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brand eins
brand eins
20. Jahrgang
Heft 12
Dezember 2018
10 Euro
C 50777

Schwerpunkt Nähe und Distanz


Editorial

Komm schon, Herr Müller


• Ich duze schnell, das war schon immer so. Ich komme aus Baden, und dort verschwimmen
die Formen. Sie und Du werden oft gleichzeitig benutzt, ohne dass dadurch ein Abstand
verringert oder Nähe vorgetäuscht wird. Es ist ein bisschen wie das Du in bestimmten Be-
rufsgruppen oder unter Tage: Es signalisiert Zusammengehörigkeit, im Ganzen, nicht von
Person zu Person.
Inzwischen scheint Baden überall zu sein. Ob im Coffeeshop oder im Konzern: Wer sich
jung und modern geben will, überwindet das Sie – und sagt damit nichts. Mit Nähe jedenfalls
hat es nichts zu tun, wenn der Vorstand geduzt werden will oder Marketingbotschaften im
Kumpelton überbracht werden. Im Gegenteil: Weil es einseitige Angebote sind, die man
schwer ablehnen kann, erhöhen sie die Distanz (S. 48, 56).
Wie aber lässt sich jene Nähe schaffen, die Zusammenarbeit erleichtert und ein Zusammen-
leben erst möglich macht? Vertrauen ist auch hier der Anfang von allem. Und die Bereitschaft,
den anderen zu achten, nicht zuletzt in seinem Bedürfnis nach Distanz.
Ein Ort, an dem das gelernt und beobachtet werden kann, sind die SOS-Kinderdörfer.
Kinder mit traumatischen Erfahrungen, Eltern im Angestelltenverhältnis, die für sechs Kinder
Fotografie: verantwortlich sind. Wie das funktionieren kann? „Die Kunst ist, da zu sein, empathisch zu
André Hemstedt & Tine Reimer sein, verlässlich im Kontakt zu bleiben, aber Ablehnung möglichst nicht persönlich zu nehmen“,
sagt die Psychologin Kristin Teuber (S. 68).
Das ist harte Arbeit, selbst wenn man eine richtige Familie ist. Die Brüder Johannes und
Michael Siebers, die gemeinsam die Ferienhausvermittlung Holidu aufgebaut haben, justieren
ihre Beziehung immer wieder neu, um den richtigen Abstand zu wahren. Und auch die vier
Zünkeler-Geschwister halten zusammen wie Pech und Schwefel – auch weil sie sich bei aller
Freundschaft nicht durch zu viel Nähe auf die Nerven gehen (S. 132, 112).
Familie kann zu mehr Nähe verhelfen, aber sie ist kein Garant dafür. Wer wie unser Autor
Andreas Molitor zufällig von den Verbrechen des Großvaters erfährt, muss mit den Taten des
nahen Verwandten leben lernen. Und entscheiden, ob er durch ihre Veröffentlichung die Fa-
milie sprengt (S. 120).
Hilfreicher als aufgezwungene Kumpelei oder klebrige Familienbilder ist das Bemühen, dem
Verhältnis von Nähe und Distanz mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Vergrößert die Distanz-
losigkeit in sozialen Medien nicht in Wahrheit den Abstand? Sind Geschäfte unter Freunden
ein genialer Marketingtrick oder eine Gefahr? Und warum stößt die Sharing Economy an ihre
Grenzen, wenn der andere zu nahe ist (S. 96, 90, 64)?
Bei der Suche nach dem richtigen Abstand hilft der Blick über die Grenzen. Oder ein
Gespräch mit dem Migrationsforscher Aladin El-Mafaalani, der die allerorten aufbrechenden
Konflikte als gutes Zeichen sieht: „Wir kommen uns näher, und gerade deswegen gibt es
Zoff.“ Wer den anderen ernst nimmt, setzt sich mit ihm auseinander. Harmonie ist weder in
der Gesellschaft noch in der Firma ein erstrebenswertes Ziel (S. 62, 82, 106, 130, 74).
Badener können übrigens ganz wunderbar streiten, zum Beispiel wenn man sie Badenser
nennt. –

Gabriele Fischer, Chefredakteurin, gabriele_fischer@brandeins.de


Redaktion brand eins, Speersort 1, 20095 Hamburg
Titelbild:
Max Kersting brandeins.de, facebook.com / brand.eins, twitter.com / brandeins

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Inhalt
Nähe und Distanz 82 „Wir sind doch unter uns!“ 108 Lachen verbindet?
Unfreundlich, aber nicht distan- Im Gegenteil, Komik sorgt für
ziert. Ein Erfahrungsbericht aus Abstand Von Peter Laudenbach
Russland von Stefan Scholl
47 Prolog 110 Warum sind Gründer
84 Nah dran oft miteinander befreundet?
48 Distanzkontrolle Der Demo-Reporter Martin Kaul Antworten darauf
Wo zu viel Nähe herrscht, kracht geht dahin, wo es auch mal gibt Stephan A. Jansen
es bald Von Wolf Lotter wehtut. Über seine Arbeit spricht
er mit Peter Laudenbach 112 Familienbande
56 Duzt du schon? Vier Geschwister – privat und
Firmen biedern sich gern bei uns 90 Meine Lieben! beruflich unzertrennlich.
an. Über die Nebenwirkungen Über lukrative Geschäfte mit Wie das funktioniert, verraten
berichtet Torben Müller Freunden und mit Geschmäckle sie Peter Laudenbach
schreibt Klaus Raab
62 Man wird ja wohl fragen dürfen 120 Er war es
Wieso Privatsphäre in Israel 96 Du bist liebenswert Unser Autor spürte der Nazi-
wenig zählt, weiß unsere Korres- Die Freundschaft in digitalen Vergangenheit seines Großvaters
pondentin Mareike Enghusen Zeiten analysiert der Philosoph nach Von Andreas Molitor
Björn Vedder im Gespräch
64 Probleme der Sharing Economy mit Nils Wischmeyer 130 Bleib mir von der Pelle!
und ihre Zukunftsaussichten Wieso Amerikaner ihre Ver-
bespricht ein Pionier der Branche 100 Nähe und Distanz in Zahlen wandten nur aus der Ferne
mit Christoph Koch von Ingo Eggert mögen, weiß Steffan Heuer

68 Einfach da sein 104 „Ohne Sympathie ist es schwierig“ 132 Starke Bindung
Das ist der Job eines Ersatz- Das sagt der Personalberater Wo Bruderliebe dem Geschäft
vaters in einem SOS-Kinderdorf. Heiner Thorborg über sein Ver- nutzt, erzählt Nils Wischmeyer
Begleitet hat ihn dabei hältnis zu Klienten im
Alexander Krex Interview mit Thomas Ramge 138 Zarte Gefühle für den Mars
hegt JR Skok. Eine Liebes-
74 Das neue Wir 106 Wo die Zulu-Frau lesbisch geschichte von Steffan Heuer
Wie können Einheimische sein darf
und Zuwanderer miteinander Enge in Südafrika geht nicht 140 Mit Wau-Effekt
leben? Antworten mit Engstirnigkeit einher, Luxus für Haustiere: ein launiger
von Mischa Täubner erläutert Johannes Dieterich Überblick von Franziska Jäger

Einstieg Was Wirtschaft treibt Was Menschen bewegt

4 Editorial 24 Schaut auf diese Stadt! 144 Rolle vorwärts


10 Mikroökonomie: Ausgerechnet die einstige Kohle- Rexy Rolle führt ihre eigene
Ein Autowäscher in Albanien Metropole Bottrop ist ein Airline in der Karibik –
12 Die Welt in Zahlen leuchtendes Beispiel in Sachen Klima- und singt und tanzt für ihre Fans.
14 Markenkolumne: schutz Von Stefan Scheytt Ihre Geschichte erzählt
Der Förmchen-König – Städter Michael Kneissler
16 Das geht: 32 Die Macht der Vision
Aufstocker – Häuser auf Parkdecks Die Güterproduktion wird immer
18 Ökonomie der Elemente: billiger und macht ganz neue
Rhenium Geschäfte möglich. Wohin die Null-
20 Wirtschaftsgeschichte: grenzkosten-Ökonomie führen a Den Schwerpunkt gibt es als Hörversion
Die Computerpionierin kann, analysiert Sarah Sommer unter b1.de /audioversion

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„Wir kennen jede Schwäche und
jede Stärke des anderen.“
– Johannes Siebers,
S. 132

140

90

84

132

Ausstieg Abbildungen:

154 Was wäre, wenn … 140 Der Liebling


… der öffentliche Nahverkehr gratis Foto: Ren Netherland / Barcroft Media /
wäre? Von Christoph Koch Getty Images
157 Prototyp: Immer an der Wand lang 84 Der Reporter
Von Frank Dahlmann Foto: Oliver Helbig
159 Leichte Sprache: Und ich habe es 90 Der Verkäufer
trotzdem erzählt Collage: Mathieu Bourel
Die StGB-Paragrafen 186 und 132 Der Gründer
187 übersetzt von Holger Fröhlich Foto: Daniel Delang
160 Leserservice und Impressum 144 Die Überfliegerin
162 Letzte Seite – Gewinnspiel Foto: Katharina Poblotzki
144

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Mikroökonomie

Die kleinste wirtschaftliche Einheit: Verdienst, Grundkosten, Altersvorsorge


der Mensch Viljon Petritis Gehalt wird anteilig vom
Umsatz der Firma berechnet. So kommt

Ein er pro Monat auf 220 bis 300 Euro, wenn


er sieben Tage die Woche arbeitet. Darauf

Autowäscher zahlt er etwa 40 Euro Steuern. Miete fällt


nicht an, weil das Haus seiner Familie

in gehört, und auch keine Grundsteuer, weil


Besitzverhältnisse seit Jahren nicht geklärt
werden. Traurig ist Petriti darüber nicht,
Albanien denn das würde ihn einmalig 3000 Euro ten ohne Papiere. Das ist möglich, weil sie
kosten. Er zahlt für die staatliche Pflichtver- jemanden kennen, der sie schützt. Arbeit
sicherung (Krankheit, Rente, Arbeitslosig- ist hier außerdem auch oft abhängig von
Text: Nikolai Antoniadis keit) fast 50 Euro im Monat. Wäre er ar- der Parteizugehörigkeit. Als eine neue Re-
Fotografie: Nele Gülck beitslos, bekäme er 20 Euro monatlich. gierung kam, verlor meine Frau ihren Job
als Lehrerin an jemanden, der das richtige
Was bedeutet Ihnen Arbeit? Parteibuch hatte. Aber ich kann es nicht
Arbeit hält den Menschen am Leben. ändern. Man muss damit leben.

Was ist das Wichtigste in Ihrem Leben? Was würden Sie tun, wenn Sie ein Jahr lang
Die Familie. kein Geld verdienen müssten?
Ich würde trotzdem arbeiten. Aber viel-
Was möchten Sie an Ihrem Leben verän- leicht weniger als jetzt.
dern?
Ich hätte gern einen Tag pro Woche frei, Was erwarten Sie von der Zukunft, und
um mehr Zeit mit meiner Tochter zu ver- was tun Sie dafür?
bringen. Aber Waschanlagen sind immer Ich arbeite viel dafür, dass meine Tochter
geöffnet, es gibt keine freien Sonntage. im Ausland studieren kann. Dann kann
Viljon Petriti, 37, arbeitet als Auto-
Wenn ich nicht komme, übernimmt ein sie dort bleiben und in ihrem Fachgebiet
wäscher in der 51 000-Einwohner-Stadt
anderer meine Arbeit. Deshalb sehe ich arbeiten – statt wie ich fünf Jahre Agrar-
Korça im Südosten von Albanien.
meine Tochter bloß abends eine Stunde. wissenschaft zu studieren und danach Au-
Eigentlich ist er Agrarwissenschaftler.
Nur wenn es regnet und weniger Autos towäscher zu werden.
Er lebt zusammen mit seinem
kommen, habe ich mehr Zeit für sie.
Bruder, der in derselben Waschanlage
Würden Sie Albanien verlassen, wenn Sie
arbeitet, seiner Frau, seiner Mutter,
Welche sind Ihre größten Probleme, und könnten?
beide ohne Job, und seiner vierjährigen
wie gehen Sie damit um? Sehen Sie sich um: Jeder will weg! Wenn
Tochter.
Das politische System. Es lässt keinen ehr- ich meine Familie mitnehmen könnte,
lichen Wettbewerb zu. Ich arbeite in einer würde ich noch heute gehen. Aber wir
Anlage, die offiziell angemeldet ist, und sind noch nicht in der EU, wir können
zahle Steuern. Die meisten anderen arbei- nirgendwo hin. –

Albanien Aktuelle Durchschnittskosten


Grafik: Carte Blanche Design Studio

Einwohner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2,9 Millionen 1 Liter Benzin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,65 Euro


Währung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albanischer Lek (ALL) 1 Gedeck im Café (Mokka und Raki) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,75 Euro
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (125 ALL = 1 Euro) 1 Packung Zigaretten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,70 Euro
BIP pro Kopf (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3786 Euro 1 Brot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 0,40 Euro
Human Development Index (2017) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Platz 68 1 Kubikmeter Holz (für Heizung, Herd und Warmwasser) . . . . . . . . . . 40 Euro
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (Deutschland Platz 5 von 189) 1 Autowäsche (innen und außen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2,20 Euro

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RITUALS.COM
Die Welt in Zahlen
Text: Franziska Jäger

Zahl der britischen Staatsbürger, die sich im Zeitraum von 2000 bis 2015 in Deutschland einbürgern ließen . . . . . . . 5092
Zahl der britischen Staatsbürger, die sich im Jahr 2017 in Deutschland einbürgern ließen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7493

Anteil des weltweiten Downstream-Datenvolumens, das für Videostreaming genutzt wird, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Anteil von Netflix am gesamten Downstream-Datenvolumen weltweit, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

Anteil der deutschen Bevölkerung, der der Meinung ist, dass das Internet und die sozialen Netzwerke einen
erheblichen Einfluss auf die Wertvorstellungen der Gesellschaft haben, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Anteil der deutschen Bevölkerung, der diesen Einfluss für negativ hält, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

Menge des beschlagnahmten Kokains in der Europäischen Union im Jahr 2016, in Kilogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 900
Menge des beschlagnahmten Kokains in Belgien im Jahr 2016, in Kilogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 000

Menge an Eiscreme, die 2016 in Italien produziert wurde, in Millionen Litern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 585
Menge an Eiscreme, die 2016 in Deutschland produziert wurde, in Millionen Litern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 515
Menge an Eiscreme, die 2017 in Italien produziert wurde, in Millionen Litern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511
Menge an Eiscreme, die 2017 in Deutschland produziert wurde, in Millionen Litern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517

Zahl der Menschen im Jahr 2017, in Milliarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7,5


Zahl der Mobilfunkanschlüsse im Jahr 2017 weltweit, in Milliarden . . . . 7,7

Anteil der Manager in der Ukraine, die zu unethischem Verhalten bereit sind,
um die eigene Karriere zu beschleunigen oder sich einen anderen Vorteil
zu verschaffen, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Anteil der Manager in Deutschland, die zu unethischem Verhalten bereit sind,
um die eigene Karriere zu beschleunigen oder sich einen anderen Vorteil
zu verschaffen, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Anteil der Manager in Dänemark, die zu unethischem Verhalten bereit sind,
um die eigene Karriere zu beschleunigen oder sich einen anderen Vorteil
zu verschaffen, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

Zahl der gesetzlichen Feiertage in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9


Zahl der gesetzlichen Feiertage in Japan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Zahl der gesetzlichen Feiertage in Kambodscha . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28

Zahl der Dax-30-Unternehmen, die ein halbes Jahr nach Inkrafttreten der Datenschutz-Grundverordnung
immer noch Nutzerdaten illegal weitergeben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Zahl der Dax-30-Unternehmen, die die Option bieten, die Datenweitergabe an Dritte zu unterbinden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Quellen: Statistisches Bundesamt; Sandvine, The Global Internet Phenomena Report 2018; Institut für Demoskopie Allensbach; Europäische Beobachtungsstelle
für Drogen und Drogensucht; Eurostat; Deutsche Stiftung Weltbevölkerung, ITU; Ernst & Young; Deutscher Gewerkschaftsbund, Botschaft von Japan in Deutschland,
Botschaft des Königreichs Kambodscha; Meedia, Usercentrics

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ZEIT FÜR GENUSS. SEIT 180 JAHREN.
Geldermann steht seit 1838 für deutsch-französische Handwerkskunst und
wahre Sektkultur. Unsere erlesenen Cuvées reifen mindestens ein Jahr in
traditioneller Flaschengärung und erhalten so ihren charaktervollen Geschmack.
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Was Marken nützt

Der Haushaltswarengeschäft und boten ihre


Produkte zudem auf Verbrauchermessen
feil, wo besonders Neuheiten gefragt wa-
Förmchen- ren. Das brachte die Mutter auf die Idee,
die damals üblichen Ausstechformen für
König Plätzchen (Herz, Stern, Tanne) um neue
Motive wie Teddybären, Engel oder Blu-
Peter Städter ist Herrscher men zu bereichern, die nach ihren Ent-
würfen von einem metallverarbeitenden
über ein Imperium rund ums
• Heute geht’s in der Firma Städter in Al- Betrieb hergestellt wurden. Dieses Ge-
Backen. Und ein sehr
lendorf an der Lumbda, einem Ort, der so schäft lief so gut an, dass die Städters sich
einfallsreicher Unternehmer.
ziemlich in der Mitte von Hessen liegt, schließlich darauf konzentrierten. Der Ein-
um das Thema „Tüllen und Co“. Der Chef zelhändler wurde zum Produzenten. Die
Peter Städter, 52, öffnet die Tür zum Schu- Firma lässt heute eigene Werkzeuge für
lungsraum, wo eine seiner Konditorinnen ihre Produkte entwickeln, die fast alle in
einer Gruppe Frauen zeigt, wie sich mit Deutschland gefertigt werden, verfügt
Text: Jens Bergmann dem richtigen Equipment Torten verzieren über eine Grafik-Abteilung mit Fotostudio
Illustration: Manu Burghart und etwa aus Buttercreme und Lebens- und gestaltet auch die Verpackungen selbst.
mittelfarbe Rosenblüten zaubern lassen – Die Artikel werden in mehr als 40 Län-
viel zu schade zum Vernaschen. Mit sol- dern verkauft, Hauptabnehmer sind Fach-
chen Kursen fürs allgemeine Publikum händler, denn, so Peter Städter: „Unsere
und für Fachhändler macht das Unterneh- Produkte sind erklärungsbedürftig.“
men seit je Werbung für seine Produkte Gern gesehene Kunden sind zudem
und ist nebenbei nah am Puls von Back- Unternehmen, die zu Werbezwecken
fans. Für sie wird ständig Neues entwickelt: Plätzchenformen in Gestalt ihres Firmen-
Der telefonbuchdicke Städter-Hauptkata- logos in Allendorf ordern. Und auch beim
log enthält rund 3000 Artikel. Darunter Städtemarketing sind die Hessen aktiv:
sind Back- und Ausstechformen mit allen Mithilfe der entsprechenden Förmchen
nur denkbaren Motiven – aktueller Best- kann man sich zum Beispiel den Mainzer
seller ist das Einhorn –, Zutaten zur Prali- Dom, das Brandenburger Tor oder die
nenproduktion und auch ein Airbrush- Hamburger Elbphilharmonie backen.
Kompressor, mit dem sich Kuchen stylen Städter zeigt exemplarisch, wie sich
lassen wie früher nur Sportwagen. eine Nische opulent füllen und ein sehr
Für all das ist Peter Städter verant- traditionelles Hobby individualisieren lässt.
wortlich, der eigentlich von Beruf Elektro- Der Unternehmer mit dem Gespür für
ingenieur ist, sich Anfang der Neunziger- Trends hat in all der Zeit allerdings eines
jahre aber von den Eltern überreden ließ, nicht gelernt: selbst zu backen. „Aber
ins Familienunternehmen einzutreten. Ur- umso lieber probiere ich das, was bei uns
sula und Walter Städter führten damals ein täglich produziert wird.“ –

Ursula und Walter Städter über- Handelsvertreter Ursula Städters aus Edelstahl – das Material ist Neue ein besonderes Förmchen-
nehmen 1973 das Geschäft ihrer selbst entworfene Ausstanzformen, hygienischer und robuster als das Motiv zu etablieren. 2018 sei das
Eltern, die als Markthändler für die auf diesem Weg immer größe- bis dahin übliche Weißblech. wieder mal gelungen: „Das war
Haushaltswaren unterwegs sind. ren Absatz finden. 1983 gründen 2003 wird Peter Städter alleiniger ganz klar das Jahr des Lamas.“
Das Unternehmen floriert, sodass die Städters ihre Backschule, 1992 Geschäftsführer, im Jahr 2008
bald ein Verkaufswagen ange- tritt Peter Städter in die Firma ein, zieht die Firma nach Allendorf in Städter GmbH
schafft und später ein Laden im kümmert sich um Technik, Logistik einen modernen Betrieb um. Mitarbeiter: etwa 65; Umsatz
hessischen Grünberg eröffnet und Vertrieb. 1998 fertigt Städter Der persönliche Ehrgeiz des Unter- 2017: 12 Millionen Euro;
werden kann. Dort entdecken den ersten Plätzchen-Ausstecher nehmers ist es, jedes Jahr aufs Gewinn: k. A.

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for change

We are all in for change. Are you too?


The world is changing. The question is, what will be our contribution to the outcome?
At Daimler, interdisciplinary teams are developing the mobility of tomorrow. You are very
welcome to join them. Together, we will create new connected ways to move around
our globe. Think, try, and thrive with us. daimler.com/career
Das geht

Aufstocker preise und zunehmenden Zuzugs in die


Städte ist Nachverdichtung ein Stichwort,
fehlen noch. Den Betrieb des 3-Sterne-
Hauses übernimmt die Hotelkette Novum
das sie Geldgebern nicht lange erklären Hospitality mit ihrer Marke Niu, ebenso
Lasst uns Häuser auf Parkdecks mussten. Etwa 15 Millionen Euro stecken die Inneneinrichtung, die junge Städte-
bauen, sagen zwei Gründer. in dem Hotel, das Eigenkapital stammt von reisende ansprechen soll. Graffiti-Tapeten
einem kleinen Kreis aus Investoren, den im Innern und geparkte Trabis im Lichthof
Text: Alexander Krex Rest gab die Bank dazu. signalisieren, dass man in Ostberlin ist.
Fotografie: Jens Passoth Die Module bestehen aus Fichte, ein Dass ihr erstes Projekt ein Hotel ge-
schnell wachsendes und weiches Holz, das worden ist, liegt am Baurecht, das an die-
durch eine kreuzweise Verleimung in drei ser Stelle nur Gewerbe zuließ. „Wir hätten
Schichten stabilisiert wird. Eine Wand ist gern auch Wohnungen gebaut“, sagt Hiss.
acht Zentimeter dick. „Der Schreiner hat Denn die Module eigneten sich auch als
uns gesagt, das Holz für ein Modul wach- Mikro-Appartements, etwa für Studenten.
se in kürzester Zeit allein in bayerischen Außerdem hätten sie gern mehrere Stock-
Wäldern nach“, sagt Björn Hiss. Ihm ist es werke gebaut, bis zu vier Module können
wichtig, dass beim Aufstocken keine zu- aufeinandergestapelt werden. Allerdings
sätzlichen Flächen versiegelt werden. Der wäre das Gebäude dann so hoch gewor-
40-Jährige hat einen Master in nachhalti- den, dass es den Brandschutz im gesamten
ger Immobilien-Projektentwicklung und Haus verkompliziert hätte.
kennt sich mit Ökobilanzen aus. Nikolai Jäger und Hiss planen schon die nächs-
Jäger, 36, ist Betriebswirt und war zuvor ten Projekte, etwa die Aufstockung eines
bei einer Unternehmensberatung. ebenerdigen Parkplatzes. Bis 2021 wollen
• Björn Hiss und Nikolai Jäger sind keine Vor vier Jahren aßen die beiden auf der sie 1000 Module verbaut haben.
Typen, die immer einen draufsetzen müs- obersten Etage des KaDeWe zu Mittag. Die ersten 152 stehen schon an ihrem
sen. Sie tun es nur dort, wo es sich anbietet. Dabei blickten sie auf das Dach des Park- Platz, die letzten von ihnen werden gerade
Auf dem Parkdeck eines knapp 20 Meter hauses gegenüber, auf dem kein einziges gedämmt und verputzt. Ihr erstes Vorha-
hohen Einkaufscenters im Berliner Stadt- Auto stand. Was für eine Platzverschwen- ben war für die Gründer eine logistische
teil Friedrichshain zum Beispiel, seit Jahren dung, dachten sie. Dann suchten sie auf Herausforderung. Das aufgestockte Park-
ungenutzt. Auf einer Fläche von fast 8000 Satellitenbildern im Netz nach weiteren haus befindet sich nämlich auf einem
Quadratmetern lassen sie hier gerade ein leeren Parkhausdächern. Aus diesen an- Shoppingcenter, dessen Betrieb durch die
Hotel zusammensetzen, Zimmer für Zim- fänglichen Recherchen, die sie nebenbei Bauarbeiten nicht gestört werden durfte.
mer. Die Module sind aus Holz, 6,50 Me- machten, wurde das Geschäftsmodell ih- Außerdem ist das Grundstück von viel
ter lang, drei Meter breit, drei Meter hoch. rer Firma, die inzwischen sechs feste und befahrenen Straßen und einer S-Bahnlinie
Gefertigt wurden sie in einer Schreinerei fünf freie Mitarbeiter beschäftigt. umgeben. Für einen Kran fand sich rings-
in Bayern, insgesamt 152 Stück, jeweils Die vergangenen Monate haben Björn um kein Platz, es musste ein teurer Spe-
zwei passen auf einen Lkw. In Berlin setzt Hiss und Nikolai Jäger überwiegend in zialkran aufs Dach gestellt werden. Den-
sie ein Kran an die richtige Position auf Hotelzimmer 152 verbracht – das einzige noch gelang der Bau in neun Monaten. „Ein
dem Dach. frei stehende Modul, das im Innenhof des konventioneller Bau braucht etwa doppelt
Das Hotel auf dem Dach ist das erste Hotels seinen Platz hat. Noch ist es das so lange“, sagt Hiss.
Projekt von Hiss und Jäger. Im Jahr 2014 Baubüro, in dem ihr Schreibtisch steht. Die Lobby ist der einzige Raum, der
haben sie ihre Firma MQ Real Estate ge- Auf das Doppelbett im Zimmer werden nicht fertig angeliefert werden konnte,
gründet, mit der sie Gebäude über sich sich bald die ersten Gäste fallen lassen, die weil er zu groß war. Durch die bodentie-
hinauswachsen lassen. Im Fachjargon heißt kupferfarbenen Leselampen am Kopfende fen Fenster sieht man im Westen die rot
das: Nachverdichtung auf Bestandsimmo- funktionieren schon. Denn die 16 und 18 blinkende Spitze des Fernsehturms, auf
bilien im urbanen Raum. „Wir haben be- Quadratmeter großen Zimmer sind so gut der Ostseite ist man auf Augenhöhe mit
wiesen, dass man so etwas machen kann“, wie fertig, wenn sie in Bayern auf den Lkw den oberen Geschossen sanierter DDR-
sagt Hiss wenige Wochen vor der Eröff- geladen werden. Tresor, Waschbecken, Plattenbauten. Weitblick in alle Himmels-
nung. In Zeiten steigender Immobilien- Spiegel, Licht – nur Bett und Fernseher richtungen. –

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Nachverdichtung
in Rekordgeschwindigkeit

Das Modul auf dem Innenhof wird bald zum Hotelzimmer 152. Noch ist es das Baubüro von Björn Hiss (links) und Nikolai Jäger
Die Ökonomie der Elemente

Wer braucht es? aus Österreich. Ein wichtiger Recycler ist


der deutsche Konzern Heraeus.
Nach seiner Entdeckung wollte zunächst
niemand etwas mit Rhenium anfangen, Der Weltmarkt …
weil Kosten und Aufwand, es zu gewin-
nen, so hoch waren. Deutschen Wissen- … beträgt nach Firmenschätzungen etwa
schaftlern gelang das durch einen gigan- 66 Tonnen. Ende der Neunzigerjahre lag
tischen Extraktionsvorgang, bei dem sie der weltweite Verbrauch bei circa 35 Ton-
aus 660 Kilogramm Molybdän ein knap- nen. Der mit Abstand größte Anbieter ist
pes Gramm Rhenium gewannen. Mittler- Chile, danach folgen die USA, Polen, Us-
weile ist das Element wegen seiner ausge- bekistan, Kasachstan, Armenien und Chi-
zeichneten Festigkeit und Elastizität auch na. Deutschland ist führend im Recycling.
Was im Periodensystem
bei größter Hitze ein begehrter Zusatz
an Wirtschaft steckt für Hochtemperaturlegierungen. Flug- Der Preis …
zeugturbinen etwa, die drei bis sechs Pro-
zent Rhenium enthalten, besitzen eine … verfünffachte sich zwischen 2003 und
größere Schubkraft und Effizienz; auch in 2008 auf mehr als 10 000 US-Dollar pro
Rhenium Atomkraftwerken werden diese Legierun- Kilogramm, bis Mitte 2017 fiel er auf weni-
gen verwendet. Andere Einsatzfelder sind ger als 1000 US-Dollar. Das lag am Ausbau
( Re) Blitzlichter, hochauflösende Röntgengerä- der Förderung und effektiven Wiederver-
te in der Mammografie und Computer- wertungskreisläufen. 2018 lag die Notie-
Tomografie, Vakuumröhren und Sensoren rung stabil bei 1290 US-Dollar pro Kilo-
für Navigationssysteme in der Luft- und gramm. An der Börse wird Rhenium nicht
75 . . . . . . . . . . Ordnungszahl im Periodensystem
Re . . . . . . . . . . Elementsymbol; fest (silberweiß) Raumfahrt. Auch in der Herstellung von gehandelt. Verkauft wird es etwa in Form
186,207 . . . Relative Atommasse Tablets, Smartphones, Solarpanels und von Draht, Pellets, Folien, Barren, Puder –
Brennstoffzellen wird es verwendet. Rhe- und in Verbindungen als Flüssigkeit.
niumisotope kommen in der Strahlen-
Text: Dirk Böttcher therapie bei einigen Krebserkrankungen Wie geht es weiter?
zum Einsatz.
Durch das Recycling von Flugzeugturbi-
Wo findet man es? nen könnte der Bedarf am Primärrohstoff
Die besondere Eigenschaft um 50 Prozent sinken. Trotzdem liegt der
Rhenium fällt als Nebenprodukt in der Rheniumbedarf aufgrund vieler neuer
Das silberweiße Metall zählt zu den sel- Kupfer- oder Molybdängewinnung ab. Techniken über dem verfügbaren Ange-
tensten Elementen überhaupt: In der Erd- Die größten Vorkommen rheniumhaltiger bot: 2035 werden nach Schätzungen 120
kruste entfallen auf eine Tonne Material Erze lagern in den USA, in Chile, Kanada, Tonnen benötigt, mehr als das Doppelte
nur schätzungsweise 0,0007 Gramm Rhe- Peru und Russland. der derzeitigen Produktion. Verantwort-
nium. Das Element hat außergewöhnliche lich dafür sind vor allem Flugzeugherstel-
Eigenschaften: Es besitzt eine sehr hohe Wer verkauft es? ler, die Rüstungsindustrie und die Medi-
Dichte, die dritthöchste Elastizität und zintechnik. Dort kann Rhenium das
schmilzt erst bei einer Temperatur von Zu den größten Anbietern zählen neben teurere Titan in Implantaten ersetzen. In-
3180 Grad Celsius. Der Schmelzpunkt dem chilenischen Weltmarktführer Moly- teressant könnten zudem zwei Verbindun-
Foto: © Science Photo Library

wird nur noch von Wolfram und Kohlen- met unter anderem China Rhenium aus gen werden: Rheniumdiborid lässt sich
stoff übertroffen. Das Metall wurde im der Volksrepublik, American Elements aus recht preiswert herstellen und ist härter als
Jahr 1925 als letztes natürlich vorkom- den USA, das kasachische Staatsunterneh- ein Diamant; mit Rhenium-Silikon-Mole-
mendes Element entdeckt. men Redmet, KGHM aus Polen, Ural- külen können Nanostrukturen für Quan-
elektromed aus Russland sowie Plansee ten-Computer aufgebaut werden. –

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Grace Hopper, die


das Monstrum namens
Mark I zähmte

„Wir haben nicht einmal begonnen zu


verstehen, wie viel wir mit diesen Computern
zu tun haben werden“
Foto: © Interfoto / Granger, NYC

Grace Hopper programmierte den ersten Großrechner der USA –


und sah die Digitalisierung voraus.

Text: Susanne Schäfer

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• Die beste Zeit, sich einem ersten Rechenmaschinen und Aiken und ihr entstand nach mit bestimmten Funktionen
Ungeheuer zu nähern, war für entwickelte diese im Laufe ih- und nach eine enge Partner- anfertigen. Praktisch alles hatte
Grace Hopper die Nacht. Statt res Lebens weiter. An der Yale schaft. Da Hopper seit ihrer mit dem Krieg zu tun.“
zu schlafen, verbrachte sie viele University hatte sie Mathema- Zeit als Dozentin gut erklären Von 1949 an arbeitete
Stunden im Keller des Insti- tik studiert und das Fach dann konnte, ließ Aiken sie ein Buch Hopper für private Firmen. So
tuts, um diese große, laute Re- selbst am College unterrichtet, schreiben, das erste Program- brachte sie nicht nur für das
chenmaschine zu verstehen. was sie jedoch nicht erfüllte. mierhandbuch überhaupt. Je- Militär digitale Entwicklungen
Auf dem Harvard-Campus Nachdem der Angriff auf Pearl den Abend las Hopper ihm voran, sondern auch für die
in Cambridge, Massachusetts, Harbor sie schwer erschüttert vor, was sie tagsüber geschrie- Gesellschaft. Sie entwickelte
stand der Großrechner Mark I, hatte, meldete sie sich für den ben hatte, und hörte sich seine einen Compiler, der den Quell-
den IBM gebaut hatte. Das Militärdienst und begann 1943 Kommentare dazu an. code einer Programmierspra-
Ungetüm war 15 Meter lang bei der Marine. Der Rechner Die Programmierer schrie- che in Maschinensprache über-
und 2,50 Meter hoch. Als Mark I wurde von Angehöri- ben damals die Codes per setzt. Damit vereinfachte sie die
die 37-jährige Mathematikerin gen dieses Truppenteils an der Hand. „Dick Bloch war der Arbeit enorm.
Grace Hopper den Keller im Harvard University betrieben. Einzige, den ich je kennenge- Auch den Begriff „bug“ für
Juli 1944 zum ersten Mal be- Bis 1949 arbeitete die Mathe- lernt habe, der ein Programm Fehler machte sie bekannt, wie
trat, hatte das Gerät noch kei- matikerin dort im Rang eines in Tinte auf Anhieb korrekt Walter Isaacson schreibt in sei-
ne Abdeckung, sodass sie all Leutnants, danach in privaten schreiben konnte“, erzählte nem Buch „The Innovators“:
seine Einzelteile in Bewegung Unternehmen. Hopper einmal. Anschließend Eines Abends fiel das Nach-
sehen konnte. „Da stand diese Ihre Verwunderung über wurden die Befehle in Loch- folgemodell Mark II aus. Das
wuchtige Riesenmaschine und ihren einzigartigen Berufsweg karten gestanzt, damit die Team suchte den Fehler und
machte eine Menge Lärm“, hört man noch in späteren In- Maschine sie lesen konnte. fand einen Falter, der in einem
erzählte sie später. terviews: „Ich wurde von der Hoppers Geschichte illus- Relais zerdrückt worden war.
Ihr neuer Chef war Ho- US Navy auf den ersten Com- triert auch die Rolle des Mili- Die Programmierer klebten ihn
ward Aiken, der als notorisch puter der Vereinigten Staaten tärs für die Computerisierung. in ihr Protokollbuch mit dem
schlecht gelaunt beschrieben abkommandiert.“ Von ihrem Im Zweiten Weltkrieg trieb die Kommentar: „Ersten Schäd-
wird und seinen Mitarbeitern jungen Kollegen Richard Bloch Armee die Entwicklung von ling (englisch: bug) leibhaftig
regelrecht Angst einjagte. Dass lernte sie nun alles über das Maschinen voran, die komple- gesehen.“ Seitdem heißt das
ihm für eine so wichtige Auf- Programmieren. Das Problem xe Rechenaufgaben mit hoher Beheben von Störungen „de-
gabe eine Frau unterstellt wur- war nur, dass dieser selbst Geschwindigkeit lösen konn- bugging“.
de, war nicht in seinem Sinn. erst drei Monate zuvor damit ten. Während die Alliierten in Grace Hopper blieb zeit
Missmutig zeigte er Hopper angefangen hatte. „Und so der Normandie kämpften, be- ihres Lebens fasziniert von der
das Gerät, danach war sie erst wurde die Mark I – die kom- rechneten die Mathematiker Technik. In dem Interview im
einmal auf sich allein gestellt. plexeste, einzigartigste Rechen- ballistisch die Flugbahnen von Jahr 1980 – sie war damals 74
„Nun ja, sie gaben mir ein maschine, die jemals gebaut Geschossen. Auf schreckliche Jahre alt – sagt sie, sie habe er-
Codebuch und sagten mir, ich worden war – in die Hände Weise berühmt wurden die kannt, dass „die Menge an
solle loslegen.“ Es handelte einer unerfahrenen Marine- Berechnungen an der Mark I Information wachsen“ werde.
sich um ein Notizbuch mit Offizierin und ihres 23-jähri- zu der Atombombe, die 1945 „Ich glaube, wir haben nicht
groben Anleitungen für die gen Sidekicks gelegt“, schreibt Nagasaki traf. einmal begonnen zu verste-
Maschine. Diese hatten ihre Kurt W. Beyer in seiner Bio- Im Jahr 1980 sprach Grace hen, wie viel wir mit diesen
Kollegen bei ersten Testläufen grafie „Grace Hopper and the Hopper in einem Interview Computern zu tun haben wer-
geschrieben. Invention of the Information über ihre Arbeit während des den.“ Für die Geräte werde es
Das war der holprige Be- Age“. Krieges: Viele Aufgaben hät- immer spezifischere Funktionen
ginn einer großen Karriere: Um die Maschine zu ver- ten sie und ihre Kollegen ein- geben. Und weil man die Soft-
Grace Hopper wurde Compu- stehen, beschäftigte sich Hop- fach gelöst, ohne zu wissen, ware darauf abstimmen könne,
terpionierin, Erfinderin, Visio- per nun nächtelang mit den wozu die Ergebnisse verwen- werde die Reaktionszeit kür-
närin. Sie begann mit simplen Schaltplänen, der Hardware. det würden. „Uns wurde nur zer: „Es wird immer schneller
Programmiertechniken für die Zwischen ihrem Chef Howard gesagt, wir sollten Tabellen gehen.“ –

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Was Wirtschaft treibt

Schaut auf
diese Stadt!

