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CHARLOTTE BINDER EXPOSE SEPTEMBER 2012

H.
EXPOSÉ ZUM DISSERTATIONSPROJEKT

Aktuelle Frauen- und Geschlechterpolitiken in Deutschland und der Türkei.


Eine vergleichende qualitative Studie zur Bedeutung des Internationalen Frauentages
in Berlin und Istanbul.
(Arbeitstitel)
Eingreicht von: Betreuung durch:
Charlotte Binder Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu, Universität Bremen
E-Mail: charlotte@gmx.net Dr. Margrit E. Kaufmann, Universität Bremen
Tel.: +49 (0)151 52529669 Prof. Dr. Yeşim Arat, Boğazıçı University Istanbul

Zeit- und Arbeitsplan


Juni 2011: Annahme als Doktorandin durch den Promotionsausschuss an der Universität
Bremen.
Juli - Oktober 2011: Archiv-, Literatur- und Internetrecherchen; Vernetzung mit Aktivistinnen
und Expertinnen in Deutschland und der Türkei.
November 2011 - August 2012: Feldforschung in Berlin
 Materialsammlung zum Internationaler Frauentag (IFT)
 Teilnehmende Beobachtung und Dokumentation des IFT im März 2012
 Durchführung und Transkription von Interviews zum IFT
 Diskussion der Forschungsdaten mit Wissenschaftlerinnen in Deutschland
September - November 2012: Verfassen von Kapitelentwürfen zum Forschungsgegenstand
sowie zum Forschungsdesign; abschließende Vorbereitung Forschungsaufenthalt Türkei.
Dezember 2012 - November 2013: Feldforschung in Istanbul
 Materialsammlung zum IFT
 Teilnehmende Beobachtung und Dokumentation des IFT im März 2013
 Durchführung, Transkription und Übersetzung von Interviews zum IFT
 Diskussion der Forschungsdaten mit Wissenschaftlerinnen in der Türkei
Dezember 2013 - März 2014: Qualitative Inhaltsanalyse der empirischen Forschungsdaten,
Verfassen des Analysekapitels.
April - Juni 2014: Fertigstellung der Dissertation und Präsentation der Forschungsergebnisse.
 

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CHARLOTTE BINDER EXPOSE SEPTEMBER 2012

Forschungsvorhaben und theoretischer Rahmen


Im Anschluss an mein Magisterstudium der Kulturwissenschaft und der Geschichte in
Bremen und Ljubljana (Erasmussemester) sowie einem Leonardo-da-Vinci-Praktikum bei der
Frauenkooperative Amargi in Istanbul promoviere ich seit Juni 2011 an der Universität
Bremen bei Prof. Dr. Yasemin Karakaşoğlu und Dr. Margrit E. Kaufmann.
In meinem Dissertationsprojekt vergleiche ich Frauen- und Geschlechterpolitiken in
Deutschland und der Türkei mittels einer empirischen Vergleichsstudie.1 Mein zentrales
Forschungsinteresse gilt dabei den vielfältigen Aktivitäten und Diskursen rund um den
Internationalen Frauentag in Berlin und Istanbul.
Aufgrund von Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen, neoliberalen Um-
strukturierungen sowie Debatten um Identitätspolitiken stellt die internationale
Geschlechterforschung insbesondere in den westlich orientierten Gesellschaften seit den
1990er Jahren eine "Krise der feministischen Bewegung" fest (Schulz 2007: 8).
Der geplante Vergleich ist deshalb von besonderem Interesse, da im Gegensatz zu
Deutschland in der heutigen Türkei zumindest partiell von einer einheitlichen
Frauenbewegung gesprochen werden kann, die über ideologische Grenzen hinweg
gemeinsame Themen bearbeitet, öffentlich kritisiert und dabei eine radikale
2
Gesellschaftskritik formuliert (vgl. Somersan 2011).
Vergleichend für Deutschland und die Türkei sollen in dem Promotionsprojekt die sozialen
Strukturen und Hintergründe der jeweiligen Frauen- und Geschlechterpolitiken, ihre
institutionelle Integration und Zielsetzung, die Bedeutung transnationaler Beziehungen sowie
aktuelle Themen und Ideologien herausgearbeitet werden.
Dies geschieht am Beispiel der Aktivitäten zum und des diskursiven Umgangs mit dem
Internationalen Frauentag in Berlin und Istanbul. Das hundertjährige Jubiläum des
Weltfrauentags im Jahr 2011 lässt sich in Anlehnung an Michel Foucaults theoretische
Überlegungen zu Diskursen (z.B. 2003) als transnationales Diskursereignis werten.3

