerfolg des Attentates auf
Scheidemann befriedigte ihn fast. Er war, wie er
erzählte, von Anfang an dafür eingetreten, das
Blausäuregemisch in dem zur Tat benutzten
Gummibällchen in einem verschlossenen Raum
auszuprobieren. Die unerschütterliche Betriebsamkeit
des bejahrten Volkstribunen, die ihn eine halbe Stunde
nach dem Attentat bereits vor versammeltem Volke
seine Rettung mit beschwingten Worten in einer langen
Rede preisen ließ, erfüllte Kern mit einer durch
vergnügtes Kopfschütteln unterstrichenen Sympathie,
wie man sie etwa dem Gebaren seltsamer und
exotischer Tiere zuwendet, die man zu beobachten
Gelegenheit hat. Fischer, ein ruhiger und nachdenk-
licher junger Mensch, Ingenieur aus Sachsen, der
Typus des Frontoffiziers, für den es keine andere
Anerkennung gab als das Vertrauen der Mannschaft
zum jungen Führer, bat mich, von den vielen geplanten
Aktionen eine zu übernehmen, um Kern und ihn zu
entlasten. Die Affäre Weigelt war ruchbar geworden;
ich hoffte, in Berlin weiter wirken zu können. Meinen
Wunsch, mich an dem Einbruch in die Räume der In-
teralliierten Militär-Kontroll-Kommission in Berlin zu
beteiligen, lehnte Kern ab, ebenso wie Fischer glaubte,
für die Wiederholung der seinerzeit verratenen
Waffenschiebung von Freiberg zu den Sudeten-
deutschen der Tschechoslowakei genügend Kräfte zur
Verfügung zu haben. So wählte ich eine andere
Waffenschiebung, die in Pommern ihren Abschluß
finden sollte. Doch bat mich Kern, ihn vorläufig bei
den Vorbereitungen zur Befreiung deutscher Aktivisten
aus dem französischen Militärgewahrsam in Düsseldorf
zu unterstützen.
Die Arbeit in Berlin erwies sich als schwerer, als wir
vermutet hatten. Wir waren gezwungen, mit einer
unwahrscheinlich geringen Geldsumme hauszuhalten.
Wir hatten die Termine der einzelnen Aktionen zu kurz
gefaßt. Immer mehr häuften sich im Lande die Fälle
von Verrat. Aktionen, die der Führung Kerns
ermangelten, gerieten schon in den Vorbereitungen
fehl. Wir standen plötzlich vor einer Fülle von
Aufgaben, die wir einfach nicht bewältigen konnten.
Aus allen Teilen des Reiches kamen die Nachrichten
und die Anforderungen. Täglich erschienen geheim-
nisvolle Unbekannte bei Kern. Es war nicht leicht, sie
immer umzudirigieren, da wir alle drei Tage die
Wohnung wechselten. Jeder Blick in die Zeitungen
bewies uns, daß wir uns in dem Wellenköpfeschauer
befanden, der einem schweren Sturme voranzugehen
pflegt. Nicht nur hatten fast alle Gruppen im ganzen
Lande unabhängig voneinander fast auf einen Schlag
ihre höchste Aktivität entwickelt, auch in allen anderen
Bereichen, in Betrieben, in Behörden, in den
Parlamenten, in den Beziehungen der Großstaaten und
der deutschen Länder untereinander hatten sich die
Verhältnisse mit kalter Schärfe zugespitzt.
In der Mitte des Monats Juni 1922 schien Kern in
seinem Eifer zu zögern. Er wurde zurückhaltender, als
wir es gewohnt waren. Manche Aktionen sagte er ohne
Grund ab, andere verschob er. Er suchte viel mit
Fischer allein zu sein. Auch Fischer fing an zu grübeln.
Manchmal redete er tagelang nur das Allernot-
wendigste. Des öfteren ließen beide mich zurück, um
den Beratungen im Reichstag beizuwohnen. Gern
wandten sie sich mit biederem Auftreten an
demokratische Abgeordnete, um einen Einlaßschein zu
erlangen. Doch kehrten sie immer mißmutig und
enttäuscht zurück.
Die Folge von Sprengstoffattentaten in Hamburg
schien Kern einigermaßen direktionslos zu sein. Er bat
mich, nach Hamburg zu fahren und die Aktion zu
unterbinden. Gleichzeitig möchte ich mich nach einem
Chauffeur umsehen, der das noch nicht zur Verfügung
stehende Automobil für die Düsseldorfer Gefangenen-
befreiung steuern solle. Als ich zurückkehrte, war Kern
ärgerlicher über mich, als ich ihn je gesehn hatte. Der
Chauffeur schien ihm durchaus unzulänglich. Er sandte
ihn zurück. Er sprach davon, daß er schon einen
Kameraden aus der Sturmkompanie der Brigade
Ehrhardt, Ernst Werner Techow, nach Sachsen gesandt
habe, um ein Auto zu holen. Jetzt revoltierte ich. Ich
verlangte Aufklärung von Kern über die Dinge, die er
vorhabe. Er behauptete, sie gingen mich nichts an. Ich
drang in ihn, ich fürchtete eine Vertrauensminderung.
Kern sagte endlich, er habe mich nicht in eine Sache
hineinreißen wollen, die ich in ihren Auswirkungen
nicht zu übersehen vermöchte. Den Einwand, ich sei zu
jung, ließ ich keinesfalls gelten.
Am Abend eines der nächsten Tage saßen wir, Kern,
Fischer, ich, auf einer Bank am Großen Stern im
Tiergarten und warteten auf den Wagen, der von
Sachsen eintreffen sollte. Kern sagte, er habe alle
Aktionen zurückgestellt, um zu einem Schlage
auszuholen, der in mehr als einer Hinsicht entscheidend
werden müsse.
Er saß vorgebeugt, die Arme auf die Knie stützend,
und sah den in der sanften Dämmerung flanierenden
Menschen nach. Fischer lehnte sich still zurück und
blickte durch die Kronen der hohen Bäume in den
fahlen Abendhimmel. Die verworrenen Geräusche
ferner Musik hallten zu uns herüber. Reichs-
wehrsoldaten gingen vorbei. Kern folgte ihnen mit den
Blicken. Er sagte, durch diese Straße seien sie im März
1920 in Berlin eingerückt. Es sei der schönste Tag
seines Lebens gewesen. Er sagte, er wüßte, daß er bei
dem, was er jetzt vorhabe, einem Manne untreu würde.
Aber nicht untreu würde er der Idee, die ihn
weiterstoßen hieße, als jeder Plan und jede Rechnung
es erlaube.
Pflicht sei nicht mehr Pflicht und Treue nicht mehr
Treue und Ehre nicht mehr Ehre. Was bleibe, sei die
Tat und mit ihr die letzte Haftung.
Kern sagte: «Wenn jetzt das Letzte nicht gewagt
wird, kann es für Jahrzehnte zu spät sein. Was in uns
brodelt, gärt in allen Hirnen, auf die es ankommt. Was
werden will, soll nicht in dumpfen Räumen reifen. Es
kann sich nicht anders formen als unter dem steten
Zwang zu steter Tat. Es muß den härtesten Widerstand
fordern und selber zum härtesten Widerstand fuhren.
Die Entwicklung soll sich selber weiterpeitschen, bis zu
ihrem höchsten Grade, mit einer Überstürzung, die kein
Überlegen zuläßt, die aus der Not des Augenblickes zu
den Mitteln greifen läßt, die das ursprünglichste Leben
selbst diktiert. Nicht anders vollzieht sich eine
Revolution. Wir wollen die Revolution. Wir sind frei
von der Belastung von Plan, Methode und System.
Darum ist es an uns, den ersten Schritt zu tun, die
Bresche zu schlagen. Wir müssen abtreten in dem
Augenblick, da unsere Aufgabe erfüllt ist. Unsere
Aufgabe ist der Anstoß, nicht die Herrschaft.»
Fischer saß unbeweglich. Ein Schutzpolizist ging
langsam vorbei und musterte uns. Es wurde dunkel.
Kern sagte: «Der Wille zur Verwandlung ist da,
überall. Er hat ganze Völker ergriffen, er steht als
Furcht vor dem Leben, die immer eine Furcht vor dem
Tode ist, in den Herzen der Kleinmütigen. Er steht als
Bejahung des Lebens in den Herzen derer, die
aufbauen, und derer, die einreißen wollen. In keines
Menschen Hand ist die Gestaltung gelegt. Aber jeder
einzelne kann durch sein Tun die Richtung bestimmen.
Ich bin gewohnt, von allen Möglichkeiten die
entschiedenste zu ergreifen. Was wir bis jetzt getan,
steigerte, aber genügte nicht. Schlag auf Schlag fielen
die Exponenten der Haltung, die es um jeden Preis zu
vernichten gilt. Wir greifen das Sichtbare an; es ist
immer noch durch Menschen verkörpert. Wir trafen
Glieder, nicht das Haupt und nicht das Herz. Ich habe
die Absicht, den Mann zu erschießen, der größer ist als
alle, die um ihn stehen.»
Mir wurde die Kehle trocken. Ich fragte:
«Rathenau?»
«Rathenau», sagte Kern. Er stand auf und sagte:
«Das Blut dieses Mannes soll unversöhnlich trennen,
was auf ewig getrennt werden muß.» —
Der Wagen kam erst, als wir in unserer Wohnung am
Schiffbauerdamm zu Bett lagen. Ernst Werner Techow
berichtete, er habe unterwegs eine Panne gehabt. Er
wußte noch nichts von Kerns Vorhaben. Kern wollte
allein durch die Autorität, die ihm von selber bei allen,
die ihn kannten, zuwuchs, sich Handlanger schaffen für
die Tat, ohne sie verantwortlich zu machen. In den
nächsten Tagen beutete er rücksichtslos aus, was sich
ihm als Hilfe anbot. Nur, wenn es nicht zu vermeiden
war, nannte er den Namen Rathenau. Er bereitete in
fieberhaftem Tempo alles vor, was auf die Tat
hinzielte. Aber er besorgte sich weder Pässe noch Geld.
Als ich ihn endlich fragte, was er nach dei Tat zu tun
gedenke, sagte er: «Nicht, was du denkst. Wir wollen
versuchen, nach Schweden zu entkommen. Sollte die
Tat zu keiner Entscheidung führen, kommen wir sofort
zurück und gehen den Nächsten an. Ich kann nicht
glauben, daß die Tat nicht zumindest ein Fanal sein
wird, das weitere Taten weckt. Ich komme auf jeden
Fall zurück, um das zu tun, was kein anderer zu tun
vermag. Wann das Ende kommt, steht nicht in meiner
Hand.»
Fast keine der Vorbereitungen glückte auf den ersten
Anhieb. Dei Wagen war nicht in Ordnung. Die
erwartete Maschinenpistole traf nicht ein, es mußte eine
andere besorgt werden, die beim Probeschie-ßen
mehrfach versagte. Tagelang war Fischer auf der Suche
nach einer passenden Garage, endlich fand er eine
durch Vermittlung eines Mannes, dem das Zeichen des
Verrates an der Stirne stand. Als es hieß, Rathenau
würde verreisen, sagte Kern zu mir mit dunklen Augen:
«Es ist, als wollte es das Schicksal nicht.»
Kern mußte die Attentatspläne eines siebzehnjähri-
gen Gymnasiasten, von denen er erfuhr, unterbinden.
Er verbat sich grob jede Einmischung, die ich
versuchte. Er wünschte, Fischer solle sich von Techow
im Steuern eines Kraftwagens unterweisen lassen, um
auch Techow ausschalten zu können. Die Dienste eines
schwadronierenden und psychopathischen Studenten
dagegen nahm er in verächtlichem Tone reichlich in
Anspruch.
Fischer blieb gleichmäßig ruhig. Er war der Pol, zu
dem Kern sich immer wieder fand. Wenn er bemerkte,
daß Kern sich am Kleinkram zerrieb, nahm er ihn zu
langen Spaziergängen mit. Einmal führte er uns mit
raschem Entschluß in ein Lichtspieltheater, das am
Wege lag. Es wurde «Dr. Mabuse, der Spieler»
gegeben. Wir fanden nur in getrennten Reihen Platz.
Als auf der Leinwand das Innere eines Gefängnisses
erschien, rief Kern über drei Reihen hinweg: «Pecheur,
das ist die Zelle, aus der wir den Dittmar rausgeholt
haben.» Die Leute riefen «Pst».
Kern und Fischer besuchten den Reichstag. Rathenau
sprach. Auf dem Heimweg blieb Kern Unter den
Linden vor einem Photographenaushang lange stehen,
in dem Rathenaus Bildnis hing. Die dunklen,
merkwürdig warmen und gesammelten Augen blickten
aus dem schmalen und gepflegten Gesicht uns beinahe
forschend an.
Fischer sagte nach langem Zögern: «Er sieht sehr
anständig aus.»
Am Sonnabend, dem 24. Juni 1922, des Morgens
gegen halb elf Uhr, stand der Wagen in einer
Seitenstraße der Königsallee im Villenvorort Grune-
wald, in der Nähe der Wohnung Rathenaus. An der
Stelle, wo die Straße in die Königsallee einmündete,
stand wartend Fischer. Kern holte aus dem Wagen
seinen alten Gummimantel. Techow bastelte an der
Haube des Wagens. Er berichtete Kern, der Ölzuführer
sei kaputt. Für eine kurze und schnelle Fahrt würde der
Wagen noch genügen.
Kern blieb bei seiner freien Gelassenheit. Ich stand
vor ihm und sah ihn an. Ich zitterte so stark, daß ich
zeitweilig dachte, der Motor des Wagens, an dem ich
gelehnt stand, sei bereits angelassen. Kern schlüpfte in
den Mantel. Ich wollte irgend etwas sagen, irgend
etwas Warmes, Sicheres. Schließlich fragte ich: «Was
sollen wir für Motive angeben, wenn wir gegriffen
werden?»
«Wenn ihr gegriffen werdet», sagte Kern fröhlich,
«dann schiebt wacker alle Schuld auf mich. Das ist
selbstverständlich. Sagt um keinen Preis die Wahrheit,
sagt irgend etwas, Gott, es ist so gleichgültig, was. Sagt
irgend etwas, daß die Leute verstehen, die gewohnt
sind, ihren Morgenblättern zu glauben. Sagt meinet-
wegen, er sei einer von den Weisen von Zion, oder er
habe seine Schwester an Radek verheiratet, oder sonst
was Blödes. Oder sagt, was euch die Zeitungen vor-
kauen werden, was ihnen eingeht wie braune Butter,
wenn sie es in eurer Aussage wiederfinden werden.
Vielleicht schämen sie sich dann ein bißchen. Sagt es
so platt wie möglich, wenn ihr überhaupt etwas sagen
müßt, nur so seid ihr verständlich. Was uns bewegte,
werden sie nie verstehen, und verstünden sie es, so
müßte es euch erniedrigen. Seht zu, daß ihr euch nicht
kriegen laßt. Bald wird jeder Mann gebraucht.» Er zog
sich die Lederkappe über den Kopf. Sein Gesicht sah
kühn und offen aus der braunen, strengen Umrahmung.
Er sagte: «Die Düsseldorfer Sache darf nicht
aufgegeben werden. Gestern bekam ich die Nachricht,
daß auch diesmal die Freiberger Waffenschiebung ver-
pfiffen worden sei. Die Männer müssen gewarnt
werden, denke dran. Du mußt sofort abreisen aus
Berlin. Die Elberfelder sollen auf Matthes, Köln,
aufpassen, er plant für seine Separatisten einen großen
Schlag. Gabriel darf die Pfalz nicht verlassen, wenn es
oben losgeht. Wenn Hitler seine Stunde begreift, ist er
der Mann, für den ich ihn halte. Ein Jahr später ist ein
Jahrzehnt zu früh. Grüß alle Kameraden.» Er hob die
Maschinenpistole aus dem Sitz und legte sie griffbereit
unter die Vordersitze. Er wandte sich mir zu und sah
mir voll ins Gesicht. «Mach's gut, Kerl, du bist eine
breite Axt, sieh zu, daß du nicht schartig wirst. Eine
Bitte habe ich, laßt den Wirth leben; er ist ein braver
Mann, und ganz ungefährlich.» Er beugte sich vor, er
faßte mich am Rock. Er sagte leise: «Du kannst nicht
ahnen, wie froh ich bin, daß ich alles hinter mir habe.»
In diesem Augenblick fuhr ein kleines, dunkelrotes
Auto in gemächlicher Fahrt die Königsallee herauf.
Fischer strich vorbei und stieg schweigend in den
Wagen. Techow saß am Steuer; sein Gesicht war
plötzlich grau und wie aus Holz geschnitten. Kern gab
mir kurz die Hand und stand dann, groß, mit wehendem
Mantel, im Wagen. Der Wagen begann zu zittern. Ich
stürzte an den Schlag und streckte die Hand hinein.
Niemand ergriff sie. Kern setzte sich. Der Wagen fuhr
an.
Der Wagen fuhr an; ich wollte ihn halten, er glitt mit
surrendem Ton. Ich wollte schreien, ich wollte laufen,
ich blieb gelähmt, leer, erstarrt, völlig verlassen auf
grauer Straße. Noch einmal blickte Kern sich um. Noch
einmal sah ich sein Gesicht. Dann rauschte der Wagen
um die Ecke.
Mord

Walther Rathenau ermordet

Berlin, 24. Juni


Nach einer amtlichen Mitteilung wurde heute vormittag
Minister Rathenau, kurz nachdem er seine Villa im
Grunewald verlassen hatte, um sich in das Auswärtige
Amt zu begeben, erschossen und war sofort tot. Der
Täter fuhr im Auto nebenher und sauste nach
vollbrachter Tat weiter.

Meldung des «Berliner Tageblattes».

Der Bauarbeiter Krischbin schilderte als Tatzeuge in


der «Vossischen Zeitung» den Vorgang:
«Gegen dreiviertel elf Uhr kamen aus der Richtung
Hundekehle die Königsallee hinunter zwei Autos. In
dem vorderen, langsamer fahrenden Wagen, der etwa
die Mitte der Straße hielt, saß auf dem Rücksitz ein
Herr; man konnte ihn genau erkennen, da der Wagen
ganz offen, auch ohne Sommerverdeck war. In dem
hinteren, ebenfalls ganz offenen Wagen, einem
sechssitzigen, dunkelfeldgrau gestrichenen,
starkmotorigen Tourenwagen, saßen zwei Herren in
langen, nagelneuen Ledermänteln mit ebensolchen
Lederkappen, die eben noch das Gesichtsoval frei
ließen. Man sah, daß sie beide völlig bartlos waren.
Autobrillen trugen sie nicht. Die Königsallee im
Grunewald ist eine stark befahrene Autostraße, so daß
man nicht auf jedes Auto achtet, das vorbeikommt.
Dieses große Auto haben wir aber doch alle gesehen,
weil uns die feinen Ledersachen der Insassen ins Auge
stachen. Das große Auto überholte den kleineren
Wagen, der langsamer, fast auf den Schienen der
Straßenbahn, fuhr, wohl weil er zu der großen S-Kurve
ausholen wollte, auf der rechten Straßenseite und
drängte ihn stark nach links, fast an unsere Straßenseite
hin. Als der große Wagen etwa um eine halbe
Wagenlänge vorüber war und der einzelne Insasse des
anderen Wagens nach rechts herübersah, ob es wohl
einen Zusammenstoß geben würde, bückte sich der eine
Herr in dem feinen Ledermantel nach vorn, ergriff eine
lange Pistole, deren Kolben er in die Achselhöhle
einzog, und legte auf den Herrn in dem anderen Wagen
an. Er brauchte gar nicht zu zielen, so nah war es; ich
sah ihm sozusagen direkt ins Auge. Es war ein
gesundes offenes Gesicht, wie man so bei uns sagt: so'n
Offiziersgesicht. Ich nahm Deckung, weil die Schüsse
auch uns hätten treffen können. Da krachten auch schon
die Schüsse ganz schnell, so schnell wie bei einem
Maschinengewehr. — Als der eine Mann mit dem
Schießen fertig war, stand der andere auf, zog ab, — es
war eine Eierhandgranate — und warf sie in den
anderen Wagen, neben dem er dicht herfuhr. Vorher
war der Herr schon auf seinem Sitz zusammengesunken
und lag auf der Seite. Jetzt hielt der Chauffeur an, ganz
nahe an der Erdener Straße, wo ein Schutthaufen war,
und schrie: «Hilfe, Hilfe!», der fremde große Wagen
sprang plötzlich mit Vollgas an und brauste durch die
Wallot-Straße ab. Das Auto mit dem Erschossenen
stand inzwischen an der Bordschwelle. In dem gleichen
Augenblick gab's einen Krach, und die Eierhandgranate
explodierte. Der Herr im Fond wurde von dem Druck
ordentlich hochgehoben, sogar das Auto machte einen
kleinen Sprung. Wir liefen gleich alle hin und fanden
auf dem Damm dabei neun Patronenhülsen und den
Abzug der Eierhandgranate. Von dem Auto waren
Teile des Fournierholzes abgesprungen. Der Chauffeur
warf seinen Wagen wieder an, ein junges Mädchen
stieg in den Wagen und stützte den bewußtlosen, wohl
schon toten Herrn, und in großer Fahrt fuhr der Wagen
den Weg, den er gekommen war, auf der Königsallee
zurück zur Polizeiwache, die etwa dreißig Meter weiter
am Ende der Königsallee nach Hundekehle zu liegt.»

«Was habt ihr getan? Den Edelsten habt ihr aus feigem
Hinterhalt gemordet. Die ungeheuerlichste Blutschuld
habt ihr auf das Volk geladen, dem dieser Mann mit
allen Fasern seines Herzens stets gedient. Ihr habt das
Volk, das Volk in seiner gläubigen Masse selber in das
Herz getroffen. Die verruchte Tat traf nicht den
Menschen Rathenau allein, sie traf Deutschland in
seiner Gesamtheit. Verblendete Buben, die ihr zur
Mordwaffe griffet, eure Schüsse haben einen Mann
getötet und sechzig Millionen verwundet. Ein Volk
schreit Wehe über euren Wahnwitz, über das
Verbrechen, dem sein Retter selbst zum Opfer fiel.
Nicht genug damit, es wendet sich die Welt voll
Abscheu und Entsetzen von einem Lande, in welchem
euer Geist in seiner Blindheit wachsen und zu solchen
Früchten reifen konnte. Was dieser Mann in
mühevollem Aufbau, in harter, steter Pflicht geformt,
das habt ihr durch eure unheilvolle Schreckenstat mit
einem Schlag zerstört. Ihr habt das Schicksal unseres
Volkes um diesen Mann betrogen. Die Stimme der
Vernunft habt ihr gemeuchelt, den Weg verschüttet,
den sie wies. Ihr habt die Basis allen Völkerlebens: das
Vertrauen, unheil bar erschüttert. Das Werk Bismarcks
traft ihr und die deutsche Zukunft in ihrem ersten,
gnadenvollen Keim. Im Schatten dieses Mannes wart
ihr nicht wert zu leben. So schändlich wie die Tat sei
euer Ende, das Sterben soll euch keinen Ruhm
bedeuten, und keine Strafe, die euch trifft, sei schwer
genug.»
Rathenau schrieb in der «Mechanik des Geistes»:
«Der Tod erscheint uns nur dann, wenn wir das Auge
irrtümlich auf das Glied, nicht auf das Geschöpf
richten. Die Alten haben das Absinken des
Menschenlebens mit dem Fall des Laubes verglichen;
das Blatt stirbt, aber der Baum lebt. Fällt der Baum, so
lebt der Wald, und stirbt der Wald, so grünt das
Erdenkleid, das alle seine Schützlinge nährt, wärmt und
verzehrt. Erstarrt der Planet, so blühen tausend
Braderzweige unter dem Strahl neuer Sonnen. Nichts
Organisches stirbt, alles erneut sich, und der Gott, der
aus der Ferne betrachtet, findet in Jahrtausenden das
gleiche Bild und das gleiche Leben. — In der gesamten
sichtbaren Welt kennen wir nichts Sterbliches. Etwas,
das sterblich ist, könnte nicht geboren werden. Freilich,
alles, was einem Ziel zustrebt, was sich reibt und
kämpft, das nutzt sich ab, und somit ist eine materiell-
organische Welt nur auf der Grundlage ewigen
Substanzwechsels denkbar, vom Mechanismus des
Leibes bis zum Mechanismus des Atoms. Aber dieser
Wechsel sieht dem Sterben nichi ähnlicher als das
Wachstum der Einzelpflanze, das ohne Substanzwech-
sel unmöglich wäre. Der Begriff des Sterbens entsteht
durch falsche Betrachtung, indem das Auge am Teil
statt am Ganzen haftet. — Nichts Wesenhaftes in der
Welt ist sterblich. Wollen wir dennoch die Macht, die
in der Erscheinungsform des Daseins die Welten
abgrenzt, auch fernerhin mit dem Bild des Todes
bezeichnen, so erscheint der herrliche Genius als
Wächter des Lebens, als Herr der Verklärung und
Zeuge der Wahrheit.»

Tod

Der eisige Anhauch, der aus den Wirbeln des Entsetz-


lichen über die Länder und Städte fährt, die Sonne
verdunkelt und fahle Schatten ir die Straßenschluchten
wirft, riß mit seinem Schauer zu jener Stundt alle
Herzen aus dem glatten Tag. Als die Zeitungshändler
mit heiseren Stimmen die Nachricht über die Plätze
schrien, als sekundenlang der Straßenlärm erstarb, um
sogleich wieder in gestörten Rhythmer anzuschwellen,
schien es, als ob der Hall der fernen Schüsse drohend
über allen Köpfen hing. Die Menschen standen
fassungslos in wirrer Haufen, die sich dann schnell
zerteilten, sie gingen eilig wieder weiter, gleich als ob
sie flüchten müßten, finden müßten zu sich selbst und
wüßten doch, daß hinter ihnen der Schrecken jagte und
vor ihnen das Unbegreif en alle Tore verschlossen hielt.
Da aber alle Menschen, die den Tag bevölkerten,
plötzlich derselben heimlichen Gewalt verfallen waren,
dasselbe dachten und dasselbe fürchteten und in
derselben flatternden Hast den Weg suchten aus der
Wirrnis, brütete, Vorbote der Panik, der flirrende Dunst
über den Massen, der das Blut zum Aufschrei zwingt,
zerreißt ein Wort nur, eine Steigerung den Bann.
Wie auf einen Schlag schoben die Massen ihre
Leibermauern unter schwankenden Fahnen vor, füllten
die Städte mit dem Hämmern ihrer Schritte und
peitschten die Luft mit dem Gemurre ihres dumpfen
Zorns. Hunderttausende drängten zusammen, die nach
Befreiung gierten, dem ungeheuerlichen Druck
entrinnen wollten, unter den die Tat sie zwang. Wenn
sie sich angegriffen fühlten, gut, dann war der
Ansprung ihre Waffe. Nicht aber durften sie gebändigt
werden von den Emsigen, die schon an allen
Straßenecken standen, den besonnenen Schwätzern, die
sich entrüsteten, weil sie die Stunde nicht gerüstet fand.
Als ich die Massen auf den Plätzen durcheinander-
quirlen sah, marschieren sah, getrieben sah von
plötzlichem Einsturz ihrer geordneten Welt, brannte in
mir die Glut der äußersten Qual, der rasende Wunsch,
dazwischenzuschießen, damit es geschehe, mich
hineinzuwerfen als lodernden Keil, den Spalt zu treiben
bis zum gefesselten Kern der Dämonie. Ich fingerte
zitternd nach der Waffe, aber kein lohnendes Ziel
wollte sich bieten unter der Masse der sturen Gesichter;
ich telephonierte mit schnatternden Kiefern bei den
Aktivisten herum, aber die heimliche Gewalt hatte auch
sie verschlungen; ich rannte mit kochendem Haß durch
die Straßen, bereit, zu morden, den Nächsten, mich und
die Welt, aber die zerflatternden Sekunden betrogen
mich um den letzten Zwang. Mein Opfer wollte ich mir
herausknallen aus der Zone über der Masse der
Namenlosen, Ebert oder Wirth, aber da sengte mir ein
einziger Gedanke das Blut, und ich stand in kaltem
Schweiß an eine Mauer gedrängt, und ich dachte
«Kern», nichts anderes konnte ich denken als «Kern».
Kern aber war verschollen.
Kern und Fischer gingen ihren dunklen Weg. Sie
zogen durch die ihnen nun entgöttliche Welt, sie trugen
das Kainszeichen bewußt, mit tödlichem Ernst, sie
wurden verschluckt von den Schatten, die ihre Tat
selber beschwor. Karge Botschaft kam lange Zeit später
zu ihren Freunden, wenige gelle Worte, von Mund zu
Mund weitergetragen und umgeformt. Nur spärliche
Berichte kündeten von jenen schmalen, ausweglosen
Graten, die sie wanderten, warfen schwache Lichter auf
den einsamen Pfad.
Dies aber vernahmen wir:
Kaum einige hundert Meter weiter von dem Orte der
Tat hielt der Wagen an. Kern warf die
Maschinenpistole über eine Mauer in einen blühenden
Garten. Techow riß die Haube des «kranken» Wagens
hoch.
Sie streiften ihre Lederkappen ab, sie zogen die
Mäntel aus. Schon bogen die Verfolger in die Straße
ein. Die Polizisten, geduckt auf ihren knatternden
Rädern, sahen das friedlich wartende Auto, und sie
fuhren alle vorbei.
Bei den Demonstrationen am Alexanderplatz standen
sie eingekeilt in der Menge, die den Mördern fluchte,
und sahen die schweren Wagen mit bewaffneter
Mannschaft zur Verfolgung aus den Toren des roten
Hauses rollen. Sie horchten den drohenden, hallenden
Reden der Exaltierten, die der Augenblick für
Sekunden über den Tag hob, um sie gleich wieder
zurückfallen zu lassen ins kleine Gesorg. Sie drangen
bis an die Zimmer der Kommissare vor und
verschwanden wieder in den menschengefüllten langen
Gängen.
Sie trafen sich noch einmal mit Techow am
Wannsee. Sie segelten weit hinaus und lagen einsam
und schweigend lange Stunden auf dem
sonnenbeglänzten Wasser. Dann verschwanden sie aus
Berlin.
An einem Walde dicht bei Warnemünde sollte in
einer Bucht das Motorboot warten, das die Geächteten
bis zu einem Segler zu bringen
bestimmt war, der auf hoher See kreuzte, um sie dort an
Bord zu nehmen und nach Schweden zu tragen. In der
verabredeten Nacht lag das Boot an der bezeichneten
Stelle. Aber Kern und Fischer, gepackt vom Un-
begreifen ihrer Flucht, irrten sich um vierundzwanzig
Stunden. Sie kamen eine Nacht zu früh und fanden
niemand vor. Sie glaubten, daß sie im Stich gelassen
wären, und kehrten um.
Und da sie nun wußten, daß sie verloren waren,
faßten sie den tödlichen Entschluß. Sie wollten noch
einmal zurück. Sie wollten noch einmal wagen. Sie
wollten sich heranwerfen an die letzte Bitterkeit, noch
einmal einen Gegner fallen sehn, bevor sie selber
fielen. Sie wollten zu Freunden, sich erneut zu rüsten.
Aber das Schicksal versagte ihnen alles; nichts war
ihnen mehr gegönnt als die Kraft zum letzten Auftrieb.
Sie besorgten sich Fahrräder. Sie nächtigten in
einsamen Gehöften Förstereien, bei verschollenen
Kameraden aus fröhlicher Marinezeit. Aber die Zeit
kam bald, da die Menschen vor ihnen erschraken, wenr
sie an die Türen pochten. Blasse Gesichter riefen ihnen
aus verschlossenen Fenstern zu, sie möchten weiter-
fahren, sicherten ihnen zu, daß niemand sie verraten
würde, aber niemand ihnen auch helfen könne Es
geschah, daß sie in der Nähe eines Dorfes zu kurzer
Ruhe Gast waren bei einem früheren Kameraden. Und
ein Mann ging durch die Ortschaft, der ein Plakat trug
mit der Aufschrift, die Rathenaumörder seien im Dorf.
Und die Bewohner schlichen in ihre Häuser und ver
riegelten sich.
Sie fuhren durch die weiten Wälder Mecklenburgs
und der Mark Niemand weiß, woher sie ihre
verbrauchte Kraft erneuerten. Niemand weiß von den
geflüsterten Gesprächen, von den heimlichen Lagern in
Dickicht. Niemand weiß von dem Geheimnis jener
langen Nächte unter kühlem Sternenhimmel, von dem
zarten Weben verlorener Träume, von der stillen
Weichheit des nahenden Lichts.
Als der Fährmann sie über die Elbe setzte,
erschienen die Verfolger am soeben verlassenen Ufer,
indes sie bereits in der Mitte des Stromes dahintrieben.
Der drohende Haufe schrie sein «Halt!» dem Fährmann
zu, und Kern und Fischer saßen müde und still auf den
Bänken und sahen ins kreisende Wasser. Der Fährmann
aber fuhr murmelnd seinen Weg zum anderen Ufer und
setzte die Flüchtenden ab und ruderte träge zurück. So
verloren die Verfolger die verheißungsvolle Spur.
Sie bettelten um Brot. Sie schlichen an die
Bauernhöfe und sahen starr durch die Fenster in die
niederen Stuben, in denen sich die Menschen um runde
Lampen sammelten. Sie suchten sich Beeren und
Früchte, sie gruben aus den Äckern die Wurzeln und
streiften das reife Korn durch die Finger. Ein Landjäger
schoß ihnen eine Ladung Schrot in das Kreuz.
Sie verloren sich in den riesigen Wäldern Osthanno-
vers. Und es wurde bekannt, daß sie in den Wäldern
hausten, und es erfolgte das größte Polizeiaufgebot, das
die Geschichte kennt. Rund um den Forst zog sich die
Postenkette. Alle Hundertschaften der Landschaft, der
benachbarten Provinzen sammelten sich. Der Wald war
umstellt, Mann ging neben Mann, Busch für Busch
erlitt die Streife, Gehölz für Gehölz sah die schrei-
tenden Bewaffneten. Immer enger wurde der gewaltige
Ring, dem Zentrum zu. Aber Kern und Fischer waren
dem Netz entronnen, und niemand weiß, wie das
geschehen konnte.
Sie lebten wie das Wild in den Wäldern und sie
wurden auch so gejagt. Sie fanden sich bei überraschten
Freunden ein, die ihnen weiterhalfen und die sich
späterhin darüber aussprachen, daß Kern von einer
unbegreiflichen freien Heiterkeit gewesen sei, ohne
Scheu und ohne die Last einer bedrückenden Furcht vor
der Schuld. Sie mußten ürhet-zender Fahrt von der Elbe
nach Thüringen geflohen sein, denn sie warfen, zwei
Tage nachdem sie bei Gardelegen gesehen worden, ihre
Räder in die Saale. Sie kamen zur Burg.

Die Regierung setzte auf Kern und Fischer einen Kopf-


preis aus von einer Million Mark. Viele Zeitungen, die
es sich zur heiligen Aufgabe gemacht, die Gebote der
Humanität, der Menschenliebe und -würde in ihren
Spalten unter allen Umständen zu verteidigen, zu
wahren und zu pflegen, versagten sich nicht der
Forderung der Stunde und waren bereit, ihren hehren
Idealen für diesen besonderen Fall zu entsagen. Sie
riefen zur Sammlung auf und richteten Annahmestellen
ein für die reichlich einfließenden Gelder, die als
Belohnung ausgesetzt wurden für diejenigen, welche
die Geächteten der irdischen Gerechtigkeit über-
lieferten. Im umgekehrten Verhältnis zu dem Grade der
Silichkeit des Prinzipes jener getreu zu erfüllenden
Staatsbürgerpflicht erreichte der Kopfpreis so die Höhe
von viereinhalb Millionen Mark. Der Reichstag
beschloß sofort, ein Gesetz zu schaffen zum Schütze
der Republik, und setzte einen besonderen Staats-
gerichtshof ein. Ein Heer von Beamten beschäftigte
sich mit der Ermittlung der Täter. Die Polizei setzte alle
bekannten und unbekannten Aktivisten im Reiche fest,
deren sie habhaft werden konnte, und richtete ihr
Bestreben dahin, sämtliche erreichbaren Schriftstücke
zu beschlagnahmen, in der durch nichts gerechtfertigten
Erwartung, daß sich der Aktivismus vornehmlich in
Papier austoben müsse.
Während der erschossene Walther Rathenau noch im
offenen Sarge lag, das wunde Gesicht mit dem
zerschmetterten Kinn halb von einem Taschentuch
verborgen, trat der Reichstag zusammen. Die Würde
des Todes blieb im stillen Hause am Grunewald zurück.
Helfferich mußte vor der Wut der tobenden Volks-
vertreter aus dem Sitzungssaale des Parlamentes
flüchten, ein Vorgang, der sich grundsätzlich auf einer
anderen Ebene und mit anderen Exponenten vollzog,
als sie für die Tat gültig waren. Der Rang des
Menschen Rathenau vermochte nicht dem Haß und
nicht der Trauer seiner Freunde das Gesicht zu geben.
Er blieb auch im Tode einsam.

In der wahnwitzigen Hoffnung, die beiden Freunde zu


finden, irrte ich planlos durch die Stadt. Ich beging jede
Straße, die ich mit ihnen begangen, ich besuchte alle
Stätten, die ich mit ihnen besucht. Ich stieß am
Trauerzuge, der dem Sarge Rathenaus folgte, blind
vorbei, ich sah die Menschen wie Schemen, wie
verhüllt von bläulichen Schleiern. Die Zeitungen
blätterte ich hastig durch nach den Nachrichten über die
Tater, und als zum ersten Male die Namen mir aus dem
Wust der kleinen Schrift entgegenprallten, stand ich mit
flirrenden Augen und erschöpft inmitten des
Getümmels der Straße und lehnte mich zitternd an
einen Baum und tastete nach der Pistole und stürzte
dann fort, irgendwohin, und wanderte rastlos durch die
Stadt, bis ich es nicht mehr ertrug und zum Bahnhof
lief.
Ich erbettelte mir Geld, ich besorgte Pässe für Kern
und Fischer, die gefälscht und doch echt waren. Ich
durchforschte die Meldungen, die von der Berliner
Polizei im Stile der Tagesberichte des Großen Krieges
herausgegeben wurden. Als es hieß, die beiden seien in
Mecklenburg, reiste ich nach Mecklenburg. Ich fuhr
nach Holstein, nach Thüringen, nach Westfalen; ich
peitschte die verstörten Gruppen auf, ich sandte die
Aktivisten auf die Suche. Meist, wenn ich in eine Stadt
kam, in deren Nähe die Freunde gesehen worden sein
sollten, stand schon im Polizeibericht der Name einer
anderen, weitentlegenen Stadt; eine Landkarte war dort
gefunden worden, die den Tätern gehören mußte, oder
ein Kragenknopf, oder irgendeiner wollte sie erkannt
haben. Ich blieb an keinem Ort länger als einige
Stunden, ich sprang bei den Kamerade ein, die überall
verstreut wohnten, und forschte, ich verzweifelte voi
der Sturheit plötzlich vorsichtig gewordener Freunde.
An einem Tage riß ich sieben Steckbriefplakate ab. Ich
stand über den Atlas gebeugt und zeichnete alle Spuren
ein, die bis dahin einwandfrei gefunden waren. An die
Etappen ihrer mutmaßlichen Straße sandte ich
Nachricht. Aber kein Weg führte zu ihnen. Kein
Gerücht traf die Wahrheit. Keine Hilfe erreichte sie.
Manchmal wechselte ich während der Fahrt die
Route, saß dann auf irgendeiner kleinen und obskuren
Station an den von Bier und Tabal gebeizten Tischen
des Wartesaals die Nacht hindurch und war trostlos und
verbittert. Ich war besessen von dem Gedanken, sie zu
finden. Ich murmelte den Namen Kern vor mich hin
und glaubte, aus ihm mir neue Kraft zu holen. Ich
wollte durch das intensivste Denken an den Freunc
mich auch räumlich an ihn heranzwingen. Ich wußte,
daß ich unzerreißbar mit ihm verbunden war. Ich
dachte verzweifelt, daß es doch nicht möglich sein
könne, nicht zu ihm zu gelangen. Ich fürchtete mich, zu
schlafen; vielleicht konnte er gerade in diesem un-
ersetzlichen Augenblick in nächster Nähe hilfesuchend
vorbeistreifen. Ich rief mir jedes Wort, das ich von ihm
gehört, ins Gedächtnis zurück. Ich erinnerte mich an
jede Tat, die mich mit ihm verband. Ich malte mir die
unwahrscheinlichsten Situationen aus; ich sah ihn ins
Zimmer treten, in dasl Zugabteil, ich dachte, daß der
Mann in blauem Jackett, der gerade vor mir ging und
dessen Gesicht ich nur undeutlich erkennen konnte,
sichj umwenden und Kern sein müsse. Lange Zeit stand
ich vor einem Steckbrief, der sein Bild zeigte, ihn als
jungen Marineoffizier mit der weißen, kecken Sommer-
mütze, seine Schrift zeigte, die steile, klare, schlichte
Schrift. Ich riß den Steckbrief vorsichtig herunter und
barg die schlechte Wiedergabe seiner Züge in der
Brusttasche.
Ich fuhr nach Erfurt. Ich wollte Dieter aufsuchen,
denn es hieß, die beiden seien in Thüringen gesehen
worden. Ich ging in Dieters Wohnung, aber die Wirtin
sagte brummig und mißtrauisch, er sei am Tage vorher
ausgezogen, die neue Adresse wisse sie nicht. Ich irrte
durch die Stadt und spähte auf allen Straßen. Ich wagte
mich in das Polizeipräsidium, jede Sekunde erwartend,
verhaftet zu werden, aber Dieter war noch nicht
umgemeldet. Ich kaufte mir eine Zeitung und las, daß
die Polizeiaktion um Gardelegen erfolglos beendet sei,
aber Kern und Fischer hätten sich anscheinend nach
Hannover gewandt. Ich stieg in den Zug nach
Hannover.
Ich stieg in den Zug nach Hannover und hatte das
Geld und die Pässe in der Tasche und im Koffer die
Anzüge und die Wäsche und die Stiefel, die ich nun
über drei Wochen für die beiden durch die Lande
geschleppt. Ich fuhr durch die Berge Thüringens und
sah blicklos durchs Fenster. Vor Bad Kösen und
Naumburg wurde ich unruhig. Ich stand auf und ließ
das Fenster herunter und beugte mich hinaus. Ich sah ie
Saale fließen und spähte nach dem Bergkegel, der
beinahe senkrecht neben dem Bahndamm hochstieg,
und sah die beiden grauen, massigen, verwitterten
Türme der Burg Saaleck, die den Kegel krönen. Und
ich grüßte zur Burg hinüber, im heimlichen Gedenken
an die Tage, da Dittmar dort oben saß, von Kern aus
dem Gefängnis befreit, und verspürte den brennenden
Wunsch, in Bad Kösen auszusteigen und Burg zu
besuchen, die Wege zu gehen, die Kern gegangen, die
einen Hauch seines Wesens tragen mußten in ihrer
trotzigen Steilheit. Aber ich dachte, daß ich das nicht
dürfe, daß ich weiter müsse, nach Hannover müsse; ich
dachte, daß Kern vielleicht jetzt, gerade jetzt, in er
letzten Not sei und jede Verzögerung unwieder-
bringlich sein müsse. Noch einmal, als der Zug in Bad
Kösen hielt, überkam mich der tolle Wunsch, aber ich
blickte unendlich traurig zurück zur Burg und sandte
brennende Grüße zu und fuhr weiter.
Zu dieser Stunde aber waren Kern und Fischer in der
Burg und waren auf Hilfe. Zu dieser Stunde hielt Dieter
in Erfurt das Schreiben Kerns in den Händen und hatte
weder das Geld noch die Pässe, noch die Dinge, die ich
nun mit bebender Angst im Herzen nach Hannover
trug.

Es sollte nicht sein.


Noch einmal durften sie, einsam zwischen Wind und
Himmel, zu sich selber finden. Sie hausten versprengt,
verlassen und verloren im oberen Gemach der Burg. Sie
blickten frei über die schwirrenden Bäume, über die
bewegte Landschaft hin, deren liebliche Linien nur die
Härte des trotzigen Gemäuers unterbricht, in dem sie
ihre letzte Zuflucht fanden. Sie sahen die Rudelsburg
sich aus den steilen Felsen des Tales emporbauen, sie
sahen die Saale in ihrem geschmeidigen Fluß zwischen
schimmernden Büschen, sie sahen das Dorf, das sich
behutsam den Fuß des Berges schmiegt. Sie hörten das
Rauschen und Schütteln der Bäume, die voll Leiden-
schaft sind, wenn der breite Abendwind zur Burg
hinstreicht. Und wie die Landschaft nichts Träges kennt
und keine Hast, sondern nur volle Erwartung und
Nachklang einer großen Bewegung und tiefste Tätig-
keit, so konnte in ihnen nichts anderes wachsen als die
gnadenvolle Stille, in der jedes eine, arme Wort Mensch
sein muß. Sicherlich war die letzte Ruhe bereits über sie
hingebreitet, und alle Dinge flossen ihnen beglückend
zu. Aus Sternen, Pflanzen und Steinen, aus den leisen
Worten der Sammlung, der wissenden Hingabe an die
große Einheit, der sie gedient, mußte ihnen die Kraft
werden, der Auftrieb, die Lust zur bekennenden Stunde.
Ganz nahe waren sie der Reife, der Vereinigung mit den
wehenden Schauern aus fernen Räumen, ganz nahe
waren sie dem gläubigen Einklang mit der Welt, um die
sie gerungen. Sie hatten gelebt; und weil sie durch die
Schuld geschritten sind und durch die Not, durch die
Qual und durch die Verlassenheit, darum wußten sie die
leichten Auflösungen und die billigen Auswege zu
verachten, darum grüßten sie die Flamme, die einmal
Tat war und ein andermal Läuterung und zum letzten-
mal Sterben. Und ihr Sterben war schön.
So aber starben sie:
Zwei Unwürdige, die das Leben aus lauem Munde an
den Tag gespien, sahen, daß die Burg trotz der Abreise
des Besitzers bewohnt war; sie schlichen um die Türme,
sie erkannten Kern und Fischer und verrieten sie. Ihre
Namen seien nicht genannt, sie seien nicht verflucht
undl nicht gehaßt, sie sind nicht eines rächenden
Gedankens wert. Die Polizei, die wußte, daß die Spur
verloren war, glaubte nicht ihren Angaben. Aber sie
beriefen sich auf ihren rechtlichen Anspruch auf die
Belohnung. Und zwei Kriminalisten aus Halle wurden
nach der Burg gesandt.
Und Kern und Fischer wurden entdeckt. Die Beamten
drangen in den bewohnten Turm. Als sie die Stiege
betraten, öffnete sich oben die Tür und Kern kam, mit
der Pistole in der Hand, auf sie zu. Er trieb die Beamten
vor sich her, die ins Freie flüchteten, und einer von
ihnen beschwor Kern, nicht zu schießen, und rief ihm
zu, daß er Familie habe. Und Kern murmelte etwas,
irgend etwas von «Feiges Pack», der Weichheit den
Mantel des Stolzes gebend, und verschwand wiederum
im Turm.
Die Beamten aber riefen Hilfe herbei. In wenigen
Stunden hatte eine ganze Hundertschaft Schutzpolizei
die Burg umzingelt.
Es war dies am 17. Juli 1922. ZweiTage vorher hatte
sich ein Sturm erhoben, der nun seinen Höhepunkt mit
kreischender Wut feierte. Die Wolkenfetzen jagten
niedrig über den Berg, über die Türme, die grau und
massig umhüllt waren von heulenden, klatschenden
Schauern. Ganze Äste knackte der Sturm von den
Bäumen und zerzauste das gekämmte Gebüsch des
Berges und fegte Blätter und Buschfetzen in tollem
Wirbel die Abhänge hinunter. Drüben die Rudelsburg
lag hinter fliegenden Schatten. Die Landschaft war
verhangen und verlor sich im Grau. Aber viele
Ausflügler, die Bewohner des Dorfes sammelten sich
um die Burg. Die Menschen umstanden den Berg,
füllten die niedrig bewaldeten Abhänge, strichen um
die ragenden Türme, in deren einem Kern und Fischer
um das Ende wußten. Noch einmal traten sie heraus; sie
erschienen auf der Zinne des Ostturmes. Sie beugten
sich zu den Neugierigen, die in der kleinen Sattheit
ihres Unverdienstes wie gebannt nach oben starrten.
Und im Angesicht der unverstehenden Menge drängten
die gellen Worte des gleich dem Sturme entfesselten
Trotzes zum letzten Ausbruch. «Wir leben und sterben
für unsere Ideale!» riefen sie zu den Harrenden
hinunter. Sie riefen: «Andere werden uns folgen!» Sie
brachten ein Hoch aus auf den Mann, den sie als ihren
Führer geliebt und der ein Geächteter war, gleich ihnen.
Sie beschwerten Papierfetzen, auf denen ihre letzte
Botschaft verzeichnet gewesen sein mußte, mit Steinen
und warfen sie vom Turm. So heftig aber war der
Sturm, daß nicht eines gefunden werden konnte. Sie
sahen den davonfliegenden Steinen nach. Sie
verschwanden vom Altan ins Turminnere, und niemand
mehr hat sie noch einmal lebend gesehn.
Die Kriminalbeamten aber, «um ihren Mut und ihre
Entschlossenheit zu beweisen», wie sie zu den Akten
gaben, eröffneten nun, ohne angegriffen zu sein, in der
sicheren Deckung des unbewohnten Westturmes das
Feuer auf das oberste Fenster. Ein Schuß traf das
Fenster. Ihn gab jener Beamte ab, der von Kern sein
Leben erfleht.
Es mußte aber Kern am Fenster gebeugt gestanden
haben, denn der Schuß, der dicht oberhalb des Simses
das Glas durchschlug, traf ihn am Kopf, zwischen der
rechten Schläfe und dem Ohr. Er war sofort tot. Fischer
versuchte, seinen gefallenen Kameraden zu verbinden;
er hatte Leinewand in Stücke gerissen und das Blut aus
der tropfenden Wunde gestillt. Als er sah, daß es
vergeblich war, hob er den Toten hoch und bettete ihn
auf das Lager. Da die Stiefel des Toten das Bettzeug
beschmutzten, legte er sorglich einen Bogen Packpapier
unter die Füße Kerns. Er faltete ihm die Hände und
strich ihm die Augen zu.
Fischer setzte sich auf das andere Bett. Er hob die
Pistole und setzte sie an ebendieselbe Stelle, an der
Kern getroffen war, und drückte ab.