Noch ist der Himmel über Bottrop nicht ganz blau: Abgase der Kokerei
Art Staatsbegräbnis ist. Es ist dann Schicht im Schacht, endgül-
tig aus mit der Steinkohle, aber der Oberbürgermeister Bernd
Tischler drückt einem fest die Hand und sagt: „Glück auf!“
Seine gute Laune hat ihren Grund. Die Stadt, der er seit 2009
vorsteht, gilt als leuchtendes Beispiel in Sachen Klimaschutz –
ausgerechnet die Zechenstadt im Kohleland Nordrhein-West-
falen. Tischler bekommt Einladungen nach China, Russland und
Japan; gerade erst waren der Oberbürgermeister von Rotterdam
sowie Stadtplaner, Politiker und Unternehmer aus Minnesota zu
Gast. Sie alle wollen erfahren, wie es Bottrop gelingt, durch die
bereits realisierten und angestoßenen Modernisierungsmaßnah-
men im Jahr 2020 38 Prozent weniger Kohlendioxid (CO2) zu
emittieren – jährlich 100 000 Tonnen weniger – und warum die
Stadt gute Aussichten hat, durch weitere Projekte auch das
selbstgesteckte Reduktionsziel von 50 Prozent weniger Treib-
hausgasen zu erreichen. Gesamtdeutschland hingegen wird bis
2020 wohl nur bei 32 Prozent Einsparungen landen, wie die
Bundesumweltministerin erst vor wenigen Monaten einräumen
musste – im Vergleich zu 1990.
Wie machen die Bottroper das? Kann dort, wo gerade eine
Ära zu Ende geht, eine neue beginnen?
In Bottrop dürfte es nur noch wenige Menschen geben, die
noch nichts davon gehört oder darüber gelesen haben, dass ihre
Stadt ein großes Klimalabor ist. Seit 2010 informiert die private
Projektgesellschaft Innovation City Management (ICM) im Auf-
trag der Kommune die Bevölkerung auf vielen Kanälen. „Wir
machen Klimaschutz von unten, und Beratung ist dafür die Ba-
sis“, sagt der ICM-Geschäftsführer Burkhard Drescher. In einem
Mag Baustellen: Bernd Tischler im Rathaus zentral zwischen Bahnhof und Einkaufszentrum gelegenen Büro
geben Energieexperten den Bürgern kostenlos Tipps. Zielgrup-
pe im Pilotgebiet, in dem 70 000 der 117 000 Bottroper wohnen,
In Bottrop schließt Deutschlands letzte sind vor allem die Besitzer kleiner Einfamilienhäuser, von denen
Steinkohlenzeche. Doch die Trauer es in den ehemaligen Zechensiedlungen Tausende gibt.
hält sich dort in Grenzen, denn die Stadt ist Zeitweise wurde auch ein zum Büro umgebauter Container
aufgebrochen in eine grünere Zukunft. an wechselnden Plätzen in der Stadt aufgestellt. Dorthin tragen
interessierte Bürger ihre Strom- und Heizkostenabrechnungen
und gehen mit Vorschlägen für die Modernisierung ihrer Ge-
Text: Stefan Scheytt bäude und Informationen über mögliche Fördermittel wieder
Fotografie: Julia Sellmann nach Hause. „Am Anfang war das Interesse verhalten, inzwi-
schen müssen wir Wartelisten führen“, sagt Rüdiger Schumann,
Sprecher der ICM. Auch Info-Abende zu wechselnden Themen
wie Heizungsanlagen, Solarmodule oder LED-Leuchten stoßen
auf großes Interesse. Seit vergangenem Jahr kommen zudem
• „Glück auf!“, sagt der Oberbürgermeister zur Begrüßung, was Quartiersmanager und -architekten auf Wunsch zur Beratung
in einer Bergbaustadt wie Bottrop im Ruhrgebiet nichts Unge- ins Haus.
wöhnliches ist. Doch in diesen Tagen hat der Bergmannsgruß Im Sommer vermeldete die ICM, dass von den gut 10 000
einen besonderen Klang: Denn im Dezember schließt in Bottrop Eigenheimbesitzern im Bottroper Pilotgebiet mehr als 3000 das
Deutschlands letzte Steinkohlenzeche Prosper-Haniel. Und weil Beratungsangebot angenommen haben, von denen wiederum
damit eine Ära zu Ende geht, die mehr als 200 Jahre währte, mehr als die Hälfte mindestens eine energetische Modernisie-
kommt sogar der Bundespräsident zur Feier, die eigentlich eine rungsmaßnahme auch tatsächlich umsetzten. „Es ist kein >

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Bottroper
Impressionen
und das
Modell eines
energiesparenden
Hauses

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Zauberwerk, was wir hier machen“, sagt der ICM-Chef Dre- dende Baumaterial mit und bekommen den Zuschuss sofort aus-
scher, „wir durchpflügen die Stadt mit allen Mitteln – das ist gezahlt. Ein paar Wochen später kontrolliert jemand, ob die neuen
unser Rezept für die Aktivierung der Bevölkerung.“ Fenster oder das Dämmmaterial wirklich verbaut wurden.“
An der Osterfelderstraße, die nach Südwesten aus der Innen- Seit 2014 haben rund 500 Bottroper Hausbesitzer fast 1,4
stadt hinausführt, steht ein Einfamilienhaus, das aussieht wie Millionen Euro an Zuschüssen erhalten – und investierten selbst
viele hier: dunkelroter Klinker, der zur Straße hin weiß verputzt noch einmal fast den achtfachen Betrag. In einer Zwischenbilanz
ist, ein kleiner Garten hinterm Haus; gebaut haben es in den in 2015 kamen Wissenschaftler seit 2010 auf Gesamtinvestitio-
Fünfzigerjahren ein Bergmann und seine Frau, die beiden leben nen privater und öffentlicher Gebäudeeigentümer von 183 Mil-
mittlerweile in einem Pflegeheim, das Haus gehört dem Enkel lionen Euro, bis Ende 2020 gelten weitere Investitionen von 108
Jan Lachnicht. Der Berufsschullehrer und seine Frau Nina, eine Millionen Euro als gesichert. „Und schätzungsweise 110 Millio-
Erzieherin, wollen es jetzt von Grund auf modernisieren und nen Euro sind über Aufträge an Bottroper Handwerker, Inge-
dafür mindestens 100 000 Euro in die Hand nehmen. nieurbüros und andere Firmen geflossen oder werden bis 2020
Also riefen sie bei der ICM an und gingen kurz darauf mit noch fließen“, sagt der ICM-Chef Drescher. „Das zeigt: Klima-
einem Architekten der Firma zwei Stunden lang durchs leere schutz kann der Katalysator für wirtschaftliches Wachstum
Haus, in das sie 2019 mit ihren zwei Kindern einziehen wollen. sein.“ In der Zwischenbilanz von 2015 errechneten Wissenschaft-
Dabei erfuhren sie, dass ihr Haus ans Fernwärmenetz ange- ler einen direkten und indirekten Beschäftigungseffekt für Bot-
schlossen werden kann, was oft eine bessere Klimabilanz bedeu- trop von zusätzlich 1200 Erwerbstätigenjahren.
tet. Der Fernwärmeanschluss ist zwar nicht billiger als eine neue
Gasheizung, das Ehepaar hat sich dennoch dafür entschieden, Das schlagende Argument: Umbau lohnt sich
weil dann der Kamin abgerissen werden kann und so Platz ent-
steht für den Dachausbau. Weil ein Fernwärmeanschluss mög- Die seit Jahren laufende Werbeoffensive und die einfache Förder-
lich ist, gibt es keinen Zuschuss für einen neuen Heizkessel (sonst praxis haben zur Folge, dass die jährliche energetische Moder-
14 Prozent oder maximal 890 Euro), wohl aber für andere Maß- nisierungsrate in Bottrop seit sechs Jahren bei etwa drei Prozent
nahmen, die die CO2-Bilanz des Hauses verbessern. Wenn die liegt – „die höchste Rate bundesweit“ (Drescher) – während der
Anträge der Lachnichts bewilligt werden, können sie im Bottro- bundesdeutsche Durchschnitt bei knapp unter einem Prozent
per Rathaus mit Zuschüssen für die Dachdämmung von 25 Pro- dümpelt. „In Deutschland sind drei Viertel aller Wohngebäude
zent der Kosten (bis maximal 4210 Euro) rechnen, für die Fens- älter als 30 Jahre“, sagt Drescher, „deshalb darf man nicht darauf
ter mit zehn Prozent oder höchstens 830 Euro. warten, dass Neubauten energieeffizient errichtet werden. Wir
Zehn Prozent Zuschuss bekam auch Klaus Wieczorek, der müssen noch viel stärker ran an die bestehenden Gebäude.“ Was
nur wenige Kilometer entfernt lebt. In seinem Zweifamilienhaus, man laut Drescher aus Bottrop lernen kann: „Wenn man die
Baujahr 1978, ersetzte der ehemalige Feuerwehrmann nach dem Energiewende in ganz Deutschland so ,von unten‘ organisieren
Hausbesuch zweier Energieberater ein großes Glasbauelement würde wie bei uns, könnte man die Klimaziele erreichen. Wir
im Treppenhaus, das in den Achtzigerjahren modern war, durch zeigen den Leuten – auch denen mit kleinem Geldbeutel – dass
ein Thermopenfenster mit drei Glasscheiben. „Im Winter war es es sich für sie rechnet, Energie zu sparen.“
im Treppenhaus ziemlich kalt, im Sommer extrem warm“, be- Alle 14 Tage treffen sich in der ICM-Zentrale beim Bahnhof
richtet Wieczorek. Auch ohne den Zuschuss von gut 500 Euro Bottrops Oberbürgermeister Tischler und ICM-Chef Drescher,
hätte er das neue Fenster wohl eingebaut, „aber ein paar Hundert außerdem Amtsleiter, Dezernenten und der Wirtschaftsförderer
Euro sind doch eine schöne Hilfe“. Ob der Umbau zu niedrigeren aus dem Rathaus sowie je nach Anlass verschiedene Projekt-
Heizkosten führe, könne er noch nicht sagen, aber gelohnt habe manager, Wissenschaftler, Vertreter von Wohnbaugesellschaften,
er sich auf jeden Fall: „In diesem heißen Sommer war es im Trep- Energieversorgern, Handwerkern, Gewerbetreibenden und der
penhaus endlich auszuhalten.“ Er denke nun darüber nach, auch Zivilgesellschaft. Gemeinsam arbeiten sie die Liste der bis heute
die alten wuchtigen Heizkörper durch neue energiesparende aus- rund 300 Einzelprojekte ab, mit denen die Stadt ihren Umbau
zutauschen und weitere Fenster zu ersetzen. vorantreibt: Mal geht es um den Anschluss einer Straße an die
Grundlage für die Zuschüsse ist eine in Deutschland wohl Fernwärme, mal um Dienstfahrräder für städtische Bedienstete,
einmalige Förderrichtlinie, die die Stadt und die ICM ersonnen mal um den Umbau einer Tankstelle mit Fotovoltaik, Luftwär-
haben. Dafür fließen Mittel aus der Städtebauförderung an Haus- mepumpe und LED-Leuchten zur „Mustertankstelle“, mal um
besitzer in Bottrop. „Und zwar sehr unbürokratisch“, betont der die Rabattaktion eines Baumarktes auf Energiespar-Artikel, mal
ICM-Sprecher Schumann. „Bei uns gehen die Bürger nach der um Stromspeicher oder um eine frei zugängliche, web-basierte
Energieberatung mit ihren Umbauplänen ins Rathaus, bringen Kartenanwendung, mit der Hausbesitzer adressgenau für ihr
drei Angebote für die Handwerkerleistung oder das zu verwen- Gebäude Fördermittel abrufen können. >

brand eins 12/18 27


wortlich, es gibt eine permanente Abstimmung und teilweise
sogar einen Personalaustausch zwischen Rathaus und ICM. Das
ist einzigartig.“
Verantwortlich dafür sind vor allem der ICM-Chef Drescher
– der als ehemaliger Oberbürgermeister von Oberhausen und als
Chef großer Immobilien- und Wohnungsbauunternehmen im
Ruhrgebiet bestens vernetzt ist – sowie Bottrops Oberbürger-
meister Tischler. Er hat Städtebau studiert und seine Diplom-
arbeit über die „Ökologische Planung auf kommunaler Ebene“
geschrieben. Als Sozialdemokrat lägen ihm sowohl das Klima als
auch die Wirtschaft und die Arbeitsplätze am Herzen. „Mich hat
schon früh die Frage umgetrieben, was passiert, wenn die Mono-
struktur Kohle nicht mehr da ist.“ Das Wichtigste sei, „dass wir
es geschafft haben, den Menschen die Angst davor zu nehmen,
dass ohne Steinkohle die Lichter ausgehen. Wir haben uns auf
etwas Neues eingelassen – das ist die Bottroper Blaupause.“

Hier machen Architekten Hausbesuche

Für Johannes Venjakob vom Wuppertal Institut ist der ent-


scheidende Punkt, die Energiewende für Bürger begreifbar zu
machen: „Denn hier geht es nicht mehr um abstrakte Themen
wie Kohleausstieg oder Kraftwerksbau, sondern zum Beispiel
Ist gut verdrahtet: Burkhard Drescher, Chef der ICM darum, wie Hausbesitzer ganz praktisch mit einer modernen
Heizungsanlage umgehen können. Die Energiewende zieht in
ihre Keller ein, sie wird privat.“
Im Mittelpunkt steht ein sogenanntes Public-Private-Partner- Was das konkret bedeutet, weiß die Lokaljournalistin Petra
ship: An der ICM sind die Stadt, ein Brennstoff-, ein Immobilien- Berkenbusch-Aust. Der Austausch der Eingangstür und zweier
und ein Beratungsunternehmen mit jeweils neun beziehungs- Fenster ihres Hauses aus dem Jahr 1914 sei unkompliziert gewe-
weise zehn Prozent beteiligt. 61 Prozent hält der Initiativkreis sen. Zu den Kosten von 4500 Euro erhielt sie einen Zuschuss
Ruhr, ein Wirtschaftsbündnis aus rund 70 Unternehmen und von zehn Prozent. „Wir mussten Fotos vom erfolgten Umbau ins
Institutionen in der Region, darunter Schwergewichte wie RWE, Rathaus schicken und nachweisen, wie viel wir dafür bezahlt
EON oder der Steinkohleförderer RAG. „Ja, wir sind industrie- hatten, das war’s“, sagt sie. Deutlich mehr Aufwand verursachte
getragen, aber bestimmt keine Auftragsagentur unserer Mitglie- dagegen der Austausch der alten Gaszentralheizung gegen eine
der“, sagt Drescher. „Die Motivation der Unternehmen, bei uns Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlage (KWK), die das Haus der Fa-
mitzumachen, ist, dass sie hier neue Geräte, Verfahren und milie seit vier Jahren mit Gas beheizt und gleichzeitig Strom
Dienstleistungen im praktischen Alltag ihrer Kunden testen produziert – auch dies ein ICM-Projekt, das aus diversen För-
können – oft begleitet von Wissenschaftlern. Und natürlich wol- dertöpfen und von den Anlagenherstellern finanziell unterstützt
len sie beim Strukturwandel, der sowieso stattfindet, nicht Zu- wurde. Der selbst produzierte Strom sorgt im Haus der Berken-
schauer sein und zurückbleiben.“ busch-Austs für heißes Wasser, das zuvor in Durchlauferhitzern
Koordiniert und organisiert wird die Begleitforschung von auf mehreren Etagen erwärmt werden musste. Zwar stieg der
einem wissenschaftlichen Beirat unter Leitung des Wuppertal Gasverbrauch mit der neuen Anlage leicht an, dafür sei die
Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Der dort zuständige Stromrechnung jetzt wesentlich geringer, „insgesamt sparen wir
Mitarbeiter, der Geograf Johannes Venjakob, hält das Bottroper etwa 80 Euro Energiekosten im Monat.“ Eine Auswertung von
Labor für mehr als „nur ein Spotlight wie viele andere Projekte“. 52 in Bottrop installierten Anlagen ergab eine Minderung der
Denn die Verwaltung habe sich darauf eingelassen, Stadtent- CO2-Emissionen um durchschnittlich 35 Prozent und sogar um
wicklung gemeinsam mit einem privaten Dienstleister zu betrei- 73 Prozent, wenn sie alte Kohleheizungen ersetzten.
ben. „Viele Kommunen lassen sich von Planungsbüros beraten“, Die Bedienung der Anlage sei sehr einfach, sagt Petra Ber-
sagt Venjakob, „aber in Bottrop ist die ICM mit zwei Dutzend kenbusch-Aust, extrem kompliziert sei aber der „Schriftkram“
Mitarbeitern für die komplette Steuerung der Projekte verant- mit den Behörden: Denn mit der KWK-Anlage wurde das >

28 brand eins 12/18


Kosten
Die Stadt Bottrop ist mit zehn Prozent an der Innovation City
Management GmbH (ICM) beteiligt und hat fünf Mitarbeiter dort-
hin entsandt, die Kosten für sie sind im städtischen Haushalt mit
rund 500 000 Euro jährlich veranschlagt. Darüber hinaus erhielt

Siedle Axiom
die ICM nach einer Ausschreibung den Auftrag für das Quartiers-
management; die 4,5 Stellen in den sechs Quartiersbüros schlagen
mit jährlich 385 000 Euro im Bottroper Haushalt zu Buche.

Vorzeigeprojekte Intelligent Interior.


Dazu zählt die Kläranlage des Wasserwirtschaftsverbands Emscher-
genossenschaft, in der Haus- und Industrieabwässer aus Bottrop,
Gladbeck, Essen und Gelsenkirchen gereinigt werden. Sie ist der Sicher die Tür im Blick, per Fingertipp
größte kommunale Verbraucher von Strom – den sie seit Kurzem
die Lichtstimmung wählen, mit oder
zu 100 Prozent selbst produziert: mit Sonnenenergie, Windkraft,
Wasserkraft, Klärgas und durch die Verbrennung des energiereichen ohne Hörer telefonieren. Die Zukunft
Klärschlamms. So können jährlich bis zu 70 000 Tonnen CO2 ein- der Gebäudekommunikation in ihrer
gespart werden. schönsten Form.

Im Mai wurde auf der Fläche einer ehemaligen Bottroper Kiesgrube


axiom.siedle.de
eine Fotovoltaik-Anlage in Betrieb genommen, die 250 Haushalte
mit Sonnenstrom versorgt. Sie spart 377 Tonnen CO2 pro Jahr.

„Ein bundesweit absolut innovatives Projekt“ ist nach dem Urteil


des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie das
„Zukunftshaus“ am Ostring 124 in Bottrop-Batenbrock. Das
55 Jahre alte Vierfamilienhaus des Wohnungsunternehmens
Vivawest wurde aufwendig saniert. Auf dem Satteldach und einer
Giebelwand: Hochleistungs-Solarmodule. Auf den Außenwänden:
20 Zentimeter dicke Dämmung. Die Fenster: dreifach verglast.
Die neuen Balkone aus Aluminium: vom Gebäude abgesetzt, um
Kältebrücken zu unterbrechen. Im Keller: anstelle des alten Gas-
brenners eine mit Erdwärme betriebene Wärmepumpe, die ihren
Strom aus den Solarmodulen bezieht. Die Briefkästen: in eine
Betonstele vor den Hauseingang verlagert, um Kältebrücken zu ver-
meiden. In den Wohnungen: LED-Leuchten, energieeffiziente
Haushaltsgeräte in den vom Hauseigentümer gestellten Küchen,
eine moderne Lüftungsanlage.
Das Gebäude produziert jetzt mehr Energie (rund 22 000 Kilowatt-
stunden), als die Mieter verbrauchen (zwischen 10 000 und 12 000
Kilowattstunden, vor dem Umbau 33 000 Kilowattstunden); der
Überschuss wird ins Stromnetz eingespeist. In Serie geht das Projekt
aber nicht. „Es war nie das Ziel, es zigfach zu replizieren“, sagt der
Vivawest-Fachbereichsleiter Dirk Büsing. „Der Mehrwert für uns
besteht darin, im Live-Betrieb mit Mietern die einzelnen Kompo-
nenten mit den Herstellern und teilweise mit Hochschulen zu testen
und daraus weitere Erkenntnisse zu gewinnen.“
Längst nicht alles kann auf andere Gebäude übertragen werden.
Die Haustechnik etwa ist zu komplex, um von den Mietern bedient
zu werden. Immerhin: Die neue Balkon-Architektur ist bei Viva-
west inzwischen Standard, auch LED-Leuchten werden in den Flu-
ren und Kellern anderer Vivawest-Häuser eingebaut.
In der Garage am Bottroper Ostring gibt es jetzt auch eine Elektro-
Tankstelle, die ihren Strom aus den Solarmodulen auf dem Dach
bezieht. „Damit könnte man ein Auto, einen Scooter oder Elektro-
fahrräder betanken“, sagt Dirk Büsing. „Der Solarstrom ist
umsonst, aber keiner der Mieter nutzt bislang diese Möglichkeit.“

brand eins 12/18 29


Sonne auf dem Dach
und das E-Mobil vor der
Tür: So soll Bottrop
künftig funktionieren

Ehepaar zum umsatzsteuerpflichtigen Stromproduzenten – der 50 Prozent bereits Ende 2018 erreicht hätten“, wie Drescher er-
nicht selbst verbrauchte Strom wird ins Netz eingespeist und klärt. Andererseits fließt der nur ein Jahr nach dem Projektstart
vergütet –, weshalb regelmäßig Korrespondenz mit dem Finanz- begonnene Umbau der Bottroper Kläranlage – eine der größten
amt angesagt ist. Und auch mit dem Hauptzollamt muss sich Deutschlands – vom Energieverbraucher zum Energieproduzen-
Berkenbusch-Aust herumschlagen, wenn sie sich die Energie- ten in die Bilanz ein und macht dort mehr als die Hälfte der
steuer des Gaslieferanten erstatten lassen will: „Das Zollamt ist gesamten CO2-Einsparung aus (siehe Kasten).
überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass solche Dinge jetzt auch Wenn sich der bundesweite Strommix zugunsten erneuer-
in Privathaushalten stattfinden.“ barer Energien verändert, verbessert das auch die Bottroper
Im Jahr 2020 läuft das Pilotprojekt in Bottrop aus, die Ma- CO2-Bilanz – ohne Zutun auf lokaler Ebene. Und wäre es ein
nager der ICM wollen nun anderswo aktiv werden: Sie haben für Projekterfolg und Beitrag zum Klimaschutz, wenn die berühmte
Quartiere in 17 Städten Nordrhein-Westfalens und anderen Bun- Bottroper Skihalle, gebaut auf einer Zechenhalde, ihren Kunst-
desländern Konzepte erarbeitet. Eine Eins-zu-eins-Übertragung schnee für die 640 Meter lange Piste zu 100 Prozent mit Strom
ist allerdings nicht möglich, denn die Ausgangsbedingungen sind aus Wind- und Sonnenkraft produzieren würde?
unterschiedlich. In der einen Stadt brennt der Bürgermeister für Auch das begleitende Wuppertal Institut für Klima, Umwelt
die Idee, wird aber von seiner Verwaltung ausgebremst. In einer und Energie kommuniziert die Bottroper Erfolgszahlen zur CO2-
anderen verfolgt der örtliche Energieversorger seine eigene Stra- Minderung, die so viel Interesse wecken. Auf die Frage, ob sie
tegie, in einer dritten gibt es keine Fernwärmeversorgung, in ei- auch halten, was sie versprechen, antwortet Johannes Venjakob:
ner vierten nur wenige Hauseigentümer, aber viele Mietshäuser „Entscheidend ist nicht, ob es am Ende 50 Prozent weniger
im Besitz großer Wohnbaugesellschaften. Treibhausgas-Emissionen sind, oder 48 oder 44. Entscheidend
ist, dass Bottrop modellhaft Pfade aufzeigt, wie klima freundlicher
Eine Öko-Bilanz mit Tücken Stadtumbau organisiert werden kann durch hoch motivierte
Leute, die die Bevölkerung aktivieren. Klar ist aber auch, dass
Auch in Bottrop gelang nicht alles. So konnten dort nur wenige man um eine Systemtransformation – also zum Beispiel Kohle-
Menschen zum Umstieg auf den öffentlichen Nahverkehr, das ausstieg und eine andere Mobilität – nicht herumkommt, wenn
Fahrrad oder Elektrofahrzeuge bewegt werden. Zudem zogen man die Pariser Klimaziele erreichen will.“
nur wenige Gewerbebetriebe bei der Energiewende mit – weil Mit anderen Worten: Hausbesitzer und Autofahrer können
sie ihre Daten nicht offenlegen wollten oder ihnen Geld und mit neuen Heizungen, gedämmten Kellerdecken und Carsharing
Personal für den Umbau fehlten. auf lokaler Ebene manches erreichen, aber den Rahmen muss
Auch die Berechnung der Öko-Bilanz hat ihre Tücken. Die die Politik setzen. „Ich könnte ad hoc sechs Punkte an die Wand
Datenlage ist teilweise lückenhaft, außerdem stellt sich die Frage, schreiben, wie man die Energiewende und den Klimaschutz in
welche CO2-Einsparung dem Modellprojekt zuzurechnen ist. wenigen Jahren auf die Spur bringt“, sagt der ICM-Geschäfts-
So wurde etwa die letzte Kohlenzeche nicht bilanziert, „weil führer Burkhard Drescher. „Aber ich sitze nun mal in Bottrop,
wir durch ihre Schließung im Dezember das Reduktionsziel von nicht in Berlin.“ –

30 brand eins 12/18


Was Wirtschaft treibt

Die
Macht
der
Vision
• Thorsten Eller wollte dieses Jahr eigent-
Der Ökonom Jeremy Rifkin lich seine Doktorarbeit schreiben. Doch
prophezeit die Null- nun tingelt er durch Baden-Württemberg
und gibt sein Bestes, um schwäbische In-
Grenzkosten-Gesellschaft und dustrieunternehmer von seiner Idee zu
das Ende des Kapitalismus. überzeugen. Sie sollen ihre Maschinen
verleihen und dafür Daten über deren
Vermutlich wird es nicht so Auslastung teilen. Übers Internet. Mit
kommen. Aber das ist noch Konkurrenten.
Nur warum sollten sie das tun? Die
lange kein Grund, diesen sogenannten Hidden Champions sind
Zukunftsentwurf nicht ernst jahrzehntelang gut damit gefahren, nie-
mandem von außen Einblicke in ihr
zu nehmen. Geschäft zu gewähren. Doch überra-
schenderweise scheint Ellers Unterfangen
nicht aussichtslos zu sein. „Die Industrie-
unternehmer zu überzeugen ist ein Kraft-
akt. Aber sie machen mit“, sagt er.
Eller ist Mitgründer des Start-ups V-
Industry im schwäbischen Ostfildern. Er
und seine beiden Mitstreiter wollen eine
Text und Interview: Sarah Sommer kollaborative Industrieplattform aufbauen.
Illustration: Julia Ossko und Eugen Schulz Auf der sollen Unternehmen freie Maschi-
nenkapazitäten automatisiert melden,
damit andere Unternehmen sie nutzen
können. Ziel ist es, dass sich die Maschi-
nenbesitzer nicht nur eine zusätzliche Ein-
kommensquelle erschließen, sondern auch
fit werden für eine Zukunft, in der die
Prinzipien der Sharing Economy wichtiger
werden.
Eller ist überzeugt, dass diese Zukunft
schnell näher rückt. „Wenn wir heute von
kollaborativen Nutzungsmodellen reden,
denken die meisten Menschen an den
Taxidienst Uber, an Musik-Streaming oder
an Wohnungsmarktplätze wie Airbnb“,
sagt er. „Alles Modelle, bei denen es um
Konsumgüter oder Dienstleistungen geht
und sich die Angebote immer an Endver-
braucher richten.“ An Industrieprodukte
hingegen denke niemand.
Die Unternehmer aus dem produ-
zierenden Gewerbe seien noch der An-
sicht, dass die Sharing Economy ihr Ge-
schäft nicht berühre. Es ist ja auch schwer
vorstellbar: Airbnb, Uber, Foodora oder
Car2go mögen die Spielregeln bei der
Zimmervermittlung, bei Lieferdiensten
oder in der Taxibranche ändern. Aber wie

34 brand eins 12/18


soll Vergleichbares bei der Produktion rea- für jede weitere Kopie Produktionskosten vor einem Umbruch. In einer digitalisier-
ler Güter möglich sein? von vielleicht einem Euro an. Seit man ten und weitgehend automatisierten
Es war Jeremy Rifkin, der das Thema Musik auch im Internet downloaden Wirtschaftswelt, so seine Argumentation,
aufgebracht hat. Der US-amerikanische kann, liegen ihre Kosten noch darunter, sinken die Kosten für Kommunikation,
Ökonom, Soziologe und Autor ist für bei nahezu null. Das gilt gleichermaßen für Transaktionen, Logistik und Energie im-
überraschende Zukunftsvisionen bekannt. Filme, Software und E-Books. mer weiter.
In seinem 2014 erschienenen Buch „Die Bei physischen Gütern wie etwa Au- Kleinere, kollaborative Produktionsein-
Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ entwirft er tos ist die Lage anders. Zwar sind hier die heiten könnten schon bald eine echte Kon-
ein Szenario, in dem Tauschen und Teilen Unternehmen um die Steigerung ihrer kurrenz zur zentralen Massenproduktion
nicht nur für ein paar Dienstleistungen, Produktivität bemüht, was dazu führt, in großen Fabriken werden. Diese Anlagen
sondern für große Teile der Ökonomie dass die Grenzkosten sinken. Doch down- würden Produkte direkt dort herstellen,
immer wichtiger werden. Aus unserer in- loaden lassen sich Industriegüter nicht. wo sie gebraucht werden, statt sie über
dustriell geprägten Gesellschaft erwachse Die eingesetzten Materalien kosten Geld, lange Wege zu transportieren. Auch
eine globale, gemeinschaftlich orientierte, und auch die Kosten für Maschinen, die Know-how werde flexibler nutzbar: Ver-
so der Vordenker. Logistik, das Personal lassen sich nicht schiedene Produzenten könnten auf ge-
Treiber der Entwicklung seien gegen einfach wegdigitalisieren. meinsam genutzte Ressourcen und Open-
null sinkende Grenzkosten. Das sind die Und doch hält Rifkin die Vorstellung Source-Netzwerke zurückgreifen. Kunden
Kosten, die in einem Unternehmen entste- für naiv, dass die Industrieproduktion vom könnten sich in den Herstellungsprozess
hen, wenn es eine zusätzliche Einheit eines Effekt stark sinkender Grenzkosten aus- einschalten, Produkte nach ihren Bedürf-
Gutes herstellt. Bei Musik etwa sind die genommen sei. Auch sie, so seine These, nissen mitgestalten oder gleich selbst mit
Grenzkosten schon lange vergleichsweise stehe durch die Kombination neuer Tech- dem 3D-Drucker fabrizieren.
gering. Ist ein Album erst einmal produ- niken wie 3D-Druck, Robotik, künstliche Die Grenzkosten können sich auch in
ziert und auf einer CD gespeichert, fallen Intelligenz und dem Internet der Dinge einem solchen Szenario nicht so stark >

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Digital versus physisch der Null-Linie annähern, wie das bei eini- können im Netzwerk Mentoren suchen,
Die Herstellung eines physischen Gutes verur-
gen digitalen Gütern der Fall ist. Aber sie ihre Ideen mit anderen diskutieren und sie
sacht sowohl fixe als auch variable Kosten. Die
Fixkosten, zu denen Gehälter, Mieten und sinken womöglich so weit, dass in der an der Community beteiligten Konzernen
Entwicklungsaufwand gehören, fallen immer an Industrieproduktion ganz neue Geschäfts- wie Allianz oder HP präsentieren. Wer ein
– egal ob das Unternehmen 10 oder 10 000 modelle entstehen können. Unternehmer konkretes Projekt managt, wird für diese
Einheiten produziert. Die variablen Kosten ver-
in klassischen Industrien wie dem Maschi- Arbeit von der Plattform bezahlt.
ändern sich hingegen je nach Produktionsmenge.
In der Praxis entsprechen die variablen Stück- nenbau oder der Automobilindustrie tun Und was hat der Betreiber von einer
kosten meist den Grenzkosten, also jenem demnach gut daran, sich Gedanken darü- solchen Tüftler-Plattform? „Wir können
Kostenzuwachs, der entstünde, wenn ein Unter- ber zu machen, ob der Null-Grenzkosten- neue Techniken oder Materialien in unse-
nehmen genau eine zusätzliche Einheit eines
Gutes produzierte. Die Herstellung digitaler
Effekt nicht auch ihr Geschäft betreffen ren Mikrofabriken viel schneller einsetzen
Güter verursacht im Gegensatz zu physischen könnte. und Ideen, die in der Entwickler-Commu-
kaum variable Kosten. nity entstehen, viel schneller umsetzen als
Plattformen für neue Automobilkonzerne“, sagt Matthew Ri-
Laptop
Stückpreis: 1000 Euro Produktionsgemeinschaften vett, Executive Vice President bei Local
Fixe Kosten: 1 000 000 Euro Motors.
Variable Kosten: 500 Euro Tatsächlich gibt es heute schon Firmen, Klassische Fahrzeughersteller investie-
Gewinnzone ab 2000 Stück
die auf einen solchen Wandel setzen – und ren in teure Fabriken, die sich nur dann
Download gleich auch passende Geschäftsmodelle rechnen, wenn in ihnen weitgehend stan-
Stückpreis: 1 Euro entwickeln. Das US-Unternehmen LM dardisierte Fahrzeugmodelle in Massen
Fixe Kosten: 1 000 000 Euro Industries etwa könnte einem von Rifkins hergestellt werden. Jedes neue Modell er-
Variable Kosten: ca. 0 Euro
Gewinnzone: ab 1 000 000 Stück
Büchern entsprungen sein: Es stellt in fordert immer wieder hohe Investitionen
lokalen Mikrofabriken seiner Tochterfirma in die Umrüstung der Fabriken. Kleine, in-
Local Motors mithilfe von 3D-Druck den novative Firmen hatten zu dem von Kon-
selbstfahrenden, elektrisch angetriebenen zernen dominierten Markt lange keinen
Minibus „Olli“ her. Eine weitere Tochter- Zugang, da sie keine wettbewerbsfähige
firma managt eine sogenannte Co-Creati- Infrastruktur aufbauen konnten. Der 3D-
on-Community namens Launch Forth. Druck und der Trend zu leichter zu
Darin sind rund 196 000 Entwickler, De- verbauenden Elektromotoren werden das
signer und Techniker aus der ganzen Welt ändern. „Wir müssen keine Massenpro-
vernetzt. Sie beteiligen sich am Design duktion aufbauen, um wirtschaftlich zu ar-
neuer Prototypen und der Weiterentwick- beiten, sondern können auch Kleinserien
lung von Produkten wie Olli. profitabel herstellen“, sagt Rivett.
LM Industries nennt sich mit dieser Zwei Mikrofabriken, eine Verkaufs-
Kombination aus Mikroproduktions- und Demonstrationsanlage sowie ein For-
anlagen und Crowdsourcing selbstbewusst schungs- und Entwicklungszentrum hat
den ersten digitalen Fahrzeughersteller der das Unternehmen in den USA aufgebaut
Welt. Die Mikrofabriken bestehen im – weitere Mikrofabriken auf der ganzen
Wesentlichen aus einer Reihe verschiede- Welt sollen folgen. „Die Idee ist, dass wir
ner 3D-Drucker und haben das Ausmaß die Fabriken jeweils dort aufbauen, wo un-
einer größeren Garage. Sie können schnell ser selbstfahrender Bus dann auch zum
auf- und abgebaut werden. Die Entwick- Einsatz kommen soll“, sagt Rivett. Da-
lergemeinschaft arbeitet derweil ständig an durch könne man eng mit Behörden vor
neuen Varianten des Minibusses. Ort zusammenarbeiten und den Bus an die
Um Programmierer und Ingenieure für jeweiligen Anforderungen anpassen.
die Mitarbeit in der Community zu gewin- Etwa ein Jahr braucht es nach Unter-
nen, schafft Launch Forth gezielt Anreize: nehmensangaben vom ersten Konzept bis
Mitglieder erhalten freien Zugang zu spe- zum fertigen Produkt. Wenn die Rahmen-
zieller Software, sie können bei Wett- bedingungen vor Ort nicht stimmen, kön-
bewerben Preise für die beste Gestaltungs- nen die Mikrofabriken auch schnell wieder
idee oder Problemlösung gewinnen, sie verschwinden: Ein Pilotprojekt in Berlin

