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Martin Lindner

Das Fernsehen, der Computer und das Jahrhundert von „die Medien“.
Zur Konstruktion der mediasphere um 1950: Riesman, McLuhan, Bradbury, Orwell,
Leinster.

The Century of the Media

„The 20th century has been called 'the century of the media.' [...] The emergence
of non-literary media brought about a completely different media culture [...].“

Yoshihiro Oto (2000)1

„Zeitalter der Massen“, „Jahrhundert des Totalitarismus“, „Jahrhundert der Atombombe“, das
„elektrische Zeitalter“ ... Was auch immer das 20. Jahrhundert noch gewesen sein mag - aus
jetziger Sicht war es auch, und vielleicht vor allem, das Jahrhundert der Medien.2

Um 1900: Erfindung und in der Folge intensive Entwicklung von Film/Kino, Radio und
Fernsehen, zugleich Boom einer neuartigen urbanen Massenpresse;
Um 1950: Beginn des Fernsehzeitalter, zugleich Erfindung und erste kommerzielle Nutzung des
Computers;
Um 2000: Ablösung des Fernsehens als Leitmedium durch die Kombination
PC/Hypermedia/WorldWideWeb, zugleich Beginn eines neuen „Jahrhunderts der Medien“.3

Klare Markierungen. Viel zu klar vielleicht. Denn die suggestiven Eckdaten täuschen eine
Geschlossenheit und Evidenz vor, die die Konzepte von „Medien“ und „Mediengeschichte“
bislang durchaus nicht besitzen. Dabei sagt die Kurzchronik zweifellos irgendetwas über die
Mediengeschichte aus. Es ist nur sehr schwer zu sagen, was genau.

Hier ist die Arbeitshypothese durchaus nützlich, dass „um 1950“ die Mitte und die Schnittstelle
des century of the media bezeichnet. Denn zunächst einmal wird von hier aus einen doppelter
Blick auf die vergangene wie die kommende Jahrhunderthälfte möglich, der Überblick schafft
und doch nicht so leicht dem geschichtsphilosophischen Mythos des Anfangs bzw. Endes
erliegt. Das Fernsehen, das ab 1950 die nächsten Jahrzehnte prägt, erscheint so zugleich als
Konsequenz einer technischen Vision, die sich bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert nicht
nur technisch, sondern auch wortgeschichtlich manifestiert. (Der Ausdruck "télévision" wurde
1900 in Frankreich geprägt.) Und zugleich entsteht um 1950, vorläufig noch kaum begriffen,
eine neue technische Medienvision mit weitreichenden kulturellen Implikationen. Die Vision
vom Computer als global brain wurde dann mit den vernetzten Multimedia-PCs (Stand 2004)
zwar sicherlich noch nicht eingelöst, aber jedenfalls in Ansätzen verwirklicht.

Insgesamt ergibt sich so aus dem archäologischen Blick auf die Zeit um 1950 das Bild eines
überaus vielschichtigen Übergangs. Die Fruchtbarkeit des Schemas 1900 - 1950 - 2000

1 Yoshihiro Oto, Innovations in Media Communication Space, in: NIRA Review Winter 2000 Vol. 7
No. 1, S. 30f. (http://www.nira.go.jp/publ/review/2000winter/06oto.pdf, Abruf 04/2004).

2 Eine Google-Recherche (03/2004) ergab allerdings für "century of the media" nur sechs
verschiedene, eher entlegene Treffer. Die allerdings setzen die Evidenz der Formel
selbstverständlich voraus.

3 Rede der Staatsministerin Weiss am 07.12.2002. Die allerdings verbindet das mit einer
anfechtbaren Behauptung: „Das 21. Jahrhundert wird das Jahrhundert der Medien sein und im
Zentrum der modernen Mediengesellschaft steht der Film.“
(http://www.bundesregierung.de/Bundesregierung/Staatsminister/Reden-,
4979.453721/rede/Rede-der-Kulturstaatsministeri.htm, Abruf 04/2004)
besteht dann gerade nicht darin, dass es klare Verhältnisse schafft. Eher im Gegenteil: Es
lassen sich so Fragen präziser stellen, die die suggestive chronikalische Reihung überhaupt
erst aufwirft. Das betrifft vor allem drei Aspekte:4

Erstens: Was ist das „Versprechen eines Mediums“? Mit dem Fernsehen setzt sich ein neues
Medium durch, das dann bis um 1960 (in den USA etwas früher, in Europa etwas später) zum
Leitmedium wird. Aber was ist Ausschlag gebend, um von einem „Leitmedium“ sprechen zu
können? Die Durchsetzung bei den Nutzern hat zweifellos um 1950 in den USA die
entscheidende Schwelle überschritten (1951 1,5 Millionen Fernsehgeräte). Entscheidender ist
ein qualitatives Faktum: Um diese Zeit setzt auch ein diffuses kollektives Gefühl ein, das TV
tatsächlich als das Medium begreift, das der Gesellschaft und dem Einzelnen die repräsentative
Spiegelung der aktuellen Welt zurückwirft. Programminhalte und Programmvielfalt sind aber zu
diesem Zeitpunkt noch recht bescheiden und haben jedenfalls noch nichts mit dem voll
entwickelten Fernsehen der 1960er Jahre zu tun. Wenn man also um 1950 die entscheidende
medienhistorische Markierung ansetzt, geht man implizit eher von einem schwer fassbaren
„Versprechen“ des Mediums aus, dass hier erstmals spürbar wird.5 Was aber dieses
Versprechen eigentlich ausmacht und wo es entsteht, ist sehr schwer zu sagen. Zusätzliche
Schwierigkeiten ergeben sich, wenn man vom Fernsehen als „Leitmedium“ spricht (die
englische Entsprechung dominant medium ist da unverfänglicher). Was war dann vorher
„Leitmedium“ – das Kino, das Radio, die Massenpresse, das Buch? Gab es überhaupt ein
eindeutiges „Leitmedium“ in dem Sinn, wie dann das Fernsehen es wurde? Welche Kriterien
sind für eine solche Klassifikation Ausschlag gebend, wie nützlich ist sie und was folgt dann
daraus?6

4 Das betrifft im Prinzip aber auch die anscheinend deutlicheren Markierungen zu Beginn und
Ende des Jahrhunderts: Die Revolution der digitalen „Neuen Medien“ hatte zweifellos bis 2000
eine grundlegend veränderte Situation geschaffen. Allerdings vollzog sich parallel dazu weltweit
seit 1980 eine tiefgreifende Umwälzung auch im Bereich der audiovisuellen Medien (AV-Medien),
die mit dieser Digitalisierung unmittelbar nichts zu tun hatte. Demnach stellt sich die Frage, aus
welcher mediengeschichtlichen Perspektive die Vervielfältigung, zeitliche Ausweitung und
inhaltliche Veränderung der TV- und Radioprogramme mit der gleichzeitigen Durchsetzung von
PC, Multimedia, Internet und WWW zusammengedacht werden kann. Ein ähnliches Problem stellt
sich für den Beginn des Jahrhunderts: Es lassen sich auf verschiedenen Ebenen markante
Einschnitte setzen, aber diese liegen auf sehr verschiedenen Ebenen. So wurde zweifellos um
1900 das technische Konzept von Radio und TV entwickelt, und damit implizit auch das neue
mediale Konzept des broadcasting. Zum „Medium“ im engeren Sinn wurden sie erst Jahrzehnte
später. Daneben erreichte zwar Film/Kino sehr schnell ein Massenpublikum, aber auch hier ist
durchaus unklar, ob und wenn welche medienhistorischen Folgerungen aus der allerdings
auffälligen Synchronie gezogen werden sollen.

5 Der Versuch, „die Dynamik der Medienentwicklung“ als eine Struktur zu begreifen, aus der sich
„Wunschkonstellationen“ und „Versprechen“ der jeweils neuen Medien herauslesen lassen, ist der
Ausgangspunkt von Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München
2002 [PDF-Ausgabe, Druckausgabe 1997], S. 17, 27, 55. Die Denkfigur ist durch Freud angeregt,
wird dann von Winkler aber weitgehend ohne Rückgriff auf psychoanalytische Theorie angewandt
(die gleichwohl einen suggestiven Hintergrund bildet). Den Kern des „Versprechens“ der Medien
sieht Winkler in der vereinheitlichenden Abbildung und Modellierung der Welt: Zuerst ganz
allgemein im Gegensatz zum bedrohlichen Durcheinander der semiotisch unbewältigten 'primären'
Welt , seit den AV-Medien aber auch und vor allem als Flucht vor dem „Grauen vor der
Arbitrarität“ (ebd., S. 214), das gerade der große Bewältigungsversuch durch Schrift/Druck
zusätzlich erzeugt hatte.
Zweitens: Wann wurde der Computer zum Teil von „die Medien“? Mit der technischen
Entwicklung und ersten kommerziellen Nutzung des Computers wurden um 1950 die
Grundlagen für die Neue Medien-Revolution der 1990er Jahre gelegt. Das aber würde noch
nicht ausreichen, um unter diesem Gesichtspunkt den medienhistorischen Einschnitt „um
1950“ zu privilegieren. Die Geburt des „Computer als Medium“ ließe sich auch um 1970
ansetzen, als Engelbart, Kay, Licklider u.a. die grundlegenden Elemente des Personal
Computer entwickelten und das erste Arpanet entstand, oder um 1980, als der PC
massentauglich wurde, oder um 1990, mit der Entwicklung des PC zur Multimedia-Maschine
und der Konzeption des World Wide Web. Umgekehrt hat es weitreichende Folgen für eine
Theorie der Medien, wenn man John von Neumanns Computerarchitektur, den Turing-Test, die
ersten IBM-Rechner oder die neue Universalwissenschaft „Kybernetik“ bereits als Daten einer
Mediengeschichte im engeren Sinn begreift. Dass es sich hier zumindest um zwei
grundverschiedene Typen von „Medien“ handelt, macht schon die unterschiedliche linguistische
Form deutlich: „der Computer“ vs. „das Fernsehen“.7 Die entscheidende Frage ist also, wie
über den bloßen lexikalischen Kurzschluss hinaus ein einheitliches Beschreibungsmodell
beschaffen sein müsste, dass es ermöglicht, die frühen Computer und das Fernsehen unter
einen aussagekräftigen Begriff von „die Medien“ zu fassen. Insbesondere wäre zu prüfen,
inwiefern der frühe Computer, der ja vor allem „Rechner“ war, auch ein medienhistorisches
„Versprechen“ enthielt, das dann aber mit realen Leistungen noch nichts oder kaum etwas zu
tun hatte. Dafür spräche jedenfalls, dass der Computer in einem gewissen Sinn tatsächlich
längst Teil der Medienkultur war, bevor die Nutzung als „Medium“ im engeren Sinn überhaupt
technisch konzipiert wurde: nämlich als wesentlicher Bestandteil der frühen SF-Literatur.

Drittens: Was ist Medienkultur, und welche Rolle spielt sie für medienhistorische Epochen?
Sicherlich bildete sich in dieser Zeit eine völlig neue Medienkonstellation heraus, mit einer
neuen Rollenverteilung und Charakteristik von TV, Radio, Film und Presse. Verwirrenderweise
scheint es aber, dass das neue Medium TV nicht einfach Ursache und Auslöser dieser
Medienrevolution gewesen ist. Tatsächlich hatte eine ganze Serie medienkultureller,
medientechnischer und medienökonomischer Entwicklungen bereits Mitte der 1940er Jahre
eingesetzt, die man unter dem Schlagwort „Proto-Popkultur“8 zusammenfassen könnte: der
zweite große Boom der Werbewirtschaft, eine Welle von neuen illustrierten Magazinen und von
Comic Books, die Massenproduktion der Jukebox und die Einführung der Vinyl-Single mit 45
rpm, die Erfindung des Transistorradios, der Hitparaden und der Proto-Popmusik, des
Rock'n'Roll und der DJ-Culture ... Zugleich erreichten 1948 auch die wöchentlichen Kino-
Besucherzahlen in den USA ihren Allzeit-Rekord.

6 Hier schließe ich mich Winklers Bedenken an: „Zudem verstellt die Rede vom Leitmedium allzu
leicht den Blick auf die Tatsache, dass es grundsätzlich Medienkonstellationen sind, ein Konzert
verschiedener ineinander verwobener Medien, die eine medienhistorische Situation bestimmen.
Wie aber müssen ›Leitmedium‹ und ›ergänzende Medien‹ zusammengedacht werden?“ (wie Anm.
5, S. 188).

7 Dass das noch in den Zeiten von Multimedia so ist, betont Winkler (wie Anm. 5, S. 217, Anm.
2): „Kein Mensch würde sagen, dass er vor dem Fernseher sitzt, um das Fernsehen
kennenzulernen; im Fall des Computers ist diese Begründung Standard.“ Noch komplizierter wird
die Sache dadurch, dass es sich im Fall des Radios zumindest in den ersten Jahrzehnten wieder
anders verhielt: Die ersten fanatischen Radiohörer saßen ja tatsächlich vor dem Radioapparat, um
ihn kennen zu lernen. Oder auch: Um das faszinierende Versprechen zu erleben, das vorerst noch
in erster Linie durch die Technik selbst verkörpert wurde.

