Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
H.
EXPOSÉ ZUM DISSERTATIONSPROJEKT
1
CHARLOTTE BINDER EXPOSE SEPTEMBER 2012
1
Unter dem Begriff Frauen- und Geschlechterpolitiken lassen sich eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren
sowie deren heterogene Verortungen, Themen und Strategien fassen. Im Rahmen der empirischen
Datenerhebung und theoretischen Reflexion sollen die Begriffe Frauenbewegung(en), Geschlecht und
Feminismus, die in der Fachliteratur definitorisch unterschiedlich verwendet werden und damit auch auf
verschiedene politische und theoretische Positionierungen hindeuten, näher – insbesondere auch im Bezug auf
den türkischen und den deutschen Sprachgebrauch - bestimmt werden.
2
Beispielhaft kann hier die Kampagne "Benim Bedenim! Benim Kararim!" (dt. "Mein Körper! Meine
Entscheidung!") gegen die von der AKP-Regierung geplante Verschärfung des Abtreibungsgesetztes im
Frühjahr 2012 genannt werden. Siehe z.B.: www.boell.de/demokratie/geschlechter/feminismus-
geschlechterdemokratie-tuerkei-abtreibungsgesetz-kampagne-erdogan-14763.html. Zugriff am 31.07.2012
3
Der Internationale Frauentag wurde nur in Dänemark, Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und der
Schweiz zum 100. Mal begangen. In der Türkei wurde der Weltfrauentag das erste Mail 1920 von
kommunistischen Frauen im Untergrund gefeiert (vgl. Koç 2009).
2
CHARLOTTE BINDER EXPOSE SEPTEMBER 2012
Anlässlich des Jubiläums sind weltweit eine Vielzahl von Veranstaltungen durchgeführt
worden sowie Dokumente entstanden, deren Auswertung zunächst zur Kontextualisierung des
Forschungsgegenstandes sowie zur Modifizierung von Forschungsfragen jeweils bezogen auf
Deutschland und die Türkei dienten. Dabei zeigte sich, dass sich der Internationale Frauentag
konkret als Untersuchungsgegenstand anbietet, da im Rahmen des Jahrestages verdichtet über
die Existenz und Begründung von Frauenbewegung(en), Feminismus sowie über
Geschlechterdifferenzen verhandelt wird.
Die komparative und transnationale Studie orientiert sich an dem von Michael Werner und
Bénédicte Zimmermann entwickelten Konzept der histoire croisée (2002), mittels dessen
Vergleiche und Transferuntersuchungen verbunden werden können. Dieses reflexive
Forschungsprogramm fasst die Nation zwar weiterhin als zentrale und wirkmächtige
Orientierungskategorie, stellt aber gleichzeitig ein nationales Eigenleben von Milieus,
Werten, Sprache und Institutionen von Gesellschaften in Frage.
So lassen sich im Zuge der europäischen Integration und weiteren Globalisierungs- und
Transnationalisierungsprozessen in beiden Ländern zum Beispiel eine sogenannte
NGOisierung von Frauenorganisationen, eine "inhaltliche Akzentuierung des Ansatzes der
FrauenMenschenrechte" (Ruppert 2001: 203) sowie eine transnationale Vernetzungen von
Frauenbewegungen beobachten.
Zur theoretischen Kontextualisierung soll die Untersuchung mit Theorien zu sozialen
Bewegungen, der Frauen- und Geschlechterforschung, mit postkolonialen Theorien sowie mit
Theorien der Globalisierung und zu transnationalen Prozessen verbunden werden. Im
Zusammenhang mit dem Internationalen Frauentag als Jahres- und Gedenktag soll bei der
Analyse der empirischen Daten auch auf Ansätze aus der Ritual- sowie der historischen
Gedächtnisforschung zurückgegriffen werden.
Zentrale Forschungsfragen
Welche Institutionen, Bündnisse, Netzwerke, Gruppen sowie Akteurinnen und
Akteure partizipieren am Internationalen Frauentag in Berlin (2012) und Istanbul
(2013) bzw. nehmen aus welchen Gründen nicht teil?
