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meinde verloren bis zu „Profiteuren der Entrech- für begehrte Belohnungen Jagd auf entflohene Ju-
tung“ (S. 227), die positiv wirken oder auch Juden den und „jüdische Banden“ wurden von allen Wi-
in Lager verschicken lassen konnten und aufgrund derstandsgruppen in unterschiedlichem Maße und
ihrer intimen Kenntnisse im Ghetto gefürchtet wa- in Abhängigkeit von den jeweiligen Anführern be-
ren. kämpft. Gleichzeitig gab es viele Polen, die ihre jü-
Der zweite Teil schließt mit einem Kapitel zum dischen Nachbarn versteckten oder sie mit Lebens-
Verhalten der jüdischen und christlichen Bevölke- mitteln versorgten. Dafür war ein rational kaum zu
rung ab. Gerne hätte man dabei mehr über das Ver- erfassender Mut erforderlich, wurde doch die Auf-
halten der polnisch-jüdischen Bevölkerung in den nahme von geflohenen Juden mit der Todesstrafe
ersten Kriegstagen erfahren. Knüpfen sich doch bedroht, ganze Familie und völlig Unbeteiligte für
daran – wie beim Angriff auf die Sowjetunion – Hilfsaktionen erschossen. Angesichts der alleror-
Thesen zur Wahrnehmung der Juden durch die Be- ten herrschenden Gewalt fragt man sich, wer sich
satzer, die eine Überprüfung und eingehende Wi- aus welchen Motiven überhaupt gegen das mörde-
derlegung verdienen. Im dritten Teil der Studie rische System von Terror und Verrat wendete. Ma-
wird die Ermordung der Juden im Distrikt Radom ria Szczecinska aus Staszow etwa, allein stehende
im Rahmen der „Aktion Reinhard“ behandelt, die Mutter von fünf Kindern, die fünfzehn Menschen
Vorbereitungen auf den verschiedenen Ebenen, die fast zwei Jahre versteckte und ihr Überleben si-
Räumung der Ghettos und die Ausplünderung der cherte, ist ein strahlendes Beispiel, über das man
in die Vernichtungslager deportierten Menschen. gerne mehr erfahren würde.3
Auch hier spiegelt Mlynarczyk die Politik und Robert Seidel behandelt neben der Ausbeutung
Methoden der Besatzer an der Wahrnehmung und und Ermordung der jüdischen Bevölkerung auch
dem Verhalten der Opfer, wiederum ergänzt durch weitere Aspekte der Besatzungspolitik, nämlich
einen Abschnitt über die Reaktionen der christli- die wirtschaftliche Ausbeutung des Distriktes, die
chen Polen. Im abschließenden Teil beschäftigt er Verschleppung von Polen zur Zwangsarbeit in das
sich schließlich mit den jüdischen Zwangsarbeiter- Deutsche Reich sowie die Partisanenbekämpfung.
lagern im Distrikt. Gab es in den ersten Monaten Zehntausende Po-
Die christlichen Polen standen dem Schicksal len, die sich aus verschiedenen Gründen – vor
der jüdischen Bürger – begünstigt durch die fort- allem Arbeitslosigkeit – freiwillig zur Arbeit im
schreitende Ghettoisierung und dem Verschwin- Reich meldeten, griff die Besatzungsmacht in dem
den aus dem Stadtbild – überwiegend desinteres- Maße, wie diese Bereitschaft zurückging und der
siert gegenüber, hatten sie doch selbst unter den Druck zur Gestellung von Zwangsarbeitern wuchs,
schweren Lebensbedingungen zu leiden. Nach der zu Auflagen und Androhung härtester Strafen. Wie
Auflösung der Ghettos ab Sommer 1942 retteten bei den Auseinandersetzungen um die Ermordung
sich erstaunlich viele Menschen in die Wälder, der Juden standen auch hier die „Kriegsnotwen-
in nicht wenigen Fällen gelang nahezu der Hälf- digkeiten“ im Vordergrund der Konflikte. Woll-
te der Juden die Flucht. Auf Hilfe gegen die Jagd- ten die Zivilverwaltung und die durch deutsche
kommandos der deutschen SS- und Polizeiverbän- Unternehmen oder die Wehrmacht geleitete Wirt-
de und ihrer einheimischen Helfer konnten sie al- schaft die Produktion im Generalgouvernement
lerdings nicht rechnen. In den letzten beiden Jah- aufrechterhalten oder gar ausweiten, bemühte sich
ren der Besatzung tobte ein grausamer Überlebens- Hitlers Bevollmächtigter für den Arbeitseinsatz,
kampf, ein bellum omnium contra omnes, bei dem Fritz Sauckel, möglichst viele Arbeitskräfte für
Rücksichten nur selten genommen wurden. Die die Landwirtschaft und die Industrie im Deutschen
Kriegslage und die damit verbundene Verschlech- Reich zu „gewinnen“.
terung aller Lebensumstände brachte niederste In- Trotz aller Zwangsmaßnahmen blieb die Ver-
stinkte sowohl bei den sich jeder moralischen Bin- schleppung von Arbeitskräften aber immer hinter
dung ledig fühlenden Besatzern wie den im Über- den Erwartungen der Besatzer zurück, wenngleich
lebenskampf stehenden Unterdrückten zutage. man fragen muss, ob 1944 bei einer Anforderung
Viele Polen, etwa die polnischen Widerstands- von 100.000 Arbeitskräften und der tatsächlichen
gruppierungen des rechtsnationalen Lagers, knüpf-
3 Jüngstauch Weinstein, Frederick, Aufzeichnungen aus dem
ten an den radikalen Antisemitismus aus der Vor-
Versteck. Erlebnisse eines polnischen Juden 1939-1946.
kriegszeit an und beteiligten sich an Erpressung Hrsg. und mit einem Kommentar versehen von Barbara
und Ausplünderung. Polnische Agenten machten Schieb und Martina Voigt. Aus dem Polnischen übersetzt von
Jolanta Wozniak-Kreutzer, Berlin 2006.