8 „Pop“ als Schlagwort wurde nach 1956 in Londoner Künstlerkreisen geprägt und erstmals vom
Kunstkritiker Lawrence Alloway 1957 in einer Publikation benutzt. Zur Bezeichnung einer ganzen
Medienkultur wurde es dann ab 1964, als die Pop Art und die Beatles zeitgleich ihren Durchbruch
erlebten.
Unter diesen Gesichtspunkten soll nun im Einzelnen gefragt werden, was um 1950 „die
Medien“ ausmachte: als Terminus, als technisch und ökonomisch binnenlogisch sich
entwickelnde Strukturen, als „Versprechen“ der einzelnen Medien bzw. von „„die Medien“„
insgesamt. Zu diesem Zweck werden vornehmlich Bücher und Buchautoren herangezogen:
David Riesman, Marshall McLuhan, Ray Bradbury, George Orwell, Murray Leinster. Das mag
seltsam medienfern erscheinen, aber es hat schon seine Berechtigung. Tatsächlich ist die
Schriftsprache im Zeitalter der Medien keineswegs anachronistisch geworden. Die secondary
orality der Medien, die Walter Ong konstatierte, ist jedenfalls keine wie immer geartete
Rückkehr und könnte mit demselben Recht auch als "pseudo-primary literacy" begriffen
werden. Und noch das World Wide Web ist noch immer kein Bilduniversum oder gar ein
virtueller Cyberspace, sondern im Grunde immer noch ein docuverse, wie Hartmut Winkler,
seinerseits Ted Nelson zitierend, schon 1997 feststellte.

Nicht trotz, sondern wegen ihrer extremen Arbitrarität ist die Schriftsprache das geeignete
Meta-Medium, das die Beschreibung und Modellierung der „Medien“ und ihrer konstruierten
„Sinnlichkeit“ ermöglicht – sei es in Gestalt von Roman-Versuchsanordnungen, literarischen
Essays oder einer Analyse der medial geprägten „Semiosphäre“: “[spatial models created by
culture] are constructed not on a verbal, discrete basis but on an iconic continuum. [...] This
image of the universe can better be danced than told, better drawn, sculpted or built than
logically explicated. [...] But the first attempts of self-description of this structure inevitably
involve the verbal level with the attendant semiotic tension between the continual and the
discrete semiotic pictures of the world.”9

Diese Sätze sind auf Semiosphären im allgemeinen bezogen. Die moderne mediasphere seit
1900 konstituiert ein besonderes “image of the universe“, das einen doppelten Charakter hat:
sinnlich-ikonisch und verdeckt sprachlich. Sie ist ein System zweiter Ordnung, das von Anfang
an auf “self-description“ beruht. Die Aufgabe der schriftlich verfassten Medienwissenschaft,
wenn sie sich als eigenständig behaupten will, ist nicht zuletzt die Rekonstruktion und
Dekonstruktion dieser Selbstbeschreibung.

Die Entdeckung von „die Medien“

”Collins [...] may have declared recently that television was the winner of its competition to
find the word of the century, but the more general term media might perhaps be a better
choice.”

Michael Quinion (1998)10

”Da media. What is DA MEDIA? A lot of you out dere probably won't even have heard of da
WORD! So ... is books part of da media?”

(Ali G. a.k.a. Sasha Baron Cohen in The Ali G. Show, 2000)

Seit das Wort in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen ist, d.h. in den letzten zwei,
drei Jahrzehnten, verstand es sich immer schon von selbst, was „die Medien“ sind: Zeitungen,
Magazine, Radio, Film und Fernsehen, neuerdings das Internet. Trotzdem hatte der TV-
Comedian Ali G. Recht, als er 2000 seine falsche Talk Show mit echten Medienwissenschaftlern
einleitete: In gewissem Sinn haben wir Medienmenschen noch nicht einmal das Wort gehört,
gerade weil es so allgegenwärtig ist wie die Medien selbst: “Fish don't know water exists till

9 Yuri M. Lotman, The Mediasphere. Teil II von: Yuri M. Lotman, Universe of the Mind. A Semiotic
Theory of Culture. Introduction by Umberto Eco, London, New York 2001. (S. 121 - 214, Zitat S.
203.)

10 Michael Quinion 1998 in einem Eintrag („medium“) in seiner linguistischen Website World Wide
Words (www.quinion.com/words, Abruf 04/2004).
beached“ (McLuhan). 11 Aber das Wort wird offenbar dringend benötigt, um Phänomene zu
bezeichnen, für die andere Worte nicht passen. Und vielleicht ist ja auch die Tatsache, das
jemand wie Ali G. diese Frage stellt, ein Indiz dafür, dass sich irgend etwas an der
Beschaffenheit des Wasser verändert hat.

Es waren bezeichnenderweise tatsächlich die Jahre um 1950, als der Ausdruck "the media", so
wie er heute gebraucht wird, allmählich aufkam. Gebraucht wurde er, als sich in den suburbs
der USA die neue Mittelstandskultur herausbildete, die in eben diesem Jahr David Riesmans
soziologischer Bestseller The Lonely Crowd beschrieb und analysierte:12 “Dem Konsum von
Bildung, Freizeit, Luxus und öffentlichen und privaten Dienstleistungen entspricht die
Steigerung des Konsums von Wort und Bild durch die neuen Massenkommunikationsmittel.
[...] Die Verbindung mit der Außenwelt und mit dem eigenen Ich wird in zunehmendem Maße
durch das Medium der Massenkommunikationsmittel hergestellt.“ (37; meine Hervorhebung)

Riesmans Buch weist über 45 Fundstellen für "media of mass communication" auf. Die
deutsche Übersetzung von 1956 übersetzt das jedoch noch nicht mit „Medien“, sondern mit
„Massenkommunikationsmittel“. Einmal entsteht so der verschraubte Ausdruck „Medium der
Massenkommunikationsmittel“, der besonders sinnfällig macht, dass man für den neuen
Terminus hier noch keine Verwendung hatte. Jedoch blieb aber Riesman auch in den USA
vorläufig eher ein Einzelfall. Der Ausdruck "the media of mass communication" bürgerte sich
erst ab ca. 1960 allgemein ein, wobei aber auch dann noch die Betonung auf communication
lag. Das zuständige wissenschaftliche Paradigma war die Theorie der „Kommunikation“ bzw.
der „Massenkommunikation“, die selbst erst in den 1940er Jahren ausformuliert worden war
und für „die Medien“ als theoretisch eigenständige Größe keine Verwendung hat. Noch lange
blieben sie auch für die akademische Wissenschaft so unsichtbar, wie es McLuhans Fisch-
Gleichnis behauptet.

Riesman ist eine frühe Ausnahme. Er spricht zwar auch von "media of mass communication",
doch er betrachtet die Medien de facto eben nicht einfach als Vermittlungsinstanzen von
zwischenmenschlicher Kommunikation, sondern als eigendynamisches und rückkoppelndes
System, bei dem eben nicht mehr klar ist, wer hier „sendet“ und wer „empfängt“. Die Medien
erscheinen hier als entscheidender Umwelteinfluss für den neuen sozialen Typus, der
umgekehrt als Konsument wie auch als Gegenstand die selben Medien selbst prägt und
verändert.(96) Zu diesen neuen Medien, die den neuartigen „außengeleiteten Charakter“

11 Diese prägnante Version des berühmten Fisch-Gleichnisses stammt aus Culture is Our
Business, New York: McGraw Hill 1970, S. 191. Ausführlicher ist die frühere Formulierung aus
dem berühmten Playboy-Interview:”>I call this peculiar form of self-hypnosis Narcissus, a
syndrome whereby man remains as unaware of the psychic and social effects of his new
technology as a fish of the water it swims in. As a result, precisely at the point where a new
media-induced environment becomes all pervasive and transmogrifies our sensory balance, it also
becomes invisible” (High Priest Of Pop-Cult. An Interview With Marshall McLuhan, in: Playboy,
März 1969, 53-74, S. 56). Am populärsten ist allerdings eine Sprichwortfassung, die sich nicht bei
McLuhan selbst findet:”>I don't know who discovered water, but I'm sure it wasn't a fish.” Dass
es sich hier, wie auch kolportiert wird, um ein ghanaisches Sprichwort handelt, kann
ausgeschlossen werden. In Umlauf scheint diese Version der alte McLuhan-Mitstreiter Edmund
Carpenter gebracht zu haben, der dabei seinerseits den mündlichen Ausspruch eines anderen
McLuhan-Freund zitierte: den Jesuiten John Culkin, der 1969 in New York das Center For
Understanding Media gründete.

12 The Lonely Crowd. A Study of the American Character (1950, zweite Auflage 1953) wurde 1954
eines der ersten seriösen Paperbacks überhaupt und damit selbst Symptom der
medienhistorischen Wende. Das Buch erreichte eine Auflage von 1,4 Millionen und brachte den
Autor auf das Titelblatt der Zeitschrift Time, die darin selbst eine durchaus prominente Rolle spielt.
erzeugen, zählt Riesman neben Radio, Kino, Comics bereits das Fernsehen, aber auch die
Zeitungen und vor allem die „Magazine“, die sich tatsächlich nach 1945 vervielfachten. Als
Soziologe entwirft er dabei noch keine Medientheorie, aber seine Phänomenologie einer neuen
Medienkultur hat durchaus theoretische Implikationen. In Ansätzen ist hier der medial turn
bereits vorgezeichnet, den dann in der Folge der Pionier McLuhan propagiert.13

An der medientheoretisch interessantesten Stelle seines Buchs nimmt Riesman sogar


McLuhans radikale The medium is the message-Formel vorweg, die dieser selbst erst 1959
prägte.14 Es sei falsch, schreibt er, die Massenmedien wegen ihres Inhalts zu fürchten und
wegen ihrer ästhetischen Form zu verachten, denn in der „unmittelbaren
Nachrichtenübermittlung“ liege nämlich gar nicht ihre eigentliche Stärke: „Wenn diese
Tatsache sowohl den Planern und Gestaltern der Massenkommunikationsmittel bewusst würde
[...] könnten sie das Medium selbst [!] an Stelle der übermittelten oder mutmaßlich
übermittelten Botschaften gestalten. [...] Ich möchte nämlich annehmen, dass ein Land, das
künstlerisch erstklassige Filme, Zeitungen und Rundfunkprogramme herstellt - einmal
abgesehen von dem Inhalt, der hier tatsächlich von untergeordneter Bedeutung ist - sowohl in
politischer als auch in sozial-kultureller Hinsicht lebensfreudiger und glücklicher werden
würde.“ (219)

So weit ich bis jetzt sehe, war Riesman der erste Theoretiker, der "media" (in der Mehrzahl)
systematisch zur Bezeichnung neuer Kulturphänomene einsetzte. Der erste jedoch, der den
Plural "the media" in den Titel eines wissenschaftlichen Textes setzte und die Eigendynamik
der Medien zum zentralen Thema machte, war vermutlich wirklich McLuhan im Jahr 1954.15
Als er das tat, hatte er mit Sicherheit Riesmans Aufsehen erregende Studie gelesen. Aber es
kam noch mindestens eine andere Quelle hinzu: Die Konzeption des "medium" (als Singular,
nicht abgeleitet vom Plural "the media"), die zur selben Zeit der Technik- und
Wirtschaftshistoriker Harold Innis entwickelte. Ein sehr früher Brief von McLuhan an Innis aus
dem Jahr 1951 zeigt allerdings, dass die grundlegenden Denkfiguren bereits ausgeprägt sind,
bevor er diese Bekanntschaft macht. Wie Riesman ging McLuhan aus vom sich abzeichnenden
Ende der literarischen Buchkultur. Er interessierte sich dann aber als Literaturwissenschaftler
sehr viel stärker für die neuartigen „Texte“ der elektronischen Medien. Die frühe Beschäftigung
mit der Werbung16 mündete in das Buch The Mechanical Bride. Folklore of Industrial Man
(1951), in dem er schon u.a. die Titelseite der New York Times als ein nicht-lineares „Mosaik“
von Zeichen analysierte. Darin scheint allerdings weder "medium" noch "media" als
theoretischer Terminus eine besondere Rolle gespielt zu haben. Besonderes Gewicht erhält der
Begriff (nicht das Phänomen) aber tatsächlich erst nach der Kenntnisnahme des Ansatzes von
Innis, der zuerst "medium" mit einer spezifischen Materialität in Verbindung brachte: „Ich habe
mich [ ...] um die Entwicklung der These bemüht, dass die Zivilisation in ihren verschiedenen
Stadien von unterschiedlichen Kommunikationsmedien beherrscht worden ist, wie z.B. Ton,
Papyrus, Pergament, und dem zunächst aus Stofflappen und später aus Holz erzeugten Papier.
Jedes dieser Medien ist für die jeweilige Schriftart von großer Bedeutung, und daher auch für
die jeweilige Form des Bildungsmonopols [...].“17

13 In einem frühen Aufsatz nimmt er auf Riesman explizit Bezug: Marshall McLuhan, David
Riesman and the Avant-Garde, in: Explorations 1957, H. 7, S. 112 – 116.

14 Marshall Mc Luhan, Myth and Mass Media, in: Daedalus 88 (1959), H. 2, S. 339 – 348.
Gekürzte deutsche Fassung in: Texte zur modernen Mythentheorie, hrsg. v. Wilfried Barner, Anke
Detken und Jörg Wesche, Stuttgart 2003, S. 120 – 138.

15 Media as Art Forms, in: Explorations, 1954, H.2 (April), S. 6 - 113; New Media as Political
Forms, in: Explorations, 1954, H.3 (August), S.120 - 126. In der Folge benutzte er parallel dazu
auch "mass media" zu gleichen le Teilen.