                                                            
1
Unter dem Begriff Frauen- und Geschlechterpolitiken lassen sich eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren
sowie deren heterogene Verortungen, Themen und Strategien fassen. Im Rahmen der empirischen
Datenerhebung und theoretischen Reflexion sollen die Begriffe Frauenbewegung(en), Geschlecht und
Feminismus, die in der Fachliteratur definitorisch unterschiedlich verwendet werden und damit auch auf
verschiedene politische und theoretische Positionierungen hindeuten, näher – insbesondere auch im Bezug auf
den türkischen und den deutschen Sprachgebrauch - bestimmt werden.
2
Beispielhaft kann hier die Kampagne "Benim Bedenim! Benim Kararim!" (dt. "Mein Körper! Meine
Entscheidung!") gegen die von der AKP-Regierung geplante Verschärfung des Abtreibungsgesetztes im
Frühjahr 2012 genannt werden. Siehe z.B.: www.boell.de/demokratie/geschlechter/feminismus-
geschlechterdemokratie-tuerkei-abtreibungsgesetz-kampagne-erdogan-14763.html. Zugriff am 31.07.2012
3
Der Internationale Frauentag wurde nur in Dänemark, Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und der
Schweiz zum 100. Mal begangen. In der Türkei wurde der Weltfrauentag das erste Mail 1920 von
kommunistischen Frauen im Untergrund gefeiert (vgl. Koç 2009).
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Anlässlich des Jubiläums sind weltweit eine Vielzahl von Veranstaltungen durchgeführt
worden sowie Dokumente entstanden, deren Auswertung zunächst zur Kontextualisierung des
Forschungsgegenstandes sowie zur Modifizierung von Forschungsfragen jeweils bezogen auf
Deutschland und die Türkei dienten. Dabei zeigte sich, dass sich der Internationale Frauentag
konkret als Untersuchungsgegenstand anbietet, da im Rahmen des Jahrestages verdichtet über
die Existenz und Begründung von Frauenbewegung(en), Feminismus sowie über
Geschlechterdifferenzen verhandelt wird.
Die komparative und transnationale Studie orientiert sich an dem von Michael Werner und
Bénédicte Zimmermann entwickelten Konzept der histoire croisée (2002), mittels dessen
Vergleiche und Transferuntersuchungen verbunden werden können. Dieses reflexive
Forschungsprogramm fasst die Nation zwar weiterhin als zentrale und wirkmächtige
Orientierungskategorie, stellt aber gleichzeitig ein nationales Eigenleben von Milieus,
Werten, Sprache und Institutionen von Gesellschaften in Frage.
So lassen sich im Zuge der europäischen Integration und weiteren Globalisierungs- und
Transnationalisierungsprozessen in beiden Ländern zum Beispiel eine sogenannte
NGOisierung von Frauenorganisationen, eine "inhaltliche Akzentuierung des Ansatzes der
FrauenMenschenrechte" (Ruppert 2001: 203) sowie eine transnationale Vernetzungen von
Frauenbewegungen beobachten.
Zur theoretischen Kontextualisierung soll die Untersuchung mit Theorien zu sozialen
Bewegungen, der Frauen- und Geschlechterforschung, mit postkolonialen Theorien sowie mit
Theorien der Globalisierung und zu transnationalen Prozessen verbunden werden. Im
Zusammenhang mit dem Internationalen Frauentag als Jahres- und Gedenktag soll bei der
Analyse der empirischen Daten auch auf Ansätze aus der Ritual- sowie der historischen
Gedächtnisforschung zurückgegriffen werden.

Zentrale Forschungsfragen
 Welche Institutionen, Bündnisse, Netzwerke, Gruppen sowie Akteurinnen und
Akteure partizipieren am Internationalen Frauentag in Berlin (2012) und Istanbul
(2013) bzw. nehmen aus welchen Gründen nicht teil?
 Welche aktuellen Themen, Forderungen und Debatten werden im Rahmen des 8. März
in Deutschland und der Türkei heute jeweils verhandelt? Welche Begriffsdefinitionen
von Frauentag, Frauenbewegung(en), Geschlecht und Feminismus werden dabei
verwendet?

