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Ostpreußen (heute Nordostpolen sowie die russische Politik zuzuschreiben. Die Umsiedlung war die politische
Oblast Kaliningrad), später auch aus Schlesien (heute Antwort auf die völkische Außenpolitik, die das Deutsche
Südwestpolen), dem Reichsgau Sudetenland (heute Reich seit der Reichsgründung 1871 kontinuierlich
Randgebiete der Tschechischen Republik) und anderen betrieb.
Regionen.
Doch längst nicht alle flohen; zahlreiche Deutsche ver- Völkische Außenpolitik
blieben inmitten der befreiten nichtdeutschen Bevölke-
rung. Dass die zuvor zu ”Untermenschen” erklärten Opfer Dabei machte sich die deutsche Außenpolitik das in
der Nazis ihre bisherigen Peinigerinnen und Peiniger nicht Deutschland herrschende völkische Denken zu Nutze.
besonders mochten, ist ebenso verständlich wie ihr Demzufolge ist deutsch nicht, wer einen deutschen Pass
Wunsch, nicht mit ihnen zusammenleben zu müssen. Bald besitzt, sondern nur, wer deutsche Vorfahren hat. Nach
nach der Befreiung kam es in einigen der befreiten völkischer Ansicht gab es schon bei der Gründung des
Gebiete zu so genannten ”wilden Vertreibungen”: Die Deutschen Reiches im Jahr 1871, erst recht aber nach den
Deutschen wurden spontan und ohne rechtliche Regelun- 1919 im Versailler Friedensvertrag beschlossenen Ge-
gen verjagt. bietsabtretungen so genannte ”deutsche Minderheiten” in
zahlreichen europäischen Staaten. Diese ”deutschen
Völkerrechtliche Grundlage Minderheiten” nutzte die deutsche Regierung für ihre
Außenpolitik.
Relativ rasch versuchten die Alliierten, die ”wilden Mit nicht selten verdeckten Geldzuweisungen aus
Vertreibungen” in geordnete Bahnen zu lenken. Auf der Berlin gelang es, die Anbindung der ”deutschen Minder-
Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis zum 2. August heiten” an Deutschland zu sichern. Eine wichtige Rolle
1945 verordneten sie völkerrechtlich verbindlich die spielten dabei auch zahlreiche nichtstaatliche Organisatio-
Ausweisung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslo- nen, die mit reger Besuchstätigkeit persönliche Kontakte
wakei und Ungarn. ”In ordnungsgemäßer und humaner zwischen ”Reichsdeutschen” und ”Auslandsdeutschen”
Weise” solle die Umsiedlung der Deutschen in das ver- stärkten und mit publizistischer Aktivität die Ansicht för-
kleinerte Deutschland erfolgen, legten die Alliierten fest. derten, die jeweiligen ”auslandsdeutschen” Gebiete soll-
Vom Ziel wichen sie jedoch keinen Deut ab: ”Die drei ten an das Deutsche Reich angeschlossen werden.
Regierungen [Großbritanniens, der Sowjetunion und der Das bekannteste Beispiel für die verheerenden
USA] haben die Frage unter allen Gesichtspunkten bera- Auswirkungen völkischer Agitation ist das ”Sudetenland”.
ten und erkennen an, daß die Überführung der deutschen Die deutschsprachige Bevölkerung der Tschechoslowakei
Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, entwickelte mit Unterstützung aus dem Deutschen Reich
Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, separatistische Aktivitäten in gewaltigem Ausmaß, die
nach Deutschland durchgeführt werden muß”, heißt es im den Anschluss an das Reich maßgeblich vorbereiteten. Als
Potsdamer Abkommen. die deutsche Wehrmacht im Oktober 1938 in die
Dass die Alliierten - und mit ihnen die mit- Tschechoslowakei einmarschierte, wurde sie von der
tel- und osteuropäischen Staaten - die ”deutschen Minderheit” begeistert begrüßt.
Ausweisung der Deutschen auch politisch Als die Alliierten und die polnische sowie die tschecho-
für unumgänglich hielten, haben die slowakische Exilregierung während des Zweiten
Deutschen ihrer eigenen Weltkrieges darüber nachdachten, wie die Nachkriegs-
ordnung in Europa zu gestalten sei, spielten die Erfahrun-
gen mit den staatszersetzenden Folgen der völkischen
deutschen Außenpolitik eine wichtige Rolle. Die Funktio-
nalisierung ”deutscher Minderheiten” im Ausland bis hin
zu Anschlussforderungen sollte nach den Erfahrungen des
Zweiten Weltkriegs ein für allemal unterbunden werden.
Die Lösung, auf die die Alliierten sich in Potsdam einig-
ten, bestand darin, alle Deutschen in das (verkleinerte)
Deutschland umzusiedeln. Völkischer ”Minderheiten”-
Politik, so hoffte man, könne damit die Grundlage entzo-
gen werden.
”Benes-Dekrete”
straffrei erklärt.
