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Der kurdische Widerstand unter Scheich Sait und die Gründe für seine Niederlage
von M. Sirac. Bilgin
Der Kampf der PKK wird oft als der bislang letzte große Aufstand der KurdInnen bezeichnet. Ein
viel zitierter Vorgänger war der Scheich Sait-Aufstand. Um dessen Hintergründe geht es in
folgendem Artikel, den wir der Zeitung Özgür Politika entnommen haben.
Widerstand
Der Aufstand hatte als Antwort auf eine Provokation des türkischen Staates begonnen. Es war
noch zu früh; er hätte erst im Frühjahr beginnen sollen. Aber die Gendarmerie-Leutnants Mustafa
und Hüsnü Beg hatten Scheich Sait erniedrigend behandelt, damit er ihnen einige beschuldigte
Personen ausliefern sollte. Scheich Saits Bruder, Scheich Abdurahim, der eine solche
Behandlung seines Bruders nicht hinnehmen wollte, nahm die beiden als Geisel. Damit war man
auf einem Weg, von dem es kein Zurück gab. Scheich Sait sagte: "Was sollen wir tun? Das
Schicksal hat es so gewollt," und er begann den Aufstand, obwohl mit wenig Hoffnung. Das
rührte vor allem daher, dass die führenden Persönlichkeiten, die fähig waren, an der Spitze des
Kampfes zu stehen, bereits vorher festgenommen worden waren. So etwas wie eine
Organisierung war nicht vorhanden. Vielleicht würde auch die Beteiligung auf Grund des
verfrühten Beginns nicht so hoch sein, wie erwartet. Es würde sehr schwer werden, die Kräfte
beim Betreten der Städte diszipliniert zu halten und an Plünderungen zu hindern. Das könnte den
Weg für einen Gegenwiderstand eröffnen.
Trotz aller Unzulänglichkeiten zwangen die Bedingungen und das Regime Scheich Sait, die
Operation zu beginnen.
Am 13. Februar begann der Aufstand und breitete sich innerhalb kurzer Zeit auf ein weites Gebiet
aus. Es würde zu weit führen, auf Einzelheiten einzugehen. Aber wir können sagen, dass von
Piran bis Siverek und von dort aus bis Silvan alle Kommandanturen der südlichen Gebiete in die
Hände der Kurden fielen. Im Norden war es ebenso: Varto war eingenommen worden, und die
Widerstandskämpfer zogen über Mus nach Amed. In der Mitte wurden das Zentrum der Provinz
Dareyeni und die Kreise Cewlig, Palu und Xarpet eingenommen. Man zog weiter Richtung
Malatya. Allerdings waren große Fehler gemacht worden: Plünderungen hatten nicht verhindert
werden können - immerhin waren die Aufständischen ungebildete, kriegsunerfahrene Männer
ohne Kommandanten - und so schlug sich die Stadtbevölkerung auf die Gegenseite.
Gegenoperation
Es bereitete dem türkischen Staat große Sorge, dass sich der Aufstand, trotz aller von ihm
getroffenen vorsorglichen Maßnahmen, so schnell und erfolgreich ausbreiten konnte. Sollte es
den Kurden trotz aller Vorkehrungen etwa gelingen, erfolgreich zu sein? Kurze Zeit dachte man
sogar daran, die Forderungen der Aufständischen zu akzeptieren; das wurde jedoch alsbald
wieder verworfen. Jedoch hatte die Regierung zu dieser Zeit wenig Handlungsfreiheit und war
daher nicht in der Lage, den Aufstand niederzuschlagen. Das wurde sofort geändert, indem man
Mustafa Kemal und seinem Freund Ismet Pascha alle notwendigen Vollmachten erteilte und sie
beauftragte, eine neue Regierung zu bilden. Ismet Pascha konnte so ungehindert alle ihm wichtig
erscheinenden Maßnahmen ergreifen.
Diese waren zuerst:
a) Das Takrir-i Sukun Gesetz (Gesetz zur Sicherung der öffentlichen Ruhe) wurde erlassen, mit
dem die gesamte Presse und auch Privatpersonen zum Schweigen verurteilt wurden. Nach
diesem Gesetz genügte bereits die geringste Beschuldigung oder irgendeine Denunziation, um
eine Person ins Gefängnis zu bringen. Im gesamten Land wurde ein Staatsnotstand mit brutalen
Auswirkungen praktiziert.
c) Eine allgemeine Mobilmachung wurde erklärt und jeder Bürger zwischen dem zwanzigsten und
sechzigsten Lebensjahr zum Dienst mit der Waffe zwangsverpflichtet.
d) Beginnend mit dem 7. Armeekorps wurden alle regionalen Einheiten auf Befehl der Regierung
mobilisiert, um den Aufstand niederzuschlagen.
e) Nach dem 1920 in Kraft getretenen Abkommen mit den Franzosen durfte die Regierung die
Eisenbahnlinien für ihre Interessen benutzen und konnte so die Aufständischen hinterrücks
angreifen.
f) Staatstreue Clanführer, wie z.B. Cemile Ceto, wurden ebenfalls mobilisiert und fielen den
Aufständischen in den Rücken.