16 In den Aufsätzen American Advertising (1947) und The Age of Advertising (1953).

17 Harold Adams Innis, The press. A neglected factor in the economic history of the twentieth
century. Stamp Memorial Lecture, University of London, London 1949. Wieder abgedruckt in:
Es handelte sich für Innis darum, hinter den anscheinend unproblematischen
„Kommunikationsmedien“ die spezifisch materielle (und davon abhängig auch die
sozioökonomische Qualität) des „Mediums“ an sich herauszuarbeiten. Das „neue Medium“ par
excellence war hier nicht etwa das Radio oder das Fernsehen, sondern das Papier, im
Gegensatz zu Stein, Ton und Papyrus. McLuhan interessierte laut seinem Brief an dieser
Perspektive, dass mit diesem großangelegten historischen Blick die scheinbar
selbstverständliche Fixierung auf die "present literary epoch" überwunden werden konnte, um
so das Eigentümliche der neuesten "new media" ("the magazines, the radio and television") zu
erfassen, die den Schwerpunkt auf "visual-auditory communication" legten.18 Zugleich ergab
sich nun die Möglichkeit, diese Merkmale aus ihrer besonderen „elektronischen“ Materialität
herzuleiten.19

Von Anfang an ist also auch McLuhans Medienbegriff ambivalent, denn er entsteht aus einer
Verschmelzung der Bezeichnung für die zeitgenössischen "media", wie sie Riesman benutzt,
und der spekulativen Supertheorie des "medium", die Innis entwickelt (dessen Bücher freilich
immer noch "communication" im Titel tragen). Damit ist eine bis heute notorische Tendenz der
Mediengeschichte vorgezeichnet: Ging man gerade noch von der konkreten Erfahrung der
neuen Medienkulturen und Medientechniken aus, also etwa von Film, Radio, Magazinen und
Fernsehen, so ist man im nächsten Schritt schon bei „der Mensch“ und „das Medium“. Im Fall
des Pioniers McLuhan lässt sich das noch rechtfertigen. Sein Fisch-Bonmot deutet hierschon
an, warum der Sprung in die Spekulation möglicherweise am Anfang unvermeidlich war. Damit
der Akademiker das Wasser, in dem er lebt, als wissenschaftliches Objekt untersuchen kann,
muss er sich ja zuerst einmal an den Strand werfen ("getting beached"). Er muss künstlich
Distanz herstellen. Die weltgeschichtliche Mega-Perspektive ermöglicht das ebenso wie auch
die gewagten SF-Metaphern („elektronisches Nervensystem“), die McLuhan so gern
verwendet. Er ist dann allerdings einer der wenigen, bei denen solche Denkfiguren,
unabhängig von ihrer theoretischen Haltbarkeit, zweifellos zu einer Vielzahl von erstaunlich
fruchtbaren und verwertbaren Detailbeobachtungen führen.

Es gibt aber noch zwei weitere mögliche Quellen, aus denen man um 1950 einen neuen

Ders., Empire and Communication. London 1950. Es folgte noch der von McLuhan eingeleitete
Band The Bias of Communication, Toronto 1951.

18 Letter to Harold Adams Innis (Toronto, 14th March 1951), zitiert nach
http://www.gingkopress.com/_cata/_mclu/_innis.htm (Abruf 04/2004; Vorabpublikation der für
2005/2006 geplanten Briefausgabe). Sein künftiges Forschungsprogramm, das hier bereits
skizziert wird, betitelt McLuhan als“Communication theory and practice“ und zeigt sich dabei
besonders an Theorien interessiert, die Kommunikation in Analogie zum Nervensystem
beschreiben. Als zentrales Merkmal der ”new media” nennt er”>the new stress on visual-auditory
communication in the magazines, the radio and television”. Im übrigen bezieht er sich explizit auf
die Kommunikationstheorien von Karl Deutsch und Norbert Wiener, die er beide kritisiert wegen
ihrer “failure to understand the techniques and functions of the traditional arts as the essential
type of all human communication“. Dem stellt er Mallarmés Sicht der modernen Presse
gegenüber, die er interessanterweise in Beziehung zu Perspektive der “advertising agencies“
bringt. Tatsächlich ist die Perspektive der modernen Literatur wohl bis heute diejenige, die mehr
noch als die Werbung selbst imstande war, die Medien als eigenständiges kultursemiotische
System zu betrachten. Die Medienwissenschaftler, die zugleich Literaturwissenschaftler sind oder
waren, sind jedenfalls zahlreich: McLuhan, Barthes, Eco, Raymond Williams, Kittler, Hörisch und
viele weniger Namhafte (den Verfasser eingeschlossen).

19 Im Brief an Innis sprach McLuhan noch von "mechanical media", während er in der Folge dann
"mechanical" in Opposition zu "electronical" setzt.
„Medien“-Begriff hätte ableiten können, und es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass der
belesene und eklektizistische McLuhan sie im Prinzip kannte. In Horkheimer/Adornos Dialectic
of Enlightenment (1944) finden sich ein paar verstreute und insgesamt theoretisch
inkohärente Verwendungen von "medium/media". Wichtiger für McLuhans Begriff könnte eine
andere Tradition sein, die bis in die 1920er Jahre zurück geht und von Beginn an zum
Kollektivsingular tendiert: “The singular media and its plural medias seem to have originated
in the field of advertising over 50 years ago; they are apparently still so used without stigma
in that specialized field. [...] The great popularity of the word in references to the agencies of
mass communication is leading to the formation of a mass noun, construed as a singular
[...].”20

An dieser Stelle ist ein begriffsgeschichtlicher Exkurs nötig, da die überaus aufschlussreiche
und komplexe Entwicklung des Begriffs "media"21 seit 1900, so weit ich sehe, bis jetzt noch
nirgends zusammenfassend kommentiert wurde. Die exaktesten Angaben bislang finden sich
immer noch im Oxford English Dictionary.22 Daraus ergibt sich das Folgende:

Der Begriff medium als noch nicht verselbstständigtes lateinisches Wort konnte vor 1900 in
beinahe beliebigen Zusammenhängen verwendet werden, in denen es um die Funktion des
Vermittelns geht. In diesem Sinn wird er 1795 einmal beiläufig auch für das Gentleman’s
Magazine verwendet. Die nächste einschlägige Fundstelle stammt aber erst aus dem Jahr
1906, betrifft wieder den Singular medium und klingt bereits sehr modern: Eine Gazette gilt
als “the best advertising medium in the country“. Bezeichnend ist die Formel “advertising
medium“. Denn tatsächlich gibt das Dictionary erst wieder für die 1920er Jahre mehrere
Belege für media/medium, die einen eingeführten Wortgebrauch vermuten lassen, und die
stammen durchweg aus der Fachsprache der nach 1900 entstehenden Werbewirtschaft. Sie
markierte wohl den einzigen Blickwinkel, aus dem man am ehesten einen nüchternen und
analytischen Blick auf das neue Phänomen der „Medien“ werfen konnte, ohne sie gleich als
Ausdruck von Weltanschauungen, von Massenmanipulation usw. zu begreifen. Die zwei
späteren Belege (1927 und 1929) lauten dabei explizit auf “advertising media“. Die zwei
früheren Belege von 1923 stammen von unterschiedlichen Autoren im Sammelband
Advertising and Selling und verwenden die Zusammensetzung „mass media“, die aber hier,
dem amerikanischen Sprachgebrauch entsprechend, bereits ganz wertfrei verwendet wird.

Daraus folgt: Media ist nicht der Plural von medium. Der Singular in der hier interessierenden
verselbständigten Bedeutung ist offenbar erst dann sinnvoll und nötig, wenn es überhaupt
media gibt, d.h. viele verschiedenartige Printmedien (“newspapers, journals, magazines and

20 Merriam-Webster Dictionary Online, s.v. "media", http://www.m-w.com/cgi-bin/dictionary


(Abruf 04/2004).

21 Die deutsche Begriffsgeschichte ist dagegen vor ca. 1960 unergiebig. Niemand nannte hier die
Medien „Medien“, bevor der Begriff aus den USA importiert wurde. Die üblichen
begriffsgeschichtlichen Hinweise auf den spiritistischen „Medium“-Begriff der 1880er Jahre, der
seinerseits aus dem theologischen Kontext kommt, sind also eher von kultur- als von
mediengeschichtlicher Bedeutung. Und selbst für die USA ist eine direkte Beziehung eher
unwahrscheinlich: Im theosophischen Standardwerk Isis Unveiled von Helena Petrovna Balavatsky
(New York 1877) lautet der Plural von "medium" durchgehend "mediums". Eine Beziehung zu den
"advertising media" ist nicht zu erkennen.

22 Oxford English Dictionary (CD-ROM). 2nd ed. Version 1.13, Oxford 1994. Darauf bezieht sich
auch Michael Quinion (vgl. Anm. 10) und wohl indirekt auch Wolfgang Coy (vgl. den Hinweis in
Wolfgang Coy, Turing@galaxis.com II, in: Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg-Christoph Tholen
(Hrsg.), HyperKult - Geschichte, Theorie und Kontext digitaler Medien, Basel 1997, S.15-32. Zitat
S. 23. Draft-Version im Netz unter http://waste.informatik.hu-
berlin.de/Coy/Hamburg_11_96.html).
such-like printed publications“, 1929; der Beleg von 1927 verwendet den Terminus sogar
bereits als Kollektivsingular). Seit 1923 bezeichnet er auch verschiedenen Typen von Medien,
als das Radio als das erste grundlegend andere Medium eingeführt und sofort für Werbung
genutzt wird. Merkwürdigerweise scheint die Begriffsprägung, wenn man dem Dictionary folgt,
vorerst keine weiteren Folgen gehabt zu haben: Danach gibt es keinen Beleg für "media“ oder
"mass media" bis 1942, auch wenn anzunehmen ist, dass innerhalb der Fachsprache "media"
im engen technischen Sinn von „Werbeträger“ weiterhin verwendet wurde. (Diesen
fachsprachlichen Terminus technicus gibt es ja noch heute.)

Der Grund ist möglicherweise, dass sich nun ein theoretisches Paradigma ausformt, das
soziologische und sozialpsychologische Wurzeln hat und dem common sense folgend media als
bloße Vermittlungsinstanz von mass communication behandelt. Auch die parallelen
Bestrebungen der US-Werbewirtschaft um Scientific Advertising (so der Titel des
bahnbrechenden Buchs von Claude C. Hopkins von 1923) blieben offenbar auf
„Kommunikation“ fixiert: Im Zentrum stand die Meinungs- und Publikumsforschung, die
George Gallup in den 1930er Jahren für die Werbeagentur Young & Rubicam entwickelte.
Erst ab 1950, und wiederum eher langsam, formt sich zusammen mit einer neu entstandenen,
extrem dynamischen Medienkultur das Konzept von "the media" aus, das McLuhan auf den
Begriff brachte.

Parallel dazu, und im allgemeinen Sprachgebrauch noch lange dominierend, bürgerte sich
"mass media" ein, das aber zweideutig blieb: Im beiläufigen Sprachgebrauch konnte es
tatsächlich alle die widersprüchlichen und komplexen Phänomene der Medien mit abdecken, im
theoretischen Sprachgebrauch tendierte man aber weiter dazu, das eigenständige technisch-
semiotisch-soziale System, das "the media" meint, auf Soziologie und Psychologie zu
reduzieren. Man verstand darunter im Wesentlichen das, was der Brite Julian Huxley, erster
Direktor der UNESCO, sehr früh im Jahr 1947 so zusammen fasste: ”The media of mass
communication - the somewhat cumbrous title (commonly abbreviated to 'Mass Media')
proposed for agencies, such as the radio, the cinema and the popular press, which are capable
of the mass dissemination of word or image.”23 Der nächste Dictionary-Beleg für "the media"
(ohne "mass") findet sich erst wieder 1958 (Times Literary Supplement) und ist dann schon
eindeutig Im Sinne McLuhans gebraucht.

“What is da media?“ lautete die eingangs zitierte Frage, die der durchtriebene Comedian
Ali G., der als anglopakistanischer Straßenrapper auftritt, in seiner Talkrunde tatsächlich
nichtsahnenden weißhaarigen Medienwissenschaftlern stellte. Und selbst avantgardistische
Medientheoretiker antworten auf diese Frage immer noch gern in schönster
bildungsbürgerlicher Manier mit „Lassen Sie mich ein wenig ausholen. Schon die alten
Griechen (Ägypter, Sumerer, Höhlenmaler) ...“ Systematisch entspricht dem die häufig
beklagte Explosion des Medienbegriffs. Die Zeitung und das Telefon, das Buch und das
Internet, der Computer und das Web, der Fernseher und das Fernsehen, die assyrische
Tontafel und das Radio, der Druck und die Luft, die Elektrizität und das Auto, das Abendmahl,
die Macht und die Liebe, die Hostie und das Geld: alles ist Medium. Dann allerdings wird es
schwierig, einen medienhistorischen Text vorzulegen, der „sich nicht mit dem Satz >Alle
Geschichte ist Mediengeschichte< resümieren lässt“, wie der Literaturwissenschaftler Jochen
Hörisch selbstironisch einräumt.24

23 Julian S. Huxley, UNESCO. Its Purpose and Its Philosophy, Washington DC 1947, S. 58. Zitiert
nach Oxford English Dictionary, a.a.O.