Flucht

Niemals hatte ich so stark gespürt, daß die beiden


Freunde mir ganz nahe waren, wie zu jenen Stunden in
der klaren und ein wenig langweilig sauberen Stadt.
Daß ich keinen einzigen der hannoverschen Kameraden
antraf, erschien mir fast wie ein gutes Zeichen.
Sicherlich waren Kern und Fischer nun geborgen. Ich
ging gelöst und mit heiterer Leichtigkeit durch die
Straßen, wissend, daß ich sie finden werde, und selbst
das Gefängnis, an dem ich vorüberkam, konnte mir mit
seiner düsteren Front und den eintönigen Reihen
niedriger und dunkler Fenster keine andere
Empfindung vermitteln als die einer überlegenen
Schadenfreude. Es war gar keine Unruhe mehr in mir,
und zum ersten Male seit dem Tage des Mordes ging
ich schlafen ohne die betäubende Angst, die mir mit der
Gewißheit, daß draußen das Leben mit vollen Pulsen
weiterging, die krausen Träume an die Grenze des
Wachens bannte. Aber dann überfiel mich der Traum
doch. Ich mußte plötzlich aus einem engen Räume
fliehen vor einem vielarmigen, in unbestimmten
Formen zerfließenden Geschöpf, das drohend aus der
kahlen Ecke mich ansprang. Kein anderer Ausweg
blieb als der Schlund einer steilen, winkeligen Treppe,
die ins Bodenlose führte. Das Geschöpf aber war
schneller als ich, immer sah ich die Arme nach mir
greifen; ich stieß mit versagenden Beinen ins Dunkel,
fühlte, wie sich der Grund unter meinen Füßen stufig
senkte, und glaubte schreien zu müssen, ohne es zu
können. Im Augenblick der höchsten Gefahr aber
erinnerte ich mich in beglückender Erregung, daß ich ja
fliegen konnte, daß ich nur die Arme zu erheben
brauchte, nur mit ihnen zu schlagen brauchte, auf und
nieder, um mich über den Boden zu erheben und mit
flatternden Schwingen zu fliegen. Freilich besaß mein
schwerer Körper keinen Überschuß mehr; ich mußte
die Kraft aus dem Innersten holen, mit der letzten
jagenden Wucht meines Willens mich erheben und den
Lüften anvertrauen. Ich machte einige stolpernde,
schwankende Schritte, wie es wohl die Störche tun,
bevor sie sich zum Fluge schwingen, aber schon hob
ich mich und schwebte mit rasender Geschwindigkeit
immer einige Fuß über der Treppe durch die
dämmerige Luft des Hauses. Plötzlich befand ich mich
im Freien und strich über eine zerrissene Landschaft
hoch über den Köpfen der Feinde, in die sich die
Gestalt des Dämonen gewandelt hatte. Immer wieder
senkte sich mein schräger Körper und drohte zu Boden
zu fahren, aber mit verzweifelter Strenge zwang ich die
Arme, sich erneut zu regen, und merkte sofort, wie sich
die Last meines Leibes willig, aber dem Irdischen
verhaftet, in neuen Stößen vorwärts schob. Die Luft
ballte sich unter mir und trug mich höher und höher.
Als ich über dem dunklen Meere war, sah ich den
Dämon in der Gestalt eines entsetzlichen Polypen auf
dem Grunde der Wasser sich regen und mich aus
rundem, in der Mitte des schwammigen Bauches
glotzendem Auge höhnisch beobachten. Trotzdem ich
in großer Höhe war, netzte mein rudernder Fuß doch
das aufgewühlte Wasser, und ich spürte, wie sich das
Fleisch meiner Glieder vollsog mit der niederziehenden
Flüssigkeit. Ich versuchte einen letzten Stoß, um in die
Luft zu fahren, trieb auch wieder mächtig auf, als mein
Körper in der Mitte knickte und ich in rasendem Wirbel
senkrecht zu Boden schoß. Dabei hörte ich wilde
Schreie, die aber sofort verblaßten und nun durch das
geschlossene Fenster drangen, als ich mühsam die
Augen öffnete. Zeitungshändler schrien unten eine
Nachricht aus. Ich erhob mich schnell mit
schmerzendem Schädel, zog mich geschwinde und von
sonderbarer Furcht erfüllt an und ging eilig durch die
kleine Halle des Hotels auf die Straße. An der Ecke
standen viele Menschen am Schaufenster eines
Zeitungsbüros. Ich drängte mich durch und las die
blauen Schriftzeichen eines Telegramms, das den Tod
Kerns und Fischers meldete.
Obgleich ich keinen Augenblick an der ganzen
Wahrheit der nüchternen Nachricht zweifelte, glaubte
ich doch nicht aus meinem würgenden Traume gerissen
zu sein. Noch immer stürzte ich, kreiselte blitzschnell
um eine schief gelagerte Achse, und die Wucht des
Absturzes riß mir die Kleider in Fetzen vom Leibe.
Gleichzeitig aber hitzte die Reibung mit der auf-
gewühlten Luft sengend die Glieder, hüllte mich in
einen Rausch toller Glut, die mich langsam verbrannte.
Ich fühlte mit prickelndem Schauder, wie die Glieder
kohlten, wie der Kopf sich löste und nun abgetrennt
seine eigene Bahn trudelte. Der Kopf war es auch, der
sich zuerst fand. Er lag an kühles Eisen gebettet auf
einer Bank, und ein Schutzmann beugte sich über ihn.
Ich wehrte ab und ging taumelig und mit
zusammengezogenen Schultern durch die Anlagen. An
einem Teiche blieb ich stehn und warf ohne Gedanken
einige Steinchen ins Wasser. Sie plumpsten matt auf
den Grund, verschwanden im bewegten Wasser, im
Schlamm staubige Wölkchen auftreibend. Kleine
Fische stießen hinzu und schossen dann plötzlich
wieder davon. Als der Schutzmann nahte, ging ich
weiter. lch fühlte, wie der Schmerz an einer ganz
unbestimmbaren Stelle nagte, sich eingrub in die Haut,
die erstarrt und betäubt war wie von einer örtlichen
Anästhesie, so daß nur das Hirn litt in dem Gedanken
des unersetzlichen Verlustes. Das trieb mich auch, mich
zu vergewissern, noch einmal die Nachricht zu lesen
und in ihr die lebendige Qual zu finden, nach der ich
mich sehnte. In der Vorhalle des Bahnhofes standen die
Menschen wieder vor einem Anschlag, und ich bohrte
mich in den Haufen ein. Aber was da hing, war nicht
das Telegramm, sondern ein Steckbrief, mein
Steckbrief.
Ich hatte Mühe, das zu erkennen. Nicht mein Name
stand da oben sondern der, unter dem ich in Berlin
gelebt. Aber Anzug und Mantel die ich zur Stunde trug,
waren beschrieben und sachdienliche Mitteilungen
erbeten. Ich drehte mich langsam heraus aus der Menge
und saß eine halbe Stunde später in der Bahn.
Aus jedem der schmutzigen, halberblindeten Fenster
des Bahnhofes grinste mich eine teuflische Fratze an.
Die gellen Geräusche in der Halle vibrierten in mir
nach und ließen den Wunsch, eine große Flasche
hochprozentigen Weinbrands auf einmal zu leeren, fast
zur rasenden Gier anschwellen. Ich stolperte zum
Ausschank und ließ mir eine Flasche geben und
kümmerte mich nicht um die Zeitungsboten, die ihre
Blätter ausriefen und den Tod der Freunde in das
brausende, gleichgültig Getümmel schrien. Als ich aber
die Flasche im halbdunklen Abteil entkorkt hatte, stieg
mir der Dunst des Alkohols widerlich in den Kopf und
ich lehnte mich erschöpft zurück, und ich glaubte, mich
nicht betäuben zu dürfen, glaubte, daß es unwürdig sei,
so mir hinwegzuhelfen über das, was nun auf mich
eindringen mußte. Ich warf die Flasche in das Gepäck-
netz und hockte stumpf in der Ecke, bis sich der Zug in
Bewegung setzte.
Ein feister Herr entfaltete die Zeitung. Ich las die
Namen, las sie immer wieder, sie standen fettgedruckt
über den Spalten. Ich las sie ganz kalt, als ob sie mich
nichts angingen, und lauerte doch darauf, daß der fette
Herr mit dem goldenen Kettchen über dem schwer
hangenden Bauche auch nur eine einzige abfällige
Bemerkung über die Freunde machen würde. Fast tat es
mir leid, als er schmatzend die Seiten blätterte und sich
in den Handelsteil vertiefte. So wurde ich um die
Entspannung betrogen, die darin liegen mußte, ihm in
das wabbelnde Gesicht zu schlagen. Die drei Herren,
Geschäftsreisende, wie es schien, die am Fenster eifrig
Skat spielten, erzählten sich während des Mischens und
Austeilens der Karten Witze. «Als Rathenau in den
Himmel kam», sagte der Herr mit dem schwarzen
Bärtchen und dem sächsischen Tonfall, «traf er dort
den Erzberger. «Das müssen wir aber bei einer Flasche
Wein feiern», rief Erzberger und rief den Petrus, aber
Petrus sagte, er dürfe keinen Wein ausschenken, denn
der Wirth sei noch nicht da...»
«Was erdreisten Sie sich...?» schrie ich und sprang
hoch und fühlte es in mir aufspritzen. Also deswegen
fiel Kern, damit diese schleimigen Lumpenkerle ihre
Witzchen reißen durften, dachte ich, und ich schrie:
«Du Schweinehund, ich schlag dir das Wort in deinen
dreckigen Schlund zurück!» und sprang ihn an, indes
mir die rote Welt im Hirne kreiste. Sie kreiste und riß
mich herum, und ich war plötzlich hochgeschleudert
und fiel dann, fiel im sausenden Schwung und hörte nur
noch: «Der ist ja besoffen», und wollte lallen, daß ich
nicht besoffen sei, aber ich taumelte und sank.
«Bleiben Sie ruhig liegen, ich bin Arzt», sagte der
Herr, der mich wieder auf die Bank drückte, die das
Pochen des ratternden Zuges in meinen dröhnenden
Kopf übertrug. Er sagte: «Mann, Sie haben ja hohes
Fieber, Sie dürfen nicht weiterfahren, Sie müssen auf
der nächsten Station aussteigen und in ein Kranken-
haus.» Ich wälzte mich beiseite; das Abteil war leer, die
Fenstervorhänge zum Gange zugezogen. Ich wehrte
dem Arzt, entzog ihm den Puls, raffte mich mühsam
hoch. Er redete besänftigend auf mich ein. Aber ich
schüttelte den Kopf und stand auf. Der Mantel, unter
dem ich bedeckt gelegen hatte, fiel zu Boden, und aus
seiner Tasche rutschte die Pistole. Hastig griff ich
danach, fiel beim Bücken wieder auf die Bank und
steckte die Pistole ein. Der Arzt sah die Waffe, blickte
mich prüfend an und ließ mich dann gehen. Ich schob
mich an den Wänden des Ganges entlang, stolperte in
den Abtritt, sah im Spiegel mein kalkweißes Gesicht
mit den roten Flecken und gab inbrünstig von mir.
Die ganze Fahrt über hatte ich mit dem Fieber zu
kämpfen. Ich stierte so lange auf einen Fleck, bis die
tanzenden Gesichte wieder erstarrten. In den Augen-
blicken des völligen Zusammensinkens strichen alle
Bilder vorbei, die meinem Leben den Inhalt gaben. Nun
hatte alles keinen Sinn mehr. Rathenau war tot, und
damit lohnte es sich nicht mehr, zu kämpfen. Kern war
tot, und damit lohnte es sich nicht mehr, zu leben. Jetzt
konnte ich nichts mehr tun, als auf eine anständige Art
aus dem Leben gehen. Es war alles wertlos gewor-
den... Das Fieber, das mir nie Knochen dörrte, schien
mir ein Sinnbild der Wirklichkeit, der ich mich nicht zu
entziehen wagen durfte, ohne die Aufgabe zu
verfälschen, noch nie war ich krank gewesen, nun, im
Augenblick des Todes meines Freundes, packte es
mich. Ich selbst verbrannte, weil alles brennen mußte,
was brennbar war. Diese satte, widerliche Welt mußte
ausgerottet werden. «Ausrotten, ausrotten», knallte der
Zug über die Schienen. Es gab ja keine Menschen
mehr. Es gab ja nur noch Fratzen. Sie ist ja schon da,
die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt!
Dazwischenknallen. Vernichten, kalt und systematisch.
Die Erde verträgt ja keine Teufel mehr. Sie müßte dem
Satan zufallen wie eine faule Frucht, wenn er wiederum
sein Reich aufrichtet. Warum den höllischen Kontrakt
nicht unterschreiben? Ich würde mir wünschen,
unsichtbar zu werden. Wenn es doch ein Mittel gäbe,
eine Zaubersalbe, oder feinen Ring, den man einmal am
Finger drehen muß, eine Tarnkappe, die nicht
Siegfried, die Hagen geweiht, — vielleicht den Stein
der Weisen, den man in den Mund steckt, um
unsichtbar zu sein! Und Kern sollte eine Fackel
angezündet werden, ein Fanal, das über die
Trümmerfelder leuchtet — Feuerbrände in die Städte,
straßauf, straßab, und Pestbazillen in die Brunnen. Der
Gott der Rache hatte seine Würgeengel. Ich melde mich
zu dieser Formation. Da soll kein Blutkreuz an den
Pfosten helfen. Sprengstoff unter diesen verrotteten,
stinkenden Brei, daß der Dreck bis an den Mond spritzt.
Wie sich die Welt wohl ohne Menschen schickt? Ich
würde durch die qualmenden Räume streifen, durch die
fahlen, entvölkerten Städte, in denen der Leichenduft
das letzte Leben erstickte, der ganze Plunder hinge
dann in traurigen Fetzen von den gespaltenen Wänden
und zeigte die hohlen Wünsche nackt. Ich würde die
Maschinen in den toten Fabriken anstellen, daß sie sich
selber zerschmettern im rasselnden Leerlauf, zwei Züge
würde ich heizen und aufeinanderprallen lassen, daß sie
sich bäumen und krümmen und türmen und zerspellt
die Böschung herunterrollen; die Ozeandampfer, die
Riesenschiffe, die Wunder der modernen Welt würde
ich unter Volldampf gegen die Steine der Hafenmauern
jagen, bis sie ihre gleißenden Bäuche aufreißen und
zischend in der aufgewühlten Flut verkochen.
Glattrasiert müßte die Erde werden, bis nichts mehr
stand, was Menschenhand gebaut. Vielleicht kommt
vom Monde oder vom Mars eine neue Rasse, ein
edleres Geschöpf, das die Erde bewohnt; Her damit, die
Welt soll wieder einen Sinn bekommen. —
Im Münchner Hauptbahnhof stand Treskow,
Fähnrich der Infanterieschule und früherer Kadetten-
kamerad. Er sah meinen Zustand und führte mich durch
die Stadt in die Kaserne und bettete mich auf ein
leichtes Lager in seiner Stube. Kameraden kamen
herzu. Ich sah die Uniformen und wollte hoch, wollte
zur Pistole greifen, mich wehren. Sie drückten mich
nieder. Ich schrie, glühend und zuckend, den Namen
Kern. Sie stellten Wachen aus auf die Gänge, damit
kein Offizier in die Stube kam. Treskow braute eine
Mischung aus Pfeffer und Spiritus, die gossen sie mir
in den brennenden Schlund. —
Ich erwachte sehr matt, aber ganz klar. In der
Infanterieschule konnte ich nicht bleiben. Die
Kameraden riskierten Stellung und Beruf. Treskow
brachte mich bei einer befreundeten Familie unter. Ich
schlief nun jede Nacht woanders. Ich konnte nun
wieder schlafen, das höllische Gebräu Treskows hatte
mir das Fieber radikal aus den Adern gejagt.
Was blieb, das war die jagende Unruhe der Flucht.
Daß über kurz oder lang doch einmal das Ende kam,
wußte ich; aber gerade darum haschte ich nach der
vollen Gnade jeder einzelnen Sekunde, glaubte die
ganze farbenreiche Skala der Empfindungen in die
gedrängte Zeit pferchen zu müssen, und betrog mich so
um den eigentümlichen Gehalt, den ich ersehnte. Ich
strich mager und mit offenen Nerven die Wege,
gleichsam jedes Wunder erwartend, aber wenn ich
seine nahenden Schatten schon spürte, im unvergleich-
lichen Blau der Luft, in der sich glänzend und schneeig
die zackigen Linien der fernen Berge malten, im
Klimmen über die Felsen zu immer höheren Graten, in
den rieselnden Stunden zwischen nachtrauschenden
Bäumen und Büschen, drängte ich gierig nach fernerem
Glanz, in dem reiner der Klang und tiefer der Ton um
glühendere Bilder schwingen mußte. So stürzte ich
gleichsam wie die Wasser der Isar über die
schimmernden Steine und fand mich dort, wo der
Strudel dem Strudel begegnet und die Flut kristallen
über schweigenden Löchern steht, in tiefen Räuschen,
zu denen der peitschende Hieb des Bewußtseins nicht
mehr dringen konnte.
Nicht weil ich die Einsamkeit des Flüchtlings als
feindlich empfand, sondern weil ich mir das Glück des
Versinkens nicht gönnen zu dürfen glaubte, suchte ich
wieder Verbindung zu den Kameraden. Aber wenige
nur traf ich, und diese waren flüchtig gleich mir. Die
Mannschaft, die Kern durch seine Tat zur Einheit
zwingen wollte, zerplatzte durch sie. Nur langsam
fanden sich die einzelnen wieder. Aber das Gerüst, das
sich in den Monaten des Kampfes fast selber gebaut,
war zerstört. Die Bayrische Holzverwertungs-
gesellschaft bestand nicht mehr. Wenn sie auch niemals
Holz zu verwerten hatte, so hatte sie nun auch die
Belegschaft verloren, vom Chef bis zum letzten
Handlanger. Die Deckfirmen hatten ihren Kredit
verloren, seit die Polizei in die nicht geführten Bücher
Einblick zu gewinnen versuchte. So war das gefährdete
Grüppchen, das in Hinterhäusern, in Bauernhöfen und
Sennhütten hauste, völlig auf sich allein angewiesen
und suchte nach Möglichkeiten, dem Mahlstrom der
Flucht zu entgleiten, und fand sie im Entschluß zu
neuer Handlung.
Da Bayern sich dem Verlangen des Reiches
widersetzte, den Staatsgerichtshof zum Schutze der
Republik anzuerkennen, entsandte der preußische
Staatssekretär für öffentliche Ordnung seine Spitzel
nach Bayern, die, als Weismannspitzel bekannt, selbst
in den Tälern des Gebirges nach den Aktivisten
spürten. Die Hatz galt es durch Widerhatz zu stören,
und ich fuhr in die Berge und strolchte um die
Bauernhöfe und nächtigte in den Jagdhütten, und mit
mir die andern, ein jeder fand seinen Bezirk. Bald war
es so, daß sich immer mehr der Geächteten zum
verlorenen Haufen fanden und nun in ganzen Kolonnen
hausten, das Geld teilten, die Vorräte und Kleidungs-
stücke, nur nicht die Mädchen, und das Land unsicher
machten vom Bodensee bis Reichenhall. Viele
zweigten sich ab, verschwanden nach Ungarn und der
Türkei, um wiederzukehren, wenn es Zeit wäre. Viele
auch schlichen sich wieder ins Reich zurück, und viele
blieben verschollen.
Einer kam und erzählte vom Grabe Kerns im
Schatten der Burg. Er berichtete, daß Dieter getreulich
zwei Anzüge zusammengepackt habe, um sie den
beiden Freunden zu bringen, daß er aber, an der Burg
angelangt, vergeblich nach ihnen suchte. Der Turm war
verschlossen; auf sein Rufen zeigte sich niemand. So
legte er den Packen in den Westturm, in dem er später
gefunden wurde. Und Dieter wurde verhaftet. Es
wurden viele verhaftet, fast alle, die im Dunstkreis der
Tat gestanden, und darüber hinaus, wer immer sich
einen Ruf als Aktivist verschafft. Nur den geheimnis-
vollen Unbekannten suchten sie noch, der mit Kern und
Fischer bis zum Augenblick der Tat zusammen ge-
wesen war.
Und wie der Name Kern fiel, wußte ich, der ich
immer an ihn dachte, ihn aber in seltsamer Scheu nie
auszusprechen wagte, daß meine Flucht eine
Fahnenflucht war, daß ich mich nicht verkriechen
durfte, daß ich tun mußte, was er getan härte. Und ich
kratzte bei den Kameraden in den Bergen alles Geld
zusammen, was auf mein Drängen hin abgegeben
werden konnte, und fuhr nach München zurück. Und
ich riß Autotüren auf vor den Reisenden, die zu den
Oberammergauer Festspielen wollten, und trug den
bebrillten Vogelscheuchen die Koffer, und wies die
behäbigen Holländer zu nahrhaften Lokalen und die
quäkenden Amerikaner zum Hofbräuhaus. Und ich
spekulierte an den Wechselstuben und sammelte auch
die geringsten Summen, denn der gefälschte Paß war
nicht billig, und die Fahrkarte nach Berlin zumindest
mußte zusammenkommen, eingerechnet die Kosten des
Aufenthaltes in Bad Kösen.
In den flatternden Tagen der Vorbereitung, die
keinen Wunsch und keinen Gedanken ausklingen
ließen, war ich mir vollkommen klar, daß das, was mir
zu tun verblieb, völlig unsinnig war. Ich mußte mir
wohl das Recht erst holen, zu tun, was Fischer tat. Und
es schien mir zu snobistisch, durch die Länder zu irren
wie die beiden, deren Schüsse am Kniebis ihr Opfer
suchten. Dazu hatte ich eine zu kleine Rolle agiert auf
der Bühne der Zeit, als daß es mir vergönnt sein dürfte,
die volle Würde der Flucht zu tragen. Der Herr am
Nebentisch des Kaffeehauses redete schon die ganze
Zeit von Bilanzen. Es war in der Ordnung, daß nun der
Strich gezogen würde unter die Rechnung. Mir schien
die Spanne zu groß zwischen Aufwand und Ergebnis.
Der Sumpf hatte Blasen getrieben unter der Detonation,
aber nun sickerten alle Wässerlein weiter. Ich hatte alle
Zeitungsberichte über den Mord gesammelt. Ich hätte
es ertragen können, wenn uns der Haß entgegenspritzte,
der ganze, verwundete, über den Tag hinaus siegreiche
Stolz der Angegriffenen, aber was da stand, das traf den
Kern der Dinge nicht, das war klein, das war nackt und
häßlich in all seinem routinierten Pathos, das war reine
Polemik gegen alte Feinde, die Feinde waren, weil sie
allzu ähnlich der Art. Rathenau starb, und diese
Achtbaren lebten weiter, bespritzten sich weiter, und
keine Lücke blieb. Rathenau war tot, und die anderen
putzten zum hundertsten Male ihre abgenützten
Attrappen auf und stellten sie in die Schaufenster.
Rathenau fiel, und die sich seine Freunde nannten,
machten wiederum die Bestandsaufnahme, aber keine
Neuheiten waren unter dem Gerumpel. Lohnte es sich
noch, diese Bezirke anzugreifen? Es lohnte sich nicht.
Also waren wir überflüssig geworden. Also mußten wir
verschwinden. Wir mußten verschwinden, und ohne
Pose mußte es geschehen. Aus. Schluß. Abtreten. Die
Welt will Ruhe haben zum Verfaulen.
Die Kellnerin kam und flüsterte mir zu, Herr
Treskow ließe mir bestellen, an der Tür ständen zwei
Weismannspitzel und beobachteten mich. Ich sah auf
und erblickte Treskow an einem entfernten Tische. Ich
beredete die Kellnerin, mir zu helfen. Sie war sogleich
bereit, mich in ihrer Kammer unterzubringen. Ich stand
auf und folgte ihr unauffällig. Dann saß ich mit
würgendem Ekel im Halse hoch oben in ihrer Kammer,
allein, verkrochen, gedemütigt. Ich hatte Furcht, daß
die Furcht mich am Kragen packen könne. Schon in
den letzten Tagen war es mir verwunderlich vor-
gekommen, daß es so viele Schutzleute gab. Nein, so
schlichen wir uns nicht davon. Sollte ich ewig vor
diesen subalternen Gestalten flüchten, mich bebend
umsehn nach den Verfolgern, ausgeliefert sein ihrem
spähenden Jagdtrieb? Hoppla, Vetter, es wird weiter
geputscht. War ich toll, zu resignieren? War ich krank,
den anderen recht zu geben? Wozu hatten wir die
tüchtige Polizei? Ich war auch Steuerzahler. Sie mußte
etwas zu tun bekommen. Ich zählte die Barschaft nach,
es mußte gehen. Den Auftrieb mußte ich gefangen-
halten, keine Zeit war mehr zu vergrübeln.
Es war soweit. Ich saß im Zuge. Ich zweifelte keinen
Augenblick daran, daß ich unvernünftig war. Zum
Teufel mit der Vernunft! Ich saß im vollgestopften
Abteil und fraß mich dick mit Haß und Ekel an den
Gerüchen der anderen. Sie sprachen von ihren
Geschäften, vom Geldverdienen. Hier war eine glatte
Million zu ergattern. Wenn diese traurigen Gesellen nur
darum wüßten. Der Kriminalbeamte der Strecke kam
zur Paßkontrolle, Pech für ihn, daß mein Paß in
Ordnung war. Ich stand auf und ging auf den Gang
hinaus und öffnete das Fenster und stand die ganze
Fahrt hindurch und starrte in die Nacht. Ich wollte noch
einmal nach Hause. Denn das Hemd mußte gewechselt
werden, ich hatte es schon drei Wochen auf dem Leibe,
es war schon gelb und brüchig. Ich lächelte schwach
über meine Sorgen, stieg aber doch aus, als der Zug in
den vertrauten Bahnhof einlief.
Im Kiosk saß ein anderer junger Mann und wechselte
Geld. Ich dachte an Kern, der so oft mit mir in dem
engen hölzernen Kasten gesessen. Ich ging in meine
Wohnung und riß die Kleider vom Leibe und verstreute
sie in der Stube, nur den Rock, in dessen Tasche die
Pistole steckte, hängte ich sorglich über einen Kasten.
Während ich Fluten Wassers über mich spülte, hörte
ich ein Geräusch an der Tür. Ich blinzelte unter dem
Arm durch und sah auf der Schwelle die Beamten
stehen. Und zugleich stieg eine wilde Freude in mir auf.
Da war es soweit. Da kam das Ende. Ich rief fast
jubelnd: «Einen Augenblick, bitte!» und rannte zum
Rock und griff in die Tasche. Da schob sich ein Arm
über meine Schulter und drehte mir die Waffe aus der
Hand.

DIE VERBRECHER

Für das Herz dagegen gilt der alte Spruch, daß den
Unerschrockenen die Ruinen nicht verschütten können.

ERNST JÜNGER
Verurteilt

«... zu fünf Jahren Zuchthaus und fünf Jahren Verlust


der bürgerlichen Ehrenrechte.»
Wir hörten in erniedrigendem Stehen den
Urteilsspruch, der jeden von uns für lange Jahre in
Dumpfheit und enge Starre stieß und uns die
bürgerliche Ehre absprach. Wir hörten, ohne es recht zu
fassen, das Gemurmel aus dem Zuhörerraum auf-
steigen, als der Vorsitzende des Staatsgerichtshofes
zum Schutze der Republik die Strafen ablas von dem
knisternden weißen Bogen; wir sahen ihn mit der
milden Strenge, die ihm so wohl anstand, mißbilligend
in den Raum blicken und dann beruhigt fortfahren im
monotonen Vortrag, bei jedem Namen sacht die
Stimme etwas erhebend, und die Zahlen, von denen
jede eine einen uns mit einer Qual belud, die noch nicht
meßbar war, an die Stille gebend, wie man einen Ball
weitergibt, mit der leise triumphierenden Forderung:
«Fang!»
Wir waren verurteilt. Und wir begriffen es nicht,
denn in uns war kein Raum für das Begreifen, in uns
war nicht einmal Spannung, sondern nur der grüne Ekel
und die Sucht nach frischer Luft. In tagelanger,
grotesker Gerichtsverhandlung sahen wir in feier-
lichem, mit den Bildern der deutschen Kaiser
geschmücktem Saale in verschabtes, altmodisches
Schwarz gekleidete Männer auf mit goldenen Kronen
gezierten Eichterstühlen sitzen, Männer, die ein
scharfer Duft Kleinbürgerlichkeit isthüllte und in deren
ausdruckslosen, muffigen Gesichtern, in deren
geröteten, wässerigen Augen nur die Funken eines
kalten, höhnischen Hasses blitzten, sonst nichts. Wir
hörten den Vertreter des Staates, den Oberreichsanwalt,
der in vergangenen Kaiserzeiten zu Macht, Ehre und
Ansehen gelangte, nun in eine pompöse Robe gehüllt,
mit messerscharfer Stimme Sätze in den Saal
schleudern, die sich in einem Hirne verdichtet, in dem
kein Platz für anderes als eisige und geglättete Para-
graphenlogik. Wir sahen sich im Zuhörerraum drängen
eine Schar mit schieberischer Eleganz gekleideter,
brillantengeschmückter Frauen, die nur in erregenden
Momenten aufhörten, ihre Pralinen zu lutschen, die ihre
seidenbestrumpften Beine auffordernd übereinander-
legten und durch Lorgnons und Operngläser die
Angeklagten, über deren Schicksal gewürfelt wurde,
beobachteten, wie man wilde, schöne und interessante
Tiere beobachtet, die hinter sicheren Käfigstangen
hocken. Wir sahen am Pressetische schmale, knochen-
lose Jünglinge und würdige, bebrillte Spießer, deren
mummelnden Gesichtern man beim Schreiben ansah,
welchen Seim und Schleim sie über die Dinge, die sie
nicht verstanden, einer gläubigen und von ihnen selbst
verachteten Leserschüft mitzuteilen hatten. Wir sahen
Zeugen auftreten in Bratenrock und sorgsam gezupfter
Krawatte, die mit vor Erregung zitternder Stimme die
Eidesformel nachstotterten, mit oder ohne den lieben
Gott, und mit scheuen Seitenblicken auf die
Anklagebank Aussagen formulierten, die sich in einem
Atemzuge dreimal widersprachen. Wir sahen selbst-
bewußte Gestalten vorstampfen, die verständnisvolle
Blicke mit den Beisitzern wechselten und durch
Lautheit und Bestimmtheit ihren Anschuldigungen
vergeblich einen Schein von Wahrheit zu verleihen
suchten.
Und wir saßen in unseren Bänken, blickten auf die
bunten, mit den Wappen der deutschen Städte
geschmückten Fensterscheiben, durch die ab und zu ein
gleißender Sonnenstrahl freundlich in den dumpfen
Saal griff. Wir saßen und hörten Rede und Gegenrede,
antworteten nur widerwillig und mit würgendem Ekel
im Halse auf Fragen, die uns so gleichgültig, so am
Wesen der Sache, am Eigentlichen, an aller seltsamen
Tragik völlig vorbeisehend schienen, antworteten mit
dumpfem, schmerzendem Schädel, ermüdet, gepeinigt,
nur zuweilen in aufzuckender Lust auf unsäglich
alberne Fragen einen Trumpf setzend, der uns die
moralische Entrüstung aller treuherzigen Biedermänner
eintrug.
Wir kamen aus monatelanger Untersuchungshaft.
Wir kamen aus der Stille, die fast schmerzhaft war, als
wir ihr ausgeliefert wurden. Als wir hineingestoßen
wurden in die Ausschließlichkeit der nackten vier
Wände, stürzten wir, jeder einzelne von uns, sobald die
Tür sich rasselnd schloß, mit dem ersten Instinkt des
Gefangenen zum Fenster, um an den Gitterstäben zu
rütteln. Aber dann überfiel uns der graue Schatten, vor
dem die bunten Bilder der Welt aus dem Räume flüchte
ten, um in uns sich wiederzufinden und in glühenderen
Farben und in hitzigerer Bewegtheit sich auf die innere
Fläche des verschlossenen Blickes zu projizieren. Und
was im Gestern noch wahr gewesen und lebendig und
voll heischender Ansprüche, das versank und kam nur
zu uns wie die verworrenen Geräusche, die über
Mauern und Höfe hinweg zu uns drangen, wenn die
Lichter erloschen und nur noch die rastlosen Schritte
über uns, neben uns, in zermarternder Eintönigkeit von
Menschen und Leben zeugten. Langsam sänftigte sich
der Wirbel, in dem wir kreisten, und wie wir uns ins
Grübeln verloren, so fanden wir uns an den neuen
Maßstäben, die uns der drängende Tag versagt und die
Stille nun bot. In uns verdichtete sich, was draußen
durch das laute Getriebe, dem wir dienten, verdeckt
und auseinandergerissen, in uns bohrte sich Gewißheit
und Trotz. Wir suchten nicht nach Rechtfertigung und
waren entschlossen, uns zu wehren mit allen Mitteln,
die auf der verlagerten Ebene den Kampf bestimmen
mußten.
Es kamen die fuchsgesichtigen Herren, Kommissare,
Richter, Staatsanwälte. Und die gleißende Freundlich-
keit, mit der sie sich gaben, so human und so rührend
sprechend von unserer Jugend, von unserem heißen
Wollen, das uns ja auszeichnet, gewiß, aber das in
dieser Welt voll harter Realitäten doch gefährlich wäre,
die besorgten Fragen nach unserem Wohlergehen, die
treue Mahnung, doch vertrauensvoll uns ihnen
aufzuschließen, riß alle mißtrauische Wachheit empor,
wappnete uns mit federnder Gespanntheit, in der alle
Nerven nach den feindseligen Untergründen tasteten,
ließ uns genau erkennen, was echt, was falsch, und
erkennen im Echten die Lauheit und im Falschen die
feige Flucht vor der Gesinnung, die Furcht vor dem
Kampfe mit dem offenen Visier.
Es kam der Herr Untersuchungsrichter, ein alter
Freund meines Vaters, der einst im Hause meiner
Eltern verkehrte und nun warmherzige Worte dem
Verstorbenen widmete und mich beschwor, doch ihm,
dem väterlichen Freunde, die Wahrheit zu sagen, die
volle Wahrheit, auf daß ich milde Richter fände, Und
der Herr mit dem Gesicht der herrschenden Klasse
kam, unendlich ehrbar, mit feierlichem Gehrock
angetan, zu meiner Mutter und murmelte tief-
empfundene Worte des Beileides und empfahl seine
treusorgende Hilfe. Und sagte kein Wort davon, daß er
mein Untersuchungsrichter sei. Aber daß er die volle
Wahrheit wissen müsse, um helfen zu können, das
sagte er, und hörte sich ergriffen an, was ihm die alte
Dame, tränenüberströmt und seine Freundeshände
dankbar drückend, erzählte, und hielt es mir bei der
Vernehmung Wort für Wort höhnisch vor und
verwertete es ausgiebig im Protokoll.
Wir lernten viel in jenen Tagen. Wir lernten, das
Gefängnis als einen der möglichen Räume zu
betrachten, in denen man sich der Niederträchtigkeit
entziehen konnte durch die latente Sicherheit der Kraft,
die aus jeder schweigenden Stunde entgegenwuchs.
Wir lernten, jeden Wert auf die Waagschale zu legen
und zum billigen Gerümpel zu tun, was vor der nackten
Forderung der letzten Verlassenheit nicht bestand. Wir
lernten, uns selber zu verstehen.
Wenn wir in den langen Nächten auf- und
abwanderten in der Zelle, sechs Schritt hin und sechs
Schritt zurück, ruhelos, dann wußten wir, daß wir ewig
ruhelos sein werden. Dann wußten wir, daß es für uns
keine Erlösung gab, daß hinter jeder Schranke, die wir
voller Hoffnung durchbrechen, sich eine neue Ebene
breitet, mit neuen, reicheren Hoffnungen. Und da wir
mit unserem Wege wachsen mußten oder auf ihm
untergehen, durfte uns keine Probe kleiner finden als
die Schuld, durch die wir schritten. Denn unser war die
Schuld, sie war einzige, was unser war. Nicht durften
wir uns ihren Besitz schmälern lassen, sie preisgeben in
leichtem Geständnis, nicht durften wir die Strafe
anerkennen, die uns ihrer einen Teil zu nehmen
geeignet war. Ihrem Gesetz mußten wir uns
unterwerfen, und nicht den Gesetzen der Menschen, die
sie zu tilgen streben.
Ewig werden wir ruhelos sein. Denn uns ist ein
Entrinnen unmöglich gemacht, und unmöglich ist uns
das Finden in eine Welt, der es vor sich selber graut.
Und gleichwie innerhalb der alten Ordnung die neue
Flutung schon vor allen Dämmen stand und drohte, die
versteinerten Formen des Lebens zu zermalmen, so
grub sich alles, was unsere Zeit bewegte, in uns
unvertilgbar ein, drang in alle Ritzen unserer Haut und
durchsetzte das Gewebe der Bindungen mit gefähr-
lichen Rinnsalen. Wir waren krank an Deutschland.
Wir empfanden den Prozeß der Wandlung wie einen
körperlichen Schmerz, dem die Lust der tiefen
Mitternacht nicht mangelte. Wir standen immer im
Flackerscheine der Entladung, wir standen immer da,
wo der Akt der Verbrennung sich vollzog, wir hatten
teil an diesem Akt. Und so, gestellt zwischen zwei
Ordnungen, zwischen die alte, die wir vernichten, und
zwischen die neue, die wir schaffen halfen, ohne in
einer von ihnen Platz zu finden für unsere Wesenheit,
so wurden wir ruhelos, heimatlos, verdammte Träger
furchtbarer Kräfte, stark durch den Willen zur Schuld
und verfemt durch ihn. Wo sollten wir jemals die letzte
Stellung beziehen, wann sollten wir uns jemals
begnügen können? Wir waren ein verfluchtes
Geschlecht, und wir setzten ein Ja dahinter.
Und da wir dies erfuhren, mit der ausweglosen
Gewißheit zergrübelter, durchwanderter Nächte,
empfanden wir höhnisch das Unvermögen derer, die zu
Gericht sitzen wollten über uns. Nicht konnten wir Ge-
rechtigkeit verlangen, da wir Gerechtigkeit als sittliche
Forderung niemals anerkannt. Kein Gerichtshof der
Welt konnte uns eine Last diktieren, die uns im
innersten Kerne treffen konnte. Was konnte uns mehr
zugefügt werden, als wir uns selber zugefügt?
Am Tage der Verhandlung grüßten wir uns mit
fröhlicher Verlegenheit auf den Gängen, nahmen Platz
in der umzäunten Anklagebank und musterten neu-
gierig den Apparat, der aufgezogen war, um ein Recht
zu sprechen, an dessen Qualitäten wir nicht zu glauben
vermochten. Denn es ging nicht um das Recht, es ging
um den Bestand, der angegriffen war. Uns schlug eine
Welle dumpfen Hasses entgegen, und wir fühlten uns
behaglich darin. Denn dieser Haß besaß nicht die Kraft,
offen zu sein. Wir sahen die Richter erscheinen, deren
Züge so erstarrt waren in Ernst und Würde, daß sie wie
Masken erschienen. Und wir spürten, daß dies die
Maske des Rechtes war, die sich die brutale Gewalt
vorgebunden, jene Gewalt, die wir auch hinter der
Verschleierung achten zu können glaubten, ohne diese
Achtung auch auf die Männer, die die Gewalt
verfochten, auszudehnen. Denn diese mißbrauchten die
Maske des Rechts; weil sie fürchteten, man möchte den
Zweck untersuchen, für den die Gewalt geschähe,
darum, schien es uns, banden sie sich die Maske vor.
Wir waren sicherer als jene, denn wir wußten, daß
Recht nur da sein konnte, wo eine Gemeinschaft glaubt.
Aber wo war die Gemeinschaft, die glauben konnte, die
das Recht begriff in einsatzbereiter Verantwortungs-
freudigkeit als tiefe, mystisch bindende, beseelte und
beseelende Kraft?
Aber dann ließen wir uns gefangennehmen von der
gut geölten Maschinerie. Obgleich wir wußten, daß
alles, was immer auch wir oder die Anwälte sprachen,
am Resultat nicht viel mehr ändern würde, als wenn
wir, statt Rede und Antwort zu stehen, Erbsen an die
Wand würfen, obgleich wir dies wußten, bewunderten
wir. Hier war ein Apparat, der beherrscht wurde und
der beherrscht werden mußte. Gleichsam in einem
luftdicht abgeschlossenen Raume lief die Maschine, in
Kraft und Bewegung als abgeschlossenes Ganzes, als
Ding an sich formschön und sicher. Und das Sausen der
Schwungräder übertönte jedes Geräusch der
anmaßenden Welt, schaltete das Hintergründige wie
das Hergekommene aus, ließ menschliche Schwächen
wie menschliches Wollen verstummen vor dem
atemraubenden Spiel mit der Materie.
Die einzige Sekunde, die wir, uneingestandener-
maßen vor uns selber, fürchteten, der Augenblick, da
der Mensch Rathenau im Gerichtssaale aufstehen
würde, ein drohender, Schweigen gebietender Schatten,
diese Sekunde kam nicht, Der Minister war die
indeterminierte Person, deren Tod Sühne verlangte,
nichts weiter. Einmal schien es, als ob ganz unkorrekt
zwischen Frage und Frage ein leiser Ton Achtung
heischte, aber beinahe verlegen wischte der Richter den
peinlichen Ansatz hinweg, und weiter arbeitete die
Maschine.
So sehr abseits geschah dies alles, daß es uns nicht
zum Bewußtsein kam, an welchen Punkt, an welchen
Satz die exakte Geheimwissensehaft die Entscheidung
über unser äußeres Schicksal band. Wir saßen und
staunten, und leise regte sich der Wunsch, die
Spielregeln kennenzulernen, um diese unvergleich-
lichen Vorgänge in ihrer ganzen, eleganten Energie
fassen und formen zu können. Nicht einmal kam mir
der Gedanke, daß jedes Wort, das soeben gesprochen
wurde, über Jahre meiner Freiheit entschied.
Es handelte sich aber darum, ob meine Fahrt nach
Hamburg, um den Chauffeur für das Mordauto zu
holen, im Sinne des Gesetzes als Beihilfe aufzufassen
sei oder nicht. Und der Oberreichsanwalt führte eine
Reichsgerichtsentscheidung an, nach der es als Beihilfe
zu bestrafen sei, wenn der Verlobte eines Mädchens,
das zu einer Abtreibung schreite, diesem ein dazu
dienliches Instrument verschaffe, auch wenn das
Mädchen dies Instrument nicht benutzt. Und Dr.
Luetgebrune, ganz niedersächsischer Bauernstämmling,
erhob sich und verwies mit der höflichen Überlegenheit
des erfahrenen Juristen auf eine ähnliche Reichs-
gerichtsentscheidung, Band soundsoviel, Pagina
soundsoviel, nach der allerdings zutreffe, was der Herr
Oberreichsanwalt soeben vorgetragen habe, in dem
Falle aber, da das Mädchen das angebotene Instrument
ausdrücklich zurückweise, die Beihilfehandlung nicht
erffüllt sei. Und der Herr Oberreichsanwalt trank ein
Glas Wasser und blätterte weiter in den Akten,
In den Pausen aber, da das dröhnende Gelächter der
politischen Laienrichter aus dem Nebenraume an unser
Ohr schlug, in den Nächten zwischen den Verhand-
lungstagen, da wir aufgewühlt und mit schmerzenden
Augen zu dem schmalen, vergitterten Viereck stierten,
durch das die blaue Luft der Nacht in die Zelle drang,
überfiel uns die würgende Angst vor dem Unbe-
stimmten, das in allen Ecken lauerte. Wenn immer uns
das Leben begegnete, warfen wir uns heran an seine
zitternden Erscheinungen, und wenn es uns bedrohte,
so konnten wir uns wehren und hatten es auch
genugsam getan. Aber was nun kam, war das überhaupt
noch Leben? War es nicht vielmehr etwas, das ganz
außerhalb seiner Formen stand, nicht Tod war und doch
Tod, nicht Leben und doch Leben? Wir hatten nichts so
sehr ersehnt wie die Freiheit, Und die Freiheit war nun
uns genommen, und keiner wußte, auf wie lange Zeit.
Auf einmal waren ganz andere Forderungen gültig, und
mit ganz anderen Mitteln mußten sie erfüllt werden.
Auf einmal war uns die Möglichkeit des Wählens
genommen und mit ihr die tausend Möglichkeiten, die
uns zu Diensten standen. Auf einmal waren wir
ausgeliefert, bar der Würde, nackt als Mensch;
Nummer und ohne anderen Willen als den des Wärters,
es sei denn, es bräche, die Kraft, die bislang von außen
zu uns geströmt, nun mit verdoppelter Gewalt aus
unserem Innern. Vielleicht waren wir niemals so sehr
Individuum als nun, da wir ohne Individualität sein
sollten. Vor der tödlichen Isolierung mußten wir nun
bestehen — um wessentwillen? Um unsertwillen? Wir
waren es nicht gewohnt, um unsertwillen zu handeln.
Nun war uns auch das Handeln selbst genommen. Nun
hatten wir zu dulden. Aber Dulden ist ohne Sinn.
Das Erdulden schändet. Wir mußten durch die
Schande. Vielleicht machte uns die Schande stark! Sie
mußte uns stark machen. Niemals durften wir
unterliegen, nicht um unsertwillen durften wir es nicht,
sondern um der Erfüllung willen. Aber war nicht
vielleicht das Unterliegen der letzte Kelch? So sei es
denn; so sei denn auch dies; und verdammt wollen wir
sein, wenn wir es uns leicht machen.
So hörten wir den Urteilsspruch. Wir wurden
abgeführt. Als wir im Gange standen, legten uns die
Beamten plötzlich, zum ersten Male, die Handschellen
an. Sie rissen uns auseinander. Noch konnte ich
Techow zuwinken, der seine fünfzehn Jahre Zuchthaus
auf den Nacken nahm, als trüge er stolze Bürde, und
noch Zeit fand, zwei sensationshungrigen
Photographen die Kamera umzuwerfen.
Wir wurden im Gefängniswagen in unsere Zelle
abtransportiert. Und der blitzende Schupo-Offizier, der
immer verlegen um uns herumgestrichen war, gleich
als ob er noch die Kameraden in uns erkenne, ordnete
unsere verschärfte Sicherung an. Wir standen stehend
eingeklemmt in einem durch Rolläden verschließbaren
Schrank, der Ausgeburt raffiniertester Sicherungs-
technik, in dem man sich nicht rühren konnte, zu
ersticken glaubte und, brennenden Haß im Herzen, bei
jedem Holpern des Wagens gegen die Wände
geschleudert wurde. Wir wurden in der Zelle sofort
jedes Eigentums beraubt, das uns in den langen
Monaten der Untersuchungshaft wert geworden war,
dreifach verschlossen und verriegelt, als Parias, als
Verruchte, als eine von Hause aus schmutzige und
verbrecherische Bande, die nicht wert war, die Sonne
zu sehen, und nicht wert der Gesellschaft von
Menschen.
Wir wurden gefesselt. Eine Kette wurde uns um den
Leib geschlungen, die an dem einen Ende die Hand
umklammerte und an dem anderen von einem Beamten
gehalten wurde, der in Gemeinschaft mit einer Schar
seiner Kollegen uns im grünen Wagen durch die
Straßen geleitete, zum Bahnhof, zum Zug; Beamte, die
uns gutmütig herablassend versicherten, sie stünden mit
dem Herzen ganz auf unserer Seite, aber sie müßten
ihre Pflicht erfüllen — ihre Pflicht — und uns dann das
Rauchen verboten und sich in überpatriotischen
Tiraden ergingen, sich und uns auf angenehme Manier
die Zeit zu verkürzen. Wir wurden nach endloser Fahrt,
nach einem letzten Ausblick auf weite, grüne Felder
und dunkelragende Tannen, eingeliefert ins Zuchthaus,
in Empfang genommen von gleichgültigen, schlüssel-
bundrasselnden Beamten, die mit halbem Blick auf uns
ihr Frühstück verzehrten, unsere Personalien auf-
nahmen und höhnisch grinsten, wenn wir sagten:
«Beruf: Leutnant a. D.»
Und dann schlug die Zellentür hinter uns zu.