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 Auf welche Art und Weise wird der Internationale Frauentag jeweils performativ und
rituell inszeniert? Welche Symbole und Bilder werden verwendet?
 Welchen diskursiven Umgang gibt es mit der Geschichte und der Bedeutung des
Internationalen Frauentags in beiden Ländern?
 Welche Positionierungen der Akteurinnen und Akteure der Frauen- und
Geschlechterpolitiken werden anhand des Internationalen Frauentags jeweils sichtbar?
 Welche transnationalen Verflechtungen werden im Rahmen des Internationalen
Frauentags erkennbar?

Forschungsstand
Die bisherigen kultur- und sozialwissenschaftlichen Forschungen zu Frauenbewegungen und
Frauen- und Geschlechterpolitiken in Deutschland (z.B. Lenz 2001; Holland-Cunz 2003;
Schaser 2006; Gerhard 2009) und der Türkei (z.B. Amargi 2005; Al-Rebholz 2011)
analysieren, häufig bezogen auf strukturelle Verhältnisse und internationale Impulse,
historische Entwicklungen sowie aktuelle Organisationsformen, Diskurse, Öffentlichkeiten,
Projekte und Kampagnen. Eine Vergleichs- und Transferuntersuchung von Frauen- und
Geschlechterpolitiken in Deutschland und der Türkei stellt jedoch ein Forschungsdesiderat
dar.
Anlässlich des hundertjährigen Jubiläums des Internationalen Frauentages sind einige
wissenschaftliche Publikationen entstanden, die sich auf die Geschichte und den
Bedeutungswandel des Internationalen Frauentages im deutschsprachigen Raum beziehen und
somit eine erste Grundlage für die geplante Untersuchung bilden (z.B. Stuckmann 2011;
Niederkofler et al 2011; Deutscher Frauenrat 2011). Internationale Unterschiede und
Gemeinsamkeiten bezüglich des 8. März, der in Folge seiner historischen Entstehungs-
geschichte immer im Spannungsfeld zwischen sozialistischen und demokratischen
Bewegungen und Frauenrechtsforderungen analysiert werden muss, wurden vergleichend
bisher jedoch kaum herausgearbeitet.

Methodisches Vorgehen und aktueller Bearbeitungsstand


Nach umfangreichen Literatur-, Internet- und Archivrecherchen wurde bei dem
zehnmonatigen Feldforschungsaufenthalt in Berlin die ethnographische Methode der
Teilnehmenden Beobachtung und Dokumentation angewendet. Zusätzlich wurden
Dokumente, die im Zusammenhang mit dem Internationalen Frauentag im März 2012
produziert wurden, für eine spätere Auswertung gesammelt.
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Die 20 qualitativen Interviews mit Akteurinnen und Akteuren der Frauen- und
Geschlechterpolitik, die im Rahmen der Feldforschung in Berlin durchgeführt, audiovisuell
aufgezeichnet sowie transkribiert wurden, stellen das zentrale Forschungsmaterial der
prozessorientierten Datenerhebung dar. Zu den Expertinnen der Frauen- und Geschlechter-
politik in Berlin gehörten sowohl Personen aus der staatlichen Institutionenpolitik als auch
aus der Zivilgesellschaft.4
Die empirische Forschung in Berlin ist bereits abgeschlossen und die bisherigen Ergebnisse
der Datenerhebung sind sehr vielversprechend. So wurden im "Frauenmärz"5 2012 in Berlin
mehr als 200 Veranstaltungen zum Thema Frauen und/oder Geschlechterverhältnisse
organisiert. Obwohl in Berlin auf unterschiedlichen Ebenen frauen- und geschlechter-
politische Forderungen artikuliert wurden, gelang die Vernetzung der verschiedenen
Organisationen, Netzwerke, Initiativen und Einzelpersonen anlässlich des Internationalen
Frauentags nur partiell. Weder am Weltfrauentag noch wenn es um konkrete Themen wie
Entgeltgleichheit6 ging, gelang es kollektiv, d.h. generationen-, ideologie- und
szeneübergreifend, gemeinsame Ziele zu verfolgen. Bisher scheinen in Berlin noch keine
wirksamen Strategien entwickelt worden zu sein, um mit der Vielfalt von Frauen- und
Geschlechterpolitik produktiv umzugehen.
Im Anschluss an die empirische Forschung in Istanbul sollen die erhobenen Forschungsdaten
angelehnt an der von Phillip A. E. Mayring (z.B. 2003) entwickelten Methode der
Qualitativen Inhaltsanalyse vergleichend ausgewertet werden. Dabei werden bei der
Datenanalyse die Interviewtranskripte mit den im Feld gesammelten Dokumenten sowie den
Feldbeobachtungen triangulativ verknüpft.7

