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FOLGE MIR NACH

Begegnung mit Jesus am Kreuzweg


Tomislav Ivančić
Tomislav Ivančić

FOLGE MIR NACH


Begegnung mit Jesus auf dem Kreuzweg

Originaltitel: Tomislav Ivančić, Podi za mnom, Zagreb 1988; 3. Auflage 1989

INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT ......................................................................................................................................3
EINLEITUNG ..................................................................................................................................4
WIE KANN MAN DIESEN KREUZWEG BETEN?.................................................................10
DER KREUZWEG.........................................................................................................................12
I. STATION ....................................................................................................................................13
II. STATION ..................................................................................................................................14
III. STATION .................................................................................................................................15
IV. STATION .................................................................................................................................16
V. STATION ..................................................................................................................................17
VI. STATION .................................................................................................................................18
VII. STATION ...............................................................................................................................19
VIII. STATION ..............................................................................................................................20
IX. STATION .................................................................................................................................21
X. STATION ..................................................................................................................................22
XI. STATION .................................................................................................................................23
XII. STATION ................................................................................................................................24
XIII. STATION ..............................................................................................................................25
XIV. STATION ..............................................................................................................................26
ABSCHLUSS DES KREUZWEGES ............................................................................................27

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VORWORT

Das Manuskript zum vorliegenden Büchlein wurde als Ostergruß 1987


verschickt. Es möchte den Leser zu den im Evangelium dargestellten Visionen
über das Kreuz im Alltag führen. Solche Visionen kann man nicht adäquat in
Worte fassen. Die Worte dieses Büchleins klingen deshalb paradox, sie sind eher
ein Stammeln als ein Sprechen. Wir sind jedoch überzeugt, dass sie der Leser
richtig verstehen wird.

Das Annehmen der Kreuze bedeutet keine Flucht vor der Beanspruchung im
Alltag, im Gegenteil! Dem Leidtragenden, dem auch die letzte Möglichkeit zur
Arbeit genommen ist, wird dadurch die innere Energie geschenkt, ein neuer
Mensch zu werden und eine neue Welt zu schaffen. Menschen, die am liebsten
vor den Problemen ihres Lebens, vor dem Kampf und vor verantwortlichem
Handeln davonlaufen würden, erhalten so Lebensfreude und Ausdauer, das
Menschenmögliche zu unternehmen. Dieser Kreuzweg erinnert an die
Begegnung des Petrus mit Jesus auf einer Straße in der Nähe Roms. Eine Legende
erzählt, wie Petrus versucht, dem Martyrium in Rom zu entfliehen. Da begegnet
ihm Jesus, kreuztragend auf dem Weg nach Rom. »Otto vadis, Domine? —
Wohin gehst du, Herr?« fragt ihn Petrus. »Ich gehe, um ein zweites Mal für dich
und die Welt zu sterben«, entgegnet ihm Jesus. Petrus versteht, kehrt um und
lässt sich in Rom kreuzigen.

Jeder von uns befindet sich häufig auf der Flucht vor dem Kreuz des Alltags.

Jesus bewegt uns zur Umkehr in die Stadt, ins Dorf, ins Haus, zur Familie, auf
den Arbeitsplatz, in unser Leben, damit wir in Treue vollziehen, was uns
aufgetragen ist, und damit das Zeitliche an uns erstirbt und das Unsterbliche
bleibt.

Wir danken allen, die mit Rat und Tat geholfen haben, dass dieses Büchlein
erscheinen konnte.

Zagreb, zu Maria Lichtmess 1988 Der Autor

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EINLEITUNG

Die Botschaft Jesu Christi richtet sich nicht nur an die Christen der ersten
Jahrhunderte, sondern an alle historischen Epochen bis zum Ende der Welt.
»Jesus Christus ist derselbe gestern, heute und in Ewigkeit.« (Hebr. 13, 8). Jesus
ist mit uns alle Tage bis zum Ende der Welt (vgl. Mt. 28). Wir Menschen können
Jesus also heute in ähnlicher Weise begegnen wie jene vor zweitausend Jahren. Er
ist durch seinen Tod nicht aus der Welt gegangen, vielmehr ist er durch seine
Auferstehung und Himmelfahrt in ihr noch besser zugegen. Er lebt unter uns mit
seiner auferstandenen und verherrlichten Menschennatur. Diese verherrlichte
Menschennatur hat die Qualitäten des Geistes und ist deshalb überall gleichzeitig
zugegen; an bestimmten Plätzen hat dieser neue Mensch jedoch auf gewisse
Weise eine »verdichtete« Gegenwart. Deshalb kann man ihm an manchen Orten
in besonderer Weise begegnen. So ein »Ort« ist die Gemeinschaft der Kirche,
denn sie ist der mystische Leib Jesu. So ein »Ort« ist auch die Eucharistie,
außerdem der Priester, der die Sakramente spendet, zwei oder drei im Namen
Jesu Versammelte, die Worte der Heiligen Schrift. Wenn ich auf das Wort Jesu
höre, trete ich in den Bereich seiner Gegenwart. Esse ich im Glauben das
eucharistische Brot, begegne ich ihm als Person. Lebe ich im Glauben die
Gemeinschaft der Kirche, trage ich Jesus Christus in mir und lebe in ihm.
Betrachte ich im Glauben einen Priester, der die Sakramente spendet, entdecke
ich Jesus Christus, der der eigentliche Spender der Sakramente ist.

Zu der Begegnung mit Jesus führt der paradoxe Weg des Sterbens und der
Auferstehung. Durch die Sünde hat sich der Mensch der Herrschaft Gottes
entzogen und sein Leben in die eigenen Hände genommen. So hat er die
in Kommunikation mit Gott unterbrochen und sich in den Bereich des Todes
begeben. Durch die Trennung von der Transzendenz ist er in die Immanenz
geworfen und teilt somit das Schicksal der Materie, die ihn umgibt.
Deshalb führt sein Leben in den Tod. Der heilige Paulus erinnert uns daran,
wenn er sagt: »Das Trachten des Fleisches führt zum Tod, das
Trachten des Geistes aber zu Leben und Frieden.« (Röm. 8, 6). Möchte der
Mensch nun Gott begegnen, muss er seinen Widerstand gegen Gott aufgeben und
von neuem die Kommunikation mit Gott aufnehmen. Das ist nur insoweit
möglich, als er dem Stolz stirbt und ebenso dem Versuch, allein und ohne Gott
sein Leben zu leben. Der Weg zu Gott führt über den Tod, der dem Menschen
bestimmt ist.