Welche aktuellen Themen, Forderungen und Debatten werden im Rahmen des 8. März
in Deutschland und der Türkei heute jeweils verhandelt? Welche Begriffsdefinitionen
von Frauentag, Frauenbewegung(en), Geschlecht und Feminismus werden dabei
verwendet?
3
CHARLOTTE BINDER EXPOSE SEPTEMBER 2012
Auf welche Art und Weise wird der Internationale Frauentag jeweils performativ und
rituell inszeniert? Welche Symbole und Bilder werden verwendet?
Welchen diskursiven Umgang gibt es mit der Geschichte und der Bedeutung des
Internationalen Frauentags in beiden Ländern?
Welche Positionierungen der Akteurinnen und Akteure der Frauen- und
Geschlechterpolitiken werden anhand des Internationalen Frauentags jeweils sichtbar?
Welche transnationalen Verflechtungen werden im Rahmen des Internationalen
Frauentags erkennbar?
Forschungsstand
Die bisherigen kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungen zu Frauenbewegungen und
Frauen- und Geschlechterpolitiken in Deutschland (z.B. Lenz 2001; Holland-Cunz 2003;
Schaser 2006; Gerhard 2009) und der Türkei (z.B. Amargi 2005; Al-Rebholz 2011)
analysieren, häufig bezogen auf strukturelle Verhältnisse und internationale Impulse,
historische Entwicklungen sowie aktuelle Organisationsformen, Diskurse, Öffentlichkeiten,
Projekte und Kampagnen. Eine Vergleichs- und Transferuntersuchung von Frauen- und
Geschlechterpolitiken in Deutschland und der Türkei stellt jedoch ein Forschungsdesiderat
dar.
Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Internationalen Frauentages sind einige
wissenschaftliche Publikationen entstanden, die sich auf die Geschichte und den
Bedeutungswandel des Internationalen Frauentages im deutschsprachigen Raum beziehen und
somit eine erste Grundlage für die geplante Untersuchung bilden (z.B. Stuckmann 2011;
Niederkofler et al 2011; Deutscher Frauenrat 2011). Internationale Unterschiede und
Gemeinsamkeiten bezüglich des 8. März, der in Folge seiner historischen Entstehungs-
geschichte immer im Spannungsfeld zwischen sozialistischen und demokratischen
Bewegungen und Frauenrechtsforderungen analysiert werden muss, wurden vergleichend
bisher jedoch kaum herausgearbeitet.
Die 20 qualitativen Interviews mit Akteurinnen und Akteuren der Frauen- und
Geschlechterpolitik, die im Rahmen der Feldforschung in Berlin durchgeführt, audiovisuell
aufgezeichnet sowie transkribiert wurden, stellen das zentrale Forschungsmaterial der
prozessorientierten Datenerhebung dar. Zu den Expertinnen der Frauen- und Geschlechter-
politik in Berlin gehörten sowohl Personen aus der staatlichen Institutionenpolitik als auch
aus der Zivilgesellschaft.4
Die empirische Forschung in Berlin ist bereits abgeschlossen und die bisherigen Ergebnisse
der Datenerhebung sind sehr vielversprechend. So wurden im "Frauenmärz"5 2012 in Berlin
mehr als 200 Veranstaltungen zum Thema Frauen und/oder Geschlechterverhältnisse
organisiert. Obwohl in Berlin auf unterschiedlichen Ebenen frauen- und geschlechter-
politische Forderungen artikuliert wurden, gelang die Vernetzung der verschiedenen
Organisationen, Netzwerke, Initiativen und Einzelpersonen anlässlich des Internationalen
Frauentags nur partiell. Weder am Weltfrauentag noch wenn es um konkrete Themen wie
Entgeltgleichheit6 ging, gelang es kollektiv, d.h. generationen-, ideologie- und
szeneübergreifend, gemeinsame Ziele zu verfolgen. Bisher scheinen in Berlin noch keine
wirksamen Strategien entwickelt worden zu sein, um mit der Vielfalt von Frauen- und
Geschlechterpolitik produktiv umzugehen.