                                                            
4
So wurden in Berlin z.B. Interviews mit Personen aus Verwaltungen, Parteien, Stiftungen, Gewerkschaften,
Universitäten, Frauenzentren und Frauennetzwerken, feministisch orientierten migrantischen und/oder queeren
und/oder autonomen Initiativen, traditionellen Frauenverbänden sowie religiösen Institutionen geführt. Ein erster
Zwischenstand des Forschungsprojektes ist bei dem Frauenonlinemagazin Aviva-Berlin erschienen und
nachzulesen unter: www.aviva-berlin.de/aviva/content_Women%20+%20Work.php?id=141267. Zugriff am
30.07.2012
5
Statt sich nur auf den 8. März zu konzentrieren, nimmt das Forschungsprojekt den gesamten März in den Blick.
Dies begründet sich historisch, da der Internationale Frauentag seit Beginn an terminlich nicht auf den 8. März
festgelegt war, sondern von den unterschiedlichen Organisationen meist im Zeitraum zwischen Februar und Mai
gefeiert wurde. In den 1980er Jahren wurde der Begriff "Frauenmärz" das erste Mal im Berliner Bezirk
Tempelhof für eine Veranstaltungsreihe zum Thema Frauenemanzipation verwendet. Vergleichbar stellt auch in
der Türkei der gesamte März traditionell den wichtigsten Zeitraum für frauen- und geschlechterpolitische
Aktivitäten und Debatten dar.
6
Die Kundgebung zum Equal Pay Day, der als weltweiter Aktionstag die Entgeltungleichheit zwischen Frauen
und Männern thematisiert, fand am 23.03.2012 in Berlin statt und wurde hauptsächlich von Mitgliedern aus
Parteien und Sozialverbänden besucht. Ausführliche Informationen siehe: www.equalpayday.de. Zugriff am
31.07.2012 
7
Diese "between-method-triangulation" (Denzin 1977: 308) ermöglicht "die Beziehung zwischen den sprachlich
vermittelten Konzepten und den beobachtbaren Handlungsstrategien und –strukturen bei der Datenanalyse"
(Münst 2004: 334) zu berücksichtigen.
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Begründung der Notwendigkeit für den geplanten Auslandsaufenthalt


Gerade internationale Vergleiche über gemeinsame Erfahrungen, aber auch
Ungleichzeitigkeiten der Frauen- und Geschlechterpolitiken bei unterschiedlichen
Rahmenbedingen sind laut Ute Gerhard für die Frauen- und Geschlechterforschung besonders
erkenntnisbringend, denn sie "schärfen den Blick für die eigenen Schwächen und
Bornierungen, zugleich erweitern sie die Perspektive und die Handlungsmöglichkeiten"
(Gerhard 1997: 56).
Erst durch eine konsequent vergleichende Forschungsperspektive werden Gemeinsamkeiten
und Unterschiede der Frauen- und Geschlechterpolitiken in Deutschland und der Türkei also
überhaupt sichtbar.
Während des zwölfmonatigen Feldforschungsaufenthalts in der Türkei soll vergleichend
untersucht werden, wie die Akteurinnen und Akteure der Frauen- und Geschlechterpolitik
dem Internationalen Frauentag 2013 Bedeutung verleihen und diesen in Istanbul gestalten.
Dabei soll auch die These überprüft werden, ob in Istanbul Bündnispolitiken im Gegensatz zu
Berlin erfolgreicher praktiziert werden (vgl. Sancar 2008). Mittels der Untersuchung könnten
so Handlungsvorbilder für den deutschen Kontext generiert werden.
In Zeiten der revolutionären Umbrüche in der arabischen Welt ist es auch von besonderem
Interesse einen Blick auf die Türkei zu werfen, die in der öffentlichen Debatte häufig als role
model für muslimisch geprägte demokratische Gesellschaften verhandelt wird. Die
Entwicklungen in der Frauen- und Geschlechterpolitik sowohl innerhalb der staatlichen
Institutionen als auch in der Zivilgesellschaft der Türkei stellen dabei ein besonders
beachtenswertes Forschungsfeld dar.
Unterstützt werde ich während des Türkeiaufenthalts durch Prof. Dr. Yeşim Arat, die als
Professorin am Department of Political Science and International Relations an der
renommierten Boğazıçı University in Istanbul lehrt und als Expertin für
Geschlechterforschung und Frauenbewegung(en) in der Türkei gilt. Geplant ist auch eine
Kooperation mit dem Orient-Institut in Istanbul und hier insbesondere mit der
wissenschaftlichen Direktionsassistentin Dr. Barbara Pusch.8
Durch das Praktikum bei der Frauenkooperative Amargi verfüge ich bereits über ausbaufähige
Zugänge zu Aktivistinnen und Aktivisten der Frauenbewegung(en) sowie Frauen- und
Geschlechterpolitik in Istanbul, die mir den Einstieg ins Forschungsfeld erleichtern werden.
                                                            