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Doch bedeutet dieser Tod nicht das Ende, sondern den Anfang eines neuen
göttlichen Lebens. Wer sich selbst stirbt, kommt zum Leben in Gott (vgl. Röm. 6,
11, 12). Diese paradoxe Rückkehr zu Gott ist nur durch den Tod und die
Auferstehung Jesu Christi möglich geworden. Ohne ihn würden uns all unser
Bemühen, unsere Selbstverleugnung und unser Sterben nicht zu Gott bringen.
Die Versöhnung mit Gott konnte kein Mensch bewerkstelligen, sondern eben nur
Gott. Der gefallene Mensch — ohne die Fähigkeit, sich mit seinem Geist zu Gott
zu erheben — konnte sich nicht selber das Heil erwirken, denn das übersteigt
seine Möglichkeiten. Zu Gott bringt uns also nur diese Art von Sterben, die uns
auf den Weg Jesu Christi, in seinen Tod und seine Auferstehung führt. In seinem
Tod sind auch wir gestorben.

Deshalb ist uns auf dem Weg zu Jesus sein Kreuz ein besonderer Wegweiser.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Christen von alters her den
Kreuzweg als privilegierten Weg zu Jesus betrachten. Wir dürfen behaupten, dass
Jesus auf jeder Station des Kreuzweges anwesend ist. Nehmen wir das Leiden
und den Tod an, so wie er es vor uns tat, dann eröffnet sich für uns der Zugang
zu ihm selbst. Jedes Kreuz, dem wir in unserem Leben begegnen, wird zur Tür zu
ihm. Unschuldige Verurteilung, das Aufsichnehmen des Kreuzes, unfreiwillige
Hilfe von seiten anderer, die Beraubung der Privatsphäre, der Spott der Masse,
die Ohnmacht und die Kränkung unserer Freunde, Tod und Begräbnis — all das
ist unser Leben, und in diesen Situationen werden wir Jesus begegnen. Aus dieser
Begegnung nimmt uns Jesus mit in seine Auferstehung und sein neues Leben.

Die vierzehn Stationen des Kreuzweges sind nicht die einzigen Kreuze, die zu
Jesus führen. Jesus nahm das gesamte Leben der Menschen auf sich. Das
bedeutet, dass zu Jesus die gesamte menschliche Existenz führt, alle
Schwierigkeiten des täglichen Lebens, alles Leid und alles Sterben, sobald wir es
annehmen. Jesus nahm alle unsere Sünden auf sich, alle unsere Krankheiten und
Schmerzen (vgl. Jes. 53). Die vierzehn Stationen sind (bloß) Beispiele, in denen
uns die 'Tür gezeigt wird, die zu Jesus führt. Sie sind Anregung und Hinweis, wie
wir in jeder Situation unseres Lebens die Tür zu Jesus öffnen können.

Dass dieser Schluss richtig ist, beweisen die Worte Jesu: »Wer nicht sein Kreuz
trägt und mir nachfolgt, der kann nicht mein Jünger sein.« (Lk. 14, 27). Ein Jünger
Jesu ist man also insoweit, als man die Kreuze auf dem Lebensweg auf sich
nimmt und Jesus nachfolgt. Auf die Frage, wo Jesus wohnt, können wir ruhig
antworten: Dort, wo ein Mensch in Jesu Namen sein Kreuz auf sich nimmt.

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Das Kreuz ist in unserem Leben alles, was unsere Pläne durchkreuzt und an ihre
Stelle die göttlichen setzt. Ein Kreuz ist dort, wo uns abverlangt wird, den
eigenen Willen aufzugeben und den göttlichen anzunehmen. Das Kreuz bedeutet
den Auszug aus dem eigenen Leben und den Einzug ins göttliche. Das Kreuz ist
jedes Leid im physischen und psychischen Sinn. Das Kreuz ist die Annahme des
eigenen Lebens, so wie es ist. Das Kreuz ist die Annahme der Mitmenschen, auch
wenn sie unsympathisch sind, nicht unsere Meinung teilen und sich anders
verhalten, als wir es erwarten. Ein Kreuz ist, wenn wir unsere Überzeugung
loslassen müssen, um dem Wort Gottes zu glauben. Ein Kreuz ist das Verlassen
unserer Logik und die Übernahme göttlicher Logik. Unsere Logik besagt: Selig
sind die Reichen, denn sie haben viele Möglichkeiten, das Leben zu genießen. Die
göttliche Logik aber heißt: »Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das
Himmelreich.« (Mt. 5, 3). Das Kreuz durchkreuzt und negiert unsere Logik und
bringt die Logik Gottes in unser Leben. Deshalb bedeutet das Kreuz auch das
Abstreifen des sterblichen Leibes und die Übernahme des lebensspendenden
Geistes. Das Kreuz ist die Überwindung des Todes und der Gewinn des Lebens,
die Überwindung der Sinnlosigkeit und die Übernahme des Sinnhaften, der
Ausstieg aus der Vergänglichkeit und der Einstieg in die Unsterblichkeit Gottes.
Das Kreuz ist Verzicht auf Krankheit im Tausch gegen Gesundheit. Das Aufgeben
menschlicher Anarchie und die Annahme göttlicher Ordnung.

Davon sprechen etliche Stellen der Heiligen Schrift. Jesus sagt: »Kommt alle zu
mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt. Ich werde euch Ruhe
verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn ich bin gütig und
von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele. Denn mein Joch
drückt nicht, und meine Last ist leicht.« (Mt. 11, 28-30). Das Verlassen dieser Welt
und der Eintritt in die Welt Gottes bringt nicht Tod, sondern Leben. »Und jeder,
der um meines Namens willen Häuser oder Brüder, Schwestern, Vater, Mutter,
Kinder oder Äcker verlassen hat, wird dafür das Hundertfache erhalten und das
ewige Leben gewinnen.« (Mt. 19, 29). Das Kreuz ist gleichsam die Überstellung
unseres ganzen Lebens in das unsterbliche göttliche Leben. Das Kreuz bedeutet
Freude, nicht Trauer. Jesus ermahnt die Frauen von Jerusalem, nicht seinetwegen
zu weinen, sondern wegen ihrer Kinder, die nicht verstehen, dass das Kreuz zur
Auferstehung führt. So befiehlt Jesus auch dem Petrus: »Weg mit dir, Satan, geh
mir aus den Augen! Du willst mich zu Fall bringen; denn du hast nicht das im
Sinn, was Gott will, sondern was die Menschen wollen.« (Mt. 16, 23). Petrus
versteht zunächst nicht, dass im Kreuz auch die Auferstehung enthalten ist und
nicht bloß das Sterben. Also verlangt Jesus von uns, dass wir uns über das Kreuz