36 brand eins 12/18


beispielsweise wurde 2017 nach zwei Jah- sche Massenherstellung sei das Relikt einer auch nur noch gemeinschaftlich genutzt
ren Probebetrieb wieder eingestellt. Man Ära, die bald der Vergangenheit angehören werden. Die Produkte würden irgend-
konzentriere sich derzeit stärker auf ande- werde, ist er überzeugt. So wie Amazon die wann nur noch auf Sharing-Märkten
re Partnerstädte und -regionen in den Art und Weise verändert habe, wie Men- gehandelt, auf denen ein kostenloses
skandinavischen Ländern, in Kanada und schen Dinge bestellen, wolle Local Motors Produkt gegen ein anderes kostenloses
Australien, sagt Rivett. nun die Art und Weise verändern, wie sie Produkt oder eine kostenlose Dienstleis-
Ein Auto für den privaten Alltagsge- Dinge produzieren. tung getauscht wird.
brauch, das in Qualität und Ausstattung Konsequent zu Ende gedacht, schafft
mit den Produkten großer Automobilher- Siegt die Tauschwirtschaft? sich in diesem Modell der Kapitalismus
steller mithalten kann, könnte Local Mo- ab. Rifkin schreibt: „Je mehr Güter und
tors derzeit allerdings wohl noch nicht Damit passen Rivett und Rogers ideal- Dienstleistungen, die das Wirtschafts-
herstellen. Auch deshalb konzentriert sich typisch in die Rifkin’sche Null-Grenzkos- leben unserer Gesellschaft ausmachen,
das Unternehmen auf eine Marktnische. ten-Ökonomie. Der zufolge würden die sich in Richtung Nahezu-null-Grenzkos-
Der selbstfahrende Bus soll als Shuttle den nunmehr kollaborativ und dezentral er- ten bewegen, (…) desto mehr wird sich
öffentlichen Nahverkehr ergänzen, auf Fir- zeugten Produkte und Dienstleistungen der kapitalistische Markt in schmale Ni-
men-, Klinik- oder Universitätsgeländen, langfristig immer billiger zu haben sein. schen zurückziehen, in denen Unterneh-
an Flughäfen, Bahnhöfen oder in Fußball- Denn die klassische Ökonomie lehrt: Mit men, die Profit abwerfen, nur am Rande
stadien zum Einsatz kommen. sinkenden Grenzkosten fallen auch die der Wirtschaft überleben.“
Bescheidene Anfänge für große Pläne: Preise. Liegen die Grenzkosten nahe bei Ein ebenso radikaler wie spannender
Local-Motors-Mitgründer John B. Rogers null, sind Produkte und Dienstleistungen Gedanke. Viele Ökonomen halten ihn
will sein Konzept weiterentwickeln und es kaum noch gewinnbringend zu vermark- allerdings nicht für sehr realistisch.
für „fast jede Art von Hardware“ in der In- ten. Rifkins Argumentation: Was ge- Irene Bertschek beschäftigt sich als
dustrieproduktion nutzbar machen. Klassi- meinschaftlich produziert wird, kann Leiterin des Forschungsbereichs Digi- >

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tale Ökonomie am Zentrum teilweise veränderten Mecha-
für Europäische Wirtschafts- nismen.“
forschung tagein, tagaus mit Das Ende des Kapitalismus
der Herausforderung, die sei bei Weitem nicht absehbar.
Auswirkungen der Digitali- Rifkin schieße mit seiner Prog-
sierung auf verschiedene nose übers Ziel hinaus.
Branchen, Unternehmen Doch das muss nicht heißen,
und Kunden messbar zu ma- dass sich Industrieunternehmer
chen. „Die Phänomene, die beruhigt zurücklehnen können.
Rifkin beschreibt, sind Denn Unternehmen wie LM In-
durchaus da: wie das Auf- dustries zeigen, dass die Visi-
kommen von Sharing-An- on einer kollaborativen,
bietern und von Unterneh- dezentralen Industrie-
men und Privatpersonen, die produktion weniger
kollaborativer arbeiten und weit hergeholt ist, als
Dienstleistungen und Pro- sie auf den ersten Blick
dukte bereits heute schein- erscheint. Wenn sich
bar kostenlos anbieten“, sagt bald jeder Tüftler und
Bertschek. Aber: „Traditio- Gründer in eine Ge-
nelle Marktmechanismen meinschaft einklinken und
können durch diese Trends in seiner Garage ein eigenes
meiner Einschätzung nach Elektroauto oder andere Indus-
nicht ersetzt werden.“ trieprodukte entwickeln kann, um
Bei digitalen Gütern wie es anschließend in einer Mikrofabrik in
etwa Musik, Software, Bü- seiner Nähe ausdrucken und zusammen-
chern und im Dienstleis- kön- setzen zu lassen, dann heißt das: Die Ein-
tungssektor hätten sich ne es bei trittsbarrieren zu Märkten, die bislang nur
Märkte zwar recht schnell ihrer Vermark- finanzstarken Großunternehmen offenste-
verändert, und Grenzkosten tung maximal darum gehen, dass hen, sinken – innovative Newcomer erhal-
seien zum Teil gegen null gesunken. diese Güter dann eben nicht gekauft, ten Zugang.
„Dennoch sehen wir, dass die Geschäfts- sondern nur temporär genutzt werden – Mittelständische Betriebe, die sich heu-
modelle, die sich aus dieser Situation ent- „so wie das schon heute im Grundsatz te noch schwertun, Informationen über
wickeln, nicht grundlegend anders sind mit Miet- und Leasing-Modellen längst freie Kapazitäten ihrer Maschinen zu tei-
als solche, die wir bislang kennen“, sagt etabliert ist“. len, müssen sich womöglich an den Ge-
die Wirtschaftsforscherin. „Statt dezen- Kein Unternehmen lasse sich dazu danken gewöhnen, in Zukunft mit ver-
traler Kollaborations- und Sharing-Lö- motivieren, neue Geschäftsmodelle zu netzten Mikrofabriken zu konkurrieren.
sungen entwickeln sich eher Modelle, die entwickeln, mit denen sich keine Profite „Zum Glück müssen wir die Unter-
im Grunde nichts anderes als Abo- und erwirtschaften lassen. „Wenn man die nehmer nicht mit solchen visionären Ide-
Flatrate-Lösungen sind.“ Oder die Unter- Potenziale der Digitalisierung nutzen en einer neuen Wirtschaftswelt von unse-
nehmen schaffen ein Netz von Dienstleis- möchte, sind dafür immense Investitio- rem Sharing-Modell überzeugen“, sagt
tungen rund um ihre Kostenlos-Produk- nen in Infrastrukturen und Prozesse nö- V-Industry-Gründer Thorsten Eller. „Un-
te, die sich leichter vermarkten lassen. tig“, sagt Bertschek. Ohne die Aussicht ser Argument ist viel pragmatischer: Mit
„Besitz wird flexibler, Profite verschieben auf ein ertragreiches Geschäftsmodell dem Sharing-Prinzip können sie ohne gro-
sich in andere Bereiche.“ würden Unternehmen diese Investitionen ßen Aufwand Zusatzerträge generieren
Sobald physische Güter im Spiel seien, schlicht nicht tätigen. „Wir haben es am und ohnehin vorhandene Ressourcen
werde dieser Effekt noch deutlicher, sagt Ende des Tages also immer noch mit tra- monetarisieren.“ Dass mit solchen einfa-
Bertschek. Selbst wenn diese womöglich ditionellen Gütern und Dienstleistungen chen ersten Schritten womöglich auch ein
dezentraler als bisher und vielleicht mit zu tun, und das sind immer noch Märkte, ferner strategischer Nutzen verbunden sein
einem 3D-Drucker produziert würden auf denen Angebot und Nachfrage zu- könnte – darüber könne man ja später
und die Grenzkosten dadurch sänken, sammengebracht werden, wenn auch mit einmal sprechen. – >

38 brand eins 12/18


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„Geschichten möglich die Handlungsmuster und Motive
der Akteure, die im bisherigen System Pro-
Und welche Geschichten setzen sich wirklich
durch?

über die Zukunft fite erzeugen und verteidigen. Eine weitere


wichtige Frage lautet: Gibt es einen charis-
Das lässt sich so einfach nicht beantwor-
ten. Es kommen immer viele Faktoren zu-
schaffen parallele matischen und einflussreichen Erzähler
dieser Geschichte?
sammen. Denken Sie beispielsweise an
Tesla-Gründer Elon Musk. Er hat eine Zu-
Realitäten“ kunftsvision entwickelt, in der Elektroau-
Jeremy Rifkin, prominentester Erzähler die- tos die Mobilität der Zukunft bestimmen.
ser Zukunftsvision, bringt schon eine gewis- Er war nicht der Erste, der mit dieser Ge-
se Bekanntheit mit. schichte herumgelaufen ist. Die Automo-
Jens Beckert, Direktor am
Jemand wie Rifkin ist prominent und gut bilindustrie hat das allerdings lange nur
Max-Planck-Institut für Gesell-
vernetzt und kann damit viele Kanäle nut- mäßig interessiert. Erst Musk hat es ge-
schaftsforschung, untersucht
zen, über die er seine Interpretation der schafft, mit dieser Geschichte enorm ein-
Zukunftsentwürfe wie die von Zukunft diffundieren und viele Menschen flussreich zu werden. Durch sein öffent-
der Null-Grenzkosten- erreichen kann. Tatsächlicher Einfluss und lichkeitswirksames Charisma und durch
Ökonomie mit den gleichen Ressourcen, wie sie etwa einem Zentral- seine Beziehungen zu ökonomisch macht-
Instrumenten wie literarische bank-Präsidenten, einem Regierungschef vollen Akteuren, die er von seiner Vision
Fiktion. oder einem erfolgreichen Großunterneh- überzeugt hat. Weil er die Ressourcen hat,
mer zur Verfügung stehen, fehlen ihm seine Ideen im echten Leben auszuprobie-
aber. Daher ist seine Geschichte zunächst ren und gewissermaßen ein Real-Life-Ex-
einmal nur eine unter vielen. Damit sie periment daraus zu machen. Er hat das
brand eins: Herr Beckert, für Sie sind ein- sich gegen andere Versionen der Zukunft Zukunftsnarrativ einer ganzen Branche
flussreiche Wirtschaftsakteure vor allem durchsetzen kann, müsste er mächtigere verschoben, sodass nun auch andere Ak-
gute Geschichtenerzähler. Was halten Sie Akteure von seinem Narrativ überzeugen. teure gezwungen sind, sich darauf einzu-
von der Geschichte, dass wir bald in einer Die Welt, die er ausmalt, müsste ihnen stellen. Seine Erzählung hat unsere Reali-
Null-Grenzkosten-Ökonomie leben und glaubwürdig genug erscheinen, ihre Ent- tät verändert. Weil sie, nach literarischen
der Kapitalismus etwa im Jahr 2050 an sei- scheidungen daran auszurichten. Meine Maßstäben gemessen, eine gut erzählte
ner eigenen Produktivität zugrunde geht? These ist, dass genau solche fiktionalen und glaubwürdige Geschichte ist. Und weil
Jens Beckert: Nicht uninteressant. Erzäh- Erwartungen der Akteure, ihre Imagina- ihr Erzähler ein mächtiger Mann ist.
lungen vom Ende des Kapitalismus haben tionen der Zukunft, die maßgeblichen
ja zurzeit Konjunktur. Damit hat die Treiber der kapitalistischen Dynamik sind. Massenweise Elektroautos sehen wir aller-
Geschichte einen Faktor erfüllt, der Zu- dings noch nicht auf den Straßen.
kunftsentwürfe wirkmächtig machen kann: Wie meinen Sie das? Das stimmt – kann sich aber schnell än-
Sie lässt sich in einen bekannten Erzählrah- Es ist so: In traditionellen, geschlossenen dern. So oder so: Musk hat eine Dynamik
men einbetten. Ein zweiter Faktor, der für Gesellschaften stellen sich die Menschen von Investitionen und Innovationen in
die Geschichte spricht: Sie hat einen guten die Zukunft wesentlich als Wiederholung Gang gesetzt, die unsere Realität verän-
rhetorischen Spannungsbogen, einen über- der Vergangenheit vor. In einer modernen dert. Einflussreiche Akteure haben sich
zeugenden Plot. Gesellschaft wird die Zukunft als offen be- darauf geeinigt, dass sich die Zukunft sehr
trachtet, und es konkurrieren immer meh- wahrscheinlich in eine bestimmte Rich-
Volle Punktzahl also. rere Zukunftsszenarien miteinander um tung entwickelt, und haben daraufhin ko-
Nicht ganz. Wenn wir herausfinden wol- Einfluss. Das Spannende daran ist: Ge- ordiniert gehandelt. Das zeigt: Zukunfts-
len, ob eine Geschichte nicht nur eine schichten über die Zukunft schaffen paral- vorstellungen sollte man ernst nehmen.
gute Geschichte ist, sondern auch perfor- lele Realitäten – und sie sorgen dafür, dass
mativ wirken kann – ob sie also unsere sich Akteure hier und heute so verhalten, Und zwar unabhängig davon, ob sie irgend-
Realität beeinflusst –, müssen wir noch als würde sich die Realität tatsächlich ent- wann Realität werden?
auf weitere Faktoren schauen. Man kann sprechend entwickeln. Wir tun so, als ob Einzelne Visionen scheitern, andere setzen
sich erstens fragen, ob die Akteure in die- – ganz so, als würden wir bei einem guten sich durch und treiben damit die wirt-
ser Geschichte glaubwürdig positioniert Roman mitfiebern. Nur eben im richtigen schaftliche Entwicklung an. Auf Scheitern
sind und ihr Handeln nachvollziehbar er- Leben. wird mit neuen Zukunftsprojektionen re-
scheint. Diese Geschichte verkennt wo- agiert. Einfluss erlangt eine Geschichte >

40 brand eins 12/18


gerade dann, wenn sie eine Überraschung sungen stecken, dass Politiker Regularien te der bestehenden Systeme und Akteure
beinhaltet, häufig einen angekündigten ändern, dass Verbraucher ihr Konsum- sind groß. Ohne Geschichten einer verhei-
Bruch mit dem Bestehenden. Dies ist bei verhalten umstellen? Eher nicht. Es sind ßungsvollen Zukunft würde man gleich
der Idee der Null-Grenzkosten-Ökono- die visionären, gut erzählten, spannenden, sagen: Lassen wir doch alles beim Alten.
mie der Fall. Auch wenn die Beteiligten aufregenden Geschichten, die Aufmerk- Und ohne solche Vorstellungen der Zu-
wissen, dass sich solche Zukunftsvorstel- samkeit erlangen und möglicherweise kunft würde uns die Orientierung fehlen,
lungen nicht vollständig verwirklichen, Weichen stellen. Geschichten, bei denen die wir für Entscheidungen brauchen.
sorgt eine Geschichte wie die vom Ende die Fantasie angeregt wird, sich auszuma- Denn wir lassen uns gern immer wieder
des Kapitalismus und einer vollkommen len, wie wir in dieser zukünftigen Welt mitreißen. Wir lieben es, uns vorzustellen,
neuen Wirtschaftswelt für mehr Aufmerk- agieren werden. wie sich eine andere Zukunft anfühlen
samkeit und entfaltet mehr Wirkung als würde. Ließen wir uns nicht immer wie-
eine Erzählung, die besagt: „Hey, wir wer- Entstehen durch solche Geschichten nicht der begeistern von neuen Geschichten,
den bald in einigen Bereichen viel effizien- auch Blasen, bei deren Platzen Ressourcen gäbe es keinen Kapitalismus, der auf ge-
ter sein und etwas anders als früher zu- in großem Maßstab vernichtet werden? nau diese Dynamik angewiesen ist.
sammenarbeiten.“ Oder: „Wahrscheinlich Gerade deshalb plädiere ich dafür, imagi-
werden bald auch Elektroautos neben an- nierte Zukünfte als Einflussfaktoren ernst Stärkt also die Geschichte von der Null-
deren Fahrzeugen zum Straßenbild gehö- zu nehmen. Sie sollten meiner Meinung Grenzkosten-Ökonomie letztlich den Kapi-
ren.“ Klingt nicht so spannend, oder? nach sogar im Mittelpunkt moderner talismus, den sie für tot erklärt?
Können solche Geschichten dazu führen, ökonomischer Theorien stehen. Nicht Ja, indem sie auf neue Möglichkeiten hin-
dass Firmen und Investoren im großen nur, weil Geschichten gefährlich werden weist und dazu beiträgt, ansonsten unver-
Maßstab Gelder umleiten, dass Forscher können. Sondern auch, weil wir auf das ständliche Entscheidungen plausibel er-
all ihre Zeit und Energie in die Entwick- Geschichtenerzählen weder verzichten scheinen zu lassen. Faszinierend, oder? –
lung neuer, innovativer Produkte und Lö- können noch sollten. Die Beharrungskräf-

Ist die Null-Grenzkosten-Ökonomie


unsichtbar?

Paul Schreyer ist stellvertretender Statistikchef der tistiker in den Griff – da muss man einfach dran- wenn wir zum Beispiel einen Wert für digitale
OECD und leitet ein Team, das sich mit der bleiben an der Entwicklung. Gratisprodukte ansetzen oder mal annehmen,
Messbarkeit der digitalen Ökonomie befasst. Kann Andere konzeptionelle Fragen sind nicht so leicht dass die Qualitätsentwicklung bestimmter
es sein, dass etablierte Wirtschaftskennzahlen zu lösen. Ist zum Beispiel jemand, der in seiner Produkte unterbewertet wird. Dabei zeigte sich:
wie BIP, Inflation und Produktivität das Wachstum Freizeit als Open-Source-Programmierer an einem Die Wirkungen auf das Gesamtaggregat sind,
der Null-Grenzkosten-Ökonomie gar nicht er- Computerspiel mitarbeitet oder einen Wiki- gemessen an den gesamten Haushaltsausgaben
fassen und bewerten können? pedia-Eintrag erstellt, Teil eines kollaborativen und dem gesamten Produktionsvolumen,
Produktionsnetzwerks, dessen Leistung wir noch nicht sehr groß. Das heißt natürlich nicht,
„Das Thema Digitalisierung und ihr Einfluss auf volkswirtschaftlich erfassen müssen? Oder ist das dass wir all diese Aktivitäten nicht erfassen
statistische Instrumente wie etwa die Volkswirt- schlicht sein Privatvergnügen und hat in der sollten oder dass die Digitalisierung keine ernst
schaftliche Gesamtrechnung beschäftigt Statistiker Berechnung der wirtschaftlichen Leistung nichts zu nehmenden Auswirkungen hat. Ich halte
in allen OECD-Ländern seit einigen Jahren sehr zu suchen? es sogar für sehr wichtig, dass wir die vielfältigen
intensiv. Es gibt Kritiker, die sagen, dass Kennzahlen der digitalen Aktivitäten von Unternehmen und
Die Krux ist: Man kann die digitale Ökonomie Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung wie das Haushalten erfassen, die nicht über herkömmliche,
ohne die richtige Brille nicht sehen. BIP oder auch Kennzahlen wie die Produktivität preisgesteuerte Märkte abgewickelt werden.
Zum Teil haben wir es mit einfachen, ganz prakti- und die Inflationsrate verzerrt werden, wenn Wir müssen ein Gefühl für die Größenordnungen
schen Messproblemen zu tun: Wie bewerte ich wir diese digitalen Aktivitäten nicht erfassen. Aber bekommen, um die es da geht. Und wir müssen
volkswirtschaftlich zum Beispiel ein Gratispro- ich denke, das muss man in Relation zu anderen auch aufzeigen, dass viele der Dienstleistungen
dukt? Eine andere Bewertungsfrage, mit der wir Bereichen setzen, die im derzeitigen System und Produkte, die auf den ersten Blick gratis sind,
uns auseinandersetzen, ist: Deklarieren private auch nicht erfasst werden wie etwa Hausarbeit, natürlich sehr wohl an anderer Stelle zu mone-
Haushalte, die über Sharing-Plattformen Woh- Kindererziehung und häusliche Krankenpflege. tären Gewinnen führen. Wir sollten das aber in
nungen oder Fahrdienstleistungen anbieten, diese Vom Volumen her sind sie viel bedeutender als einem ergänzenden, neuen Zahlenwerk tun.“
Einkommen? die digitalen Aktivitäten im Graubereich zwischen
Finanzämter entwickeln in vielen Ländern gerade Produktion und Freizeit.
Regeln und beginnen, so etwas zu erfassen. Die Wir haben in Modellen durchgerechnet, ob die
praktischen Messprobleme bekommen wir als Sta- Kennzahlen tatsächlich massiv verzerrt wären,

42 brand eins 12/18


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Heft 10
5. Jahrgang
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Wer im Risiko operiert
oder in Führungspositionen ist,
Schwerpunkt: wird einsamer und
Nähe
damit kuschelbedürftiger.
Prolog – Stephan A. Jansen: „Warum starten Gründer eigentlich am liebsten mit guten Freunden?“

S. 110
Wir leben in einer Duz-Welt.
Allgemein ist eine Tendenz zur Entgrenzung festzustellen.
Privates und Geschäftliches vermischen sich zunehmend.
– Ronny Jahn: „Siezen Sie noch, oder duzt du schon?“ S. 56
Selbstironie funktioniert nach dem Prinzip, lieber selbst den Witz
über eigene Schwächen und die Desaster des eigenen Lebens zu machen,
bevor andere das tun.
– Tim Wolff: „Lachen verbindet?“ S. 108

Es gibt Leute,
die rücken einem auf die Pelle
und merken gar nicht,
dass das dem Gegenüber
unangenehm ist.
– Heiner Thorborg: „Ohne Sympathie ist es schwierig“ S. 104
Wenn ich mal wieder der Arsch bin,
dann ist der liebe Gott immer noch der liebe Gott.
brand eins 12/18
– Jörg Lamprecht: „Einfach da sein“ S. 68 47
Distanzkontrolle
Im Leben und im Geschäft zählt eines:
der richtige Abstand.
Über Nähe und Distanz und ihr richtiges Maß.

Text: Wolf Lotter

1. Abstandsregler

Jeder kennt das von der Straße. dert. Im Jahr 1851 verfasste wie „eine Gesellschaft Stachel-
Wenn alles flüssig läuft, jeder der Philosoph Arthur Scho- schweine“ an einem kalten
auf Abstand fährt, ist alles su- penhauer sein Werk „Parerga Wintertag, die sich zusammen-
per. Doch wenn’s dichter wird und Paralipomena“, in dem drängen, um sich durch die
und zäher, gilt: Komm mir sich die kluge Parabel von den „gegenseitige Wärme vor dem
bloß nicht zu nahe! Zeiten Stachelschweinen findet. Da- Erfrieren zu schützen“. Doch
der Veränderung sind wie der mals war die Lage höchst un- wenn sie das taten, stachen sie
Stoßverkehr: Mal geht’s flüs- übersichtlich. Die Fabrikarbeit einander mit ihren Stacheln,
sig, mal gibt’s Stau. Man muss bedrohte das Handwerk und was sie wiederum auf Distanz
achtgeben, dass es nicht kracht.
Veränderungen definieren auch
die alten Sitten und Gebräu-
che. Die alten Machthaber – K e e p hielt: „Wenn nun das Bedürf-
nis nach Erwärmung sie wie-
die Nähe und Distanz von Be- der Adel und die Kirchen – der näher zusammenbrachte,
ziehungen neu, privat und ge-
schäftlich. Wie viel Nähe hal-
wurden immer öfter ganz
grundsätzlich infrage gestellt.
Y o u r wiederholte sich jenes zweite
Übel, sodass sie zwischen bei-
ten wir aus – und ist sie echt? Sie lieferten keine brauchbaren den Leiden hin- und herge-
Oder ist das allgegenwärtige
Rankumpeln nichts weiter als
Antworten mehr für das Le-
ben und verloren an Zulauf
Distance! worfen wurden, bis sie eine
mäßige Entfernung voneinan-
ein sozialer Auffahrunfall? und Macht. Die bürgerliche der herausgefunden hatten, in
Leicht ist das nicht: Zu viel Revolution von 1848 war eben der sie es am besten aushalten
Distanz gilt als steif, zu viel erst und mehr schlecht als konnten.“ Auf der einen Seite
Nähe als übergriffig. Das ist recht von den alten Macht- möchte man nicht allein sein,
das alte Lied vom Gegensatz habern in ihre Schranken ver- treibt „das Bedürfnis der Ge-
von Individuum und Gemein- wiesen worden – unter großen sellschaft (…) die Menschen
schaft. Konzessionen an die aufstre- zueinander“, andererseits wür-
bende Klasse. Die meisten den aber deren „widerwärtige
2. Stachelschweine Menschen beklagten den Ver- Eigenschaften“ und „unerträg-
lust alter Gewissheiten und die lichen Fehler“ sie wieder von-
Das Verhältnis von Nähe und Unwägbarkeiten der Zukunft. einander abstoßen.
Distanz wird immer dann neu Mal war ihnen die alte Gesell- So sei es schon immer
justiert, wenn sich Kulturen schaft zuwider, mal vermissten gewesen, so Schopenhauers
grundlegend verändern. Das ist sie diese. Einsicht, und das Ziel aller
heute ebenso der Fall wie zu Die Menschen, so die Bemühungen der Stachel-
Beginn der Industrialisierung in Schlussfolgerung Schopenhau- schweine sei es letztlich, die
Deutschland im 19. Jahrhun- ers, verhielten sich einerseits richtige „mittlere Entfernung“

48 brand eins 12/18


herauszufinden, bei der ein Manieren. Manieren sind kein Kreise untereinander. Das Ze-
„Beisammensein bestehen Schnickschnack. Manieren remoniell war pure Disziplin
kann“. Das Mittel zu diesem sind die harte Währung allen und Inszenierung, aber kein
Zweck, die ideale Distanz, Sozialverhaltens, die Art und Selbstzweck, denn es diente
nennt Schopenhauer „Höflich- Weise, wie wir den Umgang dem Machterhalt und der kla-
keit und feine Sitte“, heute miteinander regeln. Zu den ren Hierarchie. Wer sich nicht
würden wir wahrscheinlich Manieren gehört immer auch daran hielt, war draußen. Die
beides schlicht Anstand und die Etikette, ein altmodisches Welt war nie allein in Arme
Respekt nennen. Wort, das aber seinen Sinn und Reiche unterteilt, sondern
Derlei fällt in den Zustän- nicht verloren hat. Sie ist so- vor allen Dingen in Angepass-
digkeitsbereich der Kultur. Sie zusagen der Ablaufplan der te und Außenseiter, Mächtige
müsse, so Schopenhauer, laut Manieren und des Respektes, und Ohnmächtige.
und vernehmlich Keep Your das jeweils richtige Sozialver- Deshalb führte das aufstre-
Distance rufen, wenn jemand
die Grenzen überschreitet und
halten, das auf geschriebenen
und ungeschriebenen Normen Manieren bende Bürgertum auch einen
Kulturkampf gegen diese alte
uns zu nah kommt – und und Regeln baut. Es ist die Etikette, „alte Zöpfe“ mussten
gleichsam warne sie uns auch
davor, von der Straße abzu-
Gesamtheit dessen, wie wir
miteinander am besten umge-
sind kein abgeschnitten werden. Die
neue Welt der Bürger ver-
kommen und, fernab vom hen, ohne uns zu piksen oder sprach ein weniger steifes und
Pfad, die Orientierung zu ver-
lieren. Es ist ein Kompromiss,
vor Einsamkeit zu frieren – das
richtige Maß also. Das, was
Schnick- nach Konventionen ausgerich-
tetes Leben. Das war im 18.

schnack
niemand wird gestochen und heute so fehlt. und 19. Jahrhundert ein großes
sticht den anderen, aber auch In Schopenhauers Zeiten Versprechen, denn der Einzel-
das Bedürfnis „gegenseitiger waren die Manieren, also die ne lebte eingeengt, im Korsett
Erwärmung“ kann dabei „nur Art und Weise des Umgangs der Konventionen. Freiheit
unvollkommen befriedigt wer- miteinander, gerade einem tief war, wenn es mal ein klein
den“, wie der Meister weiß. greifenden Wandel unterzo- wenig lockerer zuging. Bürger-
Das klingt unspektakulär – gen. Unter dem Einfluss des lich war mal, wenn man nicht
ist also für Zeiten wie diese erfolgreichen Bürgertums lo- steif in der Gegend herumste-
genau das Richtige. Schopen- ckerte sich die steife Etikette hen musste.
hauers Stachelschweine sind des Adels, der streng nach Doch der Bruch mit der
unser ewiges Vorbild, sie füh- Zeremoniell lebte und bei dem Etikette, den das Bürgertum
ren zum Konzept der offenen jedes Wort und jede Geste versprach, war nicht von allzu
Gesellschaft und der Organisa- nach klaren Regeln ablief, in langer Dauer. Tatsächlich pass-
tion der Vielfalt, in der bürger- unveränderlichen Ritualen. ten sie die alten Regeln nur an
liche Privatsphäre ebenso ihren Man konnte kaum unterschei- die neuen, an ihre Verhältnisse,
Platz hat wie Engagement fürs den, ob man bei Königs zum an. Wer da nicht mitmachte,
Ganze. Nähe und Distanz ge- Tee war oder gerade in einem wurde aus den bürgerlichen Sa-
hören zusammen, zusammen Gottesdienst. Hier wie dort lons ebenso ausgeschlossen wie
ergeben sie ein Kraftfeld, das lief alles wie auf Schienen ab. zuvor Abweichler am Hof.
sich ständig verändert und un- Abweichungen waren grobe Distanz zueinander Wer der neuen Macht
serer Aufmerksamkeit bedarf. Entgleisungen. ist wichtig. Das verhindert nahestand, teilte unweigerlich
persönliche und
Der schrillste Vertreter die- deren Vorlieben und Gewohn-
geschäftliche Auffahrunfälle.
3. Etikette ser Etikette war das im 15. Wir sind nicht alle heiten, ihren Geschmack, ih-
Jahrhundert im steinreichen Kumpel. Und wir sollen es ren Habitus, wie die renom-
Aber selbst wenn wir acht- Burgund entwickelte „Spani- auch gar nicht sein. mierten Sozialforscher Norbert
geben: Es gibt immer welche, sche Hofzeremoniell“, das den Elias und Pierre Bourdieu es
die es nicht tun. Umgang zwischen Fürsten nannten. Der Habitus ist
Es ist wie beim Verkehrs- und adeligem Hofstaat bis ins mächtiger, als es der Knigge
rowdy, der die Spur ganz für kleinste Detail bestimmte. Für je sein konnte. Er entscheidet
sich allein will oder zu dicht Jahrhunderte war es das Ideal über Karriere oder Versagen,
auffährt: Es fehlt ihm an für den Umgang der besseren Nähe und Ferne zur Macht. >

brand eins 12/18 49


Wer den Habitus nicht be-
herrscht, lebt in einer Art von
Mir ist es zu eng hier.
dass die Menschen vor dem in vielen Unternehmen Liebes-
totem Winkel des Gemeinwe- Gesetz gleich sind – und beziehungen zwischen Mitar-
sens, weil er nicht weiß, was Macht allen Interessengruppen beitern verpönt sind und enge
sich gehört. von gleicher Distanz aus ge- Freundschaften als Seilschaften
Derlei lernt man nicht in genüberstehen soll. Nicht nur verstanden werden, ist ja nicht
der Tanzschule oder im Semi- der Staat und das Recht, auch das Vorhandensein menschli-
nar: Der Habitus ist nirgend- Unternehmer und Manager cher Wärme und Gefühle, son-
wo fasslich, er besteht, wie es waren offiziell stets dieser For- dern die gleichzeitig ziemlich
Pierre Bourdieu in seinem mel verpflichtet: Es herrscht wahrscheinliche Abwesenheit
gleichnamigen Hauptwerk gleicher Abstand zu allen. Das nüchterner Distanz, jener Sach-
nannte, aus den „feinen Unter- gilt auch für Ideologien, Par- lichkeit, die es braucht, wenn
schieden“. Er legt fest, was den teien, Interessengruppen. Das es ums Ganze geht.
Stachelschweinen nah genug ist das Prinzip der Äquidistanz, Darum kennt der Volks-
ist und was ihnen eindeutig zu das Stachelschweinmaß aller mund die gute Regel „Strenge
weit geht. Das geht aber noch Dinge. Es ist der Inbegriff einer Rechnung, gute Freunde“.
weiter: Jede Gruppe und jede ausgleichenden, vernünftigen Geschäft ist Geschäft, und
Organisation verfeinert die fei- Grundhaltung. Schnaps ist Schnaps. Das lässt
nen Unterschiede noch ein- In Zeiten der Polarisierung sich nur machen, wenn völlig
mal. Man kann das mit dem steht sie unter Generalver- klar ist, dass im Alltag Nüch-
vagen Begriff der Unterneh- dacht: Der Äquidistanz fehle es ternheit herrscht und Leistung
menskultur beschreiben, die ja an Haltung, heißt es, das sei nicht weniger wert ist als Sym-
auch nicht aus aufgeschriebe- ihre Schwäche. Das ist schon pathie und Vorlieben, Habitus
nen Regeln und Selbstdarstel- mal falsch, denn die Fähigkeit und Kumpelei. Das klappt nur,
lungen besteht, sondern aus zur Distanz gegenüber allen ist wo es fair zugeht. Das ist viel
vielen ungeschriebenen Geset- ihre größte Stärke. Der gleiche Arbeit. Man muss sich zusam-
zen, nach denen man sich rich- Abstand entzieht der Moral, die menreißen. Und das liegt nicht
tet. Wer die richtige Einstellung nur zwischen Gut und Böse und jedem.
hat, der weiß, wie es hier läuft. vermeintlich Richtig und Falsch Nun ist jede Transforma-
Der Rest passt irgendwie nicht unterscheidet – und dabei oft tion immer auch ein bisschen
zu uns. nur den eigenen Standpunkt Kulturkampf, also die Ausein-
So einfach und so undurch-
schaubar ist das mit der Nähe
und der Ferne.
überhöht – den Boden.
Äquidistanz, der gleiche
Abstand, macht sich weder
K o m m andersetzung unter Rechtha-
bern und Besserwissern. Dabei
geht es nicht um Mitte, Objek-

4. Äquidistanz
mit dem einen noch mit dem
anderen gemein und nimmt
auf diese Weise den Extremen
d o c h tivität und sinnvollen Kompro-
miss, also das, was machbar
ist. Es geht darum, die Mitte
Alle Stachelschweine streben
danach, so gut wie möglich
miteinander auszukommen,
ihre Kraft. Sympathie, Abnei-
gung, Liebe, Hass – sie sind
miserable Kriterien für objek-
näher! möglichst weit zur eigenen
Position hin zu verschieben.
Kein Extremist behauptet von
ohne sich selbst zu verleugnen. tive Entscheidungen, die jedes sich, Extremist zu sein. Jede
Sie versuchen, das Beste da- Unternehmen, jede Gemein- extreme Position hält sich für
raus zu machen. Aus dieser schaft braucht. Mit Abstand normal und richtig. Die Ver-
Idee hat sich in der demokra- fährt es sich am besten. rückten sind immer die ande-
tischen, bürgerlichen Gesell- Natürlich kämpft die ren. In Transformationszeiten
Äquidistanz ist für das
schaft das Prinzip entwickelt, menschliche Natur dagegen Funktionieren des ist aber alles (und alle) ein
an, denn seine eigene Distanz- Gemeinwesens elementar. wenig ver-rückt. Die Stachel-
losigkeit vermag das Stachel- schweine suchen eine neue
schwein nicht so ohne Weite- Position. Nähe und Distanz –
res zu erkennen. Es ist der die richtige Mitte – wird ge-