Im Anschluss an die empirische Forschung in Istanbul sollen die erhobenen Forschungsdaten
angelehnt an der von Phillip A. E. Mayring (z.B. 2003) entwickelten Methode der
Qualitativen Inhaltsanalyse vergleichend ausgewertet werden. Dabei werden bei der
Datenanalyse die Interviewtranskripte mit den im Feld gesammelten Dokumenten sowie den
Feldbeobachtungen triangulativ verknüpft.7
4
So wurden in Berlin z.B. Interviews mit Personen aus Verwaltungen, Parteien, Stiftungen, Gewerkschaften,
Universitäten, Frauenzentren und Frauennetzwerken, feministisch orientierten migrantischen und/oder queeren
und/oder autonomen Initiativen, traditionellen Frauenverbänden sowie religiösen Institutionen geführt. Ein erster
Zwischenstand des Forschungsprojektes ist bei dem Frauenonlinemagazin Aviva-Berlin erschienen und
nachzulesen unter: www.aviva-berlin.de/aviva/content_Women%20+%20Work.php?id=141267. Zugriff am
30.07.2012
5
Statt sich nur auf den 8. März zu konzentrieren, nimmt das Forschungsprojekt den gesamten März in den Blick.
Dies begründet sich historisch, da der Internationale Frauentag seit Beginn an terminlich nicht auf den 8. März
festgelegt war, sondern von den unterschiedlichen Organisationen meist im Zeitraum zwischen Februar und Mai
gefeiert wurde. In den 1980er Jahren wurde der Begriff "Frauenmärz" das erste Mal im Berliner Bezirk
Tempelhof für eine Veranstaltungsreihe zum Thema Frauenemanzipation verwendet. Vergleichbar stellt auch in
der Türkei der gesamte März traditionell den wichtigsten Zeitraum für frauen- und geschlechterpolitische
Aktivitäten und Debatten dar.
6
Die Kundgebung zum Equal Pay Day, der als weltweiter Aktionstag die Entgeltungleichheit zwischen Frauen
und Männern thematisiert, fand am 23.03.2012 in Berlin statt und wurde hauptsächlich von Mitgliedern aus
Parteien und Sozialverbänden besucht. Ausführliche Informationen siehe: www.equalpayday.de. Zugriff am
31.07.2012
7
Diese "between-method-triangulation" (Denzin 1977: 308) ermöglicht "die Beziehung zwischen den sprachlich
vermittelten Konzepten und den beobachtbaren Handlungsstrategien und –strukturen bei der Datenanalyse"
(Münst 2004: 334) zu berücksichtigen.
5
CHARLOTTE BINDER EXPOSE SEPTEMBER 2012
9
Vgl. dazu die Debatten um Identitätspolitiken sowie die Kritik der schwarzen Feministinnen und
postkolonialen Theoretikerinnen am einheitlichen Subjekt 'Frau' als Grundlage der Frauenbewegung. Auch die
von Judith Butler (2003) in den 1990er Jahren formulierte, dekonstruktivistische Kritik an den bisherigen
Identitäts- und Subjektvorstellungen beeinflusste Frauen- und Geschlechterpolitiken weltweit.
10
Im Anschluss an die Promotion ist die Erstellung eines deutsch-, englisch- und türkischsprachigen Weblogs
geplant, der über frauen- und geschlechterpolitische Organisationen in Berlin und Istanbul informieren und eine
Plattform zu Austausch und Vernetzung bieten soll.
7
CHARLOTTE BINDER EXPOSE SEPTEMBER 2012
Literaturverzeichnis
AL-REBOLZ, ANIL (2011): Frauenpolitik in der Türkei im Spannungsfeld zwischen
Lokalem und Transnationalem, in: GENDER. Zeitschrift für Geschlecht, Kultur und
Gesellschaft, 1. S. 28-46
AMARGI YAYINLARI (2005): Özgürlüğü Ararken. Istanbul
BUTLER, JUDITH (2003): Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt/M.