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freuen: »Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und
auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im
Himmel wird groß sein.« (Mt. 5, 11-12a). Die Jünger erkannten jedoch später klar,
dass im Kreuz die Auferstehung wartet. Der heilige Paulus freut sich über das
Kreuz, die Schwierigkeiten und die Verfolgung, denn wenn er schwach ist, dann
ist er stark (vgl. 2. Kor. 12, 10). Der heilige Jakobus schreibt: »Seid voll Freude,
meine Brüder, wenn ihr in mancherlei Versuchungen geratet. Ihr wisst, dass die
Prüfung eures Glaubens Ausdauer bewirkt (Jak. 1, 2-3). Der Heilige Paulus
schreibt ebenfalls, dass wir bei großem Leid auch viel Trost erfahren (vgl. 2. Kor.
1, 5):

Aus Erfahrung wissen diejenigen, die diesen Weg schon gegangen sind, dass das
Annehmen des göttlichen Willens zu Freude, Gesundheit und Leben führt.
Solange wir Leid und Kreuz ablehnen, solange wir unsympathischen Menschen
ausweichen und die Feinde hassen, so lange vergrößern wir nur noch das Leid.
Den Weg zum Leben finden wir nicht, wenn wir dem Leid ausweichen, sondern
wenn wir es annehmen und überwinden. Jesus ist in den Tod gegangen, um ihn
zu besiegen. Er nahm unsere Schuld auf sich, um uns zu entsühnen; und unsere
Krankheiten übernahm er, um uns zu heilen (vgl. Jes. 53, 4-5). Übergeben wir
Jesus unsere Sünden, Krankheiten und unseren Tod, dann erhalten wir von ihm
Vergebung, Gesundheit und Leben. Die Auferstehung findet nicht erst nach
unserem leiblichen Tod am Jüngsten Tag statt. Anfangshaft sind Auferstehung
und himmlisches Leben bereits dann vorhanden, wenn wir das Kreuz annehmen.
Der heilige Paulus schreibt, dass wir in Christus schon mitauferstanden, sind
(vgl. Kol. 2, 12).

Damit wir zu. Jesus gelangen können, muss zuerst unser Hochmut sterben.
Damit wir sein Leib werden, muss dieser »Leib«, der sich ihm widersetzt, sterben,
muss unser Eigensinn fallen. Wenn wir unseren Sünden sterben, indem wir sie
bekennen, erstehen wir zu neuem Leben in der göttlichen Welt (vgl. 1. Joh. 1,8-
10). Die Art von Leben, die wir durch die Logik dieser Welt erhalten, führt zum
Tod des Göttlichen in uns. Jesus ist die einzige Chance für eine neue Welt. Wenn
wir die diversen »Kreuze« annehmen, handeln wir wie er und gelangen in diese
neue Welt.

Welche Art von Welt muss sterben? — Die Bibel kennt drei Bedeutungen von
»Welt»: die Welt als Weltall, die Welt als Geschichte der Menschheit und die Welt
als Machtsphäre des Bösen. Die Welt als Universum ist gut. Diese Welt ist durch
die Sünde versklavt und wartet auf unsere Erlösung, damit sie zusammen mit
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uns verherrlicht wird. Es ist die Welt, die Gott erschaffen hat, die Welt, die der
Mensch hüten, lieben und neu gestalten soll, indem er sich nach Gott ausrichtet.

Auch die Entfaltung menschlicher Fähigkeiten in der Geschichte der Menschheit


ist eine gute Welt. Dazu gehören alle menschlichen Anstrengungen im Bereich
der Wissenschaft, Kultur und anderer positiver Tätigkeiten. Diese »Welt« segnet
und heiligt Gott; denn er schuf den Menschen als seinen Mitarbeiter bei der.
Schöpfung der Welt. Er gab ihm Hände und Verstand, damit er arbeitet und die
Welt verändert. Gott selbst machte den Menschen zum Herrn der Welt, und
daher ist die Arbeit des Menschen gut und Gott wohlgefällig.

Die Welt im negativen Sinn ist die Welt der Sünde. Gemeint sind Mächte, die die
menschliche Natur und Geschichte verderben. Der heilige Johannes konkretisiert
diese Welt und spricht von Fleischeslust, Augenlust und hochmütigem Leben
(vgl. 1. Joh. 2, 16). Es handelt sich also um eine böse Welt. Die Fleischeslust ist der
Wunsch, nur das zu wollen, was dem Leib dient. Das bedeutet jedoch ein
Herabzerren des Menschen auf die Ebene des bloß Körperlichen und Materiellen,
eine Trennung des Menschen von der Ebene des Geistes, die seine eigentliche
Größe ausmacht und bewirkt, dass er über sich gewaltig hinauswächst.

Die Augenlust ist eine Haltung des Menschen, in der er nur das glaubt, was er
sieht. Der heilige Paulus schreibt, dass das Sichtbare vergänglich, das Unsichtbare
aber ewig ist (vgl. 2. Kor. 4, 18). Die Augenlust leugnet den Geist und alles, was
am Menschen edel und heilig ist. Sie leugnet somit Gott selbst.

Die Hoffart des Lebens besteht darin, dass sich der Mensch über Gott stellt, dass
er sich selber als Gott betrachtet und meint, sein Leben selbst im Griff zu haben
und allein alle Probleme der Welt lösen zu können. Die Hoffart des Lebens lehnt
Gottes Wirken ab und akzeptiert ihn nicht als Freund und Vater. Der Mensch
verlässt das Vaterhaus mitsamt dem Erbgut, das der Vater unter seine Kinder
verteilt hat. Er vernichtet die Werte, die ihm der Vater anvertraut. Damit zerstört
der Mensch das Leben und all das, was ihm gegeben ist. Ein hochmütiger Mensch
ist unverständig und unrealistisch, denn er erkennt weder sein Unvermögen noch
die Macht Gottes. Die Demut nimmt die Dinge, wie sie sind. Der demütige
Mensch wächst in die Freundschaft mit Gott hinein und kann die Probleme der
Welt somit wirklich lösen.

Dieser Kreuzweg möchte uns helfen, die böse Welt zu verlassen und die göttliche
Welt zu betreten. Er möchte uns anregen, Christus in seine Auferstehung und in
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seinen Tod nachzufolgen und auch die Mitmenschen und die gesamte Natur
dorthin mitzunehmen.