Absta nd alte Streit von Vernunft und


Gefühl. Der Grund, weshalb
sucht. Das sind harte Zeiten
für den Respekt. >

b i t t e! brand eins 12/18


5. Distanzlos Spießer und Klassenfeinde aus
dem Konzept zu bringen. Wer
Aber ebenso wichtig als
Verbündete waren die Medi-
„Ich bin
Die Nähe ist launisch. Sie kann
Zuneigung bedeuten und ihr
Gegenteil: Respektlosigkeit
Manieren hatte, gehörte zum
Establishment, und das „osten-
tative Duzen ist Teil einer
en – Magazine wie »Stern«,
»Quick«, »Spiegel«, die »Bild«-
Zeitung und bald auch das
d e i n
und Arroganz. Noch vor ein
paar Jahren duzten viele Chefs
Großoffensive gewesen, mit
der die bürgerliche Gesell-
Fernsehen, das mit Duzen,
Distanzlosigkeit und zuweilen Kollege.
ihre Mitarbeiter ganz selbst- schaft mit all ihren als anti- provozierender Nacktheit ei-
verständlich. Die wiederum
sagten zu ihrem Vorgesetzten
quiert angesehenen Verkehrs-
formen in die Knie gezwungen
nerseits mit „der „moralischen
Verkommenheit der Studen-
Nicht
natürlich „Sie“. Sekretärinnen werden sollte“, sagt der deut- tenbewegung schockte“, wie
wurden „Fräulein“ oder ein-
fach beim Vornamen gerufen,
sche Politikwissenschaftler
Wolfgang Kraushaar, dessen
Kraushaar sagt, andererseits
den Voyeurismus des Publi-
d e i n
Freund.“
Auszubildende hießen in der aktuelles Buch „Die blinden kums bediente.
Regel „He, du da!“. Das war Flecken der 68er-Bewegung“ Wer nackt ist, ist ganz nah
der ganz normale Ober-Ton, vieles über die Kultur von und gibt seine Privatsphäre
der denen unten zeigte, wo Nähe und Distanz vermittelt. preis. Das geht auch in voller
sie hingehörten. Das war nicht Mit der berühmten Chiffre Montur, wie sich bald zeigen nicht selbst bestimmen kann?
böse, es war jovial. „68“, sagt Kraushaar, sei ja sollte, nämlich dort, wo zu- Kann man Zwang mit Zwang
Jovial leitet sich vom Göt- vor allen Dingen „eine grund- nehmend mehr Leute öffent- bekämpfen?
tervater Jupiter ab, lateinisch legende Umwälzung“ gemeint, lich über ihre „intimsten Ge- Dass der bei aller Distanz-
Iovialis. Götter siezen andere bei der „alles auf Direktheit, heimnisse“ sprachen und ihr losigkeit nicht abwesend ist,
nicht. Sie sind allmächtig. Und Spontaneität und unmittelba- Innerstes nach außen kehrten. zeigt sich auch dort, wo es
wenn sie sich herablassen, re Kommunikation“ gemünzt Die neue Distanzlosigkeit scheinbar ganz harmlos zugeht,
mit ihren Untergebenen zu wurde. Distanz? Geht gar nicht: verfügte über einen perfiden in der neuen Kumpelökonomie
sprechen, dann sind sie, was „Das Private war nun politisch Mechanismus: Wer sich gegen der Start-ups, die als kulturelles
anderes haben sie nicht nötig, und das Politische privat. Das sie wehrte, „outete“ sich damit Leitbild auch für etablierte Or-
freundlich, herablassend, dis- bedeutete eine möglichst gren- automatisch als Teil des Estab- ganisationen in der Wirtschaft
tanzlos – jovial eben. Die zenlose Öffnung in alle Sphä- lishments, das mit der Forde- und Gesellschaft gilt.
scheinbare Nähe ist Distanz- ren hinein – bis in die Intim- rung nach mehr Distanz und
losigkeit, ein Mittel, um zu sphäre. Es wurde keinerlei Manieren bloß seine Privile- 6. Die Bussi-Bussi-
zeigen, wer das Sagen hat. Das Distanz mehr geduldet“, fasst gien und Macht verteidigen Ökonomie
Sie hingegen lässt dem Men- Kraushaar zusammen. wollte. Diesen Mechanismus
schen ein wenig Luft, ein biss- Das begann Mitte der Sech- kann man heute wieder in den Wer erfolgreich ist, kommt den
chen Abstand, den Raum, den zigerjahre an Universitäten, an Shitstorms und Dauererregun- anderen nahe. Oder tut so.
man für seine Würde braucht. denen sich die Studenten un- gen in den sozialen Medien er- Und das ist, sagt Jens Kapitz-
Auch hier ist das Sie und das tereinander noch siezten, wie kennen. Das ist die alte Logik ky, gar nicht gut, sondern das
Du eine Machtfrage. Kraushaar erklärt. Die be- der Inquisition: Man kann ge- Gegenteil davon.
Wer es auf Habitus und rühmte Kommune I in Berlin, stehen und widerrufen. Aber Nun ist es ja nicht so, dass
Autorität abgesehen hat, der gegründet zur Jahreswende wer sich unschuldig wähnt der Mann, im Hauptberuf Be-
nimmt zuerst die Sprache ins 1966/67, galt als „Pressure und sich verteidigt, zieht die rater bei Metaplan, kein Herz
Visier. Genau das machte die Group für das Über-den- Schlinge um seinen Kopf nur für echte Kumpel hätte. Er hat
später als Achtundsechziger Haufen-Werfen möglichst aller enger. Distanzlosigkeit heißt: im Ruhrgebiet studiert, Kom-
bekannt gewordene Jugend- Konventionen.“ Der politisch keine Bewegung. munikationswissenschaften.
bewegung in den Sechziger- einflussreiche Sozialistische Dies alles, zur Erinnerung, Da habe er das echte Du ken-
jahren. Ihr Feind war die Deutsche Studentenbund hol- geschah und geschieht nicht nengelernt, das Kohlekumpel
Etikette der spröden Nach- te sich dort immer wieder aus böser Absicht. Die Dis- und Stahlarbeiter sprechen,
kriegszeit. Distanzlosigkeit war Anregungen, seit Rudi Dutsch- tanzlosigkeit wollte 1968 wie ohne Attitüde, und die damit
ein hervorragendes Mittel, um kes antiautoritäre Gruppe dort heute die Autorität bekämp- „zeigen, dass man zu einer
1965 das Ruder übernommen fen, um das Selbst zu befreien. Gemeinschaft gehört, die auf-

Fräulein! hatte. Doch wo landet die Person,


wenn sie Nähe und Distanz
einander angewiesen ist – wo
es echte Solidarität gibt >

52 brand eins 12/18


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siemens.com/smc
und nichts von diesem aufge- macht jeder alles – viele Kom- fach akzeptieren, dass es Inte-
setzten Start-up-Duzen, das petenzen sind unklar, und die ressen gibt, und damit „Rei-
man heute so häufig findet“. Arbeitsteiligkeit ist nicht hoch bung zwischen den Menschen
Hinter dieser scheinbar entwickelt“, sagt Jens Kapitz- und Abteilungen, das ist so
vertrauten Anrede steckt nichts ky. Große oder ältere Unter- sicher wie dass morgen die
Verbindliches. Hinter dem Du nehmen hätten das „meist hin- Sonne aufgeht“. In der Praxis
gähnt das Nichts. „Und das ter sich. Sie sind in weiten heißt das: Harmonie verblö-
ist der Punkt: die Bedeutung, Teilen klar geregelt, was man det. Der Streit ist normal und
die wir dem zumessen.“ Was sowohl als Orientierungshilfe nichts Schlechtes. Die Sucht
steckt eigentlich hinter der als auch als Einengung verste- nach Nähe ist nur ein Versuch,
vorgeschobenen Nähe? Wie hen kann.“ Manche Manager sich der Mühe zu entziehen,
viel Distanz ist da? sehnten sich dann nach früher „Interessen immer wieder ver-
Kapitzky zerlegt nach dem zurück und glaubten, durch handeln zu müssen“, so Jens
Metaplan-Modell jede Organi- das Kumpeln und das Orien- Kapitzky.
sation zunächst in drei Ebenen. tieren an Start-ups käme so et- Wer glaubt, dass sich Inte-
Erstens „die Schauseite, also was wie eine kreative Stim- ressenkonflikte wegduzen las-
das, was man nach außen hin mung auf. Das aber sei „einfach sen, ist auf dem Holzweg. „Die

I nter-
sein möchte. Da steht dann eine Illusion“. Konflikte gibt es ja auch, wenn
drüber, wie toll man ist, wie Darum wirkt es auch so man sie nicht aussprechen darf
engagiert, wie transparent und merkwürdig, wenn das Füh- – sie werden nur härter und

essen- innovativ und kundenorien-


tiert“, kurz, so der erfahrene
Berater, „der ganze Zirkus, von
rungspersonal von Konzernen
einen auf Start-up-Kultur
macht: aufgesetzt halt – so, als
hinterhältiger ausgetragen. Wer
keine klaren Regeln macht,
sorgt dafür, dass es schmutzig

konf likte dem die Mitarbeiter drinnen


wissen, dass man davon nicht
unbedingt viel halten muss“.
sänge ein Rudel älterer Leute
mit brüchiger Stimme „For-
ever Young“. Das klingt, wie
wird“, sagt Kapitzky. Falsche
Nähe sorge für Ärger und end-
lose Machtkämpfe – das lasse

lassen Dann gibt es die zweite Ebene:


„Die ist die der internen Re-
geln, Strategien, Ablaufpläne,
es aussieht: komisch.

7. Echte Nähe
sich in den Start-ups auch
ständig beobachten. Man strei-
tet sich und scheitert, ohne

sich nicht alles, was man für den Betrieb


braucht und was sich klar und Warum ist das so? Weil solche
was gelernt zu haben. Zu viel
Nähe sorge für menschliche
eindeutig formulieren lässt.“ Leute, ganz gleich, wo sie in Enttäuschungen.

wegduzen Aber der Bereich, in dem


„wirklich die Musik spielt, das
der Hierarchie stehen, „orga-
nisationsblind sind,“ sagt Ka-
Was hilft? Kapitzky hat ei-
nen einfachen, aber wohl wirk-
wahre Leben ist, ist das, was pitzky. „Sie kennen das Koor- samen Rat: „Es geht um das
wir Informalität nennen“. dinatensystem ihrer eigenen ehrliche Verstehen und Akzep-
Diese Informalität ist ganz Firma nicht, und deshalb kön- tieren, wie Menschen ticken.
nah und ganz laut, aber man nen sie zwischen echter Nähe Wir können und müssen nicht
kann sie nicht fassen. Neue und nötiger Distanz nicht un- alle Freunde sein. Aber es wäre
Mitarbeiter lernen sie erst, terscheiden.“ Der Erfolg und schön, wenn wir unsere Inte-
wenn ihnen die alten wohlge- das Erwachsenwerden von ressen klarlegen könnten.“
sonnen sind. Dann sagen sie menschlichen Organisationen Nähe heißt, Menschen so
Sätze wie: „Ich sag’ dir mal, hat mit dem Verstehen zu tun, sein zu lassen, wie sie sind. Sie
wie es hier wirklich läuft.“ Ab dass es nicht nötig ist, dass wir nicht erziehen und belehren
hier herrscht Nähe, das Du. uns alle lieb haben, uns nahe- und ihnen nicht mehr auf die
Informalität ist die Realität in stehen. Pelle rücken, als es gut sein
nächster Nähe. Weißte Be- Die Firma und die Gesell- kann. Das liegt nicht im Zeit-
scheid? schaft ist keine Familie. Sie ist geist, aber in unserem Wesen.
Start-up-Kulturen als Das Ausmaß der Informali- dann erfolgreich, wenn jeder Gerade fahren, Spur halten,
Vorbild für
tät ist meistens eine Frage der das tut, was er am besten immer ein wenig Abstand.
etablierte Organisationen –
das ist verrückt. Größe und der Entwicklung kann. Dazu müsse man sich So kommt man am besten
Eine Illusion. eines Unternehmens. „Dort nicht nahestehen, sondern ein- voran. –

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• Vor einigen Jahren bekam ich eine

Siezen
dafür vier Gründe an: Zum einen gehe es
E-Mail von einem Mitarbeiter meiner im Marketing mittlerweile vorrangig da-
Bank. Er hatte mir wenige Tage zuvor am rum, eine Beziehung zum Kunden aufzu-

Sie noch,
Telefon einen Basisrentenvertrag verkau- bauen und ihn langfristig an eine Marke
fen wollen und ich dummerweise nicht zu binden. Zum anderen beeinflusse die
gleich deutlich genug abgelehnt. Nun Sprache in den sozialen Netzwerken den

oder
meldete er sich wieder, pries die Steuer- Umgang mit dem Konsumenten auch auf
vorteile – und schloss seine Nachricht mit anderen Kanälen. „Auf Facebook und In-
einem „Freundschaftlich“. Wie bitte? Ich stagram ist Duzen die Regel“, sagt Baetz-

duzt du
hatte den Mann noch nie getroffen oder gen. „Das übernehmen viele Firmen dann
gesprochen. Wir hatten noch nicht mal zum Beispiel auch auf ihrer Website.“
eine Brieffreundschaft. Trotzdem schmiss Außerdem ermöglichten elektronische

schon?
er sich an mich ran, als ob wir beste Kum- Kommunikation und Datenerfassung heu-
pel wären. Da wurde mir klar: Es war te eine stärkere Personalisierung. „Früher
Zeit, die Bank zu wechseln. wusste man wenig über seine Kundschaft,
Kurz zuvor, im Frühsommer 2009, und man konnte lediglich eine Anzeige in
hatte Apple begonnen, seine Kunden- der Zeitung aufgeben oder eine Post-
ansprache radikal zu ändern. Hatte die wurfsendung verschicken. Da war die
Immer mehr Firmen
Firma mich bislang gesiezt, wurde ich Sie-Anrede als Zeichen der Distanz folge-
entscheiden sich für Letzteres –
nun geduzt – erst auf der Website, später richtig. Heute haben die Firmen oft ein
ohne an die Risiken und auch in E-Mails und von den Verkäufern sehr detailliertes Bild von jedem einzel-
Nebenwirkungen zu denken. in den firmeneigenen Läden. Paradoxer- nen Kunden mit seinen Vorlieben und
weise fühlte ich mich dadurch plötzlich Abneigungen. Deshalb können sie ihn
alt. Mit 20 war es mir noch unangenehm viel persönlicher ansprechen.“ Und nicht
Text: Torben Müller
gewesen, mit Sie angesprochen zu wer- zuletzt spiele nach Ansicht des Forschers
Illustration: Max Kersting
den. Jetzt, mit Ende 30, wollte ich nicht auch der allgemeine gesellschaftliche
mehr einfach so geduzt werden. Privat Wandel eine Rolle. „Ich habe als kleiner
und unter Kollegen hatte ich damit keine Junge meine Nachbarn und Kindergärt-
Probleme. Doch im Geschäftsleben er- nerinnen gesiezt. Das hatte ich so ge-
schien es mir übergriffig und unseriös – lernt“, sagt Baetzgen. „Meine fünfjährige
und bei dem Gedanken kam ich mir vor Tochter kennt die Sie-Form dagegen noch
wie ein alter Spießer. Danke, Apple! gar nicht, weil die Gesellschaft es von ihr
Andere Unternehmen drückten mir nicht verlangt.“
ebenfalls ungefragt das Du auf: Ikea so- „Wir leben in einer Duz-Welt“, sagt
wieso, aber auch Sportscheck oder die auch der Soziologe Ronny Jahn von der
Carsharing-Anbieter Car2go und Drive International Psychoanalytic University
Now. Mittlerweile scheint es mir, als sei in Berlin. „Allgemein ist eine Tendenz zur
die Wirtschaft generell an die Konsumen- Entgrenzung festzustellen. Privates und
ten auf unangenehme Weise herange- Geschäftliches vermischen sich zuneh-
rückt. Waren Firmen früher auf höfliche mend.“ Und so versuchen die Firmen,
Distanz gegenüber ihren Kunden bedacht, sich in unser Leben zu schleichen. Da
geben sie sich heute als Freunde aus – und sollen Kunden im Internet von ihrem
das nicht nur bei Facebook. schönsten Erlebnis mit einem Produkt
„Die Kundenansprache hat sich seit erzählen oder sich damit auf Bildern prä-
Mitte der Neunzigerjahre in einem schlei- sentieren. Und indem die Konzerne uns
chenden Prozess grundlegend verändert. dabei vertraulich anreden, rühren sie an
Firmen suchen zunehmend die Nähe“, tief sitzende Instinkte.
sagt Andreas Baetzgen, Professor für Stra- „Das Du schafft das Gefühl von Nähe,
tegische Kommunikation an der Hoch- Vertrauen und Zugehörigkeit“, sagt Claas
schule der Medien in Stuttgart. Er führt Christian Germelmann, Professor für >

brand eins 12/18 57


Marketing und Konsumentenverhalten an Schlange stand, hartnäckig mit Du an- Arzt oder Rechtsanwalt undenkbar. Zu-
der Universität Bayreuth. „Es suggeriert, sprach. Der Frau war das offensichtlich dem lasse die distanziertere Variante dem
dass man zu einer gemeinsamen Familie, unangenehm, doch die Mitarbeiterin ig- Konsumenten eine Rückzugsmöglichkeit.
einem Stamm oder einem Dorf gehört.“ norierte das und duzte sie munter weiter. „Über das Du nimmt mich der Anbieter
Das ist offenbar auch Apples Strategie. „Das sollte nicht passieren“, sagt Nold. sozusagen fest in seinen Stamm auf. Siezt
Früher, als das Unternehmen seine Nut- „Wir verwenden das Du eigentlich nur in er mich, kann ich dagegen jederzeit aus
zer noch siezte, fühlten sich diese ohne- der Massenkommunikation, also in der der Höhle verschwinden, wenn ich das
hin miteinander verbunden im Wider- Werbung, auf der Website oder im Kata- Mammut gegessen oder den geliehenen
stand gegen das scheinbar übermächtige log. Im direkten Kontakt siezen wir die Faustkeil zurückgebracht habe.“
Microsoft. „Heute stimmt das einstige Kunden dagegen grundsätzlich, weil es in „Das Sie schafft professionelle Dis-
Markenimage nicht mehr“, sagt Germel- Deutschland immer noch so üblich ist. tanz, ohne Vertrauen zu mindern“, sagt
mann. „Viele Menschen haben ein iPhone Und daran halten wir uns.“ auch der Soziologe Ronny Jahn. „Wenn
oder iPad, über den Besitz allein kann Der Autovermieter Car2go geht da wir uns beim Arzt ausziehen, ermöglicht
man sich nicht mehr abgrenzen. Deshalb deutlich weiter. „Hallo Torben, super, es uns erst, unsere Nacktheit vor dem
versucht das Unternehmen, über die An- dass du dich für Car2go entschieden hast. Fremden zu verorten und damit zu ertra-
rede ein Gefühl von Familie zu erzeugen.“ Anbei erhältst du deine aktuelle Rech- gen.“ Zudem zeige es dem Gegenüber
Die Frage sei jedoch, ob man es sich als nung“, flötet es mir da in den E-Mails Anerkennung in seiner Rolle: als zahlen-
Firma leisten kann, mit extrem teuren entgegen. Man ziele auf eine urbane, kos- der Kunde, der so die Existenz eines Be-
Produkten Familienmitglieder auszuneh- mopolitische Gruppe, die sich gern als triebs sichert.
men. Germelmann: „Die Gefahr besteht, Teil von etwas Größerem sieht, sagt der Wie kommt das Duzen bei der Mehr-
dass die Kunden irgendwann sagen: ‚Du Marketing-Chef Raphael Stange. „Durch heit der Konsumenten an? „Wir haben
duzt mich, aber ziehst mir den letzten die gemeinsame Nutzung der Autos ent- gute Erfahrungen gemacht“, sagt der
Cent aus der Tasche – das mache ich steht neben der traditionellen Beziehung Car2go-Marketingmann Raphael Stange.
nicht mehr mit.‘“ zwischen Kunde und Unternehmen auch Man überprüfe die Resonanz im Rahmen
eine Beziehung der Nutzer untereinander. der Marktforschung. Konkrete Zahlen
Der Kunde ist jetzt „Member“ Das Duzen soll das Gemeinsame unter- nennt er jedoch nicht. Ikea hat sich laut
streichen.“ Deshalb nenne man die Kun- der Firmensprecherin Nold bei der deut-
Apple äußert sich dazu nicht. Über Unter- den auch Member. schen Kundschaft umgehört – allerdings
nehmensstrategien werde nicht öffentlich Mag sein, dass manche Nutzer so vor der Umstellung aufs Du. „Danach gab
gesprochen, heißt es. Ikea erklärt seine denken. Ich sehe die Sache dagegen nüch- es einige negative Reaktionen“, sagt sie.
Du-Strategie dagegen ganz offen mit sei- tern als Geschäft und begreife mich im- „In diesen Fällen haben wir uns entschul-
ner Herkunft. „Wir stammen aus Schwe- mer noch als Kunde. Schließlich teile ich digt u nd den Hintergrund erklärt. Jetzt
den, und dort ist es gängig, sich praktisch mir kein Auto mit Freunden auf Selbst- habe ich schon lange keine Beschwerden
überall zu duzen“, sagt Sabine Nold, Lei- kostenbasis, sondern miete einen Wagen, mehr bekommen.“
terin der Unternehmenskommunikation wenn ich ihn brauche, und bezahle eine Nach Erfahrung der Wissenschaftler
in Deutschland. 2004 habe das Möbel- Firma dafür. Und wie schnell die angeb- Baetzgen und Germelmann, die auch Fir-
haus die Anrede auch hier eingeführt – liche Freundschaft bei Car2go aufhört, men beraten, ist die Frage der Anrede
allerdings erst nach langen Überlegungen, erlebte ich im vorigen Jahr, als ich wegen den Unternehmen zwar wichtig, in der
ob man sich so viel Vertrautheit heraus- eines Blechschadens dort anrief. „Car2go, Marktforschung werde allerdings prak-
nehmen dürfe. „Doch als wir bemerkt mein Name ist XY, was kann ich für tisch nie kontrolliert, ob die Kunden sie
haben, dass selbst die Niederlassungen Sie tun“, sagte die Dame mit klassischer angemessen finden. „In den Projekten,
in Österreich, wo man ja besonders viel Distanz. Auf einmal war ich nicht mehr an denen ich mitgearbeitet habe, war das
Wert auf Titel und Etikette legt, bereits Member, sondern wieder Kunde. kein Thema“, sagt Germelmann. Auch
im Jahr zuvor umgestellt hatten, haben Duzen mag modern sein, doch die fehle wissenschaftliche Evidenz. Baetzgen:
wir es uns erst recht getraut.“ klassische Form hat nach Ansicht der „Empirisch gesicherte Zahlen wären
Mitunter übertreiben es die Mitarbei- Forscher durchaus noch ihre Berechti- wünschenswert. Da sich die Frage aber
ter allerdings mit der skandinavischen gung. „Das Sie signalisiert durch die vor allem im deutschsprachigen Raum
Kumpeligkeit, wie die Kassiererin in einer Distanz Kompetenz und Seriosität“, sagt stellt, kann man damit als Forscher inter-
Hamburger Filiale, die eine mehr als Claas Christian Germelmann. Allein des- national nicht punkten. Und so gibt es
70 Jahre alte Frau, die vor mir in der halb sei Duzen beispielsweise für einen bislang keine entsprechenden Studien.“

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Bleibt zu klären, welchen Grad der Ver-
traulichkeit Unternehmen nach Ansicht
der Wissenschaftler ihren Kunden zumu-
ten sollten. „Das kommt auf die Branche,
die Marke und die Situation an“, sagt
Germelmann. „Wenn zum Beispiel ein
junges Modeunternehmen junge Leute
ansprechen will, finde ich das Du in Ord-
nung. Und wenn man bei einer älteren
Zielgruppe ein Gefühl der Jugendlich-
keit erzeugen will, zum Beispiel bei
Sportartikeln, kann das auch stimmig
sein.“ Katastrophal sei es aus Marketing-
sicht jedoch, wenn die Strategie nicht au-
thentisch wirkt und als Masche entlarvt
wird. Germelmann: „Wir kennen das aus
der Forschung über das falsche Lächeln.
Sobald man diese vorgespielte Freund-
lichkeit erkennt, wird aus Vertrauen
Misstrauen. Der Kunde fragt sich, ‚War-
um machen die das?‘, fühlt sich womög-
lich betrogen und wendet sich ab.“
Andreas Baetzgen rät zur individuel-
len Entscheidung. „Es spricht nichts da-
gegen, wenn zum Beispiel eine Drogerie-
kette junge Mädchen duzt, denen sie auf
ihrer Website Schminktipps gibt, und El-
tern siezt, denen sie Feuchttücher verkau-
fen möchte.“ Ebenso könne man nach
Kanälen unterscheiden: Komme eine Re-
klamation über Facebook, biete sich das
Du an, rufe der Kunde dagegen an, wird
er gesiezt.
Claas Christian Germelmann emp-
fiehlt, die Konsumenten routinemäßig zu
fragen, wie sie angesprochen werden wol-
len, die Antwort in der Kundendaten-
bank zu speichern und sie anschließend
auf der Website, in Rundmails oder am
Kleiner Test: Sie oder Du? Telefon individuell zu berücksichtigen.
Die Digital-Marketing-Agentur Webrepublic in Zürich hat einen Google-Anzeigen-Test
„Das sollte im Zeitalter der Personalisie-
gemacht. Beworben wurde unsere neue edition brand eins – einmal mit der Ansprache in der rung kein Problem mehr sein“, sagt er.
Sie-Form, einmal mit dem Du. Das Ergebnis: „Sie“ erreichte bei 3324 Seiten aufrufen Das klingt für mich nach einer ver-
68 Klicks und somit eine Klickrate von 2,05 Prozent. Das „Du“ brachte bei 4113 Seitenaufrufen nünftigen, pragmatischen Lösung, die
66 Klicks. Das ergibt eine Klickrate von 1,6 Prozent. Der Erfolg der Sie-Anzeige lag somit
um 28 Prozent höher als bei der Du-Ansprache. alle zufriedenstellen dürfte. Also, liebe
Marketing-Leute bei Apple, Sportscheck,
„Welche Variante besser ist, kann sich je nach Thema, Marke und Nische unterscheiden. Car2go und anderswo, falls ihr das hier
Bei den Themen Neue Arbeit, Digitalisierung und Zukunft von Unternehmen spricht die
lest, vermerkt doch bitte: Ich möchte
Sie-Version die Zielgruppe passender an“, sagt Tobias Zehnder, Mitbegründer von
Webrepublic. „Der Test zeigt auch, dass sprachliche Finesse selbst in Google Ads wirksam euch gern das Sie anbieten. Schlagt ihr
und bedeutsam ist.“ ein? –

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Man wird ja Small Talk braucht man in Israel nicht.
Auch unter Fremden geht es direkt

wohl noch fragen ans Eingemachte.

dürfen Text: Mareike Enghusen


Illustration: Silke Weißbach

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• Als Journalistin steht die Arbeitsteilung Geraten zwei Fremde aneinander, kann tech-Branche: In israelischen Firmen wird
bei einem Interview eigentlich fest: Ich fra- es rasch laut werden, ohne dass dies Kon- ohne Rücksicht auf Rangordnung disku-
ge, mein Gegenüber antwortet. In Israel sequenzen nach sich zöge: Man schreit tiert, der Schülerpraktikant darf, ja, soll
jedoch werden die Rollen oft vertauscht: sich einander ein paar deftige Beleidigun- der Chefin widersprechen, wenn er glaubt,
Bevor ich mein Aufnahmegerät anschalte, gen zu, die oft mit der Mutter des Kontra- die bessere Idee zu haben. Der Vorteil der
fragen meine Gesprächspartner erst ein- henten zu tun haben, um sich anschlie- barrierefreien Debatte liegt auf der Hand:
mal mich aus. Was hat dich nach Israel ßend rasch zu beruhigen und seiner Wege Werden mehr Stimmen gehört, kommen
verschlagen, was hältst du von der Regie- zu ziehen. Wie bei einem herzhaften Fami- mehr Ideen auf den Tisch, und wenn kei-
rung, hast du Kinder, und bist du eigent- lienstreit. ner sich fürchten muss, Kritik an Vorge-
lich jüdisch? Apropos Familie: Manche erklären die setzten zu äußern, werden Fehler schnell
Unverfänglicher Small Talk ist in Israel israelische Direktheit damit, dass unter entdeckt.
weitgehend unbekannt und überhaupt der jüdischen Bevölkerungsmehrheit das Auf ausländische Besucher kann die
unnötig, denn zwischen Fremden muss Gefühl vorherrscht, jeder sei mit jedem israelische Geschäftskultur indes irritie-
kein Eis gebrochen werden. Man kommt verbandelt. Treffen sich zwei Israelis, ist rend wirken. Ein deutscher Dienstleister
ohne rhetorische Umwege zum Einge- die Chance groß, dass der Bruder des für interkulturelle Kommunikation rät auf
machten – ob im Beruf, auf Grillpartys einen mit der Cousine der Ex-Freundin seiner Website dazu, es nicht „allzu per-
oder auf der Straße. des anderen in derselben Fakultät studiert sönlich“ zu nehmen, sollten israelische
Kürzlich nahm ich ein Taxi im Norden hat. Andere erklären das Phänomen mit Geschäftspartner ihre Kritik in deftigen
Israels zur jordanischen Grenze. Die Fahrt dem mehrjährigen Wehrdienst, den die Worten äußern oder Fragen nach dem
dauerte eine Viertelstunde, die mein Fah- meisten Israelis im Alter von 18 Jahren Privatleben stellen.
rer effizient dafür nutzte, sämtliche As- antreten müssen: Soldaten haben keine Dass die hebräische Sprache keine for-
pekte meiner beruflichen und privaten Zeit für umständliches Geplänkel, zudem male Ansprache wie das deutsche Sie oder
Lebensplanung abzufragen. Er war nicht schweißt die intensive Zeit – für Männer das französische Vous kennt, schafft zu-
anzüglich, bloß neugierig, wie so viele sei- drei, für Frauen zwei Jahre – die Rekruten sätzliche Nähe, ebenso wie die Ange-
ner Landsleute, und dabei frei von jegli- zusammen. wohnheit, gnadenlos jeden mit Vornamen
chen Hemmungen. Ob Politik, Geld oder Das kollektive Bewusstsein einer jahr- anzusprechen. Nachnamen existieren qua-
Religion – mit Themen, die in anderen tausendealten und größtenteils tragischen si nicht. Richte ich wider besseres Wissen
Ländern unter Fremden als Tabu gelten, eine E-Mail an Professor Cohen, weil ich
lassen sich in Israel problemlos Gespräche meine deutsche Förmlichkeit nicht abstel-
einleiten. „Als Juden gehören len kann, wird der seine Antwort-Mail
Die fehlende Distanz macht manches wir am Ende zur selben garantiert mit „Dani“ unterzeichnen.
leichter: Die ausgedehnte, manchmal müh- Bei meiner Arbeit sorgt die israelische
same Kennenlernphase zu Beginn einer
Sippe.“ Direktheit immer wieder für überraschen-
freundschaftlichen oder romantischen Ver- de Momente. Ein älterer Professor, den
bindung, die Deutsche durchlaufen müssen, Geschichte verbindet zusätzlich. „Achi“, ich zur nahöstlichen Sicherheitslage inter-
um sich miteinander wohlzufühlen, fällt in zu Deutsch „mein Bruder“, ist eine ver- viewen wollte, verwickelte mich in eine
Israel kurz aus oder ganz weg. breitete Anrede unter jungen israelischen Diskussion über Familienplanung (stets
Wem jedoch etwas an seiner Privat- Männern: Kumpel nennen einander so, ein großes Thema im kinderbegeisterten
sphäre liegt, der hat es hierzulande schwer. Verkäufer und Barkeeper sprechen ihre Israel). Eine Aktivistin in einem abgelege-
In Cafés passiert es, dass Fremde sich in Kunden damit an, und Naftali Bennett, nen Dorf im Norden des Landes bot mir
die politische Diskussion am Nebentisch nationalistischer Bildungsminister mit hö- spontan an, im Gästezimmer ihrer Eltern
einmischen, wenn sie eine dort gefallene heren Ambitionen, hat aus seiner häufigen zu übernachten, statt den späten Bus nach
Äußerung besonders lobens- oder empö- Verwendung dieser Ansprache ein Mar- Hause zu nehmen. Und der Kassierer im
renswert finden. Beim Joggen im Park kenzeichen gemacht. Seine Botschaft: Supermarkt um die Ecke, der jede Begeg-
hielt mich einmal eine Dame an, um mir Egal wer du bist, was du machst, wo du nung nutzt, um mir ein neues persönliches
den freundlichen Tipp zu geben, meinen politisch stehst – als Juden gehören wir Detail zu entlocken, müsste demnächst
Mp3-Player in die Tasche zu stecken, statt am Ende zur selben Sippe. genügend Material zusammenhaben, um
ihn unbequem in der Hand zu halten. Die israelische Direktheit schlägt sich meine Biografie zu schreiben. Die landes-
Mütter mit Babys müssen in der Öffent- auch in der Wirtschaft nieder. Das Des- typische Direktheit macht das Leben und
lichkeit damit rechnen, Ratschläge oder interesse an Formalitäten und Hierarchien Arbeiten in Israel manchmal anstrengend,
gar Kritik zu Erziehung, Ernährung und gilt vielen Experten als einer der Schlüssel manchmal lustig, manchmal anrührend –
Kleidung des Nachwuchses zu ernten. für die Innovationskraft der hiesigen High- nur eines gewiss nie: langweilig. –

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„Wenn eine Eigentum ist out.
Es genügt, Zugriff auf Dinge

richtige zu haben, sie zu teilen.


Das ist das Credo

Rezession der Sharing Economy.


Aber warum setzt sie sich
nicht durch?
kommt, Ein Gespräch mit Philipp Glöckler,
könnte es mit einem Pionier der Branche.

der Sharing Interview: Christoph Koch


Fotografie: Jens Umbach

Economy brand eins: Herr Glöckler, Sie haben 2012 die Firma Why own it

ganz schnell gegründet. Worum ging es da?


Philipp Glöckler: Das war eine App, mit deren Hilfe die Nutzer
Gegenstände ver- und ausleihen konnten: ein Surfbrett, ein aus-

gehen“ gelesenes Buch oder eine Bohrmaschine. Erst nur mit ihren
Freunden, später konnte man dann zum Beispiel auch Dinge
tauschen mit Leuten in seinem Viertel, die man nicht kannte.

Teilen entspricht dem Zeitgeist. Überall hört man: „Ich muss


nicht 1000 Dinge besitzen. Ich brauche keine Bohrmaschine, ich
brauche ein Loch in der Wand!“ Die App sollte also Millionen von
Nutzern gehabt und Sie reich gemacht haben.
Leider nicht. Wir haben es nie geschafft, das Ding zum Fliegen
zu bekommen. 2015 habe ich den Stecker gezogen. Aber ich
sage immer: Wenn etwas funktioniert, dann ist neben viel Ar-
beit auch sehr viel Glück dabei.

Warum wurde das Angebot nicht angenommen?


Es gab vor allem zwei Probleme: Zum einen haben wir nie eine
kritische Masse erreicht. Irgendjemand hat zwar die berühmte
Bohrmaschine verliehen, die man gesucht hat. Aber eben nicht
eine Straße weiter, sondern am anderen Ende der Stadt. Das hat
es umständlich gemacht, gerade wenn man sich in Zeiten von
Onlineshopping und Ebay auch schnell eine nach Hause liefern
lassen kann, die nicht die Welt kostet.

Was war das zweite Problem?


Es gab mehr Nutzer, die etwas ausleihen wollten, als solche, die
etwas verleihen wollten. Das klassische Empty-Room-Problem
habe ich unterschätzt. Alle modernen Online-Plattformen, die
wie Marktplätze funktionieren, müssen beide Seiten gleich >

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schnell hochziehen können. Airbnb konnte nur wachsen, weil es
sowohl viele Leute gab, die Unterkünfte buchen wollten, als auch „ Freundschaften
viele, die welche angeboten haben. Die Gründer haben das Pro-
blem damals gelöst, indem sie anfangs viele Wohnungsangebote pflegen, Freunde besser
einfach vom US-Kleinanzeigenportal Craigslist abgeschöpft ha-
ben. Dadurch konnten sie ihre Angebotsseite schnell skalieren kennenlernen und
und somit auch auf der Nachfrageseite schnell wachsen.
gleichzeitig Konsum
Bekamen Anbieter bei Why own it Geld, wenn sie etwas verliehen?
Ich wollte das umsonst machen. Die Währung sollte eher Ver- reduzieren – das war
trauen und Freundschaft sein. Ich wollte erst ein cooles Produkt
erschaffen und es später monetarisieren. meine Vision. “
Das klingt ein bisschen romantisch.
Meine Idee war, dass ich vor einer Reise nach Barcelona in die
App schaue und sehe, dass eine Freundin einen Reiseführer für
die Stadt hat. Ich treffe sie auf einen Kaffee, sie gibt mir das Buch gerannt sind. Gleichzeitig wurde Carsharing wie Car2Go immer
und erzählt mir nebenbei noch von ihren Lieblingsplätzen in populärer, das ohne feste Stationen, spontan und per App funk-
Barcelona. Freundschaften pflegen, Freunde besser kennenler- tionierte. Mein Mitgründer bei Avocado Store, Stephan Uhren-
nen und gleichzeitig Konsum reduzieren – das war meine Vision. bacher, hatte mit 9flats gerade einen Airbnb-Klon gegründet.
Dass das nicht so viele Leute wirklich machen wollten, dass uns Dort sah ich, wie Menschen plötzlich Fremden ihre Haustür-
also der Product-Market-Fit fehlte, merkte ich erst viel zu spät, schlüssel gaben, Vertrauen schien also nicht das Problem zu sein.
weil ich mich vorher so sehr auf die App und ihre Benutzbarkeit Ich war damals total auf dem Nachhaltigkeits-Trip und wollte
und andere Details konzentriert hatte. die Leute dazu bringen, insgesamt weniger zu kaufen.