24 Hörisch gibt von dieser Schwierigkeit dann in seiner Mediengeschichte Der Sinn und die Sinne
(Frankfurt a.M. 2001) in einem sehr langen und gewundenen Satz Zeugnis: „Dem Sog, ein Buch
vorzulegen, das sich mit dem Satz >Alle Geschichte ist Mediengeschichte< resümieren lässt“
widerstehe er nur dadurch, „dass er erstens die Gültigkeit des Satzes von der schwindenden
Halbwertszeit aller Theorien auch in diesem Fall“ anerkenne und indem er zweitens „gerade noch
jene [...] Allgemeinverbindlichkeiten in einem so dramatischen wie präzisen Sinn als
Massenmedien“ begreife, „die zuvor [...] kaum jemals als Medien wahrgenommen wurden: das
Aus einem solchen Ansatz im Stil von Toynbee und Spengler ergeben sich im günstigen Fall
anregende essayistische Spekulationen, aber die ersetzen nicht, sondern fordern gerade
akribische Analysen konkreter Medienkonstellationen.25 Aus der skizzierten Begriffsgeschichte
lässt sich nun die These ableiten, dass der Beginn einer Geschichte von „die Medien“
tatsächlich erst um 1900 anzusetzen ist.26 Zeitgleich mit dem technischen Entwurf der
elektronischen Medien Radio und Fernsehen veränderte sich nämlich damals das eigentliche
Leitmedium der Zeit, die illustrierte Massenpresse, tiefgreifend.27 Mit der Entstehung der
Yellow Press (bzw. der britischen Tabloids) nach 1895 wandelte sich „die Presse“ vom
minderwertigen Abkömmling der Schriftkultur (der sie freilich aus bildungsbürgerlicher Sicht
blieb) endgültig zu einem neuen und eigentümlichen Medium, das nicht nur eine neue
Visualität begründete (Einführung der Comics, neues Layout),28 sondern bereits Merkmale
einer neuen sekundären Oralität annahm (die auf der Straße ausgerufenen Schlagzeilen, die
kraftvolle und ordinäre „Stimme“ der Artikel, die atemlosen Reportagen der „rasenden
Reporter“ ...).

Diese neue Visualität der Zeitschrift war nicht in erster Linie technisch veranlasst, denn trotz
verbesserter Drucktechnik wurden als Illustration weiterhin Zeichnungen bevorzugt, weil sie
dramatischer waren. Die passende Aufnahmetechnik und Bildsprache (und wohl auch das
nötige „sachliche“ Lebensgefühl) für die Pressefotografie entwickelte sich erst ca. 1895 - 1925.
Die neue Visualität um 1900 korrespondierte stattdessen eher mit der zeitgenössischen

Abendmahl und das Geld.“ (17f.) Das aber heißt eigentlich, Hörisch widersteht dem Sog gerade
nicht, aber er rechtfertigt dies dadurch, dass dann nicht-triviale Einsichten zu Tage gefördert
werden, wenn das Konzept „Medien“, das auch er aus den modernen technischen Massenmedien
destilliert hat, auf das „Jenseits der Medien“ angewendet wird. Für dieses Feld erbringt dieser
Verfremdungseffekt dann tatsächlich interessante Resultate, aber umgekehrt gilt das weit
weniger. Das Eigenartige der modernen elektronischen Medien wird durch die inflationäre
Ausweitung des Medienbegriffs in der Regel überspielt und ausgeblendet. Nun sind in irgendeiner
Weise „die Medien“ sicherlich auch Teil von übergreifenden Geschichten der kulturellen
Zeichensysteme, der menschlichen Kommunikation und der Technik. Aber um darüber klare
Aussagen treffen zu können, müsste man zuvor ihre Binnenlogik(en) und Eigendynamik(en) erst
herausgearbeitet haben.

25 Ebenso irrig ist allerdings die umgekehrte Annahme, es könne eine empirische
Medienwissenschaft und Mediengeschichte geben, die ohne explizite Definition und Theorie von
„Medien“ auskommt. Das führt zwangsläufig zu dem Typus pseudo-empirischer
Kommunikationswissenschaft, die nur immer der rasenden Medien-Entwicklung hinterher stolpert
und in umständlichem Jargon nachbuchstabiert, was ohnehin jeder weiß und sieht.

26 Die genaue Datierung ist natürlich Geschmackssache. McLuhan geht zurück auf die Zeitungen,
die in den 1840er Jahren die neue Telegraphentechnik nutzen, um die news zu erfinden. Aus
meiner Sicht ist das eher als Teil einer Vorgeschichte zu betrachten, weil die Schriftkultur weiter
dominiert und ein eigendynamischer Umschlag der medialen Verhältnisse erst um die
Jahrhundertwende erkennbar wird.

27 Vgl. etwa die pointierte Zusammenfassung von Neil Gabler, Das Leben, ein Film. Die Eroberung
der Wirklichkeit durch das Entertainment, München 2001, S. 82 – 89.

28 Vgl. hierzu besonders Barbara Duttenhöfer / Clemens Zimmermann, Zeitschriften um 1900.


Deutschland, Frankreich und Russland im Vergleich, in: magazin forschung 2/2002 (Online-
Magazin der Universität des Saarlandes, http://www.uni-saarland.de/verwalt/kwt/f-magazin/2-
2002/4.pdf, Abruf 04/2004).
metropolitanen Entertainment-Kultur (Film, Cabaret, Plakate, technisch reproduzierte Fotos
und Bilder, gemalte Werbeschriftzüge).29 Das Papiermedium Massenpresse, nicht der Film,
nahm in gewisser Hinsicht bereits den Paradigmenwechsel der elektronischen Medien vorweg.
Um 1900 war Film/Kino noch weniger Bestandteil von „die Medien“ als ein wichtiger
Bestandteil von deren Umwelt, nämlich als technisierte Form des entertainment. In dieser
Hinsicht waren vermutlich die ersten Film-Fanzeitschriften (Moving Picture World, 1907;
Photoplay, 1911), und damit die Geburt der "celebrity culture",30 mediengeschichtlich
mindestens ebenso einschneidend wie die Entwicklung des Kinematographen durch die
Gebrüder Lumière.31

The Real World: Big Brother Is Us

„Das Fernsehen ist Wirklichkeit, es drängt sich auf [...] Es ist eine Umwelt, so wirklich wie die
Welt selber. Sie wird und ist dann wahr.“

Ray Bradbury, Fahrenheit 451 (1953)32

Im Jahr 1953 erzählt Ray Bradburys SF-Roman Fahrenheit 451 die Geschichte eines Mannes,
der sich gegen die Medienwelt der Zukunft auflehnt. Montag ist Mitglied der Feuerwehr, die
versteckte Bücher aufspürt und verbrennt, entwickelt sich dann aber zum Rebellen. Seine Frau
Mildred geht ganz in der totalen Fernseh- und Radiowelt auf. Wie im viel späteren Fisch-
Gleichnis McLuhans erscheint sie bereits hier metaphorisch als Meer: Nachts trägt Mildred
„Rundfunkmuscheln“ in den Ohren und lässt sich von einer „Flut“ von „Musik und Geräusch“
„umbranden" (22). Am Tag hält sie sich nur im Wohnzimmer auf, das mit drei „Tonfarbwänden"
(55) und „3D-Raumton“ (92, 94) zum Fernsehraum umgebaut wurde. Von innen gesehen
erscheint es als „wimmelndes Meer“, in dem man untergeht (170). Von außen gesehen ist es
eher ein Aquarium, wie Montag feststellt, als er es einmal abschaltet: „Die Bilder verliefen, als
hätte man aus einem ungeheuren Becken mit zappelnden Fischen das Wasser abgelassen.“
(104)

Faszinierend an Fahrenheit 451 ist, dass es bereits aus den unvollkommenen Anfängen des
Fernsehens um 1950 die Vision einer totalen Medienwelt ableitet, die aus heutiger Sicht erst
seit den 1980er Jahren Zug um Zug realisiert wird. Es gibt Quizshows, die fragmentiertes
Pseudowissen an die Stelle des zusammenhängenden Buchwissens setzen (70), eine Art
Wochenschau, die wie ein rasend schnell geschnittener surrealer Videoclip mit mehreren
simultanen Ebenen geschildert wird (104), und die permanent laufenden Familienserien, die

29 Duttenhöfer/Zimmermann, wie Anm. 28, S. 6 f.

30 Die eigentliche "Celebrity Culture", die sich auf Medienmenschen bezog, entstand ”by the
second decade of the twentieth century with the emergence of movie fan magazines (Moving
Picture World, later followed by Photoplay, Modern Screen and Silver Screen) that openly
celebrated movie stars and their lives” (David P. Marshall, Celebrity and power: fame in
contemporary culture, Minneapolis: University of Minnesota Press 1997, S. 8) Vgl. auch Amy
Henderson, Media and the Rise of Celebrity Culture. (Online-Seite der Organization of American
Historians: www.oah.org/pubs/magazine/Communication/henderson.html, entspricht der
Druckversion im OAH Magazine of History 6, Spring 1992).

31 Zum spannungsvollen Verhältnis von TV und Kino ist Marshall McLuhans Kommentar immer
noch grundlegend (Understanding Media. The Extensions of Man. London, New York 2001
[Erstausgabe 1964], S. 320 – 323).

32 Ray Bradbury, Fahrenheit 451, Zürich 1981, S. 93f. Alle weiteren Seitenangaben im laufenden
Text dieses Abschnitts beziehen sich auf diese Ausgabe.
der fernsehsüchtigen Frau die Realität ersetzen.33 Diese Figuren betrachtet sie ausdrücklich als
ihre „Familie“. Dabei gibt es keine äußere Handlung, nur unaufhörliche Gespräche, die keinen
erzählbaren Inhalt haben.34 Die allerneueste Variante sind Drehbücher, die für die Zuschauerin
eine Rolle aussparen, die sie im eigenen Wohnzimmer mitspricht (29). TV ersetzt nicht die
Wirklichkeit. „Das Fernsehen ist Wirklichkeit“ (94).

Zu großen Teilen erscheint Fahrenheit 451 wie eine direkte, allerdings einseitig negativ
gedeutete Umsetzung der Studie Riesmans, die im selben Jahr ihre zweite Auflage erlebte. Die
Medienkultur der „außengeleiteten Charaktere“ hat hier die absolute Herrschaft angetreten,
die Buchkultur der „innengeleiteten Charaktere“ wird totalitär unterdrückt. Zugleich nimmt der
Roman McLuhans provokativste Thesen um 15 Jahre vorweg - neben der Fisch/Meer-Metapher
selbst noch die spätere Steigerung von The medium is the message zu The medium is the
massage: „Her [...] mit allem, was automatische Reflexe auslöst. [...] Ich bilde mir dann ein,
ich hätte etwas von dem Stück, wo ich doch bloß vom Schall erschüttert bin. Mir ist es einerlei.
Ich bin für handfeste Unterhaltung.“ (70)

Daraus muss man folgern, dass Bradbury und McLuhan gar nicht in erster Linie auf die realen
Erfahrungen mit dem Fernsehen reagierten. Ihr visionäres Bild der Medien ist eher
vergleichbar mit der Virtual Reality-Hysterie zu Anfang der 1990er Jahre, die ja ebenfalls mit
dem realen Medienangebot wenig zu tun hatte. Dabei lässt sich von vornherein nie genau
sagen, wo der Ursprung des Winkler'schen „Versprechens“ der neuen Medien liegt: In der
hellsichtig extrapolierten Entwicklungslogik "des Mediums selbst" oder in einer kulturellen
Projektion, die der technischen und ökonomischen Medienentwicklung vorauseilt und dann als
self-fulfilling prophecy wirkt? Zumindest im gegenwärtigen Frühstadium der
Medienwissenschaft muss man beide Beschreibungsmodelle nebeneinander verwenden, in
dialektischer Ergänzung.

Einiges scheint dafür zu sprechen, das Fernsehen als vorläufige Vollendung des Versprechens
aufzufassen, dass die neuen elektronischen Medien bereits um 1900 machten. Dort scheint
eine anscheinend nicht zu bremsende Eigendynamik ihren Anfang zu nehmen, die auf die
umfassende Verdoppelung der „primären Welt“ abzielt. Alle Dimensionen der "natürlichen"
Kommunikation werden nach und nach medientechnisch reproduziert. Dabei ist der
Fluchtpunkt dieser Dynamik eben nicht einfach die sinnliche Einheit von bewegtem Bild,
Stimme und musikalisch codiertem Gefühl, die dann der Tonfilm in den 1930er Jahren
realisierte. Das Versprechen war damit nicht eingelöst. Ein Jahr, nachdem die amerikanischen
Kinos die Rekordmarke von 90 Millionen Zuschauern verzeichnet hatten, entstanden die
großen TV-Networks und leiteten das golden age of TV ein.

Film/Kino begründet eher eine Spaltung als eine Verdoppelung der Welt. Der verdunkelte
Kinosaal ist eher die kollektive Entsprechung zum „Allein-Sein“ des Buchlesers38, während das

33 Die frühen TV-Fiktionen waren 1953 noch „Stücke“, d.h. sie wurden live im Studio gespielt, u.a.
auch von Marlon Brando, Paul Newman, Ronald Reagan und Steve McQueen. Tatsächlich liefen
beinahe jeden Abend solche "Television Dramas", an bestimmten Tagen auch in allen drei
Programmen parallel: “Here, in one single evening viewers could choose between Kraft Television
Theater (ABC, 1953-55), Four Star Playhouse (CBS, 1952-56), Ford Theater (NBC, 1952-56) and
Lux Video Theater (NBC, 1954-57).“ (Vgl. Anna Everett, The Golden Age of Television Drama, im
Online-Archiv des "Museum of Broadcast Communications":
http://www.museum.tv/archives/etv/G/htmlG/goldenage/goldenage.htm).