Zur Annahme des Kreuzes bedarf es einer Umkehr. Diese Umkehr ist eine
Entscheidung, Gott nicht mehr davonzulaufen, sondern ihm in sein Königreich
zu folgen. Es ist die Abwendung vom eigenen zum göttlichen Leben. Umkehr
und Annahme des Kreuzes sind Grundvoraussetzungen dafür, dass unsere
Gebete erhört werden und dass wir überhaupt die Nähe Gottes erfahren können.
Das Kreuz ist das Eingangstor für den Weg zum heiligen Geist. Im Kirchenjahr
sehen wir klar die Reihenfolge der Stationen: Karfreitag (Tod), Auferstehung
(Ostern), Himmelfahrt, Ausgießung des Heiligen Geistes (Pfingsten). Die Kraft
des Heiligen Geistes empfangen wir erst, wenn wir den Karfreitag akzeptiert
haben, auferstanden sind und Jesus als Herrn der Welt anerkannt haben. Ohne
den heiligen Geist ist unser Glaube tot, unsere Beziehung zu Gott unterbrochen
und unsere Kraft bloß menschlich. Wie der Körper des Menschen ohne die Seele
tot ist, so ist auch die Kirche, die ja der Leib Christi ist, ohne den Heiligen Geist
tot. Die Frucht des Todes und der Auferstehung Jesu Christi ist die Ausgießung
des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist ist die Liebe zwischen Vater und Sohn. In
der Kraft und der Zuwendung, mit der der Vater und der Sohn einander lieben,
können auch wir Gott und die Mitmenschen lieben. Das gelingt nur in der Kraft
des Heiligen Geistes, der gewaltigsten Macht der Welt.

Für diese Kraft des Heiligen Geistes sind wir erst zugänglich, wenn wir unsere
Abwehr gegen Gott und seinen Willen aufgeben, unserer Welt, unserer Logik
und unserem Willen sterben und uns dem Willen Gottes und seiner Logik fügen.
Unsere Logik besagt, dass wir uns einzig und allein dann vom Leid befreien
können, wenn wir ihm ausweichen, dass wir dem Tod entkommen, wenn wir uns
gegen ihn wehren, dass wir uns von der Sünde befreien, wenn wir gegen sie
ankämpfen, dass wir frei werden, wenn wir von anderen unabhängig sind. Diese
Art von Logik führt aber zu Versklavung und Tod. Zur Freiheit von der Sünde
kommen wir nur durch das Eingestehen unserer Schuld. Befreiung von Leid und
Tod erfahren wir, wenn wir beides annehmen.

Das bedeutet, dass wir den Heiligen Geist und seine Kraft nur durch Kreuz und
Auferstehung empfangen können. Karfreitag und Ostern sind wichtige Stationen,
unersetzbar für den Aufbau unseres Glaubens und einer neuen, besseren und
freieren Welt. Karfreitag und Ostern sind die einzige Chance für die Menschheit,
der einzige Weg zur Sinnhaftigkeit des Lebens, der einzige Weg in die Zukunft.

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WIE KANN MAN DIESEN KREUZWEG BETEN?

Das Gebet ist ein Gespräch mit Gott. Man soll jedoch weniger auf Gott einreden
als ihm vielmehr zuhören. Der Kreuzweg führt uns in die Gebetshaltung des
Hörens. Deswegen wurde die Form so gewählt, dass wir Jesus zuhören, wie er
uns über seinen eigenen Kreuzweg erzählt. Am besten werden wir also diesen
Kreuzweg dann beten, wenn wir beim Lesen hinhören und zulassen, dass uns die
Worte treffen, wenn sie uns erreichen wie der Regen das dürre Land, der den
Boden tränkt und die Saat wachsen lässt. Dann wird auch in uns neues Leben
keimen. In der Stille werden wir erleben, dass der Kreuzweg Jesu unsere eigene
Situation ist, die jedoch durch ihn umgewandelt wird.

Dieser Kreuzweg ist nicht nur für die Fastenzeit gedacht. Er ist der Weg durch
den Alltag, und es ist günstig, ihn eine Zeit lang täglich zu lesen, zu hören und
durchzubeten. Dann wird er uns füllen, überzeugen und verändern.

Damit wir uns leichter auf den Kreuzweg einlassen können, brauchen wir einen
ruhigen Raum, in dem wir beten können. Das kann in der Kirche sein, wo wir
von Station zu Station gehen, oder auch zu Hause, in der Natur, auf dem Weg.
Wichtig ist, dass wir zur Haltung eines Hörenden kommen. In dieser
Erwartungshaltung können wir Gott begegnen.

Der erste Schritt beim Beten dieses Kreuzweges ist einmal die Entscheidung für
das Gebet und die Bereitschaft, eine bestimmte Zeit nur dafür in Anspruch zu
nehmen. Der zweite Schritt führt dich in die Gegenwart Gottes. Er macht dir
bewusst, dass Jesus gerade dann anwesend ist, wenn du ihm zuhören willst, im
Geiste sein Antlitz schaust, zulässt, dass er dich wie die Sonne erwärmt und dass
sein Wort dein Herz trifft. Der dritte Schritt ist das Lesen der Texte und die
Bereitschaft, dich verändern zu lassen. Dieses Gebet wandelt dich und vereint
dich mit Gott.

Natürlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, den Kreuzweg zu betrachten. Du


kannst alles auf einmal durchgehen oder die Texte auf mehrere Tage aufteilen
oder so lange eine Station betrachten, bis dein Leben davon erfüllt ist.

Jede Station wird dich immer tiefer in die Gegenwart Christi führen. Sobald du
das Kreuz annimmst, das dir die Station anbietet, sobald du deine Situation in der
konkreten Form annimmst, wie sie in der Station dargestellt ist, wirst du Jesus
begegnen. Er wartet gerade dort auf dich, wo dein Kreuz ist. Er kennt jedes
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deiner Kreuze und hat sie alle auf sich genommen, um dich zu befreien. Das
Kreuz ist der Raum, die Möglichkeit deiner Begegnung mit Jesus. Also ist das
Kreuz kein sinnloses Leid, sondern ein Segen. Mit der Zeit wirst du lernen, auch
im Kreuz vor Freude zu jubeln. Statt dich zu ängstigen, wird dich das Kreuz
erfreuen, dein Leben erhellen lind zum Sieg führen. Kreuz und Leid haben Sinn
erhalten, denn Jesus Christus selbst wartet dort auf dich, der dir entweder das
Leid nehmen oder dir die Kraft geben wird, es geduldig zu ertragen. Die
Annahme des Kreuzes ist ein Sieg über Kreuz und Leid. Die Annahme der
Krankheiten, Schmerzen, des Todes und der Sünde führt dich in die Freiheit von
Leid, Krankheit und dem Einfluss des Bösen. Es ist der Weg in den Sieg. Wie
Moses in der Wüste das Kreuz mit der ehernen Schlange aufstellte, damit jeder,
der zu ihm aufsieht, vom Biss der Giftschlangen gesundet, so begegnen auch wir
beim Anblick des Kreuzes Jesus Christus, der uns heil macht. Da wir wissen, dass
in jedem angenommenen Leid Christus auf uns wartet, verliert dieses seine Kraft,
uns zu ängstigen und zu quälen. Das Leid hat seinen Stachel verloren, es treibt
dich nicht mehr in die Einsamkeit, Sinnlosigkeit und Niederlage, sondern führt
dich zu Sinn, Freude und Leben.