Diese Maßnahmen zeigten nach kurzer Zeit Erfolge. Für die Aufständischen begann eine Phase
des Rückzugs. Gleichzeitig wurden der in Istanbul festgenommene Seyyid Abdulkadir und seine
Freunde nach Amed gebracht. Die in Bitlis inhaftierten Kader von Azadi wurden auf die
Behauptung hin, "um sie zu befreien, solle Bitlis angegriffen werden", sofort erschossen. Auf
diese Weise wurden alle militärischen und politischen Kader mit einem Mal vernichtet. Den in
Amed eingeschlossenen kurdischen Einheiten blieben keine Möglichkeiten mehr. Die Westfront
war auf Grund der Plünderungen auf großen Widerstand gestoßen und auseinandergebrochen.
Überall begann man in Panik zu flüchten. Der Aufstand endete damit, dass sein Anführer Scheich
Sait infolge der letzten Denunziation Kazim Bags, der von Anfang an ein enger Vertrauter
Mustafa Kemals war, festgenommen wurde. (14. April 1925) Die Istiklal-Gerichte wurden sofort
tätig und ließen die Istanbuler Gruppe um Seyyid Abdulkadir, Kemal Fevzi und Kör Sadi
hinrichten. Danach wurden am 29. Juni Scheich Sait und 47 seiner Anhänger ebenfalls
hingerichtet. (Genau an diesem Datum verurteilte das Gericht auf Imrali im vergangenen Jahr
auch Abdullah Öcalan zum Tode...)
Zur gleichen Zeit hatte die grausame Regierung Ismet Paschas, laut Dr. Bletch Chirguh (Kairo
1930) in 206 Dörfern 8758 Häuser zerstören lassen. Dabei wurden 15.206 Menschen ermordet.
Die Istiklal-Gerichte arbeiteten wie Schlachthäuser.
Aus diesem erfolglosen Widerstand konnten die Kurden wichtige Lehren ziehen. Die erste davon
ist, dass man alle zu organisierenden Kräfte in Kurdistan unter Beachtung ihrer Klassenstruktur
zu einer disziplinierten Organisation hätte aufbauen müssen. Es ist nicht möglich, dass die
Hauptorganisation in Istanbul sitzt und in Kurdistan ein disziplinierter Aufstand vorbereitet wird.
Sowieso war das, was in der Zeit von 1920 bis 1930 Organisierung genannt wurde, eine Art von
"Familienpakt". Darüber hinaus waren sämtliche ranghohen Azadi-Mitglieder, die den Verlauf des
Widerstands planen sollten, im Vorfeld festgenommen worden. (...) Aber sogar heute verhalten
sich einige Kreise innerhalb Kurdistans gemäß dem Fingerzeig von USA und NATO. Sie wären
sogar bereit, für ihre eigenen Interessen ihre eigenen Brüder zu opfern: ein Beispiel für
mangelnde politische Weitsicht. (...) Nachdem das Versprechen aus dem Vertrag von Sevres,
den Kurden einen eigenen Staat zuzubilligen, in Lausanne vergessen war, begannen die
kurdischen Führer 1925 ihren Widerstand. Denn sie hatten gesehen, wie wenig sie vergessenen
Versprechen und gebrochenen Verträgen vertrauen konnten.
Man muss genau betrachten, was die Kurden durch ihren Widerstand überwinden und was neu
aufbauen wollten. Denn darüber waren sich die Führer 1925 gar nicht so ganz klar. Die Führer
von Azadi hatten ein bestimmtes Programm, aber sie waren ja festgenommen worden. Ob der
über siebzigjährige Scheich Sait einem festen Programm verhaftet war, ist fraglich.
Der Hauptwiderstand wurde 1925 geleistet. Die nachfolgenden Aufstände von 1926 bis 1938
waren eher Reaktionen der kurdischen Clanführer auf Provokationen des türkischen Staates.
Diese Art der Reaktion führte später auch zu der Niederlage in Mahabad. (1946, nach dem 2.
Weltkrieg für einige Monate bestehende kurdische Republik im iranischen Teil Kurdistans;
Anm.d.Übers.)
Die Lehren aus dem schwachen aber legitimen Kampf gegen Gewalt, nationale Leugnung und
Zwangsassimilation, dem Aufstand von 1925, begann man erst in den 60er Jahren umzusetzen.
Das hatte seinen Höhepunkt mit dem Entstehen der PKK. Heute erleben wir einen großen,
organisierten, stark wissenschaftlichen Widerstand der von politisch erfahrenen Persönlichkeiten
angeführt wird. Jedoch machen einige unserer Kreise bei der Kommentierung dieses
Widerstandes Fehler über Fehler. Der Erfolg ist davon abhängig, ob es gelingt eine nationale
Einheit zu schaffen. Heute gibt es viele, die dieses Ziel vergessen haben aber der Vorsitzende
Apo ist in diesem Punkt eine große Chance für die Kurden.
Quelle:
Kurdistan Report Nr.99, 2000