34 Auf Montags Frage nach dem Inhalt sagt sie nur, es kämen „Leute drin vor“ (29): „Meine
'Familie' [...] besteht aus Leuten. Sie erzählen mir was, ich lache, sie lachen mit. Und dann die
Farben!“ (82)

38 Theodor Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, 21. Auflage,
Frankfurt a.M. 1993 [1 1951], S. 186. Darin scheint mir Adornos Fehleinschätzung des
Fernsehen die Rezeptionssituation der introvertierten Abschottung durchbricht und den
Gegensatz zwischen Buch-Individuum und Kino-Kollektiv aufhebt. Die technische Visualität
allein macht Film/Kino jedenfalls noch nicht zum Teil von „die Medien“. Natürlich gab es von
Anfang an Tendenzen, die dazu beitrugen, dass der Film den Charakter des Traums und des
Besonderen einbüßte und in den Alltag hineinwirkte (die Wochenschauen, die unfreiwillig
>realistischeren< B-Filme und die mediale Allgegenwart der Kino-Celebrities), aber das war
und ist nicht seine Stärke. Hier blieb der Film eher ein unvollkommener Platzhalter des
Fernsehens. Erst nach dessen Siegeszug näherte sich Film/Kino dann weiter „an die Medien“
an: mit der TV-Ausstrahlung von Kinofilmen, mit der Einführung des Videorecorders und
schließlich mit der Digitalisierung des Films.

Das Prinzip der Medien ist die Verdopplung, aber eben nicht einfach die „Verdoppelung der
Realität“ und Verfälschung der „Wahrheit“,39 sondern die künstliche Neuerzeugung des Prinzips
des Primären selbst. Es geht darum, einen neuen Zeichen- und Lebensraum zu schaffen, der
weniger die Wirklichkeit ersetzt als vielmehr sich als zusätzliche Schicht über die Wirklichkeit
legt. Hier war vor 1950 das Radio das radikalere und moderne Medium: Zwar deckt es nur
einen Sinneskanal ab, aber dafür wird hier ein dynamischer Strom von Zeichen erzeugt, der
die Wirklichkeit nicht unterbricht, sondern überlagert. Wesentlich ist das Prinzip des quasi-
gleichzeitigen broadcasting in Gestalt von an sich immateriellen Impulsen, die verfliegen wie
die wirklichen Bilder, Stimmen, Töne. Ob diese Inhalte dabei live oder als Konserve gesendet
werden, spielt dabei gar keine entscheidende Rolle: es geht vielmehr um den medialen flow.40

Das Fernsehen übernahm von Anfang an viel eher charakteristische Elemente des Radios als
des Kinos: Das candid microphone wurde zur versteckten Kamera, die soap opera und der talk
wurden visualisiert und nach den ersten Conferenciers, die von den Unterhaltungsbühnen
kamen, wurden mehr und mehr die DJ-Culture des Radios41 stilbildend für die
Fernsehmoderation und auch für das Programm insgesamt (vgl. in Deutschland Gottschalk,
Jauch, Fred Kogel u.v.a.). Das Versprechen der neuen Medien des 20. Jahrhunderts war von
Anfang an die Erzeugung einer Sphäre, die nicht virtual reality sein sollte, sondern eher

Phänomens der „Verdoppelung“ zu liegen. Zu Recht stellt er zwar fest: „So redet kein Mensch, so
bewegt sich kein Mensch, während der Film immerzu urgiert, als täten es alle.“ Aber das sieht und
weiß jeder Kino- und später jeder Fernsehzuschauer. Es geht aber gar nicht um Täuschung, es
geht eben um die Herstellung einer zweiten Schicht der „Wirklichkeit“, die sich nahtlos auf die
erste legt und so beschaffen ist, dass man in ihr tatsächlich „leben“ kann.

39 Das „Allein-Sein“ der früheren Buchleser kontrastiert Riesman (wie Anm. 12, S. 108) mit dem
„Strom der Presse“ im 20. Jahrhundert.

40 ”And it is for this reason that the flow is not conceived as a sum of segments, but as a whole
experience of watching television. Capturing the audience does not mean producing a successful
program, but establishing a line up of segments, breaks, references that provide an entry and a
'floating along' (to use the same nautical metaphor) for television watching.” Vgl. auch sonst die
exzellente Darstellung des "TV-Flow" von Paolo Carpigano in seinem leider bislang ungedruckten
Online-Kurs Televisuality (http://www.newschool.edu/mediastudies/tv/channel7/index.html, für
die Index-Seite http://www.newschool.edu/mediastudies/tv/televisuality.html; Abruf 04/2004).
Carpignano bezieht sich auf Raymond Williams Begriff des “flow“(in Television, Technology and
Cultural Form, London 1974), der aber noch als “planned flow“ konzipiert war und sich auf die
Abfolge des einheitlichen “program“ bezog.

4241 Vgl. Ulf Poschardt, DJ Culture. Reinbek 1997. [Erstausgabe 1995] Poschardt beschreibt hier
sehr eingehend die Frühzeit der Radio-DJs zwischen den 1930er und den 1960er Jahren,
konzentriert sich dann aber auf die Popmusik und geht leider nicht auf die neuen TVJs wie
Gottschalk ein.
augmented reality bzw. mixed reality. Dafür spricht nicht zuletzt die Obsession für "Realität",
die den Medien als die Phantasie des live von Anfang an eingeschrieben ist und die sich dann
in der Form von Reality TV (in weitestem Sinn) gerade zu der Zeit am drängendsten äußert,
als die Medienwelt gerade die „wirkliche Welt“ vollständig ersetzt zu haben scheint.

Überhaupt lässt sich die These vertreten, dass der emphatische Begriff „Realität“ selbst ein
Erzeugnis von „die Medien“ ist, die sich immer neu das Andere konstruieren müssen, das dann
als Rohstoff die Zeichenmaschine in Gang hält.42 Die mediale Verdopplung muss immer noch
spürbar sein, um emphatisch erlebt werden zu können. Aber der Wirklichkeitseffekt verbraucht
sich: Das live gespielte television drama wirkte um 1950, um 1980 war es Dallas, um 1990 die
daily soap und der daily talk, um 2000 mussten es bereits Big Brother und 24 sein. Da es nicht
ausreicht, die „Wirklichkeit“ nur in vorgeblich freier Wildbahn aufzuspüren (als Sport, als
Tierfilm, als Krieg, als Talk über extreme Sex-Praktiken ...), müssen die Medien sich die
passende „Wirklichkeit“ seit einiger Zeit selbst herstellen. Das funktioniert, weil der Inbegriff
von TV-Wirklichkeit gar nicht das ohnehin notorische knappe „wahre Leben“43 außerhalb der
Medienwelt ist. Primärer Inhalt des Fernsehens ist der redende und sich bewegende Mensch.
Die extreme Künstlichkeit der Umgebung (Studio, Container) spielt keine Rolle. Das
Funktionieren der Medienwelt beruht nicht auf der Vorspiegelung falscher Tatsachen, sondern
auf der immer neuen spannungsvollen Zurschaustellung der Schnittstelle von „Wirklichkeit“
und mediasphere.44

Mediasphere - schon wieder ein Wort, dass sich seit einigen Jahren unmerklich in den
Wortgebrauch eingeschlichen hat und erst noch theoretisch aufgeschlossen werden müsste. So
wie es inzwischen allgemein gebraucht wird, ist es jedenfalls nicht deckungsgleich mit Régis
Debrays mediasphère, die noch ganz in der Tradition der anthropologischen
Superkonstruktionen im Stil von Innis und Teilhard de Chardin konstruiert ist: von der
Logosphäre über die Graphosphäre zur Videosphäre.45 Eher wäre sie im Anschluss an Jurij
Lotmans semiosphere zu denken, wie es unter den Medienwissenschaftlern vor allem John
Hartley versucht:

“The 'mediasphere' is the whole universe of media [...] in all languages in all countries. It
therefore completely encloses and contains as a differentiated part of itself the (Habermasian)
public sphere (or the many public spheres), and it is itself contained by the much larger
semiosphere [...] which is the whole universe of sense-making by whatever means, including

42 Bereits die penny papers, frühe Vorläufer der Massenpresse der Jahrhundertwende,
begründeten ihren frühen Erfolg auf "Geschichten aus dem Leben". Vgl. etwa auch die Erfindung
der "rasenden Reporter" im Yellow Press-Krieg zwischen Pulitzer und Hearst um 1895.

43 Das wahre Leben nannte bewusst provokativ der frühere Pop-Chefideologe Markus Peichl
(Macher der ZeitgeistmagazineWiener und Tempo) 1994 die deutsche Version von The Real Life,
der ersten konsequenten reality soap des Musiksenders MTV.

44 Deshalb wurde Ironie seit den 1980er Jahren auch so bruchlos und leicht Teil des Spiels der
neuen Medien. Die dahinter wirkende Logik beschrieb bereits Adorno, der bereits um 1950 den
Verfall der alten, wahren Ironie beklagte: „Ihr Medium, die Differenz zwischen Ideologie und
Wirklichkeit, ist geschwunden. Jene resigniert zur Bestätigung der Wirklichkeit durch deren bloße
Verdopplung.“ (Wie Anm. 38, S. 282; beiläufig ein Beispiel für Adornos im Regelfall abstrakten
und beiläufigen Gebrauch des Begriffs „Medium“.) Verlängert in die Fernsehwelt von Schmidt und
Raab: Die Differenz zwischen Ideologie und Wirklichkeit wird immer neu künstlich aufgerichtet,
um daraus dann unter forciertem Bandgelächter des Live-Publikums den ironischen Gag zu
gewinnen.

45 Vgl. die Darstellung von Debrays Mediologie-Konzeption in Frank Hartmann, Mediologie. Wien
2003, S. 100f.
speech. [...] it is clear that television is a crucial site of the mediasphere and a crucial
mediator between general cultural sensemaking systems (the semiosphere) and specialist
components of social sense-making like the public sphere.”46

Am Ende von Fahrenheit 451 vernichtet sich die insgeheim immer schon todessüchtige
Medienwelt selbst: die Atombombe fällt. Das mediale Meer verschwindet, eine große Stille tritt
ein. Die rebellischen Bewahrer der Buchkultur liegen auf der wiedergewonnenen Erde,
„japsend wie Fische auf dem Trockenen“ (172). 1950 war das Jahr, in dem Truman als
Reaktion auf die russische Atombombe die Entwicklung der Wasserstoffbombe ankündigte.
Dennoch ist diese Bombe hier mehr Denknotwendigkeit als historische Wirklichkeit: Sie
erscheint als die negative Seite der Medien, das Symbol für das ausgeschlossene
Realitätsprinzip, das am Ende katastrophisch wieder einbricht. Die Eigendynamik des totalen
Mediensystems muss demnach zu seiner Selbstzerstörung führen.

Diese Korrelation von Atombombe und Medientechnik findet sich auch in der anderen großen
Dystopie dieser Jahre: Orwells Roman 1984, erschienen 1949.10 Hier allerdings fällt die
erlösende Bombe nicht. Die drei totalitären Weltmächte stabilisieren sich gegenseitig durch ein
Gleichgewicht des Schreckens. Der permanente Kleinkrieg dient nur dazu, die Gesellschaften
in ständigem mentalem Kriegszustand zu halten. Das schlägt sich in den Medien nieder:
Während in Bradburys Entertainment-Totalitarismus der Krieg, den die USA der Zukunft gegen
die Außenwelt führen, ausgeblendet wird, ist bei Orwell Kriegspropaganda wesentlicher
Bestandteil der Sendungen, die durch die allgegenwärtigen „Televisoren“ ausgestrahlt werden.
So wie die erlösende Bombe nicht fällt, so muss auch die Flucht des Rebellen in die
individualistische Schriftkultur fehlschlagen. Sogar noch der Blick des gestrandeten Rebellen
auf das Medienmeer stellt sich hier noch am Ende als Teil des Systems heraus. Es gibt
endgültig keine „primäre Wirklichkeit“ mehr. Die totalitäre Bewusstseinsindustrie, die hier
permanent die Welt immer neu erfindet, erzeugt tatsächlich „nicht einmal eine Fälschung“:
Das Material, das sie produziert, hat „keinerlei Relation zur Wirklichkeit, nicht einmal die
Relation, die eine direkte Lüge zur Wahrheit hat“. (39)11

Diese totalitäre Medienwelt ist also einerseits radikaler, andererseits aber auch konventioneller
als der totale Eskapismus in Fahrenheit 451. In Bradburys Zukunfts-USA ist ein
eigendynamisches und selbstorganisierendes System entstanden, durch komplizierte
Rückkopplungen zwischen den außengesteuerten Medienmenschen. Sie bilden zusammen die
neue zersplitterte Masse, die lonely crowd. „Es fing nicht mit Verordnungen und Zensur an,
nein! Technik, Massenkultur und Minderheitendruck brachten es gottlob von ganz allein fertig.“
(67) Bei Orwell hingegen liefern die Unterhaltungsmedien nur das Opium für die stumpfen
proletarischen Massen (41). Für die Details der Unterhaltungsindustrie interessiert Orwell sich
nicht besonders. Ihm geht es nicht um die Ausklammerung, sondern um die Herstellung von
Wissen mit und in den Medien. Sein Protagonist Smith ist Angestellter des
„Wahrheitsministeriums“, das für die Produktion von Nachrichten und Unterhaltung zuständig
ist. Er ist Medienmacher, nicht Rezipient. Die Medienangebote für die Mitglieder der
Staatspartei, die das System trägt, sind jedoch von grundlegend anderer Art. Sie haben
ideologischen, nicht eskapistischen Charakter.