In diesem Kontext werden wir alle Stationen dieses Kreuzweges verstehen


können.

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DER KREUZWEG
Einführung

Sei dir bewusst, dass Jesus vor dir steht, und bitte ihn, dass er dich in das Geheimnis des
rechten Verzichtens einführt.

Jesus, ich möchte dir begegnen. Leite mich auf deinem Weg. Maria, lehre mich, am Wort
Jesu ständig festzuhalten, wenn ich auf die Kalvaria meines Lebens gehe. Hilf mir, dass
auch ich so wie du gerne einwillige und sage »Mir geschehe«. Hilf mir, alles zu befolgen,
was mir Jesus sagt. Vater, hier bin ich. Ich möchte in das Geheimnis deines Sohnes
eingehen, damit du mich heute als dein Kind erkennen kannst, das zu dir zurückkehrt.

Amen.

12
I. STATION
Jesus wird zum Tod verurteilt

DAS ERSTE KREUZ


Die Verurteilung annehmen

Höre auf Jesus, wie er dir sagt: Man


hat über mich geurteilt und mich
schließlich verurteilt. Das Volk, das
meinen Predigten gelauscht hat, war
einig mit den staatlichen und
religiösen Machthabern, mich zu
verurteilen. Meine Freunde und
Apostel sind geflüchtet. Noch vor
kurzem waren sie voller Lob über
mich, sie staunten über die Wunder,
drängten sich, mich zu berühren,
und versicherten mich ihrer Treue.
Jetzt aber sind sie alle gegen mich
und verlangen von Pilatus meine
Kreuzigung. Der Ausländer Pilatus möchte mich freigeben. Doch meine
Mitbürger zwingen ihn, das Urteil über mich zu sprechen.

Die Menschen um dich, sogar deine allerbesten Freunde, werden über dich
urteilen und dich verurteilen. Das bedeutet nicht, dass du immer schuld bist.
Immer wirst du aber gerichtet werden. Jetzt wird dir klar, dass auf die Menschen
letztlich kein Verlass ist. Sicherer und fester Halt ist allein in Gott. Dieses Kreuz
befreit dich von den Menschen, auf die du dich stützt, und lädt dich ein, dich an
mich zu lehnen. Wenn dich die Menschen verurteilen, kannst du auf meine Seite
überwechseln. Denn auch mich haben sie beurteilt und verurteilt. Wehre dich
nicht, wenn man über dich richtet. Das Urteil kann dich nicht auslöschen, es lässt
dich nicht allein, es bringt dich zu mir und führt dich in die Herrlichkeit. Dieser
Schuldspruch ist deine Tür zu mir, zu einer Begegnung mit mir. Jetzt kann dich
niemand mehr verurteilen.

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II. STATION
Jesus nimmt das Kreuz auf sich

DAS ZWEITE KREUZ


Den Alltag annehmen

Ich hätte mich wehren können oder


wünschen können, dass man mich
verteidigt. Ich hätte sagen können: Ich
bin unschuldig, warum sollte ich leiden?
Doch ich habe das Kreuz ohne Murren
auf mich genommen.

Jeder Augenblick deines Lebens ist ein


Kreuz. Du kannst es annehmen oder
abwerfen. Du kannst davor flüchten
oder ihm begegnen. Ich habe es auf
mich genommen. Somit weißt du, wo
ich zu finden bin. Deine Kraft liegt nicht
im Laufen. In jedem Augenblick wirst
du vor die Entscheidung gestellt, ob du
mir nachfolgen willst.

Das ist das zweite Kreuz. Nur wenige erkennen es. Viele suchen
außergewöhnliche Kreuze. Doch das Kreuz ist einfach da — im Annehmen des
Alltags. Der Alltag ist dein Leben und dein Kreuz. Nimmst du es auf dich,
erhältst du viele Gnaden, und dein Glaube entfaltet sich rasch.

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III. STATION
Jesus fällt zum ersten Mal unter dem Kreuz

DAS DRITTE KREUZ


Den Mut haben zu fallen

Es ist schwer zu fallen. Jeder wünscht


sich, auf den Füßen zu bleiben,
durchzustehen und zu obsiegen. Ich bin
Gott, aber dennoch falle ich unter dem.
Kreuz, ohnmächtig. Alle haben meine
Wunder gesehen und über mich gestaunt.
Jetzt aber sehen sie mich fallen, ge-
schlagen, verachtet.

Habe Mut zu fallen und deinen Fall nicht


zu beschönigen, sondern zuzugeben. Auf
der Erde kannst du nicht anders werden.
Du bist hier, um zu sterben. Denn es heißt:
»Wer sein Leben verliert, wird es finden. «
Warum hast du Angst zu fallen? Warum
wagst du es nicht, den Menschen in die Augen zu sehen, wenn du eine
Niederlage erlitten hast, wenn sie klüger sind als du? Warum fürchtest du dich,
wenn dich Sünden belasten? Du möchtest gut durchkommen. Doch schau —
wenn du fällst, kommst du zu mir. Fürchte dich nicht, das Fallen bedeutet nicht
das Ende. Warum nimmst du es so tragisch, warum schämst du dich? Du fällst,
um mir näher zu kommen, damit ich dich aufrichten kann. Wenn du verstehst,
dass auch ich gefallen bin, dann wirst du in deinem Fall mein Antlitz erblicken,
und wir werden die Sünde und die Niederlage miteinander besiegen. Wichtig ist,
beim Fallen nicht allein zu bleiben, sondern zu mir heranzurücken.