Zelle
«Du bist nun ein Gefangener! Die eisernen Stäbe
deines Fensters, die geschlossene Tür, die Farbe deiner
Kleider sagen dir, daß du deine Freiheit verloren hast,
Gott hat es nicht leiden wollen, daß du länger deine
Freiheit zur Sünde und zum Unrecht mißbrauchst;
darum hat er dir deine Freiheit genommen, darum rief
er dir zu:
Bis hierher und nicht weiter!
Die Strafe, die der menschliche Richter dir
zuerkannt, kommt von dem ewigen Richter, dessen
Ordnung du gestört und dessen Gebote du übertreten.
Du bist hier zur Strafe, und alle Strafe wird als ein Übel
empfunden, vergiß es nie, daß niemand daran schuld ist
als du allein!
Aber aus der Strafe soll für dich ein Gutes
hervorgehen. Du sollst lernen, deine Leidenschaften
beherrschen, schlechte Gewohnheiten ablegen, pünkt-
lich gehorchen, göttliches und menschliches Gesetz
achten, damit du in ernster Reue über dein vergangenes
Leben Kraft gewinnst zu einem neuen, Gott und
Menschen wohlgefälligen. So beuge dich unter das
Gesetz des Staates! Beuge dich auch unter die Ordnung
dieses Hauses, was sie gebietet, muß unweigerlich
geschehen. Besser also, du tust es gutwillig, als daß
dein böser Wille gebrochen wird! Du wirst dich wohl
dabei befinden, und die Wahrheit jenes Wortes wird
sich an dir bewähren:
Alle Züchtigung, wenn sie da ist, dünkt uns nicht
Freude, sondern Traurigkeit zu sein. Darnach aber wird
sie geben eine friedsame Furcht der Gerechtigkeit
denen, die dadurch geübet sind.
Das walte Gott!» —
Diese Worte standen eingangs des blauen Heftes der
Hausordnung, die in ungezählten Paragraphen und
nicht immer einwandfrei um Deutsch für so ziemlich
alle menschlichen Betätigungen außer dem Atmen und
der Arbeit Verbote enthielt, Verbote, die ich zu
übertreten oder zu umgehen von vornherein
entschlossen war. Das Heft hing neben der Müll-
schippe, dem Handfeger und dem Wischtuch an einer
schmalen Leiste über dem Kübel, einem Gefäß aus
braunem Ton in dreieckigem, immer feuchtem,
hölzernem Gestell. Der Kübel, auf dessen oberem Rand
der Deckel in einer mit Wasser gefüllten Rinne
schwamm, war laut Hausordnung täglich von innen und
außen mit Sand zu reinigen. Unter dem Kübel stand der
Spucknapf und der Putzkasten. Dieser anrüchigen Ecke
gegenüber war der Ofen, ein schräg abgedachter
Backsteinbau, der vom Gange aus geheizt wurde und
der an warmen Tagen unerträglich heiß und an kalten
nicht warm zu kriegen war. Neben dem Ofen hing an
die Wand gekettet das Bett, ein eisernes Gestell mit
braunen, rissigen Brettern, drei Seegrasmatratzen und
einem Kopfkeil, mit blaukarierter Wäsche überzogen;
ein Woilach diente als Zudecke. Das Bett mußte
tagsüber an einem eisernen Haken hochgekettet sein,
seine Benutzung außerhalb der Schlafenszeit unterlag
disziplinärer Bestrafung». Am Kopfende des Bettes
hing in Mannshöhe ein kleiner Schrank, der den
Eßkump, den Löffel, das Salzfaß, den Trinkbecher, den
Seifennapf und den hölzernen Kamm enthielt. Auf dem
Schränkchen stand die schmale Waschschüssel und der
Wasserkrug aus gepichtem Holz, unter ihm hing das
Handtuch. Gegenüber dem Bett nahm eine Hobelbank
die ganze Länge der Zelle bis zum Kübel ein. Unter
dieser stand der Werkzeugkasten, der des Abends beim
Einschluß herausgegeben werden mußte, lag das zu
bearbeitende Holz in rohen Klötzen gestapelt neben
dem Eimer mit dem Scheuerlappen und dem niedrigen
vierbeinigen Schemel. Auf der Hobelbank lag die Bibel
und das Gesangbuch, über ihr hing die Gaslampe unter
einem Schutznetz aus Draht, die abends von dem
Kalfakter, dem Gefangenen, der die Gänge reinzu-
halten, die Öfen zu heizen und das Essen auszuteilen
hatte, angezündet wurde und Punkt sieben Uhr wieder
erlosch. Dies war das Inventar der Zelle, die sechs
Schritt lang,; nicht ganz drei Schritt breit, etwa drei
Meter hoch und mit abgelaufenen Dielenbrettern belegt
war. Die Tür, eine von innen völlig glatte, mit einem
starken Schutzblech benagelte Fläche, war armdick und
hatte außen ein ungefüges Schloß, zu dem ein riesiger
Schlüssel paßte, einen breiten stählernen Riegel in der
Mitte, oben und unten je einen Verschlußbolzen und
ein kleines, mit Glas versehenes Guckloch, durch das
man wohl von außen nach innen, nicht aber von innen
nach außen sehen konnte. An der anderen Schmalseite
des Raumes, der von unten bis oben gekalkt war,
befand sich das Fenster. Dies war aber so hoch, daß
man gerade mit der ausgestreckten Hand das Sims
erreichen konnte, und es war nicht mehr als einen
Meter breit und etwa einen halben Meter hoch. Die
untere Hälfte des Fensters bestand aus geripptem Glas,
die obere war durchsichtig; diese war vermittels eines
an ihr befestigten Knüppels halb zu öffnen. Die
Gitterstäbe, sechs an der Zahl und zweimal quergeteilt,
waren zwei Finger breite, viereckige, stählerne
Stangen; vor ihnen spannte sich ein engmaschiges
Geflecht aus rostigem Draht. Vor dem Fenster aber, an
der Außenmauer eingelassen, hing eine Blendscheibe
aus starkem Mattglas, höher und breiter als das Fenster
selbst. So war es unmöglich, mehr als gerade nur ein
Stückchen des Himmels zu sehen. Die Zelle war stets
von entmutigendem Halbdunkel erfüllt. Sie war so
muffig wie die Eingangsworte der Hausordnung, und
die friedsame Furcht der Gerechtigkeit schien nicht
eben guter Herkunft zu sein; wenn je, dann wurde sie
geboren in jenem Zellenmief, in dem sich der
Gasgeruch mit dem von Schweiß, Fäkalien, Staub,
Wanzen und Speise mischte.

Kein Schall der Außenwelt drang durch die dicken


Mauern. Das Haus, erbaut im dreizehnten Jahrhundert
als von der heiligen Hedwig gegründetes Nonnen-
kloster, stand mit riesigen Pfeilern grau und hoch
inmitten des Städtchens, eine finstere Burg, bewohnt
von fünfhundert Ausgestoßenen, bewacht von sechzig
subalternen Säbelträgern. Die Stadt, mir nur bekannt als
der Ort einer für den Preußenkönig gloriosen Schlacht
im Zweiten Schlesisehen Kriege und als der Geburts-
und Sterbeort eines Dichters, den ich sehr liebte und
dessen Werke ich in der Zuchthausbibliothek vergeb-
lich suchte, war fremd und fern. Und wenn auch bis zu
ihr die Wellen schlugen, die der drängende Wind der
Verwandlung warf, bis zu meiner Zelle gelangten sie
nicht. Nichts gelangte bis zu meiner Zelle als der laue
Ruch einer völlig unwirklichen und widersinnigen
Ordnung, der ich unterworfen war, ohne mich zu ihr zu
bekennen, ohne auch nur den leisesten Hauch eines
Einverständnisses mit ihr erfahren zu können. Zu
keinem der Dinge, die mich umgaben, hatte ich die
mindeste Beziehung, ich konnte weder sie durch mich,
noch mich durch sie begreifen. Ich war einsam bis zu
einem Grude, der in der Temperaturskala weit unter
Null liegt.
Ich ging auf und ab. Ich griff im Vorbeischreiten
einen Gegenstand und legte ihn wieder hin. Ich spann
mich in kurze, sechs Schritt lange Träume ein, aus
denen ich aufschreckte, sobald im Gang ein Schlüssel
rasselte, die ich vergessen hatte, sobald ich an der
Zellentür mich wandte. Ich wartete und wußte nicht,
auf was. Ich hockte am Tisch und döste vor mich hin,
ich stand vorm Fenster und starrte auf das Stückchen
wolkenbedeckten Himmels. Ich zähle die Dielen und
die Schritte, die ich auf ihnen machte. Aus dem
Einfallwinkel der Sonnenstrahlen in die Zelle berech-
nete ich die Tageszeit. Ich freute mich auf das Mittag-
essen, obgleich ich wußte, daß es nicht schmecken
werde. Ich freute mich auf den Spaziergang, obgleich
er eine Qual bedeutete unter den mißtrauischen Augen
der bewaffneten Aufseher. Ich freute mich auf die
Nacht, obgleich ich wußte, daß ich nicht schlafen
konnte. Die kleinste Unterbrechung war mir
willkommen. Wenn der Barbier kam, meine
kurzgeschnittenen Haare noch mehr zu kürzen,
übersprang das Vergnügen, ein paar verstohlene Worte
wechseln zu können, den Ekel vor den kalten, weichen
und feuchten Fingern, die mir im Gesicht und im
Nacken herumfuhren. Den Bibliotheks-gefangenen
sehnte ich inbrünstig herbei, und wußte doch, daß auch
diesmal die Auslese der zerlesenen Schmöker eine
Enttäuschung sein werde. Wenn der Kalfakter im
Gange vorbeistrich, hoffte ich, er werde mir den
Kassiber zustecken, den ich erwartete, oder den Skrind,
ausgekauten Kautabak, den ich in Klosettpapier rollte
und über der Lampe anzündete, wenn sie brannte, und,
wenn sie nicht brannte, mit Feuerstein, Stahlknopf und
Lunte zum Glimmen brachte, ich drückte an die Tür,
daß sie oben den schmalen Spalt freigab, durch den
man kleine Gegenstände hindurchstecken konnte, als
Zeichen für den Kalfakter, dem ich für seine Gefällig-
keiten das Stück guter Seife überließ, das ich
hineingeschmuggelt hatte, oder dem ich ein Gnaden-
gesuch oder eine Beschwerde aufsetzte, oder dem ich
ein Stückchen meines Zimmermannsbleistiftes gab.
Jedes Ding, mochte es für die Augen der Menschen da
draußen noch so wertlos erscheinen, gewann große
Bedeutung für mich, dem es verboten war. Es war für
mich alles verboten.
Die Arbeit war nicht verboten, sie war befohlen. Und
nicht das bewog mich, sie nur selten und ungern
anzurühren, daß ich für das Tagespensum fünf Pfennige
bekam, eine Summe, die mir nur zur Hälfte für den
Einkauf von Briefmarken, Zahnpaste und Kautabak zur
Verfügung stand, indes die andere Hälfte zurück-
behalten und gutgeschrieben wurde, damit später bei
meiner Entlassung die Heimreise davon beglichen
werden konnte, nicht das bewog mich, die Arbeit zu
meiden wie die Pest, daß sie so ausgeklügelt stumpf-
sinnig war, als sei sie darauf angelegt, mich langsam
vertrotteln zu lassen, sondern daß sie als gottgesandtes
Mittel zur bekömmlichen Erziehung und Besserung
schmatzend angepriesen und drohend befohlen wurde.
Wenn ich über die Hobelbank gebeugt stand, aus
vierkantigen Akazienhölzern Hammerstiele glättete —
Pensum: siebzig Stück —, wenn ich Bast flocht, die
bunten, vom Färben noch feuchten und übel
dunstenden Strähnen durch die Finger zu langen
Schnüren zog — Pensum: fünfundsechzig Meter —,
wenn ich an der ratternden Nähmaschine saß und die
alte, ungewasche-ne Soldatenwäsche des Großen
Krieges ausbesserte, den stinkenden Haufen vor mir,
die zerschlissenen, schweißdurchtränkten Stücke in der
Zelle verstreut - Pensum: zwei Zentner —, wenn ich
Bürsten sortierte, mit einer hölzernen Pinzette aus
einem Kilogramm weißer Schweineborsten ein halbes
Pfund schwarzer auslas, wenn ich Federn schliß,
Handtücher säumte, Leder stanzte, immer saß ich rebel-
lisch vor dem, was das Alte Testament als einen Fluch
bezeichnet, immer sprang ich nach fünfminütigem Tun
wieder auf und raste durch die Zelle von einem
unbeschreiblichen Ekel gepackt, nicht von einem Ekel
vor der Art der Arbeit, sondern vor der Arbeit
überhaupt. Der tägliche Frondienst der Zelle erschien
mir wie alles, was nicht aus brennendem Herzen heraus
geschah, wie alles, zu dem nicht eine innere Berufung
trieb, so unwürdig, wie das lasche Gefühl der
Befriedigung nach vollbrachter Arbeit mir verächtlich
schien. Keinen Augenblick zweifelte ich an der
Heuchelei derer, die da sagten: Arbeit, ein Segen, und
dann Arbeit als Strafe diktierten. Die Zelle lehrte mich
den Abscheu vor den Dingen, die gemacht wurden, die
nicht gewachsen waren, lehrte mich den Haß begreifen,
der die Unterdrückten zwang, alles, jeden Wert an die
Befreiung von der Fron zu setzen, materiell zu denken,
wo sie metaphysisch denken sollten, Glück zu träumen,
wo sie Schicksal träumen müßten.
Ich erwachte, jeden Morgen aus wüsten Träumen zu
müdem Tag, der mir viel unwirklicher, viel grauer
erschien als die Gebilde der Nacht, die zu mir kamen
und beglückend waren trotz ihrer Wirrnis und trotz
ihrer peinigenden Ängste. Die Träume wenigstens
vermittelten mir die erregenden Bilder von großer
Fruchtbarkeit, um die mich der Zellentag betrog. Wenn
ich des Abends, nach stundenlangem Spazierengehen in
der lastenden Dunkelheit, auf dem immer feuchten
Laken lag, den Kopf auf dem harten Keil, die Arme alle
Augenblicke in ihrer Lage wechselnd, wenn vor der
blasenden Nase schroff die Wand aufstieg mit dem
sachte blätternden Kalk, meldeten sich die Träume an,
die mir die eigentümliche Lust des Schreckens gaben.
Denn das Bewußtsein, von der Zelle hart an das Bett
genagelt zu sein, nicht entfliehen zu können vor dem
Druck der vier Wände, ließ mich in den Schlaf
hineingleiten, ohne mich von der Wachheit zu
entbinden, und verzerrte so die sanfte Gabe der Nacht
zu einer zerflederten Folge von jagenden Traumfetzen.
Kein Traum ließ mich frei werden von der Zelle, immer
stand sie als unausweichlicher Hintergrund an den
langen Straßen, die ich zog, immer trug sie die
dampfenden Ängste hinein in das wilde Geschehen,
Ängste, die ich begrüßte, weil sie kraftvoll waren, weil
sie den Pendelschlag nach der Nachtseite darstellten,
den einzigen Pendelschlag, den die Zelle dem Herzen
gestattet. Oft, wenn der blecherne Klang der verhaßten
Glocke, die den Tag regelte und deren gellenden Ton
ich immer im Ohr tragen werde, mich aus den fremden
und doch nahen Bezirken aufschrecken ließ, empfand
ich die Wirklichkeit als eine Bestätigung der geheim-
nisreichen Fluchten, die ich durchwandert. Die Träume
stießen nicht als gleißende Strahlen aus dem Raum, sie
trugen das Gewicht der Zelle mit sich, sie kreisten irr
an den Wänden und suchten den Ausweg und
begegneten auf ihrem Wege den Abenteuern, die sie
lebendig machten. Ich rannte durch volkreiche Städte,
an grünlichen Laternen vorbei und an blühenden
Gärten, ich hauste auf tropischen Inseln, ich kletterte in
steilen Schluchten, durchstreifte hallende Schlösser, ich
sah die Menschen wie Schatten, die Häuser wie
Burgen, die Bäume wie Drohungen, und ich vergaß
doch keinen Augenblick, daß ich in der Zelle war, daß
ich ja Gefangener war, daß ich pünktlich beim Wecken
den Kübel herausstellen mußte. Ich befand mich auf der
Flucht, kletterte über Zäune und Mauern, stahl mich in
Hinterhöfe und auf Dachböden, sah die blitzenden
Beamten vorbeieilen, wiederkommen, mir keine volle
Minute gönnend, spürte sie hinter mir rasen, — und
wenn sie mich griffen, dann stieg wilde Freude in mir
auf, denn ich hatte sie betrogen, ich war ja in der Zelle,
und ihre Anstrengung war genauso unnütz gewesen wie
meine Flucht. Bald sah ich körperlich, was mir die
Zelle verwehren wollte, körperlich zu sehen. Alle Lüste
retteten sich in den Traum, wie sich alle Schrecken in
ihn gerettet hatten. Ich focht die Kämpfe, die mir die
Zelle verwehrte zu kämpfen, ich ging die Wege, die sie
mir zu gehen verbot. Und das graue Viereck, zerteilt
von den Gitterstäben, durch das die Nacht ihre breiten
Wellen in den Raum schob und das ich in den
Momenten kurzen Erwachens zwischen Bild und Bild
neu erkannte und hinübertrug in den folgenden Traum,
verschärfte den Reiz der Gesichte; es gab mir die
Gewißheit, in zwei Welten zu wohnen, eine Gewißheit,
die mich zu Entscheidungen zwang, wie sie das Leben
nur selten bot.
Einstmals erwuchs in mir eine Gleichgültigkeit, die
der kleinen Dinge nicht achtete, weil der Kampf, dem
ich mich verschrieben, auslöschte, was nicht in die
heroische Umwelt paßte. In der Zelle aber versank ich
in eine Gleichgültigkeit, die trübend war und
zersetzend, weil sie aus dem Mangel an großen Dingen
entstand, weil sie grau war und schwächlich und
diktiert nicht vom Kampf, sondern von der Resignation.
Aber ich durfte nicht abgleiten. Wehe, wenn ich mich
unterwarf. Wehe, wenn ich mich duckte. Ich hatte kein
Ziel mehr, außer dem, mich zu bewahren. Und
bewahren konnte ich mich nur durch Trotz, durch
Starre, durch einen Kleinkrieg gegen das widerliche,
umschlingende Geflecht der Paragraphen und gegen die
Menschen, die diesen Paragraphen dienten.
Da ich auf dem Spaziergang den vorgeschriebenen
Abstand nicht hielt, brüllte der Beamte: «Scheren Sie
sich in Ihr Loch! — Hören Sie nicht? — Sie haben
wohl Dreck in den Ohren? — Gehorsamsverweige-
rung! Das gibt eine Meldung. Warte, mein Freundchen!
»
Ich wurde vorgeführt. Die Beamtenkonferenz war
zusammengetreten. Der Hauptwachtmeister hieß mich
in das Zimmer eintreten, wies mir den Platz vor dem
hufeisenförmigen Tisch, an dem die Oberbeamten
saßen. Da saß der Direktor, ein kleiner, korpulenter
Herr mit breitem, im Grunde gutmütigem Gesicht und
kleiner Brille, den Aktenband vor sich. Da saß der
Pfarrer, der seit siebzehn Jahren Gefängnispfarrer war,
der kälteste Pharisäer, bei dem es nur eine bestimmte
Kategorie Gefangener wert war, sich mit ihnen
abzugeben, die Polen. Da saß der Kasseninspektor,
Mitglied des örtlichen Gesangveieins, ewig mürrisch,
pedantisch wie seine Beschäfigung, dünkelhaft wie das
Kriegsverdienstabzeidien,das er immer trug. Da saß der
Arbeitsinspektor, ein trockener Schleicher, lang, zäh
und dürr, mit melancholischem Hängebart über
faltigem Halse. Da saß der Ökonomieinspektor, plump,
gutwillig, von den Gefangenen «Graupenspalter»
genannt. Da saß der Obersekretär, brutal, vierkant,
heuchlerisch, mit rotem Gesicht und vorquellenden
Augen. Da saß diese Ansammlung subalterner
Existenzen, die alle ihre Verantwortungskraft nur aus
der Gewißheit ihrer sicheren und unantastbaren
Stellung uns, den verachteten undverächtlichen
Gefangenen, gegenüber sogen.
Und der Herr Direktor sagte:
«Sie sind wieder gemeldet worden; diesmal wegen
Gehorsamsverweigerung. Das ist in den drei Wochen,
seit Sie hier im Hause sind, die vierzehnte Meldung
über Sie. Stehen Sie gerade und nehmen Sie die Hände
vom Rücken. Was denken Sie sich eigentlich? —
Glauben Sie, Sie seien zum Spaße hier? — Halten Sie
den Mund. Sie haben nur zu reden, wenn Sie gefragt
werden. — Ich lasse Sie sofort in Arrest abführen,
wenn Sie nicht still sind. Wenn ich Sie bisher noch
nicht der härtesten Strafe unterwarf, dann geschah es
aus Rücksicht auf Ihre Jugend. Bedenken Sie, daß Sie
fünf Jahre in diesem Hause sein werden. -Ruhe! Mir
scheint, Sie wollen nicht. Aber ich werde Ihren Willen
brechen, und wenn ich Sie monatelang in Eisen legen
muß! Verlassen Sie sich darauf, ich werde Ihren Willen
brechen!»
Ich sagte: «Bitte, brechen Sie.»

1923

Abend für Abend sang im Zellenhause ein Gefangener


die Internationale. Das Lied hallte in den Gängen,
scholl über den Hof und stieg wie ein Versprechen über
den verfluchten Bau. Immer war es nur eine Stimme,
die sang, und oft genug brüllte ein Gefangener
dazwischen, er wolle seine Nachtruhe haben. Der da
sang, war Edi, Kommunist und nicht anerkannter
Überzeugungstäter.
Was war das für ein harter, beklemmender Tag, als
ich mit ihm zum ersten Male zusammentraf. Ich ging
zur Freistunde den schmalen, holprig gepflasterten
Weg, in langer Reihe eingegliedert, mit einem Abstand
von acht Schritt hinter meinem Vordermann her. Der
Wind, der um die Ecke pfiff, aus allen Winkeln kam,
vom Kohlenhof den schwarzen Staub mitwirbelte und
von der Kalkgrube den weißen Sand, der alle Gerüche
der Spülzellen mit sich trug und die der Küche und des
Gemüsekellers und der Arbeitsräume, der Wind, der die
schwarzen Flocken der Gasanstalt auf unsere bleichen
Gesichter wehte, uns durchkältete und gegen die hohe
Mauer stieß, der machte es, daß ich, ankämpfend gegen
seine Wucht, mich wandte. Da sah ich ihn über den
Anstaltshof schlurfen. Er mühte sich, einen großen,
schwarzen Kübel zu schleppen. Der Beamte winkte, ich
griff zu, und wir beide trugen die schwankende Last,
wir beide trugen, beaufsichtigt von einem uniformierten
Mann mit Pistole und Säbel und Schlüsselbund, in
gleicher, erniedrigender Fron, keuchend den riesigen
Kessel stinkender Fäkalien. In brauner Sträflings-
kleidung, er und ich, zusammengewürfelt wir beide
zwischen Mauer und Gitter nach dem Spruch eines
Rechtes, das wir nie anerkannten, nach dem Diktat
eines Staates, der nicht der unsere war, unter dem
Zwang einer Gewalt, die wir einstmals zu brechen den
gleichen Anruf des Blutes hatten.
Als wir voneinander erfuhren, da stutzten wir erst,
und es wollten sich Schranken aufrichten zwischen uns,
weil wir beide noch zu sehr befangen waren von den
Vorurteilen einer Welt, der wir nicht mehr angehörten.
Aber die Stimme des Beamten, der uns mürrisch
zurechtwies und jeden in seine Zelle sandte, wischte
befreiend weg, was sich erheben wollte, befreiend und
doch unendlich niederdrückend; denn so begegneten
wir uns, die wir die Bestimmung hatten, in freiem
Kampfe aufeinanderzustoßen, nun als folgsame und
gebändigte, in den tiefsten Schmutz gestoßene
Menschen, unterworfen und entwürdigt von Mächten,
die wir verachteten, die wir haßten, die ein Hemmnis
unserem Kampfe waren und ein Hemmnis jeder
kämpferischen Entwicklung überhaupt.
Wir lebten in einer Welt, in der uns alles feindlich
war. Und wir kamen zueinander, um die grenzenlose
Verlassenheit zu übertäuben, um einer im anderen den
Menschen zu finden inmitten einer Wüste aus Stein und
Eisen. Und es kam eine Zeit, da uns nichts voneinander
schied als die Mauer zwischen seiner und meiner Zelle.
Des Abends, kaum hatte die Ronde das Zellenhaus
verlassen, hörte ich sein Pochen. Ich hörte seinen
Sprung auf Schemel und Sims und das Klirren des
Fensters. Und ich saß, an die Gitter geklammert, und
preßte den Schädel zwischen die Stangen, und Rede
und Gegenrede flog flüsternd hin und her. Ich erfuhr
von dem Leben eines Bergmannes im Ruhrgebiet, von
dem Leben unter Tage in Schwärze, Staub und
Schweiß, in steter hämmernder Sorge, von dem zer-
mürbenden Leben mit Brot und Kartoffeln und Schnaps
und wenigen, kargen Freudestunden, Und ich lernte
verstehen die maßlose Verbitterung, den trotzigen
Stolz, die zähe, federnde Kampfbereitschaft gegen
alles, was nicht Arbeiter war.
Und ich sagte ihm, warum ich, der Soldat, mich ihm
verbunden fühlte, warum mein Kampf derselbe war;
wie er ein Ja setzte hinter sein Leben in der
Gemeinschaft mit jenen, die mit ihm standen vor Ort,
die mit ihm rangen gegen den schwarzen Stein und
gegen die breiige, unfaßbare, alles abwürgende Schicht,
auf deren Befehl er die Sonne nicht sah, so setzte ich
ein Ja hinter mein Schicksal und hinter meine Gemein-
schaft mit der grauen Masse Namenloser, die einst mar-
schierte auf denselben Befehl jener selben Schicht.
Absonderliche Gespräche führten wir. Ich erfuhr von
der Kampfesweise seiner Genossen, die mir fremd war
und die mir nicht schlagkräftig erschien, da sie mit
Massen rechnete, mit und für Massen, und darum in der
Wucht des Einsatzes schwankend war. Aber er verwies
mich auf die unbedingte Geschlossenheit des
theoretischen Systems,aus dem für die Masse
auszubrechen nicht leicht sein konnte, er verwies auf
die durchgegliederte Organisation, die selbst eine unzu-
längliche Führung auf längere Dauer vertrug. Ich aber
pries ihm das Gefecht der Einzelnen, die gerade in der
Verlassenheit das höhere Glück der Gemeinsamkeit
erfahren durften und darum den Keil tiefer treiben
konnten, als es alle Anstürme der Entrechteten jemals
vermochten. Wir sprachen, als ob wir die Armeen der
Revolution zum Kampfe führen müßten, und fanden
uns in der unvergleichlichen Lust der Napoleons-
träume, der Leningesichte, die heißen Köpfe zwischen
die Stäbe gepreßt und vom Schemel polternd, sobald
die Kunde nahte.
Edi war aber bei den Kämpfen der Roten Armee im
Ruhrgebiet beteiligt gewesen, als Anführer eines
zusammengetrommelten Haufens. Als die Reichswehr
gegen die Stellung seiner Abteilung vorstieß, sollte er
Meldung bringen zu seinen Genossen im Hauptquartier,
und da die Zeit brannte, zerrte er einen Gaul aus dem
Stalle eines Gutsbesitzers und preschte auf ihm davon.
Als er sein Schlachtroß nicht mehr brauchte, verrubelte
er es und versoff das Geld. Und weil dies Raub war und
Plünderung und überhaupt eine schändliche Tat, bekam
er sechs Jahre Zuchthaus und bekam Ehrverlust und
Polizeiaufsicht und wurde keinesfalls als Überzeu-
gungstäter anerkannt.
Man trennte uns erst, als unser erster gemeinsamer
Ausbruchsversuch mißlungen war. Nicht so sehr darum
wurden wir getrennt, weil man eine weitere Exkursion
fürchtete — uns konnte nur die Absicht
unseres Tuns nachgewiesen werden, nicht aber der
Verlauf und das niederdrückende Ende des ersten
Versuches -, sondern weil jegliche Beziehung zwischen
Mensch und Mensch außer jener des gegenseitigen
Verrates in diesem Hause nicht geduldet werden
konnte. Nur manchmal traf ich noch mit Edi
zusammen, beim Duschen im dampfgefüllten,
speckwandigen Baderaum, bei der Vorführung in der
Kanzlei, im Lazarettzimmer, in der Kirche, in der
Kammer des Hausvaters beim Tauschen defekter
Kleidungsstücke. Immer nur wenige Worte konnten wir
wechseln, scheu und verlegen, denn wir beide spürten,
wie sehr wir nun wieder ausgeliefert waren an die
kleine Schikane, an die Last der ausweglosen Jahre, die
unvorstellbar vor uns lagen. Nur des Abends drangen
noch die schwachen Töne der Internationale in meine
neue Zelle, die in einem anderen Bau, an einem
dunklen Gange, gegenüber den Arrestzellen, lag und
mit einem riesigen Vorhängeschloß, dem nur der
Hauptwachtmeister einen Schlüssel besaß, besonders
gesichert war.

Hatte die Bitternis des ersten Jahres der Halt in den


wenigen Wochen des beglückenden Einverständnisses
mit einem Menschen sich immer wieder unverdrängbar
angemeldet, so traf mich nun der Anspruch der Zelle
mit seiner ganzen pedantischen und zermalmenden
Wucht. Jedweder Herrschaft der Gemütlichkeit
durchaus feindlich, besaß die Zelle eine ernüchternde
Gewalt, die keinerlei Bestandteile innerhalb der vier
beziehungslosen Wänden duldete. Von der ersten
Sekunde an setzte der Assimilationsprozeß ein. Keines
der Dinge, die in der Zelle ihren Platz und ihre
Bestimmung hatten, zeigte eine Spur eigenen Lebens.
Und gleichwie jeder Gegenstand in seiner nackten,
einzig für den Zweck hergerichteten Art den Charakter
der Zelle als Instrument der Strafe unterstrich, so war
der Mensch als Inventarstück, die bloße Nummer uhne
Anspruch und ohne Wunsch und ohne Willen, der vom
Subjekt zum Objekt gewandelte Mensch zweifellos das
erstrebenswerte Produkt der Zelle, auf dessen
Herstellung die ganze Ordnung unablässig hinzielte.
Dieser berechneten Wirkung konnte ich mich nicht
entziehen, soweit sie einen bestimmten Zerstörungs-
ablauf zur Folge hatte.
Von jeher hatte ich an der Zerstörung meine
besondere Lust. So konnte ich im täglichen Schmerz
wohl das beobachtende Vergnügen durchfühlen, wie
sich allmählich das Lager schnell gewonnener
Vorstellungen und Gefühlswerte verringerte, wie das
Arsenal voll Idealismen und Forderungen Stück für
Stück zermahlen wurde, wie sich die Wünsche, Träume
und Hoffnungen verflüchtigten, bis nichts mehr
übrigblieb als ein Bündel Fleisch mit bloßgelegten
Nerven, die gleich straffgespannten Saiten nun jeden
verlorenen Ton schwirrend wiederzugeben, in der
dünnen Luft der Isolierung doppelt stark zu vibrieren
vermochten. Ich ertappte mich mehr denn einmal auf
dem sonderbaren Gedanken, welcher Gnade ich
anheimgegeben war, nun auch dies zu erleben, diesen
einzigartigen Vorgang der Zelle, durch den ich in
entspannten Stunden wiederum erfuhr, daß ich nicht
stürzen konnte, ohne mich schließlich doch wieder bei
mir selber zu finden.
Da die besinnungslose Aktivität nun in Grenzen
gebannt war, aus denen sie, ohne sich zu verströmen,
nur tropfenweise sickern konnte, richtete sie die
Elemente des Angriffes gegen denselben Bestand, aus
dem sie geboren ward. Was immer vor der nackten
Gewalt der Zelle sich nicht bewährte, das war ich
anfangs sicherlich nur sehr schwer, dann aber immer
leichter geneigt, als Wert anzuzweifeln und als Ballast
hinter mich zu werfen. Damit aber vollzog ich bewußt
einen Akt, den ich leichten Sinnes in den tollen Jahren
oft genug geübt, wie denn auch alles, was damals für
mich bewegend war, nun, da es nicht mehr im
Augenblick des Geschehens durch die wirbelnde Folge
von Spannungen und Entladungen verdeckt und
auseinander gerissen war, sich glühend zeigte, logisch
im Ablauf und voll bohrender Eindringlichkeit.
Ich erlebte doppelt und mit gesteigerter Wucht. Oft
stand ich noch an die Türe gelehnt, wenn der erste
blaßgraue Streif am Himmel die Zelle mit milchigem
Schein erfüllte. Und ich konnte nicht haltmachen vor
den düsteren Schatten, die inmitten der farbigen,
bewegten Gebilde auftauchten und mir die Kehle
plötzlich dünn und trocken machten. Da war noch zu
viel dessen, an dem mein Bestreben, jede Erscheinung
auf ihren einfachsten Gehalt zurückzuführen, scheiterte,
weil ich spürte, daß ich es mir nicht leicht machen
durfte, um mich schließlich nicht doch zu verlieren.
Da war das Bild des Freundes, das einzige Bild, das
mir der Direktor beließ, als er erkannte, daß ich um
seinetwillen zu jeder explosiven Maßnahme bereit war.
Es gab keine Minute der Wachheit, in der nicht das
Bild mit einem Maße der Verpflichtung zu mir sprach,
das jedes arme und billige Gefühl der Trauer
ausschaltete. Der Freund war tot und ich hatte ihm
nicht folgen können, ich hatte den Nullpunkt
durchschritten, in dem er Flamme wurde in der
höchsten Haftung seines Willens, der ein Wille zur
Vollendung war, gerade da er im Strudel der
unbedingtesten Vernichtung nach fernen Zielen tastete,
durch die sein Tun für ihn und viele noch sinnvoll
wurde. Wie hätte er es ertragen können, im Zuge der
Erniedrigten zu schreiten, wie könnte ich es ertragen,
dort zu bleiben, wo er ein Ende fand, das ihm kein
Ende war als jenes seiner selbst? Und wenn sein Tod
Vollendung war, Weiterwirken und Symbol, Mahnung
und Notwendigkeit, wenn sein Tod alles war, nur eines
nicht: Sühne - was blieb uns denn, uns, denen er nicht
zuletzt gestorben, als immer wieder das zu sein, was
wir nicht anders sein und wollen können? Es gab
nichts, was uns trennen konnte, und so war sein Tod in
dieser Zelle das einzige, was immer über meinen Tag
hinaus und über meinen Wunsch hinaus in jene Femen
griff, aus deren Zone mir die Kraft erwuchs, zu meiner
Kraft hinzuzutun und immer da einen Beginn zu finden,
wo ich ein Ende grüßte.
Und so scheute ich die Gesichte der langen
Nachtstunden nicht, in denen neben den unbezwing-
lichen Augen, die mich täglich anschauten, jene
anderen Augen aus dem Dunkel kamen. Ich schnellte
aus den Träumen, wenn sie zu mir kamen, ohne
Drohung in rätselvollem, schmalem Antlitz vor mir
standen. Ich wünschte diese Augen herbei, um der
Härte willen, mit der ich sie von mir wies. Ich spürte
hier einen Kampf, der ausgetragen werden mußte, mein
Leben lang, und der ohne einen Sieg bleiben mußte,
wenn er seine Fruchtbarkeit behalten sollte. Oft hatte
ich den Klang der weichen Stimme im Ohr, der Stimme
jener Krankenschwester, die zu dem sterbenden
Minister in den Wagen sprang, und die in die staubige
Luft des peinlichen Verfahrens hinein mit leisen,
stockenden Worten berichtete, er habe noch einmal die
Augen aufgeschlagen und die Helferin sehr sonderbar
angesehen, Ich kannte dies Unbegreifen im Blick — es
war mir begegnet auf den Feldern, über die wir zum
Angriff liefen, es lag hinter den halbgeschlossenen
Lidern der Freunde, die den letzten Abschied nahmen,
es muß im Turme der Burg aus Kerns Gesicht den
Freund bewegt haben, die Wunde mit Leinwandfetzen
abzutupfen. Ich ertrug es kaum.
Ich ertrug es kaum, diesen Augen eine Antwort
geben zu müssen. Ich konnte die Antwort nehmen aus
den wenigen, hervorgekeuchten Sätzen des Freundes,
an dem dieser Mann starb und der Freund an ihm. Aber
ich hatte nur das Karge, Durchgebrochene, nicht hatte
ich das zu sagen, was sich in ihm auf langem,
unerbittlichem Wege geformt. Ich war schuldig und
lieber noch als Richter oder Henker wollte ich Mörder
sein. Nun blieb mir nichts, als dumpf zu sagen, was
dumpf mich bewegte, und mir die Sicherheit der armen
Stunde zu holen aus dem Willen zu einer Antwort,
deren erstes Argument immer lauten mußte: wenn es
ein Unrecht war, so war es das unsrige,
Zu jenen Stunden aber, da hinter allen Zweifeln die
Verzweiflung stand, die jeden Spalt verschütten ließ,
meldete sich die Entfremdung an, die zwischen dem
Menschen der Zelle und den Menschen des Tages
eintreten muß; eine eigentümliche Art von Stolz ließ
mich diese Entfremdung spüren, ein Stolz derStärke,
des Preisgegebensems an Mächte, zu denen die anderen
nicht gelangen konnten. Der schweißnasse Körper, das
von überhitzten Bildern gepeinigte Hirn, das Herz, dem
sich Süchte und Forderungen die erbittertsten Gefechte
lieferten, alles erlebte konzentriert. Was im Munde des
gleichgültigen Richters einfach fünf Jahre hieß, die
Spanne zwischen einem Datum und einem anderen
Datum, das rollte nun vor und zurück in irrsinnigem
Rechnen. Ich erschrak, als ich die Jahre zurücktastete:
vor fünf Jahren war ich noch Kadett, Untersekundaner,
im Kriege hungernd und in der Würde der königlichen
Uniform ein kleiner, blasser, schmächtiger Junge,
mittelmäßig begabt und, gleich den Kameraden
fürchtend, der Krieg möchte zu Ende gehen, ohne daß
ich ihn miterlebt. Unvorstellbar, daß die gleiche Zeit,
die von jener unwirklichen Gestalt zu dem Gefangenen
führte, über die tollen, drängenden Bilder hinweg, nun
vor mir sich breitete. Fünf Jahre gefangen, fünf Jahre
ohne ein anderes Tun als das Warten. Und draußen
ging mit hastigen Pulsen das Leben weiter, standen die
Freunde vor den Aufgaben, die uns dies Leben erst
gültig machen.

Die drängende Unrast der Furcht, bei einer


Entscheidung nicht beteiligt zu sein, ließ den Funken
durch die Kruste schlagen, wenn nach halber
Andeutung mißgünstiger Beamter, nach Lektüre eines
zerschlissenen Zeitungsblattes, das der Wind über den
Hof flattern ließ, nach dem Bericht des alle zwei
Monate gestatteten Briefes karge Kunde kam von dem,
was draußen bewegend war. Dann kam es zu dem
Versprengten in der dunkelsten Verlassenheit wie das
Blinken des fernen Lichtes marschierender Kolonnen,
kündete ihm, daß noch der Anschluß nicht zerrissen
war.
Und dies, gerade dies Mitschwingen aller inneren
Saiten, das so fern von den Brennpunkten und
unabhängig von der Wucht der Tatsachen geschah,
vermittelte den hohen Grad der Genugtuung, der mich
die Zelle als ein Werkzeug der Erlebnissteigerung
empfinden ließ. Immer noch hatte mich die Einheit, zu
der ich mich bekannte, nicht aus ihrem Dienst
entlassen, und zweifelsohne konnte kein Gedanke, kein
Gefühl und keine Erfahrung, konnte nichts, was sich
nun abseits und unter solchem Drucke formte, ohne
Sinn und ohne spätere Geltung sein. Und weil ich
Schritt für Schritt mit den Genossen der nahen
Vergangenheit weiterging, weil die gleiche Kraft, die
sie zum Ansprung trieb, nun mich auf anderen Ebenen
die gleiche Richtung gehen ließ, konnte, was auch
immer je geschah, nicht Ausfluß einer Schar
Besessener gewesen sein, konnte nichts verlorengehen,
was einmal wirkte, nichts geschehen, was nicht nach
unbegreiflichen Gesetzen zu geschehen vorgerichtet
war. Doch war es bitter, eine Sonderstellung zu erfah-
ren, und den Wunsch, am Einsatz teilzuhaben, konnte
nichts, was mir begegnete, ersticken. Ich wollte frei
sein, wollte aus den strengen Mauern des verfluchten
Hauses, das mich band, das mir befahl, zu warten, da
das Warten das einzige Verbrechen war, das die
Freunde, und mit ihnen ich, begehen konnten.
Die verwirrten Briefe ließen mir genug zu raten
übrig. Die Zeit verrann, sie brannte und verzehrte, was
mich noch fähig sein zum Handeln ließ. Das Jahr
schritt vor, das Tempo der Ereignisse, die unserem Tun
entsprangen, war von unserm Tun bestimmt. Ich wußte,
daß sich unaufhaltsam einem Mahlstein zu jegliche
Bewegung drängte, und ich saß hier und hoffte,
grübelte, versank. Wie lang war der Tag! Er war erfüllt
bei aller seiner Monotonie mit einem Strudel
schäumender Wirklichkeiten, die sich aus der muffigen
Stille in das Herz gerettet. Die Minuten zerrten sich zu
langen Bändern, und wenn ich die Spanne maß, in der
ich nun schon an die Zelle abgegeben war, und sie
verglich mit jener, die noch meiner harrte, dann konnte
ich wohl erschrecken, ohne mich des Mangels an
Entschiedenheit zu zeihen.
Wenn die Briefe kamen, die zwischen den Zeilen
berichteten, was des Berichtens wert war, betrachtete
ich die Marken, die jedesmal einen anderen Aufdruck
hatten. Als der Nennwert der Briefmarken von den
Hunderttausenden zu den Millionen, von den Millionen
zu den Milliarden stieg, verband ich das Vergnügen,
das ich dabei empfand, mit der Genugtuung, die
aufgestörten Beamten zu beubachten, die oftmals
schlüsselbundrasselnd auf dem Hofe oder auf den
Gängen standen und dickgefüllte Brieftaschen voller
zerflederter Geldscheine mit einem Ausdruck betrach-
teten, in dem sich Rausch, Verzweiflung und völliges
Unbegreifen seltsam spiegelten. Wenn sie von etwas
sprachen, das nicht mit dem Jargon des Dienstes zu
erklären war, dann war es von der Inflation, ein Wort
und ein Begriff, der sicherlich ihnen keineswegs
ungleich mehr verständlich war als mir.
Ich hatte die Inflation nur in ihren ersten, harmlosen
und technisch erklärbaren Anfängen erlebt. Nun schien
sie eine selbständige, magische Gewalt zu sein. Das
Geld hatte keinen Wert mehr? Vortrefflich! Die
Herrschaft der Zahl zeigte den Abgrund ihrer völligen
Sinnlosigkeit? Ausgezeichnet!
Wenn die Mächte dieser Zeit, nachdem sie alles
erobert hatten, was immer sie erobern konnten, nun in
ihrem wahnsinnigen expansiven Drange in den leeren
Raum stießen, in dem ihnen nichts anderes übrigblieb,
als sich selber anzugreifen und zu verzehren, wie sollte
dies dämonische Gebaren, dies im Letzten hoffnungs-
volle Zeichen nicht erfreuen den, der sich diesen
Mächten zu unterwerfen stets geweigert? Was Wunder,
daß, wie ich erfuhr, die zivilisierte Welt sich auf den
verwesenden Kadaver, den sie erst geschaffen, stützte,
ein Stück der Beute an sich zu reißen, daß sie dann mit
Sorge vor dem Pestgestanke wich, daß sie schließlich
drohend Einhalt forderte! Man sollte, grübelte ich, und
ärgerte mich sehr ob dieses unbestimmten «man», den
Krankheitsherd in alle Winde tragen, die Waffe nicht
aus seinen Händen lassen. Wie, war nicht endlich
aufgelockert, was immer unter seiner dicken Kruste
lag?
Und wenn die Angst schon in die kleinen Hirne
drang, die nun erstarrt auf das Verdunsten ihres Götzen
stierten, wie mußte sie erst in
den Tempeln bohren, in denen stolz der Götze thronte?
Das Leben duldete noch nie ein Vakuum, es baut sich
in die leeren Räume selber ein. Was nun kam, so dachte
ich, das wird unsere Früchte reifen lassen. Die
Patrouilleure der Erhebung finden blankes Feld und
finden hinter sich die Scharen, die den Sieg sättigten.
Und dieser Sieg schien sich anzukündigen an jenem
Abend der ersten Novembertage des Jahres 1923, als
plötzlich, nachdem die Ronde mit klappernden
Absätzen den Gang durchschritten hatte, die Stimme
Edis meinen Namen schrie. Ich schnellte an die Tür.
Der Ruf kam aus einer Zelle gegenüber und ich
antwortete ihm. Und Edi schrie, er hocke im Arrest,
sein Ausbruch sei gescheitert. Er schrie, er habe
Nachricht, und nun gehe es endlich los. Er schrie, in
Bayern braue sich etwas zusammen, und sicher seien
auch schon die Genossen mobil.
Wir riefen uns durch die geschlossenen Türen, über
den hallenden Gang die Worte zu. Wir waren voll einer
irrsinnigen Hoffnung beide.
Wir stritten uns, Mund und Ohr an die eisernen
Türen gepreßt, über Marx und Bismarck, über Masse
und Persönlichkeit, über Verteilung und Gestaltung,
über Weltrevolution und Aufstand der Nationen. Wir
brüllten uns mit heiseren Stimmen, halb lachend, halb
zornig, Beleidigungen zu und schließlich schmetterte er
die Internationale heraus und ich sang das Ehrhardtlied
gegenan — bis die Beamten mit den Kolben an die
Türen rammten und etwas von Meldung schrien und
von Arrest und von Nucken austreiben. Da sagten wir
uns ernüchtert gute Nacht, und ich rannte noch lange
auf und ab.
Die Beamten meldeten wirklich. Aber als der
Direktor milde lächelnd erklärte, er habe doch immer
mein Bestes gewollt, da wußte ich, daß der Aufstand
losgebrochen — und als er drei Tage später mit
barscher Stimme mich anfuhr, ich sei der renitenteste
Gefangene, den er seit fünfundzwanzig Jahren im
Hause gehabt, da wußte ich, daß der Aufstand
gescheitert war.