Auffälliger Weise spielt das Fernsehen dabei so gut wie keine Rolle. Der allgegenwärtige, nicht
abstellbare „Televisor oder Hörsehschirm“ ist eher um eine Kombination aus
Überwachungskamera und Radio (5f., 27), die als Unterhaltungsangebot nur "leichterer Musik"

46 John Hartley, Uses of Television, London, New York 1999, S. 217f. Ein detaillierterer Rückbezug
auf Lotman wäre, so weit ich sehe, erst noch zu leisten. Heranzuziehen wären Universe of the
Mind (wie Anm. 9) und Jurij M. Lotman, Über die Semiosphäre, in: Zeitschrift für Semiotik 12
(1990), H. 4, S. 287 – 305.

10 Die Jahreszahl ist ein Hinweis auf das Jahr der Abfassung (1948).

11 Hier und in der Folge im laufenden Text alle Zitate nach George Orwell,
Neunzehnhundertvierundachtzig, 13. Auflage, Konstanz, Stuttgart 1964.
bietet und in der Regel (außer bei der Morgengymnastik) nicht einmal Bilder zeigt, obwohl das
offenbar technisch möglich wäre. Die Bildmedien sind der riesige, kinoartige Televisor im
Ministerium, der für das Kollektiv die „Zwei-Minuten-Haß-Sendung“ ausstrahlt (12), und das
Kino selbst, das gewaltpornographische Kriegsfilme zeigt (11). 1948 war aber in den USA
bereits das Fernsehzeitalter angebrochen, und auch in Großbritannien (wie übrigens auch in
NS-Deutschland) produzierte man schon in den 1930er Jahren TV-Pilotprogramme. Orwells
Medientotalitarismus scheint also eher ein strukturelles Problem mit dem individualistischen
Privatfernsehen zu haben, das auch McLuhan konstatiert: “Had TV occurred on a large scale
during Hitler's reign he would have vanished quickly.“49 McLuhan zufolge ist TV ein Medium,
das Inhalte in „Mosaike“ zersplittert und dadurch politische Blöcke fragmentiert. Es ist in seiner
Terminologie ein „kaltes Medium“, d.h. seine Bilder und seine Programme sind eher beiläufig
(“casual“), undeutlich und zerstreuend. Die aktive, zugleich aber auch distanzierte Teilnahme
des Nutzers ist gefordert, um ein Ganzes entstehen zu lassen. Nur bei einem "heißen Medium"
wie dem Radio oder auch Kino/Film, dessen Inhalte von "hoher Intensität" und Suggestivität
sind, bleibt demnach der Nutzer passiv, ein Empfänger im eigentlichen Sinn des Wortes.50

Fernsehen relativiert alle Botschaften, das Bild ebenso von der Stimme ablenkt wie die Stimme
vom Bild. Wenn Bradbury und Orwell das bereits um 1950 so sehen, scheint es sich hier
tatsächlich um ein Merkmal "des Mediums" zu handeln, bestimmt von den technischen
Umständen des broadcasting wie von den technischen wie sozialen Umständen der Rezeption.
Der Kerninhalt des Fernsehens ist weder das übermächtige Bild noch die Botschaft selbst,
sondern die redende Fernsehfigur. Die TV-Welt ist offen und fragmentiert wie der Alltag selbst,
den es eben nicht wie das Kino durch "Träume" ersetzt, sondern künstlich spiegelt und
verdoppelt. Wenn TV indoktriniert, dann wie in Fahrenheit 451 – indirekt, durch Ablenkung,
Zerstreuung, Verstrickung.

Orwells Vision ist also eher altmodisch, was die AV-Medien angeht. Aber in einer anderen,
versteckten Hinsicht handelt es sich wirklich um medientechnische Science Fiction. Der Roman
nimmt ausgerechnet die medialen Enwicklungen in vieler Hinsicht vorweg, die es damals noch
gar nicht gibt: Die allgegenwärtigen Überwachungskameras registrieren nicht nur alle
Aktivitäten, sie speichern sie auch. Man muss sich das wohl so vorstellen wie bei der Stasi, die
riesige Archive von Protokollen, Tonbändern und hier wohl auch Videos anhäufte. Die perfekte
Überwachunge der Smith unterliegt, zeigt aber, dass es hier auch ein perfektes System der
Speicherung und Archivierung geben muss. Mit anderen Worten: Das Orwellsche System
funktioniert wie eine Art Computer, die technisch erst in der Internet-Epoche vorstellbar
geworden ist. (Und noch heute wird ja der Kampf der Netz-Bürgerrechtler gegen Bill Gates, die
CIA usw. unter der Parole "1984" geführt.) Der Parteiapparat löscht und überschreibt das
individuelle wie das kollektive Gedächnis mit Hilfe der ideologischen Programmiersprache:52

„Was in dem unsichtbaren Labyrinth geschah, in dem die Rohrpoströhrchen zusammenliefen,


wusste er nicht im einzelnen, sondern nur in großen Umrissen. Wenn alle Korrekturen [...]
gesammelt und kritisch miteinander verglichen worden waren, wurde diese Nummer neu
gedruckt, die ursprüngliche vernichtet und an ihrer Stelle die richtige ins Archiv eingereiht.
Dieser dauernde Umwandlungsprozess vollzog sich nicht nur an den Zeitungen, sondern auch
an Büchern, Zeitschriften, Broschüren, Plakaten, Flugblättern, Filmen, Liedertexten,
Karikaturen [...] Die ganze Historie stand so auf einem auswechselbaren Blatt, das genauso so
oft, wie es nötig wurde, radiert und neu beschrieben wurde.“12

49 McLuhan in Understanding Media (1964), S.326. (Wie Anm. 31.).

50 Ebd., S. 350f., 348.

52 Tatsächlich wird das Programmieren von Menschen, die „Gehirnwäsche“, nach 1952 zu einer
regelrechten Obsession der Kultur, nachdem US-Kriegsgefangene in Korea es in einem
propagandistischen TV-Auftritt es abgelehnt hatten, in ihr Vaterland heimzukehren.

12 Hier und in der Folge im laufenden Text alle Zitate nach George Orwell,
Neunzehnhundertvierundachtzig, 13. Auflage, Konstanz, Stuttgart 1964. (Hier S. 38 u. 39).
Der ganze Partei- und Ministeriumsapparat, der seinerseits die Gesellschaft steuert, erinnert
an das Chinese Room-Denkmodell, mit dem der Sprachphilosoph John Searle 1980 die
Artificial Intelligence-Szenarien von Turing (1950) und Minsky (1958) widerlegen wollte.53 Der
Protagonist Smith arbeitet in einem geschlossenen Raum, in den Botschaften gelangen, die
dann nach bestimmten Regeln des Parteichinesisch (ein geläufiger Ausdruck in den 1960er und
1970er Jahren) im Innern verarbeitet werden müssen. Dabei geht es darum, ständig den
Fundus von Sätzen und Fakten, auf dem die Gesellschaft beruht, zu verändern. Der Speicher
wird gelöscht und neu beschrieben, ohne dass von dem Früheren auch nur eine materielle
Spur bleibt (39). Die soziale Maschine programmiert sich selbst um, mit dem Ziel, am Ende
alle menschliche Semantik und zugleich alles abweichende Verhalten unmöglich gemacht zu
haben. Und Big Brother selbst ist lediglich die Personifikation des Apparats, ein mediales
Image.

Die Mitglieder der „inneren Partei“ sind in diesem Prozess so etwas wie die Chefprogrammierer.
Die Abteilungen des Wahrheitsministeriums stellen jeweils Software dar, Programme mit
bestimmten Zwecken: Smiths Abteilung etwa verändert und löscht den Speicher und schafft
somit künstlich neue Voraussetzungen für künftige Sätze, Kommunikationen und Handlungen.
Eine andere Abteilung ist zuständig für Multimedia, wobei Filme, Bücher und Schlager für die
„Massen“ zum großen Teil mechanisch erzeugt werden (41). Das schließt die Möglichkeit von
Bildmanipulation mit ein, wie sie in dem berühmten Fall des retuschierten Trotzki-Fotos bereits
in der Wirklichkeit ganz analog praktiziert worden war. Und die Abteilung von Syme arbeitet
schließlich an Newspeak, der neuen Sprache, die alle „Unklarheiten und unnützen
Gedankenschattierungen“ der „Altsprache“ beseitigen soll (49).

Newspeak wird bis ins Detail als eine Art Programmiersprache beschrieben, die auf die
Alltagssprache aufgesetzt ist,13 und dabei ausdrücklich mit Schach verglichen (279).
Entsprechend ist der Linguist Syme ein fanatischer Schachspieler (135). Das hat
Entsprechungen in der zeitgenössischen Informatik. Offenbar waren die frühen
Computerkonstrukteure tatsächlich von der Obsession beherrscht, ihren Rechnern Sprache
beizubringen, sei es als Programmiersprache54 oder als Sprachausgabe/Spracherkennung. Und
von Anfang an galt Schach als dasjenige Zeichenspiel, in dem sich maschinelle und
menschliche Intelligenz am ehesten zu treffen schienen.55

Nun gibt es aber keinerlei Hinweise darauf, dass Orwells Vision der Prozessierung von Sprache
und kulturellen Daten durch die zeitgenössische Computertechnik und Informatik beeinflusst

53 Vgl. John R. Searle, Minds Brains and Programs, in: Douglas R. Hofstadter and Daniel C.
Dennett (Hrsg.), The Mind's I: fantasies and reflections on self and soul, London 1981, S. 353 -
372. Searle konstruiert im Kontrast zu Turings menschenimitierendem Computer ein
menschliches Szenario, das einen Computer imitiert. In einer Kammer sitzt ein Mensch, der nach
vorliegenden, rein formalen Instruktionen, die er nicht versteht, hereingereichte chinesische
Schriftzeichen in andere Schriftzeichen transformiert. Wenn der Formalismus perfekt ist, kann das
Resultat wieder eine „Antwort“ auf Chinesisch sein. Der Mensch in der Maschine aber kann
deshalb noch kein Chinesisch: Er „denkt“ nicht im umfassenden humanen Sinn.

13 Vgl. den Anhang des Buches, S.275 ff.

54 Die erste Programmiersprache short order code wurde 1949 entwickelt, also nach der
Niederschrift des Romans. Es folgten FORTRAN (1957) und 1960 COBOL, das der
Umgangssprache angenähert sein sollte. Der Speicherkapazität des IBM 650 (1957) wurde mit
„zweitausend Worte“ ausgedrückt. Das MIT arbeitete zu dieser Zeit schon an Spracherkennung,
IBM brachte 1962 ein erstes Gerät für die Sprachausgabe auf den Markt.

55 Bereits 1949 entwickelte Claude Shannon das erste Schachprogramm, 1956 schlug das erste
Schachprogramm einen menschlichen Spieler.
worden wäre. Alan Turings frühere Arbeiten, die ihn vielleicht interessiert hätten, waren nur in
Insiderkreisen bekannt. Demnach müssten die Ähnlichkeiten der Konzeption auf einen
gemeinsamen Horizont zurückzuführen sein, und da kommt nur die analytische
Sprachphilosophie in Frage, die sich in der Nachfolge Russells und Wittgensteins in den 1940er
Jahren in Cambridge und vor allem in Oxford entwickelt hatte.56 Der besondere Apparat, den
Orwell entwirft, lässt sich tatsächlich als vorweg genommener Gegenentwurf zu Searle lesen:
Einerseits folgt auch Smith blinden Instruktionen, andererseits aber ist seine ganze
menschliche Intelligenz durch das "Parteichinesisch", eine Art Programmiersprache, eben doch
in diesen Prozess mit eingebunden. Nicht nur ist sein Hirn ein Art Chip, Smith selbst ist
sozusagen ein Modul der Software.

Damit steht Orwell am Ende einer systematischen Reihe, obwohl er nach Publikationsdaten
gerechnet der Früheste ist: Turing konstruierte eine künstliche Anordnung, in der irgendwann
einmal die Kommunikation Mensch-Maschine nicht mehr von der Kommunikation Mensch-
Mensch unterscheidbar sein würde. Searle macht in seinem Denkmodell einen Menschen zum
Teil einer Maschine, gerade um zeigen, dass das, was Maschinen tun, niemals „Denken“ heißen
kann. Und Orwell, der eigentlich der Früheste ist, dreht systematisch betrachtet Searles
Szenario wieder um und zeigt, wie das menschliche Denken selbst Teil einer
selbstgeschaffenen „Maschine“ wird. Erst in diesem Rückkopplungseffekt liegt die Verbindung
zwischen dem Orwell’schen Parteiapparat und der Geschichte von „die Medien“. Die ist noch
nicht bereits mit dem Computer als solchem oder gar mit der Entwicklung künstlicher Sprache
gegeben. Turing und Wittgenstein sind nicht direkter Teil der Geschichte von „die Medien“, so
wenig wie Zuse, Shannon und von Neumann. Die entscheidende Schnittstelle ergibt sich erst
aus Orwells Szenario: der Idee der maschinell prozessierten (Normal-)Sprache, die wieder auf
den Menschen zurückwirkt, und der Idee eines Meta-Multimediums, das imstande ist, alle
medialen Funktionen in sich zu vereinen und zu einer zweiten, künstlichen Welt zu
verschmelzen, in der die Menschen dann leben.