15
IV. STATION
Jesus begegnet seiner Mutter

DAS VIERTE KREUZ


Geliebte Menschen betrüben müssen

Es ist unmöglich, jemand, den du


liebst, nicht auch zu betrüben. Ich hätte
dieser Begegnung mit meiner Mutter
auch ausweichen können. Weißt du,
was es bedeutet, einem lieben Men-
schen zu begegnen, den du enttäuscht
hast? Ich wurde abgelehnt und von
allen verachtet wie ein Häretiker und
Verführer. Meine Mutter wusste
Bescheid. Sie sah meinen äußeren und
inneren Schmerz und schaute mir in
die Augen. Es ist unmöglich,
Menschen, die dich lieben, Augen zu
sehen, wenn dich alle verspotten. Es ist
unmöglich, Menschen, die dich lieben,
nicht zu enttäuschen. Du kannst sie
aber davor nicht verschonen. Lehne dieses Kreuz nicht ab. Du wirst mich finden,
wenn du erlebst, dass du deine Freunde betrübt hast. Du siehst, wie ihnen deine
Schwierigkeiten Schmerz bereiten. Das macht dir zu schaffen. Meine Mutter hat
bei meinem Niedergang verstanden, wer ich bin. In ihr starb auch der letzte
Wunsch, dass ich Erfolg habe, aber ihr Glaube entfaltete sich zu voller Größe.

Einen wahren Freund erkennst du dann, wenn er zu dir hält, auch wenn niemand
mehr etwas Lobenswertes an dir findet. Dann meint er nur mehr dich. Akzeptiere
das Anstoßerregende an dir. Akzeptiere es, dass du andere enttäuschst, und du
wirst mir und meiner Mutter begegnen.

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V. STATION
Simon von Cyrene hilft Jesus das Kreuz tragen

DAS FÜNFTE KREUZ


Zulassen, dass man dir hilft

Niemand hat mich mehr geachtet. So


viele habe ich gesund gemacht, aber
auch sie haben mich verlassen, wie
auch die, denen ich ganz nahe stand.
Verwundet und blutig, erschüttert
von der Begegnung mit meiner
Mutter, brauchte ich liebende Hände,
die mich stützen. Gekommen ist nur
jemand, den man genötigt hat. Ich
sehnte mich nach Hilfe aus Mitleid
und Liebe, Simon musste man
zwingen, mir zu helfen. Niemand zu
haben, der aus Liebe mit dir leidet, ist
ein Kreuz. Wenn du dieses
annimmst, dann bist du in deinem
Leid nicht mehr allein, denn ich bin bei dir.

Und noch etwas. Habe Mut, dir von anderen helfen zu lassen. Ich habe es auch
getan, wo ich doch allmächtig bin. Lasse es geschehen, dass dich andere
überragen, dass sie sich um dich annehmen, dass du sie brauchst. Das ist das
Kreuz und ihm kannst du nicht ausweichen. Verstehe, dass das eine Tür zu mir
ist. Wundere dich also nicht, wenn sich alles in dir diesem Kreuz widersetzt.
»Denn das Begehren des Fleisches richtet sich gegen den Geist, das Begehren des
Geistes aber gegen das Fleisch.« (Gal. 5, 17). Nimm also dein Kreuz und folge mir
nach. So bist du bei mir.

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VI. STATION
Veronika reicht Jesus das Schweißtuch

DAS SECHSTE KREUZ


Gutes annehmen ohne Gegenleistung

Alles haben sie mir genommen. Und


alle haben mich verlassen. Ich war
allein, besitzlos, auf dem Weg zum Tod.
Da trat Veronika zu mir und reichte mir
ein Tuch. Weißt du, wie es einem dabei
ergeht? Ich war gerührt und voller
Dankbarkeit, aber ich besaß nichts,
womit ich ihr hätte vergelten können.
Ich hatte nichts anderes als mein Leid
und die Schmerzen. So gab ich ihr den
Abdruck meines blutigen Antlitzes.

Ein Kreuz ist es zuzulassen, dass dir die


Menschen Gutes tun, ohne dass du die
Möglichkeit hast, es ihnen zu vergelten. Habe Mut und tu das, was du bei mir
gesehen hast. Lass es zu, dass du etwas schuldig bleibst. Man braucht nicht alles
zu bezahlen. Gib als Gegenleistung dich selbst. Lerne es, dich beschenken zu
lassen, ohne im Krämergeist an Revanche zu denken. Das ist eine Tür zu mir: die
Beschämung erdulden, wenn du nicht geben kannst. So findet eine Begegnung
mit mir statt, und du erkennst den Vater, denn auch ihm kannst du nicht vergel-
ten, was er dir schenkt. Er ist wie eine Quelle, die ihr Wasser gratis verströmen
lässt. Wenn du so bist, dann bist du ein Kind meines Vaters. Nimm auch dieses
Kreuz an, Gott seine ganze Liebe nicht erstatten zu können. Sei wie ein Kind, das
die Güte von Vater und Mutter genießt.

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VII. STATION
Jesus fällt das zweite Mal unter dem Kreuz

DAS SIEBENTE KREUZ


Rückfällig werden

Einmal bin ich schon gefallen. Alle wollten


mich stark sehen. Aber ich fiel ein zweites
Mal. Ich wusste, das wird meine Mutter
entsetzen und bei meinen Gegnern Spott
hervorrufen. Meine Freunde werden sich
aus Enttäuschung von mir zurückziehen.
Meine Schwäche empörte alle, und sie
fragten sich: Ist das wirklich Gott? Ich habe
dieses Kreuz auf mich genommen. Mein
Vater wollte zeigen, dass er in mir stärker
ist als jedes Ärgernis.

Fällst du das erste Mal, hast du noch immer


eine Ausrede, doch wenn du ein zweites
Mal schwach wirst, dann kann dir jeder
nachweisen, dass du nichts taugst. Du wirst
dich gegen dieses Kreuz stemmen, wirst alles wieder gut machen und dich
rechtfertigen wollen. Aber das entfremdet dich mir. Damit nämlich bezeugst du
nicht mich, sondern dich, damit willst du nur die eigene Kraft beweisen. Sei dir
bewusst, dass du immer wieder fallen wirst, aber ich werde dich aufheben. Dann
wird man sagen: Schau, jemand hat ihm aufgeholfen.

Dein siebentes Kreuz besteht darin, dass du deine Schwäche zugibst. Fürchte dich
nicht zu fallen, sondern wende dich mir zu. Wenn du dieses Kreuz annimmst,
findest du mich darin, denn nur das bloß Menschliche erleidet hier eine
Niederlage, der Geist aber obsiegt.