DENZIN, NORMAN K. (1977): The Research Act: A Theoretical Introduction to
Sociological Methods. New York
DEUTSCHER FRAUENRAT (Hrsg.) (2011): Schwestern, zur Sonne, zur Gleichheit! 100
Jahre Internationaler Frauentag 2011. Berlin
FOUCAULT, MICHEL (2003): Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt/M.
HARAWAY, DONNA (1996): Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus
und das Privileg einer partialen Perspektive, in: Elvira Scheich (Hrsg.): Vermittelte
Weiblichkeit. Feministische Wissenschafts- und Gesellschaftstheorie. Hamburg. S. 217-248
HOLLAND-CUNZ, BARBARA (2003): Die alte neue Frauenfrage. Frankfurt/M.
GERHARD, UTE (2009): Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1979.
München
GERHARD, UTE (1997): Unterschiede und Gemeinsamkeiten - Feminismus in
vergleichender Perspektive. Überlegungen zur Bewegungsforschung, in: Claudia Schöning-
Kalender et al (Hrsg.): Feminismus, Islam, Nation. Frauenbewegungen im Maghreb, in
Zentralasien und in der Türkei. New York. S. 55-69
KOÇ, GÜNEŞ (2009): Ein Überblick über die Geschichte der Frauenbewegung in der Türkei
vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, in: Grundrisse. Zugänglich unter:
www.linksnet.de/de/artikel/24827. Zugriff am 27.07.2010
LENZ, ILSE (2001): Von den Geschichten zur Geschichte? Ein Literaturbericht über
Forschung zur Neuen Frauenbewegung, in: Zeitschrift für Frauenforschung &
Geschlechterstudien, 19. S. 188-200
MAE, MICHIKO (2007): Auf dem Weg zu einer transkulturellen Genderforschung, in:
Ebenda; Britta Saal (Hrsg.): Transkulturelle Genderforschung. Ein Studienbuch zum
Verhältnis von Kultur und Geschlecht. Wiesbaden. S. 37-51
MARX, DANIELA (2008): Mission: impossible? Die Suche nach der "idealen Muslimin".
Feministische Islamdiskurse in Deutschland und den Niederlanden, in: femina-politica, 17. S.
55-67
MAYRING, PHILLIP (2003): Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken.
Weinheim
MÜNST, SENGANATA AGNES (2004): Teilnehmende Beobachtung: Erforschung der
sozialen Praxis, in: Ruth Becker; Beate Kortendieck (Hrsg.): Handbuch Frauen- und
Geschlechterforschung: Theorie, Methoden, Empirie. Wiesbaden. S.330-335
NIEDERKOFLER, HEIDI et al (Hrsg.) (2011): Frauentag! Erfindung und Karriere einer
Tradition. Wien
RUPPERT, UTA (2001): Von Frauenbewegungen zu Frauenorganisationen, von
Empowerment zu FrauenMenschenrechten. Über das Globalwerden internationaler
Frauenbewegungspolitik, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 30/2. S. 195-
211
SANCAR, SERPIL; BULUT, AYÇA (2006): Turkey: Country Gender Profile. Ankara 2006
SANCAR, SERPIL (2008): Thoughts on Feminist Politics: The Successes and the Problems
of Common Agenda Politics, in: Amargi Feminist Review, 9. S. 11-12
SCHASER, ANGELIKA (2006): Frauenbewegung in Deutschland 1848-1933. Darmstadt
8
CHARLOTTE BINDER EXPOSE SEPTEMBER 2012
Internetquellen
www.aviva-berlin.de/aviva/content_Women%20+%20Work.php?id=141267. Zugriff am
30.07.2012
www.boell.de/demokratie/geschlechter/feminismus-geschlechterdemokratie-tuerkei-
abtreibungsgesetz-kampagne-erdogan-14763.html. Zugriff am 31.07.2012
9