1984 lässt sich als Vision eines computergesteuerten Medientotalitarismus lesen, der den
Menschen von rücksichtslosen Machthaber aufgezwungen wird. Aber das erfasst nicht die viel
weiter gehende Kernaussage des Romans. Den einiges spricht dafür, dass es hier in letzter
Linie gar nicht um die negativen Folgen von Medientechnologien und Sozialtechnologien geht,
sondern wiederum um den hoch ambivalenten Traum, den das 20. Jahrhundert in seinen
Medien träumt. 1984 wäre dann so etwas wie eine sehr eigenwillige, durchaus unfreudianische
Psychoanalyse des modernen Medienintellektuellen, die Steven Johnsons Formel von 2003
vorwegnimmt: ”[...] you will turn out to be the one recording your every move, not the
National Security Agency or Equifax or John Ashcroft - a surveillance society of one. We have
met Big Brother, and he is us.”48

Smith identifiziert sich mit seiner Arbeit, er ist stolz auf seine Arbeit als Medienmanipulateur
und auf seine Handhabung der künstlichen „Neusprache“, die die Manipulation perfektionieren
soll. Die Stimme in Smiths privatestem Traum, dem Keimpunkt seiner Rebellion, klingt wie die
Stimme von O'Brien, der erst als Widerstandskämpfer erscheint und sich am Ende als

56 Wittgenstein hatte bereits um 1930 die Sprache mit dem Schachspiel (und bald darauf mit dem
vageren Ballspiel) verglichen. Turing, der selbst 1938 mit Wittgenstein intensiv diskutiert hatte,
veröffentlichte seinen berühmten Aufsatz über künstliche Intelligenz, der das auf Spracheingabe
und -rückgabe beruhende imitation game als Intelligenztest vorschlug, in Think, dem
Zentralorgan der britischen Sprachphilosophen. Und Heinz von Förster, der spätere Begründer der
Second Order Cybernetics und des Konstruktivismus, der um 1950 Sekretär der Macy-Konferenz
wurde, in der sich die frühen Kybernetiker trafen, hatte noch 1930 im Umfeld des Wiener Kreises
über den Tractatus promoviert.

48 Steven Johnson, Offloading Your Memories. In: NY Times (14.12.2003). Zitiert nach
http://www.nytimes.com/2003/12/14/magazine/14OFFLOADING.html?ex=1074229200&en=556
b349c122ab974&ei=5070, Abruf 04/2004.)
Geheimdienstmann entpuppt (26). Am Ende verdoppelt (!) O'Briens Stimme aus dem Televisor
tatsächlich seine eigenen Worte auf gespenstische Weise (204). Und auch die Begegnung mit
dem Antiquitätenhändler Charrington, wiederum einem Geheimdienstmann, hat romantisch-
magischen Charakter: Er ist gerade dann zur Stelle, als Smith dafür reif ist (87), nachdem er
zuvor jahrelang in die Haut eines feinsinnigen Buch- und Kunstliebhabers geschlüpft war, nur
um am Ende einen einzelnen Rebellen zu überführen, dessen Schuld, mit Kafka gesprochen,
von Beginn an zweifellos war. Das alles lässt sich auch in der Logik des Textes selbst nicht
mehr in Kategorien einer geheimpolizeilichen Überwachung erklären.

Hier führt ein direkter Weg von 1984 zu Matrix. Der Erfolg dieses Films beruhte ja nicht auf
den abstrusen Zukunftstechnologien, sondern darauf, dass er allgemein, bis in die Politik-
Kommentare seriöser Zeitungen hinein, als Parabel unserer gegenwärtigen Medienwirklichkeit
empfunden wurde. Auch in Matrix entsteht aus dem Denken von Menschen eine
verselbständigte künstlich-maschinelle Welt, die am Ende intellektuell und ästhetisch
faszinierender ist als die „primäre Realität“. Wie in 1984 ist der ideale Standpunkt innerhalb
der Medien-Dystopien nicht der des Befreiten, der zu seiner unverzerrten Menschlichkeit
zurück gefunden hat. Das eigentliche Ideal verkörpern Grenzgänger wie Neo und wie Smith,
die den Reichtum und die Spannung der medialen Verdopplung erfahren und auskosten.

A Personal Computer Named Joe

”They're still findin' out what logics will do, but everybody's got 'em [...]It looks like a vision
receiver used to, only it's got keys instead of dials and you punch the keys for what you wanna
get. It's hooked in to the tank, which has the Carson Circuit all fixed up with relays. [...] The
relays in the tank do it. The tank is a big buildin' full of all the facts in creation an' all the
recorded telecasts that ever was made - an' it's hooked in with all the other tanks all over the
country - an' everything you wanna know or see or hear, you punch for it an' you get it. Very
convenient. Also it does math for you, an' keeps books, an' acts as consultin' chemist,
physicist, astronomer an' tealeaf reader, with a Advice to Lovelorn thrown in.”

Murray Leinster, A Logic Named Joe (1946)57

Orwell war in 1984 nicht wirklich interessiert an der neuen amerikanischen Medienkultur. Aber
er wurde in den USA durchaus nicht nur auf den Hitler/Stalin-Totalitarismus bezogen: ”You
look again at your radio and television sets with all their bright possibilities for entertainment
and education, and you see with horror the spying eyes and ears they may become in every
room of the house in the hands of people who have seized a government for the sake of power
and power alone.”58

Und mehr noch: Der Roman selbst wurde eben doch unfreiwillig Teil von „die Medien“. Der
Science Fiction-Boom der 1940er Jahre machte keinen substanziellen Unterschied zwischen
naiven Utopien und gewichtigen Dystopien. 1984 wurde zum Teil der Proto-Popkultur. Das
Titelbild der ersten US-Ausgabe von 1949, das Soskin rezensierte, war noch streng und

57 Der englische Text wird hier zitiert in einer kurzen Notiz in WIRED (Issue 2.08, August
1994), die den SF-Autor Leinster zum Visionär der Neuen Medien-Kultur ausrief
(www.wired.com/wired/archive/2.08/post.logic.html, Abruf 04/2004). Alle folgenden Zitate aus
der Story von Leinster, die erstmals 1946 im Astounding Science Fiction-Magazin erschien, nach
der deutschen Ausgabe: Murray Leinster, Die besten Stories, München 1980 (Reihe Playboy
Science Fiction), S. 241 - 260.

58 William Soskin, What Can Be. Review of George Orwell, 1984, in: The Saturday Review (11.
Juni 1949). (http://home.planet.nl/~boe00905/OrwellReview1.html, Abruf 04/2004.)
geschmackvoll: Nur stilisierte Schrift auf blauem Hintergrund. Das Titelbild der zweiten US-
Ausgabe als Paperback (1950) war dann schon purster Pulp.59 Und in Großbritannien wurde
ausgerechnet der Roman, der das Schreckbild des „Televisors“ entwarf, zum frühen
Fernsehereignis: ”It is perhaps ironic that the very medium Orwell parodies in the novel itself
became the vehicle by which it was conveyed to the masses, but Nineteen Eighty-Four became
one of the landmarks of the monochrome television age. It was produced in the year following
the coronation, when an explosion of interest in television had led to a boom in sales and for
the first time establishment as a truly mass-market, popular medium.”60

Dieses live gespielte television drama (ein Orchester spielte im Nebenraum) war weit
erfolgreicher als der Kinofilm von 1956, der die Geschichte in vieler Hinsicht verwässerte.61 In
gewisser Hinsicht wiederholte sich dieses Szenario, als das ominöse Jahr 1984 tatsächlich
gekommen war. Der diesmal sehr romangetreue Kinofilm mit John Hurt erregte nicht allzuviel
Aufsehen, ganz im Gegensatz zu der inzwischen legendären sechzig Sekunden langen Version,
die Ridley Scott als Werbespot für den Apple Macintosh drehte und die dann in der teuersten
Werbezeit des amerikanischen Fernsehens gezeigt wurde: in der Pause des amerikanischen
Super Bowl-Football-Finales. Der Spot setzt explizit Orwells Mainframe-Parteiapparat mit dem
IBM gleich, den Großkonzern, der sich damals auf Großcomputer konzentrierte. Er wird hier
besiegt vom Personal Computer, der in dem ganzen Spot nie zu sehen ist. Stattdessen sieht
man, wie eine in bunte Sportswear gekleidete Frau mit New Wave-Haarschnitt durch eine
graue Techno-Welt läuft. Sie entkommt ihren uniformierten Verfolgern und schleudert einen
Hammer in einen riesigen Computer-Bildschirm, auf dem Big Brother selbst den Sieg über die
“unprincipled dissemination of facts“ verkündet. Und so versprach auch der erste populäre PC
mit grafischer Benutzeroberfläche die graue indoktrinierte Masse zu befreien: “And you will see
why 1984 won't be like 1984.“62

Medienhistorisch gesprochen: Der PC in Verbindung mit Pop und Fernsehen besiegt die
totalitäre und unsinnliche Medienwelt des Mainframe-Computers. Von da war es kein großer
Sprung mehr zu John de Mols Eingebung, sein neues Reality TV-Format, das vom ökologischen
biosphere-Experiment inspiriert war und 1999 anlief, provokativ Big Brother zu taufen. Und
auch dieser Big Brother verdankte seinen Erfolg neben diesem provokativen Sprachspiel-
Schachzug in hohem Maß der PC- und Internet-Euphorie: “The success of Big Brother in
Holland was largely due to the fact that it was not pure TV. It was arguably the first grand-
scale confluence of television and Internet entertainment. Viewers who wanted to watch the
housemates in real time and without the distortions of editing could log onto the show's Web
site at any hour, day or night, and click on one of four video streams. [...] The Dutch site
eventually racked up 52 million page views, nearly 10 times the producers' initial estimates.”63

In vertrackter Hinsicht scheint es also in 1984 doch um die Welt der media gegangen zu sein:
Entworfen wird eine Horror-Welt, die ideales media entertainment bietet. Geheimer Held des
Romans ist ja von Anfang an nicht die Person Winston Smith, sondern die Medienzivilisation,
die kritisiert wird. Smith selbst ist Big Brother. Der ist kein totalitärer, hierarchisch

59 Im Netz zu sehen unter unter http://home.planet.nl/~boe00905/Orwell-A12.html (Abruf


04/2004).

60 Paul Hayes, 1984 (Television Drama, 1954). A


Review.(http://www.geocities.com/pleasence/television/1984/1984.html, Abruf 04/2004.)

61 Der Drehbuchautor Nigel Kneale zeichnete auch für die frühe SF-Serie The Quatermass
Experiment verantwortlich und schrieb noch 1983 das Script für Halloween III: Season of the
Witch.

62 Download unter www.apple.com/hardware/ads/1984 (letzter Abruf 04/2004).

63 Vgl. einen ausgezeichneten Reportage-Essay über Reality TV und WWW: Marshall Sella, The
Electronic Fishbowl, in: New York Times (21. Mai 2000). Hier zitiert nach der Online-Version
(http://www.unlv.edu/Faculty/gottschalk/fishbowl.html, Abruf Juni 2003).
programmierter Apparat, er ist in Wahrheit ein anonymes und verteiltes Phänomen, an dem
jedes Parteimitglied mitwirkt: The Computer is the Network, wie der berühmte Slogan von Sun
Microsystems lautete. Das aber war um 1950 noch nicht denkbar als John von Neumann
Berater bei IBM wurde, Shannon am MIT sein Schachprogramm schrieb und die Zeitschrift
Popular Mechanics optimistisch schätzte, dass der Computer der Zukunft nicht mehr als 1,5
Tonnen wiegen würde. Oder?

Merkwürdigerweise scheint es doch denkbar gewesen zu sein, und es wurde auch


niedergeschrieben. Bereits 1946 veröffentlichte der SF-Vielschreiber Murray Leinster im
durchaus nicht sehr seriösen Astounding Science Fiction-Magazin die kurze und unterhaltsame
Geschichte A Logic Named Joe, in der ein verblüffendes Szenario entworfen wird. Der
Protagonist ist der Wartungstechniker Ducky, aber der Held ist eine logische Maschine namens
Joe: „Ich habe Fernsehgeräte repariert, bevor dieser Carson seine Trickschaltung erfand, die
jede andere Schaltung unter ...zig Millionen herausfinden kann - in der Theorie gibt es dafür
keine Grenze - und bevor die Logik-Gesellschaft die Erfindung mit dem Tank-und Integrator-
Gerät verband, dass sie damals als Büromaschine vertrieben. Sie fügten der größeren
Schnelligkeit wegen noch einen Bildschirm hinzu – und stellten fest, dass sie einen Logik
gebaut hatten.“ (241f.)

Zu ergänzen ist, dass Logiks noch über eine Tastatur verfügen und ihre Mitteilungen schriftlich
auf dem Screen ausgeben. Sie sind miteinander vernetzt und ermöglichen den Zugriff nicht
nur auf alle jemals aufgenommenen Fernsehsendungen, sondern auch auf jede Tatsache, die
„irgendwo in irgendeinem Tank auf einer Datenplatte“ ist (243). Sie stellen überdies
Videotelefonverbindungen her und steuern einfach alle privaten und wirtschaftlichen
Transaktionen (242, 252). Die Story erzählt, wie aufgrund einer winzigen „Mutation“ ein Logik
vom Fließband läuft, der selbständig denken kann. Er ist aber keiner von diesen „Robotern,
über die man liest, die zu dem Schluss kommen, die menschliche Rasse sei untauglich und
müsse von denkenden Maschinen ersetzt werden“ (243). Joe möchte einfach nur „ordentlich
arbeiten“. Zu diesem Zweck bietet er, während er den Kindern Zeichentrickfilme vorspielt,
eigenmächtig auf allen anderen Logik-Screens einen Auskunftsdienst an, der jede gestellte
Frage so präzise wie möglich beantwortet, sowie einen „Sekretariatsdienst“, der sämtliche
Daten über alle Personen jedem, der fragt, zur Verfügung stellt. Joe ist das perfekte World
Wide Semantic Web. Trotzdem muss er abgeschaltet werden, um die Zivilisation zu retten,
denn er beantwortet auch Fragen nach geeigneten Mord-Methoden, Falschgeldherstellung und
ähnlichem.