Was war das Kurioseste, das verliehen wurde? Uber-Fahrer nehmen niemanden in ihrem Auto mit, um Gesell-
Ich war total überrascht, als ich gesehen habe, dass manche schaft zu haben, und Airbnb-Hosts sehnen sich nicht nach Frem-
Frauen Nagellack anboten. Als ich eine Nutzerin danach fragte, den in ihrer Wohnung. Die allermeisten wollen Geld verdienen.
erklärte sie mir, dass Nagellack irgendwann eintrocknet. Sie Das stimmt. Aber auf meiner Plattform sollten ja auch keine
wollte ihn lieber hergeben, als ihn irgendwann wegzuschmei- Sportwagen verliehen werden, sondern Alltagsgegenstände. Für
ßen. Es war also kein klassisches Verleihen, heute würde sie den die hätte man keine großen Leihgebühren nehmen können.
Nagellack wohl eher über Ebay-Kleinanzeigen oder eine lokale Der durchschnittliche „Basket“, wie man im E-Commerce sagt,
Facebook-Gruppe wie „Free Your Stuff“ verschenken, die es war einfach viel zu klein. Für eine Bohrmaschine hätte man
inzwischen in vielen Städten gibt. vielleicht fünf Euro verlangen können, für ein Buch höchstens
einen. Das lohnt sich nicht für den Verleiher und schreckt den
Sie selbst hatten sich zu Werbezwecken öffentlich vorgenommen, Ausleihenden vielleicht trotzdem ab. Und für die Plattform bleibt
ein Jahr lang nichts zu kaufen. Hat das geklappt? auch nicht viel übrig.
Ja, aber Dinge für meinen Kühlschrank oder Toilettenpapier
waren natürlich ausgenommen. Für mich war es immer wichtig, Andere Plattformen dieser Art sind hierzulande aus ähnlichen
so glaubwürdig wie möglich zu sein. Vor Why own it hatte ich Gründen eingegangen. Gibt es niemanden, der aus dem Verleih
2009 Avocado Store gegründet, einen Marktplatz für nachhaltig von Gebrauchsgegenständen ein Geschäft gemacht hat?
produzierte Kleidung. Damals war klar, dass ich selber nicht mit In den USA gibt es Omni, eine Plattform, die im Jahr 2014 in
Sweatshop-Klamotten rumlaufen kann. Und bei Why own it San Francisco gegründet wurde und mehr als 35 Millionen Dol-
musste ich derjenige sein, der sich alles leiht. Du kannst so ein lar Wagniskapital bekommen hat. Aber die haben ein etwas an-
Produkt nur anbieten, wenn du voll dahinterstehst. deres Modell: Die holen die Bohrmaschine oder das Surfbrett
ab, lagern die Sachen dann ein und verleihen sie für den Anbieter
Woher kam die Faszination für die Sharing Economy? gegen Gebühr. Man hat zu Hause also mehr Platz, verdient Geld
Avocado Store hatte gut funktioniert, und den Laden gibt es heu- mit seinen Sachen, und wenn man sie selber braucht, lässt man
te noch. Aber ich merkte, dass die Leute uns zwar liebten und sie sich zuschicken. Die haben zwar noch nicht international
manche auch bei uns einkauften, aber trotzdem noch zu H&M expandiert, scheinen sich aber ganz gut halten zu können.

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Liegt das eventuell daran, dass sie – ähnlich wie Uber – die per- barn wirklich auch online kennenlernen und sich mit ihnen
sönliche Interaktion minimieren? Wollen die Leute am Ende gar vernetzen wollen. Aber am Ende gelingt es ihnen anscheinend,
nicht irgendwo klingeln und sich was ausborgen? Sondern dass die Menschen zusammenzubringen. Wie viele dort Sachen ver-
alles über die Nutzeroberfläche einer App läuft? leihen, tauschen und teilen, weiß ich aber nicht.
Das ist eine Typfrage. Manchen ist das sicherlich zu viel Nähe,
sich persönlich irgendwo zu treffen, um sich einen Tennisschlä- Sie sind dem Thema Sharing treu geblieben. Was macht Ihr neuer
ger auszuleihen. Genauso wie manche froh sind, dass sie ihr Ziel Arbeitgeber Moovel?
direkt in die Uber-App eintippen können und gar nicht mehr Moovel ist eine Tochterfirma der Daimler AG und startete 2012
mit dem Fahrer reden müssen. Für manchen potenziellen Why- mit einer Mobilitätsapp. Heute bieten wir eine Plattform für
own-it-Nutzer war der Gedanke vielleicht abschreckend, dass Verkehrsverbünde, Städte und Unternehmen und ermöglichen
der Typ, dessen Playstation er für ein Wochenende geborgt diesen, verschiedene Mobilitätskonzepte zu verwirklichen. Wir
hatte, vielleicht ein Schwätzchen halten will, wenn er ihn das sehen uns als Experten für urbane Mobilität und wollen helfen,
nächste Mal auf der Straße trifft. Aber es gibt auch andere, Staus in Städten zu reduzieren.
denen macht diese soziale Komponente Spaß. Die freuen sich
über den zwischenmenschlichen Kontakt. Wie sieht das konkret aus?
In Deutschland nutzen beispielsweise der Karlsruher Verkehrs-
Auch bei Airbnb stand am Anfang das Versprechen, dass man verbund und die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) Bestand-
interessante Menschen kennenlernt, wenn man dort bucht. Dass teile unserer Mobility-as-a-Service-Plattform. In Karlsruhe kön-
man in eine Stadt anders eintaucht, als wenn man ins Hotel geht. nen Bürger mittels einer App Fahrten mit dem öffentlichen
Inzwischen trifft man meist niemanden mehr, sondern bekommt Nahverkehr und Nextbike-Leihräder suchen, buchen und be-
den Zugangscode für die Haustür per SMS. Trotzdem boomt die zahlen. Beim SSB berechnet eine App auf Basis des monatlichen
Plattform. Ist das Geheimnis einer erfolgreichen Sharing-Platt- Nutzungsverhaltens die bestmögliche Tarifkombination.
form viel Bequemlichkeit und wenig echte Nähe?
Da ist schon was dran. Allerdings sind es Begegnungen und Er- Glauben Sie noch an die Sharing Economy?
lebnisse mit den Vermietern, die Kunden an Airbnb binden. Das Auf jeden Fall. Aber ich glaube, dass der Wechsel vom Kaufen
sind die Geschichten, die geteilt werden. Von all meinen Airbnb- zum Tauschen, Teilen und Verleihen Zeit braucht. Es ist ein
Erfahrungen teile ich nur die schönsten mit meinen Freunden ähnlich großer Wandel wie vom Offline- zum Onlinekaufen.
und Bekannten. Mein Erlebnis mit einem Typen in New York Das hat auch 10 bis 20 Jahre gedauert. Wenn eine richtige Re-
zum Beispiel, der mir sein Gästezimmer vermietet hat und damit zession kommt, könnte es mit der Sharing Economy auch ganz
für den Verlobungsring seiner zukünftigen Frau sparte. Sein schnell gehen. Im Moment haben wir Vollbeschäftigung, allen
Nachbar, dessen Airbnb-Angebot eher einem illegalen Hotel geht es gut, und die meisten können sich dreimal am Tag einen
ähnelt, wird maximal als billige Alternative zum Hotel weiter- Cappuccino leisten. Wenn das irgendwann mal nicht mehr so ist
empfohlen. und die Leute nicht mehr so viel konsumieren können, werden
sie auch wieder kreativer. Wenn das Geld zwar für Lebensmittel
In Deutschland werden gerade Nachbarschaftsplattformen wie und andere Notwendigkeiten reicht, aber die schönen Sachen,
Nebenan.de oder Nachbarschaft.net populär. Haben die bessere die Erlebnisse anders gestaltet werden müssen – dann poppen
Chancen? vielleicht neue Modelle auf. –
Der Trend kommt aus den USA, wo sich Nachbarn auf Plattfor-
men wie Nextdoor vernetzen. Solche Netzwerke werden auf alle
Fälle weniger Probleme mit der kritischen Masse haben als wir
damals. Weil sich die Leute nicht nur zum Verleihen und Aus-
Philipp Glöckler, 34,
leihen anmelden, sondern aus allen möglichen Gründen – weil gründete 2012 die Verleihplattform Why own it, die er rund drei Jahre
sie ein Straßenfest organisieren, über Neuigkeiten aus der Nach- später mangels Erfolg einstellen musste. 2009 hatte er zusammen
barschaft informiert werden wollen oder was auch immer. mit Stephan Uhrenbacher (heute 9flats) den Avocado Store gegründet,
einen Onlineshop für nachhaltige Produkte und nach eigenen Angaben
heute Deutschlands größter Marktplatz für Öko-Mode.
Und wenn dann jemand eine Bohrmaschine sucht, hat er bessere Inzwischen arbeitet Glöckler für die Daimler-Tochter Moovel, die in
Chancen, weil er mehr Menschen in seinem unmittelbaren Um- Zusammenarbeit mit Verkehrsverbünden und Städten versucht,
öffentlichen Nahverkehr mit Mobilitätslösungen wie Car- oder Fahr-
feld erreicht?
radsharing zu kombinieren und Fahrten mit mehreren unterschied-
Genau. Die Macher von Nextdoor haben in Interviews erzählt, lichen Transportmitteln durch eine gemeinsame Routenplanung und
dass die Leute am Anfang skeptisch waren, ob sie ihre Nach- Buchung benutzerfreundlicher zu machen.

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Einfach In SOS-Kinderdörfern finden Kinder ein neues
Zuhause. Das gelingt nur mit Menschen, die sich
rund um die Uhr um ihre Schützlinge kümmern.

da sein So wie Jörg Lamprecht, der in einer Einrichtung am


Ammersee drei Mädchen und drei Jungen ein
Ersatzvater ist.

Text: Alexander Krex Fotografie: Sigrid Reinichs

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„Ich habe sie alle lieb“: Jörg Lamprecht und seine Pflegekinder im SOS-Kinderdorf am Ammersee

• In einer Frühlingsnacht im vergangenen Jahr sitzen Jörg Lam- einmal fällt Merlin ein, dass er kaum Fotos von ihr besitzt. Lam-
precht, 58, und der 14-jährige Merlin* nebeneinander im Auto. precht verspricht, welche zu besorgen. Außerdem verspricht er
Sie schauen auf die von Scheinwerfern mal hier, mal dort erhellte ihm, dass sie das Grab regelmäßig besuchen werden. Merlin zwei-
Autobahn und sprechen über den Tod. Merlins Mutter ist gestor- felt nicht daran. Es ist nicht die erste schwere Stunde, in der Jörg
ben, vor einer Stunde kam der Anruf aus dem Krankenhaus. Am Lamprecht für ihn da ist. Da zu sein ist Lamprechts Job.
Telefon hatte Lamprecht gesagt: Wir kommen uns verabschie- Merlin nennt ihn Papa, genau wie die anderen fünf Pflege-
den, in zwei Stunden sind wir da. Während sie Richtung Norden kinder: Linus, 8, Johan, 10, Tabea, 12, Sandra, 13, und Dora, 15.
durch Bayern fahren, bereitet er Merlin darauf vor, dass sich die Sie alle leben unter einem Dach im SOS-Kinderdorf am Ammer-
Haut seiner Mutter kühl anfühlen wird. Sie sprechen auch darü- see, zusammen mit Lamprecht, dessen Zimmer im ersten Stock
ber, auf welche Weisen ein Mensch bestattet werden kann. Auf liegt. „Ich hab’ sie alle lieb“, sagt er. Es ist Dienstagvormittag, >

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die Kinder sind in der Schule. Der Hausherr nutzt die Zeit für Wer selbst Kinder hat, weiß, dass Liebe nicht nur Kopf-
eine Führung. Sie beginnt in der Küche, die von einem 4,70 Me- kraulen, Buchvorlesen und Gute-Nacht-Kuss ist. Die Organisa-
ter langen Tisch dominiert wird, um den zehn Stühle stehen. tion eines kindgerechten Alltags schluckt einen Großteil dieser
Lamprecht öffnet die Türen zu fünf Bädern, zeigt die Computer- Liebe. Die Strumpfhose, die nicht kratzt, die Zahnpasta, die
ecke der Kinder und vergisst auch nicht die Porzellanverzierun- schmeckt, das Gefahre zum Judo-Training – all das ist Liebe.
gen an Tabeas Prinzessinnenbett. Er schwärmt wie ein stolzer Wie Energie geht sie nicht verloren, sie tritt nur in unterschied-
Vater. Im Flur bleibt er vor einer Tafel mit den Terminen seiner lichen Aggregatzuständen auf. Es geht vor allem darum, da zu
Schützlinge stehen: Saxofon, Geige, Mathe-Nachhilfe, Tanzen. sein, immer wieder da zu sein, niemals nicht da zu sein. Anwe-
Daneben hängt ein Holzkreuz, darauf ist zu lesen: senheit als das unausgesprochene Versprechen: Du bist nicht
allein auf dieser Welt, in die du ungefragt gekommen bist.
Lieber Gott Um allen Kindern gerecht zu werden, wird Lamprecht von
Erde braucht Regen zwei Pädagoginnen und einer Hauswirtschafterin unterstützt –
Pflanzen brauchen Sonne Letztere ist seine Frau Eva-Maria. Das Zimmer am Ende des
Tiere brauchen Platz Ganges gehört den Erzieherinnen, hier schlafen sie, wenn die
Kinder brauchen Achtung Lamprechts alle paar Wochen für einige Tage in ihr anderes Zu-
Menschen brauchen Liebe hause im thüringischen Eichsfeld fahren. Weil die Kinder das
Alle brauchen Dich nicht mögen, haben sie einen Deal: Papa ist immer erreichbar.
Wenn sein Telefon klingelt, hört er meist die Frage: In drei Tagen
Lamprecht ist Katholik. Das ist nicht nur sinnstiftend, sondern bist du wieder da, stimmt’s? Wieder und wieder müssen sie sich
auch praktisch. „Wenn ich mal wieder der Arsch bin, dann ist seiner versichern. Linus etwa, acht Jahre alt, kam schon als Klein-
der liebe Gott immer noch der liebe Gott“, sagt er. Bei sechs kind in die Familie. Ein ganzes Jahr lang saß Lamprecht Nacht
Kindern braucht er diesen Trost eigentlich ständig. Er weiß zum für Nacht bei ihm am Bett, der Kleine konnte einfach nicht schla-
Beispiel jetzt schon, dass Johan sauer sein wird, wenn er aus der fen. Das Essen war auch ein Kampf, viel zu schmal war er, woll-
Schule kommt. Am Morgen war der Elektriker da, um in dessen te nur Schokoriegel, kannte nichts anderes. „Als Linus seine erste
Zimmer eine Lampe anzubringen. Mit dem Fuß der Leiter hat Banane aß, haben wir gefeiert“, erinnert sich Lamprecht.
er einige Spielzeugautos verschoben, die in einer langen Reihe Das SOS-Kinderdorf Ammersee-Lech, eingeweiht am 7. Juni
aufgestellt waren. Das darf aber nicht passieren, weil ein nicht 1958, ist das älteste in Deutschland. Eine 33 000 Quadratmeter
mehr an seinem Platz stehender Feuerwehrwagen Johans innere große Idylle südwestlich von München. 21 Gebäude ziehen sich
Ordnung empfindlich stören kann. Er ist Autist. Aus diesem einen Hang hinauf, im Tal hängt Herbstnebel. Außer den Lam-
Grund bringt ihn ein Fahrdienst zur Schule. „Eine Biene, eine prechts – so kann man das ruhig sagen – leben hier acht weite-
Hummel, ein Schmetterling: Allein würde er nie in der Schule re Familien. Die anderen Häuser beherbergen Verwaltung, Ge-
ankommen“, sagt Jörg Lamprecht. meinschaftsräume und eine öffentliche Kita. Die Dorfstraße
schlägt zwei Bögen und endet an einem Basket-
ballplatz, der von gelbem Laub bedeckt ist.
Trotz aller Regeln und Rituale: Ausgelassenes Herumtoben muss sein Zwischen Dorf und Seeufer erstreckt sich ein
Vogelschutzgebiet, Kenner unterscheiden die
Rufe von Kiebitz, Graugans und Stockente.
In das Kinderdorf kommen Kinder, die Ge-
walt oder sexuelle Übergriffe erfahren haben.
Deren Eltern süchtig sind, psychisch krank
oder massiv überfordert. Auch Empathielosig-
keit kann das Kindeswohl gefährden. Es gibt
Eltern, denen der sprichwörtliche Vater- oder
Mutterinstinkt fehlt, die einfach nicht sehen,
was ihr Kind braucht. Manchmal beginnt der
Weg in ein Kinderdorf dramatisch. Wenn Ge-
fahr im Verzug ist, werden Kinder schon mal
von der Polizei aus der Schule geholt. Neu-
ankömmlinge sind im Durchschnitt zwischen
fünf und acht Jahre alt, es kommen aber auch

70 brand eins 12/18


Gegenüber seinen eigenen Kindern – beide sind mittler weile
erwachsen – hat er das Versprechen eingelöst. Aber das reichte
ihm nicht. In der DDR war er Grundschullehrer, später Heim-
betreuer, 2012 ging er ins Kinderdorf nach Bayern. Er habe
immer ein Herz für jene gehabt, die keinen guten Start ins
Leben hatten, sagt er. Seine Söhne verstünden das. Sie kennen
ihren Vater nicht anders, er war immer gesellschaftlich enga-
giert. Dass er seine Enkel nicht bei jedem Entwicklungsschritt
begleiten kann, macht er in den Wochen wett, in denen er in
Thüringen ist.
In einer Kinderdorffamilie bestimmen klare Regeln den Um-
gang. Die Erzieherinnen in den Familien helfen nicht nur, sie sind
auch eine Kontrollinstanz, außerdem muss Lamprecht den All-
tag dokumentieren. Nicht alles, was in einer normalen Familie
geht, geht auch hier. Seine drei Mädchen beispielsweise bräuch-
ten viel Nähe, sagt Lamprecht, Nähe, die er ihnen nicht geben
kann. Er kann sich nicht neben sie legen und sie in den Arm
nehmen, wie es ein leiblicher Vater könnte. Sie haben deshalb ein
Ritual entwickelt: Lamprecht legt ihnen die flache Hand auf den
Kopf und zeichnet mit seinem Daumen ein Kreuz auf die Stirn.
Entwirft pädagogische Leitlinien: Kristin Teuber, Referatsleiterin Es ist eine Art Allzweckgeste: Ich-hab’-dich-lieb, Auf-Wiederse-
in der Münchener Zentrale der SOS-Kinderdörfer hen und Pass-auf-dich-auf in einem. Manchmal muss er es trotz-
dem ein zweites Mal machen, doppelt hält besser.
Babys. Die SOS-Kinderdörfer sind auf langfristige Unterbrin-
gung ausgelegt. Das Jugendamt geht also nicht davon aus, dass Ablehnung nicht persönlich nehmen – eine Kunst
sich die Verhältnisse in den Familien bald bessern. Nicht selten
kommen mehrere Geschwister, weil ein solches Dorf die nötige Der Alltag im Kinderdorf sei „durchpädagogisiert“, sagt Kristin
Infrastruktur bietet. Die Schwester oder den Bruder in der Nähe Teuber. Die promovierte Psychologin ist Referatsleiterin in der
zu haben kann eine zusätzliche Stütze sein. Münchener SOS-Zentrale. Für 38 Einrichtungen deutschland-
Aber kann man eine Familie überhaupt nachbilden? Nein. weit entwirft sie die pädagogischen Leitlinien. „Der institutio-
Daher geht es im Kinderdorf nicht darum, die Familie zu kopie- nelle Rahmen gibt den Kinderdorfmüttern und -vätern Sicherheit
ren, sie soll gelebt werden. Der Gründer der Organisation, Her- für ihre Aufgabe“, sagt sie. Viele Kinder entwickeln Verhaltens-
mann Gmeiner, hat einst formuliert, was ein Kind braucht: eine weisen, die schwer auszuhalten sind. „Manche sind aggressiv,
Mutter, Geschwister, ein Haus und ein Dorf. Im Grunde hat andere verletzen sich selbst, viele können sich erst mal nicht auf
sich daran bis heute nichts geändert. eine Beziehung einlassen und sind zugleich sehr bedürftig.“ Für
Lamprecht wird nach dem Tarifvertrag für den öffentlichen die Betreuer ist das eine enorme Herausforderung.
Dienst bezahlt, nach Abzügen bleiben ihm etwa 2500 Euro. Das Trotz der Regeln soll die Beziehung zu den Kindern so un-
ist also geregelt, der Job ist es nicht. Vater ist man immer, ohne mittelbar wie möglich sein. Morgenrituale, Abendessen, Sank-
Pause, ohne Feierabend. Weil die Kinderdorffamilie eine Lebens- tionen, Geburtstage, Weihnachten, all das wird individuell
gemeinschaft ist, greift das Arbeitszeitgesetz nicht. In diesem gestaltet, wie in einer Familie eben. „Den Zustand gekonnter
Haus klingt Work-Life-Balance wie eine Vokabel aus einer an- Deprofessionalität zu erreichen ist natürlich sehr professionell“,
deren Welt. Man müsse schon auf gewisse Weise vorgeschädigt sagt Teuber. „Die Kunst ist, da zu sein, empathisch zu sein, ver-
sein, um das hier zu machen, sagt Lamprecht. „Und man braucht lässlich im Kontakt zu bleiben, aber Ablehnung möglichst nicht
Liebe. Klingt abgedroschen, aber so ist es.“ persönlich zu nehmen.“
Er selbst kommt aus schwierigen Verhältnissen, wuchs mit Wenn etwa ein Kind erlebt hat, dass Nähe im Elternhaus zu
sechs Brüdern auf, einer der älteren war schwer krank, um den sexuellen Übergriffen führt, wird es Zuneigung als Bedrohung
kümmerte er sich. Der Vater war kein schlechter Kerl, aber er empfinden. Wenn ein Kind zu Hause nicht ausreichend versorgt
trank, und wenn er trank, schlug er zu. Der Kummer seiner wurde, kann es sein, dass es im Kinderdorf Essen hortet, bis es
Mutter machte Jörg Lamprecht zu schaffen. Damals schwor er unterm Bett schimmelt. Es dauere, das nötige Vertrauen aufzu-
sich, es einmal besser zu machen. bauen, sagt Teuber. Sie erzählt von Kinderdorfeltern, die >

brand eins 12/18 71


kaum Schlaf finden, weil die Kinder mehrmals in der Nacht zu Eine Großfamilie funktioniert nur mit einem eingespielten
ihnen ans Bett kommen, um zu sehen, ob sie noch da sind. Rhythmus. Unter der Woche stehen Lamprecht und seine Frau
„Man braucht schon eine sehr hohe Motivation, um diesen Job um 5.45 Uhr auf, schmieren die Frühstücksbrote und hoffen,
zu machen.“ dass sich die Mädchen im Bad nicht in die Haare kriegen. Das
Ein Betreuer muss auch wissen, dass die Kinder zu ihren erste Tagesziel: „Die Kinder haben gefrühstückt und verlassen
leiblichen Eltern halten – egal was zu Hause vorgefallen ist. Des- das Haus pünktlich und mit guter Laune.“ Eltern wissen, dass
halb werden sie einbezogen. Die Forschung hat gezeigt, dass dieser Satz trivial klingt, es aber nicht ist.
sich Kinder besser entwickeln, wenn kein Loyalitätskonflikt Die Nachmittage vergehen über Schularbeiten und Musik-
zwischen Herkunftsfamilie und Kinderdorffamilie entsteht. unterricht, kurz vor sechs gibt es Abendessen. Danach dürfen
Wenn es gut läuft, erkennen die leiblichen Eltern, dass es ihrem die Kinder noch eine Stunde fernsehen. Das Ecksofa im Wohn-
Kind im Dorf besser geht, und geben das auch zu. zimmer ist groß genug für alle, manchmal gibt es Streit, wer
neben Papa sitzen darf. Meist ist es Linus, der Jüngste. Auch an
An Weihnachten geht es auf die Hütte Weihnachten sind sie alle zusammen. Lamprecht fährt sie mit
seinem Neunsitzer ins Berchtesgadener Land, wo das Kinder-
Jörg Lamprecht würde nie schlecht über die Eltern eines Kindes dorf eine Hütte hat. Ende Dezember liegen dort schon mal drei
sprechen. Trotzdem muss er den Kindern ihre Situation erklä- Meter Schnee. Wenn die Wasserleitung eingefroren ist, ersetzen
ren. Das fängt mit der Frage an: Warum bin ich hier? Sonst kann zwei Eimer Schnee die Toilettenspülung. Ein Tannenzweig aus
es passieren, dass sich die Kinder selbst die Schuld geben oder dem Wald wird mit Christbaumschmuck dekoriert, es gibt Brat-
den Geschwistern. So war es bei Tabea und Johan. Tabea mach- äpfel. Vor der Bescherung liest jedes Kind einen Teil der Weih-
te ihren kleinen Bruder dafür verantwortlich, dass sie von der nachtsgeschichte vor, wer das nicht kann, erzählt etwas. Dann
Mutter wegmussten. Die war aber schon vor dem zweiten Kind ist Bescherung.
überfordert gewesen. Seit Tabea das verstanden hat, kann sie Was Geschenke angeht, sind die Kinder erfinderisch. Kürz-
ihren Bruder wieder lieb haben. lich wurde Lamprecht 58, Dora schenkte ihm ein Marmeladen-
Wenn die Kinder volljährig sind, müssen sie ausziehen, für glas mit 58 Papierröllchen, auf denen je ein Spruch steht. Viele
viele ein schwerer Schritt. Damit das Kinderdorf nicht zur Käse- hat die 15-Jährige selbst verfasst. Auf dem Zettel, den er heute
glocke wird, müssen sie lernen, dass sie nicht nur Teil der klei- Morgen entrollte, stand, er schaut kurz nach: „Von deiner Ge-
nen Dorfgemeinschaft sind, sondern auch der großen Welt duld sollten sich viele Menschen eine Scheibe abschneiden.“
drum herum. Einen Zaun gibt es deshalb nicht. Die Offenheit Jörg Lamprecht lächelt, dann schaut er auf die Uhr und
funktioniert beidseitig: Viele Ehemalige bleiben mit ihren Kin- atmet tief durch. Gleich müssten die ersten seiner Schützlinge
derdorffamilien in Kontakt. aus der Schule kommen. Dann wird aus dem stillen Haus wie-
So wie Armin, der mit 22 noch jedes zweite Wochenende der ein lebendiges Zuhause. Dafür wurde es gebaut. In drei
bei den Lamprechts verbringt. Er ist der Beweis, dass auch eine Jahren könnte Lamprecht ausziehen und in den Vorruhestand
zusammengewürfelte Familie eine Familie ist. Natürlich hat sie gehen. Acht Jahre will er noch machen, sagt er, für die Kinder.
auch ihre eigenen Dynamiken: Drei von Lamprechts Mädchen „Dann sind sie aus dem Gröbsten raus.“ –
sind gleichzeitig in der Pubertät. An einem Tag sind sie BFF, best
friends forever, am nächsten hassen sie sich scheinbar grundlos. (* Die Namen aller Kinder sind geändert.)
„Man braucht viel Humor, um das durchzustehen“, sagt Lamp-
recht. Wenn es mal wieder knallt, interveniert er, dann heißt es:
in fünf Minuten im Büro. Dort setzt er sich auf den Stuhl mit der Der Verein SOS-Kinderdorf zählt zu den renommiertesten Jugendhilfe-
großen Lehne und lässt sich erklären, was vorgefallen ist. trägern in Deutschland. 1949 gründete Hermann Gmeiner das erste
Kinderdorf im österreichischen Imst. Er war der Meinung, dass Kinder
Auch wenn es keinen Streit gibt, verbringt Lamprecht viele
vier Dinge bräuchten: eine Mutter, Geschwister, ein Haus, ein Dorf.
Stunden im Büro, um der Dokumentationspflicht nachzukom- Die Idee einer Kinderdorfmutter als verlässliche Bezugsperson war
men. Er schreibt einen täglichen Bericht, notiert, welche Eltern nicht nur in der Fachwelt umstritten. Auch die Kirche sprach sich zu-
sich gemeldet haben, oder fertigt Protokolle von Treffen mit nächst dagegen aus, weil sie das traditionelle Familienbild gefährdet
sah. 1955 wurde der deutsche Ableger des Vereins gegründet, drei Jahre
Familienangehörigen an. Dann sind da natürlich noch der Bud- später das erste deutsche Kinderdorf am Ammersee.
getplan und diverse Förderanträge. Gerade hat er bei der Leite- Anfangs machten Kriegswaisen einen Großteil der zu Betreuenden aus,
rin des Kinderdorfs eine Beteiligung für Merlins Klassenfahrt heute sind es fast ausschließlich Kinder aus schwierigen Familienver-
hältnissen. An 38 Standorten beschäftigt der Verein landesweit 3907
beantragt. In den Werbeprospekten auf dem Schreibtisch sucht
Mitarbeiter und 1122 Ehrenamtliche. In mehr als 100 Kinderdorf-
er nach den Sonderangeboten der Woche. Bei so vielen Kindern familien leben annähernd 700 Kinder und Jugendliche. Knapp 1300
lohnen sich Rabattaktionen gleich mehrfach. werden darüber hinaus in stationären Wohngruppen betreut.

72 brand eins 12/18


Jetzt im Handel
Die zweite Ausgabe der edition brand eins ist da:
Das Beste von uns zum Thema Neue Arbeit.
Das neue Wir
Globalisierung und Migration führen
die Menschen enger zusammen.
Doch wie viel Vielfalt verträgt eine Gesellschaft?
Und wie kommen Fremde miteinander klar?

Eine Annäherung.

Text: Mischa Täubner


Fotografie: Tobias Kruse
Für die einen einer der coolsten Orte, für die anderen
Horror: Szenen aus dem von verschiedenen Kulturen und
Milieus geprägten Bezirk Berlin-Neukölln

1. Heimat

Thomas de Maizière war unzufrieden, das wollte er so nicht De Maizière wollte dagegen die Grenzen des Deutschseins
stehen lassen. Eine Initiative des Deutschen Kulturrats hatte im enger ziehen. Der erste seiner zehn Punkte schließt mit den
Frühjahr vergangenen Jahres 15 Thesen für den gesellschaft- Worten: „Wir zeigen unser Gesicht. Wir sind nicht Burka.“
lichen Zusammenhalt ausgearbeitet, die zu beschreiben versuch- Seine Ausführungen zur deutschen Kultur sind manchmal
ten, welche Werte die Menschen in Deutschland miteinander schlicht politisch („Die Nato schützt unsere Freiheit“) und
verbinden. Auslöser waren die heftigen Diskussionen über den manchmal unfreiwillig komisch („Wir geben uns zur Begrüßung
Umgang mit Migration gewesen. die Hand“). Sie unterstreichen, dass es unmöglich ist, die Mit-
Alle möglichen Gruppen beteiligten sich an der Initiative: die glieder einer pluralistischen Gesellschaft auf einen gemeinsamen
Kirchen und Religionsgemeinschaften, die Bundesregierung, Nenner zu bringen. Habe er sagen wollen, möchte man den
Länder, Kommunen, Medien und Sozialpartner. Auch de Mai- ehemaligen Bundesinnenminister polemisch fragen, dass alle
zière gehörte ihr als damaliger Bundesinnenminister an. Als er Burkalosen zu Deutschland gehören und alle Küsschen-statt-
das Ergebnis absehen konnte, erstellte er jedoch schnell einen Handgeber nicht?
eigenen Zehn-Punkte-Katalog zur „deutschen Leitkultur“ und Dennoch drückt sich in de Maizières Heimatkunde ein all-
veröffentlichte ihn in der »Bild am Sonntag« – etwa zwei Wo- zu verständliches Bedürfnis aus. Das Bedürfnis nach Orientie-
chen bevor die Kulturrat-Initiative ihre Thesen vorlegte. rung und Harmonie angesichts der giftigen Debatten, etwa
Geist und Ton der beiden Schriftstücke klaffen weit ausein- über Kopftuch und Zwangsehe, die mit der Einwanderung auf-
ander. Die 15 Thesen der Initiative preisen die Vielfalt Deutsch- kamen.
lands, heben die Rolle des Grundgesetzes als Grundlage des Einheitliche Traditionen und soziale Gepflogenheiten er-
Zusammenlebens hervor, weisen darauf hin, dass Umgangs- leichtern das Zusammenleben, man versteht sich, man fühlt sich
formen und kulturelle Gepflogenheiten keineswegs starr sind, sicher. Vielfalt macht es anstrengender. Zuwanderer, auch gut
sondern einem Wandel unterliegen, und betonen, dass Religion integrierte, verändern das Land. Ein Teil der alteingesessenen
auch in den öffentlichen Raum gehört. Bevölkerung befürchtet den Verlust von Heimat, lehnt >

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Der einstige Problembezirk hat sich in den
vergangenen Jahren zum Szeneviertel entwickelt:
Armut und soziale Spannungen gibt es in
den Vierteln zwischen Hermannplatz, Sonnenallee
und dem Tempelhofer Feld zwar nach wie vor,
doch längst zieht Neukölln auch Hipster, Studenten
und Touristen aus aller Welt an

78 brand eins 12/18


Zuwanderung ab und wählt die AfD. Ist Fortschritts. „In den Neunzigerjahren wäre
das – genauso wie der Ruf nach einer die Frage ein schlechter Witz gewesen
deutschen Leitkultur – nicht ein Indiz da- oder gar nicht verstanden worden, weil die
für, dass zu viel Vielfalt die Gesellschaft Antwort ein bedingungsloses Nein gewe-
überfordert? sen wäre. Auch die meisten Muslime hät-
ten mit Nein votiert. Heute hingegen
2. Konkurrenz wird die Frage nicht einheitlich beant-
wortet, es ist eine 50:50-Situation.“
Der Migrationsforscher Aladin El-Mafaa- Dass Integration zu mehr Konflikten
lani hat darauf eine klare Antwort: Nein. statt zu Harmonie in der Gesellschaft füh-
Dass zurzeit so heftig gestritten wird, sei ren soll, klingt zunächst wie ein Wider-
ganz im Gegenteil ein gutes Zeichen. Die spruch. Aber Integration bedeutet ja nicht,
Gesellschaft wachse zusammen. „Wir dass es keine Unterschiede mehr gibt, son-
kommen uns näher, und gerade deswegen dern mehr Teilhabe und damit neue Kon-
gibt es Zoff.“ Kürzlich ist sein Buch zum kurrenz. Minderheiten sitzen nicht mehr
Thema erschienen: „Das Integrations- in der Ecke, sondern mit am Tisch und
paradox – warum gelungene Integration wollen auch etwas vom Kuchen.
zu mehr Konflikten führt.“ In den Achtzigern, als El-Mafaalani
Der 40-Jährige ist Professor für Poli- Schüler war, kamen ihm nach der letzten
tikwissenschaft und seit April dieses Jah- Stunde oft kopftuchtragende Frauen ent-
res Abteilungsleiter im Integrationsminis- gegen, die zum Putzen ins Schulgebäude
terium von Nordrhein-Westfalen. Seine hineingingen. Sie sprachen kaum Deutsch,
Eltern sind Anfang der Siebzigerjahre aus mussten schwere Arbeit leisten, um die
Syrien nach Deutschland gekommen. Er Familie über Wasser zu halten. „Das
wuchs im Ruhrgebiet auf und kann sich Kopftuch“, sagt er, „hat damals nieman-
noch gut daran erinnern, wie es war, als den gestört, es wurde ja nur von Putz-
Einwandererkind im Deutschland der frauen getragen.“ Nicht mehr okay sei es
Achtzigerjahre. „Diskriminierung gehörte erst gewesen, als es Frauen trugen, die
zum Alltag“, sagt er, „Migranten hatten studierten und Lehrerinnen wurden.
es viel schwerer als heute.“
Deren Nachfahren, zeigt die Bildungs- 3. Parallelgesellschaften
forschung, gehen inzwischen immer häu-