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VIII. STATION
Jesus tröstet die weinenden Frauen

DAS ACHTE KREUZ


Im eigenen Leid andere trösten

Frauen haben mir zugehört, mir geglaubt,


mich liebgewonnen. Ich habe ihre Kinder
gesegnet. Sie schauten mich mit ihrem
Herzen, und sie konnten es nicht
verstehen, dass mich jemand verurteilt. Sie
weinten, weil sie fühlten, dass mit dem
Urteil über mich auch das Urteil über das
Leben gesprochen ist. In ihrer Traurigkeit
sprach ich ihnen Trost zu.

Das ist das Kreuz, das eigene Leiden


überwinden und dahinter die Freiheit
erblicken. Kein Schmerz ist letztlich
tragisch. Tragisch ist die Herzenshärte und
die Blindheit. Nicht zu erkennen, dass
hinter jedem Tod die Auferstehung wartet, hinter der Krankheit die Genesung,
hinter dem Abschied das Wiedersehen. Zulassen, dass dich Selbstmitleid
überfällt, das ist tragisch.

Den Sieg erringst du dort, wo du das Leid anderer siehst und Trost spendest,
wenn du selber Trost brauchst. Dann kommt für dich der Trost von Gott.

Hab Mut, auf menschlichen Trost zu verzichten und die Kraft von Gott zu
erbitten. So besiegst du die Welt. So gehst du einen Kreuzweg, aber er führt dich
ins Leben. Wenn du selber verwundet bist und Schmerzen hast, aber andere
tröstest, dann findest du mich, und ich werde deine Stütze sein.

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IX. STATION
Jesus fällt das dritte Mal unter dem Kreuz

DAS NEUNTE KREUZ


Eine totale Niederlage erleiden

Ich bin auch ein drittes Mal gefallen. Die


Leute meinten, es sei mein endgültiges
Zusammenbrechen. Und gerade jetzt, da
sie annahmen, ich würde es nicht mehr
schaffen, raffte ich mich auf, ergriff das
Kreuz und schleppte es auf Golgotha.
Man kann auch dann weiter, wenn es
niemand mehr für möglich hält.

Es kommt der Augenblick, wo man dir


sagen wird: »Von dir ist nichts mehr zu
erwarten. Aus!« Du selbst wirst denken:
»Ich kann nicht mehr. « Es kommt der
Augenblick deiner vollkommenen
Hilflosigkeit. Das ist der Zeitpunkt deiner Kapitulation, der Erkenntnis, am Ende
zu sein. Wirst du da die Hoffnung sinken lassen? — Fürchte dich nicht. Es gibt
noch eine Tür, und hinter ihr wirst du mir von neuem begegnen. Wenn du nicht
mehr mit dir selbst rechnen kannst, dann bin ich da. Du wirst aus tiefster Seele
nach mir schreien, und ich werde antworten.

Ein Kreuz ist es, endgültig zu verlieren und verlassen zu sein, wenn keiner mehr
etwas auf dich setzt, wenn man dich aufgibt. Wenn du dieses Kreuz aber
annimmst, werde ich dich mit meiner Gegenwart und Kraft überraschen. Du
wirst in meinem Namen bis ans Ende der Welt gehen. Wirst du dieses Kreuz
annehmen? Sorge dich nicht, denn ich bin bei dir. Ich habe die Welt besiegt.

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X. STATION
Jesus wird seiner Kleider beraubt

DAS ZEHNTE KREUZ


Zulassen, dass man dich entkleidet

Ich ließ es zu, dass man mich auszieht, dass


man mir auch das Intimste nimmt. Ich ließ
es geschehen, dass man sich über mein
Schamgefühl hinwegsetzt, und meine
Intimsphäre verletzt.

Du willst wenigstens irgendetwas für dich


allein haben, ein Stück Welt, das dir allein
gehört, wo niemand Zutritt hat. Du willst
etwas haben, was niemand sehen soll, man
würde sonst deine Ehre antasten. Du wirst
es hüten und vor den Augen anderer
verbergen. Du wirst meinen, ein Recht
darauf zu haben. Du möchtest es um jeden
Preis behalten als das Intimste, was dir gehört, und du wirst darum kämpfen.

Doch es kommt der Augenblick, wo du nichts mehr für dich retten kannst. Es gibt
Situationen, in denen man alles auslassen muss, nichts gehört dir mehr allein.
Man nimmt dir das letzte weg. Du musst auch durch dieses Kreuz hindurch.
Schenke Gott alles. Als einzige unberührbare Intimität bleiben wir dir, mein Vater
und ich.

Nicht nur das ist ein Kreuz, wenn der Leib gewaltsam entkleidet wird.

Noch schmerzhafter ist es, wenn man dir die Seele entkleidet. Die Sünden haben
dir schon längst die Hülle weggenommen und du schämst dich. Nimm dieses
Kreuz an, und niemand wird dich mehr entehren können. Gestatte es dem Vater,
dir ein neues Kleid zu geben. Gib ihm deine Intimität hin, er wird sie in vollkom-
mene Unschuld verwandeln. Du bemühst dich umsonst, schuldlos zu bleiben.
Heute gesteh dir ein, dass du dazu zu schwach bist. Das ist das zehnte Kreuz —
das Kreuz der mit Füßen getretenen Scham, der Sehnsucht nach Unschuld, das
Kreuz der Angst, dass jemand von deiner Schuld erfahren könnte. Nimm dieses
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Kreuz an, und du wirst mir begegnen. Deine Angst wird schwinden. Gib zu,
schwach zu sein, nicht anders als du bist: ein durch die Sünde entehrter Mensch.
Gestehst du das ein, kann dir niemand mehr etwas anhaben.

XI. STATION
Jesus wird ans Kreuz geschlagen

DAS ELFTE KREUZ


An sein Kreuz geschlagen sein

Solange du das Kreuz trägst, hast du


noch immer die Möglichkeit, es
abzuwerfen. Doch wenn man dich
einmal darauf nagelt, kannst du nicht
mehr entrinnen.

Jetzt weißt du, das Kreuz ist deine


Bestimmung bis zum Tod. Das
einzusehen ist schwer. Du würdest
deine Kreuze gerne abwerfen, doch du
bist an sie genagelt. Sie sind jeweils der
Platz, auf dem du sterben wirst. Die
Mitmenschen werden dich auf die
Kreuze nageln. Erschrickst du oder
verlässt du dich ganz auf mich? Es gibt
Kreuze, denen du nicht entrinnen
kannst. Du mühst dich umsonst, ihnen auszuweichen. Gib diesen sinnlosen
Kampf auf und komm zu mir. Das Sterben mit mir bedeutet Gewinn. Fürchte
dich nicht! Gib dich nicht der Täuschung hin, es gäbe eine andere Möglichkeit.
Die Kreuze bleiben bis zum Ende, und je früher du dich in das Sterben einfügst,
desto früher wirst du auferstehen. Merke dir dieses elfte Kreuz. Denn du bist
nicht nur an das Kreuz ein für allemal geheftet, sondern auch an mich. Ich freue
mich darauf.