Brief

Der Werkmeister, den ich eines Tages überraschte, wie


er Hemdenstoff aus den Arbeitsräumen stahl, mußte
mir dienlich sein, die heimliche Verbindung mit den
Kameraden zu schaffen. Denn da es zu den
unerläßlichen Grundsätzen jedes geordneten Strafvoll-
zuges gehört, den Gefangenen zum Zwecke seiner
sittlichen Läuterung strikte von den verderblichen
Einflüssen seiner bisherigen Umwelt fernzuhalten, war
es mir nur gestattet, mit meinen nächsten Angehörigen
brieflich zu verkehren, und jede Frage in meinen
Schreiben und jede Nachricht in den Briefen an mich,
welche auf die Dinge einging, die mir in ihrer fernen
Wirklichkeit näherlagen als die der kleinen Ordnung,
der ich preisgegeben war, wurde wohlmeinend
ausgemerzt, mit Tinte überstrichen oder überklebt. So
sandte ich, ohne dem Herrn Direktor die Mühe der
Zensur zu machen, einen drängenden Ruf nach dem
andern hinaus, aber keine Antwort kam, nichts kam
außer halben Andeutungen zwischen den Zeilen
offizieller Briefe, die mir eine Hoffnung geben sollten,
nach welcher ich gar nicht verlangte.
Daß ich sicher bald freikäme, stand in den Briefen,
und daß ich Geduld haben solle, und unsere Sache
mache gute Fortschritte. Aber ich spürte das Mitleid in
diesen Äußerungen und ich hatte für diese
abgeschmackte Ware keine Verwendung. Im Februar
1924 kam der Werkmeister mit wichtigtuerischer
Heimlichkeit in meine Zelle, sah sich noch einmal
vorsichtig im Gange um und stopfte mir dann schnell
einen geschlossenen Umschlag unter die Jacke, der
einen Packen Papieres enthielt.
Das war kurz vor Einschluß, ich rannte, den Brief
unter der Weste an mich pressend, hastig in der Zelle
auf und ab, und kaum hatte der Beamte vom Dienst
sein «Gute Nacht» geknarrt, kaum knallte die Türe,
rasselten die Riegel, erlosch das Licht, als ich ans
Fenster stürzte, den Spiegel an die Maschen des
Gitternetzes band, so daß er den Lichtschein der
Hoflaterne fing und in kleinem Quadrat auf den
Schemel warf; ich kniete nieder und riß mit flatternden
Händen den Umschlag auf und las:
«... Als die Franzosen das Ruhrgebiet besetzten,
waren die Gruppen bereit. Wir hielten die deutsche
Proklamation des passiven.Widerstandes für einen
infernalischen Witz, nicht für einen Mangel an Kraft.
Aber bald merkten wir, daß alle Anordnungen der
Regierung eben jenem Wesensgehalte entsprangen, den
wir anzugreifen immerhin diesen einen zwingenden
Grund haben, weil ohne seine Vernichtung unser Tun
für alle Zeit sinnlos erscheinen muß. So beschlossen
wir, den Widerstand so zu führen, wie wir es gewohnt
waren. Es bestand Aussicht, durch unser, einer noch in
keinem Herzen ganz erstorbenen Idee gemäßes
Handeln alle wachen Kräfte und Menschen mitzureißen
und so in immer hitzigerer Steigerung die Verwandlung
der deutschen Lage endgültig herbeizuzwingen.
Wir waren nur eine Handvoll. Wir kannten uns alle
untereinander. Aus dem ganzen Reiche kamen die
aktivsten Gesellen, eine unerhörte kämpferische
Auslese, wilde Burschen darunter, alte Kämpen der
Front und des Nachkrieges, von denen jeder schon
seine Probe bestanden hatte. Viel zu organisieren war
da nicht. Jeder Tag hatte seine besondere Aufgabe, die
sich fast von selber anbot. Schlageter sagte zu seinen
Münnern, die aus O. S. auf Anruf kamen: «Ober-
schlesien war ein Dreck dagegen.» Wir strolchten als
arbeitslose oberschlesische Bergleute von Zeche zu
Zeche, sprachen um Arbeit vor und klauten Sprengstoff
bei dieser Gelegenheit. Wir hausten in Arbeiter-
quartieren, in Ledigenheimen und Kaschemmen. Wir
schoben Waffen und brachten Flüchtlinge über die neue
Grenze ins Reich. Wir bespitzelten die Spitzel, wir
übten eine harte Gerichtsbarkeit. Wir sprengten bei
Hügel und Calcum, bei Überruhr und Königsteele und
Duisburg, Wir strichen nächtens sprengstoffbeladen an
den Strecken der Regiebahn entlang, wir räumten
unangenehme Posten aus dem Wege, wir lagen hinter
den Schwellen und die Scheinwerfer tasteten über
unsere bewegungslosen Körper hinweg, wir hockten
mit halbem Leibe im Wasser, wir tauchten ans den
Büschen und schossen uns mit den Patrouillen herum,
wir lauerten lange Stunden auf die Gelegenheit und
schlugen uns durchh die heranbrausenden Kolonnen,
sobald die Sprengung hochgekracht war. Wir brachten
die Kohlen- und Transportzüge zur Entgleisung und
versenkten einen Dampfer im Dortmund-Ems-Kanal
und im Rhein-Herne-Kanal einen Kohlenkahn.
Ich kam mit Gabriel gerade zurück nach Essen —
wir hatten dort, wo der Kanal über die Emscher in
einem Brückenflußbett geführt wird, den Krempel in
die Luft gejagt, die Stromzufuhr zum Schleusentor
durchschnitten und so den Wasserspiegel bis zur
Unbefahrbarkeit gesenkt — als wir hörten, daß die
Sabotagekolonne Schlageter hochgegangen war.
Wegen der Brückensprengung bei Calcum hatte die
Polizeibehörde — die deutsche Polizeibehörde von
Kaiserswerth — Steckbrief hinter Schlageter erlassen.
Das kam uns nicht unerwartet. Wenn wir über die
Grenzen wechselten, dann waren die deutschen
Behörden ebenso eifrig hinter uns her wie die
französischen im Kampfgebiet. Es gab Bürgermeister,
die Leute von uns, welche von deutscher Polizei
angehalten, durchsucht und mit Sprengstoff oder
Waffen versehen befunden wurden, verhaften und an
die Franzosen ausliefern ließen. Es gab deutsche
Gendarmeriekommandos, die mit den französischen
Hand in Hand arbeiteten, uns dingfest zu machen.
Schlageter wurde von Deutschen verraten an die
Franzosen. Er wurde gegriffen und mit ihm Becker und
Sadowski und Zimmermann und Werner und noch zwei
andere. Hauenstein wurde von der deutschen Polizei
verhaftet und festgesetzt.
Wir versuchten alles, um die Kameraden
rauszuholen. Aber der die ganzen Verbindungen in der
Hand hatte, die Gelder, die Pläne, alles, Hauenstein,
wurde nicht freigelassen, erst recht nicht, als er immer
wieder verlangte, zur Befreiung Schlageters wenigstens
aus der Haft beurlaubt zu werden.
Wir waren Tag und Nacht unterwegs. Als wir die
Kameraden endlich in Werden ausgemacht hatten und
alle Kraft dorthin konzentrierten, waren sie schon nach
Düsseldorf abtransportiert. Wir hörten von wüsten
Mißhandlungen im Essener Kohlensyndikat, dem
französischen Hauptquartier. Wir hörten von
Peitschenhieben und Kolbenstößen. Wir waren in
Werden schon im Gefängnishofe, an Düsseldorf kamen
wir nicht heran, weil wir von der deutschen Polizei
schärfer überwacht wurden als von der französischen.
Wir wollten einen Massensturm auf das Gefängnis
organisieren und Gabriel rief die Kruppschen Arbeiter
zur Hilfe auf, denen im März dreizehn der Ihren von
den Franzosen niedergeknallt worden waren. Es war
alles vergeblich. Wir wandten uns an Bürgermeister,
denen die Wänste in der Weste schwabbelten, als wir
kamen; Gabriel reiste nach Berlin zur Regierung, die
ihn höhnisch abwies und an das Kote Kreuz empfahl.
Am 26. Mai 1923 wurde Schlageter auf der
Golzheimer Heide bei Düsseldorf von einem
französischen Peloton erschossen, drei Stunden, bevor
wir zu einem letzten, verzweifelten, wahnsinnigen
Sturm auf das Gefängnis ansetzen wollten. Die anderen
Kameraden wurden nach der Insel St. Martin de Ré
abtransportiert und sollten von dort nach Cayenne
geschafft werden ...
... Gabriel übernahm die direkte Führung im ganzen
besetzten Gebiet. In Frankfurt hockte Heinz, in Essen
Hauenstein, in Köln Treff. Aber ich mußte Treff in
Köln ablösen. Denn er laborierte an einer schweren
Handverletzung, die er sich im Februar geholt, als er
den Kölner Separatistenführer in seiner Wohnung
aufgesucht und niedergeschossen hatte, wobei er sich
auf der Flucht durch einen Lichtschacht stürzte. Er ging
«zur Erholung» nach Spandau in die Zitadelle, wo ein
Bataillon der Schwarzen Reichswehr hauste und alle
ausgelaugten Kämpen des Ruhrkampfes zu neuer
Arbeit vorbildete. Er blieb nichtlange dort. Er holte im
Juni mit den anderen den Kapitän aus dem Leipziger
Reichsgerichtsgefängnis heraus.
Es war, als wollte uns zu guter Letzt noch einmal
alles glücken. Das Reich war völlig aufgewirbelt. Was
es zusammenhielt, war nichts als die Furcht vor dem
letzten harten und dynamischen Zwang des Chaos, aus
dem die deutsche Revolution wachsen mußte. Aber die
Inflation, der reißende Sturz der Mark, des Wertes, der
den einzelnen der Masse noch an die Dinge band, die
ihm sein Dasein garantierten, an das tägliche Brot, im
die gesicherte Ordnung, schuf eine Atmosphäre, in der
das, was diesem ein Glaube war, zum Fatalismus
wurde, und der Fatalismus zur Verzweiflung. Bald
stand jeder für sich allein, eine pulverisierte Masse
bildete das Reich, Rohstoff für den Aufbruch, auf
dessen Parole jedermann zu warten, dessen Signal
jedermann folgen zu wollen schien.
Wir aber, Gottes Freund und aller Welt Feind,
mußten unerbittlich zerschlagen, was sich in den
Bestand des Kommenden drängen wollte, Standen wir
vorher lange Jahre völlig allein, so kristallisierte sich
nun uns allmählich an, was noch Hoffnung hatte. Schon
gab es Augenblicke, in denen wir entschlossene
Massen hinter uns sahen, wenn wir vorstießen. In
Düsseldorf, in Aachen, in Krefeld, in Bonn sollten das
die Separatisten zu spüren bekommen. Ein Schuß, von
uns gefeuert, genügte da, die Massen aufzubieten. Mit
Wasserschläu-chen und Knüppeln, mit Steinen und
Jagdgewehren gingen wir es an und schlugen tot,
beschossen von den Franzosen, den Aufruhr
beherrschend, bis ausgerottet war, was sich uns
entgegenstellte. Das war in der Gegend um Honnef und
Ägidienburg, in dem schmalen Streifen zwischen den
Brückenköpfen von Koblenz und Köln, der frei ist von
französischer Besatzung, wo Gabriel den Hauptschlag
geführt. Dorthin hatte er eine Schar von etwa 1500
Separatisten aus dem besetzten Gebiet durch
mancherlei Schachzüge hineinzu-manövrieren gewußt,
und wir hockten in den Wäldern und beobachteten
ihren Anmarsch. Da kamen die Kerle angebummelt,
Gewehr mit Mündung im Dreck, zerlumpt, schludrig,
Dreckgestalten mit zerlasterten Gesichtern. Und sie
drangen in die Dörfer, knallend, johlend, zerrten das
Vieh aus den Ställen, schlachteten auf offener Straße,
plünderten, soffen und zündeten an. Da boten wir die
Bauern auf. Die Glocken heulten zum Sturm, auf den
Hügeln loderten die Brände, und wir brachen aus den
Wäldern, tolle Haufen mit Sensen, Mistgabeln und
Dreschflegeln. Auf einmal war das ganze Tal lebendig,
die Bauern, schweißig, blut-bespritzt, rasten in die
fechtenden Knäuel, schlugen tot, jagten, tobten — noch
lange wird man in den Höfen des Westerwaldes von der
Bauernschlacht in den Sieben Bergen reden.
Das Signal zur letzten Anstrengung war die Aufgabe
des passiven Widerstandes durch die Regierung. Alles
drängte zum Marsch nach Berlin. Das heimliche Heer
hatte sich fast von selbst gebildet. Der Druck des
Wartens wurde unerträglich. Die Schwarze Reichswehr
vegetierte in den Kasematten dürftiger Festungswerke,
im Dunkel zermürbender Verschleierung. Und die
gestauten Energien ließen die Kräfte sich
gegeneinanderkehren zu stiller, bohrender Selbst-
vernichtung. Was da an Männern sich gesammelt hatte,
hatte es gelernt, gegen Verräter erbarmungslos zu sein.
Buchrucker in Küstrin prellte vor. Bei Koburg standen
schon die schwarzen Formationen, die Brigade als
Stamm, zum Einmarsch in Thüringen, Richtung Berlin,
bereit. In Bayern marschierten die bewaffneten und
uniformierten Trupps ungehindert auf den Straßen.
Am 8. November kamen Gabriel und ich nach
München. Die Stadt war in unbeschreiblicher Erregung,
Hitler rief die nationale Republik aus. Verdammt, es
geschah im Bürgerbräukeller. Und an der Feldhernhalle
am 9. November schoß Polizei und Reichswehr in den
anrückenden Zug, und es fielen dreizehn Mann, Kerle
dabei, die eben noch mit uns an der Ruhr gekämpft.
Da hatte der Teufel die Hand im Spiel. Es war aus.
Es war alles aus. Nationalhymne her und Fahnentuch
— aber niemals wird der Dreck verdeckt werden
können. Da war eine Stunde, wie sie ein Volk in
hundert Jahren seiner Geschichte nur einmal geboten
bekommt, — und wir - und wir?
Gabriel ließ keine Rohe. Wir wollten sammeln, aber
es war alles zerplatzt. Es war auf einmal niemand mehr
da. In der Pfalz fanden sich noch ein paar zu einem
Grüppchen, das Gabriel führte. Er schien innerlich
ausgebrannt. Was er tat, klapperdürr und hohläugig, das
schien eine Maschine zu tun. Seine exakten Methoden,
die, ganz ohne Leidenschaft angewandt, die unbedingte
Sicherheit des Erfolges fast immer garantierten, hatten
nichts mehr gemein mit dem wilden, rachedürstenden
Trotz seiner ersten Aktivistenzeit. Er wurde uns
beinahe unheimlich. Nur Ideen geben Mut. Aber er
lehnte jegliche Idee für sein Handeln ab. Er lachte nur,
wenn wir beieinanderhockten und wieder mal, wie er
sagte: «Deutschland retteten». Er sagte kalt in die
Debatte, in der die wunderlichsten Pläne aus den
dampfenden Hirnen stiegen, daß wir notwendig
scheitern müßten, und daß er das begrüße. Er grinste
hohnvoll, wenn wir « DeutSchland» sagten. Aber er
setzte die Gruppe an, den Heinz-Orbis zu erschießen,
Separatistenführer und Ministerpräsident der
«autonomen Pfalz».
Der satt des Abend in Speyer im Wittelsbacher Hof
mit seinen Freunden und mit französischen Offizieren
und soff. Das Lokal war überfüllt, als wir eindrangen,
als wir die Pistolen erhoben und die Herren
französischen Offiziere folgsam die Arme in die Höhe
streckten. Totenstill war es im Raum und tausend
Augen starrten uns an. Dann krachten die Schüsse und
Heinz-Orbis und fünf seiner Gesellen sackten
zusammen. Die Kronleuchter zerknallten wir und
waren draußen, aber Treff hatte einen Schuß im Kreuz,
und als er starb, sagte Gabriel: «Ja, ja, wir kommen alle
dran.»
Was mit uns nach Pirmasens ging, wußte darum.
Über uns war sich der Tod noch nicht mit dem Teufel
einig geworden. In Pirmasens war der Teufel los. Gott
mit uns - aber in des Satans Nähe hatten wir uns immer
am wohlsten befunden. Ironie des Schicksals, daß wir
ihn nun austreiben mußten. Wir hatten schon einmal für
Ruhe und Ordnung gekämpft. Und wir hatten uns
geschworen, es niemals wieder zu tun. Nun taten wir es
doch wieder. Das große Kotzen stieg uns hoch. Aber
solange noch gekämpft wurde, wollten wir dabeisein,
Wir trafen die Pirmasenser Bürger gerade in der
rechten Stimmung. Die Separatisten hatten Lebens-
mittelgeschäfte geplündert, hatten einigen Bürgern das
Dach über dem Kopfe abgedeckt, das Rathaus gestürmt
und das Bezirksamt besetzt. Im Bezirksamt war ihr
Hauptquartier. Von dort aus knallten sie munter in die
Gegend. Am 12. Februar 1924 war es so weit. Die
Separatisten wurden telephonisch aufgefordert, Jas
Gebäude zu verlassen. Sie weigerten sich. Da
marschierten wir an, eine Handvoll Burschen, viele
Pirmasenser dabei, aber hauptsächlich Gabriels Leute.
Die Separatisten schossen, warfen Handgranaten; wir
konnten sie auf den ersten Anhieb nicht rausschmeißen.
Nun machte Gabriel die Stadt mobil. Es wurde Sturm
geläutet, die Feuerwehr rückte an. Wir rasten durch die
Straßen und forderten brüllend die Pirmasenser zum
Kampfe auf. Wir sammelten uns rund um den Platz vor
dem Bezirksamt. Die Feuerwehr schickte Wasser-
strahlen gegen die Fenster, konnte sie aber nicht einmal
eindrücken. Nun, um sechs Uhr abends, löschten wir
die Straßenbeleuchtung aus und nahmen das Gebäude
unter Beschüß. Als wir zum Sturm ansetzten, fiel
Gabriel.
Er fiel mit Kopfschuß und war sofort tot. Ja, ja, wir
kommen alle dran. Wir schrien uns die Nachricht von
seinem Tode zu, und da war nichts, was uns halten
konnte. Viele sah ich, denen stand der Schaum vor dem
Munde, die brüllten aus kalkweißem Gesicht, indes sie
vorwärtsrasten. Wir prallten an das Gebäude, schlugen
die Fenster ein. Wir warfen Papier, Werg, Holz, Benzin
und Handgranaten in die Zimmer des Erdgeschosses.
Wir schleuderten Feuerbrände in die Räume, daß ein
Munitionslager hochprasselte. Wir krachten gegen die
schwer verrammelte Tür, bis sie barst, und jagten die
Treppe hinauf und holten sie einzeln heraus, und was
uns lebend entkam, das erschlug die Menge vor dem
Haus. Wir standen im Qualm, berauscht, keuchend,
besessen, tobten durch die Zimmer, fanden den
Anführer und legten ihn um.
Und draußen standen die Franzosen und wagten sich
nicht zu rühren.
Und dann erfuhren wir seit dem November 1918
zum ersten Male, daß es für uns nichts mehr zu tun gab.
Schon die Frage, «was nun?» verblüffte uns. Wir
gingen verlegen auseinander.
Wir wollen uns nichts vormachen. Es ist vorbei. Es
war schön und es ist vorbei. Niemals wieder werden
wir marschieren, wie wir es gewohnt waren. Unsere
tolle Schar existiert nicht mehr. Da hockt irgendwo im
Lande der eine oder der andere, der dabei war, und bald
werden wir nichts mehr voneinander wissen als das,
was uns einmal band. Vielleicht, nein gewiß, wird die
große Rechnung noch einmal beglichen. Und die paar
Männer, die übriggeblieben sind, werden dann wieder
dabeisein als einzelne, jeder für sich, oder jeder mit
einer neuen Schar. Vielleicht — aber es ist dann ein
neuer Kampf, mit neuen Gesetzen.
Ich könnte sie an den Fingern herzählen, die alten
Genossen. Wer nicht gefallen ist, wer nicht im
Zuchthause sitzt oder über der Grenze ein schweifendes
Leben führt, der hat sich nun eingebohrt in den Dreck,
der immer noch über allem lagert, was lebendig ist.
Viele sind abgelebt, verkommen, viele auch fügen sich
in neue Formen und führen an neuem Ort einen
verbitterten Kampf. Den Heinz schleppen sie von
Gefängnis zu Gefängnis, den Jörg haben sie
eingebuchtet, weil er mit zehn Mann die Regierung
stürzen wollte und schon daranging, das
Innenministerium als seine künftige Domäne zu
besetzen. Die beiden, in deren Feuer Erzberger fiel,
kreisen auf verzweifelten Fahrten immer noch rund um
Deutschland und stieren auf das Land, für das sie die
Verbannung auf sich nahmen. Von Kerns Genossen ist
noch keiner den grauen Mauern entronnen. Und
Techow schrieb aus dem Zuchthaus Sonnenburg in
Euer aller Namen, Ihr verzichtet darauf, rausgeholt zu
werden, solange noch Dringenderes zu tun ist. Es ist
nichts Dringenderes zu tun, aber es ist keiner mehr da,
der Euch helfen könnte. Hilf Dir allein. Vielleicht wird
gerade das Zuchthaus Dir am besten weghelfen über
den großen Schleim. Leg Deine Leidenschaft auf Eis.
Konservier Deinen nützlichen Haß. Es werden nur
wenige sein, die noch einmal spüren dürfen, daß nichts
vergeblich ist auf dieser Welt.
Und ich lasse mich vorläufig jeden Tag auf dem
Rhön-Fliegerlager Wasserkuppe mit ein paar
Quadratmetern Tuch und Holz durch ein Gummiseil in
die Luft torpedieren. Eine Woche nach Pirmasens zum
ersten Male. Und späterhin? In Marokko sitzt ein
Niggerscheich mit Namen Abd-el-Krim, der soll einen
Aufstand gegen Frankreich planen — und Flieger sind
überall nützlich...»

1924

Es kam die Zeit, da mich das jagende Entsetzen


überfiel, die wütende Angst vor dem Sinnlosen, da die
grauen Mauern des verfluchten Hauses ihre Gespenster
gegen mich hetzten und ich auf den Wind horchte, der
um die Gebäude fuhr. Hatte ich mich im ersten Jahre
meiner Haft noch im Gleichklang mit den Dingen
gefühlt, die sich draußen vollzogen und an deren
Abläufen ich immer noch einen geheimen Anteil hatte,
spürte ich mich noch dem Geschehen verhaftet, dem
Bewegenden, dem Eigentlichen, der Einheit, all dem,
was einer höheren Würde voll, so war ich nun allein.
Nie war ich so allein, wie in jenen Tagen; ich war so
allein, daß ich es nicht ertrug, wenn mir der Direktor
mit menschlichem Bemühen zu nahen versuchte, daß
ich nicht ertrug die mahnende Teilnahme des
Hauptwachtmeisters, nicht den besänftigenden Tonfall
seltener Briefe, die heimlichen Fragen der
Mitgefangenen nicht und nicht die ausgleichende
Wärme erster Vorfrühlingstage. Ich verkroch mich in
die Zelle, die mir feindlich war, die ich nach
stumpfsinnigem Spaziergang nicht betreten konnte,
ohne namenlosen Ekel zu verspüren; ich baute mich in
die vier Wände ein und haßte den Beamten, der die
Türe öffnete, und den Kalfakter, der die Suppe brachte,
und die Hunde, die vor dem Fenster sich balgten. Ich
erschrak vor der Freude. Der Mandelbaum am
Hofeingang, der zu blühen begann, der mit rosa Blüten
bedeckt war und den Hof mit unbeschreiblichem
Glanze erfüllte, war mir ein Ärgernis wie die große
Kastanie in der Mitte des Spazierweges mit ihren
aufspringenden Knospen und die Reihe kümmerlicher
Linden, in deren Geäst nun Stare und Finken hockten.
Denn jede Freude erschien mir wie eine Verfälschung,
wie Hohn auf das, mit dem ich fertig zu werden hatte,
und von allen Lüsten ließ ich die eine nur gelten, die zu
mir kam, wenn hinter den Dingen voll Langeweile der
lebendige Hintergrund auftauchte, wenn durch den
kleinen Tag und durch die kleine Ordnung und durch
den kleinen Kampf plötzlich das Gesetz durchbrach
und die Ahnung von seinem tieferen Sinn. Das kam zu
mir, wenn ich des Nachts die Schritte der Ronde in
lähmendem Takte durch die Gänge hallen hörte, wenn
im fahlen Lichte des Mondes das Holz des Tisches
drohend zu knacken begann, mich mit peitschendem
Knall aus wirrem Schlafe jagte, wenn Schreie aus den
Zellen brachen und die bebende Luft bis zum Platzen
mit ihren Schauern füllte; das fuhr mir schneidend in
die Därme, wenn im grauen Dunst des Morgens die
gellende Glocke die Nacht zerspellte, wenn die
Kalfakter an den Zeilentüren entlang jagten und die
Riegel zurückhämmerten, mit donnerndem Getöse auf
einen Schlag das Haus zu seinem schemenhaften Leben
weckend, wenn das Leben dieses Hauses selbst über die
Ordnung obsiegte, in die man es zu zwingen
unternahm, wenn der Tumult in den Arbeitsräumen
hochbrodelte, Schemel gegen die Türen krachten und
schreiende Beamte mit Karabinern und
Wasserschläuchen rannten. Dann stand ich an der Tür
oder am Fenster, hingeschleudert von einer äußersten
Anspannung aller Muskeln, mit bloßgelegten Nerven,
lauschend, keuchend, in klebrigem Schweiß, und
schmeckte den vollen Gehalt der Augenblicke, die von
einer tieferen und bewegteren Schicht Kunde gaben,
wie das Klopfzeichen des Gefangenen vom
verborgenen Leben im Stein. Nicht fürchtete ich das
röchelnde Grauen, das aus den Mauern kältete, nicht
den rasenden Schrei der Nacht und die Gesichte, die
aus der brütenden Verlassenheit mit fahlem Schimmer
stiegen, nicht das namenlose Entsetzen, das aus dem
Gerassel der Schlüssel sprang, und den Schrecken
nicht, der das unbewehrte Herz anfiel zu lauernder
Stunde, — was ich fürchtete, das war der große Betrug,
das war die schmachvolle Verfälschung, in die des
Hauses Satzung meine wachen Instinkte zwang. Ich
wollte keinen Schutz vor mir selber und keinen vor den
Dingen, die wirklich sind. Nie hatte ich den Rausch
gescheut, denn er zerfetzte den Schirm, den Sitte und
Gesetz um mich gegen die Dämonen gespannt, er
zerspliß die Bastionen, die Schanzen, in die ich mich
wie die anderen verkroch; nun aber, eingekerkert und
bewacht, nicht eine Minute ohne den Blick mißgünstig
forschender Augen, umspannt von Verboten und mit
bleichem Zittern wie ein Schulbube, wenn ertappt, nun
aber suchte ich immittelbar, was mir die rasenden
Spannungen meiner Freiheit geboten hatte, nun suchte
ich mich, mich ganz, allein und wußte doch, daß ich
mich finden würde im Einklang mit einer Welt, von der
ich nur die blassen Schatten sah, und die doch sein
mußte von einer betörenden Wirklichkeit, reifer als die
Welt, dir mir zerbrochen war nach immerwährendem
Gefecht.

Es kam die Zeit, da ich glaubte, nicht länger zögern zu


dürfen, da ich suchte, den tieferen Sinn des Zufalles
meiner Haft an den Erscheinungen abzulesen, die sich
mir täglich boten.
Mit der Zeit hatte ich mancherlei Gelegenheit, auch
im Zuchthause mit jenen Geschöpfen dieser Erde, die
immer noch die besten Medien für die Offenbarung der
wirklich bestimmenden Kräfte darstellen, mit den
Menschen, in eine innigere Beziehung zu treten.
Der Herr Direktor kam oft in meine Zelle; aber es
dauerte niemals lange und die gedrängte Unterhaltung
war bis zu einem Punkte gediehen, der mir wesentlich
und dem Herrn Direktor gefährlich erschien. Dann
hatte er eine ernüchternde Art, mit kurzem Ruck seinen
steifen Hut auf den Kopf zu kippen und mit würde-
vollem Gruß mein Gehäuse freundlich zu verlassen.
Viele Beamte gab es, die beim Aufschluß einige
Minuten stehenblieben, um ein paar Worte mit mir zu
wechseln. Aber was sie sagten, kam aus einem so
kleinen Umkreis des Denkens und Erlebens, daß ich
viel eher ihre Reden als die der Gefangenen der
Atmosphäre des Hauses angemessen erachtete und im
Grunde froh war, wenn mir die erniedrigende Herab-
lassung ihrer Teilnahme erspart blieb, erspart blieb die
wohlwollende Ermahnung, mich mit den Verbrechern
nicht einzulassen; und ich spürte doch, daß auch ich
ihnen galt als ein Verbrecher, ihnen unverständlicher
vielleicht, aber nicht minder verächtlich. Nicht minder
verächtlich und sicherlich gefährlicher. Denn ich
unterlag einer doppelten Kontrolle, und was auch im-
mer ich tat, war Gegenstand langer Besprechungen. Ja,
ich war ein Verbrecher in ihren Augen, nichts anderes,
und wenn ich mich anfangs wehrte, wenn ich glaubte,
gleich ihnen mich in den Schutzwall des Pharisäer-
tumes flüchten zu müssen, in gleicher Verachtung der
Gefangenen, deren einer auch ich sein sollte, so war ich
duch immer ihnen, den Pensionsberechtigten, den
Ehrbaren, ein Fremdling, wie ich im Grunde den
Gefangenen ein Fremdling war. Ich wehrte mich so
lange gegen den Gedanken, ein Verbrecher zu sein, bis
ich den Ausspruch Goethes las: «Es gibt kein Ver-
brechen, als dessen Urheber ich mich nicht denken
könnte.» Ich erschrak über diesen Satz, ich las ihn
zweimal, dreimal, ich prägte ihn mir ein, und ich
unterwarf mich einer Selbstkontrolle, die schmerzhaft
war, weil ich mich nicht belügen wollte, weil ich bei
diesem Willen zur inneren Wahrhaftigkeit so er-
schreckend leicht bei mir die mögliche Bereitschaft zu
jedem Verbrechen bejahen mußte. Nein, es gab kein
Verbrechen, als dessen Urheber ich mich nicht denken
könnte, und ich ertrug diesen Gedanken einzig in der
Überzeugung, daß er nicht etwa wachsen konnte aus
einer humanitären Grundstimmung, deren Pathos in der
unerträglichen Feststellung gipfeln müßte, daß alles
verstehen auch alles verzeihen heißt, sondern aus einem
starken Erspüren der Totalität aller wirkenden Ele-
mente.
Mir wurde mehr erzählt, als je ein Untersuchungs-
richter zu hören bekam. Aber das Wort «Verbrecher»
galt als äußerstes Schimpfwort, und wo es unter den
Gefangenen einmal fiel, auf dem Hofe beim Spazier-
gang oder in den Arbeitsräumen, in den Schlafsälen der
Gemeinschaftshaft oder in den Dreimannszellen für die
Psychopathen, immer sprang der Beschimpfte dem
Beleidiger an den Hals und wirre Knäuel bildeten sich
um die Kämpfenden, und erst in den Arrestzellen
endete das Getobe, nachdem der Direktor die gleiche
Strafe für jeden Beteiligten verhängt. Ein Verbrecher
wollte niemand sein, der nicht, der blind und dumpf
über die Fallstricke des Gesetzes gestolpert, der nicht,
der mit kaltem Zynismus von seiner Straftat sprach,
und der nicht, der einen nicht immer einträglichen und
jedenfalls gefährlichen Beruf verteidigte. Da hatte der
eine aus Not gehandelt und der andere aus Leidenschaft
und der dritte, weil er es nicht anders gewohnt war.
Aber keiner fühlte sein Tun eingeordnet in den Zwang
eines höheren Willens, spürte sich verpflichtet zur
Erfüllung eines stärkeren Gesetzes als jenes, das ihm
seine Tat verbot und Strafe setzte. Keiner von ihnen
spürte eine Schuld! Ja, sie behaupteten alle, unschuldig
zu sein, sie behaupteten es, selbst wenn sie gestanden.
Keiner war da, der nicht ein schlechtes Gewissen hatte,
wenn er mannigfaltigem Drängen gegenüber bekannte,
schuldig zu sein; denn keiner war da, der da wußte um
die Schuld. Darum trugen sie alle mit Ingrimm das Joch
der Strafe, sie trugen mit Haß den Hochmut der
Richter, der Beamten, sie maßen die Säbelträger mit
verächtlichen Blicken, und es war ihnen eine bittere
Freude, zu wissen, daß jene, wenn man sie in die
gleiche braune Kluft steckte, Menschen sein würden
des gleichen Typs wie sie selber. Unterworfen fühlten
sie sich und getreten, von Menschen, nicht von Gott,
von einem verruchten System, nicht von einem
lebendigen Gesetz.
Ich aber war und blieb ihnen fremd.

Es kam die Zeit, da ich mich aus den Wirren täglicher


Zweifel in einen sonderbaren Hochmut rettete. Denn da
alles, was mir auf meinen wunderlichen Wegen
begegnete, nur dazu dienen konnte, den Gehalt an
Ideen und Zielsetzungen zu läutern und immer wieder
aufs neue umzuordnen, glaubte ich in der steigenden
Sicherheit meiner Kraft die Bestätigung zu finden für
die Richtigkeit meines Tuns. Da war kein Schmerz, der
sich nicht in Wachheit wandelte, keine Furcht, die nicht
den Ansatz zu neuem Mute gab. Und nicht die
Besonderheit meiner Stellung als Überzeugungstäter
war es, die mich von vornherein erhob über meine
Mitgefangenen, es war auch nicht die größere Härte,
der ich unterworfen war, da mir die kleine Ordnung
mehr beschnitt als den anderen, es war etwas anderes,
etwas, das ich im Grunde jeden Augenblick meines
Lebens gespürt. Sie alle, mit denen mich das Schicksal
zusammengewürfelt, erlebten das gleiche wie ich. Aber
das war es eben: Niemals ist das Erlebnis entscheidend!
Es kann zu jedem kommen, es trifft blind die
Menschen, ob sie gerüstet sind oder nicht.
Entscheidend ist immer, wie sich im einzelnen das
Erlebnis sublimiert. Und das erhob mich über die
anderen, daß ich nicht erschrak, meine Konsequenz zu
ziehen, daß ich den Mut hatte, ein Verbrecher sein zu
wollen.
Da war kein Gedanke, den ich dachte, der nicht ein
Angriff war auf den Bestand an Sitte und Moral, der
dieses Haus und seine Satzung erst rechtfertigte. Und
kein Entschluß war da, der nicht bereits in seinem Kern
den Keim zum Umsturz barg. Die Masse der
Eingekerkerten aber hatte sich unterworfen. Sie lebte in
dumpfer, tierischer Lethargie; einzelne, die in
wütendem Haß aufsprangen, die auf ein demütigendes
Wort mit Zerschmetterung aller erreichbaren
Gegenstände antworteten, waren dennoch der Masse
verbunden, wurden von ihr in kurzem Aufbrüllen
unterstützt oder aber mit hündischer Unterwürfigkeit
verraten und ausgeliefert um kleiner, schändlicher
Vorteile willen. Was um mich herum in den Zellen und
Arbeitsräumen vegetierte, war nicht durchaus der
Abschaum einer geordneten bürgerlichen Welt, war
viel eher selber bürgerlich bis zur leiten Konsequenz,
war bequem, der Ordnung verhaftet, in quengelnder
Furcht vor jeder Entscheidung und zu ähnlich der
Gesellschaft, die diese Art von Verbrechertum erst
gezüchtet hatte, um es dann zwischen Stein und Eisen
zu zerdrücken, als daß es den grandiosen Schlag in ihr
Gesicht wagen konnte. In diesen Menschen lebte kein
Funken aufrührerischer Kraft, keine Idee erfüllte sie,
kein Trotz, kein Stolz der Ausgestoßenen gab ihnen den
Impuls. Das aber schien mir doch das Merkmal des
Verbrechens, daß es auf die Zerstörung der
beherrschenden Ordnung gerichtet war, nicht darauf,
sich in ihr mit unerlaubten Mitteln einzurichten.
Es kam die Zeit, da Gerüchte durch die Anstalt
schwirrten, sich von Mund zu Mund geflüstert
schwangen, von Zelle zu Zelle getragen wurden.
Hoffnungsfreudiges Geraune, wohlgespeist von halben
Andeutungen sich maßgeblich und gnädig fühlender
Beamter, erhob sich in den Schlafsälen und Arbeits-
räumen. Es begann mit dem Tage, an dem auf der
Spitze des Turmes die Flagge halbmast wehte. Der
Reichspräsident war gestorben, verkündete der Pfarrer
von der Kanzel, und kaum hatte er dies gesagt, erhob
sich Unruhe im Raum. Da war keiner unter den
Gefangenen, der nicht dasselbe dachte, der sich nicht
halben Blickes blitzschnell verständigen konnte mit den
anderen. Wenn der Reichspräsident gestorben war,
wurde der neue gewählt — und dann gab es sicherlich
eine Amnestie. Und bald hieß es, im Reichstag würde
schon darüber verhandelt.
Der Hofkalfakter zischelte es mir zu: Ein Drittel der
Strafe sollte erlassen werden, für jedermann,
gleichgültig, für welche Straftat er büße. Der
Lazarettwärter hatte es aus sicherster Quelle: Mit dem
Tage des Dienstantrittes des neuen Präsidenten sollte
auf einen Schlag entlassen werden, wer schon zwei
Drittel seiner Strafe abgesessen. Der Kanzleigefangene
teilte jedem mit, der es hören wollte: Schon seien die
Beamten mit der Zusammenstellung der Listen
beschäftigt, doch handle es sich nicht um ein Drittel,
sondern um ein Viertel der Haftzeit, die erlassen
werden solle. Edi aber steckte mir einen Zeitungs-
ausschnitt zu, da stand es schwarz auf weiß: Zur
bevorstehenden Reichspräsidentenwahl erwäge der
Reichstagsausschuß eine Amnestievorlage, nach der in
weitherzigster Weise von der nunmehr gefestigten
Republik ein Strich unter die Geschehnisse gezogen
werden solle.
Edi war voller Hoffnung. Wir trafen uns, er und ich,
beim Tauschen der Arbeitshosen in der Kammer des
Hausvaters; diese aber war vollgestopft mit
Gefangenen, die sich durcheinanderdrängten, und die
dumpfe Luft des engen Raumes, die gemischt war aus
den Gerüchen der Wäschekammer, der Stiefelregale
und der Kleiderstapel, aus den Ausdünstungen sich
entkleidender Männer, ein muffiges Gas aus Schweiß,
Staub und Mottenpulver, lastete schwer. Wir stahlen
uns die knarrende Treppe hinauf, bis wir an ein Fenster
gelangten, das den Blick freigab über die Landschaft,
die sich draußen vor den Mauern breitete. Wir standen
und sahen stumm hinaus.
Edi hatte die Fäuste um die Tralljen geklammert und
preßte den Kopf an das Gitter. Sein Gesicht war
erschreckend abgemagert vom dauernden Arrest, und
die geröteten, fiebrigen Augen lagen tief in den Höhlen
der graugelben Haut. Wir begannen leise zu sprechen.
Von der Amnestie sprach Edi, und ich lachte. Ich
wollte an diese Amnestie nicht glauben; und wenn sie
kam, dann mußte sie bitter schmecken. Uns Gnade,
hingeworfen, wie nun einem Hunde ein Stück Brot
hinwirft! «Ja, wenn ich sie achten könnte», sagte ich zu
Edi und packte ihn am Arm. «Und ich könnte sie
achten, wenn sie uns allesamt, wie wir da standen vor
ihrem eigens dazu bestellten Gericht, wenn sie uns da
zum Tode verurteilt hätten, so, wie wir sie verurteilt
hätten, wären wir die Richter gewesen! Dann könnte
ich sie achten», sagte ich, und ich sagte: «Und jetzt
noch Gnade annehmen von ihnen?» — Edi wandte den
Kopf mir zu, er sagte leise: «Ich bin jetzt vier Jahre
hier.»
Wir schwiegen. Das Städtchen mit dem Gewirr
niedriger roter Dächer, eingesprenkelt in das Grün
dichter Bäume und zerzauster Büsche, lag
unwahrscheinlich friedlich im sanften Tal. Kaum ein
Laut war zu hören, nur von fern, verweht, tönte im Takt
ein dumpfer Laut, als würden irgendwo Trommeln
geschlagen. Es kam näher und näher, wir horchten,
dazwischen verhallten die Fetzen schriller Melodie. Die
Häuser fingen den Schall, kam es von rechts, von links?
Plötzlich dröhnte es laut, wir hielten den Atem an, und
dann brach es um die Ecke. Die Reichswehr
marschierte vorbei. Knapp konnte ich die runden Hel-
me sehen und die Gewehre, die über den unsichtbaren
Reihen ragten. Dann aber krachte dumpf der
Paukenschlag und die Musik rauschte hoch. Wie ein
Schrei fuhr der Hall an den Himmel, das Schmettern
gleißender Trompeten hieb die Luft geballt an Wand
und Mauer, der Hohenfriedberger, der Marsch des
Preußenkönigs gellte, der Marsch, dem aller zäher
Dreck des Schlachtfelds an den Stiefeln klebte und über
ihm die Beutefahnen und Standarten des Regiments
Bayreuth. Das war der Jubel einer kriegerischen Tat,
das Jauchzen letzten Opfermuts, das war der Sieg, der
Aufbruch war zugleich. Und immer wieder hämmerte
der Paukenschlug, gebändigt letzte Energie durch ihn,
nietallen die Fanfaren überm Klingelspiel des
Schellenbaums ...
Ich aber, ich, von jedem Ton durchstoßen, wankte,
kippte an das Gitter, aufgewühlt, zerrissen — dabei
sein, dachte ich, dabeisein, frei sein — jählings stürzte
mir zusammen, was ich mir so mühsam hingebaut. Da
draußen, da marschierten sie, und ich, und ich? —
Fluchend zeterte unten der Hausvater und rief. Wir
stolperten die Treppe hinunter.
Nun gierte ich wie die anderen auf jede Nachricht
von der Amnestie. Bald hieß es, an Stelle eines
Amnestiegesetzes solle durch Gnadenakte auf freien
Fuß gelassen werden, wer immer würdig sich erwies.
Und es kam die erste, ergebnislose Wahl. Dann wurde
erzählt, nur bestimmte Straftaten sollten in die
Amnestie einbegriffen sein. Und es kam der Tag, an
dem der Feldmarschall die höchste Würde des neuen
Reiches übernahm. Wir lauerten in heißer Spannung.
Es hieß, zumindest die Politischen sollen begnadigt
werden. Es hieß, vielleicht würden auch die
Kriminellen bis zu einem bestimmten Grade bedacht.
Es hieß, ins Ermessen der Anstaltsdirektion würde die
Entscheidung gelegt. Jedermann, der sich gut geführt,
könne damit rechnen... Es hieß, der greise Herr
wünsche... Es hieß, im weitesten Umfange...
Viele richteten schon ihre Sachen. Die Beamten-
konferenz wurde überschüttet mit Gesuchen. Der
Direktor wurde bedrängt. Die Beamten lächelten
verheißungsvoll.
Und als, lange Wochen nach der Reichspräsidenten-
wahl, die fiebernde Erregung, das zitternde Erwarten
zur letzten glutgefüllten Höhe gestiegen war, da kam
endlich, endlich die Verordnung.
Und nicht einer, nicht ein einziger im ganzen
verfluchten Hause fiel unter jene lächerliche, unter jene
groteske Amnesie.