8
Zusätzlich stehe ich - neben meinen Gutachterinnen von der Universität Bremen - bisher u.a. mit Dagmar
Stuckmann (Oldenburg), Prof. Ursula Nienhaus (FFBIZ Berlin), Dr. Anna Stach (Universität Kassel), Dr. Maria
Mesner (Universität Wien), Dr. Kerstin Wolff (Archiv der deutschen Frauenbewegung Kassel), Dr. Bihter
Somersan (Yeditepe Universität Istanbul), Dr. Gamze Toksoy (Mimar Sinan Universität Istanbul) und Prof.
Aksu Bora (Ankara Universität) im wissenschaftlichen Austausch.
6
 
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Wissenschaftliche und gesellschaftliche Relevanz


Das Ziel der Forschung ist zunächst eine aktuelle Standortbestimmung der Frauen- und
Geschlechterpolitiken in den unterschiedlichen politischen, sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Settings Deutschlands und der Türkei und somit einen Beitrag zu einer
europäischen Frauen- und Geschlechterforschung zu leisten.
Statistische Untersuchungen (vgl. z.B. Gender Datenreport Berlin 2010, Sancar/Bulut 2006)
belegen, dass es weiterhin strukturelle Diskriminierungen aufgrund von Geschlecht gibt und
verweisen darauf, dass sowohl in Deutschland als auch in der Türkei frauen- und
geschlechterpolitische Aktivitäten und Debatten notwendig sind.
Die geplante Dissertation soll deshalb auch die Frage klären, inwieweit die Kategorie
Geschlecht, die im Rahmen postmoderner Wissenschaftsdiskurse dekonstruiert wurde, noch
als Kristallisationspunkt für eine soziale Bewegung fungieren kann.9 Ob zu Beginn des 21.
Jahrhunderts im Zuge von Globalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen überhaupt
von nationalen Frauenbewegungen gesprochen werden kann, soll ebenfalls analysiert werden.
Es ist mir ein Anliegen, ausgehend von meinen persönlichen Erfahrungen, die Vielfalt von
Frauenbewegungen und frauen- und geschlechterpolitischen Positionen über nationale
Grenzen hinweg aufzuzeigen. Vergleiche können unter Verwendung postkolonialer
Theorieansätze "Bewusstwerdungs- und Wahrnehmungsveränderungen" (Mae 2007: 49)
anregen. Meine Forschungsergebnisse sollen deshalb auch als Grundlage für eine Kritik an
Diskursen in Deutschland dienen, die im Zuge der Integrationsdebatten in Europa verstärkt
durch antimuslimische Rassismen gekennzeichnet sind (vgl. Marx 2008: 55-67) und mit
Frauen aus der Türkei nur die Schlagworte 'Kopftuch', 'Zwangsehe' oder 'Ehrenmord'
verbinden.
Der geplante Vergleich soll auch der Vernetzung und Solidarität von frauen- und
geschlechterpolitischen Organisationen über Länder- und vermeintliche Kulturgrenzen
hinweg dienen und zu einem Erfahrungstransfer beitragen.10

                                                            
9
Vgl. dazu die Debatten um Identitätspolitiken sowie die Kritik der schwarzen Feministinnen und
postkolonialen Theoretikerinnen am einheitlichen Subjekt 'Frau' als Grundlage der Frauenbewegung. Auch die
von Judith Butler (2003) in den 1990er Jahren formulierte, dekonstruktivistische Kritik an den bisherigen
Identitäts- und Subjektvorstellungen beeinflusste Frauen- und Geschlechterpolitiken weltweit.
10
Im Anschluss an die Promotion ist die Erstellung eines deutsch-, englisch- und türkischsprachigen Weblogs
geplant, der über frauen- und geschlechterpolitische Organisationen in Berlin und Istanbul informieren und eine
Plattform zu Austausch und Vernetzung bieten soll.

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