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XII. STATION
Jesus stirbt am Kreuz

DAS ZWÖLFTE KREUZ


Auf dem Kreuz sterben

Tot. Ich gehe von der Welt, aber nicht ins


Nichts, sondern um in neuer Weise zu
leben. Durch den Tod erfüllte ich den
Willen meines Vaters. Deshalb sagte ich
im Sterben: »Vater, in deine Hände gebe
ich meinen Geist. « So vollendete ich den
Plan des Vaters.

Du meinst, der Tod sei das Ende, und


deshalb lebst du in Angst und widersetzt
dich dem Gedanken an den Tod. Doch
solange du ihn nicht akzeptierst, fühlst
du eine Last auf deinen Schultern. Wenn
du den Tod annimmst, erringst du den
Sieg und kommst zu mir. Ich bin dir fern,
solange du den Tod ablehnst und mich bittest, dich davor zu verschonen. Verste-
he, der Weg zu mir führt nur über den Tod. Denn der Tod vernichtet alles, was
sündhaft und sterblich an dir ist. Ich aber vernichte den Tod selbst. Der Tod
befreit dich von den diversen Kreuzen, ich aber vom Tod. Riskiere heute einen
Blick in die Augen des Todes. Betrachte dieses Kreuz als ein Geschenk des Vaters,
als Erfüllung. Der Vater hat auch den Tod zugelassen. Wenn du dich also dem
Sterben widersetzt, widersetzt du dich dem Vater und mir. Das zwölfte Kreuz ist
der Höhepunkt, gleichsam ein Fest, die Vollendung. Es ist der Beginn des
eigentlichen Lebens.

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XIII. STATION
Jesus wird vom Kreuz genommen

DAS DREIZEHNTE KREUZ


Die Früchte seiner Arbeit nicht
genießen können

Erst als ich tot war, kamen meine


Freunde. Du bist ein Same für
kommende Zeiten. Du aber
möchtest gleich die Früchte deiner
Arbeit sehen. Meine Jünger
sterben oft in Hoffnungslosigkeit
— und Schande, und nicht sie,
sondern andere ernten, was sie
gesät haben. Andere erlangen
Freunde und Leben. Für dich ist
jetzt der Zeitpunkt, als Same für
eine neue Welt zu dienen. Das ist
dein Kreuz. Ich schenke dir dazu
das nötige Vertrauen, denn zeit
deines Lebens findest du kaum Erfolg. Erst nach deinem Tod wird man dich vom
Kreuz nehmen, erst dann wird dir Ehre zuteil. Eine Ewigkeit wird dich kein
Kreuz mehr drücken, weil du den Mut gehabt hast, im irdischen Leben auf ihm
zu hängen. Arbeiten und die Frucht der Arbeit nicht genießen zu können, das ist
das dreizehnte Kreuz. Es braucht Mut, Samen auszustreuen, ohne selber ernten
zu können. Doch die Frucht deiner Entsagung bin ich. Ich aber führe dich zur
Auferstehung.

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XIV. STATION
Jesus wird ins Grab gelegt

DAS VIERZEHNTE KREUZ


Menschlich betrachtet ohne
Hoffnung leben

Meine Freunde dachten, mir die


höchste Ehre erwiesen zu haben,
als sie meinen Leib ins Grab
legten. Sie sorgten sich um den
Leib und vergaßen, was ich ihnen
gesagt habe: »… am dritten Tag
werde ich auferstehen«.

Das Grab beunruhigt dich. Wenn


der Grabhügel errichtet ist, gibt es
dich nicht mehr. Wenn hinter dir
nicht die geringste Spur bleibt,
was wirst du dann tun? Wenn du weißt, dass niemand zu deinem Begräbnis
kommt, wenn du dein Leben im Elend beendest, unbekannt, dann bin ich es, der
dich sicher kennt.

Es ist ein Kreuz, auch den letzten Wunsch zu begraben, den Wunsch, hier etwas
zu gelten. Denn dieser Wunsch hindert dich daran, wirkliche Bedeutung zu
haben, für andere Licht zu sein. Wie kannst du Licht sein, solange du dich
scheust, die dunkle Eigensucht mit dir, zu begraben; solange du zu mir willst,
aber hinter dir die Brücken nicht abreißt? Erst dann kann ich nämlich dein Leben
umwandeln. Begrabe deine Wünsche und nimm das vierzehnte Kreuz auf dich.
Über ihm schwebt die Auferstehung. Deshalb freue ich mich über den Grabhügel,
unter dem dein Hochmut begraben liegt. Du willst noch nicht ins Grab, noch
entsetzt dich der Gedanke, die Vorstellung, von deinem Leben zu lassen. Deshalb
bist du tot. Würdest du dir selber sterben, dann könntest du zu meinem Leben
erstehen. Nur ein Toter kann auferstehen. Fürchte dich nicht! Was du »Tod«
nennst, ist eine Brücke von dir zu mir. Der Tod der Sünde bedeutet Freude und
Vereinigung für dich und mich, die Erfüllung aller Wünsche und Sehnsüchte. Ich
bin diesen Weg schon gegangen und warte auf dich. Verstehst du nicht, dass ich

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durch meinen Tod nicht von der Erde gegangen bin, sondern dass sie mir erst
jetzt richtig gegeben ist? Vorher war ich auf der Welt nur Gast. Jetzt bin ich Herr.
Auch du wirst sein wie ich. Überlasse dem Tod, was ihm ohnedies gehört.
Betrachte das Grab nicht mehr als traurigen Schluss, sondern als Geburt und
eigentlichen Anfang. Stirb deinem Stolz, und es leuchtet dir auf das Morgenrot
des Osterfestes.

ABSCHLUSS DES KREUZWEGES

Vater, danke für diesen Kreuzweg. Ich habe meine Kreuze kennengelernt, die ich täglich
auf mich nehmen muss, um deinem Sohn zu folgen. Jetzt weiß ich, wie man alles
annimmt, wie man sich lossagt, wie man vergibt und liebt, trotz allem. Jetzt weiß ich, wie
man stirbt, bevor man stirbt, und wie man dem Leben begegnet.

Danke, dass ich jetzt in dein Königreich trete. Ich sage mich los von meinem Willen und
nehme deinen an. Ich nehme dein Wesen an, bin dein Kind und deine Freude.

Vater, mach es, dass schon heute meine Auferstehung wahr wird.

Amen.

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