Wir saßen, Edi und ich, in blasser Herbstsonne hinter


dem Holzschuppen und sprachen von der Freiheit. Über
die Mauer lugte ein Ast.
Über die Mauer kam das versprengte Geräusch
ferner Musik. Vom Hofe schallte das Schimpfen des
Hauptwachtmeisters und Getrappel vieler schwerer
Schritte. Edi sagte: «Vier Jahre bin ich nun hier.» Er
sagte: «Meine Frau wartet auf mich; sie geht in die
Fabrik.» Er sagte: «Wenn ich jetzt frei wäre ...» Und
ich lauschte, wie er mir von dem bescheidenen Glück
erzählte, von einer dumpfen Wohnung, dort, fern,
inmitten knalliger, hoch gekanteter Häuserblocks,
inmitten eines Gewirres ragender Schlote, unter Qualm,
Lärm und Enge. Und plötzlich sprang er auf, rannte
gegen die Mauer, hob beide Fäuste und hämmerte mit
rasender Gewalt gegen den starren Stein und schrie:
Frei will ich sein, frei will ich sein! Und ich,
hochgepeitscht, überstürzt von zischender Qual,
schnellte zu ihm hin, stemmte mich gegen die Mauer,
sinnlos, auseinandergerissen, keuchend, trat gegen die
Wand, daß sie bröckelte, hieb mit blutenden Knöcheln
in wahnwitziger Verzweiflung «Wie die Tiere», sagte
der Hauptwachmeister, als er uns in die Absonderungs-
zellen brachte, und schüttelte den Kopf, «wie die
Tiere!»
Schrei

Es war niemand zugegen, als das geschah, was der


Obersekretär «tätlichen Angriff auf einen Beamten»
nannte, ich hätte lügen können. Gewißlich wog meine
Aussage nichts im Vergleich zu der des Beamten. Aber
es war niemand zugegen außer meinem Gegner und
mir, und ich hätte verlangen können, daß mir bewiesen
werde. Ich log nicht. Ich gab sofort und unbedenklich
zu. Ich lüge prinzipiell nicht, solange ich in der Anstalt
bin. Ich lüge nicht, um mich einer Verantwortung zu
entziehen. Ja, wenn es sich um einen Kampf gehandelt
halte zwischen einem ebenbürtigen Gegner und mir,
einen Kampf mit allen geistigen Waffen, mit Finessen
und festen juristischen Regeln! Ein Beschleichen des
Gegners, ein Ausweichen und Betasten, ein Messen
von Kräften, kurzum einen Kampf: warum soll ich da
nicht lügen? Aber hier und so? Es ist Gefangenen-
manier, niemals und unter keinen Umständen die
Wahrheit zu sagen, oder sie anders als brutal
gezwungen zuzugeben. Ich hüte mich, auf das
Gefangenenniveau herabzusteigen. Ich hüte mich, den
Beamten als gleichwertigen Gegner anzuerkennen. Ich
sage die Wahrheit, und die erstaunten Gesichter der
Konferenz beweisen mir, daß man vor einem Novum
steht, und daß dies Novum Achtung hervorruft. Ich will
das verantworten, was ich getan habe. Trotz, das ist
meine Haltung. Leugnen wäre zu billig, wäre Flucht
gewesen
«Ich bestrafe Sie mit sieben Tagen Arrest mit allen
Verschärfungen!» sagt der Direktor, und ich werde
abgeführt.
Wir gehen durch lange, dunkle, hallende Gänge.
Meine Nagelschuhe klappern auf den Steinfliesen, und
ich schlenkere möglichst unbekümmert mit den Armen.
Der Beamte geht mit hochmütig dienstlichem Gesicht
und betont gemessenem Abstand. Ich hoffe leise, ich
komme in eine der vorderen Arrestzellen, sie sind
wärmer und liegen höher und an dem Gang, wo auch
die Zellen dei anderen Gefangenen sind, so daß man
wenigstens Geräusche hört und Leben und aus
mannigfachen Tönen auf die Zeit schließen kann. Die
anderen Arresträume liegen im Keller, tief unten und
ganz hinten. Sie sind nur von außen heizbar und jetzt ist
Dezember. Der Beamte geht vorbei an den Zellen, an
denen meine leisen Wünsche hangen, und ich schäme
mich ungleich meiner differenzierenden Regung. Wir
steigen Treppen hinunter, der Beamte schließt Türen,
entfernt Sicherheitsschlösser. Er geht wägend zwischen
den einzelnen Arrestzellen und öffnet schließlich die
hinterste, die dunkelste, die kälteste.
Der Raum ist klein und weiß, die Kalkwände und die
grauen Eisenstangen machen frösteln. Das Fenster ist
bedeckt mit einer dicken, weißlichen, gerippten, mit
Drähten durchzogenen Scheibe, durch welche man die
Gitterstangen nur schattenhaft schimmern sieht. Im
Halbdunkel stehen gerade und drohend die Gestänge,
die den Käfig umschließen. Den Käfig, denn mitten im
Raum ist abgeteilt, an der dunkelsten Wand — beileibe
nicht an der, die von außen, vom Gang her, geheizt
wird — und möglichst weit von Fenster und Tür, ein
zweiter Raum, umgeben von Gitter, so lang wie die
Pritsche, die, eingelassen in den Fußboden, einziges
Möbel ist, und so breit wie lang. Die Tür des Käfigs
fliegt prasselnd auf. Ich trete hinein. Der Beamte nimmt
mir den Hosenträger und das Halstuch ab und haut das
Gitter zu. Er schließt mit rasselnden Schlüsseln oben
einmal, unten einmal. Er schiebt einen eisernen Riegel
vor und befestigt noch ein Sicherheitsschloß. Er geht
rund um den Käfig und beklopft mit einem Schlüssel
jede einzelne. Stange, sie auf Haltbarkeit erprobend. Er
geht zur Zellentür und zurück, betastet die Fenster-
scheibe und prüft das Thermometer an der mir
erreichbaren Wand. Er geht hinaus und schließt die
Zellentür, einmal, zweimal, oben, unten, schiebt den
Riegel vor und knackt mit dem Sicherheitsschloß. Ich
höre seine Schritte auf dem Gange trapsen. Dumpf
schlägt die Gangtür zu. Noch einmal rasseln die
Schlüssel. Dann ist Stille.
Ich sitze auf der niedrigen Pritsche, lange, lange,
ohne mich zu rühren. Ich kann nicht denken, es ist zu
kalt zum Denken, es ist zu still zum Denken. Es ist
nichts Lebendiges im Raum. Und ich, hin ich lebendig?
Ich sehe auf meine Hand, die weiß und knöchern auf
den Knien liegt. Es ist eine Totenhand. Die schwarzen
Streifen auf den bläulichen Nägeln! Ich glaube, ich
rieche Verwesung.
Ich bin der Mittelpunkt des Raumes. Vermag ich
nicht, mein Wesen bis in die fernsten Ecken des ach so
kleinen Raumes auszustrahlen, so werde ich erdrückt.
Ich soll sieben Tage hier leben. Sieben Tage und sieben
Nächte. Solange fährt ein Ozeandampfer von Deutsch-
land nach Amerika. Ich sitze auf der Pritsche und
versuche, mir eine Dampferreise vorzustellen. Ich
verbinde damit eine Welt von Wohlleben, Tempo,
weitem Blick und Freiheit. Freiheitl Ich stehe auf und
lehne mich an die Gitterstangen. Sie sind eisigkalt, und
ich mache einen Schritt vorwärts. Ich muß die Hosen
festhalten, sonst rutschen sie. Ich gehe im Kreise. Ich
träume mich auf das Promenadendeck. Ich bin köstlich
angezogen, ich höre Musik und das Plätschern
beweglicher Wellen und spreche mit eleganten Frauen
und klugen Männern. Ich träume. Aber jeder Traum ist
nur zwei Schritte lang. Jeder Gedanke ist nur zwei
Schritte lang. Dann wird er unterbrochen, und ein
neuer, ganz verschiedenartiger, taucht auf. Ich lebe in
einem irrsinnigen Tempo. Ich steigere mich über mich
hinaus. Dabei vergesse ich keinen Augenblick, daß ich
Gefangener bin, daß ich im verschärftem Arrest sitze,
daß ich im Kreise zwischen Käfigstangen gehe und mir
die Hosen festhalte, Wenn es nur etwas wärmer wäre!
Ich stecke den Arm durch das Gitter und versuche, die
geheizte Wand zu erreichen. Es ist vergeblich, und ich
verspüre auch an den Fingerspitzen keinen wärmenden
Hauch. Ich setze mich wieder auf die Pritsche. Wie
lange rang ich nun schon im Arrest sein? Es ist wohl
bald Mittagszeit? Ich verspüre Hunger. Um neun Uhr
wurde ich abgeführt. Ich bohre die Fäuste in die Augen
und halte den Atem an. Ich will wissen, wie lang eine
Minute ist. Ich zähle den Puls. Lang, unendlich lang ist
eine Minute. Wann war es doch, daß ich auch einstmals
saß und den Atem einer Minute maß? Ich saß doch
einmal schon in engem, dumpfem Raum und hatte
Furcht vor der Zeit? Ich saß im Bunker, und draußen
hagelte Feuer. Eine Granate hieb in den Boden — zu
weit. Eine zweite kam und barst drohend. Zu kurz. Die
dritte, die dritte mußte Treffer sein. Ich saß und
lauschte auf meinen Puls. Die dritte kam nichtl
Unendlich lang ist eine Minute. Ich schaue hoch und
zähle die Gitterstangen. Es sind achtundfünfzig. Ich
erhebe mich und taste mit den Füßen die Bohlen ab, Es
sind sechzehn. Ich setze Fuß vor Fuß, siebenmal, und
dann kommt das Gitter. Ich freue mich über die Sieben.
Ich zähle zusammen 58 + 16 + 7 = 81. Quersumme 9.
Glück oder Unglück? Gibt es keine Beziehung zwi-
schen der Zahl und mir? Ich bin im neunten Monat des
Jahres geboren, und die Quersumme meines Ent-
lassungsdatums ist auch neun.
Ich lächle und schäme mich, Das ist albern. Ich bin
albern. Ich tröste mich, daß die meisten Menschen
albern sind, wenn sie allein, wirklich allein sind. Ich
möchte den Obersekretär sehen, denselben,
dessentwegen ich hier sitze, wenn er in meiner Lage
wäre. Ach, was hat er für ein stures, rotes, vierkantes
Gesicht. Der Kopf sitzt direkt auf den Schultern. Der
Schnurrbart, ewig gesträubt, auf der wulstigen Ober-
lippe, sprüht subalternen Unwillen. Wie ich diese
Fratze hasse! Nun, «tätlicher Angriff»! Ich freue mich.
Ich bereue keinen Augenblick. Wie sah er mich
fassungslos an! Er schnappte nach Luft und kreischte
los: «Ich lasse Sie abführen!» Er ließ mich abführen.
Mit peinlichen Quengeleien, mit ewig falscher Freund-
lichkeit umkroch er mich, hier einen Stich versetzend,
dort Herablassung betonend. Verhüllt brutal und
unverhüllt feige. Nun triumphiert er, denke ich, nun
flickt er sein lädiertes Selbstbewußtsein mit dem
Gefühl der Macht. Nein, ich hasse ihn nicht, denke ich.
Haßte ich ihn, würde ich anerkennen. Ich lache. Ich
lache wirklich — und der Ton hallt in der Zelle wider.
Er bricht sich an den Ecken, und es kichert zwischen
den Gitterstäben. Erstaunt horche ich hin. Ich lache
wieder, unecht und gekrampft. Die Zelle antwortet. Das
ist Hohn. Ich schweige, und es fröstelt mich.
Ist noch nicht Mittagszeit? Kein Laut zu hören außer
meinen Atemzügen. Der Hauch steht dampfend in der
Luft. Ich pumpe die Lungen voll und blase eine matte
Wolke in die Luft. Ich hauche in die Hände. Ich knöpfe
die Hosen, so gut es geht, fest, und mache Kniebeugen.
Eins — zwei — drei — vier. Ganz vorschriftsmäßig.
Ich mache fünfzig Kniebeugen. Dann zittern mir die
Beine. Wie hoch ist die Zelle, denke ich, und versuche
sie mit meiner Körperlänge zu messen. Ich klettere an
einem der Gittereisen hinauf, Ich springe schnell
wieder herunter; denn, wie war es plötzlich - ich kam
mir vor wie ein Affe im Zoo. Breitbeinig mit
greifenden Armen an den Stäben hängend, Das ist ent-
würdigend. Der Mensch, der den Affen sieht, verspürt
brennende Scham. Ist es richtig, daß wir vom Affen
kommen? Ich glaube, der Mensch, der einsame
Mensch, verlassen und verloren in engem Raum, wird
wieder Affe. Ich las doch neulich ein Buch in der Zelle.
«Tarzan, der Affe», hieß es, glaube ich. Es ekelte mich.
Es war unsagbar läppisch. Ein Mensch, ein blonder
Mensch, vom Menschen kommend, gerät unter die
Affen und wird selber einer. Wird es mit Bewußtsein
und rühmt sich dessen. Kann man von Menschen unter
Affen flüchten? Wehe uns, wenn man es kann. Je nun,
ich lebe unter Verbrechern. Ich lebe mit ihnen, spreche
mit ihnen, spreche ihre Sprache, habe ihre Sorgen. Ich
gehorche dem Wärter, obgleich ich ihn verachte. Ich
komme ins Grübeln. Ist noch nicht Mittagszeit?
Auf und ab — auf und ab — rundherum im Kreise.
Ich muß mich müde machen. Ich kann seit drei Jahren
nicht schlafen. Wie wird es heute nacht? Ah, wieder
einmal ein seliges Nichts spüren, wieder einmal gan?,
versinken, untertauchen — schlafen können! Mich
kann der müde Tag nicht müde machen. Das Hirn ist
dumpf und matt. Aber der Körper ist wach. Die Beine
zucken im Takte des Pulsschlages. Ich kann die Arme
nicht legen. Ich muß sie bewegen, es ist unerträglich,
sie nicht zu bewegen. Wie wird es heute nacht? Ich
werde nicht schlafen können. Ich wollte, die lange
Nacht wäre vorbei. Ich wollte, sieben Nächte wären
vorbei!
Immer noch nicht Mittagszeit?
Wie langsam geht der Tag! Was kann man an einem
Tage alles beginnen? Wie habe ich meine Tage
genützt! Sie hatten mir nicht Stunden genug. Damals
lebte ich Sturm. Damals diente ich einer Idee. Wie
denn? Gab es nicht Zeiten, da es mir schlimmer erging
als nun? Nie, sage ich, ich sage mit Bewußtsein: Nie!
Mochte es sein, wie es wollte, mochte ich in
brüllendem Feuer liegen, mochte ich in unerträglicher
Spannung, die Pistole in der Hand, bereit sein zu
vernichten, den Gegner, die Welt und mich, mochte ich
vor dem Tribunal stehen, vorm Staatsgericht umd um
mein Schicksal würfeln lassen: es war da immer etwas,
das stärker war als ich, das mich hinaushob über den
qualvollen Augenblick, das meinem Tun und Lassen
Zweck und Ziel gab, einen Sinn, vielleicht einen
schrecklichen, aber einen Sinn — dies hier, das hat
keinen Sinn. Ich sitze und dulde. Dulden, das hat
keinen Sinn. Büßen hat Sinn. Dulden nicht. Ich dulde.
War es nicht doch falsch, daß ich die Wahrheit sagte?
Nein, es war nicht falsch. Weil ich den Gedanken nicht
ertragen kann, in dieses Menschen Augen als Lügner
und Feigling dazustehen, darum dulde ich. Es ist doch
süß, zu dulden.
Der Teufel hol's, wie ist doch alles so erbärmlich. Ich
bin erbärmlich; dies Grübeln macht mich kaputt. Ich
liebe ungebrochene Menschen, Männer. Solche, die
keine Probleme kennen. Solche, die in sich ge-
schlossen, kraftvoll, ruhig stehen. Was ist mir mir? Ich
rufe mir zu: Schlappschwanz! Jawohl, ich bin sensibel!
Ich lache, um das Gekicher zwischen den Gitterstäben
zu hören.
Nun muß aber bald Mittagszeit sein!
Warum warte ich auf die Mittagszeit? Sehne ich
mich nach dem Stück trockenen Brotes? Freue ich
mich, einen Menschen zu sehen? Ich freue mich auf die
Zäsur des Tages.
An der äußeren Gangtür wird geschlossen. Schritte
kommen näher. Es klappert an der Zellentür. Der
Beamte öffnet, und der Kalfakter schlüpft hinein. Ich
stehe starr und ruhig und sehe nicht hin. Er schiebt ein
Stück Brot zwischen die Gitterstäbe. Er reicht einen
Krug Wasser durch den Spalt, Der Beamte bequemt
sich nun doch, aufzuschließen. Der Kalfakter stellt
einen schmutzigen Kübel mit schlechtschließendem
Deckel hin und legt einige Blatt Papier hinzu. Ich sehe
mit halben Augen, es ist bedruckt, es ist aus einer
Zeitung für den Bedarf zurechtgeschnitten. Ich muß an
mich halten, um nicht hinzustürzen und die Fetzen zu
ergreifen. Die Schlüssel klappern energisch. Ich bin
wieder allein. Ich blättere die Stücke Papier durch.
Annoncen, Annoncen, Zeitungskopf. Halt, die
Rückseite. Ich stehe und lese. Die Sätze sind nur halb.
Mitten hindurch geht der Riß. Ich breite die Blätter auf
den Fußboden und suche, was zusammengehört.
Enttäuschung: viele Blätter sind doppelt. Ich kriege
aber doch eine halbe Zeitung zusammen. Und lese. Es
ist ein Lokalblatt. Es bringt nichts Welterschütterndes.
Es ist stets derselbe Quark, Tag für Tag durch die
Zeitungen gezerrt. Aber wie lange habe ich keine
Zeitung mehr gehabt? Diese ist vom vorigen Jahr. Ich
lese. Ich lese von der ersten Zeile bis zur letzten, und
ich fange wieder von vorn an. Ich lese die Annoncen.
Ein Zuchtbulle steht zum Verkauf. Im Gasthof zum
Deutschen Kaiser ist Tanz. Es ladet ergebenst ein: der
Wirt. Rosenblum empfiehlt sein Lager hochmoderner
Frühjahrskostüme. Im Kino zum letzten Male Pola
Negri. Mem Auge bleibt auf einer Zeile hängen.
«Schreibste mir, schreibste ihr, schreibste auf MK-
Papier.» Ich lese den Reim einmal, zweimal und freue
mich seiner gefälligen und rhythmischen Naivität.
«Schreibste mir, schreibste ihr...», das Ding hat von
selber Melodie. Ich singe, wie ich es mir gesungen
denke. Ich werde den Reim nicht mehr los. Er hat
Schwung; die Melodie, die ich gefunden, ist voll
anfeuernder Gewalt wie ein preußischer Militärmarsch.
«Schreibste mir, schreibste ihr...» Ich gehe in der Zelle
wiederum im Kreise. Ich pfeife die Melodie vor mich
hin. Das Brot nehme ich in die Hand und suche, dem
dreieckigen, unhandlichen Kanten beizukommen. Ich
kaue im Rhythmus. Das ist ja läppisch, denke ich. Aber
der Mann versteht was von Reklame. Ich glaube, ich
werde den Vers niemals vergessen. Nun hat die
Mittagszeit doch etwas Angenehmes gebracht. So
bescheiden sind meine Freuden. Die eine Unter-
brechung gab doch Kraft. Ich muß an den Brief
Techows denken, den er mir aus dem Sonnenburger
Zuchthaus schrieb. Er schrieb von dem Besuch, den er
erhalten, und meinte: «das gab mir Kraft, wieder einen
Stoß ins Finstere zu machen!» Der gute Kerl. Ich werde
auch bald Besuch erhalten. Bald, direkt nach meiner
Entlassung aus der Arrestzelle. In acht Tagen ist
Weihnachten.
Weihnachten, Weihnachten! Es ist das dritte
Weihnachten, das ich in der Anstalt feiere. Ich mag
nicht daran denken. Gewiß, der Direktor gab sich
Mühe. Er wollte den Gefangenen an diesem einen Tage
helfen zu vergessen. Ich aber, ich will nicht vergessen.
Ich will verdammt sein, wenn ich vergesse. Ich will mir
stets und immer jeden Tag und jede Stunde vor Augen
halten. Das gibt einen kräftigen Haß. Ich will keine
Kränkung vergessen, keinen schiefen Blick, keine
hochmütige Gebärde. Ich will denken an jede Gemein-
heit, die mir widerfuhr, an jedes Wort, das peinigte und
peinigen sollte. Ich will mir jedes Gesicht im
Gedächtnis halten und jedes Erlebnis und jeden Namen.
Ich will mich mein Leben lang belasten mit dem
ganzen, widerwärtigen Schmutz, mit dieser
auf-.getürmten Masse ekelhafter Erfahrung. Ich will
nicht vergessen; doch, das geringe Gute, das mir
geschah, das will ich vergessen.
Es ist dunkel geworden in der Zelle. Dezembertag
endet früh. Die lange Nacht beginnt. Ich schreite im
Kreise. Mir ist wirbelig im Kopf. Ich setze mich wieder
auf die Pritsche und stoße schmerzhaft gegen den Ring,
der in die Wand geschmiedet ist. An ihm werden die
Ketten befestigt, in die widerspenstige Gefangene
gelegt werden. Ich spüre eine kalte Wut. So springt
man mit Menschen um. So in einem Zeitalter, das von
Humanitäts- und Menschenliebephrasen trieft. Ich kann
es verstehen, wenn in harten Zeiten dem Auflehnenden,
dem Verbrecher mit eisiger Gewalt entgegengetreten
wird. Aber heute tut man Gewalt und spricht von Liebe.
Heute ist man brutal und behauptet, psychologisch zu
verstehen. Heute legt man in Ketten und verficht
pädagogische Grundsätze. Nie ist Gewalt so gemein,
als wenn sie mit Heuchelei verbrämt ist. Mich hat man
nicht in Ketten gelegt. Es genügt, wenn man mich
fünffach verriegelt. Die letzte Strafverschärfung ist mir
erspart geblieben. Ich bin überzeugt, weil ich
unumwunden eingestand. Aber der Gefangene, in
dieser Zelle eingesperrt und dann noch in Ketten gelegt,
der soll wohl mürbe werden. Hat das noch etwas mit
Sicherheit zu tun? Dieser eiserne Ring in der Wand, er
ist letzte, ausgeklügelte Schikane. Er ist das letzte
Mittel, den Rest von Würde zu vernichten. Ich glaube,
der Gefangene, der an ihn gekettet lag, wird ewig ein
kalter Hasser sein. Das ist gereifte Pädagogik! «Der
Gefangene ist ernst, gerecht und menschlich zu
behandeln», das ist einer der ersten Sätze der Strafvoll-
zugsordnung,
Ich liege ausgestreckt auf der Pritsche und warte auf
das Stück Brot, das man mir abends reichen wird. Der
Kopf liegt hart auf dem hölzernen Keil. Ich kann ihn
nicht wenden, ohne daß der ganze Körper schmerzt.
Die Zelle ist ganz dunkel. Ein schwacher Lichtschein
dringt durch das Fenster. Er rührt wohl von der Laterne
draußen im Hofe her. Ich liege und sinne. Immer
kommt mir der alberne Vers in den Kopf, der mir erst
so gut gefallen. «Schreibste mir, schreibste ihr...», das
ist zum Irrsinnigwerden. Ich las einmal von der
japanischen Methode. Der Sträfling wird unter einen
Hahn gespannt, aus dem dann in regelmäßigem
Abstand ein Tropfen kalten Wassers auf den rasierten
Kopf fällt. Wer soll das aushalten? Nun, es ist kein
Vergleich. Dieser harmlose Reim und der stetig
wiederkehrende Tropfen! Trotzdem, eine Ahnung
dämmert mir auf. So blöde diese Gedankenverbindung
ist — ja, vermag ich überhaupt noch, Gedanken zu
verbinden? Ist nicht alles eine wirre Fülle von
zusammenhanglosen Einfällen, die mich durchzucken?
Ich bin zwei Jahre in Haft, zwei Jahre! Welches Chaos
wird allmählich in mir wach?
Der Beamte kommt. Wie ich diesen eisigen Ton
hasse, mit dem der Schlüssel herrisch ins Schlüsselloch
fährt. Ich höre ihn Tag für Tag. Ich werde mich nie an
ihn gewöhnen. Der Kalfakter schlurft herein und wirft
mir einen Kanten Brot in den Käfig, wie man es wilden
Tieren zuwirft. Was fällt dem Burschen ein? Das ist ein
Landstreicher, ein Pennbruder, siebzehnmal vorbestraft.
Seine widerliche Visage taucht ewig in den Gängen des
Zuchthauses auf. Er hat die abgeschliffene Physiogno-
mie des alten, abgebrühten Sträflings. Er tyrannisiert
die Gefangenen, die es sich gefallen lassen. Er
schmeichelt sich in das Vertrauen der Zugänge und
trägt Wort für Wort, verdreht und entstellt, nach vom.
Dieses Subjekt: er fühlt sich Herr. Er steht in hohem
Schutz. Er kann schikanieren, er weiß, daß er es kann,
Ich liege auf der Pritsche und sehe ihn mir an. Er geht
auf den Gang und sucht unter einem Haufen alter,
feuchter, muffiger Decken. Mir steht für die kalte
Nacht eine Decke zu. Die schlechteste, die
erbärmlichste, die am meisten zerfetzte sucht er aus.
Ich sehe es genau in dem Licht, das vom Gange her
leuchtet. Er greift die Decke und stopft sie durch das
Gitter. Ich stehe auf und sage: «Du Lump, gib mir eine
andere Decke!» — «Was wollen Sie denn?» fahrt der
Beamte dazwischen, «wir haben keine anderen
Decken.» Der Kalfakter grinst höhnisch. Ich koche vor
Wut. Der Kalfakter sagt: «Was, im Arrest hocken und
noch eine große Fresse haben?» Ich springe auf das
Gitter zu und hebe die Faust: «Gnade dir Gott, Kerl!»
Der springt zurück und feixt, Der Beamte zieht ihn hin-
aus. Die Tür kracht zu, und ich höre den Kalfakter
draußen unflätig über mich herziehen. Ich fasse die
Gitterstäbe und rüttele in ohnmächtiger Wut an ihnen.
Diese Schweine, diese Schweine, diese Schweine!
Morgen wird er die Zelle so wenig heizen wie nur
irgend möglich. Morgen wird er das schlechteste Brot
aussuchen. Morgen wird er das Wasser brackig werden
lassen, bevor er es mir reicht. Und ich kann mich nicht
wehren. Er ist gedeckt, er ist nicht zu überfuhren, er
erhält recht. Was nützt es, wenn ich ihm begegne, Er ist
nie allein. Der Beamte ist stets bei ihm, und der Beamte
wird sofort und augenblicklich eingreifen, und ich...
Arrest. Beschwerden? Zum Lachen, Habe ich
Greifbares an Hand? Ich habe «Lump» zu ihm gesagt.
Er ist im Recht, in jenem lächerlichen Recht, das mich
an der Kehle würgt und verlangt, ich solle es dulden.
Bitterkeit überfällt mich. Ich bin allem Gemeinen
ausgeliefert. Das mir — das mir! Dieser Auswurf der
Menschheit, er triumphiert über mich. Er höhnt mich in
jenem widerlichen Pöbeltum, das stets Niedrigeres
sucht, als es selber ist, um tyrannisieren zu können.
Weg mit den Gedanken. Ich nehme die Decke und
hülle mich in sie ein. Es ist bitterkalt. Ich liege auf der
Pritsche. In acht Tagen ist Weihnachten. In acht Tagen
bekomme ich Besuch. Jedes Jahr einmal bekomme ich
Besuch. Die Decke, die ich bis an den Hüls gezogen
habe, stinkt erbärmlich. Ich denke an den zarten Duft,
den ich noch tagelang nach dem letzten Besuch gespürt.
Das Buch, das sie mir mitgebracht, es bewahrte in
seinen Seiten einen Hauch gepflegten Seins, einen
Hauch aus einer anderen Welt. Ich höre ihre Stimme,
sehe ihre Augen. Vor einem Jahr ... o Gott, wenn du
wüßtest! O Gott, wenn du ahntest! Ich hatte gelogen.
Ich hatte mit forscher Stimme bramarbasierend erklärt,
es ginge mir ausgezeichnet. Sie solle sich keine Sorgen
machen. Es würde schon alles gut werden. Ich hatte
gelacht und gealbert. Ich hatte mit irren Fingern ihre
Hand gestreichelt, und gelogen, gelogen. Sie sah mich
zweifelnd an. In minutenlange Stille fiel das leise Wort:
«Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?» Ich sah
verzweifelt aui den Beamten, der breit und anscheinend
unbeteiligt dasaß. «Ich sage die Wahrheit», log ich und
versuchte unter einem Schwall unwahrer Worte zu
beruhigen. Wenn sie wüßte! So bin ich erniedrigt! So
bin ich gedemütigt! Sie soll es nicht wissen! In acht
Tagen... ich werde lügen, ich werde lügen!...
Es ist stockdunkel. Die lichten Bilder wollen sich
nicht halten lassen. Ich siehe auf und überlege. Jetzt
schon sind mir die Knochen lahm und wie zerschlagen.
Vielleicht, wenn ich die Decke wie eine Hängematte
zwischen den Stäben aufspanne? Wir haben unsere
Zeltbahn oft als Hängematte benutzt, draußen im Felde.
Ich versuche, die Deckenenden fest um den Stab zu
schlingen. Wenn ich ganz gekrümmt liege, wird es
vielleicht gehen. Ich lege mich hinein, mit zischendem
Tone reißt die mürbe Decke, und ich falle hart zu
Boden. So geht das nicht. Ich schlage die Decke
wütend gegen die Stäbe. Und schäme mich, daß ich das
tote Objekt entgelten lasse. Es ist zum Verzweifeln. Die
lange Nacht, die lange Nacht! Wenn ich zurückdenke,
wie lang war der Tag. Und es war ein Siebentel, nein,
ein Vierzehntel der Zeit, die ich noch in diesem Raume
zubringen muß. Wie kommt es, daß es so dunkel ist!
Vorhin fiel doch noch ein Lichtschein durch das
Fenster? Oh, ich sehe schon, der Kalfakter hat die
hölzernen Fensterflügel vorgelegt. Sie klappern im
Winde, der draußen im engen Hof um die Ecken heult.
Sie klappern unerträglich. An Schlaf wird nicht zu
denken sein. Früher gab es auch Dunkelarrest. Daher
stammen noch die Fensterflügel. – Dunkelarrest!
Tagelang, wochenlang im Dunkeln! Ich las von einem
Manne, der zur Zeit Ludwigs des Vierzehnten sechzig
Jahre lang eingekerkert im Dunkeln lag. Er hatte sich
zwölf Stecknadeln verschafft. Er streute alle Nadeln
durch die Zelle und suchte sie wieder, indem er auf den
Knien kroch und mit den Fingerspitzen jede Stelle, jede
Ecke, jede Ritze abtastete. Er suchte Tag und Nacht,
solange er wachte. — Er brauchte Monate, bis er alle
zwölf Nadeln wieder vereinigt hatte. Dann warf er sie
wieder durch die Zelle und begann das Suchen von
vorn. — Es ist ein alter Bericht, und er sagt weiter, nur
so habe der Mann sich vor dem Irrewerden bewahrt.
Welche Gedanken schießen mir durch den Kopf?
Wie lange werde ich es noch aushalten? Ich bin feige.
Techow wird noch länger im Zuchthause sitzen als ich.
Dreimal so lang. Alles, was ich erlebte, hat auch er
erlebt. Und er wird es noch erleben, wenn ich schon
längst frei sein werde. Ich bin feige und kleinmütig. Ich
rufe mir meine Erbärmlichkeit zu. Ich schäme mich.
Und trotzdem, trotzdem — nein, ich ertrage es nicht.
Ich ertrage es nicht, Dies ist entsetzlich. Wie dumpf ist
mein Kopf, Wie dumpf ist mein Schicksal. Wenn ich
Schluß machen könnte? Den Hosenträger haben sie mir
genommen. Bleibt noch die Unterhose. Aus ihr ließe
sich ein Strick drehen. Er ließe sich oben am Gitter
befestigen. Wenn ich mich an die Stäbe klammerte,
wenn ich mir die Schlinge um den Hals legte und mich
dann plötzlich herabfallen ließe? Ich liege auf der
Pritsche und überdenke es. Ich erwäge es ganz
ernsthaft. Und ich weiß doch, daß ich es nicht tun
werde. Ich bin zu feige. Ich habe ja gar nicht die Kraft
dazu. Doch, ich habe die Kraft dazu — aber den
Auftrieb dazu habe ich nicht. Wie ich rabulistisch mit
den Worten jongliere! Und doch, und doch, soll ich es
tun? Dann werde ich morgen gefunden, mit rutschender
Hose, oder im Hemd, den Kopf in diese plumpe,
schmutzige Schlinge gesteckt... nein, nein, nein! Nicht
sol So nicht! Das ist nicht ehrlich! Nicht in der
Verzweiflung!
Ich werde diese Nacht durchhalten. Ich werde die
kommenden Tage und Nächte durchhalten. Ich werde
die ganzen langen Jahre durchhalten. Pfui Teufel, daß
mir dieser Gedanke kommen konnte. Niemals!
Ich werde ruhiger. Was ist auch weiter? Morgen wird
der Tag vergehen wie der heutige vergangen, wie so
viele schon vergingen. Ich werde morgen eine
Viertelstunde auf dem engen Hof Spazierengehen. Ich
werde übermorgen — nein, in drei Tagen, eine warme
Mahlzeit erhalten. Und abends ein Bett.
Ich werde in drei Tagen abends ein Bett in diese
Zelle bekommen! Das ist ja lächerlich, daß ich mich
auf die warme Mahlzeit und das Bett freue. Wie oft
habe ich als Soldat entbehrt und gern entbehrt! Als Sol-
dat, ja! Aber dies heute ist Strafe! Woher haben sie
ihren Anspruch, über mich so zu verfügen? Wer gab
ihnen ein Recht? Holten sie es sich vom Himmel?
Erwarben sie es durch persönlichen Einsatz, durch Op-
fer, durch unerhörte, menschliche Satzung sprengende
Tat?
Es ist ihr Beruf, ihre kleinliche bürgerliche Beschäf-
tigung. Sie werden dafür bezahlt. Sie erhalten dafür
Titel und Rang. Sie dulden keine Gefahr. Sie tragen
keine Verantwortung.
Der Ekel steht mir bis zum Halse. Die bürgerliche
Ordnung! Ich habe mich gegen sie vergangen. So sagen
sie. Sie sind im Recht. Ich spucke auf das Recht.
Ich wälze mich hin und her. Die Nacht ist lang. Es ist
totenstill. Nur ab und zu knallt ein Fensterflügel. Wie
spät mag es sein?
Da höre ich einen Schrei. Er ist in diesem Gang. Der
Schrei hallt durch den Bau. Er dringt durch alle Spalten
zu mir. Kommt er nicht aus der Höchsten Arrestzelle?
Da wieder! Lang, schrill. Das geht zersägend durch alle
Nerven. Ich springe auf und hämmere wie rasend gegen
die Wand. Es hämmert wieder. Es schreit. Es hallt. Ich
hole alle Luft in meine Brust und brülle heraus. Ich
schreie, hämmere, tobe. Eg muß heraus. Ich schreie und
es geht mir erlösend aus dem angespannten Körper. Ich
schreie wild, orgemd, über alle Maßen, ein Brunst-
schrei, ein Wollustschrei, er bricht sich an den Wänden,
er stemmt sich gegen sie. Ah, wie wohl das tut! Ah, wie
das erlöst! Ich jage die Nacht, die Qual, den Ekel in
seine dumpfen Winkel zurück. Ich schreie, und ich
werde stark.

1925

Am Morgen des Neujahrstages 1925 erwachte ich in


einem Zustande, der mir so verzweifelt erschien, daß
ich mir nicht erst die Mühe machte, über ihn
nachzudenken. Das Gefühl, ein ausgeblasenes Hirn zu
besitzen, hohle Knochen und ein taubes Geschlecht, die
plötzliche Unfähigkeit zu irgendeiner Art von
Hoffnung, die drückende Ahnung meiner verlorenen
Position vermittelte mir die Gewißheit, daß es mir von
Stund an unmöglich sei, den bleischweren Rhythmus
der Strafanstalt weiter zu ertragen, ich verspürte einen
unausprechlichen Ekel bei dem Gedanken, mich jetzt
erheben zu müsaen, ohne zu wissen wozu, mich jetzt
ankleiden zu müssen, hin- und herzugehen, zu warten,
am Tische zu sitzen, am Fenster zu stehen, an der Türe
zu lauschen, all das zu tun, was ich nun schon seit über
zwei Jahren tagaus, tagein mit gleicher Regelmäßigkeit
betrieb, ohne zu wissen wozu.
Ich machte gar keine Anstrengung, mich vom Bette
zu erheben, weil ich überzeugt war, daß jeder Versuch
dazu zwecklos sei. Ich blieb stumpf und ohne Willen in
den schweißnassen Laken und starrte auf die grünen
und violetten Kreise, die sich verwirrend vor meinen
Augen bildeten. Der Kalfakter kam in die Zelle
gerannt, um das Licht anzustecken, stupste mich an,
brüllte «Aufstehen» und klapperte mit seinem rußenden
Laternenanstecker wieder hinaus, die Zelle im stechend
bleichen Licht der Lampe lassend. Der Beamte kam
und schrie etwas durch die offene Tür. Er kam in die
Zelle und packte meinen Arm. Er knarrte: «Spielen Sie
man keen Theater!» und rüttelte mich. Er verließ
knurrend den Raum.
Dann kam der Hauptwachtmeister vom Dienst. Er
faßte behutsam nach meiner Stirn, bevor er mich
anredete, er hielt einen längeren Vortrag, von dem ich
nur Brocken verstand, Brocken von «Keine Faxen
machen» und «kurzen Prozeß» und «Arrestzelle». Er
ging zögernd hinaus und kam mit dem Direktor wieder.
Der stand kopfschüttelnd meinem Bett, und seine
Worte gingen gleichsam auf Zehenspitzen. «Sie müssen
sich zusammennehmen», sagte er, er sagte: «Ein junger
Mensch wie Sie darf sich nicht so gehenlassen», er
fragte mißtrauisch: «Sie treiben doch wohl keine
Obstruktion?» Der Direktor verschwand, und der
Lazaretthauptwachtmeister knallte die Tür auf, blieb an
der Schwelle stehen und brüllte: «Der Herr
Medizinalrat!» Dei Herr Medizinalrat betrachtete mich
minutenlang unbewegt, dann sagte er: «Haftpsychose.»
Machte kehrt und entfernte sich.
Es kamen die beiden Lazarettkalfakter, luden midi
mit heimlichem Kichern auf eine Bahre und
transportierten mich ins Lazarett. «Mensch, du kannst
vielleicht Phiole schieben!» sagte der eine, und der
andere sagte: «Man muß dem Ball eben die richtigen
Züge geben!»
Ich blieb acht Monate lang im Lazarett.

Drei Wochen lang lag ich völlig teilnahmslos im Bett,


ohne Fieber, aber auch ohne Lust zum Rauchen,
trotzdem im Lazarett die Skrinde reichlicher und in
bedeutend besserer Qualität aufzutreiben waren als in
der Zelle. Als ich endlich den Entschluß faßte,
aufzustehen, war ich erstaunt über die wunderbare
Leichtigkeit, mit der sich auf einmal das Leben für
mich ordnete. Alle Grübelei war von mir abgefallen,
und ich gewann allmählich Teilnahme für den
geschäftigen kleinen Bereich des Lazaretts, Der
Medizinalrat wollte mich als dritten Krankenwärter
behalten. Ich kam in die Kalfakterzelle, die tagsüber
geöffnet war. Ich konnte mich innerhalb des Lazaretts
frei bewegen. Ich half das Essen auszuteilen, die
Fäkalienkübel zu reinigen, die Kranken zu verbinden
und umzubetten; ich half die Krankenkost zu kochen
und die Bäder zu bereiten, die Böden zu bohnern und
die Gänge zu spülen; ich rannte von Krankenstube zu
Krankenstube, von dem Raume für die Lungenkranken
zu dem für die Invaliden, von der Abteilung für die zur
Beobachtung auf ihren Geisteszustand Abgesonderten
zum Saal für die Epileptiker. Zum ersten Male in der
Haft konnte ich ungehindert und unbeobachtet
sprechen, mich bewegen, ohne an die sechs Schritte der
Zelle gebunden zu sein. Und wenn ich vorher den Sinn
meiner Tage in quälender Selbstbespiegelung suchte, so
fand ich ihn nun in der Möglichkeit, dem
eigentümlichen Spannungsgehalte nachzuspüren, der
überall dort, wo eine Anzahl Menschen auf engem
Raume unter gleichem Drucke handelt, den kleinsten
Regungen des Lebens glasklare Schärfe gibt.
Ich wurde mit der Pflege der Gefangenen beauftragt,
die zur Beobachtung im Lazarett abgesondert wurden.
Sie hausten, etwa zwölf an der Zahl, in einem nicht
allzu geräumigen Saal, dessen Tür mit einer durch ein
starkes Gitternetz gesicherten Fensterscheibe versehen
war, und lagen, solange sie sich unbeobachtet glaubten,
rauchend und mit selbstverfertigten oder einge-
schmuggelten Karten skatspielend auf den Betten
herum, immer bereit, zu gegebener Stunde die
Unbezweifelbarkeit ihres geisteskranken Zustandes
durch tolle und zumeist sehr witzige Bekundung und
Tätigkeit zu beweisen, Mich überraschte die selbst-
verständliche Gelassenheit, mit der sie mich sofort in
ihr Komplott einbezogen. Sie berieten mit viel Geschrei
untereinander, welche «Phiole» sie schieben wollten,
aber dann, bemüht, ihre Rolle trefflich zu spielen,
steigerten sie sich mit einer unbegreiflichen Inbrunst so
in sie hinein, daß sie bald sich völlig in ihrem selbs
gewählten Scheinleben verloren und die Grenze
zwischen der Bewußtheit ihres Tuns und ihrem Wollen
aufgehoben wurde. So verschieden auch die Maske
war, fast immer ähnelte sich der Prozeß. Diese
Simulanten waren wirklich krank: Der mit wachen
Sinnen gefaßte Entschluß, sich aus dem luftleeren
Raum der Isolierung zu retten in einen grotesken
Traum, bedeutete das Lösen einer letzten Sicherung,
und die Elemente mußten sich gegeneinander kehren.
Ich erschrak vor der Konsequenz dieses Vorganges, in
dem sich jede zweckhafte Erwägung wieder aufhob;
sich vom Irrsinn der Zelle zu befreien, sollte das
verzweifelte Spiel dienen, und es führte in den Irrsinn,
den die Zelle bahnte, erst hinein.
Ich erschrak, als ich eines Tages bei Betreten der
Krankeinstube Edi sah. Er trat mir lachend entgegen,
reckte sich dann hoheitsvoll und sagte unter dem
Beifallsgejohle der Kranken: «Ich bin der Sultan von
Marokko!» und fuhr plötzlich mit zornigem Eifer fort:
«Ich pumpe keinem Menschen Geld!» Ich sprang auf
ihn zu und rüttelte ihn am Arm. «Du bist verrückt!»
schrie ich ihm zu, und die anderen lachten und knallten
sich auf die Schenkel. Edi sah mich erstaunt an. Der
Hauptwachtmeister kam, um die Stube wieder abzu-
schließen.
Jede freie Minute des Tages aber stand ich am
Fenster der Türe, das zur Hälfte geöffnet werden
konnte, und unterhielt mich flüsternd mit Edi.
«Mensch, wenn man den ganzen Krempel
zusammenschlagen könnte!» sagte Edi. «Aber was
nützt das? Das ist ja nicht zu fassen, das, was uns
kaputt macht. Ich will wieder wissen, wo ich dran bin.
Ich will ein Leben führen, das ich selbst bestimme,
auch wenn es dabei vor die Hunde geht»
Ich konnte aber das nicht in Worte kleiden, was ich
Edi zu sagen hatte. Mir selber waren die inneren
Vorgänge noch zu nahe, als daß ich hätte über sie
aussagen können. So nahe waren sie mir, und so stark
der Zwang der verrückten Gemeinschaft, daß ich oft
genug mitgerissen wurde in den tollen Tanz, daß ich
mitschrie, mitjohlte und mich mit einem gravitätischen
Ernst, dessen ich mich immer erst zu spät beschuldigte,
der mir zugeteilten und anerkannten Rolle eines
Araberscheiches einfügte.
Eines Nachts aber wurde ich vom Lazarettkalfakter
geweckt, im «Dollbrägensaals» wäre einer schwer
erkrankt. Edi lag in hohem Fieber, schnellte von Zeit zu
Zeit brüllend in die Höhe und japste mit heiserer Kehle
Fetzen revolutionärer Lieder. Die anderen sprangen um
sein Bett herum, hielten ihn fest, wenn er vom Lager
jagen wollte, und stachelten ihn wiederum zu neuem
Singen an, wenn er erschöpft und mit glühendem
Gesicht den Kopf über die Bettkante pendeln ließ. Der
Nachtbeamte schloß mir auf, und ich schleppte Edi in
den Kaum für Schwerkranke. Ich schaffte mein Bett in
denselben Raum und lag diese Nacht und die folgenden
Nächte im Halbschlaf und lauschte auf die knarrenden
Schritte der Ronde, auf das Stöhnen aus den
Krankenstuben, das Rumoren aus dem Verrücktensaal,
auf das einsame Klickern des Wasserhahns in der
Spülzelle, auf das unregelmäßige Atmen Edis. Als es
mit Edi besser war, löste mich der erste Lazarett-
kalfakter ab. Aber mitten in dieser Nacht kam er an
mein Bett, rüttelte midi und sagte: «Auf! Morgen gibt's
Kognak.»
Ich fuhr erschrocken hoch. Denn Kognak gab es für
die Krankenwärter, wenn ein Gefangener gestorben war
und die Leiche gewaschen werden mußte, «Edi?»
fragte ich und krallte die Finger in den Ärmel seines
Leinenkittels.
«Nein», der Kalfakter schüttelte mich ab. «Morgen
gibt's zweimal Kognak. Der alte Fritz ist gestorben und
der alte May.»

Am Tage, du ich ins Zuchthaus eingeliefert wurde,


mußte ich zum Baden ins Lazarett. Im Baderaum stand
ein alter, gebücktet Gefangener, der das Wasser in die
Wanne lieg. Es war der alte May. Er sah mich aus
wässerigen Augen von unten herauf an. «Wie lange
haste 'n?» fragte er. Ich sagte gedrückt: «Fünf Jahre.»
Da begann er emsig an seinen gekrümmten, gichtigen
Fingern zu zählen, hub die Hände hoch und sagte: «Nu
siehste, da bin ich schon sechsmal so lange hier.»
Es war aber der alte May im Jahre 1875 zu fünfzehn
Jahren Zuchthaus verurteilt worden, weil er einen
Nebenbuhler mit einer Bierflasche erschlagen hatte. Als
er im Jahre 1890 aus der Haft entlassen war, ging er zu
dem Weibe zurück, das ihn schon einmal betrogen
hatte. Sie lebten wieder zusammen, bis der alte May
entdeckte, daß sie ihn abermals betrog. Da machte er,
der sich als Kutscher verdingt hatte, den Mann, der ihm
im Wege stand, in einer Kneipe betrunken, band den
sinnlos Berauschten hinten bei den Beinen an seinen
Wagen und schleifte ihn in wahnsinnigem Galopp zu
Tode. Er wurde zum Tode verurteilt und zu
lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt. Als er abermals
zwanzig Jahre im Zuchthaus gesessen hatte, sollte er
freigelassen werden. Aber niemand wollte ihn
aufnehmen, so blieb er denn in der Anstalt, die ihn
bequemer dünkte als ein Altersheim, und als es mit ihm
zum Sterben kam, hatte er im ganzen 49 Jahre in
Zuchthäusern verbracht und war 74 Jahre alt geworden.
Er war nicht beliebt bei den Gefangenen, er
hinterbrachte, um seine Stellung zu verbessern, alles,
was er horte und sah, den Beamten. Er soll früher, auf
Grund seiner außergewöhnlichen Körperkräfte, mit
Roheit tyrannisiert haben, wer mit ihm
zusammenzuleben gezwungen war. Besonders war da
ein Gefangener, der nach Ablauf seiner Strafen immer
wieder kam, den der alte May maltraitierte, wo er
konnte, der alte Fritz, ein oberschlesischer Bergmann
mit siebenundzwanzig Vorstrafen wegen Diebstahls.
Die beiden haßten sich üher alle Maßen, sie prügelten
sich, wo sie konnten. Es war unmöglich, sie
auseinanderzuhalten, zumal beide immer Mittel und
Wege wußten, wieder zusammenzukommen. Als der
alte May einen Schlaganfall erlitt, wurde auch der alte
Fritz krank. Nun lagen sie nebeneinander allein in
einem Raum.
Der alte Fritz hatte es mit groben Worten abgelehnt,
ein Gnadengesuch einzureichen. Er litt, 72 Jahre alt, an
der Wassersucht. Als ich einmal an der Tür der
Krankenstube vorüberging, röchelte mir der alte May
etwas zu. Der Kaum wai nicht verschlossen, ich trat ein
und sah, daß der alte Fritz steif im Bette lag und die
Augen gebrochen an die Decke starrten, ich rief unter
dem höhnischen Kichern des alten May nach dem
Lazaretthauptwachtmeister. Der kam, warf einen Blick
auf den alten Fritz und befahl, ihm das Hemd
abzuziehen: eine Sparsamkeitsmaßnahme, verstorbene
Gefangene wurden ohne Hemd in die Kiste für die
Anatomie gepackt. Als aber der erste Krankenwärter
der Leiche das Hemd über denKopf streifte, richtete
sich der Tote wiede rauf und murmelte wütend zum
alten May hinüber: « Nu, nu, soweit ist es noch lange
nicht.»
Der Direktor kam auf die Nachricht hin, daß es mit
den beiden zu Ende gehe. Er sprach aufmunternde
Worte zu den Alten und fragte dann, ob sie noch
Wünsche hätten, die er erfüllen könne. Der alte Fritz,
wollte ein bißchen Heu für seine Kuh und zeigte auf.
eine zerkaute Tabakspfeife, die er verschmitzt unter der
Bettdecke vorholte. Der alte May dagegen wünschte
sich ein ordentliches Stück Leberwurst. Den Herrn
Pfarrer zur letzten Ölung kommen zu lassen, lehnten
beide ab.
In der Nacht hörte der erste Lazarettkalfakter, der im
Raume nebenan bei Edi wachte, aus dem Zimmer der
beiden Alten ein ständiges Geraune; er erhob sich und
schlich hinüber und lauschte an der offenen Tür. Der
alte Fritz aber brabbelte ächzend zum alten May
hinüber:
«Du Lumpenhund, als so ein schlechter Kerl, als du
gelebt hast, wirst du auch sterben!« Und der alte May
sagte: «Du Spitzbube, verdammter, dein ganzes Leben
lang hast gestohlen, und jetzt stiehlst dich um deine
eigene Seligkeit.» Dann tönte noch eine Weile
Geröchel aus dem halbdunklen Raum, und dann war
Stille. Als wir kamen, lagen die beiden tot, die
Gesichter einander zugekehrt, und der alte May hatte
noch einen Bissen halbzerkauter Leberwurst im
zahnlosen Mund, und dem alten Fritz war die Pfeife aus
dem Mund gefallen und einzelne glühende Tabakbrösel
lagen zerstreut auf dem Woilach und schwelten sachte
weiter.
Wir wuschen die Leichen und bahrten sie dann
nebeneinander in der Spülzelle auf, mitten zwischen
den Fäkalienkübeln.