Nichts für
figer aufs Gymnasium und zur Universi- Der Konflikt ist laut El-Mafaalani kein
tät. Mit der besseren Bildung sind auch rein sozialer. Es gehe nicht nur um Ver-
die Chancen auf dem Arbeitsmarkt, die
Gehälter und die Ansprüche auf Zugehö-
teilung, sondern auch um Identität. Das
mache die Situation so diffus. Das er-
Konsumenten
rigkeit gestiegen. mögliche es der AfD, Wähler aus den un-
„Vitsœs Möbel schreien nicht. Sie
„Manche Menschen mit Migrations- terschiedlichsten Milieus zu gewinnen. funktionieren vielmehr in relativer
hintergrund“, so El-Mafaalani, „fragen Es sei kein Konflikt zwischen Kulturen, Anonymität neben Möbeln eines
sich, was sie noch alles tun müssen, um sondern um die Kultur. Was macht ein jeden Designers in Häusern aus
jeder Epoche. Unser Bestreben ist
anerkannt zu sein und vollständig dazu- gutes Leben aus? Um diese Frage stritten es, Produkte für intelligente und
zugehören: Sprache, Staatsbürgerschaft, Befürworter und Gegner einer offenen verantwortungsbewusste Nutzer –
nicht für Konsumenten – herzustellen,
Gefühl und Heimat, alles deutsch, und Gesellschaft. die sich bewusst für Produkte
trotzdem fehlt immer etwas.“ Auf der an- Der Migrationsforscher liegt hier auf entscheiden, welche sie wirklich
deren Seite hätten manche Alteingesesse- einer Linie mit dem Soziologen Andreas nutzen können. Gutes Design muss
sich anpassen können.”
ne das Gefühl, ihre Heimat und Identität Reckwitz, der von einer neuen Klassenge-
zu verlieren. Beide hätten irgendwie recht. sellschaft spricht, in der es eine alte und Dieter Rams, 1976
„Das ist der Prozess des Zusammenwach- eine neue Mittelschicht gibt, die Gefahr
sens. Der dauert lange und tut weh.“ laufen, wie Parallelgesellschaften neben-
Die hitzig diskutierte Frage, ob der Is- einander zu existieren: die Angehörigen
lam zu Deutschland gehört oder nicht, sei der ersten haben meist keine Universität
Ausdruck dieses Konflikts, aber auch des besucht und leben eher in den Klein- >

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4. Respekt

Eine aktuelle Studie der Stiftung Zentrum für Türkei-


studien und Integrationsforschung zeigt: Die Nach-
fahren türkischer Migranten fühlen sich Deutschland
heute weniger verbunden als noch vor 2010. Denn da-
nach folgten die Sarrazin-Debatte und der NSU-Skan-
dal, Pegida und AfD betraten die politische Bühne.
Viele Deutschtürken wandten sich ab, oft die, die bes-
tens Deutsch sprechen und gut verdienen.
Für El-Mafaalani sind das temporäre Rückschläge
im Prozess des Zusammenwachsens.
Und wie gibt es wieder Fortschritte? Bernd Simon,
Sozialpsychologe und Leiter der im September neu ge-
gründeten Forschungsstelle Toleranz der Universität
Kiel, sieht die Mehrheitsgesellschaft, sprich die altein-
gesessenen Deutschen, in der Pflicht. Einzufordern,
dass die Menschen die Lebensstile von Fremdgruppen
wertschätzten, bringe allerdings nichts. „Realistischer
ist die Forderung nach Toleranz“, sagt Simon, „Tole-
ranz setzt Ablehnung nämlich geradezu voraus.“ Sie
verlange aber auch, dass die Ablehnung gezügelt wird.
In seinen Studien, die Schwule und Lesben sowie
Muslime als gegensätzliche Pole eines kulturellen
Spektrums in den Blick nehmen, macht er Respekt als
entscheidende Größe aus, die gegenseitige Ablehnung
zähmen und so für Stabilität innerhalb der Gesell-
schaft sorgen könne. Simon stellte überdies bemer-
kenswerte Parallelen fest: Beide Gruppen fühlten sich
respektiert, wenn sie trotz ihrer Andersartigkeit als
gleich anerkannt wurden. Zudem zeigte sich, dass die
Wo früher Flugzeuge starteten, gibt es nun mehr als 300 Hektar Freiraum für Einstellung der Schwulen und Lesben umso positiver
Spaziergänge, Sport und Kunstprojekte: das Tempelhofer Feld gegenüber Muslimen war, je stärker sie davon ausgin-
gen, dass Muslime Schwule und Lesben respektierten,
städten, materiell durchaus gut gesichert und noch der Welt ver- und je stärker sie sich von der Gesamtgesellschaft als Gleiche
haftet, in der alle einen ähnlichen Lebensstil verfolgten. Sie mei- anerkannt fühlten. Das heißt: Wer selbst Respekt erfährt, erwi-
nen, nicht mehr mithalten zu können mit den Angehörigen der dert ihn beziehungsweise gibt ihn weiter, auch über Gruppen-
neuen Mittelschicht, die einen Wertewandel forcieren, weg von grenzen hinweg.
Normen, hin zu Selbstentfaltung, Kosmopolitismus, Vielfalt. Mit ihrer Identität als andersartige Gleiche unterbreiteten
Die Kluft lasse sich wunderbar an Berlin-Neukölln illus- Minderheiten der Mehrheitsgesellschaft ein Angebot, das diese
trieren, sagt El-Mafaalani. Für die einen sei dieser von unter- nicht ausschlagen sollte, sagt Simon. Durch Sarrazin, NSU, Pe-
schiedlichsten Milieus und Kulturen geprägte Stadtbezirk ein gida und AfD sahen viele Deutschtürken ihre Anerkennung in-
Sehnsuchtsort, was sich nicht zuletzt in den hohen Mieten frage gestellt. Ihre Zugehörigkeit zu betonen ist daher vor allem
widerspiegele. „Für die anderen hingegen, die eine historisch für Parteien und Regierende ein Gebot der Stunde.
gewachsene, Sicherheit versprechende Gleichheit als Bedingung
für Heimat verstehen, ist der Bezirk eher ein Gräuel.“ 5. Übersetzen, aushandeln, ringen
Auf eine Leitkultur, die für alle gelten soll, werde man sich
kaum einigen können. Je mehr wir uns der offenen Gesellschaft Und wie überzeugt man jene, die den Verlust von Heimat bekla-
annäherten, umso stärker würde die Gegenwehr, prophezeit El- gen, vom Respekt gegenüber Migranten und ihren Nachfahren?
Mafaalani. Der Konflikt sei unumgänglich und sollte, so seine Der Ethnologe Tilmann Heil empfiehlt Pragmatismus. Viel lehr-
Kernbotschaft, positiver wahrgenommen werden. „In einer of- reicher als Diskussionen über den konzeptionellen Überbau von
fenen Gesellschaft ist Streitkultur die beste Leitkultur.“ Gesellschaft sei der Blick auf das, was wirklich passiert, wenn

80 brand eins 12/18


Menschen aus verschiedenen Ecken der die Soldaten auf ihren Einsatz in der
Welt an einem Ort zusammenleben. Heil Fremde nicht genügend vorbereitet zu ha- TASKalfa
hat über einen längeren Zeitraum Begeg- ben. Daraufhin wurde sie als Beraterin Multifunktionssysteme
nungen von Einwanderern aus dem Se- angeheuert. Mit ihrem Mann erarbeitete
negal mit der bereits ansässigen Bevöl- sie für das kanadische Militär einen Kurs FARBBRILLANZ
kerung in Katalonien im Norden Spaniens zum kreativen Umgang mit Kulturschocks. FÜR KREATIVE
beobachtet. Dass die Afrikaner die frem-
de Sprache nicht perfekt beherrschten,
Den bietet sie in Bremen nun in abge-
speckter Form für jedermann an.
KÖPFE
sei kein Problem gewesen, so eine seiner Die Globalisierung lasse sich nun mal
Erkenntnisse. „Ein paar Brocken Kata- nicht aufhalten, sagt sie. Viele Leute seien
lanisch reichten, um Verständnis und An- bei Begegnungen mit fremden Kulturen
erkennung zu erzeugen.“ verunsichert, weil sie nicht wüssten, was
Große Bedeutung hatte das Grüßen. auf sie zukommt. „Wir haben aber ein an-
Insbesondere bei der älteren Generation geborenes Bedürfnis nach Vorhersehbar-
beinhaltet es ein Gespräch über die ganze keit und Sicherheit.“
Familie. Ein kurzes „Hallo“ oder nur Der Hauptteil ihres Kurses besteht
Kopfnicken gilt als respektlos. Heil beob- aus der Konfrontation mit Situationen,
achtete, dass die Senegalesen in Katalo- die Gerke selbst erlebt hat. Manche sind
nien schnell ein Gespür für die dort üb- vergleichsweise harmlos, wie die plötz-
lichen Formen des Grüßens bekamen, lich entstehende Unruhe unter den Be-
und sich so einen respektvollen Umgang wohnern eines madegassischen Dorfes,
erwarben und ihn auch einfordern konn- nachdem Gerke ein Foto von ihnen ge-
ten. Mit anderen Worten: Sie übersetzten macht und es ihnen gezeigt hatte. Andere
die eigenen sozialen Gepflogenheiten und sind bedrückend, wie der Moment, als sie
handelten mit den Katalanen ein für bei- in einem Auto sitzend beobachtet, wie
de Seiten akzeptables Miteinander aus. eine aufgebrachte Gruppe von Leuten
Auch Konflikte, etwa darüber, wie laut direkt neben ihr einen Mann fast zu Tode
man als Gruppe im öffentlichen Raum prügelt. Die Kursteilnehmer lesen einen
sein darf, nahm der Ethnologe als positiv Bericht über diese Szenen, der nur be-
wahr, weil sie, ganz im Sinne El-Mafaala- schreibt, was passiert. Die Erklärung für
nis, ein produktives Ringen im Prozess des das Verhalten wird offen gelassen.
Zusammenlebens sind. Resümierend sagt „Die Teilnehmer sollen einen Kultur-
Heil: „Es ist faszinierend zu sehen, wie schock erleben, eine Situation, in der die
Situationen zum Gefallen aller ausfallen, erlernten Routinen nicht weiterhelfen“,
obwohl zunächst kaum Gemeinsamkeit sagt Imme Gerke. Oft sei die Verunsiche-
vorhanden ist.“ rung förmlich zu spüren, „manche Teil-
nehmer werden ganz still oder gehen
6. Kulturschock kurz vor die Tür“. Mithilfe von Gesprä-
chen in Kleingruppen und Rollenspielen
Das bestätigt Imme Gerke, eine Verhal- gehe es dann darum zu erfahren, dass
tensbiologin, die Kurse für den Umgang man nicht hilflos ist, sondern die Situati-
Die brillante Farbqualität der TASKalfa A3-Multi-
mit Menschen fremder Kulturen anbietet. on verändern kann. funktionssyteme verleiht jedem Ausdruck Ihrer
kreativen Idee einen wirkungsvollen Eindruck.
Sie betont allerdings: „Das aktive Gestal- Gerke möchte, dass die Deutschen Be- Mit einer echten 1200-dpi-Auflösung und optimier-
ten solcher Situationen setzt gewisse gegnungen mit fremden Kulturen als be- tem Farbraum für mehr Tiefe in den Bildern wird
jede Präsentation zum Erfolg.
Kompetenzen voraus.“ reichernd empfinden. Ob man dafür einen
Gerke ist viel in der Welt herumge- Kurs braucht oder einfach die Bereitschaft, KYOCERA Document Solutions Deutschland GmbH
Infoline 0800 187 187 7
kommen, hat lange in Madagaskar und mal mit dem syrischen Nachbarn zu spre- www.kyoceradocumentsolutions.de
Westafrika gelebt. Nachdem in den chen, sei dahingestellt. Wenn sie von ihren KYOCERA Document Solutions Inc.
Neunzigerjahren eine kanadische Blau- eigenen Erlebnissen erzählt, lernt man je- www.kyoceradocumentsolutions.com
helmtruppe in Somalia einen Mann bru- denfalls eines: zu schätzen, wie Menschen,
tal gefoltert und ermordet hatte, warf die zu uns kommen, sich in der für sie
Gerke der kanadischen Regierung vor, fremden Kultur zurechtfinden. –

brand eins 12/18 81


„Wir sind doch Die Russen mögen
unfreundlich sein,

unter uns!“ distanziert sind sie nicht.

Text: Stefan Scholl


Illustration: Silke Weißbach

82 brand eins 12/18


• Jeden Abend das gleiche, vergebliche kas“, eine Mode, die der Sowjetstaat dik- und mache Volkstanz. Und wie heißt du?“
Ritual. Nach dem Zähneputzen lese ich tierte: unfreiwillige Wohngemeinschaften, Die Geschlechter nähern sich hier ohne
unserer vierjährigen Tochter etwas vor, in denen sich mehrere Parteien ein Quartier listige oder artige Umwege, dafür mit
dann der achtjährigen. Hinterher wird ge- teilen mussten, einen Korridor, einen Koch- Hochgeschwindigkeit. Schon beim ersten
betet, Licht aus. Geistig-moralisch sollten herd, ein Klosett. Die Enge war drangvoll, Geplauder spürt man oft den kurzen, zu-
beide nun bereit sein zum Einschlafen. laut, oft heftig umstritten, organisiert von gleich prüfenden und ermunternden
Doch stattdessen kichert es auf Russisch einer Obrigkeit, die 1931 für jeden Lenin- Druck einer jungen weiblichen Hand auf
aus dem Kinderzimmer: Meine russische grader neun Quadratmeter Wohnraum dem eigenen Oberschenkel. „Me too!“ ist
Frau kuschelt erst das eine Kind in den vorsah. Und noch immer werden nicht nur hier häufiger Aufforderung als Anklage.
Schlaf, dann das andere. Oft kuscheln und Einzelzimmer, sondern auch deren vier Die bösen Blicke der russischen Frauen
kichern auch alle drei gemeinsam. Und Ecken vermietet. Die Haus- oder Woh- erntet nicht, wer zu frech, sondern wer
meine Einwände, Kinder müssten doch nungstür, die man zwischen sich und dem nicht frech genug gewesen ist.
lernen, beim Einschlafen auch ohne Ma- Rest der Welt zuschlägt, ist in Russland In Russland ist alles möglich, alles
mas warme, weiche Haut auszukommen, keine Selbstverständlichkeit. zum Greifen nah, auch wenn es sich
bleiben ungehört. Russen sind nicht besonders höflich, eigentlich gegenseitig verbietet. Vielleicht
Nicht nur die Schlafgewohnheiten der Höflichkeit braucht Distanz. Dafür kom- weil die Leute hier jahrhundertelang so
Russen widersprechen dem westlichen men sie einander schneller nah. Sie emp- wenig Schranken, Sicherheiten und Sicher-
Konzept von menschlichem Miteinander, fangen Gäste, indem sie sie nötigen, ihre heitsabstände eingebaut haben. Prunk und
das auch zwischen Kindern und Eltern Schuhe auszuziehen und in zu weiche, zu
einen gewissen Abstand vorsieht. warme oder einfach albern aussehende
Russlands Einwohner verlieren sich Pantoffeln zu steigen. Und wenn die Gäste In Diskotheken
laut Statistik auf acht Seelen pro Quadrat- gute Bekannte sind, läuft die Hausfrau rempeln Mädchen
kilometer, von ihnen gibt es mehr als weiter im Morgenrock umher, ihr Mann
17 Millionen, eine Unendlichkeit, die laut trägt Trainingshose und ein schlichtes
gern Männer an
Rainer Maria Rilke schon an Gott grenzt. Unterhemd.
Umso mannigfaltiger zelebrieren die Rus- Das Halbangezogene, das Halbbe- Armut, Freiheit und Angst gehen Arm in
sen Nähe, umso mehr brauchen und er- schuhte öffnet sich hier ohne große Um- Arm, auch Tod und Leben. Auf dem holp-
tragen sie. schweife zu einem vertrauensvollen „Wir rigen Asphalt eines Omsker Bürgersteigs
Jeden Winter müssen sie außer weißer sind doch unter uns!“ Auch in Situatio- liegt jemand, schwarz und steif wie ein
Endlosigkeit noch sibirische Fröste aus- nen, in denen im westlichen Abendland Pfahl, in einem italienischen, aber abgeris-
halten. Ein Allgemeinplatz, ungefähr so alt noch einige Zeit hochgeknüpfte Unver- senen Anzug. Als sich der Notarzt über
wie die anschmiegsame Schlafkultur, die bindlichkeit angesagt wäre. ihn beugt, erwacht er plötzlich zu neuem
die bäuerlichen Großfamilien während Schwulsein gilt in Russland als Laster Leben, richtet sich auf, schwankt, fängt an
solcher Frostnächte auf den riesigen oder als Krankheit. Aber russische Män- zu fluchen. Und schlägt mit den Fäusten
Steinöfen in ihren Blockhäusern einübten. ner fassen sich an, noch vor gar nicht nach seinem Retter.
Diese Blockhäuser versammelten sich in langer Zeit küssten sie sich, auch auf den Russland lehrt alle Arten von Nähe.
Haufendörfern, deren Bewohner gemein- Mund. Unter zarischen Militärs galt der Auf den Autostraßen schießt das Ver-
sam ernteten oder fischten, Kinder erzo- Männerkuss als Auszeichnung für Unter- hängnis immer wieder mit tolldreisten
gen, neue Blockhäuser bauten, sich prü- gebene, die zu einem Sturmangriff auf- Überholmanövern einen halben Meter an
gelten oder betranken. Man hielt eng brachen. Und in den öffentlichen Banjas, einem vorbei. Das 20-Millionen-Konglo-
zusammen. den Bade- und Schwitzhäusern, schrub- merat Moskau ist das vielleicht größte
Das dörfliche Kollektiv schwebt noch ben und seifen nackte Russen einander Haufendorf der Welt. Auch wenn es längst
über vielen Großstädten Russlands. Mos- bis heute ein, verdreschen sich keuchend nicht mehr funktioniert – Moskau besitzt
kauer oder Petersburger organisieren auch vor Wonne mit feuchten Birkenruten. zu viel Masse und zu viel Geld für die alte
dort weiterhin sehr rustikale Netzwerke, Man hat keine Angst vor dem Schweiß, bäuerliche Nähe.
beim Geschäfte-Machen oder Chefposten- dem Atem der anderen. Man duldet sie Trotzdem passiert es, dass eine Mos-
Vergeben traut man Blutsverwandtschaft, auch aus der Nähe, ihre Blicke, ihre Be- kauer Oma jäh beginnt, mich auszu-
alter Kindheitsfreundschaft oder Eishockey- rührungen, ihre Geräusche. Das gilt für schimpfen: weil ich dachte, ich könnte
kameradschaft mehr als fremder Kompe- Männer wie für Frauen. mein Kind schon Ende April ohne Ski-
tenz. Zumal Russlands Städte ihre neuen In Diskotheken rempeln Mädchen Anzug und Schal ausführen. „Willst du,
Bewohner noch enger zusammenzwangen, gern Männer an, oder plötzlich steht dass die Kleine erfriert? Schäm dich!“ –
in Barackenwohnheime oder „Komunal- jemand lächelnd vor dir: „Ich bin Tanja

brand eins 12/18 83


84 brand eins 12/18
Nah dran

Der Demo-Reporter Martin Kaul geht auf Tuchfühlung mit dem Objekt seiner
Berichterstattung – ohne die notwendige Distanz zu verlieren.
eine Kundgebung von Rechtsextremen berichtet. Die wollten
mir mein Handy abnehmen und haben mich aus der Menge ge-
schubst. Aber es ist nicht der Regelfall, dass man verhauen wird,
und das sollte auch möglichst so bleiben.

Warum marschieren Sie bei Ihrer Berichterstattung über Demos


mit, statt Abstand zu halten?
Nah ranzugehen ist kein Selbstzweck. Eine klassische Latsch-
Demonstration im Livestream zu verfolgen klingt erst mal nicht
sonderlich spannend. Interessant wird es erst durch Kontext-
Informationen und durch Genauigkeit. Waren zum Beispiel
neulich in Köthen alle Demonstranten Rechtsradikale, mit wel-
chen Milieus haben sie sich gemischt? Und waren es wirklich
mehr als 2000 Demonstranten, wie die Polizei gemeldet hat,
oder nicht deutlich weniger? Da ist die eigene Beobachtung
wichtig.
Die Demonstration in Köthen fand statt, kurz nachdem in
Chemnitz Rechtsradikale nach einem mutmaßlichen Totschlag
durch Asylbewerber Menschen durch die Stadt gejagt hatten.
In Köthen gab es eine ähnliche Situation, Rechtsradikale hat-
ten dort sehr schnell mobilisiert. Wir wollten uns das ansehen.
Nach einem sogenannten Trauermarsch wurden dort offen
volksverhetzende, vermutlich auch strafrechtlich relevante Re-
Interview: Peter Laudenbach den gehalten. Das haben wir gefilmt und gestreamt. Ich war
Fotografie: Oliver Helbig näher dran als die Polizei, die zu diesem Zeitpunkt im inneren
Bereich der Kundgebung nicht präsent war. Ich weiß nicht, ob
die Polizei vor Ort hören konnte, dass mit diesen Redebeiträ-
• Martin Kaul geht beruflich zu vielen Demonstrationen. Der gen mutmaßlich Straftaten begangen wurden. Ich kann auch
Journalist, Jahrgang 1981, berichtet seit neun Jahren als Redak- nicht beurteilen, aus welchen Gründen die Polizei das nicht
teur der Berliner »Tageszeitung« (»Taz«) über soziale Bewegun- unterbunden hat. Aber aus journalistischer Sicht war es sinn-
gen. Seit er mit Livestreams arbeitet, hat er auch außerhalb der voll, sehr nah am Geschehen zu sein, um es ungefiltert zu
»Taz«-Leserschaft eine Fangemeinde. Seine Kunst besteht darin, dokumentieren.
sich unerschrocken ins Getümmel zu stürzen und trotzdem pro-
fessionell zu berichten. Seine Filme von Demonstrationen ver- Geben Sie mit diesem Stream rechtsradikaler Hetze nicht unge-
binden den Erklärstil der „Sendung mit der Maus“ („… und was wollt eine Plattform?
wir hier sehen, ist eine vorläufige Festnahme“) mit ausgesuchter Natürlich gibt es die Gefahr des Missbrauchs. Aber ist die Alter-
Höflichkeit und Ironie. native, meine Arbeit deshalb einzustellen? Wir haben später fest-
gestellt, dass die Polizei unser Live-Material als Lagebild genutzt
hat. Soll ich mich davon beeindrucken lassen? Nein. Ich kann
brand eins: Herr Kaul, wann wurden Sie bei Ihrer Berichterstat- nicht kontrollieren, wer unser Material wie nutzt. Das kann
tung zum letzten Mal körperlich angegangen? auch nicht der Maßstab der Berichterstattung sein.
Martin Kaul: Richtig heftig eigentlich nur einmal, das war im
Juli 2017 beim G20-Gipfel in Hamburg. Ich habe gefilmt, wie Als Redakteur der »Taz« dürfte Ihre politische Haltung gegenüber
im Schanzenviertel vier Vermummte einen Bankautomaten auf- Demonstrationen von Rechtsextremen eindeutig sein. Sind Sie in
brechen wollten. Das fanden die nicht so gut. Ich hatte die Ka- solchen Situationen eher Aktivist als Journalist?
mera eigentlich etwas versteckt gehalten, aber einer von ihnen Ich bin als Journalist erst mal Beobachter, und das möglichst
hatte sie gesehen. Er ist auf mich zugerannt und hat mit voller genau. Sicher, die »Taz« wurde aus sozialen Bewegungen heraus
Wucht zugeschlagen. Ich lag am Boden, Brille und Handy wa- gegründet und hat in ihrer Frühphase auch eigene Kampagnen
ren kaputt. Ich habe den Einsatz dann abgebrochen. Zuletzt gab initiiert. Aber in der journalistischen Arbeit, egal ob in Köthen,
es im September in Köthen eine kleinere Rangelei. Ich habe über bei G20 oder im Hambacher Forst, sind Demonstrationen und

86 brand eins 12/18


soziale Bewegungen nicht Freunde oder Gegner, sondern das Gab es auf Demonstrationen Szenen, die Sie gefilmt, aber bewusst
Objekt der Berichterstattung. Natürlich habe ich eine politische nicht verwendet haben, um die Gefilmten zu schützen?
Haltung, die kann auch jeder in meinen Kommentaren erken- Wenn Szenen an die Grenze der Menschenwürde gehen, sollte
nen. Und natürlich sage ich in einem Livestream, wenn in Kö- man sie nicht zeigen. Meine »Taz«-Kollegin Anett Selle hat von
then ein Rechtsextremist von einem „Rassenkrieg“ spricht und den Demonstrationen im Hambacher Forst berichtet. Während
dazu auffordert, „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ zurückzu- eines Livestreams sah man, wie im Hintergrund ein Mensch von
schlagen, dass es sich bei solchen Aussagen meiner Meinung einem Baum stürzt. Sehr schnell war klar, dass er den Sturz
nach um Volksverhetzung handelt. Aber meine politische Hal- nicht überlebt hat. Wir haben das Material sofort aus dem Netz
tung darf die Berichterstattung nicht verzerren. Wenn beim genommen und untersagt, dass andere diese Bilder verbreiten.
G20-Gipfel Demonstranten Straftaten begehen, sehe ich keinen Meine Aufgabe ist nicht, Sensationslust zu bedienen.
Grund, das nicht zu zeigen. Bei G20 in Hamburg hat das militante Lager bewusst Bilder
Vor Kurzem habe ich die Rollen gewechselt, als ich den der Eskalation inszeniert. Auf »N 24« konnte man im Splitscreen
Aufruf zu der Berliner #unteilbar-Demonstration unterzeichnet auf der einen Seite des Bildschirms das Innere der Elbphilharmo-
habe. Das mache ich sonst eigentlich nicht, eben um die Tren- nie mit den Gipfelgästen sehen, auf der anderen das brennende
nung zwischen Beobachter und Akteur sauber zu halten. Bei Schanzenviertel und vermummte Autonome. Diese Kontraste
dem sehr breiten #unteilbar-Aufruf war das anders, ich wollte waren ein von den Autonomen erwünschter Effekt. Das heißt
als Bürger und »Taz«-Redakteur Farbe bekennen. Aber das muss nicht, dass man die brennenden Autos nicht zeigen soll. Aber es
transparent sein. Wenn ich im Stream von der Demo berichte, ist nicht das ganze Bild. Ich habe bei G20 darauf geachtet, auch
mache ich also kenntlich, dass ich da nicht neutral bin. Wenn es durch die umliegenden, leeren Straßen zu fahren, die Perspektive
Nähen gibt, die die journalistische Distanz gefährden, muss zu wechseln, zu zeigen, dass eine Straße weiter ganz normaler
man das deutlich markieren. Alltag stattfindet. Es ist Unsinn zu sagen, das ganze Schanzen-
viertel brennt, wenn in einigen Straßen Autos brennen. Das ist
schlimm genug, aber man muss es nicht noch aufblasen. >
Manchmal ist Distanz also nötig, um den Blick zu schärfen. Druck wird das Wasser gesprüht, ist es ein Sprühnebel, oder
Distanz ist ein gutes Mittel. In Köthen zum Beispiel sind wir kann der Druck Demonstranten von der Straße zwingen? Geht
nicht erst mitten in der Demo auf Sendung gegangen, sondern der Wasserstrahl in die Luft, oder wird er direkt und hart auf
mehrere Hundert Meter davor. Man bekommt ein Gefühl von die Demonstranten gerichtet? Hier hat der Wasserwerfer das
der Umgebung, auch dafür, ob die Demonstration zum Beispiel Wasser mit sehr geringem Druck in die Luft gesprüht. Die Ein-
die örtliche Bevölkerung interessiert oder ob das eher auf Gleich- zigen, die nass wurden, waren die Polizisten. Das haben wir
gültigkeit stößt. Das relativiert das Geschehen. gezeigt.

Kriegsberichterstatter sprechen von einer Art Sucht nach dem Gehört zum Einhalten der notwendigen Distanz auch, dass Sie
Adrenalinkick bei gefährlichen Einsätzen. Kennen Sie das auch? in Ihren Berichten von Polizisten oder Polizeibeamten sprechen
Ich kann das verstehen, deshalb muss man da mit sich selbst und nicht, wie es früher ab und zu die »Taz« tat, von „Bullen“?
ehrlich sein. Mir selbst geht es aber nicht so, dass ich die nächste Ja, aber das ist eigentlich selbstverständlich. Polizeibeamte sind
Nazi-Demo gar nicht erwarten kann. Die Chance unserer Live- nicht mein Feindbild. Die machen ihre Arbeit, und hoffentlich
streams liegt oft gerade in der Enthysterisierung oder im Ver- machen sie sie gut. Meine Aufgabe ist es nicht, jemanden zu
such, etwas andere Geschichten zu erzählen als die in einem dämonisieren, sondern zu informieren, zum Beispiel über De-
Fernsehbeitrag von 90 Sekunden. monstrationsrecht, Polizeieinsatzrecht oder Presserecht auf De-
Am Dienstag vor dem G20-Gipfel gab es ein sogenanntes monstrationen.
hedonistisches Massencornern, die Leute standen auf der Straße Ein klassisches Beispiel ist eine Sitzblockade, also Wider-
und tranken Bier, eine völlig entspannte Situation. Die Polizei stand. Die Polizei darf Widerstand brechen. Die Mittel, die sie
hat sie dann gebeten, ihr Bier nicht auf der Straße, sondern einsetzt, müssen angemessen und verhältnismäßig sein, von
nebenan in einem Park zu trinken. Irgendwann ist die Polizei mit Wegtragen bis Wasserwerfer. Ein trainiertes polizeiliches Mittel
Wasserwerfern aufgefahren, hat begonnen, Wasser zu versprü- ist ein Schmerzgriff auf die Nase, bei der die Nase hoffentlich
hen. Eine Agentur-Meldung lautete dann etwa so: „Polizei setzt nicht bricht. Die Schmerzen sind heftig, in der Regel lassen sich
Wasserwerfer ein.“ Auf den Zeitungsfotos sah das am nächsten die Leute dann los, wenn sie untergehakt auf dem Boden sitzen.
Tag aus wie das klassische Wasserwerfer-Krawall-Bild. Bei uns Dann wird gern reflexhaft „Gewalt! Scheißbullen …“ gerufen.
im Livestream konnte man sehen, dass die Situation wesentlich Viele wissen nicht, dass dieser Griff geübte Polizeiroutine und
ruhiger war. Und wir können Details zeigen: Mit welchem kein Gewaltexzess ist.
Unabhängig davon, ob man das gut oder schlecht findet und
wie immer man die Angemessenheit in der jeweiligen Situation
Der Reporter im Einsatz bewertet, geht es erst mal darum, das einzuordnen und zu schil-
dern. Ein Urteil kann sich dann ja jeder selbst bilden. Aber ein
regelkonformer Schmerzgriff zur Auflösung einer Sitzblockade
ist etwas anderes, als wenn ein Polizist einem Demonstranten
einfach so in den Bauch tritt, wie wir es im September am Kott-
busser Tor in Berlin gesehen haben. So etwas ist unverhältnis-
mäßig, das muss zu Ermittlungen und gegebenenfalls zu straf-
rechtlichen Konsequenzen führen.

Sind Ihre Demo-Livestreams auch ein Marketing-Instrument?


Weil wir über Nähe reden, würde ich eher sagen, sie schaffen
eine andere Verbindung zum Nutzer. Im Marketing-Deutsch
würde man sagen, sie stärken die Leser-Blatt-Bindung. Wir
experimentieren da noch, aber wir wollen diese Art der Bericht-
erstattung ausbauen. Wir erreichen damit Leute, die die »Taz«
bisher nicht lesen. Und die Zahl der Nutzer, die freiwillig für
Abbildungen: Martin Kaul

unser Online-Angebot zahlen, wächst deutlich, das nennt sich


„Taz – zahl ich“. Allein im September hatten wir 700 neue An-
meldungen von Nutzern, die jetzt etwas zahlen, so viele wie in
keinem Monat davor. Nicht alle, aber viele von ihnen beziehen
sich auch auf diese Livestream-Angebote. –

88 brand eins 12/18


Der Schülerwettbewerb Wirtschaft und Finanzen 2018/19

PR E IS E
WE RT IM
VON Ü
50.000 ER B

G E WI N
N
€
EN

Ist Inflation schädlich oder ein Segen? Und wem hilft Deflation? Wir prämieren
die kreativsten Schülerarbeiten zum Thema „Was ist unser Geld wert?“.
Informationen und Anmeldung unter econo-me.de · Einsendeschluss 28.02.2019

Schirmherrschaft: Didaktikpartner: Initiatoren:


Meine
• Caroline Scheff begrüßt die Gast-
geberin wie eine alte Vertraute. „Vor-
sicht, nicht zu nahe kommen, ich bin

Lieben!
erkältet“, sagt Anke noch, aber da hat
Scheff sie schon umarmt. Es ist 19 Uhr
an einem Dienstag. Anke, die vor
Kurzem bei Scheff ein Thermomix-
Küchengerät gekauft hat, hat einige
Auf Thermomix-Partys und beim Frauen – Inge, Hilde, Iris und Anja –
Influencer-Marketing behandeln Verkäufer zu einer Verkaufsparty zu sich nach
ihre Kunden wie Freunde. Hause eingeladen. Und Caroline
Scheff? Kommt rein, legt ab, besetzt
die Küchenablage. Zwei Minuten spä-
Ist das in Ordnung? ter nennen sie alle Caro.
Nichts mit „Was wünschen die
Dame?“ oder „Kann ich Ihnen behilf-
Text: Klaus Raab lich sein?“ – auf der Verkaufsparty gibt
Collage: Mathieu Bourel es erst mal Weißwein und Smalltalk,
und dann wird über Generationsgren-
zen hinweg geduzt. Der Plan für den
Abend lautet: ein Fünf-Gänge-Menü zubereiten, selbst gebacke-
nes Brot inklusive, und gemeinsam essen. „Ich hoffe, ihr habt
Hunger mitgebracht“, sagt Scheff, auf deren Oberteil glitzernd
„Thermomix“ steht. Alles andere als ein allgemeines Du würde
in dem Rahmen unangemessen wirken. So beginnt die Kunst
des Verkaufens unter Freunden.
Andere Generation, andere Veranstaltung: Influencer-
Marketing. Vreni Frost hat vor Kurzem bei Instagram ein Foto
dreier Taschen gepostet. Darunter schrieb sie: „Mein lieber
@kiliankerner_ hat gemeinsam mit @mysamsonite eine weitere
Taschenkollektion gelauncht.“ Sie setzte ein Bizeps- und ein
Herzsymbol und schrieb: „Me Likey“. Es klang wie eine Emp-
fehlung an Freunde, wie sie in den sozialen Medien üblich ist:
Leute, schaut, was mein alter Freund Tolles gemacht hat! Vreni
Frosts Posting aber war Reklame. Sie verschleiert das nicht, das
Posting beginnt mit dem Hinweis „[Werbung]“. Und doch, was
auffällt, ist dieser fast zärtliche Ton: „lieb“, dazu das Herz. Der
Designer, Kilian Kerner, dankte Frost mit Herzchen, Küsschen
und verliebtem Smiley und schrieb: „danke dir liebes“. Insta-
gram-Nutzerinnen stimmten in den Kommentaren in den Sound
ein: „wundervoll“, fand eine. Eine andere lobte eine Tasche: „Oh
die blaue ist ein Traum.“ >
Es ist Werbung, die wirkt wie ein Gespräch un-
ter Freunden. Eine Art Verlängerung der Verkaufs-
party in die sozialen Medien.
Die Bloggerin Vreni Frost sitzt an einem Herbst-
tag auf einer Couch in einem gläsernen Bespre-
chungsraum in Berlin und erklärt, was sie tut.
Hauptsächlich verdient sie ihr Geld mit klassischen
Advertorials, Blog-Posts mit Social-Media-Verlän-
gerung, Instagram-Storys und -Posts. Manches,
was sie sagt, könnte aber schon vor Jahrzehnten
jemand gesagt haben. Etwa dass sie „Werbung für
Produkte mache, mit denen ich mich identifizieren
kann“.
Das ist eine brauchbare Definition von Influen-
cer-Marketing: Es funktioniert am besten, wenn
man den Werbebotschaftern abnimmt, dass sie die
jeweilige Marke selbst gut finden. Marilyn Monroe
hat 1952 nichts anderes behauptet, als sie in einem
Interview einfließen ließ, welches Parfüm sie be-
nutzt. Vermutlich hätte sie nicht glaubwürdig über
Motorenöl sprechen können. Chanel No. 5 dagegen
fügte sich organisch in ihren Gesamtauftritt.
Allerdings hat sich durch die sozialen Medien
das Verhältnis von Vorbild und Fan verändert.
Stars sind wie funkelnde Sterne, die man anhimmeln kann.
Aber weit weg. In der medienpsychologischen Forschung ist von
Die gut sichtbare Kennzeichnung werblicher Instagram-Posts als Wer-
parasozialen Beziehungen die Rede: Gerade Teenager entwi- bung oder Anzeige soll Nutzer schützen. Cornelia Holsten ist die
ckeln mit diesen abgehobenen Figuren oft eine Verbundenheit, Vorsitzende der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten und
die einer Freundschaft ähnelt. Bei Influencern ist das anders. steht der Kommission für Zulassung und Aufsicht vor, dem zentralen
Organ der Medienanstalten, das Verstöße gegen Werberegeln beur-
Nahbarkeit und Zugänglichkeit, sagt Vreni Frost – darum gehe teilt. Sie sagt: „Die Idee der Werbekennzeichnung ist, dass ein ‚Obacht‘
es. „Du kannst der Person schreiben, du kannst einen Kommen- ausgesprochen wird wie ein Ausrufezeichen. Jeder muss erkennen
tar absetzen. Das ist das Tolle“, sagt sie. „Ich antworte praktisch können, ob er gerade Werbung sieht. Und das ist bei Influencern be-
auf jede Privatnachricht, die ich bekomme.“ Die großen Insta- sonders wichtig, weil die Zielgruppe jung ist und damit ganz besonders
schutzbedürftig.“ Das Prinzip sei einfach: „Wo Werbung drinsteckt,
gram-Accounts heute seien zwar „durchgestylt wie ein Hoch- muss Werbung draufstehen. Wenn keine Werbeabsicht vorliegt, braucht
glanzmagazin“, und wer Millionen von Followern habe, sei auch es natürlich auch keine Kennzeichnung als Werbung.“
kaum noch wirklich für jeden erreichbar. „Aber die Nahbarkeit
Nur kursieren derzeit unterschiedliche Ansichten darüber, was eine
ist trotzdem noch da, auch weil viele Influencer die direkte An-
Werbeabsicht ist. Wie viele Instagramer ist Vreni Frost in diesem Jahr
sprache pflegen.“ von einem Verband wegen dreier Fotos abgemahnt worden.
Eine Ansprache, mit der man bei Instagram nicht auffällt, ist Darauf hatte sie die Hersteller von Accessoires und der Kleidung, die
etwa „Meine Lieben“. Man sieht Frauen, die in Tracht auf einer sie trägt, verlinkt. Das sei werblich, monierte der Verband. Frost
argumentiert: Erstens habe sie sich die Sachen privat gekauft. Zweitens
Waschmaschine sitzen, und welche, die Pflegeprodukte auf ihrem sei es „das Prinzip von Social Media“, sich zu vernetzen und andere
Babybauch balancieren. Darunter liest man Kommentare, die Accounts zu taggen. „Wenn ich mir eine Computer-Fachzeitschrift
Zweifel daran wecken, dass in sozialen Netzwerken wirklich Hate kaufe, will ich doch auch wissen, was ein Teil kostet, das da vorgestellt
Speech dominiert. „Tolles Outfit, meine Liebe“, steht da. „Luv wird, und wo es das gibt.“
Doch das Landgericht Berlin hat im Mai eine einstweilige Verfügung
your style du süße maus“. Oder „Wooow! Sieht toll aus hab einen ausgesprochen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Aber Frost will
schönen Dienstag“. Man geht miteinander um wie mit wirklich sichergehen. Seitdem kennzeichnet sie ausnahmslos alle Instagram-
guten Freundinnen. Love Speech. So verkaufen Influencer Pro- Beiträge als Werbung. Sogar Fotos ihrer Kater. Die Kennzeichnungs-
pflicht, die doch eigentlich dem Schutz von Nutzern dienen solle,
dukte und Markenbotschaften an Social-Media-Freunde.
sagt sie, sei dadurch „für die Katz: Im Moment kennzeichnen alle alles,
Die Frage ist nur: Ist es für die, die sich auf solchen Partys und die Gefahr ist, dass der Werbebegriff verwässert“. In der
oder auf Influencer-Accounts tummeln, in Ordnung, dass sie Branche wird mit Spannung erwartet, wie das Verfahren ausgeht.