Die Forderung, die Umsiedlung insgesamt zum ”Un-
recht” zu erklären, die auch das vom Bundestag geplante
”Zentrum gegen Vertreibungen” verkörpert, zielt jedoch
direkt ins Herz der europäischen Nachkriegsordnung: Sie
beträfe das Potsdamer Abkommen. Im Potsdamer Abkom-
men wurden grundlegende Entscheidungen getroffen,
etwa die Festlegung der deutschen Grenzen, die Entnazifi-
zierung und Entmilitarisierung Deutschlands und auch die
Umsiedlung der Deutschen. Würde die Umsiedlung zum
”Unrecht” erklärt, dann wäre ein wichtiger Bestandteil des
Potsdamer Abkommens hinfällig und der Weg für eine
deutsche Neuordnung Europas noch offener als bisher.
sche Internierte durchzusetzen, werden inzwischen vor- Alltägliche Zusammenarbeit von ”Vertriebenen” und
sichtig von der deutschen Regierung unterstützt. deutschen Behörden findet in unspektakulären Bereichen
statt, etwa bei Städtepartnerschaften. Die ”Vertriebenen”
Gemeinsame Interessen haben weit überdurchschnittliche Beziehungen zu ihren
von ”Vertriebenen” und Staat Herkunftsgebieten; deutsche Städte nutzen dies, um die
Kontakte zu ihren Partnerstädten im Osten auszubauen.
Die Zusammenarbeit von ”Vertriebenen” und deut- Ein dichtes Netz von Städtepartnerschaften wiederum
schem Staat reicht jedoch viel weiter; sie zeigt sich nach stärkt den deutschen Einfluss im Ausland. Dies erleichtert
der Öffnung der Grenzen nach Osten im Jahr 1989 in ver- es übrigens deutschen Konzernen, ihre jetzt schon beherr-
schiedenen Bereichen immer offener. Und sie dient der schende Marktposition in Mittel- und Osteuropa auszu-
ungebremsten Ausdehnung der deutschen Hegemonie bauen.
über ganz Europa. Die ”Vertriebenen” werden ihren Beitrag zur deutschen
Mit ihrer Forderung nach ”Volksgruppenrechten” befin- Hegemonie über Europa auch dann noch leisten, wenn
den sich die ”Vertriebenen” schon lange in weitgehender diejenigen, die persönlich umgesiedelt wurden, längst
Übereinstimmung mit dem deutschen Staat. Die deutschen gestorben sind. Dafür hat der deutsche Staat gesetzlich
Staatsapparate arbeiten selbst seit Jahren an der Durch- vorgesorgt. Die Eigenschaft, ”vertrieben” zu sein, war bis
setzung von ”Volksgruppenrechten” auf europäischer Ende 1992 erblich; Nachkommen von ”Vertriebenen”, die
Ebene. Gäbe es zahlreiche ”deutsche Volksgruppen” mit vor 1993 geboren wurden, gelten selbst als ”Vertriebene”.
weit reichender Autonomie rings um das eigene Terri- Die ”Vertriebenen”-Verbände sind da noch kulanter. Bei
torium herum, hätte Deutschland vermutlich größeren ihnen genügt schon ein Bekenntnis zu den ”deutschen
Einfluss als jetzt. Ostgebieten” zum Erwerb der Mitgliedschaft.
Die Eigenständigkeit der umliegenden Staaten, die
”deutsche Volksgruppen” beherbergen, wird derzeit vor Literaturtipps
allem mit dem Schlachtruf ”Weg mit den Benes-
Dekreten!” angegriffen. Müsste die Tschechische Repu- Samuel Salzborn
blik die ”Benes-Dekrete” annullieren, dann träten unwei- Grenzenlose Heimat
gerlich die ”Vertriebenen” auf den Plan - mit dem Verlan- Geschichte, Gegenwart und Zukunft der
gen, ihnen ihr früheres Eigentum in Tschechien wieder zu- Vertriebenenverbände
zuerkennen. Es ginge dann also darum, ob beträchtliche Berlin 2000 (Elefanten Press)
Teile des tschechischen Territoriums in deutschen Besitz
kämen. Genauso verhielte es sich mit weiten Teilen Polens Samuel Salzborn
(bei einer Annullierung der ”Bierut-Dekrete”), Slowe- Heimatrecht und Volkstumskampf
niens und Jugoslawiens (bei dem Fall der ”AVNOJ-De- Außenpolitische Konzepte der Vertriebenenverbände
krete”) etc. und ihre praktische Umsetzung
Noch weiter zielt die Forderung der ”Vertriebenen”, die Hannover 2001 (Offizin)
Umsiedlung insgesamt zum ”Unrecht” zu erklären. Ge-
stützt wird diese Forderung durch die Behauptung, im Ver- Holger Kuhr
lauf der Umsiedlungen seien zahlreiche Verbrechen an ”Geist, Volkstum und Heimatrecht”
Deutschen verübt worden. Das mag stimmen, tut aber 50 Jahre ”Charta der deutschen Heimatvertriebenen”
nichts zur Sache. Es kann ja eigentlich nicht ernsthaft und die eth(n)isch orientierte deutsche Außenpolitik
gefordert werden, Vergeltungsmaßnahmen für die Gräuel- Hamburg 2000 (GNN-Verlag)
taten der Nazis zu bestrafen, während ein Großteil der
deutschen Gräueltäter straflos geblieben ist. Und: In der Informationen zur Deutschen Außenpolitik:
Tschechoslowakei etwa wurden Vergeltungsakte für von http://www.german-foreign-policy.com
Deutschen erlittenes Unrecht in einem Amnestiegesetz
von 1946 sowieso zwar nicht für rechtmäßig, aber für