Als Edi genesen war, kam er mit keinem Worte mehr


auf den Sultan von Marokko zurück. Er blieb noch
einige Wochen im Einzelraum, und als er aus dem
Lazarett entlassen werden sollte, sagte er mir, er freue
sich darauf, wieder grobe Arbeit in die Hände zu
bekommen. Ich bat den Medizinalrat, mir die Pflege
der Geisteskranken abzunehmen, und ich bekam nun
den Saal für die Epileptiker zugeteilt.
Unter den Epileptikern war einer mit Namen
Biedermann, verurteilt zu vierzehn Jahren Zuchthaus
wegen schweren Raubes, Sohn eines angesehenen
Beamten. «Mich haben die kleinen Dämonen zerstört»,
sagte er mir. Er litt unter seinen Anfällen mehr als die
anderen, die sie hinnahmen, als müsse es so sein. Er
sprach oft von den kleinen Dämonen, die in ihn
gefahren wären und ihr Unwesen trieben: sie hätten ihn
nichts Großes im Leben erreichen lassen. In der Tat fiel
seine erste Straftat zeitlich mit seinem ersten Anfall
zusammen, den er beim Baden in der Oder bekam. Er
kontrollierte sich selber sehr genau, führte Buch über
seine Anfälle und versuchte, die inneren Vorgänge
während des Anfalles aufzuzeichnen. Er konnte
nachweisen, daß er vor seiner Verhaftung
durchschnittlich im Jahre etwa acht Anfälle gehabt
habe, im ersten Jahre seiner Verhaftung aber
hundertundsiebzig.
In der Ecke des Saales stand eine Krampfkiste, eine
große Koje aus starken Brettern, innen dick aus-
gepolstert. Erlitt einer der Kranken einen Anfall, dann
wurde er gepackt und einfach in die Kiste geworfen, in
der er sich dann austoben konnte, ohne sich zu
verletzen. Biedermann bat mich, ihn nicht in die Kiste
zu werfen, sondern auf eine schnell hingebreitete
Matratze und ihm dann Arme und Beine festzuhalten;
ihn erschöpfte das ungehemmte Spinnen in der Kiste zu
sehr. Er kam, wenn es irgend anging, zu mir in die
Kalfakterzelle – der Epileptikersaal war stets bei Tage
geöffnet – hockte sich auf ein Bett und begann zu
erzählen. Je näher der Anfall rückte, desto eifriger
wurde seine Rede, sie gewann von Minute zu Minute
an Lebendigkeit und einer seltsam visionären
Ausdrucksweise, deren Klarheit erstaunlich war, er
sprach schnell und ganz ungehemmt, er warf sich mit
besinnungslosem Eifer in seine Rede, stand langsam
auf dabei und ging sparsam gestikulierend hin und her.
Einzelne Sätze malte er eindringlich mit dem Finger in
die Luft, vergaß dann aber, auf Antwort oder
Bestätigung zu kuschen, griff im Vorbeigehen Gegen-
stände, die in der Nähe lagen, legte sie nach kurzen
Augenblicken wieder hin, begann leise mit dem Kopf
zu schütteln, mit den Fingern zu zucken, sein Gesicht
rötete sich, plötzlich brach er seine Rede ab, ging
immer schneller hin und her, still vor sich hin blickend,
horchte auf keinen Anruf mehr und begann, heftig und
mit einem ausgesprochen wollüstigen Ausdruck im
Gesicht zu zittern. Dann holte ich die Matratzen von
einem Bett und legte sie auf den Fußboden.
Biedermann achtete auf nichts mehr, fing an zu
taumeln, schwankte, hob die Arme und stürzte
vornüber. Ich fing ihn auf und warf ihn auf das Lager
und klammerte mich an seine Glieder, sie fest auf den
Boden zu pressen. Plötzlich schnellte er hoch, sein
verzerrter Mund öffnete sich zu einem wahnwitzigen
gellen Geschrei, Schaumfetzen flogen ihm ans den
blauen Lippen, seine Glieder arbeiteten mit aller Wucht
gegen meinen Griff, in Körper zuckte wie ein Fisch,
sein Kopf schlug im Takt der Schreie auf und nieder, er
biß nach mir und schleuderte den Schaum mir ins
Gesicht. Ich mußte alle Kraft zusammennehmen, um
ihn halten zu können; die Anfälle dauerten manchmal
bis zu einer Viertelstunde lang. Endlich lag er erschöpft
und ruhig, ich ließ ihn los und gab ihm Wasser zu
trinken. Er lag dann noch lange, halb ohne Besinnung;
ich eilte sofort in den Epileptikersaal, denn wenn dort
das Schreien gehört worden war, fielen regelmäßig drei
oder vier von den anderen Kranken ebenfalls in
Krämpfe, so daß die Krampfkiste nicht genügen
konnte. Mich versetzte jeder dieser Anfälle in einen
Zustand äußerster Erregung. Noch lange später, wenn
Biedermann längst wieder beschäftigt war, sich einen
Skrind zu drehen, rannte ich aut dem langen, mit
Kokosmatten belegten Gang des Lazarettes auf und ab.
Ich spürte, wie sehr ich bei diesen Anfällen beteiligt
war; fast überraschte mich nicht, was Biedermann mir
einmal kurz vor einem seiner Anfälle erzählte: warum
er mich gebeten hatte, ihn nicht in die Kiste zu werfen,
sondern festzuhalten.
Er selber steigerte sich durch sein Sprechen, an dem
er mit allen seinen Sinnen beteiligt war, in einen
Zustand bis ins Mark gehender Lustempfindung. Dann
aber hatte er das Gefühl, als platzten ihm die Adern,
und die Dämonen, die in ihnen schon lange vorher
tobend gewühlt, wurden frei und stürzten sich, aus
jedem Blutstropfen schnellend, ihn zu vergewaltigen.
Er spürte den höchsten Schmerz der Schwäche und
verlor in ihm die Besinnung. Wenn er nun vorher
wüßte, daß ich mich auf ihn werfen und ihn festhalten
würde, dann glaube er, daß die Dämonen, von denen er
besessen sei, während des Aktes der Vergewaltigung
durch mich gebannt oder aber von mir durch einen
geheimnisvollen Prozeß aufgeschluckt werden könnten.
Der Medizinalrat riet mir, Biedermann auch
weiterhin festzuhalten, die Krampfkiste sei ein beinahe
mittelalterliches Instrument. Aber die Anfälle
Biedermanns wurden immer schlimmer. Oft hatte er
zwei Anfälle an einem Tage. Er schloß sich mir immer
enger an. Als er mir zum ersten Male sagte, er wolle
Selbstmord verüben, fand ich viele sachliche
Gegenargumente gegen ein solches Beginnen.
Biedermann führte einen zähen Kampf um seine
Freilassung oder wenigstens um eine Überführung in
ein Krankenheim. Er hatte aber von seinen vierzehn
Haftjahren erst zwei verbüßt und wußte, daß er, wenn
er gezwungen sei, auch nur noch einen Bruchteil der
Strafe im Zuchthaus abzubüßen, jedenfalls für jedes
Leben gebrochen sei. Der Direktor, der Medizinalrat
konnten ihm nicht helfen, Epilepsie war kein
Entlassungsgrund.
Als Biedermann mich nach halbjährigem Kampf
darum bat, ihm Gift aus der Apotheke in der
Revierstube zu besorgen, wußte ich längst
vorher schon, daß diese Bitte einmal kommen würde;
und war mit mir schon einig geworden. Es war nicht
schwer, das Fläschchen aus dem Schrank zu stehlen.
Ich gab ihm das Gift.
In der Nacht darauf mußte der Medizinalrat geholt
werden. Biedermann hatte einen schweren Anfall mit
ganz neuen Symptomen. Der Anfall dauerte mehrere
Stunden, war von Erbrechen begleitet und von einer
unerklärlich starken Schaumabsonderung. Biedermann
schrie gellend und krümmte sich bei wachem
Bewußtsein, bevor er in Krämpfe verfiel. Alles brenne
in ihm, brüllte er. Der Arzt konnte nichts tun, er war
augenscheinlich sehr erleichtert, als der Anfall
schließlich seinen normalen Verlauf nahm.
Am nächsten Morgen ließ mich der Medizinalrat in
die Revierstube rufen. Ich sah, daß das Schränkchen
der Apotheke offen war. Der Medizinalrat sagte, es sei
wohl besser, wenn ich wieder ins Zellenhaus
zurückkäme.
Biedermann wurde einige Zeit später in eine
Krankenanstalt für Gefangene abtransportiert.

Ich saß gegen Ende des Jahres wieder in meiner alten


Zelle. Jeden Morgen verspürte ich einen un-
aussprechlichen Ekel bei dem Gedanken, mich jetzt
erheben zu müssen, ohne zu wissen, wozu, mich jetzt
ankleiden zu müssen, hin und her zu gehen, zu warten,
am Tische zu sitzen, am Fenster zu stehen, an der Türe
zu lauschen, all das zu tun, was ich nun seit fast drei
Jahren mit Ausnahme der Lazarettzeit tagaus, tagein
mit gleicher Regelmäßigkeit betrieb, ohne zu wissen
wozu.
Kleinkampf

Die Bücher der Gefängnisbibliothek habe ich fast


sämtlich durchgelesen. Nun will ich die starre Ordnung
durchbrechen und ein Buch in der Zelle haben, das in
seinen Seiten und zwischen seinen Blättern den Hauch
einer anderen Welt trägt, ein Buch, das nicht
gleichgültig und abgestempelt mit subalterner Erlaubnis
in meine Zelle gelegt wird wie ein toter Gegenstand,
sondern das zu mir flattert wie ein Geschenk, ein Gruß,
das persönlich ist und nicht beladen mit dem muffigen
Nachtgeist aller Dinge, die jahrzehntelang schon
innerhalb dieser Mauern lagern.
Der Hauptwachtmeister ist mein besonderer Freund.
Ich erkenne seinen Schritt auf dem Gange und die Art,
wie er seinen Schlüssel in das Zellenschloß führt. Er
bringt mir die Briefe, die in langen Zeitabschnitten für
mich eingehen, und ich weiß, daß er einer der wenigen
ist, mit denen ich reden kann, ohne befürchten zu
müssen, meine Worte würden auf die Waage strenger
Dienstausübung gelegt. Er kommt herein und grüßt
mich kurz. Er geht durch die Zelle und prüft. Er greift
nach dem Wasserglas und wischt mit dem Finger über
den Tisch, wie es die Ordnung befiehlt. In seiner Hand
hat er einen Stoß Briefe und ein Buch. Und ein Buch!
Es hat einen roten Ledereinband und goldene Lettern
auf dem Rücken. Meine Blicke hängen an dem Buch.
Ich weiß, es ist für mich bestimmt. Ich bebe vor Freude
und Verlangen. Ich möchte es in die Hand nehmen und
einmal mit den hörnernen Fingerspitzen über das rote
Leder streichen. Plump liegt die Hand des Haupt-
wachtmeisters um das Buch gespannt. Er sagt: Post
habe ich keine. Er sagt: Da ist ein Buch gekommen für
Sie. Er sagt: Ich weiß nicht, ob Sie es ausgehändigt
kriegen. Er sagt, tröstend fast, als er meine erschreckten
Augen sieht: Der Herr Direktor wird darüber befinden.
Er geht und ich halte ihn, indem ich vor ihn trete, vor
Aufregung mich fast veschluckend: «Herr
Hauptwachtmeister, das Buch... wann wird der Herr
Direktor... kann die Entscheidung nicht beschleunigt
werden?»
Der Hauptwachtmeister hat noch viel zu tun heute, er
ist ein wenig unwillig, er versteht nicht, was mir an
diesem Buch liegen könne, er sieht mit tadelndem Blick
auf die Bücherreihe, die ich in der Zelle stehen habe;
ein Buch, dies Buch, ich müsse mich doch gedulden
können: Er hat kein Interesse für Bücher. Du lieber
Gott, was steht schon drin: Nun, er würde dem Herrn
Direktor meinen Wunsch vortragen, heute sei Freitag,
ich solle mich Dienstag einschreiben lassen, dann käme
der Herr Direktor am Donnerstag zur Audienz, ich
könne dann ja selber darum bitten. Er geht, langsam
und würdevoll, ein wenig mißbilligend, und ein wenig
ungeduldig, aber mit bestem Herzen. Die Tür geht
langsam zu, ich sehe noch die Hand, den Ballen, der an
meines Buches roter Lederdecke gepreßt liegt.
Ich bin allein. Ich habe vergessen zu fragen, von
wem dies Buch kam, ich weiß den Titel nicht, nicht den
Verfasser, nicht den Inhalt. Ich habe keinen Blick für
die kurze Reihe grauer, abgegriffener Bibliotheksbände
auf dem Tisch. Ich gehe auf und ah, fiebernd fast und
durchwogt von bebender Freude und durchzittert von
brennender Ungeduld. Ich muß das Buch haben, jetzt,
gleich, spätestens morgen. Heute ist Freitag, und die
nächste Audienz ist am Donnerstag, aber das ist ja
unmöglich, das ist eine Woche, und dann fällt erst die
Entscheidung, und dann muß ich noch tagelang warten,
bis ich es in den Händen habe.
Ich muß sehen, daß ich den Hauptwachtmeister noch
einmal sprechen kann. Ich muß wissen, von wem das
Buch geschickt wurde. Ich muß jetzt schon diesen Gruß
auffangen und ihn bergen, in mich verschließen, ganz
auskosten als ein Zeichen dafür, daß ich nicht verlassen
bin. Das Buch in den Händen des Beamten ist einziger
brennender Mittelpunkt. Hier ist etwas in meinen Tag
getreten, das ihm Sinn verleiht. Hier ist eine Zäsur, die
meine öde Zeit durchbricht, die ein Ansatz ist, ein
leuchtendes Mal.
Ich stehe an der Zellentür und lausche, ob der Tritt
des Beamten sich nicht hören läßt, ich springe an das
hohe, enge Fenster und luge durch die Gitterstangen auf
den Hof und sehe ihn, ihn in seiner ganzen Würde,
eben durch die Tür des Lazaretts verschwinden, einen
roten, leuchtenden Fleck in der Hand. Ich poche an die
Tür. Totenstille. Ich klopfe stark mit den Knöcheln.
Auf dem Gange rasseln Schlüssel, der Beamte schließt
mürrisch. Ich frage, wann der Hauptwachtmeister
zurückkommt. Heute nicht mehr. Also, heute nicht
mehr!
Der Tag vergeht, ich warte, ich weiß, daß es sinnlos
ist. Aber wann ließe sich das würgende Gefühl des
Wartens durch dies Wissen eindämmen? Immer wieder
höre ich Schritte, immer wieder peitscht mich die
Hoffnung hoch. Ich lege mich nach Einschluß auf das
Bett und suche in der Erinnerung, wie oft es in den
langen Jahren wohl geschehen sei, daß nach dem
Schlafengehen noch einmal die Tür aufrasselte und ein
Beamter zu guter Letzt doch noch brachte, worauf ich
den ganzen lähmenden Tag gewartet. Niemand kommt.
Ich bin müde. Ich habe eine irrsinnige Wut. Diese
Mauern, diese eiserne Tür! Sie hindern mich an der
einfachsten Handlung der Welt. Warum kann ich
nichtgetrost zum Direktor gehen, mit ein paar Worten,
in zwei Minuten wäre alles geregelt.
Es ist dunkel, ich liege lange wach und grüble über
das Buch. Ja, wenn ich es jetzt hätte! Wie oft hatte ich
den Spiegel am Oberfenster befestigt, daß er das Licht
der Laterne draußen aufsauge und auf den Tisch
reflektiere. In diesem kargen Scheine habe ich lange
schlaflose Nächte hindurch gelesen, Bücher, die ich fast
auswendig Ich würde heute das Buch in rotem Leder
nahe, ganz nahe an den Spiegel bringen und blättern
und mich hineinwerfen in eine Welt, die unsagbar fern
ist — und doch schon jenseits der Mauern beginnt
Ich schlafe ein und mein letzter Gedanke ist das
Buch. Ich wache auf und mein erster Gedanke ist das
Buch. Ich habe bis vor wenigen Stunden noch nichts
von dessen Existenz gewußt. Aber jetzt ist es in meinen
Umkreis hineingeschleudert, und fesselt mit magischer
Gewalt. Der Tag geht träge. Ich habe mich zur
Vorführung gemeldet, gleich morgens beim ersten
Aufschluß. Aber ich kann am Montag so gut vorgeführt
werden wie heute. Ich luge beim Spaziergang auf dem
engen staubigen Hofe um jede Ecke, ob der
Hauptwachtmeister nicht kommt, und falle dem
aufsichtführenden Beamten auf, der mich besonders
beobachtet, bereit, sofort einzuschreiten, sollte ich mit
dem Hintermann ein Gespräch versuchen. Ich hocke in
der Zelle auf dem Schemel und arbeite nervös und
aufgebracht über jedes fasernde Ende Bast, das mir in
die zerfahrenen Finger gerät. Die Mittagszeit vergeht.
Der Nachmittag vergeht. Unzählige Male stehe ich am
Fenster. Unzählige Male lausche ich an der Tür. Ich
frage die Beamten, die auf den muffigen Gängen
Wache halten; nein, der Haupt Wachtmeister ist noch
nicht bei seinem täglichen Rundgang vorbeigekommen.
Es wird Abend. Morgen ist Sonntag, da ist keiner der
Oberbeamten da. Ich werde den Sonntag über von der
gleichen, jagenden Unruhe umhergetrieben werden.
Nein, ich kann mich nicht in das Unabänderliche fügen.
Das Buch ist mir viel, ist mir in diesem Augenblick
alles. Ich rufe mir selber zu, Vernunft anzunehmen.
Was liegt schon an dem Buch? Ich müßte verzichten
können. Ich habe auf vieles verzichten müssen. Ich
werde heute das Buch nicht haben können und morgen
nicht, vielleicht in acht Tagen, was weiter? Nein, es
liegt gar nichts an dem Buch. Aber die Widersinnigkeit
dieses Systems ist es, die mich erregt. Warum soll ich
warten, da dies Warten keinen, aber auch nicht den
geringstenSinn hat. Warum wird zwischen mir und dem
kleinen Wunsche eine Mauer errichtet, die überflüssig
ist und quälend? Der ganze Tag ist mir zerstört, ich
rede mich in eine unsinnige Erbitterung hinein. Ich sehe
einen einfachen Vorgang — diese Menschen machen
eine komplizierte Angelegenheit daraus. Ich bin hilflos,
ja, das ist es, ich bin hilflos allem gegenüber, was mit
mir getan wird. Ich bin ausgeliefert, willenlos gemacht,
entmannt, ich bin kein Mensch, ein Ding bin ich, eine
Nummer, die keinen Willen haben darf und keine
Würde. Ich, der ich in der Zelle als einzig Lebendiges
eine Welt bin, außerhalb ihrer bin ich nichts. Nummer
149 will ein Buch haben? Warum? Nummer 149 sitzt in
der Zelle. Nummer 149 kann der Welt gleichgültig
sein.
Sonntag. Oben in der Kirche singen sie das Tedeum.
Die Orgel dröhnt, und ihre Töne zittern durch alle
Mauern. Ich gehe nicht in die Kirche. Ich sitze an
meinem Tisch und blättere fröstelnd und mißmutig in
den alten Bänden der Gartenlaube vom Jahre 1886. Ein
Moder und ein Staub steigt aus den Blättern auf. Die
Seiten sind gelb und abgegriffen. Ich habe den Band
schon unzählige Male in der Hand gehabt.
Verschollene Bilder, kindlich naiv, sentimental zum
Erbrechen. Ein Roman von erschütternder
Belanglosigkeit, einige Neuigkeiten aus aller Welt, die
so trostlos gleichgültig sind, wie dem Gefangenen von
die Welt von 1886 gleichgültig sein kann, wenn sie sich
in einer Garten-laube spiegelt. Ich klappe angeekelt das
Buch zu und wandere und ab. Morgen ist Montag,
morgen kann ich, vielleicht, vorgeführt werden. Wenn
ich jetzt mein Buch hätte, das sonntägliche Buch im
Luxuseinband, wenn ich mich jetzt einschachteln
könnte in ein Schicksal, das nicht das meine ist, wenn
ich jetzt eine Hand spürte, die die meine schiebt und
mich hinwegführt aus der Zelle, aus dem geschichteten
Wust von Erbitterung und Hoffnungslosigkeit - mein
Sonntag wäre es, es ist der Sonntag in der Strafanstalt.
Und dieser Tag ist müder noch als alle müden Tage.
Wie langsam schleichen die Stunden!
Montag. Der Beamte kommt, ich werde vorgeführt.
Ich stehe auf dem langen Gang in einer Reihe von
Mitgefangenen. Mit drei Schritt Abstand stehen wir,
und der Beamte achtet auf jeden Blick, den wir uns
zuwerfen. Wir stehen fröstelnd und warten, ein jeder
hat sich seinen Wunsch zurechtgelegt und feilt still an
den Worten, mit denen er ihn vorbringen will. Einige
sind da, die zur Bestrafung gemeldet wurden; sie stehen
mit ängstlichen oder trotzigen Mienen und drehen
nervös die Mütze. Der Hauptwachtmeister kommt mit
einem Stoß Akten. Er sieht prüfend die Reihe durch. Er
fragt mich, was ich wünsche. Ich wolle den Herrn
Direktor sprechen wegen des Buches. Er sagt, das sei
doch Unsinn. Er sagt, es müsse mir doch bekannt sein,
daß zur Extra-Audienz mir wichtige und unaufschieb-
bare Wünsche vorgetragen werden dürften. Er sagt, am
Donnerstag werde es geregelt werden. Er meint, ich
solle mich doch nicht so haben. Wenn nun jeder käme
wegen so einer Lappalie, am Donnerstag also, nicht
wahr,... «Wachtmeister, der Mann kann in seine Zelle
zurückgeführt werden.» Was es denn für ein Buch sei,
frage ich schnell, und von wem es geschickt worden
wäre? Das wisse er nicht, er habe andere Dinge im
Kopf, ich solle mich endlich zufrieden geben, er werde
dem Herrn Direktor schon Vortrag halten. Er geht. Der
Beamte führt mich zurück. Die Gefangenen sehen
neugierig hinter mir her. Die Zelle nimmt mich auf, die
Tür knallt zu, und ich verspüre den rasenden Wunsch,
alles kurz und klein zu schlagen.
Dienstag. Grau, grau der Tag. Ich warte. Ich lasse
mich zur Audienz eintragen.
Mittwoch. Morgen fällt die Entscheidung. Wenn
alles gut geht, kann ich Sonnabend mein Buch haben.
Donnerstag, Ich räume die Zelle gut auf, ich ziehe
die schweren Schuhe an, ich knüpfe mir das Halstuch
immer wieder von neuem, ich wasche mir zwei-,
dreimal die Hände. Ich horche an der Tür, ich stehe am
Fenster. Stunde um Stunde verrinnt. Ich greife zur
Arbeit und werfe sie wieder hin. Meine Nagelschuhe
trappen auf und ab. Der Barbier kommt, mich zu
rasieren. Ich muß wieder Rock und Halstuch ablegen
und setze mich geduldig auf den Schemel. Der Beamte
an der Tür geht für Sekunden abseits. Schnell frage ich
den Barbier, wo der Direktor sei. Auf Abteilung 1, sagt
der Barbier, der im ganzen Bau herumkommt. Er
flüstert mir zu, der «Alte» scheine schlechter Uune zu
sein Die beiden Schreiner von Abteilung IV, die sich
neulich geschlagen hatten, seien in Arrest gebracht und
abgelöst worden. Der Beamte kommt, der Barbier ist
fertig. Ich bin wieder allein. Bald muß der Direktor
kommen. Er kommt. ET ist nicht schlechter Laune, er
grüßt jovial; «Wie geht's! Nun, was wünschen Sie?»
Der Hauptwachtmeister öffnet das Buch und setzt den
Bleistift an. Ich bäte um das Buch, sage ich, und ob
es mir nicht beschleunigt ausgehändigt werden könne.
«Jaso, das Buch, ja, ich werde es dem Herrn Pfarrer zur
Begutachtung vorlegen. Guten Tag» —
Tage vergehen. Drei Tage vergehen. Dreimal frage
ich den Hauptwachtmeister. Der Herr Pfarrer hat das
Buch. Der Herr Pfarrer hat das Buch mit nach Hause
genommen und ist momentan nicht erreichbar. Der
Herr Pfarrer fährt nach dem Sonntagsgottesdienst für
einige Tage auf Urlaub. Der Hauptwachtmeister winkt
ärgerlich ab, wenn ich mich ihm nahe. Wenn ich an die
Zellentür klopfe, geht er draußen auf dem Gange eilig
weiter.
Am Dienstag melde ich mich zur Audienz. Am
Donnerstag kommt der Direktor. Der Herr Pfarrer hat
das Buch immer noch. Ich würde Bescheid erhalten.
Ich erhalte keinen Bescheid. Ich lebe stumpf und
freudlos. Ich warte Stunde um Stunde auf eine
Mitteilung. Ich bin bei der Arbeit träge und mißmutig.
Jede freie Stunde ist mir Anlaß, von neuem
aufzubegehren. Ich höre durch den Kalfakter, daß der
Pfarrer vom Urlaub zurückgekehrt sei. Ich lasse mich
zur Vorführung beim Pfarrer eintragen. Tage vergehen,
ich warte. Ich werde vorgeführt. Der Pfarrer steht in
seiner Stube, einigermaßen erstaunt, daß ich, in die
Bücher eingetragen als Dissident, ihn zu sprechen
wünsche. Er sieht über die Brillengläser an. Ach so, das
Buch, ja, er habe es noch nicht gelesen. Er werde dem
Herrn Direktor Bericht erstatten. Er wickelt, am
Schreibtisch, abgewandt, sein Frühstücksbrot aus; ich
bin entlassen. Ich warte. Ich bin geladen,
vollgestopft mit Erbitterung. Abends ich an die Wand
zum Zellennachbar. Der klettert auf den Tisch kommt
ans Fenster, Ich klage ihm flüsternd. Ja, das sei so,
meint er. Er meint, ich könne mich doch nicht wundem
darüber, ich sei doch lange genug im Bau. Ich solle
eben jede Woche zur Audienz gehen und immer wieder
daran erinnern. Der Alte sei kein schlechter Ker1, der
könne auch nicht so, wie er wolle. Das System sei es
eben, System. Ob ich denn kein Buch mehr in der Zelle
hätte? Morgen beim Wasserkrugrausstellen, wolle er
mir ein Buch hinlegen, unter meine Kehrichtschaufel.
Es sei ein feiner Roman, «Die Tochter des
Kunstreiters». Nein, sage ich, danke, sage ich, ich hätte
dies Buch schon gelesen, es sei mir auch nicht um das
Lesen zu tun, aber mein Buch wolle ich haben, das mit
dem roten Ledereinhand, das sei ein Gruß von zu
Hause. Ja, ja, sagt der, das könne er verstehen und —
«Achtung fuffzehn» sagt er. Der Beamte kommt mit
dem Hunde und ruft: «Ruhe da oben.»
Es ist wieder Donnerstag. Der Direktor kommt zur
Audienz. Ja, das Buch, also, er müsse mir die
Mitteilung machen, daß ich es nicht ausgehändigt
erhalte. Der Herr Pfarrer halte es für Gefangene nicht
für geeignet. Es sei unsittlich. Ich werde ganz wach. Ich
lausche gespannt. Ich frage mit betonter Höflichkeit, ob
der Herr Direktor mir nicht vielleicht mitteilen könne,
wer mir das Buch geschickt habe. Der Direktor blickt
fragend zum Hauptwachtmeister. Der räuspert sich und
sagt, ja, es sei von einer mir sehr nahestehenden Dame.
Ich lasse mir von dem Herrn Direktor vorsichern, daß
die mir sehr nahestehende Dame nach der Strafvoll zu
gsordnung als eine «Angehörige» zu betrachten sei. Ich
sage und überlege mir mit kalter Ruhe jedes Wort; ich
müsse es als eine ungerechtfertigte Beleidigung des
Herrn Pfarrers meinen Angehörigen gegenüber
ansehen, wenn der Herr Pfarrer ein Buch, welches diese
mir senden, als unsittlich bezeichne. Meine An-
gehörigen senden mir keine unsittlichen Bücher. Meine
Angehörigen stünden moralisch mindestens auf der
gleichen Stufe wie der Herr Pfar Außerdem möchte ich
mir die Frage erlauben, wieso der Herr Pfarrer über
mich, den Dissidenten, Befehlsgewalt besitze. Ja, sagt
der Direktor, so sei das ja nicht gemeint. Gott,
unsittlich! Das Buch sei eben nach des Herrn Pfarrers
Meinung für Gefangene nicht geeignet. Er müsse sich
dieser Meinung anschließen. Er kenne das Buch, es
enthalte Stellen, die mich, den Gefangenen, unnötig in
Erregung zu versetzen geeignet wären. Im Sinne der
Hausordnung müsse das vermieden werden. Der Herr
Pfarrer habe in seiner Eigenschaft als Beamter
gehandelt, nicht als Seelsorger. Ja, sagt der Direktor,
Sie müssen vernünftig sein. Sehen Sie mal — und er ist
ein wenig verlegen dabei —, sehen Sie, wir wollen
doch nur Ihr Bestes! Sie sind ein junger Mensch, nicht
wahr, und solche Bücher ... Ich sage, ich sähe das ein
und ich bäte um meine Versetzung in ein
Jugendfürsorgeheim. Ich, als junger Mensch, müsse
alles, was die Strafe betreffe, voll und ganz erdulden,
sei ich zu jung, um solche Bücher ohne Schaden lesen
zu können, dann sei ich zu jung, die ganze Schwere der
Strafe zu ertragen. Der Direktor ist verletzt. Er wendet
sich kurz. Also, ich kann Ihnen das Buch nicht geben,
sagt er, und der Hauptwachtmeister notiert es. Ich raffe
mich auf. Ich bitte um einen Beschwerdewegen. Gut,
sagt der Direktor zum Hauptwachtmeister, gut, der
Mann kriegt seinen Beschwerdebogen; und geht. Und
mit ihm geht der Hauptwachtmeister und hat ein
strenges, dienstliches Gesicht. Die Tür schlägt schärfer
zu, als ich es bisher gewohnt war. Ich bin allein.
Auf der Schiefertafel setze ich meine Beschwerde
auf. Kurz muß sie sein. Sie darf in keiner Weise
beleidigend ausfallen. Sie muß in der Form einer Bitte
gehalten sein. Der Herr Strafvollzugspräsident ist sehr
genau. In der Vorschrift steht: «Ungerechtfertigte
Beschwerden unterliegen disziplinärer Bestrafung.» Ist
meine Beschwerde unberechtigt? Zweifellos darf der
Direktor mir eine Vergünstigung abschlagen. Er darf es
sogar ohne Angabe von Gründen. Es bleibt die
Beleidigung des Pfarrers gegen meine Angehörigen.
Aber der Direktor hat ja gesagt, das sei nicht so
gemeint. Die Beschwerde ist ungerechtfertigt Kann ich
zurück? Ich schreibe sie doch.
Der Hauptwachtmeister kommt nach zwei Tagen und
bringt mir einen Bogen. Feder und Tinte bringt er nicht.
Der Hauptwachtmeister hat kein dienstliches Gesicht
mehr. Der Hauptwachtmeister setzt sich auf den Tisch,
lächelt und baumelt mit den Beinen. Er sagt, ich sei ein
Hitzkopf, er sagt, ich solle es mir doch noch mal
überlegen. Er sagt, er spräche zu mir mal
außerdienstlich. Was hätte denn das Ganze für einen
Zweck? Du lieber Gott, ich solle mir das dämliche
Buch aus dem Kopfe schlagen. Ich müsse doch noch
jahrelang in der Anstalt bleiben, ich könnte mir alle
Sympathien verscherzen; ich möchte doch auch mal
begnadigt werden. Er sagt, meine Beschwerde sei ja ein
Unsinn, denn der Herr Strafvollzugspräsident könne
doch nicht durch eine Gegenentscheidung die Autorität
des Direktors untergraben. Hier sei ein Bogen, aber ich
solle es mir doch noch sehr überlegen. Wegen so eines
Buches! Er halte mich doch für einen leidlich
vernünftigen Menschen, ich mache doch auf eine
gewisse Bildung Anspruch. Na also, er ließe mir Zeit,
er meine es gut mit mir. Er geht, ohne einen Blick der
Prüfung durch die Zelle geworfen zu haben.
Ich sitze lange unentschlossen. Ja, die Beschwerde
ist Unsinn. Aber will mein Buch haben. Dies Buch war
wochenlang der Punkt, um den sich alle Gedanken
drehten. Ich giere nach dem Buche. Was mag es für
eines sein? Unsittlich? Was nennt der Pfarrer
unsittlich? Was nennt der Strafvollzugspräsident
unsittlich? Ich muß, ich muß das Buch haben. Soll
dieser ganze Kampf vergeblich gewesen sein? Ich
weiß, ich werde keine Ruhe haben, ehe ich nicht das
rote Leder in den Händen fühle, ehe ich nicht in den
Seiten geblättert habe. Ich schreibe die Beschwerde
doch. Ich lasse mir Tinte und Feder bringen und
schreibe uns überlege bei jedem Wort und setze
Buchstabe hinter Buchstabe und vergesse den
vorschriftsmäßigen Rand nicht und nicht das «ganz
ergebenst» und nicht das höhnische Grinsen bei diesem
«ganz ergebenst». Und ich warte auf den
Hauptwachtmeister, der den Bogen holen soll.
Tage vergehen. Ich werde dem Hauptwachtmeister
vorgeführt. Ich stehe in langer Reihe mit anderen
Gefangenen auf dem Gang. Ich bin an der Reihe und
trete in die Stube. Der Hauptwachtmeister sitzt am
Tische und schreibt. Zu seinen Fußen liegt der scharfe
Wachhund. Der Hauptwachtmeister läßt mich warten.
Ich lasse den Blick durch das Zimmer schweifen und
sehe - mein Buch. Im Regal für erledigte Sachen. Ohne
Zweifel, es ist mein Buch. Das Rot leuchtet lockend.
Ich sehe hin wie gebannt. Ich bin unbeschreiblich
aufgeregt. Ich versuche den Titel zu entziffern. Der
Hauptwachtmeister macht eine Bewegung und ich
fühle mich wie ertappt. Er fragt nach meinem
Kassenbestande. Er fragt nach diesem und jenem. Er
fragt mit keinem Worte nach meiner Beschwerde. Er
notiert sich verschiedenes. Da bricht ihm die
Bleistiftspitze ab. Er erhebt sich, tritt ans Fenster,
wendet mir den Rücken, eifrig bemüht, den Bleistift zu
spitzen. Ich hole tief Atem, ich mache einen Schritt
seitwärts. In meiner Brust hämmert es rasend. Ich
greife das Buch, das rote Buch, und stopfe es unter die
Jacke. Und drehe mit der linken Hand hinten die
Jackenzipfel zusammen und pumpe die Brust voll Luft,
das Buch zu halten. Der Wachhund sieht mich mit
aufmerksamen Menschenaugen an. Ich habe mein Buch
gestohlen. Ich trete zurück, bleich, fröstelnd,
erschreckt. Der Hauptwachtmeister wendet sich. Ich
blicke in die Ecke, er sagt; «Es ist gut, Sie können
gehen. Der Nächste.» Ich taumele zur Tür und presse
das Buch unter der braunen Jacke an mich und stehe in
der Reihe und verspüre ungeheure, erlösende Freude.
Der Beamte geht mit mir zurück in die Zelle, er schließt
auf, er schließt zu. Ich stürze zum Tisch, türme die
Bibliotheksbände aufeinander und hole mit klammen
Fingern das Buch hervor und lege es hinter den Stapel,
bereit, es jeden Augenblick zu verdecken. Ich streiche
scheu mit dem Handrücken über den Einband. Ich
schlage das Titelblatt auf und lese: «Stendhal, Rot und
Schwarz».