92 brand eins 12/18


sich auf einem Marktplatz befinden, obwohl geredet wird wie Geräts zu schwärmen. Hilde und Inge dagegen, die Älteren in
bei einer Pyjamaparty? der Runde, gehen schon in Abwehrposition, bevor es ange-
schaltet wird: „Wir haben eine kleine K¾chenablage, wir haben
„Es gibt ein Gschmäckle“ eh keinen Platz dafür“, sagt Hilde, und Inge nickt. Lieber vor-
beugen, damit nicht hinterher jemand sagt, sie hätten jetzt für
Die Betriebswirtschaftlerin Claudia Groß von der Universität lau gegessen.
Nijmegen in den Niederlanden beschäftigt sich seit vielen Jahren Claudia Groß sagt: „Das Problem, das ich sehe, ist, dass eine
mit Verkaufsstrategien von Direktvertriebsunternehmen. Sie Verkaufsparty überhaupt nicht angenehm sein muss. Wie schafft
sagt, solche Verkaufspartys hätten „schon etwas mit Gemein- es ein Unternehmen, mir Sachen zu verkaufen, die womöglich
schaft zu tun, mit Liebe zum Produkt“. Darin, glaubt sie, ähnel- überteuert sind? Natürlich weil ich in einer Verkaufssituation
ten die Partys Instagram-Communitys. „Wenn man jemandem bin, in der ich nicht vergleichen kann und den sozialen Druck
folgt, also Teil einer Fangruppe ist, dann gehört man da dazu.“ fühle, auch etwas zu kaufen.“
Die vielen Fotos, die unter Hashtags wie #thermomix gesam- Tatsächlich sind die Erwartungen ein Thema unter den Gäs-
melt werden, zeugen davon, dass es auch in dem Fall eine echte ten. Anke, die Gastgeberin, sagt, das sei ihr aufgefallen, als sie
Gemeinschaft gibt. Das Küchengerät verbindet Menschen. Und die Einladungen ausgesprochen habe: „Es gab das Problem, dass
doch, sagt Groß: „Es gibt, wie man bei meiner Mutter im viele glauben, dann müssen sie so ein Ding kaufen.“ Iris: „Ich
Schwäbischen sagen würde, ein Gschmäckle. Freundes- und habe mich das schon auch gefragt.“ Anke: „Das denken alle.
Bekanntenkreise zum Verkaufen zu nutzen finde ich einfach Aber nee, sag’ ich, du sollst nur kochen kommen.“ Iris: „Das hat
fragwürdig.“ Ein schöner Abend, der in eine Abrechnung ein- mir dann auch eingeleuchtet. Bei Tupper-Partys gibt es ja auch
geht; ein Herzchen-Posting, das einer ökonomischen Logik folgt etwas Kleines, dann kauft man halt irgendwas. Aber hier gibt es
– das passt dann doch nicht wirklich. ja nur ein einziges Gerät, das mehr als tausend Euro kostet.
Die Ambivalenz spürt man bei Ankes Thermomix-Abend. Natürlich kann niemand davon ausgehen, dass man das einfach
Iris und Anja beginnen irgendwann selbst von den Vorzügen des kauft, ohne noch mal darüber nachzudenken.“ >
Zefix! Tischkalender 2019

ZEFIX !
Immer des
Jetzt
Gschiss mit dem
sicher
n! Jahreswechsel.
Wie Sie schon immer schimpfen wollten, aber noch nie zu fluchen wagten.
Mit dem neuen bayerischen Fluch- und Schimpfkalender 2019 ist das jetzt
möglich. Zefix! gibt es als Tisch- und Wandkalender, als Fluchbuch, als
Memo-Spiel, als Fuizln-Domino, als Biergartenführer und als Buchsackerl.

Zefix! Tischkalender 2019 | Format: 21 x 21 cm | ISBN: 978-3-86497-451-9


136 Seiten | 18,90 €
Zefix! Wandkalender 2019 | Format: 44 x 48 cm | ISBN: 978-3-86497-452-6
13 Seiten | 24,90 €
Ein Angebot der Süddeutschen Zeitung GmbH,

Überall im Handel erhältlich und im ServiceZentrum der Süddeutschen


Zeitung, Fürstenfelder Str. 7, 80331 München. Solange der Vorrat reicht.
Zefix! Wandkalender 2019
Hultschiner Str. 8, 81677 München.

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Bei den vom Hersteller Vorwerk initiierten Thermomix-Par- Juice Plus könne man diese Lücke schließen.“ Der Verkäufer
tys ist der soziale Druck tatsächlich niedriger als bei ähnlichen machte ihr Hoffnung auf einen guten Verdienst, wenn sie die
Veranstaltungen mit Produkten anderer Unternehmen, auch Produkte verkaufe. Drei Freunde – auch ihn – habe sie darauf-
weil die Gastgeberin hier kein Geschenk bekommt, dessen Wert hin als neue Mitarbeiter gewonnen. „Alle haben ihr zuliebe mit-
sich am Umsatz eines Kochabends bemisst. Keine Freundin, gemacht“, sagt Kehl. Er sei allerdings längst überzeugt, dass das
kein Freund muss der Gastgeberin zuliebe kaufen. „Das Risiko Produkt „keinerlei Wert hat. Diese Vitaminlücken gibt es ein-
bleibt komplett bei uns“, sagt Caroline Scheff. Sie ist selbst- fach nicht.“
ständig wie die meisten Unternehmensrepräsentantinnen in der Der Glaube an die Wirksamkeit aber werde intern so stark
Direktvertriebsbranche; rund 12 000 sind laut Vorwerk in gefördert, dass eine Auseinandersetzung kaum stattfinde. Seine
Deutschland allein freiberuflich für Thermomix tätig. Sie be- Freundin sei einmal wirklich sauer auf ihn gewesen, als er Zwei-
kommt eine Provision für jedes Gerät, das sie verkauft. „Wenn fel formuliert habe. Michael Kehl sagt, er sei nur noch nicht aus-
niemand etwas kauft, habe ich Pech gehabt.“ gestiegen, weil er nicht wolle, dass seine Freundschaft zerbreche.
Sie hat Glück. Iris ist interessiert und erkundigt sich nach den Mittlerweile merke die Freundin aber selbst, „dass sich ihr
Konditionen. Scheff hat ein Spezialangebot. Und ein weiteres Traum vom guten Geld nicht erfüllt“.
Erlebniskochen bei Iris zu Hause gäbe es ohnehin inklusive, mit Juice Plus hat auf den Vorwurf, die Mitarbeiterin sei über
neuen Gästen, dann aus Iris’ Bekanntenkreis. „Da brauche ich Verdienstmöglichkeiten getäuscht worden, schriftlich reagiert:
drei Kaufwillige?“, fragt sie. „Nein, nein, keine Kaufwilligen“, Man sei „ehrlich bestürzt“, heißt es. Sollte der Vorwurf zutref-
sagt Caroline Scheff. „Es wäre gut, wenn drei Haushalte vertre- fen, läge ein „Verstoß gegen unsere Verhaltensregeln vor“. Es
ten wären, die noch keinen Thermomix haben. Aber bitte nie- dürfe nicht der Eindruck erweckt werden, „ein bestimmtes Ein-
manden fragen, ob er einen kaufen will. Wir kochen nur, und kommen sei garantiert oder einfach zu erreichen“.
ich zeige dir ein paar Tricks am Thermomix. Ganz entspannt.“ Claudia Groß hält das Produkt für den Direktverkauf für un-
So wird, das ist der gewünschte Effekt, das Netzwerk an poten- geeignet: Menschen ohne medizinische Befähigung sollen ihren
ziellen Kunden mit jedem Verkauf größer. Freunden und Bekannten Nahrungsergänzungsmittel andrehen.
Das Problem der geringen Einkommenschancen sieht sie bei
Ein Geschäft, das Freundschaften zerstört allen derartigen Unternehmen. Tupperware oder Thermomix
sind nach Ansicht von Groß ungefährlich. Wer zu einem Erleb-
Sogenannte Multi-Level- oder Network-Marketing-Unterneh- niskochen geht, weiß, dass dort ein Produkt verkauft wird. Und
men beuten die sozialen Beziehungen ihrer Vertreter aus. Sie dass man das auch problemlos lassen kann.
halten diese nicht nur dazu an, Produkte an Freunde und Be- Wissen das die Kinder, die sich auf Youtube und Instagram
kannte zu verkaufen. Sondern auch dazu, dort weitere Verkäufer tummeln, auch?
zu rekrutieren, um an deren Umsätzen mitzuverdienen und so Cornelia Holsten ist die Direktorin der Bremischen Landes-
weiter und so fort. Bei den Verkäufern ganz unten bleibt erheb- medienanstalt; Werbeaufsicht und Medienkompetenzförderung
lich weniger hängen als ganz oben. Im schlimmsten Fall bekom- gehören zu ihrem Beruf. „Vor ein paar Wochen hatte ich ein
men sie die Ausgaben für die Produkte nicht mehr zurück. Gespräch mit einer Neunjährigen, die mir von Youtube erzähl-
Der Grat zwischen einem legalen Modell und einem illegalen te“, sagt sie. Das Mädchen schaue Beauty-Videos und wisse, dass
Schneeballsystem, bei dem die Anwerbung neuer Mitarbeiter im die Influencerin auch Werbung macht und deshalb ganz reich ist,
Vordergrund steht, kann schmal sein. Amway und Herbalife, aber sie gucke sie trotzdem. „Ein schön aufgeklärtes Kind.“ Das
zwei der bekanntesten dieser Unternehmen, standen in den USA Problem sei, dass so viel Medien- und Werbekompetenz nicht
schon im Verdacht, illegal zu agieren; Herbalife musste einen selbstverständlich sei. Sie gehe auch in Schulklassen, sagt Hols-
dreistelligen Millionenbetrag an ehemalige Direktvertriebler ten, und da gebe es „auch viele, die den Tränen nahe sind, wenn
zurückzahlen, die Geld verloren hatten. Doch selbst wenn ein ich ihnen sage: Das sind nicht eure Freundinnen. Die schreiben
Unternehmen sich im legalen Rahmen bewegt, kann das Ver- unter ein Posting, ‚ich hab’ euch lieb‘. Aber nicht weil sie euch lieb
kaufen an Freunde dazu führen, dass man irgendwann keine haben, sondern weil sie Geld dafür bekommen.“
Freunde mehr hat. Dass es einen Zusammenhang zwischen Freundschaft und
Michael Kehl (Name geändert) hat beim Unternehmen Juice Geld geben könnte, muss man wohl lernen. Es ist nicht die
Plus erfahren, wie es Freundschaften verändern kann, wenn schönste Lektion des Lebens. –
man sie mit Geschäftsmodellen verwechselt. „Eine Freundin
hat jemanden getroffen, der ihr sagte, Obst und Gemüse wür-
den nicht reichen, um den Vitaminbedarf zu decken, weil sie
überzüchtet seien. Mit den Nahrungsergänzungsmitteln von

94 brand eins 12/18


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„Wir versichern uns
gegenseitig,
dass wir liebenswert
sind“

Was bedeutet Freundschaft in Zeiten von Facebook?


Antworten gibt der Philosoph Björn Vedder.

Interview: Nils Wischmeyer


Fotografie: Jens Schwarz
gemein geliebt werden. Das bedeutet, die Anerken-
nung erzeugt er selbst, indem er den Erwartungen
der Gesellschaft entspricht.

Und heute?
Im späten 18. Jahrhundert beginnt sich die moderne
Persönlichkeit zu entwickeln. Die allgemeine Liebe
reicht uns seitdem nicht mehr. Der Mensch will etwas
Besonderes sein, etwas Einzigartiges, und dafür ge-
liebt werden. Wir versichern uns also gegenseitig,
dass wir liebenswert sind. Das ist die Essenz moder-
ner Freundschaften. Diese Bestätigung suchen wir in
herkömmlichen Freundschaften, die in Zahl und
Qualität übrigens dieselben wie früher sind, und in
sozialen Netzwerken. Über sie bekommen wir die
quantitative Anerkennung.

Wie hat sich die Idee der Freundschaft historisch sonst


noch verändert?
Bis ins 19. Jahrhundert, etwa zu Zeiten der Roman-
tik, galt die viel besungene Freundschaft in der Not.
Oder auch die Idee der Kameradschaft. Beides sind
Konzepte, die nicht so stark auf Anerkennung, son-
dern auf Verbrüderung beruhen: Ich habe dir gehol-
fen, jetzt hilfst du mir. Das ist in Systemen ohne so-
ziale Absicherung wichtig, hat sich aber überlebt.

„Der Mensch will etwas Besonderes sein“: Björn Vedder am Ammersee Warum?
Wenn wir uns heute am Konzept der Freundschaft
in der Not orientieren und trotzdem vom Freund in-
brand eins: Herr Vedder, wie wichtig ist Freundschaft? dividuelle Anerkennung bekommen möchten, ist das fatal. Wir
Björn Vedder: So wichtig wie noch nie. Wenn Sie Menschen können uns dann nicht sicher sein, ob der Gefallen nun eine
fragen, was ihnen wichtig ist, liegt sie meist auf den vorderen Dienstleistung ist oder die Suche nach Anerkennung. Es entsteht
Plätzen. Sie ist oftmals wichtiger als die Liebe oder auch die Kar- das Problem der Heuchelei. Denn wir tauschen dann zwar
riere. Denn diese Beziehungen erodieren, während die Freund- Dienstleistungen, tun aber so, als wären wir dem anderen aus
schaft als beständig gilt. reiner Liebe behilflich. Wenn wir davon ausgehen, dass alles von
Anerkennung bestimmt wird, klingt das narzisstisch. Aber es ist
Was macht sie aus? zumindest ehrlich und zunächst einmal weder gut noch schlecht.
Freundschaften sind Beziehungen, die auf gegenseitiger Aner-
kennung beruhen und über die wir uns versichern, dass wir lie- Wie sähe die schlechte Seite aus?
benswürdig sind. Danach streben wir auf zwei Arten: Es gibt Im schlimmsten Fall wird ein Gegenüber zum bloßen Spiegel.
zum einen den Wunsch, von wenigen Menschen, die wir sehr Wenn das der Fall ist, findet man nie die Anerkennung, die man
gut kennen, anerkannt zu werden. Das ist die qualitative Bestä- sucht – und wird unglücklich. Einseitige Anerkennung ist nichts
tigung aus dem engen Kreis der Freunde. Andererseits gibt es wert und frustrierend, aber es gibt natürlich Beziehungen, die
die quantitative Bestätigung, bei der wir von möglichst vielen genau darauf hinauslaufen. Dann ist der Narzissmus schlecht.
möglichst häufig, aber oberflächlich anerkannt werden wollen.
Ist Narzissmus das nicht per se?
Ist also Anerkennung der entscheidende Antrieb? Auf keinen Fall. Narzisstische Freundschaften haben auch eine
Das war sie schon immer. Die Art der Anerkennung aber hat große moralische Qualität. In meinen Augen sind meine Freun-
sich geändert. Früher galt: Der Mensch will zunächst einmal all- de immer ein bisschen größer, besser und schöner, ich idealisiere

98 brand eins 12/18


sie, weil ich von möglichst tollen Menschen anerkannt werden greift. Nur über Kommunikation kann man eine intime Bezie-
will. Das ist etwas Schönes. Auf der anderen Seite frage ich hung niemals herstellen.
mich: Was ist an mir liebenswert? Und hebe das hervor. Wenn
ich von anderen Menschen geliebt werden will, muss ich aus mir Das widerspricht aber Ihrer These, dass Facebook-Freunde echte
jemanden machen, der für andere liebenswert ist. Der Narziss- Freunde sind.
mus macht uns in diesem Fall zu besseren Menschen. Das eine schließt das andere nicht aus. Es gibt eben die beiden
Strategien, Anerkennung zu erlangen – und deswegen auch
Welche Rolle spielt Facebook dabei? unterschiedlich intime Freundschaften. Wir brauchen beides
Das soziale Netzwerk hat eine Doppelrolle: Zum einen hält es und nehmen die physischen Freunde auch gern mit ins Virtuelle.
uns den Spiegel vor, zeigt uns, wie narzisstisch wir sind. Zum
anderen bestärkt Facebook unseren Wunsch nach Geltung, Und was bringt das?
nach Anerkennung, nach Liebe um unser selbst willen. Je einfa- Digitale Medien erleichtern die Pflege der Freundschaften. Auch
cher es für mich ist, den Wunsch nach Anerkennung zu befrie- wenn alle aufgrund ihrer individuellen Lebenswege in unter-
digen, desto mehr werde ich das nutzen – und bei Facebook ist schiedliche Städte und Länder ziehen, kann man Kontakt hal-
das sehr einfach. ten. Das ersetzt den physischen Kontakt nicht, aber es kommt
dem sehr nahe. Eigentlich ist das wie eine Briefkultur, nur war
Verlieren wir uns immer stärker in diesem digitalen Spiegel- deren Intimität damals den Eliten vorbehalten, heute ist das
kabinett? durch das Internet demokratisiert.
Der Wunsch nach Anerkennung kann zumindest quantitativ nie
gestillt werden. Wer also ausschließlich auf Facebook nach An- Das heißt, Facebook rettet Freundschaften, die sonst endeten?
erkennung sucht, wird nie vollends befriedigt werden. Mein Vater hat sein halbes Leben mit Manni Fußball gespielt.
Der Manni hat die Flanken gegeben, und mein Vater hat ver-
Auch der ständige Vergleich kann einen runterziehen. sucht, ein Tor zu machen. Dann ist mein Vater weggezogen und
Wir stehen in einem ständigen Konkurrenzkampf um Aufmerk- hat den Manni nicht mehr gesehen, und mit dem Austausch ist
samkeit, genauso wie Nachrichtenseiten. Niemand schreibt heu- auch ihre Freundschaft verschwunden. Solche Beziehungen sind
te mehr: „Björn Vedder … fährt jetzt U-Bahn.“ Das ginge unter. dank digitaler Kanäle heute konstanter.
Facebook funktioniert ja nach dem Prinzip: Wer Likes hat, dem
wird gegeben. Daran orientieren wir uns und versuchen, mög- Wenn wir so viele Möglichkeiten haben, Freundschaften zu pfle-
lichst auffällige Posts zu setzen. Das ist nicht zwangsweise gen: Warum sind dennoch viele Menschen unglücklich?
schlecht. Denn wir überlegen uns: Was ist denn liebenswürdig, Weil in ihren Köpfen noch die alten Ideale vorherrschen: von der
wofür kriege ich Likes? Das hilft zu reflektieren und führt mir Freundschaft in der Not und der Kameradschaft beispielsweise.
vor Augen, dass ich mich zu jemandem machen muss, der tat- Diese Konzepte passen nicht zum modernen Menschen. Solange
sächlich liebenswert ist. wir unsere Vorstellung von der Freundschaft und unsere Erwar-
tungen nicht an die heutige Zeit anpassen, können wir nicht
Waren unsere Großeltern weniger narzisstisch? Deren Kegelbahn- glücklich werden.
Freundschaften halten schließlich immer noch, und unglücklich
wirken sie damit nicht. Jetzt kennen wir uns ein paar Stunden. Ich schicke Ihnen dann
Ich glaube, es gab damals einfach weniger Möglichkeiten, um eine Facebook-Anfrage, okay?
Anerkennung zu buhlen. Sonst hätten sie das auch gemacht. Der Oh, danke, das freut mich.
italienische Filmemacher Federico Fellini erzählt aus seiner
Kindheit in Italien, wie er abends mit der Mutter flanieren ging Ist das nicht verrückt?
und sie ihn ermahnte, er solle nicht mit dem Finger in der Nase Überhaupt nicht. Das ist großartig. –
bohren, sondern sich die Frauen anschauen. Man hatte sich he-
rausgeputzt, flanierte im besten Staat und wollte zeigen: Schau,
ich bin schön, erkenne mich an.

Wenn es in sozialen Netzwerken so einfach ist – warum suchen wir Björn Vedder, 42,
ist Philosoph, Publizist und Kurator. Er beschäftigt sich mit
überhaupt noch irgendwo anders nach Anerkennung und Liebe?
Phänomenen der Gegenwart und hat 2017 das Buch „Neue Freunde –
Weil wir den physischen Kontakt brauchen. So richtig kennen Über Freundschaft in Zeiten von Facebook“ veröffentlicht.
kann man sich nur, wenn man sich auch mal anfasst, also be- Vedder lebt mit seiner Familie in Herrsching am Ammersee.

brand eins 12/18 99


Geschätzte Zahl der Deutschen,
die einen Chip unter der Haut tragen,
um damit beispielsweise ihre 4000
Nähe und Haustür zu öffnen

Distanz Anteil der Deutschen, die sich vorstellen


können, einen Gesundheits-Chip unter der

in Zahlen Haut zu tragen, in Prozent 19

Zusammengestellt
von Ingo Eggert

Durchschnittliche Dauer eines Direktflugs


von New York nach Houston im Jahr 1973, in Minuten

Durchschnittliche Dauer eines Direktflugs


von New York nach Houston im Jahr 2016, in Minuten
Entfernung vom Durchschnittliche Zeit,
entlegensten Punkt der Welt, die die Angestellten
Steigerung des US-Kerosinpreises
Point Nemo, zum nächsten in zwei US-Unternehmen
Land, in Kilometern direkt miteinander
seit Ende der Siebzigerjahre, in Prozent 415
2688 kommunizierten,
(Um Kosten zu senken, fliegen die Flugzeuge heute langsamer.
bevor sie aus ihren Dadurch verbrauchen sie weniger Treibstoff.)
Entfernung vom Einzelbüros in ein Groß-
unzugänglichsten Ort raumbüro gezogen sind,
Deutschlands, der Sandbank in Stunden
Großer Knechtsand, pro Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5,8
zur nächsten Straße,
in Kilometern Durchschnittliche Zeit,
13,6 die diese Angestellten
direkt miteinander
kommunizieren, seitdem
Bevölkerungsdichte

1
sie im Großraumbüro
von Macau, einer
Zahl der Personen, die die Berliner Mauer geheiratet haben

sitzen, in Stunden
Sonderverwaltungs- pro Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .1,7
zone Chinas, in
Einwohnern pro
Quadratkilometer Rückgang der direkten
20 547 Gespräche in diesen beiden
Firmen, in Prozent . . . . . . . . . . 70
Bevölkerungsdichte
Zunahme der verschickten
von Australien, E-Mails, in Prozent . . . . . . . . . 56
in Einwohnern pro
Quadratkilometer Zunahme der verschickten
3 Nachrichten über Messenger-
Dienste, in Prozent . . . . . . . . . . 67
Nähe, die man für gewöhnlich nur von engen Freunden, Partnern oder Verwandten zulässt,
in Metern bis zu 0,5

Distanz zu Personen, mit denen man eine Konversation führt, ohne sich dabei bedrängt zu fühlen,
in Metern zwischen 0,5 und 1

Distanz zu Fremden, beispielsweise am Bahnsteig der U-Bahn, die als angemessen empfunden wird,
in Metern 1 bis 4

157

230

1964 Zahl der Kinder, die in Deutschland als vermisst gelten

Zahl der Kontakte Anteil der Eltern in Deutschland, die der Meinung sind, dass es in der Nähe
mit Freunden pro Monat ihres Wohnortes zu wenig Kinder- und Jugendärzte gibt, in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
von Männern,
wenn sie Single sind . . . . . . . . 14
wenn sie verheiratet sind . . . 7
Zahl der Berührungen,
die Briten mit ihren Gesprächspartnern
Zahl der Kontakte innerhalb einer Stunde austauschen
mit Freunden pro Monat
von Frauen,
wenn sie Single sind . . . . . . . . 13 0
180
wenn sie verheiratet sind . . . 6

Zahl der Berührungen,


die Puerto-Ricaner mit ihren Gesprächspartnern
innerhalb einer Stunde austauschen
© Christopher Wool
DIE WELT DES
CHRISTOPHER
WOOL
Einmal im Jahr gestaltet ein zeit-
genössischer Künstler DIE WELT.
Am 14. Dezember 2018 erscheint
die neunte Künstlerausgabe.
Deutsches Kinderhilfswerk; »British Journal of Social and Clinical Psychology«, »Journal of Mass Communication & Journalism«; YouGov, Sinus, Pew Research Center; Stiftungszentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung; Earthovershoot Day; Deutsche Bischofskonferenz
Quellen: »Geo«, Hanshack.com; Weltbank; »Die Welt«, Royal Society Publishing; »Kölner Stadt-Anzeiger«, Bitkom; »Business Insider UK«, U.S. Energy Information Administration; »Jetzt.de«, www.duliebesding.de; »Apotheken Umschau«; BKA; »Gehirn und Geist«;

Zahl der Personen, die Deutsche


als enge Freunde bezeichnen
3,7
Zahl der Personen, die Deutsche
11 zu ihrem erweiterten Freundeskreis zählen

42,5 Zahl der Personen, die Deutsche


zu ihrem Bekanntenkreis zählen

Mittlere Zahl (Median) an Facebook-Freunden


von erwachsenen Facebook-Nutzern

200

29. DEZEMBER
Anteil der Türkeistämmigen in Deutschland, Zeitpunkt, zu dem alle Rohstoffe der Erde von
Menschen verbraucht waren, die innerhalb eines
die sich von der Bundesregierung vertreten fühlen,
Jahres nachwachsen oder neu entstehen können,
in Prozent im Jahr 1970
37
Anteil der Türkeistämmigen in Deutschland,
die sich von der türkischen Regierung vertreten fühlen,
1. AUGUST
in Prozent Zeitpunkt, zu dem alle Rohstoffe der Erde von
Menschen verbraucht waren, die innerhalb eines
51 Jahres nachwachsen oder neu entstehen können,
im Jahr 2018

Zahl der Kinder und Jugendlichen, die zwischen 1946 und 2014 von Geistlichen
der katholischen Kirche sexuell missbraucht worden sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3677

Zahl der Geistlichen, die im Missbrauchs-Skandal als Täter beschuldigt werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1670

Zahl der deutschen Bischöfe, die als Konsequenz aus dem Missbrauchs-Skandal zurückgetreten sind . . . . . . . . . . . . . 0

brand eins 12/18 103


„Ohne
Sympathie
ist es brand eins: Herr Thorborg, wie nahe sind

schwierig“ Sie den Führungskräften, die Sie betreuen?


Heiner Thorborg: Sehr nah. Sonst kann
ich nicht für sie arbeiten.

Wieso?
Nähe ist zunächst einmal ein Gefühl. Um
es zu erzeugen, muss es gegenseitige
Sympathie geben. Es gibt sicher auch
Leute, die ganz gut zusammenarbeiten,
obwohl sie sich nicht besonders sympa-
thisch sind. Aber Exzellenz in der Zu-
sammenarbeit entsteht durch Nähe.
Ohne Sympathie ist es extrem schwierig,
eine Vertrauensbeziehung aufzubauen.
Diese wiederum ist notwendig für ge-
meinsamen Erfolg. Deshalb vertrete ich
Heiner Thorborg unterstützt seit vier Jahrzehnten keine Talente oder Manager, die mir
Topmanager bei der Karriereplanung – nicht sympathisch sind.
und Unternehmen bei der Suche nach den
passenden Vorständen. Das klingt fast romantisch. Sehen das im
Topmanagement alle so?
Ein Gespräch über die Gratwanderung zwischen Gewiss nicht. Und natürlich wohnt dem
Nähe und Distanz in Führungsetagen. Begriff Nähe so viel Subjektivität inne,
dass zwei Manager behaupten können,
ihnen sei Nähe zu Vorstandskollegen
oder Mitarbeitern sehr wichtig – dabei
Interview: Thomas Ramge Fotografie: Michael Hudler
aber unter Nähe etwas völlig anderes ver-
stehen. Man spürt das ja oft schon beim

104 brand eins 12/18


Körperlichen: Es gibt Leute, die rücken nen Vorstände über viele Jahre zusam- mengefallen, weil sie keine neuen Ein-
einem auf die Pelle und merken gar nicht, menarbeiten. Da wächst Nähe meist flüsse zugelassen haben. Da durfte ja nur
dass das dem Gegenüber unangenehm automatisch. Bei Vorständen, die häufi- rein, wer es schon geschafft hatte, nach
ist. Und es gibt Menschen, die merken ger das Unternehmen wechseln, gehört dem Motto: Uns nützt nur einer, der be-
nicht, wie sie mit Körpersprache Distanz es zur Kernkompetenz, schnell Nähe auf- reits einer von uns ist. Das ist natürlich
aufbauen. Erfolgreiche Manager haben in zubauen, um auf Zeit vertrauensvoll ein Auslaufmodell. Aber das heißt nicht,
der Regel ein gutes Gespür dafür, was zusammenarbeiten zu können. Es ist ein dass die Methode heute nicht mehr funk-
in einer bestimmten Situation die nötige wenig wie bei Fußballprofis, die in einem tioniert. Es gibt nach wie vor wichtige
Distanz oder hilfreiche Nähe ist. neuen Team schnell funktionieren müs- Netzwerke, wie zum Beispiel die Baden-
sen. Dazu müssen die anderen Spieler Badener Unternehmer-Gespräche. Wer
Ich habe den Eindruck, dass es auch in ihnen vertrauen, sonst bekommen sie in ihnen angehört, bekommt Zugang zu
Unternehmen immer körperlicher zugeht. den entscheidenden Momenten nicht den Menschen, an die er sonst nicht heran-
Kolleginnen und Kollegen küssen sich die Ball. käme.
Wangen. Männer umarmen sich zur Be-
grüßung wie Fußballer nach einem Tor … Tendenziell wird die Zusammensetzung Und warum taten oder tun sich Frauen
Die zunehmende körperliche Nähe in von Vorständen vielfältiger. Verändert sich damit schwer?
Deutschland hat sicher etwas damit zu etwas im Nähe-Distanz-Spiel, wenn Frau- Die mussten erst lernen, wie hilfreich ge-
tun, dass wir unsere Kultur hier und da en und Menschen verschiedener Herkunft genseitige Gefallen sein können, ohne
als zu steif empfinden. Und dann imitie- auf Topmanagement-Ebene zusammen- dass dies gleich ein Fall für den Compli-
ren wir Franzosen oder Italiener oder arbeiten und nicht nur weiße Männer in ance-Beauftragten ist. Sie lernen das aber
Südamerikaner in ihrer Körperlichkeit grauen Anzügen jenseits der 50? gerade mit hoher Geschwindigkeit. Frau-
(siehe auch: „Nähe und Distanz in Zah- Absolut. Es ist unbestritten, dass hetero- ennetzwerke boomen, weil immer mehr
len“, S. 100). Es mag Leute geben, denen gene Teams bessere Leistungen erbringen Frauen merken: Es ist nicht falsch, sich
das leicht fällt. Die finden Körperlichkeit können als homogene. Das gilt aber nur, gegenseitig zu unterstützen, weil man viel
schick oder progressiv, und die fühlen wenn ihnen kulturelle Differenzen nicht voneinander hält.
sich dann auch wohl mit importierten in die Quere kommen, sondern jeder sei-
kulturellen Ritualen. Aber ich muss im- ne Stärken einbringen kann. Ich beobach- Braucht es für Nähe Mut?
mer schmunzeln, wenn ich diejenigen te seit Jahren mit Freude, dass besonders Erfolgreiche Führungskräfte müssen offen
sehe, die solche Nähespiele mitmachen Frauen in gemischten Teams Konflikte sein. Nur dann finden sie das richtige
müssen, obwohl sie ihnen eigentlich zu- viel intelligenter lösen als Männer. Sie Verhältnis von Nähe und Distanz. Es gibt
wider sind. Auffällig ist auch, dass ein lassen sich seltener provozieren, bleiben ein schönes Zitat des österreichischen
verordnetes Du das Gegenteil von Nähe souverän und sachlich, reduzieren Ag- Schriftstellers Ernst Ferstel: „Nähe zu
schafft. Nähe kann man nicht verordnen. gressionen, indem sie besser zuhören. Oft wagen ist ein schwieriger Balanceakt.
Das Gleiche gilt für Lockerheit. schaffen sie in Konfliktsituationen die Wer zu weit geht – oder nicht weit genug,
nötige Distanz, um die Emotionen zu entfernt sich vom anderen.“ Ohne Offen-
Inwiefern? entschärfen. Und im zweiten Schritt legen heit und Sympathie werden wir diesen
Nur weil ein Vorstand eine Krawatte sie wieder die Basis für vertrauensvolle Balanceakt nicht bewältigen. Oder besser
ablegt, wird er doch kein nahbarer Typ. Zusammenarbeit und erlauben wieder gesagt: Je diverser Teams werden, desto
Es ist heute ja fast umgekehrt: Du darfst mehr Nähe. Bei der Fähigkeit zum Netz- mehr brauchen wir davon. –
keine Krawatte mehr tragen, wenn du als werken haben aber Frauen noch Nachhol-
innovativ gelten möchtest. Das finde ich bedarf.
lächerlich. Wenn einer eine Krawatte tra-
gen möchte, soll er das doch machen. Auf der einen Seite sind die alten Old-
Boys-Netzwerke der Deutschland AG end- Heiner Thorborg, 74,
ist einer der bekanntesten Personalberater
Wie viel Zeit braucht es eigentlich, um gültig Vergangenheit, andererseits reden Deutschlands. Nach zehn Jahren als
Nähe in Arbeitsbeziehungen an der Unter- junge Führungskräfte dauernd darüber, wie Partner bei der Schweizer Personalberatung
nehmensspitze herzustellen? Die Vorstands- wichtig Networking ist. Egon Zehnder International machte
er sich 1989 mit einer Headhunter-Firma
mandate werden ja immer kürzer. Ja, das ist in der Tat auffällig. Ich kannte
selbstständig. Im Jahr 2007 gründete
Im Durchschnitt stimmt das, aber wir die alten Netzwerke der Deutschland AG er Generation CEO – ein Netzwerk für
haben immer noch Unternehmen, in de- noch ganz gut. Die sind in sich zusam- weibliche Führungskräfte

brand eins 12/18 105


Wo die Zulu-Frau Je näher, desto weiter
der Horizont:

lesbisch sein darf Beobachtungen aus Südafrika.