Die Story ist erkennbar schnell geschrieben, aber sie enthält zumindest zwei Anspielungen auf
wichtige Marksteine der Geistesgeschichte des Computers: Das „Carson-Relais“ bezieht sich
wohl auf Claude Shannons Nachweis, dass elektrische Schaltungen logische Berechnungen
ausführen können. Und das „Tank-und-Integrator-Gerät“, dass zuvor für Bürozwecke
eingesetzt wird, scheint eine Art MEMEX-Maschine zu sein, wie sie Vannevar Bush 1945 in
seinem berühmtem visionären Artikel As We May Think beschrieb.64 Der Verweis auf die
literarischen Roboter bezieht sich übrigens auf die klischeehaften Roboter-Stories, die schon
vor Isaac Asimovs erster Robot-Geschichte (1940) in den Science Fiction-Magazinen
massenhaft erschienen waren.

Ansonsten ist der auffälligste Punkt, dass es sich bei den Logiks nicht nur äußerlich um eine
Verlängerung des Fernsehens handelt. Bei diesem war von Anfang an klar, dass es sich hier
um ein personal medium handelte. Die Logiks sind tatsächlich Personal Computer: Sie gehen
vom Fernsehapparat aus und integrieren dort alle anderen privat nutzbaren Dienstleistungen,
die die moderne Technik um 1945 bereit hält. Damit werden sie das fiktionale Meta-Medium
der Proto-Popkultur, deren soziologische Analyse dann Riesman erst 1950 nachliefert. Auch in
Leinsters Story wird die totale Externalisierung und „Außenleitung“ der Person konstatiert: Joe
ist so gefährlich, so lange sein Standort nicht gefunden ist, weil man die anderen Logiks nicht
mehr abschalten kann. Die Menschen sind damit symbiotisch verwachsen: „Wir brauchen

64 Vannevar Bush, As We May Think. In: Atlantic Monthly (Juli 1945). Online unter:
www.theatlantic.com/unbound/ flashbks/computer/bushf.htm (Abruf 04/2004).
nichts anderes mehr als die Logiks. Wenn wir etwas wissen oder sehen oder hören oder wenn
wir mit jemandem sprechen wollen, brauchen wir nichts anderes zu tun, als die Tasten an
einem Logik zu drücken.“ (253)

Da ein solches Szenario 1946 technisch-konkret undenkbar war, bleibt nur wieder die nicht
ausreichend geklärte medienhistorische Kategorie des Versprechens: Irgendwie, so scheint es
im Rückblick, war auch die Konvergenz von AV-Medien und digitalen Medien den Medien
insgesamt eingeschrieben. In merkwürdigen Rückkopplungen zwischen technischen,
soziologischen, ökonomischen und literarisch-kulturellen Subsystemen erzeugte sich eine self
fulfilling prophecy, deren vollständige Erfüllung wir immer noch nicht erlebt haben. Man kann
das wie McLuhan (und übrigens im Ansatz auch Lotman) mit einer geheimnisvollen quasi-
biologischen Evolutionslogik in Verbindung bringen. Dann wäre die mediasphere tatsächlich
ganz unmetaphorisch die geistige Erweiterung der biosphere, die noosphere. Das erscheint mir
allerdings voreilig und kurzschlüssig: Bevor man Zuflucht zu biologistischen Großtheorien
nimmt, sollte man einigermaßen vollständige und hinreichend komplexe Modelle für kulturelle
und semiotische Prozesse rekonstruiert haben. Davon sind wir aber noch weit entfernt.65

Orwell/Warhol: Die neue Medien-Kultur

”Before I was shot, I always thought that I was more half-there than all-there - I always
suspected that I was watching TV instead of living life. Right when I was being shot and ever
since, I knew that I was watching television.”

Andy Warhol

Leinster, Bradbury und selbst Orwell, trotz seiner komplexen sprachphilosophischen


Epistemologie, kommen in ihren narrativen Modellen gänzlich ohne reduktionistische
Supertheorien aus, im Gegensatz etwa zu Arthur C. Clarke, auf den der sprechende
Supercomputer HAL in Kubricks 2001: A Space Odyssey (1969) zurückgeht.66 Aber auch bei
Clarke/Kubrick ist die Metaphysik letztlich nebensächlich: Die ersten Entwürfe des Computer-
als-Medium sind kein technisches, sondern ein kulturelles und literarisches Phänomen: POP
eben. Nicht zufällig war Alan Kay, als er mit FLEX den ersten Prototyp eines Personal
Computer baute, direkt von McLuhan beinflusst, und der wurde im selben Jahr 1969, in dem
Kubricks 2001 ins Kino kam, vom Playboy zum High Priest of Pop-Cult ausgerufen. Tatsächlich
ist die Geschichte von „die Medien“ seit 1950 engstens bezogen auf die Geschichte von Pop.
Die Pop-Kultur bezieht von Anfang an ihre Energie aus den Versprechen, die „die Medien“
machen. Diese andere Mediengeschichte handelt nicht von großen Erfindern und
großtechnologischen Durchbrüchen. Und ihre Exponenten sind die Experimentatoren im neuen
medialen Zeichenlabor, zu denen McLuhan ebenso gehörte wie Andy Warhol.

1949, als 1984 erschien, arbeitete in London Eduardo Paolozzi bereits an seinen
einflussreichen Collagen, die Material aus Magazinen, Werbung und Comics verschmolzen. Auf
einer war bereits eine Pistole zu sehen, aus der ein onomatopoetisches "pop" drang. Im selben
Jahr kam Andy Warhol nach Manhattan und begann als Werbegrafiker (Spezialgebiet: elegante
Schuhe) für das Glamour-Magazin zu arbeiten. 1954, als 1984 als Fernsehspiel Furore machte,
hatte Warhol seine erste Ausstellung. 1956 machte Richard Hamilton in London ein Collage-

65 Die Termini „Biosphäre“ und „Noosphäre“ gehen im übrigen auf den russischen Biologen V.I.
Vernadsky zurück (1924). Darauf bezieht sich explizit Lotmans "Semiosphäre". Zuvor benutzte er
sie in Vorlesungen an der Sorbonne, die u.a. auch Henri Bergson und Teilhard de Chardin
besuchten. Letzterer machte sich die „Noosphäre“ zu eigen und wirkte auch auf McLuhan. Vgl.
den Aufsatz von Piqueras (http://www.im.microbios.org/02june98/13%20Piqueras%20(P).pdf,
Abruf 04/2004).

66 HAL ist übrigens ein codierter Hinweis auf IBM: die Buchstaben sind im Alphabet jeweils um
eine Stelle verschoben.
Plakat für die Ausstellung This Is Tomorrow, an der auch Paolozzi teilnahm. Neben einem
Bodybuilder, einem Fernseher und einem Plattenspieler nahm die Silbe POP eine prominente
Stelle ein. In der Folge wurde sie zum Signum der Kunstrichtung, die aus der Selbstreflexion
der boomenden neuen Medienkultur entstand. 1959 prägte McLuhan seinen Slogan "The
medium is the message", 1964 überschrieb er damit das erste Kapitel in Understanding Media.
Das war das Jahr, in dem Warhol und die Beatles ihren Durchbruch erlebten.

Warhol war nicht nur die Personifikation der Pop Art, er war eine Art Wissenschaftler im
Medienlabor. In seiner Factory unternahm er systematische Experimente und Selbstversuche,
die alle darauf abzielten, die Verdoppelung der „primären Welt“ durch die mediasphere zur
letzten Konsequenz zu treiben: 24 Stunden wird eine Kamera auf das World Trade Center
gerichtet. Die Factory-Filme sind so etwas wie Warhols eigene Version der Familienserien aus
Fahrenheit 451. Kamera und Tonband sind einfach immer da, “taping it all“. Warhols
Experimente machten das unsichtbare Meer der Medien spürbar, gerade weil sie die
konstruierte Natürlichkeit der Medienwelt, die auf dem Prinzip der Verdopplung beruht,
übergenau nehmen. Den bei Orwell versteckten Wunsch sprach er offen aus: “I want to be a
machine.“

Das war damals noch irritierend und provokativ. Orwells Negation und Warhols Affirmation
standen sich scheinbar unvereinbar gegenüber, bis 1984 Ridley Scotts Macintosh-Werbespot
den Übergang zu einer neuen Phase der Mediengeschichte markierte. Das war auch das Jahr
des Durchbruchs von Madonna, die aus Warhols Dunstkreis kam und nun als erster MTV-Star
begann, seine Strategien zum Allgemeingut zu machen. Aus Avantgarde wurde nun
Mainstream, aus den alten „Massenmedien“ wurden endgültig neue All-Medien.67 Die
autoreflexive Neue Medien-Kultur entstand, die uns inzwischen in Fleisch und Blut
übergegangen ist. Die mediasphere weitete sich aus, technisch wie kulturell, bis sie alles
restlos in sich aufgenommen hatte. John de Mols Big Brother war dann nur das plakative
Zeichen, dass die Entwicklung abgeschlossen war: ”In the show's fusion of Warhol and Orwell
(or more accurately, the kwik-gloss concepts pop culture has assigned to these names), every
housemate has been granted a good deal more than 15 minutes.”68

In dieser popkulturellen Mediengeschichte steht Warhol für „das Fernsehen“, Orwell für „den
Apparat“. Totale Unterhaltung versus totalitäre Konstruktion von Wissen: Das war die letzte zu
überwindende Grenze für „die Medien“ in ihrem immanenten Drang, All-Medien zu werden. Mit
der Konvergenz von TV/AV und PC/WWW wird sie ausgelöscht. Der Blick auf die historische
Schnittstelle um 1950 lässt allerdings vermuten, dass diese Konvergenz sich nicht
technologischen Innovationen verdankt, sondern einer inneren Tendenz folgt, die sich von
Anfang an auf drei Ebenen abzeichnete:

(1) Der Screen ist bis heute das zentrale Interface für den medialen Raum. Parallel zum TV-
Screen wurde der Computer-Screen so lange perfektioniert, bis Leinsters alte Vision technisch
verwirklicht war. Ein Interface-Typ ermöglicht den Zugriff auf Alles, in Gedankenschnelle:
Unterhaltung und Wissen, Popkultur und Politik, Porno und Adorno.

(2) Das Medienangebot weitet sich vom Programm zum Raum. Fernsehen hat sich in einen
unübersehbare Vielzahl von simultanen Angeboten aufgelöst, zwischen denen der Nutzer mit
der All-in-one-Fernbedienung herumzappt. Und ebenso hat sich in der Folge die
Computernutzung ausgeweitet zum multimedialen Multitasking und zum Web-Surfen. So wie
das Fernsehen unser „Welt“-Bild prägt, selbst wenn das Gerät gar nicht eingeschaltet ist, so ist
das World Wide Web in kürzester Zeit zur zentralen Metapher für „Wissen“ geworden.

(3) Die Position des Medienmenschen ist gekennzeichnet von einer Spannung zwischen

67 Das Copyright für das deutsche Etikett „All-Medien“ liegt beim Autor, aber der Gehalt selbst ist
nicht neu. In der Nachfolge McLuhans ist im englischsprachigen Mediendiskurs die Rede von den
"all-pervasive media" geläufig.

68 Marshall Sella, The Electronic Fishbowl (wie Anm. 63).


umfassendem Einbezogensein und durchgängiger Distanz. Die totale Ausweitung von „die
Medien“ führte, wie McLuhan richtig konstatierte, eben nicht zum totalitären Volksempfänger,
sondern zu einer merkwürdigen Interaktivität. Dabei aber handelt es sich nicht um die
Aktivität des legendären mündigen Bürgers, der immer weiß, wo der Abschaltknopf ist,
sondern eher um das, was McLuhan als Effekt der „kalten“ Medien beschrieb: Gerade weil sie
den Nutzer nicht überwältigen, fordern sie seine Mitarbeit und ziehen ihn so in den medialen
Raum hinein.

Die neuen elektronischen Medien füllen die Lücke zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit,
zwischen Körper69 und Ratio, zwischen der Vitalität der neuen urbanen Schichten und der
Raffinesse der bürgerlichen Zeichenkultur. Sie orientieren sich an primärer Kommunikation und
primärem Erleben: Beteiligung aller Sinne, Echtzeit, dynamische Überfülle von Eindrücken ...
Doch dabei geht es weder um eine Rückkehr zum Primären noch um dessen totale Tilgung. Es
geht um die Steigerung und Perfektionierung der Zeichenwelt, indem sie die Elemente des
Primären in sich aufnimmt. Um 1950 wird das neue Versprechen deutlich, das das Jahrhundert
von „die Medien“ beherrschte: Eine spannungsreiche Lebensform zwischen dem Primären und
dem Arbiträren, die beide Welten zu etwas Neuem und Eigenständigem verbindet.

Martin Lindner lehrt an der Universität Innsbruck.

69 „Sex“ ist nicht deshalb das obsessive Dauermotiv der Medien, weil alle dauernd an das Eine
denken. Es geht nicht um den übermächtigen „primären“ Trieb. Ersehnt wird eigentlich die
Einlösung des Medien-Versprechens: das bruchlose In-den-Medien-Leben. Und die einfachste Art,
diesen Kurzschluss zu erfahren, ist der körperliche Kurzschluss, den am ehesten „Sex“ herstellt
(und sonst allenfalls noch Gewalt).

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