1926

Aus den Mosaiksteinchen täglicher kleiner Ab-


weichungen bildete sich das Gesicht der Zeit gleich
einem Gemälde, auf dessen staubgrauen Hintergrunde
starre Linien und blasse Farben keine Tiefen-
dimensionen erstehen ließen. So unwirklich war der
zähe Fluß der Tage, daß er keinen Anfang und kein
Ende zu haben schien. Oftmals kamen Augenblicke, da
ich mich gegen den Gedanken nicht wehren zu können
vermeinte, daß dies immer so weitergehen müsse, daß
ich niemals frei sein werde. Freilich gab es da einen
durch das Urteil des Gerichtes genau festgelegten Tag,
an dem ich des Nachmittags um drei Uhr zehn
entlassen werden mußte. Aber dieses Datum, gegeben
als der Endpunkt einer bestimmten Zeit, war mir
unfaßbar geworden, weil mir die Vorstellung unfaßbar
geworden war, daß außerhalb meiner steinernen
Begrenzung der Raum voll Weite und die Zeit voll
Bewegung sei.
Ich empfand mein Dasein in der Zelle als
schattenhaft, weil alles, was sich in ihr ereignete, an
eine mittlere Linie gebunden war. Die Zelle duldete
keine Abweichungen von dieser Linie, keine
Spannungen, keine Exaltationen, keine Inbrunst, nichts
von dem, was das Leben erst fruchtbar macht. Ihr
Druck erstickte in ewig brandendem Angriff durch stete
zerstörende Verächtlichmachung, durch das brutale
Niederschlagen jeder eigenen Regung den Willen,
hemmte den Impuls, untergrub die Leidenschaft und
ließ als einzigen Richtpunkt die vage, die verräterische
Hoffnung auf eine Freiheit, die allmählich ihr
Spiegelgesicht verlor und die einstmals zu ertragen die
Zelle den Gefangenen erst unfähig machte.
Wenn der Zweck dieses ungeheuer konsequenten
Vorganges die Strafe war, dann war die Strafe ohne
Sinn. Niemand konnte durch sie «in ernster Reue Kraft
gewinnen», niemand zur «friedsamen Furcht der
Gerechtigkeit» gelangen. Und niemand von denen, die
dies als Sinn der Strafe dekretierten, glaubte auch
daran. Es war so, daß der Direktor und der Pfarrer und
jeder einzelne Beamte und daß gar der Herr
Strafvollzugspräsident selber behutsam auswichen,
wenn ich sie in gnädigst mir bewilligtem Gespräch
fragte, ob sie wirklich an den Sinn der Strafe glaubten,
daß sie vorsichtig sich auf Paragraphen und Gesetze
zurückzogen und einmütig erklärten, sie täten bloß ihre
Pflicht, und ebenso einmütig verrieten, wie unbehaglich
sie sich im Bereiche dieser Pflicht bewegten. Hier
stimmte etwas nicht. Die Strafe war nicht legitim. Sie
mochte für die, die sie verhängten und vollzogen,
praktisch sein oder bequem, sie mochte durch Tradition
geheiligt sein oder durch Erfahrung bestätigt — und es
war nicht einmal etwas von dem der Fall —, eins war
sie nicht: sie war nicht die rächende Gewalt eines
ethischen Prinzipes, die im Namen einer höheren
Einheit als der des nicht geeinten Volkes verkündet und
vollzogen wird. Darum war die Strafe nicht legitim,
darum war sie ohne Frucht und ohne Sinn. Darum war
die Ordnung, in der sie sich vollzog, so unerträglich,
daß jedes Sichwehren gegen sie dem natürlichsten
Instinkt entsprang. Im Grunde war diese Ordnung um
ihrer selbst willen da, und jede Maßnahme, die in ihrem
Namen geschah, hatte als Begründung einzig eine
imaginäre und anscheinend stets bedrohte Sicherheit,
die gewahrt mußte. So mochte sie wohl ein
verkleinertes, aber darum verschärft getreues Spiegel-
bild abgeben von jener anderen Ordnung, derentwegen
ich es für nützlich hielt, ein destruktives Element zu
werden.
Schon lange gingen Gerüchte in der Anstalt von
einer grundlegenden Reform des Strafvollzuges. Nicht
mehr der Gedanke der Strafe sollte im Mittelpunkte
stehen, sondern der der Erziehung. Niemand wußte
Genaueres anzugeben über die Art dieser Erziehung;
die Beamten brauchten lange Zeit, bis sie das Wort
«progressiv» aussprechen konnten, länger noch, bis sie
ungefähr eine Ahnung hatten, was es bedeutete;
befreunden konnten sie sich nie mit ihm. Als endlich
die ersten Bestimmungen herauskamen, mußte es
peinlich vermieden werden, befangenen von ihrem Sinn
und Inhalt Auskunft zu geben. Doch genug sickerte
durch, um die Arbeitsräume und Schlafsäle mit
eifrigem Gespräch zu füllen. Die Vermutungen gingen
so weit, die Hoffnungen stiegen so hoch, daß es später
bitter enttäuschen mußte, als sich die Konferenz
langsam und vorsichtig entschloß, wenigstens einen
Teil der Bestimmungen in Kraft zu setzen. Eine dieser
Bestimmungen lautete, daß jeder Gefangene, der neu
eingeliefert wird, in die erste Stufe des progressiven
Strafvollzuges einzureihen sei; führe er sich während
der ersten neun Monate einwandfrei, dann könne er auf
Beschluß der Konferenz in die zweite Stufe versetzt
werden; in die dritte konnten Gefangene nur gelangen,
wenn sie noch nicht vorbestraft waren, wenn sie die
Hälfte ihrer Strafe verbüßt hatten, wenn sie mindestens
neun Monate in der zweiten Stufe eingereiht waren,
wenn sie sich so gut geführt harten, daß nicht der
geringste Tadel gegen sie vorlag, wenn die Konferenz
einstimmig zu der festen und unumstößlichen Ansicht
gelangt war, daß sie nicht mehr rückfällig werden
konnten. Die erste Stufe sollte einen grünen Streifen,
die zweite zwei und die dritte drei am Ärmel der Jacke
tragen. Die erste Maßnahme der Anstaltsleitung war
der Befehl, grüne Streifen herzustellen. Und jedermann
erhielt einen grünen Streifen. Weiter geschah neun
Monate lang nichts.
Nach Ablauf der neun Monate wurde ich vor die
Konferenz, zitiert, und der Herr Direktor teilte mir mit,
daß ich auf seinen Vorschlag in die zweite Stufe
versetzt sei; zwar sei meine Führung nicht einwandfrei
gewesen, sagte der Direktor ernst, doch fügte er
sogleich die emphatisdie Versicherung hinzu, aber er
halte mich nicht für schlecht. Ein zweiter grüner
Streifen wurde mir an den Ärmel genäht, Weiter
erfolgte für drei Monate nichts, außer, daß mir gestattet
wurde, einen größeren Teil meines Verdienstes in
Kautabak anzulegen, als es den Gefangenen der ersten
Stufe gestattet war. Um diese Vergünstigung voll
auszunutzen, fing ich zu priemen an.
Von den dreihundertfünfzig Gefangenen waren etwa
dreißig mit mir zusammen in die zweite Stufe versetzt
worden, darunter Edi. Ich setzte mich mit Edi durch
Kassiber in Verbindung, und wir benachrichtigten alle
Gefangenen der zweiten Stufe, sie sollten sich jeder für
sich zur Audienz melden und möglichst mit gleichen
Worten dem Herrn Direktor mitteilen, daß das Glück,
in die zweite Stufe versetzt zu werden, durchaus zu
ertragen sei. Der Herr Direktor aber hielt sich strenge
an die Verordnung, daß die Vergünstigungen nicht
etwa alle auf einmal, sondern nach Maßgabe des
Verdienstes nach und nach gewährt werden sollten.
Und Edi und ich bewogen die anderen, sich für jeden
Donnerstag zur Audienz zu melden und eine neue
Vergünstigung zu verlangen. Als die neun Monale der
zweiten Stufe herum waren, konnte der Herr Direktor
mich mit Stolz darauf aufmerksam machen, daß ich alle
Vergünstigungen genoß, die für die zweite Stufe
vorgesehen waren. Ich hatte eine Stunde länger Licht in
der Zelle, ich durfte jeden Monat statt alle zwei Monate
einen Brief schreiben und einen empfangen, ich durfte
öfter Besuch bekommen, und ich durfte mir in
beschränktem Umfange eigene Bücher halten. In
beschränktem Umfange, das hieß, ausschließlich Fach-
literatur, die geeignet war, den Gefangenen beruflich
weiterzubilden. Ich teilte dem Herrn Direktor mit, daß
ich den Beruf eines Schriftstellers als nahrhaft und
zweckmäßig erkannt und beschlossen habe, mich ihm
eifrig zu widmen. Es gäbe mithin kein Buch, das nicht
zu meiner beruflichen Fortbildung geeignet sei.
Dann aber geschah es, daß zu feierlichem Akt die
Konferenz zusammentrat, um sechs Gefangenen die
außerordentliche Würde der dritten Stufe zu verleihen.
Die dritte Stufe, sagte der Herr Direktor, sei der
Übergang zur Freiheit. Wir sollten uns der hohen
Gnade und des Vertrauens der Beamtenschaft würdig
erweisen, sagte er, besonders erwarte er, und hierbei
sah er mich prüfend an, daß derjenige, der auf Grund
seiner Überzeugungstäterschaft in die dritte Stufe
versetzt werde, nicht vergesse, daß, wer Anspruch
erhebe, als anständiger Mensch behandelt zu werden,
auch sich als anständiger Mensch benehmen müsse.
Die dritte Stufe, sagte er, sei ein Versuch, das Edle im
Gefangenen zu erwecken. An uns liege es, zu beweisen,
daß dies möglich sei. Wir könnten uns im übrigen
immer bei besonderen Wünschen auf direktem Wege
vertrauensvoll an ihn wenden. Ich wandte mich sofort
vertrauensvoll an ihn und bat, daß auch Edi in die dritte
Stufe versetzt werde. Wenn ich als Überzeugungstäter
betrachtet würde, könne auch er dasselbe Recht
beanspruchen. Da hörte ich, daß Edi begnadigt worden
sei.
Ich traf ihn auf dem Beamtenflur. Er eilte atemlos an
mir vorbei. «Begnadigt!» schluckte er und winkte mir
mit einer unendlich hiflosen Handbewegung zu. Er
rannte zitternd und kopflos weiter, lachend, stotternd,
jedem Gefangenen, jedem Beamten zurufend, tausend
Dinge in die Hand nehmend und immer wieder
weglegend, in Hast und in Furcht. In Furcht, er
fürchtete sich vor der Freiheit, er mußte sich vor ihr
fürchten, so wie ich mich vor ihr fürchtete, wie vor
etwas ganz Unfaßbarem, Unheimlichem, dem man
bedingungsloser ausgeliefert sein muß als der Zelle.
Kam er denn in die Freiheit? fragte ich mich sofort. Er
kam aus enger Zelle in staubige Werkräume, er kam
aus klammernden Fesseln, um sofort in andere, nicht
minder drückende gezwungen zu werden. Er lief den
Gang entlang, und bevor er in die Kanzlei eintrat,
drehte er sich noch einmal um, hob die Hand und
winkte zum letzten Male. Das war das Letzte, was ich
von ihm sah. Jahre spater las ich in einer Zeitung seinen
Namen, er war unter einer Reihe anderer Namen
aufgeführt als eines der Opfer eines Zusammenstoßes
zwischen Polizei und Erwerbslosen. Ein Brief, den er
mir nach seiner Entlassung schrieb, wurde mir wegen
«beleidigender und anstößiger Ausdrücke» nicht
ausgehändigt und zu den Akten gelegt.
Für mich begann eine Zeit, die um eine Schattierung
heller war als die verflossenen vier Jahre. Der Direktor
meinte es ernst mit der neuen Verordnung, wie er es
mit jeder Verordnung ernst meinte. Weitaus die
Mehrzahl der Beamten meinte es nicht ernst. Es war in
der Tat ein groteskes Verlangen, von ihnen
pädagogische Fähigkeiten zu erwarten. Diese biederen
Männer, seit Jahrzehnten im Dienst, mit dem Zuchthaus
verwachsen wie mit ihren krummen Säbeln und dem
riesigen Schlüsselbund, sahen sich murrend und
kopfschüttelnd an, wie die Gefangenen der dritten Stufe
in der wöchentlichen Turnstunde über ein Seil hüpften,
wie sie Kniebeugen machten und über den Kasten
sprangen. Sie murmelten wütend, da lernten die
Spitzbuben, wie man über eine Zuchthausmauer geht
und wie man vor dem Gendarm ausreißt. Sie knurrten,
wenn sie gezwungen waren, an sechs Zellen eine Stun-
de später das Licht auszudrehen, sie spotteten über die
schüchternen Bilder und fadenscheinigen Vorhänge im
Tagesraum der dritten Stufe, in dem sich die sechs
Auserwähhen manchmal versammeln durften. Sie
versuchten, gerade die dritte Stufe zu schikanieren, wo
sie konnten, und waren maßlos verblüfft, als sie
merkten, daß der Direktor auf einmal nicht immer den
Beamten so ohne weiteres recht gab, kam es einmal
zwischen ihnen und den Dreistreifigen zu Streitereien.
Sie zogen sich schließlich erbittert zurück und ließen
uns in Ruhe und lauerten auf die Gelegenheit, uns eins
auszuwischen, und versäumten es nicht, die anderen
Gefangenen gegen uns ein wenig aufzuhetzen.
Die Gefangenen der ersten Stufe aber pflegten mit
Inbrunst auf die der zweiten Senfe zu schimpfen, so
lange, bis sie selber in der zweiten Stufe waren. Wer
keine Aussicht hatte, in die dritte zu gelangen, war von
vornherein Gegner des progressiven Strafvollzuges als
eines Systems der fürchterlichsten Ungerechtigkeit.
«Da geht die Mörderklasse!» sagte einer, als wir einmal
zur Sonderfeierstunde neben- und nicht hintereinander
im Hofe gingen. In der Tat, trotzdem die Auswahl
keineswegs nach der Straftat getroffen war, sondern
einzig nach dem Grade der persönlichen Eigenschaften
des Charakters, war keiner unter den Dreistreifigen, der
wegen eines Verbrechens gegen das Eigentum oder
gegen die Sittlichkeit bestraft war. Da war ein
Schuhmacher, verurteilt zu zwölf Jahren, weil er im
Handgemenge einen Bauern erschlug, der sich an seine
Frau gemacht; ein Feldwebel, lebenslänglich, der einem
Schneider auflauerte und ihn erschoß, weil der am
Wirtshaustische behauptet hatte, er hätte während des
Krieges Fleisch verschoben; ein Handlungsgehilfe,
fünfzehn Jahre, weil er mit seinem Bruder, der im
Zuchthaus verstarb, vom Kriege heimkehrend und
Arbeit suchend, einen Grubenmagnaten angefallen
hatte und auf der Flucht vor Verfolgern einen
Nachtwächter erschoß; ein Straßenbahnschaffner, zehn
Jahre, weil seine nichts weniger als angenehme Ehefrau
unter Eid behauptete, er habe ihr Rattengift in die
Bohnensuppe gestreut; ein Techniker, zwölf Jahre, weil
er nicht dulden wollte, daß man seinen, wie sich später
herausstellte, unschuldig des Diebstahls bezichtigten
Vater verhaftete, und den Landjäger erstach. Alle diese
Männer waren verträgliche Leute, kameradschaftlich
und voll des einzigen Wunsches, in Frieden ihren
Beschäftigungen nachzugehen. Daß man sie als
Verbrecher behandelte, begriffen sie nicht, und ihre
Gespräche drehten sich um angenehme Mädchen mit
rundlichen Formen und die Zubereitung aussichts-
reicher Fleischgerichte. Wenn wir zumenkamen,
spielten wir Schinkenklopfen oder Halma und waren
uns einig darüber, daß auch die wohlmeinendste
Strafvollzugsordnung nicht geeignet sei, erwachsene
Menschen zu irgendeiner Art von Idealtypus oder zu
einem getreuen Staatsbürger zu erziehen, und daß es
verdienstlich sei, sich mit allen verbotenen oder
erlaubten Mitteln Tabak zu verschaffen. Wir rauchten,
trotz des strengen Verbotes, ausgekauten Priem und
Seegras und waren entschlossen, auf dies Vergnügen
nicht zu verzichten, selbst auf die Gefahr hin, im Falle
des Erwischtwerdens in die höllischen Regionen der
ersten Stufe zurückgestoßen zu werden. Im übrigen
konnte uns kaum einer der mißgünstigen Beamten
etwas anhaben, denn wir waren mit allen Kniffen
vertraut und wußten von den meisten zuviel.
Die Erlaubnis, mir in unbeschrankter Anzahl Bücher
kommen zu passen, hatte meine Tage sinnvoller
gemacht. Ich verkroch mich nun, da ich nicht mehr
unbedingt an die Zelle gebimden war, aus freien
Stücken emsig in sie und las. Ich warf mich hinein in
eine Weit, die mir fremd und unsagbar köstlich
geworden war, ich las alles, was mir die Hände kam,
ohne Plan und System durcheinander, lernte Englisch
und Spanisch nach der Methode Toussaint-
Langenscheidt, ohne bis heute die Aussprache
beherrschen zu können —, era ciego de nacimiento,
ewig wird mir dieser erste Satz des spanischen
Lehrganges im Gedächtnis bleiben —, ich
buchstabierte mir die Augen stumpf, wenn das Licht in
der Zelle erloschen war, im schmalen Schein der
Hoflaterne und brachte mich mehr denn je um jeden
Schlaf. Manchmal stieg ich des Morgens, sobald der
schmale Streif des Himmels im Fensterviereck sich zu
erhellen begann, vom zerwühlten Bett nach den
zermürbenden Stunden der durchwachten Nacht,
machte Freiübungen, bis ich an allen Gliedern zitterte,
und hatte, wenn die Kalfakter mit hallendem Getöse die
Kaffeekessel über die Steinfliesen der Gänge schleiften,
schon viele Kapitel gelesen, ohne ein anderes Gefühl zu
spüren als das des Ärgers, nun unterbrochen zu werden.
Immer öfter kam der Direktor in meine Zelle, um mich
seines Vergnügens zu versichern, daß ich mir nun
meine eigene Welt gebaut. Selbst der Hinweis, daß er
sich dieses Vergnügens hätte schon sehr viel früher
erfreuen können, nahm ihm nichts von seiner
unerschütterlichen Sanftmut, und sein Wohlwollen
begann, mir unheimlich zu werden. Er habe immer nur
seine Pflicht getan, sagte er, und es sei nun seine
Pflicht, erzieherisch auf mich einzuwirken. Ich
versuchte, ihm den Glauben an die Möglichkeit meiner
und meiner Mitgefangenen sittlichen Läuterungen zu
nehmen, aber die langen Unterredungen endeten
schließlich doch immer nur mit der erstaunlichen
gegenseitigen Feststellung, daß wir beide im Grunde
doch ganz respektable und umgängliche Menschen
waren, und daß diese Tatsache nicht aussagen könne
über den Sinn oder Unsinn des nunmehr geheiligten
Erziehungsprinzips im progressiven Strafvollzug
Eines Tages aber ließ mich der Direktor rufen, und
als ich vor ihm stand, bat er mich, Platz zu nehmen. Ich
erschrak sehr ob dieses Umstandes, doch der Herr
Direktor bestand darauf, und als ich mich auf einem
richtig gepolsterten Stuhle mit einer vollkommen
überraschenden Lehne niedergelassen hatte, eröffnete
er mir, er könne mir die freudige Mitteilung machen —
ich eprang erregt auf, aber er winkte erschrocken, mich
wieder zu setzen —, daß die Möglichkeit nicht
ausgeschlossen sei, schon innerhalb der nächsten
Wochen eine amtliche Anweisung eintreffen zu sehen,
die meine Begnadigung und Entlassung zum
Gegenstand habe. Freunde hätten für mich ein Gesuch
eingereicht. Er könne die günstigsten Aussichten
prophezeien, denn eine nationale Regierung sei ans
Ruder gelangt, und es sei eine weitgehende Amnestie in
Vorbereitung.
Ich lag nach Einschluß mit unter dem Kopf
gekreuzten Armen auf dem Bett und starrte an die
Zellendecke, auf die sich die Gitterstabe im zitternden
Licht der Hoflaterne abzeichneten. Immer wieder fragte
ich mich, ob denn dies überhaupt möglich sei, ob es
denkbar sei daß ein Tag käme, und bald käme, morgen
schon kommen könne, an dem ich nicht des Abends
mein Bett herunterklappen würde, um müde und
unlustig den Schlaf herbeizusehnen, ein Tag, an dem
sich mir die Welt auftun würde, eine un-
wahrscheinliche, eine unerhört vielgestaltige Welt mit
Frauen und Ideen und Bewegung und Forderung, eine
Welt, die beklemmend sein mußte in ihrer Fülle, voll
starker Farben, mit Bäumen und Häusern und
Eisenbahnen, mit Bergen und Flüssen und Männern,
die einen richtigen weißen Stehkragen tragen, keine
Uniform und keine braune Kluft, Menschen mit
Gesichtern, nicht mit Fratzen, und Tiere und eine Luft,
die in der Ferne bläulich wird, und alles, alles, und
jedenfalls nichts von dem, was mich jetzt umgab. Das
war das Wichtigste. Jedenfalls eine Welt, von der ich
mir nur eine unerhört beglückende Vorstellung machen
konnte, wenn ich mir alles wegdachte, was mich jetzt
umgab.
Ich versuchte mir voraustellen, wie es denn früher
war. Aber das war alles blaß und verschwommen, und
die Bilder zeigten sich gleich regellosen Träumen, ganz
flächig, wirr, Gesichter von Kameraden huschten
unwirklich vorüber, Stunden im Baltikum —, wo war
das noch, diese alte Panjehütte, wer war das noch, der
so schwer und ächzend im Graben lag, wann war das
noch, dies Aufblitzen der Schüsse aus dem Sumpf —
Nächte in einer schemenhaften Dachstube, in der in der
Ecke Gewehre stunden — nichts, das war nichts, fern
und fremd das alles und ohne starke Beziehung. Wie
denn, auch keine Beziehung mehr zu Kern? Nein, bei
Gott — ich stand auf und brachte die Augen nahe an
das Bild an der Wand, das nun schon vier Jahre lang da
hing — keine Pose also, dachte ich und mich fröstelte
ein wenig. Pose jeder Gedanke über Rathenau? Ich
hockte mich auf das Bett und überlegte.
Ich zwang mich, an andere Dinge zu denken, ich
verfolgte die vier Jahre, strich über sie hin und zurück.
Also das, also das war mein Leben, vier Jahre lang!
Schreie aus der Arrestzelle, Nacht für Nacht, man hört
gar nicht mehr hin. Ein Beamter kommt, schließt die
Tür auf, steckt den Kopf in die Zelle, sagt: «Sachen
packen.» Er schlägt die Türe wieder zu und kommt
nach einer Viertelstunde wieder und sagt:
«Mitkommen.» Ich gehe mit und frage, wohin und
warum. Der Beamte sagt: «Maul halten» und öffnet
irgendeine andere Zelle und sagt: «Da rein!» und die
Türe knallt zu, und ich stehe da inmitten eines Wirbels
von Fragen, auf die ich nie eine Antwort erhalte. Das
war eine Zellenverlegung. Es ist unbekannt, ob sich ein
Stück Vieh, das von einem Stall in den anderen
gebracht wird, Gedanken macht über den Sinn dieses
Vorganges. Ich machte mir jedenfalls Gedanken
darüber. Niemals wurde dem Gefangenen eine
Begründung für irgendeine in seinen täglichen Ablauf
einschneidende Maßnahme gegeben. Anfangs folgte
ich der natürlichsten Reaktion und machte es wie Edi
—ach Edi, wo war der jetzt? — Ich weigerte mich zu
tun, was mir befohlen war, bis nach wilden Brüllereien,
die das ganze Zellenhaus in Aufruhr brachten, die
Wachtmeister anrückten und die in der Vorschrift
empfohlene Anwendung von Gewaltmaßregeln,
gewürzt mit dem nicht eben freundlichen Ausdruck der
persönlichen Gefühle unnötig aufgeschreckter Beamter,
in ihre Rechte trat. Später aber hielt ich dem erstaunt
zuhorchenden Beamten einen längeren Vortrag
darüber, daß von jeher der Befehl ein schlechter Befehl
war, der nicht von vornherein seinen Sinn klar
erkennbar in sich trüge, und der ihn aussprach, nicht
eben ein guter Vorgesetzter. — Gesichter tauchten auf,
abgeschliffene Fratzen über der braunen Jacke. Da war
Biedermann und der alte May und der Lazarettkalfakter
und der Arrestkalfakter, und da war, wer war das noch,
richtig, der Kerl, der mich verpetzt hatte, weil ich Edi
einen Skrind zugesteckt hatte, und wie hieß das
Schwein, der meinen Ausbruch verraten hatte, um
begnadigt zu werden? Vorbei. Nichts war wirklich,
nichts blieb haften. Die Nächte im Arrest, die Zeit, da
ich im Lazarett bei Edi wachte, die eins, zwei, drei, vier
verschiedenen Pfeifen, die ich mir verschafft hatte und
die alle erwischt wurden, und die fünfte nicht, die ich
nun unter den Büchern versteckt hielt. Da lag bei den
Büchern der Packen Briefe, auf einen jeden hatte ich
mit zermürbender Inbrunst gewartet, und jeder war
zuletzt doch eine Enttäuschung geblieben, und der eine
lag auch dabei, der eine, der mir berichtete, wie es zu
Ende ging mit den Geächteten. Wo las ich doch noch
kürzlich von den Geächteten? Richtig, in den Island-
Sagas. Da waren die Geächteten Männer, die sich nicht
fügen wollten in die Satzung der Sippen und darum
hinausgetrieben wurden aus dem geordneten Bereich,
ihre Waffen durften sie behalten, aber jedermann, der
stärker war ab sie, durfte sie töten. Es waren aber
immer die kriegerischsten Männer gewesen, die sich
nicht fügen wollten der zahmen Zucht und darum
geächtet wurden, und allmählich war es so, daß aus den
Geächteten die Ächter wurden, daß die Sippe
verrottete, weil sie sich ihrer kämpfenächsten Kräfte
beraubt, und aus den Wäldern brachen die Verfemten
und blieben doch die Herren im Land. Da gab es noch
keine Zuchthäuser damals — was sollen die
knabenhaften Träume —. Stunden irrsinnigster
Verzweiflung; hatte ich nicht schon den Glasscherben
in der Hand, damals nach dem ersten gescheiterten
Ausbruch? Warum hatte ich es eigentlich nicht getan,
ein kurzer Schnitt in die Pulsader — warum, warum?
— Und warum mußte Senta bellen, der Wachhund, den
ich des Nachts immer vor meinem Fenster durch die
Büsche rascheln hörte, den ich mit Fleischstücken aus
dem Sonntagsessen gefüttert, um ihn an mich zu
gewöhnen, warum mußte Senta bellen, als ich schon
mit dem Mauerhaken in der Hand im Hofe stand?
Weihnachten bekam ich immer Besuch. Wie fürchtete
ich mich doch jedesmal vor dem Augenblick, da ich
vom Beamten in den Besuchsraum gerufen wurde, und
wie sehnte ich mich ein Jahr lang immer nur nach
diesem Moment. Der tolle Schmerz, wenn ich mich
noch einmal umdrehte und noch einmal und winkte,
und dann sah ich den langen Gang hinunter, bis das
eiserne Gitter sich wieder schloß und die innere Tür
zuknarrte und dann die äußere, und ich ging taumelnd
zurück in die Zelle und schmiß mich auf den Tisch und
— verdammt. Wacht auf, Verdammte dieser Erde, das
sang Edi immer, des Abends, wenn aus der brütenden
Stille der ferne Schrei kam, irgendwo wurde einer in
den Arrestzellen geprügelt. Und einmal, da sang Edi
das Lied während der Weihnachtsfeier an Stelle des
Chorales und wurde abgeführt. Die Weihnachtsfeier.
Wie ich mich ärgerte, wenn einzelne Gefangene
anfingen zu heulen, wie ich mich empörte über die
Girlanden und Kerzen in der Anstaltskirche und über
das bunte Transparent «Ehre sei Gott in der Höhe und
Friede den Menschen, die eines guten Willens sind».
«Die eines gulen Willens sind», immer diese zarten
Anspielungen, wie ich sie haßte, wie ich sie suchte,
überall, mich über sie zu ärgern. Der Pfarrer, der
einmal von der Kanzel sagte, im Grunde hätten die
Gefangenen ja nur geringe Schuld, das schlechte
Beispiel sei es eben, das schlechte Beispiel, da sähen
die Kinder ja schon, wie die Mutter mit dem
Schlafburschen Unzucht triebe... Und ich verlangte
daraufhin vom Direktor, der Pfarrer solle gezwungen
werden, von der Kanzel herunter zu betonen, er habe
jedenfalls meine Mutter nicht gemeint. Das starr
verzogene Gesicht des Pfarrers, als er dann zu mir kam,
sich zu entschuldigen, und er hätte das ja nicht so
gemeint! Tausend Bilder, keines glühend, das war mein
Leben, vier Jahre lang. Und dies alles nicht mehr, wenn
ich frei bin, frei... Bald, unwirklich bald.
Nun stand ich, von einer irrsinnigen Unruhe
getrieben, den halben Tag an der Tür und lauschte, ob
nicht mein Name gerufen werde, ob niemand kam,
mich zu holen. Tag für Tag, Nacht für Nacht rechnete
ich. Jetzt konnte das Gesuch beim Justizminister sein,
jetzt kam es vielleicht zum Referenten, jetzt ging es
zum Reichspräsidenten, jetzt zum Oberreichsanwalt...
Der Direktor suchte mich auf, wenn es irgend anging.
Er sagte, er habe bei einer Konferenz in Berlin, an der
er teilgenommen habe, mit dem zuständigen Herrn vom
Ministerium über das Gesuch gesprochen. Ich könne
voller Hoffnung sein. Er sagte ein andermal, ich solle
mich schon vorbereiten, es könne jeden Tag die
Begnadigung dasein. Er ordnete an, mein Anzug solle
ausgebessen und gebügelt werden, und der Hausvater
kam und nahm mich mit auf die Kammer, und ich
breitete meine Sachen aus, um den Mottenpulvergeruch
verfliegen zu lassen. Und dann hieß es eines Tages, ich
solle sofort zum Direktor kommen.
Ich rannte so schnell, daß der Beamte kaum folgen
konnte. Ein Gefangener rief mir zu: «Ich gratuliere»,
Beamte lachten, die Sonne beglänzte die Gänge. Der
Direktor ließ mich eintreten. Er bot mir keinen Stuhl
an. Er blätterte in einem Aktenstück und war sehr
bleich. Er sah mich von unten herauf an und räusperte
sich und sagte: «Es ist ein neuer Haftbefehl gekommen
für Sie. Sie sind angeklagt des Mordes an dem
Oberleutnant Weigelt. Sie werden morgen an das
zuständige Landgericht abtransportiert.»

Transport

Allmählich wird es hell. Ich löse mich fröstelnd vom


Fenster. Die Nacht hat doch ein Ende genommen. Auf
dem Gang tönt ein Geräusch. Vorsichtig tastet der
Schlüssel, die Türe öffnet sich, es ist soweit. Der
Hauptwachtmeister flüstert ein «Guten Morgen». Ich
lächle und sage: «Es ist, als würde ich jetzt zur
Hinrichtung geführt.» Der Hauptwachtmeister schüttelt
den Kopf, er murmelt: «Nu, nu, so schlimm wird's nicht
werden.» Ich nehme zögernd meine kleine schwarze
Mütze und gehe hinter dem Hauptwachtmeister her. So
sah ich die Gänge noch nie, völlig tot, im fahlen Grau
des Morgens. Wir gehen auf den Zehenspitzen. Eine
vermummte Gestalt schiebt sich vorbei, der Nacht-
beamte. Im Beamtenflur brennt nur eine Gasflamme.
Der Hauptwachtmeister sagt halblaut: «Der Herr
Direktor wünscht Ihnen viel Glück.» Er sieht mich
nicht an dabei. Er öffnet die Tür zur Kanzlei. Darinnen
steht der Begleitbeamte. Ich werfe schnell einen Blick
auf das Transportpapier, es ist rot, also werde ich
gefesselt. Einen Augenblick will sich alles in mir
aufbäumen, dann halte ich die beiden Arme vor mich
hin. Die Fessel schnappt zu, die Handgelenke sind eng
in die Brezel eingezwängt. Dann aber führe ich
mühsam die Arme zum Munde und reiße mir mit den
Zähnen die Grünen Streifen herunter. Der
Hauptwachtmeister hebt beschwichtigend die Hand.
Wir wenden uns zum Gehen. Der Hauptwachtmeister
streckt die rechte Hand vor, dann sieht er verlegen auf
die Fessel und läßt sie wieder sinken. Eine Tür wird
geschlossen, die zweite, die dritte. Wir stehen vorm
Haupttor, die Nachtwache schließt auf, ich trete auf die
Straße hinaus. Ich drehe mich noch einmal um, sehe an
der grauen Front des Zuchthauses empor. Über dem
igen des Tores stehen in den Stein gehauen die Worte:
«O Maria».
Die Straßen sind leer. Die Fenster sind geschlossen,
die Vorhänge heruntergelassen. Aus dem Hotel «Zum
Deutschen Kaiser» tritt verschlafen der Oberkellner mit
fleckiger weißer Schürze. Er sieht mich, und die Hand,
die er zum Gähnen an den Mund gehoben, bleibt in hal-
ber Höhe. Aus einer Weinkneipe kommen eine Anzahl
Herren. Sie bleiben plötzlich stehen und sehen mich an.
Ich schließe die Augen und gehe vorüber. Ihre Blicke
brennen mich so im Rücken, daß ich die Schultern
zusammenziehe. Wir kommen auf eine breite,
baumbepflanzte Chaussee. Der Boden knirscht bei
jedem Schritt. Die riesigen Ulmen breiten in der
Frühsonne ihre Zweige hoch und gewölbt über uns. ich
atme tief auf. Der Morgenwind fegt mir den Staub der
Zelle aus den Lungen. Wir schreiten rasener aus. «Wo
ist der Turmberg?» frage ich. Ich weiß, es ist ein
Turmberg nahe bei der Stadt. Der Beamte zeigt
schweigend mit dem Daumen über die Schulter. Ich
drehe midi um, da liegl die Stadt, ein Gewirr von
braunen und schwarzen Dächern, mitten darin hoch und
grau eine Mauer mit vielen schwarzen kleinen
Vierecken. Die Straßen der Vorstadt greifen mit langen
Annen weit in das platte, leicht gesenkte Land. Ich sehe
keinen Berg und bin enttäuscht. Ein Arbeiter radelt uns
entgegen. Er wendet sich auf seinem Rade mir zu, ich
schaue hinter ihm her, er fährt noch lange mit
zurückgedrehtem Kopf.
Der Bahnhof, ein kleines rotes Gebäude vor
holprigem Pflaster, steht inmitten dichter Büsche. Der
Beamte führt mich schnell durch die Sperre, hält mich
am Ärmel fest. Eine Frau mit großem Tragkorb weicht
mir mit hastiger Bewegung aus. Bahnbeamte gehen
langsam vorbei. Reisende kommen, mit Koffern und
Schachteln. Wir stehen hinter einer Säule. Weit führen
die Stränge der Schienen ins Land. Das Gras zwischen
den braunen Steinen ist voller Tau. Der Zug kommt,
donnert an mir vorbei, der Sammelwagen hält gerade
vor mir. Eine Tür wird aufgerissen, ich klettere
mühsam hoch, die Fesseln fallen. Ein schmaler Gang,
an dessen beiden Seiten numerierte Türen sind, verliert
Sich ins Dunkel. Eine Tür fliegt auf, der
Zugwachtmeister gibt mir einen kurzen Stoß, ich trete
ein, die Türe schließt sich, Der Raum ist gerade so
groß, daß ich auf der engen Seitenbank sitzen kann.
Wenn ich mit gekrümmten Knien auf der Bank stehe,
kann ich den Kopf an das schwarze feste Innengitter
legen und sehe durch einen der schmalen, senkrechten
Spalte ins Freie. Der Zug fahrt an.
Ich presse dieAugen an das Gitter und klammere
mich mit den Händen an der Wand fest. Bald fangen
meine Beine an zu zittern. Bauernhäuser fliegen vorbei,
Büsche, die länglichen Vierecke gelbreifer Kornfelder.
Da ist eine Schranke, ein Fuhrwerk steht davor, der
Bauer hat eine Pfeife im Mund. Ein Kirchturm ragt
über Bäume. Kleine Stationen kommen, ich kann ihre
Namen nicht lesen. Jedesmal,wenn der Zug anfährt,
wippe ich mit den Knien, um nicht zu stürzen.
Allmählich schmerzen meine Augen, die Zugluft streift
sie scharf. Ich wische die Lider aus, bereue es sogleich.
Ein Lastauto ist mir entgangen, ich sehe die graue
Plane gerade noch entschwinden.Reklameplakate
stehen mitten im Feld. Zäune knattern vorbei, die roten
Mauern einer Fabrik. Die Landschaft ist menschenleer.
Der Horizont verschwimmt im Dunst.
Eine größere Stadt kündigt sich durch lange Reihen
von Güterwagen auf Nebengleisen an. Wir fahren nun
schon etwa eine Stunde. Der Zug bremst kreischend.
Plötzlich knarrt meine Tür, ich fahre herum und poltere
von der Bank. «Raus», sagt der Beamte. «Geht's denn
nicht weiter?» frage ich erstaunt. Der Beamte gibt keine
Antwort. Ich klettere aus dem Wagen, drei
Schutzpolizisten stehen draußen und ein Mann mit
einem Schäferhund. Mir werden die Fesseln angelegt,
ich blicke unterdes den Bahnsteig entlang. Viele
Menschen starren neugierig zu mir her. Wir gehen
durch die Sperre, rechts und links faßt mich einer von
den Polizisten, vor mir geht ein Polizist und hinter mir
folgt so dicht, daß er zuweilen mit seinen Stiefelspitzen
meine Hacken trifft, der Mann mit dem Hund, Ich halte
die Arme starr vor mich hin und blicke zu Boden. Wir
gehen sehr schnell.
Wir gehen durch Anlagen. Die Leute weichen schon
von weitem aus, ich habe das Gefühl, daß sie alle
stehenbleiben und mir nachblicken. Ich versuche,
zynisch um mich zu schauen, aber es fällt mir sehr
schwer. Wenn sie wenigstens wüßten, wer ich bin,
denke ich; ich werde rot. Ich fasse mit den Händen
nach meiner Mütze, um sie tiefer ins Gesicht zu rücken,
die beiden Polizisten greifen sofort fester zu. «Ist das
Liegnitz?» frage ich. Keine Antwort.
Eine Dame mit zwei Windhunden bleibt stehen und
zieht die Tiere an den Leinen zu sich. Sie hat einen
hellen, großen Hut, der ihr Gesicht beschattet. Ich hätte
gern ihr Gesicht gesehen. Wir überqueren einen Platz.
Eine Straßenbahn fährt auf schmaler Spur vorbei, der
Schaffner beugt sich über das Geländer der Plattform
und sieht mich an. Bald ertrage ich das nicht mehr. Ich
weiche scheu jedem Auge aus. Die Menschen streichen
nun vorbei wie Schatten. Aber das erniedrigt mich noch
mehr. Ich raffe mich zusammen und blicke einem
Herrn fest ins Gesicht. Da wendet er den Blick. Ich
blicke allen fest ins Gesicht und fühle mich sofort
freier. Aus einem Torweg kommt ein kleines Mädchen
in weißem Kleide, wohl sechs Jahre alt. Sie bleibt
stehen, sieht mich an, zeigt auf einmal mit dem Finger
auf mich und ruft: «Das ist der böse Mann!» Gott segne
dich, du kleines helles Mädchen, und möge dich
dereinst ein braver Bäckermeister freien.
In einer schmalen, schmutzigen Seitengasse liegt das
Polizigewahrsam. Ein Beamter führt mich über
ausgetretene Stufen einer wackeligen Treppe in einen
großen Raum, in dem viele braune Betten stehen,
nimmt mir die Fesseln ab und schließt mich ein. Ich
eile sofort ans Fenster. Es ist groß, aber fest gefügt, die
Gitterstäbe stehen sehr eng. Nichts steht in dem Raum
außer den Betten, auf denen sich schmutzige graue
Strohsäcke mit den wunderlichsten Beulen wölben. Ich
schiebe eines der Betten an das Fenster und steige
hinauf, um besser ausschauen zu können, aber mein
Blick trifft auf eine Mauer. Ich gehe auf und ab.
In mir ist alles kalt und tot. Ich registriere, was ich
sehe, ohne darüber nachzudenken. Wahrscheinlich sind
Wanzen im Zimmer, es riecht widerlich. Wanzen bin
ich gewohnt. Im Zuchthaus habe ich immer Wanzen in
der Zelle gehabt, zuweilen, wenn die morgendliche
Strecke zu groß wurde, beschwerte ich mich, und es
kam ein Gefangener, der die Ritzen des Bettes mit der
Stichflamme einer Lötlampe abtastete, so daß der
Rauch versengten Holzes und verbrannter Farbe noch
tagelang die Zelle füllte. Auch hier war so gearbeitet
wurden. Der Gefängnismief ist überall der gleiche.
Ein Beamter bringt mir das Essen, dicke Graupen,
fade und ohne Fleisch. Ich lasse es stehen, es ist mir
nicht nach Essen zumute. Der Beamte kommt nach
einer Stunde wieder, nimmt schweigend den vollen
Kump fort. Nach einer Weile bringt er mir eine
Zeitung. «Da haben Sie was zum Lesen», sagt er und
verschwindet eilig wieder. Es ist das katholische
Sonntagsblatt; ich lese es ganz durch. Eine Minute
später habe ich völlig vergessen, was drin steht. Ich
gehe auf und ab.
Gegen Abend kommt mit Gepolter eine Schar
Männer, die Bündel und Säcke tragen. Sie füllen sofort
den Raum mit Schreien und Fluchen, mich beachten sie
anfangs kaum. Einige haben keine Schuhe an, ihre
unsagbar schmutzigen Füße ragen aus zerschlissenen,
fleckigen Hosen, die kaum noch zusammenhalten. Sie
sprechen untereinander polnisch, ich verstehe kein
Wort. Bald werden sie immer aufgeregter, und ich
merke, daß sie sich mit mir beschäftigen. Ich stehe an
dieWand gelehnt und schaue sie mir an. Sie verbreiten
einen durchdringenden Geruch. «Hast du Tabak?» fragt
mich einer. Ich schüttele stumm den Kopf Sie
schnattern umeinander. Schließlich pocht einer an die
Tür, der Beamte kommt. Sie reden erregt auf ihn ein.
Ihr Sprecher sagt endlich in gebrochenem Deutsch, sie
seien keine Verbrecher, sie seien polnische
Wanderarbeiter, die bloß ausgewiesen werden sollten,
man könne ihnen nicht zumuten, mit einem
Zuchthäusler zusammen die Nacht verbringen zu
müssen. Der Beamte sagt verlegen zu mir, ich solle ihm
folgen, Er bringt mich in einen anderen, kleineren
Raum, in dem schon ein alter Mann mit bloßen Füßen
auf einem der beiden Betten sitzt. Der Alte war wegen
Landstreicherei aufgegriffen. Ich frage ihn mit betonter
Höflichkeit, ob es ihm was ausmache, mit einem
Zuchthäusler zusammen die Nacht zu verbringen. Er
grinst mich an, und der Beamte murmelt, er hätte leider
keinen Einzelraum mehr für mich frei.
Das Fenster dieser Zelle ist niedrig und offen. Ich
lehne mich hinaus, soweit es geht. Ich blicke auf eine
schmale Straße mit niedrigen verwahrlosten Häusern.
Kinder spielen im Rinnstein. Ab und zu gehen Arbeiter
vorbei. Ein Fuhrwerk knarrt um die Ecke. Aus einer
dunklen Haustür tritt eine Frau und ruft mit klagender
Stimme: «Siegfried!» Der Laternenanzünder kommt, er
dreht mit langem Stab den Gashebel und schultert die
Stange, sobald das grünlichbleiche Licht angeflammt
ist. Ich sehe noch seinen Schatten an der nächsten
Laterne. Es wird dunkel. Der Alte hockt immer noch
unbeweglich auf dem Bett. Ich bleibe Stunde um
Stunde am Fenster. Die Kinder sind verschwunden. Die
Lichter in den Häusern verlöschen. Ein junges
Mädchen huscht aus der Nebengasse, sieht sich um und
stellt sich dann in eine dunkle Ecke, dicht unter
meinem Fenster. Ich sehe ihren Umriß. Sie hat ein
Kopftuch um. Sie wartet lange unbeweglich. Ein Schritt
hallt in der nächtlichen Straße. Das Mädchen ruft leise
einen Namen, den ich nicht verstehe. Ene Gestalt
schießt auf sie zu, sie treffen sich, umschlingen sich.
Sie gehen langsam, eng aneinander gepreßt, die Straße
hinauf, an der Laterne vorbei. Manchmal bleiben sie
stehen und küssen sich. Sie verschwinden im Dunkel.
Ich wende mich in die Zelle zurück und taste nach
meinem Bett. Ich lege mich auf den Strohsack und
ziehe den stinkenden Woilach hoch. Der Alte regt sich.
Er hebt die Beine auf das Bett und streckt sich hin. Sein
Atem geht röchelnd. Er hat noch kein Wort gesprochen.
Ich sage: «Gute Nacht.» Schweigen. Plötzlich sagt der
Alte ins Dunkel hinein: «Die ganze Welt kann mich am
Arsche lecken.»
Morgen. Ich stehe auf und wasche mich in einer
schmalen, schmutzigen Schüssel, ohne Seife. Ich
trockne mich mit meinem Taschentuch ab. Der Alte
liegt unbeweglich und zusammengekrümmt unter
seinem Woilach. Ein Beamter kommt. Er fragt: «Wie
heißen Sie?» Ich nenne meinen Namen. Er sagt:
«Mitkommen.» An der Tür erwartet mich die gleiche
Karawane wie am vergangenen Tag. Ich werde
gefesselt, wir gehen durch die Stadt, Eine Schulklasse
kommt uns entgegen, viele Kinder bleiben stehen, der
Lehrer winkt, sie trappeln zögernd weiter. Herren mit
Aktenmappen, Frauen mit Einholtaschen. Die
Morgensonne liegt auf den Straßen, tüncht die Stadt mit
schimmerndem Grau. Der Verkehr wird stärker. Viele
Autos hupen vorbei, sie haben langgestreckte,
blanklackierte Karosserien. Alle Gesichter wenden sich
mir zu. Ich sage laut: «Die ganze Welt kann mich...»
«Schweigen Sie!» unterbricht mich der Polizist zur
Linken grob. Wir kommen an den Bahnhof, wir
drängen uns durch die Sperre. Da steht schon der Zug.
Viele Möwen fliegen, blitzschnell, weiße, flatternde
Schatten, zwischen den Gleisen. Die Reisenden füttern
die Vögel. Wenn sie mich sehen, hören sie damit auf.
Ich klettere in den düsteren Sammelwagen. Ich zwänge
mich in meine Koje und steige auf die Bank. Nach
einer Weile kommt der Mann, der mich mit dem Hunde
begleitet hat, und bringt mir einen Kanten Brot und ein
in Papier gewickeltes Stück Speck. Der Zugwacht-
meister bringt mir einen Topf heißen, dünnen Kaffee.
Der Zug fährt.
Ich zerre, indes meine Knie an das Holz der
Kojenwand schlagen, Fetzen Speckes vom Stück und
verschlinge sie. In der Nebenzelle summt einer ein
Lied. Wenn der Zug hält, höre ich, wie sich die
Gefangenen von Fensterspalt zu Fensterspalt unter-
halten. Es ist drückend heiß, Die Sonne flimmert auf
den Feldern. Mir kommt es so vor, als hüte ich noch nie
soviel Sonne gesehen. «Sagan», rufen draußen die
Schaffner. Auf einmal ist Gepolter in allen Zellen.
«Schatzi, Schatzi», flötet der in der Nebenkoje. Ich
schaue angestrengt auf den Bahnsteig. Da gehen
Schupoleute und haben ein Mädchen zwischen sich, ein
Mädchen mit braunem groben Rock und Umschlage-
tuch, eine Gefangene. Das Mädchen hat kleine
geringelte Locken an den Ohren, es wirft blitzschnell
einen Blick auf mein Fenster, lächelt und geht vorüber.
Gleich darauf höre ich Geräusche auf dem Gang. Die
Gefangenen unterhalten sich laut und unbeirrt. «Puppe»
ruft einer, hinten, an den letzten Zellen tönt Gekicher.
«Ein feines Mädchen», sagt mein Nebenmann laut. Der
Zug keucht langsam, und der Wagen schüttelt stark.
An einer kleinen Station, mitten im Walde, bleiben
wir liegen. Anscheinend ist der Wagen abgehängt
worden. Ich sehe nur einen Busch dicht vor meinem
Fenster und einen Stapel Baumstämme, von denen
zähes Harz rinnt. Ein betäubender, stickiger Duft
kommt aus dem durchbluteten Walde. Mein Hemd
klebt von Schweiß, ich ziehe den Rock und die Weste
aus. Der Nebenmann pocht an die Wand. «Woher
kommst du?» fragt er am Fenster. Ich gebe ihm
Antwort. Er kommt aus dem Zuchthaus Görlitz und soll
nach Kassel zum Termin. Hat schon drei Jahre
abgerissen und noch vier vor sich, ungerechnet das,
was er in Kassel zu erwarten hat. ich nenne ihm meinen
Namen und frage nach einem Kameraden, der auch in
Görlitz sitzen soll. Ja, der sei da, Bibliothekskalfakter,
Ich frage aufgeregt nach Näherem. Die Hitze wird
unerträglich. Ich streife auch das Hemd von den Schul-
tern und sitze nun mit bloßem Oberkörper da. Die
Beamten kümmern sich nicht um unsere Unterhaltung.
Mein Nebenmann fragt laut, was mit der Puppe los sei.
«Meineid zwei Jahre», kommt die Antwort. «Hallo,
Schatzi!» «Hallo!» Das Mädchen hat eine helle
Stimme. Sie lacht. Bald geht's nach Hause. Sie ist als
Zeugin geladen nach Halle. Die Gefangenen lärmen,
stöhnen über die Hitze, lachen über das Mädchen, das
immer muntere Antworten gibt. Vier Stunden lang
bleiben wir liegen. Allmählich ist es im Wagen still
geworden.
Endlich geht es weiter. Viel Wald und weite Flächen
Bruch und Heide, dazwischen kleine Dörfer, die sich
vom Himmel an den Boden drücken lassen. In Kottbus
höre ich, wie im Gange Türen geschlossen werden.
Eiligst ziehe ich mich an. Schwere Tritte und
Schlüsselgeklirr. Ein Beamter schließt meine Tür, er
fragt: «Wie heißen Sie?» Ich nenne meinen Namen. Er
sagt: «Mitkommen.» Ich klettere mit steifen Gliedern
aus dem Wagen. Draußen stehen schon in zwei Reihen
geordnet die anderen, das Mädchen ganz hinten allein.
Manche haben Zivil an, mit sauber gebügelten,
schäbigen Hosen, manche die braune Kluft wie ich. Ich
bin der einzige, der gefesselt wird. «Oh, das ist wohl
ein Schwerer?» höre ich das Mädchen sagen, Ich drehe
mich um und lache sie an. «Ein ganz Schwerer», sage
ich, «dreifacher Lustmord!» Das Mädchen fährt etwas
zurück, dann sagt sie energisch: »Das glaube ich
nicht.» Sie sieht mich an und fragt: «Du bist wohl ein
Politischer?» Der Beamte zerrt mich fort. Wir klettern
über einige Gleise und gehen an einem wartenden Zuge
entlang. Sofort bevölkern sich die Abteilfenster,
«Lassen Sie die Faxen!» sagt ein Polizist zu dem hinter
mir schreitenden Gefangenen. Wir kommen an den
neuen Sammelwagen. Ich steige als erster ein und sehe
mich oben nach dem Mädchen um. «Heil Moskau!»
ruft sie plötzlich. Der Beamte gibt mir einen Stoß und
stopft mich in eine Zelle.
In der neuen Zelle sind alle Wände dicht bekritzelt.
Name steht neben Name, mit Bleistift geschrieben oder
mit einem scharfen Gegenstand eingekratzt. Hinter
manchem Namen steht ein Hakenkreuz oder ein
Sowjetstern. Ich lese aufmerksam. Ich führe mit dem
Zeigefinger Zeile um Zeile ab. Und da steht der Name
Jörgs. Kein Zweifel, es ist seine Schrift. Mich erfaßt
eine ungeheuere Fröhlichkeit. Ich drehe mir einen
Knopf von der Hose und kratze sorglich gerade unter
Jörgs Namen den meinen ein. Ich überlege mir, ob ich
ein Symbol dazu zeichnen soll. Schließlich füge ich das
Datum des Tages an.
Die Monotonie der Fahrt ist unierbrochen. Plötzlich
steht die ganze Zeit lebendig wieder auf. Ich hocke auf
der Bank und halte die vom ununterbrochenen
Herausblinzeln geröteten und entzündeten Augen
geschlossen. Ich sitze so Stunde um Stunde.
Es ist schon dunkel. Wir sind lange gefahren. Immer
noch tönen Bruchstücke der Unterhaltung von Koje zu
Koje. Wir fahren anscheinend in einen großen Bahnhof
ein.
Der Beamte kommt und fragt: «Wie heißen Sie?» Ich
nenne meinen Namen. Er sagt: «Mitkommen.» Wie
mich das alles anekelt. Draußen warten Polizisten.
Überall sind die Polizisten gleich. Sie reden das
gleiche, sie haben den gleichen Ton in der Stimme und
den gleichen Dreh im Handgelenk, wenn sie mir die
Fessel anlegen. Wir gehen durch den
menschenwimmelnden Bahnhof. Auch die Bahnhöfe
sind überall gleich und die Menschen. Der grüne
Wagen wartet vorm Portal. Wir steigen ein, das
Mädchen sitzt abgesondert. Ich kaue langsam meinen
Speck. Wir fahren rumpelnd, hören nur ferne
Geräusche, Klingeln von Straßenbahnwagen und
Autohupen, die sonderbar gespenstisch zu uns tönen. In
einem dunklen Hofe werden wir abgeladen und eilig
nach verbotenen Dingen durchsucht. Dann treten wir in
eine große Zelle, in deren spärlichem Licht eine Reihe
niederer Feldbetten stehen, ohne Bezüge, und mit
Strohsäcken, die voller blutiger Fleckchen sind. In der
Ecke steht ein blecherner hoher Kübel, der unsagbar
stinkt. Wir sind zu sechst, ich erkenne einige an der
Stimme wieder. Einer stellt sich mir höflichst vor, es ist
der Nebenmann, der nach Kassel soll. Er sagt, er sei
Essigfabrikant. Bald stellt es sich heraus, daß seine
Fabrik aus einem Keller im Norden Berlins besteht, in
dem der Fabrikant mit seinem Bruder zusammen Essig
braut. Er unterhält die ganze Gesellschaft, die auf den
Betten liegt und über die Wanzen flucht, die aus allen
Falten der Strohsäcke kommen. Sie sprechen von
Staatsanwälten, Zuchthausbeamten und Weibern. Das
Thema Weib ist unerschöpflich. Einer erzählt mit
heiserer, schleimiger Stimme Zoten. Es klingt, als
tropfe ihm der Speichel aus den Mundwinkeln.
Schließlich sagt der Essigfabrikant: «Jetzt aber Schluß
mit den Schweinereien.»
Ich wache öfter auf. Von den Betten kommt Stöhnen
und Fluchen. Die Luft im Raume ist schwer und
stickig. Mir wirbelt der Kopf. Aus dem Magen steigt es
zur Kehle. Ich taumele zum Kübel und kotze. Einer
springt auf und schleudert mit wildem Ruck den
Strohsack auf die Erde und steht wie ein Schatten davor
und stiert zum Fenster. Andere werfen sich hin und her.
Ich schlafe wieder ein und erwache im grauenden
Morgen. Alle sind schon auf, einer dreht einen Skrind,
der reihum geht. Auch ich nehme einen Zug, um den
kotterigen Geschmack zu ersticken. Dann losen wir,
wer zuerst auf den Kübel darf. Der Kübel ist so voll,
daß der Kot über den Rand spritzt, wenn man ihn
benutzt. Jedesmal, wenn der Deckel gehoben wird, geht
eine Welle verpestenden Gestankes durch den Raum.
Das Fenster kann nicht geöffnet werden. Wir sitzen
stumpfsinnig, ungewaschen, unausgeschlafen und
hungrig herum, die Gesichter stechen fahl aus dem
widerlich grauen Dunst.
Die Tür knallt auf, der Beamte kommt. «Wie heißen
Sie?» fragt er mich. Ich nenne meinen Namen.
«Mitkommen», sagt er. Ich gehe mit, onne mich noch
einmal umzusehen.
Der Zug zuckelt durch das Saaletal, ich lasse das
Auge nicht vom fingerbreiten Fensterspalt. Da ist
Naumburg. Ich denke an die Ute vom Naumburger
Dom und an die Nacht in Halle, und es schüttelt mich.
Ich versuche, das Gefängnis und das frühere
Kadettenhaus in Naumburg auszumachen. Bald muß
Bad Kösen kommen. Ich starre auf die bewaldeten
Hänge und bin unbeschreiblich aufgeregt, Meine
Lippen sind sehr trocken, und der Kopf glüht. Meine
Finger haken sich in das Gitternetz. Da endlich kommt
Bad Kösen,
Da oben geht der Waldweg zur Rudelsburg. Die
Höhen schwingen sich in leichter Rundung zurück. Da
ist die Saale wieder. Ich presse das Auge, fiebrig
atmend, so nahe an das Gitter, daß das Weiße fast am
rostigen Drahte klebt. Da ist die Rudelsburg, sie wächst
aus dem gelblichen Fels. Jetzt, jetzt... Ich starre nach
oben. Die Saaleck... Zwei graue Schatten, die Türme
schießen gewaltig hoch, drehen sich langsam
umeinander und sind vorbei. Kern, schreie ich ... Die
Türme sind vorbei.
Ich falle auf die Bank zurück, mein Kopf schlägt an
die Wand. Der Beamte schließt die Türe auf und sieht
mich an. «Ich werde Ihnen ein bißchen Luft lassen»,
sagt er und sichert die Türe durch eine kleine Kette, so
daß sie eine Handbreit offen steht. Ich hocke auf der
Bank und rühre mich nicht
In Kassel verbrachte ich eine unruhige Nacht allein
in einer sauberen Zelle.
Der Zug halt in Marburg. Der Beamte kommt und
fragt: «Wie heißen Sie?« Ich nenne meinen Namen. Er
sagt: «Mitkommen!» Zwei Schutzpolizisten fesseln
mich und nehmen mich In die Mitte. Wir gehen am
Bahnsteig entlang. Überall stehen Studenten mit bunten
Mützen. Wir gehen mitten durch sie hindurch. Sie
schweigen verlegen, wenn ich vorbeikomme, treten
etwas zurück und starren mich an. Ich betrachte mir
aufmerksam die Gesichter. Sollten nicht Bekannte unter
ihnen sein? Da, wahrhaftig, den kenne ich doch, den
Dicken mit dem zerhackten Gesicht? Mit dem war ich
doch in Oberschlesien zusammen? Natürlich, das ist er.
Ich gehe dicht an ihm vorbei, er steht mit seinen
Kommilitonen. Ich sehe ihn eisern an, sein Blick streift
mich verwundert, dann erkennt er mich. Er erkennt
mich, fährt etwas zurück, seine Hand geht hoch, stockt,
plötzlich dreht er sich mit kurzem Ruck um und starrt
irgendwohin in die Luft. Ich bin vorbei, ich sage laut:
«Der will sicherlich Staatsanwalt werden.» Der Beamte
sagt: «Maul halten.»
Ich steige müde in den neuen Wagen und sitze, ohne
mich zu rühren, bis zur Ankunft an meinem
Bestimmungsort.
Des anderen Tages wurde ich vom Untersuchungsrich-
ter acht Stunden lang ohne Unterbrechung vernommen.

1927

Zu vielen Vernehmungen wurde ich geführt, auf viele


Fragen gab ich Antwort und unter viele Prottokolle
setzte ich meinen Namen. Jedesmal, wenn der
Untersuchungsrichter in das Vernehmungszimmer trat,
hatte das dicke Aktenbündel, das er unter dem Arme
trug, an Umfang gewonnen. Und als der
Untersuchungsrichter nach der letzten Vernehmung die
verstreuten Papiere zusammensuchte und in eine blaue
Mappe packte, klopfte er triumphierend auf den Packen
und sagte, die Voruntersuchung sei nun beendet, denn
er habe hier ein genaues Bild der Vorgänge, um die es
sich handelte. Aber ich konnte seiner satten Sicherheit
nicht trauen. Ich hatte Gelegenheit genug, den
eigentümlichen Unterschied zu spüren zwischen dem,
was ich mir in aufgewühlten Nächten bitteren Grübelns
voll zurechtgelegt, und dem, was späterhin im Protokoll
mit meinem Namen unterzeichnet war. Was dort in der
gewölbten blauen Mappe auf dreitausend Seiten gelben
Aktenpapiers geschrieben stand, das mochte mit
Bienenfleiß Stück für Stück zusammengesucht sein, es
mochte Material genug enthalten aus mannigfacher
Zeugenbekundung, aus Polizeiberichten und Personen-
standsaufnahmen, es mochte minutiös den Lauf der Tat
verfolgen, es blieb doch fern und fremd den Dingen,
die damals in Wahrhaftigkeit geschehen waren. Nichts,
was in jener unsagbar verwirrten Zeit lebendig und
bewegend war, stand wieder auf, sondern es erstand zu
eignem schemenhaftem Leben, zu einer neuen
Wirklichkeit, ein Vorgang, der erdichtet war von vielen
Hirnen, von denen jedes eine anders sublimierte. So
kam es, daß ich aus dem trocknen Nachhall einer Tat
das Bild der Tat nicht wiedererkannte; so kam es, daß
der Untersuchungsrichter immer genau da irrte, wo er
die ganze Wahrheit zu wissen glaubte, daß von
hundertundzwanzig authentischen Zeugenaussagen
sechzig die anderen sechzig wieder aufhoben, daß die
Anklageschrift sich als ein Dokument von
erschütternder Ahnungslosigkeit erwies, daß in der
Gerichtsverhandlung das Drama zur Komödie wurde.

So kam es, daß der ermordete Oberleutnant Weigelt


plötzlich ohne die entfernteste Ähnlichkeit mit
irgendeiner Art von Wasserleiche im Gerichtssaal stand
und seine Aussage machte. Er stand an sieben Tagen
der Verhandlung mit gesenktem Kopfe vor der
Schranke, ohne auch nur einmal einen Blick auf die
Anklagebank zu werfen, und antwortete widerwillig
und stockend auf die Fragen, die der Vorsitzende und
der Staatsanwalt und der Verteidiger an ihn richteten.
Daß er sich bis zu einem Wasserwerk geschleppt habe,
dessen Licht vom Tatort aus zu sehen war, gab er an
und er wollte trotz der drängenden Fragen des ernsthaft
blickenden Vorsitzenden nicht deutlich machen, warum
er dem Pförtner, an den er sich um Hilfe gewandt,
erzählt habe, er sei einem Raubüberfall von
Unbekannten zum Opfer gefallen. Sicherlich wäre es
dem Staatsanwalt sehr nützlich gewesen, auf seine
eindringlichen Vorhalte hin zu erfahren, aus welchem
Grunde Weigelt sich zwei Stunden vor seiner
polizeilichen Vernehmung aus dem Krankenhause, in
das er gebracht worden war, mit unbekanntem Ziel
entfernte, so die Behörde der öffentlichen Sicherheit
nahezu fünf Jahre lang in der beschämendsten Un-
wissenheit lassend über die geheimnisvollen Vorgänge
jener Nacht. An die näheren Umstände der Tat könne er
sich nur ganz dunkel noch erinnern, beteuerte der
Zeuge Weigelt und erzählte dann hastig, er habe zwei
Jahre lang unter falschem Namen als Pferdeknecht
gearbeitet und nun sei er erster Ingenieur eines
größeren Werkes. Nein, er habe kein Interesse an der
Aufrollung dieses Falles, sagte er erleichtert auf die
sanfte Frage des Verteidigers; es sei ihm im Gegenteil
äußerst peinlich, was ihm mit Ausnahme des
Staatsanwaltes jedermann im Gerichtssaal gern zu
glauben schien.
Der Staatsanwalt aber verteidigte sieben Tage lang
mit beschwörendem Flattern des Haupthaares und der
Robenärmel die Welt seiner Akten. Er verwies mit
aufgeregter Stimmkraft jeden seiner Hauptbelastungs-
zeugen darauf, daß zu den Akten anders angegeben
worden sei; aber er lockte jedesmal nur den zarten
Vorwurf heraus, das sei eben auch anders zu verstehen.
Er fuhr gleich einem Gummiball aus seinem Berg von
Büchern und Papieren, um mit eifervollen Argumenten
verwirrte Dinge noch mehr zu verwirren; aber er
versank auch wieder aktenblätternd, wenn der
Verteidiger mit wenigen sachten Zügen die verfahrene
Angelegenheit ins günstige Geleise lenkte. Er focht, ein
tapferer Löwe in der Wüste der Politik und der Gesetze,
mit dem Gebrülle seines Zornes über die Verwerf-
lichkeit der Welt; aber der Donner seiner Rhetorik
konnte das Gekicher im Zuhörerraum ebenso wenig
ersticken wie der wiederholte Mahnruf des entrüsteten
Vorsitzenden, hier sei doch kein Theater.
Mir aber schien es doch wie ein Theater. Ich saß fast
unbeteiligt auf meinem Bänkchen und mußte mich
immer wieder zwingen, dem Staunen darüber zu
entfliehen, wie wenig mich im Grunde anging, was da
verhandelt wurde, Ich hatte meine Aussage ins
Tintenfaß hineingesprochen, das da auf dem
Richtertische stand. Nun horchte ich auf die Geräusche
dieses dumpfen Saales, in den ich plötzlich
hineingepflanzt war, und die kleine Freude, den Trott
der Zelle unterbrochen zu wissen, erstickte in dem
ohnmächtigen Gefühl, Hauptperson und gleichzeitig
ausgeliefertes Objekt zu sein. Was gingen mich die
Reden an, die da hin und her gingen zwischen
Staatsanwalt und Verteidiger, zwischen Vorsitzendem
und Zeugen? Ich raffte mich auf und lauschte und
erhob mich und stellte Fragen und erläuterte und rief
dazwischen. Hier galt es ja wohl, sich zu wehren,
dachte ich, und ich verfing mich in der Lust, hier
mitzutun und den Staatsanwalt zu ärgern und die
Geschworenen, die mit vorgeneigten Köpfen und
gerunzelten Stirnen auf mich starrten, einzufangen und
die Belastungszeugen zu verwirren. Sicherlich hatte
das, was hier verhandelt wurde, sehr viel mit mir zu tun
und sehr viel auch mit dem Gang des Verfahrens, aber
mit der Tat, die zur Verhandlung stand, hatte es gar
nichts zu tun. Da starrten aus der Tiefe des Raumes
hundert Augenpaare auf mich, da zappelte ein
aufgeregter Herr in schwarzer Robe und mit
rutschendem Kneifer, da saßen Beamte in grüner
Uniform und mit gewaltigen Schnurrbärten. Das las ein
Mann mit Barett aus knisternden Papieren vor, und da
stand ein stotternder Jüngling mit erhobener
Schwurhand. Aber was hatte das mit der Tat zu tun? Da
wälzte der Verteidiger die Bände der Reichs-
gerichtsentscheidungen, da machte der Geschworene
Notizen, und da saßen die wahren und großen
Sachverständigen am Pressetisch und schrieben, die
verbrecherischen Anlagen des Angeklagten seien schon
klar ersichtlich aus der Struktur seiner fliehenden Stirn
und den nahe beieinanderliegenden Augen, oder sie
machten die Leser auf die durch Zeugenaussagen
erhärtete Tatsache aufmerksam, daß der Angeklagte
schon in frühester Jugend aus dem Garten des
Nachbarn Äpfel gestohlen habe.
Und da kamen die Kameraden der Reihe nach in den
Saal, die früheren Kameraden, die ich kaum
wiedererkannte und die mich kaum wiederzuerkennen
schienen. Sie kamen und warfen einen schnellen Blick
nach meinem Platz, und bauten sich vor dem Richter
auf und sagten ihr Sprüchlein her. Und ich sah sie an
und nichts wollte sich melden von dem, was einstmals
uns aneinander band. Das waren gutrasierte Herren in
schwarzen Röcken, die da standen, sie gaben ernsthafte
bürgerliche Berufe an und schienen jederzeit bereit, die
ihnen zustehenden Zeugengelder zu kassieren. Sie
setzten sich auf die Zeugenbank, wenn sie entlassen
waren, und betrachteten mich so verstohlen, wie sie
mich grüßten, wenn ich zu ihnen hinsah.
Sie standen, wenn ich in meine Zelle zurückgeführt
wurde, auf den Gängen des Gerichtes herum und
winkten mir und schüttelten meine Hand, wenn es
anging, und dann begaben sie sich zum Mittagessen,
und ich hatte mich sehr gefreut, sie wiederzusehen.
Dann war noch Weigelt da, der ziemlich einsam auf
seinem Stuhle saß; wenn ich herausgeführt wurde, ging
ich dicht an ihm vorbei. Weigelt! Ja, Weigelt hatte
ziemlich viel mit der Tat zu tun.
Das Gericht beraumte einen Lokaltermin an. Genau
an dem gleichen Tage, an dem vor fünf Jahren die Tat
geschehen war, zur selben nächtlichen Stunde und an
demselben Orte stand ich mit Weigelt und sollte
demonstrieren, wie das damals gewesen war. Und ich
packte ihn und drängte ihn an das Geländer, und unten
klickerte das dunkle Wasser, und da stand Kern und so
hatte ich den Weigelt...
Und wie ich seinen Kopf an das Geländer duckte,
und er das Bein hob, zuzustoßen, da wandte er den
Blick und drehte mühsam unter meinem Griff den Hals
und sah zum erstenmal mich wieder an und lächelte
verzerrten Mundes. Da sprang der Funke jenes
Einvernehmens auf, da wir die Tat erkannten, und
durch den Bann der Tat einander, und erkannten, daß,
was unter ihrem Bann geschah, nur ihn anging und
mich. Da ging es nicht um das Gesetz der Menschen,
dem Mörder und dem Opfer ging es nicht darum, wie
konnte das Gesetz nun Sühne heischen für die Tat und
Strafe für den Mörder? Und Weigelt machte sich mit
rascher Armbewegung frei und sagte laut ins Dunkel zu
der Schar der Herren, die das Gesetz vertraten, nun
könne er sich ganz genau erinnern, daß ich in jenem
strittigen und ungeklärten Augenblick am Wasser vom
Mordversuch zurückgetreten sei...
Ich wurde drei Tage später wegen schwerer Körper-
verletzung zu drei Jahren Gefängnis verurteilt,

Man brachte mich zur weiteren Strafverbüßung in die


Landesstrafanstalt. Es war dies ein neueres Gebäude
mit ein wenig größeren Zellen, die in drei von einer
Zentrale aus beherrschten Flügeln lagen. DieZelle bot
das gleiche Bild wie jene, die ich bislang bewohnt. Es
waren dieselben Typen von Beamten, die hier Dienst
taten, es war derselbe Mief in den Gängen und dieselbe
Auswahl von Gefangenen, die als Kalfakter von Zelle
zu Zelle liefen. Es war alles so, wie ich es gewohnt
war, und lange dauerte es nicht, bis ich glaubte, daß
nichts sich verändert habe und daß sich niemals auch
etwas verändern werde. Die täglichen Redensarten
wechselte ich mit den Beamten und die tägliche Arbeit
wurde täglich in die Zelle getragen, ich führte der
täglichen Kampf um kleine Vergünstigungen, um ein
Stück Bleistift, um ein Buch, um einen Brief, ich
schloß den täglichen Spaziergang mit dem gewohnten
kleinen Seufzer ab. Und die täglichen Gerüchte über
eine neue Amnestie waren auch da,
Der Direktor hatte große Bedenken, mir die gleiche
Spazierstunde zu gestatten wie den Gefangenen der
dritten Stufe. Denn in dieser Anstalt waren mehrere
Kommunisten inhaftiert, und der Herr Direktor konnte
nicht umhin, mich vor ihnen zu warnen. Das seien doch
ganz ungebildete Elemente, sagte er, und sie trügen nur
Unruhe unter die Gefangenen, und ich solle mich ja
nicht mit ihnen abgeben. Aber ich drang darauf, keine
Sonderstellung einzunehmen, und nahm von vornherein
an, daß der Herr Direktor die Kommunisten mit fast
den gleichen Worten vor mir gewarnt hatte.
Die Kommunisten gingen zur Freistunde in kleinen,
festgeschlossenen Grüppchen und waren daran zu
erkennen, daß sie nicht das Abzeichen der dritten Stufe
trugen. Ich betrachtete sie neugierig bei meinem ersten
Spaziergang, sie schienen sich aber nicht um mich zu
kümmern. Einmal aber, als ich ein wenig langsamer
ging, zogen sie in ruhigem Gespräch an mir vorbei, und
einer hob die Hand beinahe militärisch an die Mütze
und sagte mit freundlicher Vertrautheit: «Guten Tag,
Fähnrich!» Ich sah ihn überrascht an, und er verzog das
Gesicht und meinte: «Ich denke, Fähnrich, wir beide
haben schon einmal in derselben Scheiße gesessen.»
Und schob seinen Arm unter den meinen und sagte:
«Das ist nicht nett von dir, daß du den alten Korporal
Schmitz nicht wiedererkennst!» Da beteuerte ich ihm,
daß ich nicht zu stolz geworden wäre, mit einem
verdammten Zuchthäusler Arm in Arm zu gehen, wenn
es ein alter Kamerad aus dem Baltikum sei, und wir
zogen einträchtig miteinander des Weges und ließen
den Aufsichtsbeaten verblüfften Gesichtes hinter uns
hersehen.
Schitz halte vier Jahre Zuchthaus wegen
Verbrechens gegen das Sprengstoffgesetz. Ob bei
Rotfront mehr Ruckzuck sei als im Baltikum, fragte ich
ihn, und er antwortete unerschütterlich, wenn auch
nicht mehr Ruckzuck, so doch mehr Sinn. Darüber
gerieten wir in Streit und wir stritten uns an diesem
Tage wie am nächsten, wir wiesen uns erbittert
gegenseitig bürgerliche Denkungsweise nach, und es
machte ihm nichts aus, zur Stützung seiner Thesen sich
auf die Heilige Schrift zu berufen, und mir nichts, zum
Beweise meiner Behauptungen das Kommunistische
Manifest anzuziehen. Wir stritten uns beide noch an
dem Tage, auf den wir, ohne es uns eingestehen zu
wollen, mit der gleichen brennenden Hoffnung
gewartet hatten, an dem achtzigsten Geburtstag des
Reichspräsidenten; es sei inkonsequent von ihm, sagte
ich, die Begnadigung anzunehmen, und er sagte, es sei
liberale Eitelkeit, sie zu verweigern. Aber als das
Amnestiegesetz in Kraft trat, wartete ich vergeblich an
der Zellentür,ob man mich nicht bald zum Direktor
rufe, ich wartete mit einer zitternden Verzweiflung, die
ich mir erbost hinwegzuschelten versuchte, und ich
wußte nicht, ob ich losheulen oder loslachen sollte, als
ich Schmitz und seine Genossen in Zivil mit Schachteln
und Koffern über den Hof zum Tore ziehen sah, als ich
gleich darauf den schmetternden Tusch der
Rotfrontkapelle hörte und die Beamten grinsend
erzählten, die Kommunisten seien draußen mit Blumen-
sträußen und Lorbeerkränzen empfangen worden.
Die Glocke von der Zentrale hämmerte ihre drei
Schläge. Ich stand vorn Scheniel auf und stellte mich
an die Tür und tastete wie so oft mit den gespreizten
Fingern gedankenlos den Eisenbeschlag ab. Draußen
auf dem Gang knallten die Zellentüren, Schritte
schlurften vorüber. Ich aß hastig an meinem Brot,
gleich mußte der Gesang anheben. Jeden Sonnabend
vor Einschluß wurde vom Gefangenenchor der
Feierabend eingesungen. Wenn sie nur nicht immer so
sentimentale Lieder sängen, dachte ich, «Wenn ich den
Wandrer frage» oder «Nach der Heimat möcht ich
eilen» — und ich ärgerte mich, daß ich doch immer
lauschte, das Ohr an der Ritze der Tür, und mich nicht
regte, bis das Lied zu Ende war. Da huben sie an: «Es
ist bestimmt in Gottes Rat...»
Ich lehnte die Stirn an die Wand der Schwelle.Der
kalte Stein machte mich ein wenig frösteln. Das ist nun
mein Leben, dachte ich, und sah auf meine Finger, die
am Eisen des Beschlages lagen. Die Finger waren dünn
und weiß, und die schwarzen Ränder unter den Nägeln
machten sie fremd und tot. Ich blickte aufmerksam auf
die Hand. Es war die Hand eines alten Mannes. Ich
ging, indes sie draußen sangen, auf den Zehenspitzen
zum Spiegel und sah hinein. Die Haare waren dünn und
farblos geworden, sie ließen weit die Stirne frei, und
das Gesicht war grau, die Haut ledern, und um die
Augen zog sich ein Geflecht winziger Falten. Ich
öffnete den Mund, die Zähne waren alle gelb und
brüchig, das Zahnfleisch blaß. Ich setzte mich auf das
herabgelassene Bett und dachte daran, wie müde ich
den ganzen Tag sei, und konnte doch das Nachts nicht
schlafen, und da war so eine taube Stelle im Kreuz, die
manchmal wieder schmerzte. Wie alt bin ich eigentlich,
rechnete ich nach, und erschrak, daß ich nachrechnete.
«Ich bin jetzt fünfundzwanzig Juhre alt», stellte ich laut
fest und legte mich dann aufs Bett.
Der Gesang war fertig, und der Kalfakter hieb den
Riegel vor. Das Licht verlosch. Draußen im Walde, der
sich hinter der Mauer einen sanften Abhang
hinaufschob, schrie klagend ein Käuzchen. Vor zehn
Jahren war ich noch Kadett. Da lebte ich in den roten
Mauern des Hauses in Lichterfelde. Jetzt waren die
Mauern, in denen ich lebte, grau. Das war ja wohl ein
bißchen sinnlos, mein Leben, wie? Nein, das war
verdammt nicht sinnlos. Nur die Tatsachen dieses
Lebens waren sinnlos. Aber Tatsachen sagen ja nichts
Entscheidendes aus. Weigelt war noch in der Pause
zwischen dem Schluß der Beweisaufnahme und dem
Beginn der Plaidoyers zu mir in die Wartezelle
gekommen und hatte atemlos gesagt, er wünsche mir
viel Glück, und das damals sei ein Warnungsschuß für
ihn gewesen, und er sei nun ein anständiger Mensch
geworden. Er war ein anständiger Mensch geworden.
Die Kameraden waren auch anständige Menschen
geworden. Der Staatsanwalt, derselbe, der mit dem
Pathos der Gerechtigkeit fünf Jahre Zuchthaus für mich
beantragt hatte, derselbe, der Einspruch gegen meine
Begnadigung erhob, war noch vor meinem Abtransport
ins Zuchthaus bei mir gewesen und hatte mir gesagt, er
habe immer nur mein Bestes gewollt, er tue nur seine
Pflicht. Der Staatsanwalt war auch ein anständiger
Mensch. Alle waren anständige Menschen. Es gab
überhaupt nur anständige Menschen auf der Welt. Es ist
Einbildung, daß es Schurken gäbe. Ich überlegte mir,
ob ich schon einen Schurken kennengelernt hatte. Nein,
ich hatte keinen kennengelernt. Unter den Kameraden
nicht und unter den Gegnern nicht und nicht unter den
Gefangenen und selbst nicht unter den Beamten. Der
Mensch ist gut, dachte ich, und spürte die volle Würde
meines Hohns. Der Mensch ist gut, und es kommt auf
ihn nicht an.
Wenn mir die Gerichtsverhandlung eines gesagt und
gezeigt hatte, dann war es die Gewißheit, daß der
Kampf der Geächteten zu Ende war. Der Staatsanwalt
hatte mit tragischer Gebärde die schauerlichsten
Hintergründe aufgerollt, er hatte die O. C. beschworen,
und alles hatte gelacht, wie über den Butzemann, der
einmal ging im Reiche herumdibum. Die Zuhörer
hatten gelacht und die Zeugen und die Kameraden und.
die Justizwachtmeister. Am Pressetisch hatten sie
gegrinst wie die Honigkuchenpferdchen am Weih-
nachtsbaum, und selbst der Kommissar, der von der IA
Berlin zur Beobachtung des Verfahrens entsandt war,
hatte geschmunzelt.
Es war vorbei und alles war umsonst.
Ich stand auf und ging hin und her. Dann war auch
mein Leben verpfuscht. War es denn verpfuscht? Es
war ungeheuer reich geworden. Es gab keine Sekunde
meiner Vergangenheit, die ich missen mochte. Und was
mir in der Kehle saß, wie ein würgender Pfropfen, das
war nur die Furcht, keine Aufgabe mehr zu haben. Das
war dieselbe Furcht, vor der sich die guten Menschen
retteten in das, was sie mit verlogener Schleimigkeit
Pflicht nannten. Das, was wir getan hatten, genügte
nicht. Es mußte aus unserem Tun die neue Aufgabe
wachsen, oder wir hatten geirrt. Ich wußte, daß wir
nicht geirrt hatten.
Ich wußte, daß wir gar nicht geirrt haben konnten.
Denn wir hatten nach dem drängenden Willen der
Epoche gelebt. Und überall war uns die Bestätigung
unseres Tuns zugewachsen. Wir hatten gefährlich
gelebt, da die Zeit gefährlich war, und da die Zeit
chaotisch war, war alles, was immer wir dachten oder
taten oder glaubten, chaotisch. Wir waren besessen von
dieserZeit,besessen von ihrer Zerstörung, und besessen
auch von dem Schmerz, der die Zerstörung erst
fruchtbar machte. Wir hatten uns an die einzige
Tugend, die diese Zeit verlangte, die der
Entschiedenheit, herangeworfen, weil wir den Willen
zur Entscheidung hatten, wie diese Zeit ihn hatte. Die
Entscheidung aber war nicht gekommen. Noch immer
stand da eine Welt, der es vor sich selber graute.
Nein, der Kampf war noch nicht zu Ende. Jedermann
spürt, daß er noch nicht zu Ende sein kann. Und wenn
die Welt der Geächteten versunken war, weil die Zeit
sie aus ihrem Bann entließ, die Aufgabe blieb. Wir
nannten uns einstmals Revolutionäre, und wir hatten
ein Recht, dies zu tun. Wir, die wir um die
Verwandlung der deutschen Lage rangen, hatten mehr
Recht dazu als jene, die ihren Kampf führten um eine
Verlagerung ihrer sozialen Position. Jene kämpften,
weil sie keine Herrschaft anerkennen wollten, die
legitim, wir, weil wir keine anerkennen wollten, die
illegitim war. Die Herrschaft aber, die wir anzugreifen
die Aufgabe hatten und immer haben werden, war
illegitim, weil sie sich auf eine Werteordnung stützte,
die von den Bedürfnissen der Menschen diktiert war,
und nicht von jener ewigen, tieferen Gewalt, um
derentwillen es erst notwendig war, Bedürfnisse zu
haben.
Wir hatten uns immer auf diese Gewalt berufen, auf
nichts anderes. Wir hatten uns nie berufen auf Parteien
und Programme, auf Fahnen und Zeichen, auf Dogmen
und Theorien. Und wenn unsere Haltung ein
Gerichtetsein bedeutete, dann darum, weil sie es sich
zum Ziele setzte, die Gewalt gegen die Erscheinungen,
das Leben gegen die Konstruktionen, den Rang gegen
das Glück, die Substanz gegen die Verfälschung
durchzusetzen, dann darum, weil es uns nicht genügte,
nach dem Sinn des Kommenden zu fragen, sondern
auch nach den Maßstäben.
Da war die Aufgabe. Es gab nur ein einziges
Verbrechen, das, sie nicht zu erfüllen. Das Feld war
weit und offen, auf dem der Kampf Gottes und der
Dämonen spielte. Und dieses Feld, bewaffnet mit der
letzten Inbrunst eines Willens, eines Glaubens, zu
durchstreifen, bereit, sich zu entscheiden, das konnte
einzig nun die Forderung an den Einzelnen bedeuten.
Ich schlief sehr getröstet ein.

Frei

Fünf Jahre lang halte ich jeden Morgen dasselbe


Gefühl: Dies ist der trübseligste, hoffnungsloseste und
düsterste Tag, den ich erleben kann. Fünf Jahre lang
hatte jeder Tag nur dadurch seinen Sinn, daß er
vorüberging, war jeder Tag nur ein Schritt zum ersten
Tage der Freiheit. Fünf Jahre lang kreisten meine
Gedanken um diesen ersten Tag, um die ersten
vierundzwanzig Stunden und ihren unsagbaren Gehalt
an Sonne, Weite und Leben.
Der schrille Klang der Glocke von der Zentrale fuhr
jäh in meine Träume. Aufschreckend hörte ich ihren
blechernen Nachhall, der beleidigend die schwere Luft
des Baues zerriß. Matt und zerschlagen richtete ich
mich auf, blickte stumpf auf die schwarzen Wände, auf
das graue, von den Gitterstäben zerteilte Viereck des
Fensters. Ich überlegte mir, wie ich den Tag beleben
könnte. Vielleicht kam der Arzt auf fünf Minuten zu
mir. Ich könnte mir das Schlafpulver verlängern lassen.
Ich taumelte ans Fenster und ließ das Oberlicht herab.
Aber die Welle kalter Luft konnte mir den Kopf nicht
frei machen, der von dieser Nacht mit ihren wüsten
Fratzen, ihrem stinkenden Schweiß, ihrem fauligen
Atem noch so benommen war, daß jeder Gedanke
schmerzte. Auf dem Gang knallten die Türen, in das
Schleifen der Brotkörbe mischte sich das Geklapper der
Holzpantinen der Kalfakter, das Klirren der
Eisenkessel. Ich tastete mich zum Kübel, hob ihn
mühsam aus dem Gestell und stellte mich mit
angehaltenem Atem an die Tür. Der Kübel war voll, der
Deckel schwamm in den wassergefüllten Rillen. Ich
preßte den Mund an die Ritze der Tür und sog den
kühlen Hauch des Ganges ein. Ins Schloß rasselte der
Schlüssel. Der Beamte drehte das Licht an, das grell
mir in die blinzelnden Augen schoß. Ich stellte den
Kübel vor die Tür und nahm in die beschmutzten
Finger das Brot. Die Tür knallte zu, ich schlüpfte in die
Kleider, in die grauweißgestreifte Kluft, in die klobigen
Stiefel. Nach kurzem Waschen in der schmalen
Schüssel räumte ich, wie jeden Tag, die Zelle auf,
klappte das eiserne Bett an der Wand hoch und hockte
mich auf den Schemel. Das Brot aß ich, langsam
kauend, nur, um den Priem nicht auf nüchternen Magen
zu nehmen, ich mußte mich mit dem Pensum beeilen.
Die fünfundsechzig Meter Bast, die ich zu flechten
hatte, beherrschten den ganzen Tag. Sechzehntausend-
mal mußte ich dieselbe Handbewegung machen; wenn
ich am Ende des Monats wieder sechs Pensen zu wenig
ablieferte, würde mir der Direktor, der mich für
ungenügende Arbeit zu bestrafen freilich nicht wagen
durfte, Tütenkleben zuweisen, und das war noch
stumpfsinniger. Der feuchte, muffige Bast färbte meine
Finger. Verworren drangen die Geräusche des Ganges
und der Zentrale zu mir; die Glocke gellte und teilte
den Tag ein. Um halb zehn Uhr, als ich die Schlüssel
immer näher an meine Tür heranklirren hörte, stand ich
müde und verdrossen vom Schemel aaf und band mir
das Halstuch um, zum Spaziergang. Der Beamte kam,
ich trat hinaus und ging im gewohnten Trott mit acht
Schritt Abstand hinter dem Zellennachbar her. Auf der
Zentrale stand mit Würde der Hauptwachtmeister. Als
er mich sah, beugte er sich über das Geländer und
sagte: «Geben Sie mir Ihr Arbeitsbuch!»
Das Arbeitsbuch wurde außer derZeit nur von
Gefangenen verlangt, deren Begnadigung eingetroffen
war. Ich blieb erschrocken stehen und sah zum
Hauptwachtmeister hinauf. Der blieb in unbewegter
Haltung, trommelte nur, ungeduldig, wie mir schien,
mit den Fingern auf dem Geländer. Ich machte mit
leerem Herzen kehrt, ging zur Zelle zurück und holte
das Arbeitsbuch. Der Hauptwachtmeister nahm es,
blätterte ein Weilchen darin, dann steckte er es ein und
verschwand.
Ich trappte eilig hinter den anderen her durch die
langen Gänge.
Der enge Hof mit der hohen Mauer tat sich vor mir
auf. Die Dezembersonne war kalt, und der Wind pfiff
um die Ecken. Ich blieb auf der Höhe der Treppe eine
Sekunde stehen, wie immer, und sah den schmalen
Streifen von der Welt, den man einzig hier von dieser
Stelle aus sehen konnte: ein Streifen Wiese, eine
Landstraße, verschwimmende, menschenleere Hügel.
Da faßte mich ein Beamter am Arm: «Sie sollen
nochmal zur Zentrale kommen!» Auf der Zentrale stand
mit feierlichem Gesicht der Direktor. Ich konnte auf
einmal kaum mehr atmen.
Der Direktor sah mich prüfend und mit kalten Augen
an, Ich blieb vor ihm stehen, beinahe befriedigt, daß ich
mich wieder einmal offensichtlich getäuscht. Der
Direktor sagte: «Ich habe Ihnen eine freudige
Mitteilung zu machen ...» «Wann, wann...?» schrie ich
auf. Der Direktor streckte mir lachend die Hand
entgegen und sagte: «Sie können um elf Uhr entlassen
werden.»
Ich riß mich zusammen. Eine Sekunde zögerte ich,
dann schüttelte ich doch die gereichte Hand. Ich drehte
mich taumelnd, stolperte die Treppe hinunter und lief
dann mit fast geschlossenen Augen auf meine Zelle zu.
Da stand der Hauptwachtmeister, er schloß auf, faßte
nach meinem Handgelenk und sagte: «Puls 250!»
Ich kam nicht zur Besinnung. Ich warf meine
Sachen, Bücher, Hefte, Bilder, Briefe in eine Kiste, von
dieser Kiste in eine andere, und es wurde mir nur
dumpf bewußt, daß dies Gerümpel alles in sich schloß,
was in den fünf Jahren mir einzig von Wert und einzig
zur Freude war. Die Tür flog dauernd auf und zu. Der
ganze schwerfällig bureaukratische Apparat der Straf-
anstalt geriet knarrend in Bewegung und räusperte sich,
um mich auszuspucken. Ich mußte die Sachen packen,
baden, abrechnen, mich rasieren lassen; ich lief von der
Zelle zur Kammer, von der Kammer in die Kanzlei; ich
rannte blind an den Beamten vorbei und sah, daß die
Gefangenen, die mir begegneten, mich so anblickten,
wie ich Jahr für Jahr die Entlassenen und Begnadigen
angesehen hatte, mit feindlichem Neid. Auf einmal war
ich ihnen fremd, ausgeschlossen von ihrer gedrückten
Gemeinschaft. Und gerade so viel Zeit hatte ich zur
Selbstkontrolle, um mich zu schämen, daß sie mir, auch
mir auf einmal schändlich wurden, Ausgestoßene,
Verachtete. Gerade so viel Zeit hatte ich, um zu spüren,
wie das betrogene Herz gegen das Hirn pochte, und wie
das Hirn ärgerlich beiseiteschob, was sich bebend
melden wollte. Kleinkram füllte mich aus und ließ dem
Bewußtsein nur dumpfes, verschleiertes Gefühl. Im
Grunde hatte ich Furcht. Furcht vor der Freiheit? Furcht
vor dem Wandel, vor der Erlösung aus der Starre?
Löste sich denn die Starre? Ja, sie löste sich, aber sie
setzte sich nicht in Freude, sie setzte sich in Bewegung
um, in zitterndes, eiliges, nervöses Bewegen, als hätte
ich keine Sekunde mehr zu versäumen, als sei jeder
Augenblick jetzt wichtig, trüge die Vielgestalt der Welt
in sich, erfülle mein ganzes Sein und lasse nicht Raum
für klares Empfinden und Wollen. Wann war es, daß
ich schon einmal in dieser ungeheuren Spannung stand,
daß ich erlebte, tief und intensiv erlebte und doch nicht
zum Erleben kam? Damals, vor dem ersten Gefecht?
Und dann stand ich in der Abgangszelle, streifte
bebend die grauen, widerlichen Kleider ab, schlüpfte in
das weiße, gestärkte, knatternde Hemd, schleuderte die
schweren, genagelten Pantinen an die Wand, strich über
feine Wäsche und Strümpfe mit plötzlich weich und
empfindsam gewordenen Fingerspitzen — der Kragen,
steif und schneeweiß, der seidene Binder, der Anzug
aus blauem, gutem, griffigem Stoff, wie das saß und
paßte, wie ich die krummen Schultern reckte, wie sich
auf einmal das Selbstbewußtsein wieder herrisch erhob,
die Freude am Augenblick! Ich setzte den Hut auf. Ich
hob die leicht gewordenen Füße, ich zog die Hand-
schuhe an; der neue Koffer stand mit blitzenden
Schlössern an der Tür, die sich öffnete und den Weg
freigab, den Weg zum Tore...
Fünf Jahre lang dachte ich an den Moment, da das
schwere Zuchthaustor hinter mir zuschlagen werde.
Mußte mich das nicht durchzucken wie ein elektrischer
Schlag? Mußte sich nicht die Welt auftun, größer und
herrlicher, als ich es ertragen könnte? Den ersten
Gedanken in der Freiheit, den wollte ich mir bewahren
bis an jenes andere Tor, das mich einmal verschlingen
würde; der erste Gedanke in der Freiheit mußte alle
Süßigkeit der Erde in sich bergen, oder es lohnte nicht,
in Freiheit zu leben...
Ich stand im finsteren Torweg. Ein Gefangener, der
Hofkalfakter, klapperte in seinen Patinen auf mich zu,
grinste und hob den Finger hoch: «Mit dem rechten Fuß
über die Schwelle, und ja nicht mehr umsehen! Sonst
kommst du wieder!» — Ich lächelte schwach. Der
Beamte an der Pforte schob die eisernen Türflügel auf,
ein Streifen blassen Sonnenscheins erhellte den
Torweg. Ich nahm den schweren Koffer auf und trat
hinaus. Das Tor schlug kreischend hinter mir zu. Ich
war frei.
Ich dachte: «Werde ich auch noch den Zug
erreichen?» Dies war mein erster Gedanke in der
Freiheit.

Ich ging durch die Dorfstraße. Der schwere Koffer


raubte mir jegliche Form. Mir schien, als habe ich die
niederen Fachwerkhäuser mit den großen Torbogen
schon immer im Blick gehabt. Es war nichts außer-
gewöhnlich. Einige Gänse bogen schnatternd um die
Ecke, und die Dorfstraße war sehr matschig. Schien die
Sonne nicht? Ich glaube, sie schien. Duftete es nicht
herb und frisch und gar nicht mehr muffig? Ich glaube,
es war so. Lächelte die Bauersfrau mit den breiten
Röcken nicht freundlich? Vielleicht, aber vielleicht
erkannte sie auch den entlasscncn Strafgefangenen, und
der Blick war prüfend und mißtrauisch. Ich wußte es
nicht. «Mensch, wach auf, du bist frei!» pochte das
Herz gegen das Hirn, aber das Hirn antwortete
ärgerlich: «Ja, ja, schön und gut, aber beeile dich, du
mußt den Zug erreichen!» —
Am Bahnhofsschalter öffnete ich den blauen
Umschlag, den man mir in der Anstaltskanzlei gegeben
hatte. Zum ersten Male war wieder Geld in meiner
Hand, viel Geld, wie ich glaubte, es waren beinahe
zwanzig Mark, der Arbeitsverdienst von fünf Jahren.
Als man mir die Luft und den Raum nahm, gab es
anderes Geld. Ich beschaute verlegen die Münzen,
drehte sie hin und her, Silbergeld und gelbe Groschen.
Der Mann am Schalter gab mir die Fahrkarte; ich zählte
mühsam ab, er sagte, mit den Augen zwinkernd: «Geld
gezählt haben Sie wohl da nicht, woher Sie kommen!»
Ich wurde sehr rot, war aber beinahe froh über die
Fröhlichkeit des Mannes am Schalter, doch suchte ich
seinetwegen ein leeres Abteil, als der Zug kam.
Ich kam aus Enge und Starre. Jahrelang sah ich nur
vertikale Linien und mein Blick prallte auf Mauern.
Der Himmel stand zwischen den Gitterstäben wie eine
Kulisse, eine Wand, unbeweglich und unfreundlich.
Das bißchen Grün im Hofe war staubig, und die paar
meist entlaubten Bäume standen vor grauen Flächen.
Die Umwelt war einfach und eintönig. Jede Kleinigkeit
bekam unverhältnismäßigen Wert, da einzig sie gerade
Linien unterbrach und Flächen gliederte. So wurde der
Mensch primitiv, dumpf, unelastisch. Was an Süchten
und Träumen sich nicht ersticken ließ, das kam in den
langen, schlaflosen Nächten und begehrte nach Weite,
nach Luft, nach Gliederung, nach horizontalen,
geschwungenen Linien, nach zitterndem, grellem Licht.
Wie war der Wald? Ein Schrei des Vielgestaltigen! Wie
konnte der Blick hinausschnellen über sanfte
Wiesengefälle! Wie konnte man atmen in un-
gehemmter, streichender Luft! Frei und lebendig war
die Landschaft in den Träumen der Zelle.
Nun saß ich im Zuge, und die Landschaft bot sich in
wechselnden Bildern an. Ich schaute durch das Fenster.
Rechts stand der Wald mit strebenden Stämmen. «Ganz
nett», dachte ich und sah begierig nach links. Dort
breitete sich geruhig das Feld. Und ich, der ich
jahrelang nach dem Erlebnis der Landschaft gehungert
hatte, ich zog, rein instinktiv, die Zeitung aus der
Tasche, die mir der Arzt noch in der Abgangszelle
gegeben hatte, und las. Bis ich erschrak und hochfuhr.
Bis ich die Zeitung zusammenknüllte und in die Ecke
warf und den Kopf auf die Holzbank legte. Ich war
verzweifelt, und doch erschien mir die Verzweiflung
wie schlecht gespieltes Theater. Ich kam nicht zum
Erlebnis! Fünf Jahre lang stand ich außerhalb der
Grenzen. Fünf Jahre lang hatte dumpfeste, trivialste,
erkältendste Bürgerlichkeit untätig gelauert, um sich im
ersten Augenblick der Freiheit auf mich zu stürzen, alle
Regung erstickend. Der Alltag war also stärker als der
hochgepeitschteste Mensch! Ich rief mir zu, vernünftig
zu sein. Aber ich wollte nicht vernünftig sein. Ich
wollte bei allen Teufeln nicht vernünftig sein!
Verdammt wollte ich sein, wenn ich vernünftig würde.
Aber konnte mir nicht die Zeitung ein lebendiges Bild
vermitteln von den drängenden Kräften, die nun das
Leben bestimmten? Ich warf die Zeitung zum Fenster
hinaus, denn ich fürchtete mich vor meiner
Bestechlichkeit.

Ich sehnte mich mit Unruhe nach dem ersten


Zusammenprall mit Menschenmassen, nach Bewegung,
Hasten, nach der Vielheit der Straße und des Marktes.
Der Zug fuhr in die Halle des Bahnhofes. Ich drängte
mich fühllos durch die Sperre und stand auf dem
Bahnhofspatz. Ich war nicht sonderlich verwirrt, aber
zur Beobachtung von Einzelheiten mußte ich alles
Denken ausschalten, mußte auf alle Vergleiche
verzichten, sonst wäre ich nicht zurechtgekommen. Die
Unmasse der Autos, der Verkehr, das Jagen und
Hasten, die knalligen Aufbauten der Reklame, all dies
schien mir im Grunde vertraut, obgleich vor fünf Jahren
das Sichaufeinandertürmen der Eindrucke nicht so
wuchtig gewesen sein konnte.
Was mich erschreckte und durchkältete, das waren
die Menschen. Sie hatten keine Gesichter! Oder, sie
hatten alle dasselbe Gesicht. Diese Menschen schienen
wie gefesselt, sie schienen sich nicht des Raumes und
der Weite bewußt zu sein. Sie gingen stur, freudlos und
ohne Ausdruck, beinahe wie Maschinen, wie gutge-
putzte, gesättigte, schnaufende Maschinen, bebend von
Vitalität, aber keinesfalls lebendig. Sie trugen ihre
feinen und eleganten Kleider mit erschütternder
Selbstverständlichkeit. Sie gingen mit Sicherheit und
ohne Erstaunen — und ich ging mit. Ich fügte mich ein
in die strömende Zeile, und automatisch ging mir die
Freude am Gutangezogensein verloren, und ich wußte,
daß mein Gesicht plötzlich den gleichen kalten und
geschäftigen Ausdruck trug. Das merkwürdigste aber
waren die Frauen. Sie hatten nichts gemein mit den
Frauen aus den Träumen der Zelle. Ihre Gesichter
schienen eintönig und nackt und waren von derselben
Monotonie wie die hohen, langweiligen Beine. Einzig
die Fältchen, die leuchtende Seidenstrümpfe an den
Knien warfen, erinnerten an die wüsten Qualen der
Zelle, denn einzig sie schienen lebendig.
Noch hatte ich zu keinem Menschen gesprochen.
Meine feindselige Starrheit hielt an. Ich wollte nichts
anerkennen. Ich kam an Straßen und Häusern vorbei,
die ich kannte, die ich wiedererkannte, und die mir
dennoch nicht vertraut waren. Ich ging an spielenden
Kindein vorüber, und sie waren mir ärgerlich. Ich
kaufte Pfeife, Tabak und Streichhölzer, weil ich mich
entsann, daß ich dies mir für den Tag der Freiheit
vorgenommen hatte, und ich war vor dem Verkäufer
völlig unsicher. Wieder verhedderte ich mich mit dem
Gelde und bemühte mich krampfhaft, niemanden
merken zu lassen, wie sehr ich das Gefühl hatte, ein
jeder sähe mir an, woher ich käme. Ich stand einsam im
Gewühl der Menschen und verspürte intensiv den
Wunsch, in die Zelle zurückzukehren, in die gleich-
mäßige Ruhe und Geborgenheit.
Ich dachte: «Zu Hause essen sie jetzt» und das «Zu
Hause» war mir das Zuchthaus. Ich stand vor meiner
Wohnung, und ich hatte Furcht, maßlose, erbärmliche
Furcht. Ich schellte, es öffnete niemand, und ich atmete
erleichtert auf. Ich kletterte zu meiner Dachstube, aber
sie war verschlossen. Ich rannte weiter durch die
Straßen, trat in ein kleines, stilles Café, saß dort lange
und war trostlos und verbittert.
Als es dunkelte, ging ich zu ihrer Wohnung. Ich
stand vor der Tür wie ein Bettler und hatte dieselbe
atemlose Furcht wie ein solcher. Sie öffnete, erschrak
und zog mich schweigend durch den Gang in das
Zimmer. Sie deckte den Teetisch, ich saß in einem
tiefen Sessel, weit zurückgelehnt unter Kissen, und war
aufgeregt. Als sie einmal zu mir hinsah, verbat ich mir
bitter jedes Mitleid. Ich sprach hastig und gekrampft.
Der Raum verengte sich, kein Laut drang von außen
ein. An den Fenstern hingen Gardinen, das fiel mir
wohltuend auf. Dann wurde mir bewußt, daß ich ein
Fremdkörper im Raume war, daß ich kein Behagen
ertragen konnte. Ich konnte nicht länger sitzen, der ich
fünf Jahre lang gesessen. Ich hielt es nicht in den vier
Wänden aus, der ich fünf Jahre lang in vier Wänden
gehaust.
Mein Bruder kam, überrascht, eifrig und wohltuend
geräuschvoll. Ich kam ins Reden, erzählte wirr,
abgebrochen, nach Worten suchend, verzweifelt mit
den Armen fechtend. Ich hatte jedes Gefühl für
Grenzen verloren, für Grenzen des Redens, des
Ausdrucks, des Taktes. Ich fiel den anderen ins Wort,
ich war unaufmerksam bis zur Ungezogenheit, und
jeder Satz, den ich sprach, begann mit «Ich». Jahrelang
war ich das einzig Interessante um mich herum, konnte
immer nur mit mir selber sprechen, bot immer nur mir
selber Anregung in Grübeln und Fragen. Ich drängte
meinen Bruder, mit mir auszugehen. Als ich an der Tür
stand, wartete ich darauf, daß sie aufgemacht würde,
Dann besann ich mich, und nahm die Klinke in die
Hand. Kaum berührte ich sie, da sprang sie schon auf.
Ich machte die Tür dreimal auf und wieder zu. Als
mein Bruder lächelte, fuhr ich ihn böse an.

Es war schon Abend, als mein Bruder mich in ein


Lokal mitnahm, in dem er sich mit Freunden traf. Es
war ein Kreis von jüngeren und älteren Leuten, die im
Leben ihre Stelle ausfüllten und sich mit unendlicher
Sicherheit bewegten und gaben. Ich war sehr still und
horchte auf die Reden und die Musik. Das Lokal war
sehr voll und hatte leere, matt getönte Wände und
glatte, metallisch gleißende Pfeiler. Auf der Estrade
saßen Musiker mit sonderbaren schwarzen
Instrumenten mit vielen silbernen Klappen.
An endlosen Sonntagen hatte ich am Zellenfester
gehockt und auf die verworrenen Töne gelauscht, die
irgendwo aus dem Städtchen herüberschallten —
Konzert auf der Promenade vielleicht, weit von den
Mauern, und, wie ich mir ausmalte, umgeben vom
vielen festlichen Menschen. Die Musik in dem
Kaffeehause war laut und merkwürdig quäkend. Sie
bestand im Grunde nur aus Rhythmus und erinnerte an
Grieg. Ich hörte interessiert zu und grübelte, ob sie naiv
war oder raffiniert. Dann ärgerte ich mich, weil sie
keins von beiden war, sondern einfach selbstver-
ständlich. Ich war aber nicht so gefangen von der Mu-
sik, wie ich es erträumt hatte, und zweifelte, auch mir
eine Spur von Aufgeschlossenheit zu besitzen. Ab und
zu ergriff der Mann am Dirigentenpult, ein sehr
eleganter Mann, befrackt und selbstbewußt, einen
Blechtrichter und brüllle mit strahlenden Mienen irgend
etwas in den Saal, was berauschend wirken mußte;
denn viele Frauen bekamen einen nervösen, bewegten,
lechzenden Ausdruck im nackten Gesicht und zuckten
mir Beinen und Schulterblättern. Dann sang ein Neger,
alle Gesichter wendeten sich ihm zu.
Die Fülle von Eindrücken verwirrte mich. Doch saß
ich ganz wohlig im weichen Sessel, trank einen Kaffee,
der sonderbar füllig schmeckte, und bemühte mich,
alles in mich aufzunehmen, was sich anbot. Die Herren
sprachen hinter ihren blitzenden Hornbrillen hervor
über Politik, Autos und Frauen. Ich hörte Dinge, die
mir ganz fremd waren, die mich verblüfften, und die
ich glauben mußte, denn sie wurden mit Nonchalance
und Sicherheit vorgetragen. Brennend verspürte ich
meine absolute Unzulänglichkeit. Ich hätte gern nach
vielem gefragt, aber ich konnte über alle diese Dinge
nicht mitreden, und das beengte mich. Ich war bis zum
Bersten gefüllt mit dem Erlebnis der Erlebnislosigkeit
und fürchtete bei jedem Wort, das ich sagen wollte, ich
käme nicht aus dem begrenzten Umkreis heraus, in dem
ich bis dahin gelebt, und ein jeder müßte unverzüglich
aus meinen Redewendungen entnehmen, was für ein
Umkreis dies war. Dabei drängte es mich brennend, zu
sprechen. Ich wollte fragen, wollte aus dem Wust von
Worten und Anschauungen das Wesentliche zu mir
heranzwingen, irgend etwas Wesentliches — wollte
einen Vorstoß machen, um den Kreis zu sprengen, aber
ich machte bei jedem Ansturm einen Sprung gegen
Gummibänder.
Aber wie, war es nicht so, daß diese so sicheren
Leute doch ebenfalls irgendwie in Ketten waren?
Kamen sie hinüber über ihre Grenzen? Hatten sie das
Erlebnis des Einsatzes, das erst ihnen die Berechtigung
gibt, Fesseln zu sprengen? War dies die Freiheit, die ich
erträumte? War nicht im Grunde alles schief, was diese
Leute sprachen, schief und einseitig in seiner
Vielseitigkeit? Wer von ihnen wurde sich bewußt des
Augenblicks? Wer von ihnen hatte sich sein Leben
gebaut, wie man es bauen konnte, wenn man frei,
wirklich frei war?
Im Grunde waren alle von einer rührenden, satten
Unzufriedenheit, wahrend meine Unzufriedenheit
brannte und bohrte.
Wenn ich die Bilanz der fünf Jahre zog, es blieb ein
Plus. Wie könnte ich es ertragen, wäre es anders! Das
Bürgerliche aber durfte mich nicht überfallen; denn es
ist starr, beweglich vielleicht, aber nicht lebendig. Und
ich mußte leben, leben! Zu lange war ich starr, als daß
ich länger warten durfte, zu leben. Das Gesetz der
Gleichmäßigkeit, das mich fünf Jahre lang beherrschte,
ihm waren diese klugen, intelligenten, beweglichen
Herren ebenso unterworfen. In mir aber wirkten
Spannungen, die mir nicht den Übergang aus Fesseln in
andere Fesseln erlauben konnten, wohl aber den Sprung
aus der Starre ins Grenzenlose, in die Freude, in die
Härte, in Dinge, die über den Worten stehen.
Wir gingen durch die Altstadt. Während gleißende
Lichter in den Hauptstraßen flimmerten, stand der
Mund über spitzen, gegliederten Giebeln. Katzen
schlichen mit erhobenen Schwänzen über die Dächer.
Was ich sah, war in seiner Realität unwirklich, und
darum fühlte ich mich wohl. Ich konnte keine geraden
Linien mehr ertragen, und diese Wirre, vom Munde
überströmt, der alles dämpfte und doch Schatten warf,
diese Vielgestalt, die den Himmel erst lebendig machte,
dies war es, was mich ruhig und sicher werden ließ. Ich
war frei, und fünf Jahre waren versunken und
vergessen.

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