Text: Johannes Dieterich


Illustration: Silke Weißbach

106 brand eins 12/18


• „Diese Weite!“, pflegen Touristen in Psychologen wissen von den Schäden, die Wildwest-Stadtviertel Hillbrow, in der
den Gästebüchern südafrikanischer Lod- das Leben im Slum vor allem unter Kin- gegenwärtig 23 Menschen leben, zuwei-
ges zu schwärmen. Ihre Farmen steckten dern anrichtet. In der dicht gedrängten len sind es mehr als 30. In den zwei Zim-
sich die europäischen Siedler einst derart Umgebung sind sie der rauen, von Ge- mern des Apartments steht ein Bett neben
weiträumig ab, dass das Gutshaus des walt, Alkohol und Sex beherrschten Er- dem anderen. Nur ein enger Durchgang
Nachbarn mit bloßem Auge nicht zu wachsenenwelt schutzlos ausgesetzt. Auch ist frei, durch den sich tagsüber unzählige
sehen war. In den Städten waren die Dlamini fallen zunächst nur die Nachteile Bewohner wie Besucher quetschen. Ein
Grundstücke so großzügig, dass sich die ihres beengten Lebens ein: der nachts an Doppelbett wird üblicherweise von zwei
weißen Villenbesitzer hinter private Wald- ihrem Kopf vorbeidonnernde Zug, die bis drei Schläfern okkupiert. Mann schläft
stücke zurückziehen konnten. Das erste grundlos eifersüchtige Nachbarin, die so- neben Frau, Jung neben Alt, Südafrikaner
Gebot der südafrikanischen Bleichgesich- ziale Kontrolle. „Hier weiß jeder alles über neben Ausländer, Muslim neben Christ.
ter: „Rück mir bloß nicht auf die Pelle!“ jeden“, sagt die Slumbewohnerin. Selbst „Wir nehmen jeden auf“, sagt Gxaleka.
Gegen etwas mehr Distanz hätte auch dass sie sich von Frauen und nicht von Vorausgesetzt, er kann die monatlichen
Lungu Dlamini nichts einzuwenden. Wenn Männern angezogen fühlt, konnte sie zwölf Euro für einen Bettplatz aufbringen.
nicht lange verheimlichen. Manche benutzen die beengte Unterkunft
Dass Dlamini dieses Thema überhaupt lediglich als Sprungbrett, andere sind schon
Durch die Wände anspricht, kommt überraschend, denn seit Jahren hier. „Es ist unser Zuhause“,
gleichgeschlechtliche Liebe ist in Südafri- sagt Malindi Yeko, bevor er noch einen
aus Wellblech
ka lebensgefährlich. Obwohl sie von einer tiefen Schluck aus seiner Brandwein-Pulle
hört sie die Nachbarn der modernsten Verfassungen der Welt nimmt.
schnarchen ausdrücklich geschützt wird, ist Homo- Nobuswe Gxaleka weiß, wie wichtig
sexualität in der Bevölkerung mehr als unter solchen Umständen klare Regeln
verpönt. Immer wieder werden lesbische sind. Um 22 Uhr geht das Licht aus, wer
die 33-Jährige auf dem Bett in ihrer Hütte Frauen Opfer von Gewaltverbrechen. später kommt, muss leise sein oder fliegt
im Johannesburger Stadtteil Jeppestown Lungu Dlamini blieb das bislang er- raus. Wer beim Beten allein sein will, geht
liegt, kann sie mit ausgestreckten Armen spart. „Meine Nachbarn würden es nie- ins Bad; und wer Sex haben will, muss sich
fast die beiden gegenüberliegenden Wän- mals zulassen, dass mir etwas zustößt“, aufs Dach verziehen. Privatsphäre ist in
de ihrer Behausung berühren, auch am sagt sie bestimmt. Nicht nur dass ihr die den zwölf Euro nicht inbegriffen.
Fußende des Bettes ist nur noch Platz für räumliche Nähe zu ihren Anwohnern in Um auf diese Weise zusammenleben
ein paar Küchenutensilien. Nachts hört sie diesem Fall die nötige Sicherheit bietet. zu können, müsse man eine große Portion
ihren Nachbarn durch zwei Wände aus Auch scheinen es homophobe Vorurteile Toleranz mitbringen, sagt Nobuswe Gxa-
Wellblech hindurch in dessen kaum einen in der Enge des Slums schwer zu haben. leka. „Hier darf keiner den anderen allein
Meter entfernten Hütte schnarchen. Und Jeder kennt hier Lungu Dlamini, wie sie wegen seiner Herkunft oder seiner sexuel-
wenn er sich tagsüber mit seiner Freundin leibt und wie sie lebt. Ressentiments pfle- len Orientierung missachten.“
streitet, kriegt Dlamini jedes Wort und gen von der Distanz zwischen dem Urtei- Längst weiß jeder, dass zwei junge
jedes Schluchzen mit. „Selbst wenn sie Sex lenden und seinen Objekten zu leben. Männer hier ein Paar sind. Sie haben sich
haben, höre ich das“, sagt sie und lacht Die Gegenprobe: In den Farmhäusern in der Unterkunft kennengelernt, schlafen
etwas verschämt. mit dem grenzenlosen Horizont hätte nebeneinander. Oft kämen Mitbewohner
Die Zulu-Frau hat für umgerechnet man eigentlich offene Bewohner vermu- zu ihm, um sich Rat zu holen, erzählt einer
20 Euro im Monat eine Blechhütte im tet. Doch in Wahrheit sind sie vorurteils- von ihnen. Noch nie habe er wegen seiner
„Squattercamp“ Mangolongolo gemietet: beladen wie sonst nirgendwo. Gnade der sexuellen Ausrichtung irgendetwas Nega-
ein zwischen einer Straße, einer Eisen- weißen Farmerstochter, deren Eltern her- tives zu hören bekommen.
bahnlinie und einem Fabrikgelände einge- ausgefunden haben, dass sie statt Knaben „Es gibt vieles, was mich hier stört“,
klemmtes Areal von der Größe eines Fuß- Mädchen begehrt. Zwischen der Weite sagt der junge Mann und legt den Arm
ballfeldes, auf das sich mehr als 400 kleine des Umfelds und der des Denkens scheint um seinen Freund: „Und manches, das ich
Blechhütten quetschen. ein umgekehrt proportionales Verhältnis nirgendwo anders finden kann.“ –
In Mangolongolo lebt keiner freiwillig. zu herrschen. Genau wie Enge nicht mit
Dafür sorgen schon der Schmutz, die Rat- Engstirnigkeit einhergeht.
ten, die fehlenden sanitären Einrichtun- Ein Beispiel für Letzteres: Nobuswe
gen, die ganze Würdelosigkeit der Armut. Gxalekas Wohnung in Johannesburgs

brand eins 12/18 107


Lachen Im Gegenteil:
Komik sorgt für Abstand.

verbindet? Text: Peter Laudenbach


Illustration: Jan Robert Dünnweller

• Wenn es jemanden gibt, der weiß, wie Komik


funktioniert und dass es sich dabei nicht um eine
harmlose Angelegenheit handelt, dann dürfte es
Georges Feydeau sein. Der Franzose (1862–1921) hat
Ende des 19. Jahrhunderts Boulevard-Komödien ge-
schrieben, bei denen sich bis heute jeder zweite Ko-
mödien-Drehbuchautor bedient. Bei Feydeau konnte
sich das Publikum prächtig über Ehebruch-Tollpatschigkeiten,
Geldgier, Ehrsucht und Dummheit, die großen und kleinen
Lügen der Bürger-Karikaturen auf der Bühne amüsieren. Weil
die Zuschauer ihresgleichen sahen (denn Feydeau kannte sie nur
zu gut), lachten sie immer auch über sich selbst – allerdings aus
dem sicheren Dunkel des Zuschauerraums.
Erst diese Anonymität erlaubt es, die Lächerlichkeit der
eigenen Macken und des eigenen Milieus zu genießen. Komik
braucht Distanz. Henri Bergson, Philosoph und Literaturnobel-
preisträger lädt in seinem 1900 erschienenen Essay „Das La-
chen“ zu einem schönen Gedankenexperiment ein: „In einem
Salon, wo getanzt wird, brauchen wir uns nur die Ohren zuzu-
halten, damit uns die Tänzer lächerlich vorkommen. Wie viele
menschliche Handlungen hielten einer solchen Prüfung stand?“
Je ernster sich Akteure nehmen, desto komischer wirken sie aus
der Distanz.
Auch Bergson wusste, dass Lachen grausam sein kann: „Das
Lachen ist meist mit einer gewissen Empfindungslosigkeit ver-
bunden. Ich will nicht behaupten, dass wir über einen Men-
schen, für den wir Mitleid oder Zärtlichkeit empfinden, nicht
lachen könnten – dann aber müssten wir diese Zärtlichkeit,
dieses Mitleid für eine kurze Weile unterdrücken.“
Wahrscheinlich kannte Bergson Feydeaus Vaudeville-Ko-
mödien. In diesen Pointen-Maschinen steuern Biedermänner
zielsicher in die Katastrophe, den Bankrott, die Peinlichkeit. Je
panischer sie in den Fallen zappeln, die der Intrigenkonstruk-
teur ihnen stellt, desto lustiger wird der Theaterabend. Georges
Feydeaus Umgang mit seinen Bühnenfiguren ist nicht frei von
Sadismus. Die Freude, die er seinen Zuschauern bereitet, ist
Schadenfreude. Seine Bauanleitung für eine wirkungsvolle Ko-
mödie lautet: „Nehmen Sie eine möglichst tragische Situation,
eine Situation, die einen Leichenwäscher erschaudern lässt, und
versuchen Sie, die komische Seite daran freizusetzen. Es gibt
keine menschliche Tragödie, die nicht auch ein paar komische
Aspekte böte.“

108 brand eins 12/18


„Wenn einem etwas
nahegeht, kann man nicht
darüber lachen.“

Das gilt auch umgekehrt: Es gibt keine Komik ohne mensch- up-Comedian Oliver Polak erlebt. Polak kommt aus einer jüdi-
liche Tragödien. Diese Ansicht vertrat zumindest der 2007 ge- schen Familie, sein Vater ist KZ-Überlebender. Darüber macht
storbene Dramatiker und Regisseur George Tabori – jeder er Witze (vgl. brand eins 08/2014: „Ich darf das, ich bin Jude“) *.
„wirkliche Humor“ sei „schwarz“. Tabori hat in Hollywood So sagte Polak im Jahr 2013, die Lokführer streikten gerade, bei
Drehbücher für Alfred Hitchcock geschrieben, in den Achtziger- einem Auftritt in Berlin: „Liebe Lokführer, hättet ihr vor 70 Jah-
und Neunzigerjahren gehörte er zu den wichtigsten deutschen ren gestreikt, hättet ihr uns eine Menge Ärger erspart.“ Das ist
Theaterregisseuren. Sein Humor war menschenfreundlich, und vielleicht geschmacklos, aber auch befreiend, denn das Lachen
er war traurig. Taboris Vater Cornelius und viele seiner Ver- stellt Distanz zum Schrecken her.
wandten waren in Auschwitz ermordet worden. Die Stücke, die Wenn jedoch, wie Polak in seinem neuen Buch „Gegen
Tabori darüber geschrieben hat, waren von schwärzestem Witz. Judenhass“ berichtet, der Geschäftsführer eines Comedy-Clubs
Wahrscheinlich wäre es anders kaum zu ertragen gewesen. vor einem Auftritt zu ihm sagt: „Wenn du heute wieder nicht
Komik braucht nicht nur Abstand, sie stellt diesen Abstand lustig bist, landest du im Aschenbecher“, zertrümmert der Spre-
sogar selbst her. „Bei allen guten Witzen geht es um eine Katas- cher damit jede schützende Distanz. Und dann gibt es eigentlich
trophe“, lautete einer der Kernsätze des Dramatikers. „Die Poin- für niemanden mehr etwas zu lachen. –
te ist eine Überraschung, die erlöst, und man lacht. Warum man
lacht? Ich weiß es nicht. Die Katastrophe ist ja nicht vorbei.“ * b1.de/o_ polak
Aber im Moment des Lachens kann man sie auf Abstand halten.
Auf die Frage, weshalb er über den Schrecken keine Tragödien
schrieb, antwortete Tabori mit einem Zitat von Friedrich Höl-
derlin: „Immer spielt ihr und scherzt? (…) Ihr müsst! O Freunde!
Mir geht dies in die Seele, denn dies müssen Verzweifelte nur.“
Tim Wolff, noch bis Ende dieses Jahres Chefredakteur der
Satire-Zeitschrift »Titanic«, knüpft nahtlos daran an: „Komik
entwickelt man im Zweifel, wenn man mit irgendeiner Form
von Demütigung umgehen muss“, sagt er. „Wenn man darüber
Witze machen kann, hebt man die Demütigung zumindest für
diesen Augenblick auf. Bei gelungener Komik muss immer
etwas kaputtgehen. Komik schafft Distanz zum Gegenstand.
Wenn einem etwas nahegeht, kann man nicht darüber lachen.
Trauer zum Beispiel verträgt sich nicht mit Komik. Eine Beerdi-
gung ist nicht komisch. Aber nach der Beerdigung gehen alle
miteinander essen und erzählen sich Anekdoten über den Toten.
Da sind die Komik und der Abstand, den sie zum Schmerz
schafft, geradezu ritualisiert.“
Das gilt nicht nur für die großen Katastrophen des Lebens.
Auch „Selbstironie funktioniert nach dem Prinzip, lieber selbst
den Witz über eigene Schwächen und die Desaster des eigenen
Lebens zu machen, bevor andere das tun. Das fängt spätestens
auf dem Schulhof an“, sagt Wolff.
Komik hilft, mit Verletzungen umzugehen. Und Komik
kann verletzen. Wie sich diese beiden Seiten der Komik, das
befreiende und das verletzende Lachen, berühren, hat der Stand-

brand eins 12/18 109


WARUM Fragen an Stephan A. Jansen

STARTEN
GRÜNDER
EIGENTLICH Gründer-Teams bestehen oft aus Freunden
– Zufall oder Trend?
verbundenen Bildung von Netzwerken in
einigen wenigen Studiengängen – zu ei-

AM LIEBSTEN Nach Zahlen des jüngsten Deutschen


Startup Monitors ist es ein stabiler Trend:
nem Drittel Wirtschaftswissenschaft, zu je
einem Fünftel Informatik und Ingenieur-

MIT GUTEN Seit dem Jahr 2013 werden durchschnittlich


circa drei von vier Start-ups im Team ge-
wissenschaften – zeigt sich ein anthro-
pologischer Befund: Gleich und Gleich

FREUNDEN? gründet. Der Anteil der Solo-Gründungen


lag 2017 entsprechend bei nur knapp ei-
gesellt sich generell gern und bei Grün-
dungen besonders gern.
nem Viertel – das autistische Genie ist die Diese Tendenz, Beziehungen zu Indivi-
Ausnahme. Die durchschnittliche Team- duen aufzubauen, die einem ähnlich sind,
größe liegt bei 2,4 Gründern – mehr als ist uns Menschen quasi angeboren. Die
jede dritte Gründung wird durch zwei Per- Witze über die Boy Groups – alle weiß,
sonen und jede vierte durch drei Personen alle zwischen 25 und 35 und eben alle an
geschultert. Gut 16 Prozent wurden von renommierten Hochschulen ausgebildet –
vier oder mehr Personen angestoßen. machen ja nicht nur in Frauennetzwerken
die Runde, sondern auch bei Gründungs-
Haben Sie dafür eine Erklärung? finanzierern.
Im 19. und 20. Jahrhundert waren Grün- Es kommt also nicht von ungefähr,
dungen vor allem patriarchale Veranstal- dass wir in der Führungs- und Personal-
tungen, die sich aber gern Familienunter- Management-Theorie so viel über Diver-
nehmen nannten – wohl auch weil alle sity Management lesen müssen. Denn aus
in der Familie unter der Firma litten oder der Netzwerk-Theorie der schwachen und
irgendwie dem Herrn Papa zuarbeiten starken Verbindungen wissen wir, dass
mussten. Management unter Freunden mit hoher
Mit der Jahrtausendwende und dem Ähnlichkeit von Kompetenzen und Kogni-
zeitgleichen Phänomen der sogenannten tionen hochkritisch ist.
New Economy haben insbesondere die
Universitäten – und nicht mehr die Hei- Dabei wird Frauen doch ein viel größeres
ratsmärkte – die Neugründungen beför- Bedürfnis nach Nähe nachgesagt.
dert: Mehr als vier von fünf Gründungen Interessanterweise zeigt sich das bei Fir-
sind seitdem mit einem Hochschul- mengründungen nicht. Im Gegenteil: Seit
abschluss und dem damit verbundenen Jahren gründen Frauen seltener im Team
Kommilitonen-Netzwerk gesegnet. Das als Männer, zuletzt sogar mit 16 Prozent-
Prinzip: Fachschaft statt Familie. Allerdings punkten Unterschied. Dazu kommt aller-
sind die hochschulbezogenen Freund- dings auch, dass der Anteil der Gründe-
schaftsnetzwerke der Start-ups auch ein rinnen mit gut 15 Prozent zwar leicht
Eliten-Phänomen. Nur knapp sechs Pro- ansteigend ist, aber eben doch ein
zent der Gründer schafften es mit Fach- Randphänomen.
abitur, mittlerer Reife oder einem Haupt-
schulabschluss. Warum achten Finanzierer und Aufsichts-
gremien nicht stärker auf Diversität?
Warum ist das so? Das ist in der Tat eine gute Frage, die
Neben dem Trend, Unternehmen an der nicht nur Gründer-Teams, sondern auch
Hochschule zu gründen, und der damit Dax-Unternehmen betrifft. Denn auch

110 brand eins 12/18


dort sind neue Vorstandsvorsitzende viele geht ohne klassische Generations- und party wirkt, in der jeder seine Helden-
Jahre – und mit nicht zu unterschätzen- System-Konflikte – also Elternstreitigkei- geschichten im Futur II beisteuern will.
dem Zeitaufwand – damit beschäftigt, ten oder Sozialismus-Renaissance – ans Und jetzt klopft eben ab und zu doch
eine Gruppe von Wegbegleitern in den Werk. Und zwar so, dass das die Eltern, die Realität an die Türen der Visionäre:
eigenen Vorstand und die Organisation die ihr eigenes Leben längst kritisch reflek- Datenschutz, sexuelle Selbstbestimmung,
einzugliedern. tieren, durchaus begeistert. Nicht selten Verantwortung von Geschäftsmodellen
Zwei Begründungen: Wer im Risiko werden die Unternehmer- und Vorstands- oder andere zivilgesellschaftliche und (su-
operiert oder in Führungspositionen ist, kinder von ihren Vätern sogar ermutigt pra-)nationale Ideen der globalen Gemein-
wird einsamer und damit kuschelbedürfti- und anfangs finanziell unterstützt. schaft. Amazon, Facebook, Google oder
ger. Da neigt man zu gleichgesinnten und Uber sind inzwischen mit durchaus kür-
führbaren Mitstreitern. Die Aufsichtsgre- Was ist von Gründern mit Mission zu hal- zerer Geschichte und deutlich kleineren
mien und Finanziers stützen das, weil sie ten? Belegschaften durchaus auf dem Skandal-
vor allem in das Management und deren Elon Musk gilt vielen in dieser Gründer- Niveau etablierter Organisationen wie der
Beziehungen untereinander investieren generation – trotz und wegen all seiner Automobil-, Chemie- oder Finanzindus-
und stark auf potenzielle Konfliktkosten Lausbubigkeiten und Launenhaftigkeiten trie angelangt.
achten. Und: Auch die Aufsichtsräte lei- – als Vorbild für den derzeit als so zentral
den unter Ähnlichkeit. Der Deutsche Cor- empfundenen transformationalen und dis- Sind die neuen Gründer-Teams, die sich
porate Governance Kodex enthält nicht ruptiven Führungsstil. Er zeigt mit seinen dem Guten verschrieben haben, auf Ent-
ohne Grund seit 2009 Empfehlungen, Entscheidungen, dass Tesla, eines seiner täuschungen und auch das Scheitern vor-
dass der Aufsichtsrat bei seiner eigenen Wagnisse, kein Unternehmen mit einer bereitet?
Zusammensetzung als auch bei der des Mission, sondern eine Mission mit einem Diese Frage kann ich noch nicht abschlie-
Vorstands auf Diversität achten soll. Unternehmen ist. Das ist wohltuend ange- ßend beantworten. Eine durchaus reflek-
sichts all der Bemühungen der Konzerne, tierte Gruppe ist mit teils sehr harter
Viele Gründer verschreiben sich hehren einen „Purpose“ zu definieren, wie man Trauerarbeit konfrontiert – und mit einem
Zielen, wenn nicht gar der Weltenrettung die sinnstiftende Zweckdefinition für das Wiedereinstieg in normale Industrien, in
– ist das mehr als Marketing? „Warum machen wir das?“ nennt, die so Beratung oder auch beim Staat. Die an-
Diese Beobachtung mache ich auch. Und oft als sehr durchsichtig und gesellschaft- dere Gruppe verkauft ihre Unternehmun-
bin mir als Zivilgesellschafts- und Sozial- lich erwünscht daherkommt. gen vor dem Beweis der Nachhaltigkeit,
unternehmensforscher selbst unsicher, wie Nützlich erscheint mir auch die Ver- was man Exit nennt – eine Stufe zwischen
ich das finden soll. Sicher ist: Das geht bindung von unternehmenspolitischen Stra- der Liquidierung und dem derzeitigen
nicht mehr weg. Die Bewegung scheint tegien mit gesellschaftspolitischen Not- Maximal-Heldenstatus des „Serien-Unter-
aus zwei Quellen gespeist zu werden: der wendigkeiten, wenn wir an die Mobilitäts-, nehmers“.
kalifornischen Utopie des unvermeidlich Gesundheits-, Bildungs-, Pflege- oder Kli- Ich kann mich dem Feiern des Schei-
digitalen, biosynthetischen Fortschritts mapolitiken denken. Hier geht es ja nicht terns nicht anschließen, und es wirkt auch
und der europäischen Dystopie des Unter- um Sozialromantik, sondern um Sozialin- eher wie ein larmoyant-pubertierender
gangs. novationen, also darum, aus gesellschaft- Jugendgeburtstag. Und nicht selten sind
Fakt ist: Die guten Unternehmer von lichen Problemen ein profitables Geschäft ja die Feindschaften der Freundschafts-
heute wurden von einer Elterngeneration zu entwickeln. Gründungen auch Anlass für das Schei-
sozialisiert, die in hohem Maße materialis- Andererseits ist aber auch klar, dass tern. Denn: Wer sich sehr nah ist oder war,
tisch, aber wenig ökologisch und sozial das oft nur eine wohlfeile Geste ist und kann sich gegenseitig zu nahe treten. –
eingestellt war und ehrgeizig nach Posi- das Ganze im Zusammenspiel mit den
tionen strebte – die Entwicklung der Kin- Erfahrungen der New Economy und der
Stephan A. Jansen,
der kann man da schon nachvollziehen. kalifornischen Zukunftseuphorie wie eine Leiter Center for Philanthropy & Civil
Aber: Diese neue Unternehmergeneration nicht enden wollende Kindergeburtstags- Society, Karlshochschule, Karlsruhe

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Familienbande

Eine Architektin, ein Jurist,


ein Softwareunternehmer, ein Werber:
Geschwister, die etwas mehr
miteinander zu tun haben als andere.
Text: Peter Laudenbach

• Sie sind die Menschen, mit denen Eva Sweeney, geborene Zünkeler, 48,
wir unsere längste Beziehung haben. lebt in Los Angeles und betreibt mit ihrem Mann und mit ihrem
Die Eltern sind irgendwann nicht Bruder Bernhard das spendenfinanzierte ArtLab Esmoa, das
mehr da, und die Lebens- und Ehe- Künstler fördert, Bildung für Kinder und Erwachsene anbietet
partner lernt man in der Regel nicht und große Ausstellungen organisiert, zum Beispiel gemeinsam
in der Kindheit kennen. Geschwister mit dem Getty Research Institute.
aber sind von Anfang an Teil des eige-
nen Lebens. Und mit etwas Glück – Ulrich Zünkeler, 50,
wenn keine Familienfehden, Erb- gründete nach 16 Jahren in großen Werbeagenturen zunächst
schaftsstreits, Todesfälle oder einfach mit zwei Freunden die Kommunikationsagentur Orange Coun-
Desinteresse dazwischenkommen –, cil, die heute Kommunikation und Kunst miteinander verbindet.
begleiten sie uns durch die Jahrzehnte. Ein Beispiel: Im Telekom-Hauptquartier in Bonn haben Künstler
Die Architektin Eva Sweeney, ge- nicht nur alle Büros mit ihren Werken bestückt, sondern auch
borene Zünkeler, der Werber Ulrich neue Raumlösungen entwickelt.
Zünkeler, der Jurist Bernhard Zünke-
ler und der Softwareunternehmer Martin Zünkeler, 52,
Martin Zünkeler sind mehr als nur war Jurist und Werber und ist heute Gründer und geschäftsfüh-
miteinander verwandt. Sie teilen ihre render Gesellschafter von Kairos, ein auf Softwareentwicklung
Liebe zur Kunst, Entscheidungen über für die medizinische Forschung spezialisiertes Unternehmen.
die berufliche Zukunft, und sie arbei-
ten zusammen. Bernhard Zünkeler, 53,
gründete nach Jahren als Wirtschaftsjurist bei einer Bank ein
unabhängiges ArtLab, um Künstler zu fördern, und ist heute
geschäftsführender Gesellschafter bei Orange Council.

Die vier Geschwister haben die Fragen zu ihrer Beziehung


Fotos: privat

Farbfoto rechte Seite: getrennt voneinander beantwortet. Die Antworten der anderen
Martin, Bernhard, Ulrich, Eva (von links) sehen sie erst bei der Lektüre dieser Ausgabe. >

112 brand eins 12/18


brand eins 12/18 113
Auf einer Skala von 1 (kaum) bis nicht, dass bei uns nicht auch die Fetzen fliegen, wir können uns
10 (sehr eng): Wie eng ist Ihre Verbindung gewaltig anschreien. Aber am nächsten Morgen beginnt ein
zu Ihren Geschwistern? neuer Tag, und der Streit ist erledigt.
Eva Sweeney, geborene Zünkeler: In meiner Kindheit war ich
sehr eng mit Uli verbunden, meine Oma nannte uns das Ehe- Von welchem Ihrer Geschwister haben Sie
paarchen. Während meines Studiums war mein Bruder Martin am meisten gelernt? Und was?
mein engster Verbündeter. Seitdem ich in den USA lebe, ist Eva Sweeney: Meine Brüder waren immer an meiner Seite, sie
Bernhard am engsten mit mir befreundet. Die momentane Skala haben mich beschützt, beobachtet und mir die Welt erklärt.
wäre: Bernhard: 10, Martin: 9, Uli: 8. Bernhard hat mir das Laufen beigebracht. Martin hat mir mit
Ulrich Zünkeler: 10 – zu allen. viel Geduld das Fahrradfahren beigebracht. Uli hat mich vor
Martin Zünkeler: Eine harte 10. Für Dritte und manchmal auch dem verhassten Schwimmunterricht gerettet und mir dann das
für Ehepartner vielleicht zu eng. Es fällt mir schwer, eine Rang- Schwimmen beigebracht. Natürlich hatten alle drei den größten
ordnung abzugeben. Ich telefoniere fast täglich mit meinem Bru- Spaß daran, mir mit sieben Jahren zu erklären, wo die Babys
der Bernhard, wöchentlich mit meiner Schwester und monatlich herkommen.
mit meinem Bruder Ulrich. Ulrich Zünkeler: Nie kapiert habe ich, wie mein Bruder Bern-
Bernhard Zünkeler: Sehr eng, seit meiner Kindheit: 9. Uli ist mir hard mit dem Ball umgehen kann. Ganz genau sagen kann ich,
in seinem Charakter am ähnlichsten. Allerdings hat er eine Art, was ich von allen noch lernen müsste: mehr Disziplin.
Dinge zu betrachten, die mir immer ein Rätsel bleiben wird. Er Martin Zünkeler: Klar, von Bernhard: Zuversicht, Geduld (oder
sieht Dinge, die ich nie sehen würde. Am engsten ist das Ver- zumindest das, was ich aufbringen kann), moralische Grund-
hältnis zu meiner kleinen Schwester. Auf gewisse Weise hält sie werte, Kommunikation, Durchhaltevermögen, Entschlossenheit.
uns alle zusammen. Am Anfang wahrscheinlich, weil sie bei uns Von Eva: Ausgleich, Freude teilen, Gelassenheit, Selbstlosigkeit
älteren Brüdern Beschützerinstinkte weckte. In den vergan- (großes Wort). Von Ulrich: Wettbewerb, Zielstrebigkeit.
genen Jahren verhält es sich fast umgekehrt, sie ist der stabile Bernhard Zünkeler: Von meinen Geschwistern habe ich gelernt,
Anker. Martin und ich tauschen uns über alles aus, vielleicht dass es eine Dimension von Verhalten und Gefühlen gibt, die
gerade, weil sich unsere Einschätzungen mitunter extrem unter- durch keine gesellschaftlichen, moralischen oder persönlichen
scheiden. Das Verhältnis ist eng geblieben, auch wenn sich Differenzen im Kern erschüttert werden kann. Keine Ahnung,
unsere Rollen immer wieder geändert haben. Augenblicklich wie man das nennt – vielleicht Geschwisterliebe.
würde ich sagen: Eva: 9,9, Martin: 9, Uli: 8. Als Mutter von drei
Kindern hat meine Schwester einfach die weiteste Perspektive, Welche Rolle spielten Ihre Geschwister bei
sie ist der beste Kommunikator von uns, bei uns Brüdern wech- Entscheidungen über berufliche Veränderungen?
selt das ständig. Eva Sweeney: Nach dem Abitur bin ich als Au-pair für ein Jahr
in die USA gegangen, weil ich nicht wusste, was ich machen
Um was konkurrieren Sie mit Ihren sollte. Als ich danach immer noch nicht wusste, was ich studie-
Geschwistern? Um was konkurrieren Ihre ren sollte, schlug Bernhard mir Architektur vor. Sein Argument:
Geschwister mit Ihnen? Du hast immer Kunst und Mathe geliebt. Mit Bernhards und
Eva Sweeney: Ich habe als kleine Schwester immer um die Ulis Hilfe habe ich mich für ein Fulbright-Stipendium beworben.
Anerkennung meiner Brüder gekämpft. Ich glaube, heute ist es Ich war in Panik, die Deadline nahte, es fehlten noch viele For-
umgekehrt. Meine Brüder wollen meine Anerkennung. mulare und Essays. Bernhard hat mir die Fragen gestellt, Uli hat
Ulrich Zünkeler: Bei vieren im Nest war es wohl Aufmerksam- alles aufgeschrieben und formuliert.
keit. Heute ist es vielleicht die beste Pointe. Ulrich Zünkeler: Bei meinem Weg in die Werbung spielten sie
Martin Zünkeler: Ganz ehrlich? Das kann ich nicht beantwor- keine große Rolle. Bei der Entscheidung, die Vorteile einer lei-
ten. Ich weiß nicht, warum ich mich mit Uli häufiger gestritten tenden Funktion in einer der besten deutschen Agenturen mit
habe als mit Bernhard. Und wenn, dann war der Grund eher den Nachteilen der Selbstständigkeit nüchtern abzuwägen und
belanglos. Essmanieren, Aussprache, Verhalten anderen gegen- schließlich in der Agentur zu kündigen, war es wohl Bernhard.
über, Kleinigkeiten. Wir sind eigentlich nie gegeneinander an- Martin Zünkeler: Bernhard und ich haben Jura studiert. Ulrich
getreten. hat mir geraten, in der Werbebranche zu starten, in der er schon
Bernhard Zünkeler: Ich habe nie eine Konkurrenz zu meinen war. Wir wären beinahe Arbeitskollegen in Hamburg geworden.
Geschwistern gespürt, jedenfalls nicht im Sinne von „ich will Ulrich hat mir klar gesagt, dass ich kein Jurist sei, sondern eine
besser sein“. Ich war immer stolz, wenn meine Geschwister Er- sonnige Sales-Person, die sympathisch verkaufen könne. Genau
folge hatten. Ich glaube nicht an Konkurrenz. Das bedeutet das, was in einer Agentur benötigt wird.

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Im WM-Sommer 1974
im Bochumer Stadtpark:
Bernhard, Martin, Ulrich
und Eva (von links)

Bernhard Zünkeler: Gravierend war für mich die Entscheidung, hat meine Schwester zusammen mit ihrem Ehemann Brian Geld
als Rechtsanwalt aufzuhören und mich der Kunst zu widmen. investiert. Werblich hat mich Uli bei beiden Firmen beraten. Für
Auch wenn ich meinem Vater zuliebe Jura studiert und mich in meine jetzige Firma habe ich Bernhard als ständigen strategi-
European Law zur Promotion gequält hatte, war das nie meine schen Berater.
Leidenschaft. Das wussten meine Geschwister und haben mir Bernhard Zünkeler: Sicher nicht. Ohne meine Geschwister hätte
den Rücken gestärkt, als ich vor gut zwölf Jahren den Wechsel ich vermutlich etwas ganz Eigenständiges verfolgt und nicht so
ins Unbekannte als Kurator eines ArtLab vollzogen habe. etwas wie dieses komplexe Familienunternehmen. Wir machen
zwar jeder etwas anderes, aber vieles ist sehr stark auf die ande-
Wären Sie ohne Ihre Geschwister heute ren bezogen.
beruflich da, wo Sie sind?
Eva Sweeney: Mit Sicherheit nicht. Mein Fulbright-Stipendium Wer ist der oder die Geschäftstüchtigste?
hätte ich nie ohne meine Brüder bekommen. Ich wäre nicht in Eva Sweeney: Martin und ich sind die Pragmatischsten von uns
die USA gegangen, hätte kein eigenes Architekturbüro eröffnet, vieren. Und Martin hat wohl das beste Händchen für „money
hätte nicht meinen Ehemann kennengelernt und nicht Esmoa making“.
gegründet. Ulrich Zünkeler: Mein Bruder Martin verkauft einem Eskimo
Ulrich Zünkeler: Was wir heute im Orange Council machen, Eiswürfel, wenn es sein muss.
wäre ohne die Experimentierfreudigkeit von Bernhard nicht Martin Zünkeler: Ich würde nicht sagen, dass ich der Geschäfts-
möglich. Ohne die Zuversicht von Martin und Eva auch nicht. tüchtigste bin. Ich fürchte, dass ich am empfänglichsten bin für
Martin Zünkeler: Ganz sicher nicht. Meine Schwester hat mir Konsum und materielle Dinge.
zweimal Geld für den Aufbau meiner beiden Firmen geliehen. Bernhard Zünkeler: Ich glaube, dass Eva und Martin sehr
Die erste Firma habe ich Ende 2007 verkauft und ihr das Geld geschäftstüchtig sind. Beide haben einen guten Sinn für die Rea-
zurückgezahlt, ohne Zinsen. Bei der zweiten Firmengründung lität und den notwendigen Pragmatismus. Und beide wissen, >

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wann etwas wirtschaftlich keinen Sinn ergibt. Martin hat einen immer ein echtes und schonungsloses Feedback. Ich kann mir
sehr guten Instinkt, wenn es darum geht, einen Bedarf zu erah- nichts Schöneres vorstellen, als mit meinen Geschwistern zu-
nen und diesen mit einem gesunden Verständnis für Finanzen sammenzuarbeiten.
zu bedienen. Meine Schwester Eva konnte immer ihre Fähig-
keiten als Architektin mit der Nähe zu Menschen verbinden. Sind Ihre Geschwister für Sie Ratgeber, Inspira-
Selbst der Rockmusiker Edge von U2 und seine Frau konnten ihr tion, soziale Kontrolle, Schutz? Können Sie diese
bei einem Grundstücksdeal nicht widerstehen. Ich glaube, Uli Reihe mit eigenen Worten ergänzen?
und ich neigen eher zum Romantizismus mit einem Schuss ins Eva Sweeney: All das. Ich kann noch hinzufügen: beste Freunde,
Schräge. Das kann inspirierend und unterhaltsam sein, aber wirt- Freude am Leben, Emanzipation, Tutoren, Eroberer und Er-
schaftlich neigt man da manchmal zum Selbstbetrug. kunder.
Ulrich Zünkeler: Vorbilder, engste Verbündete.
Wer ist der oder die Kreativste? Bernhard Zünkeler: Alles stimmt. Es geht um das Gefühl, jeman-
Eva Sweeney: Bernhard und Uli. den zu haben, der einen verortet. Ein Leben mit Geschwistern
Ulrich Zünkeler: Das weiß wohl nur der liebe Gott. Immerhin ist einfach eine andere Form, durch sein Leben zu gehen. Jeder
habe ich schon im zarten Alter von zwei Jahren entdeckt, wie Moment kann geteilt werden.
man mit dem Hinterkopf ein Loch in die Wand schlägt.
Martin Zünkeler: Schwer zu beantworten. Im Sinne von ohne
Limit: Bernhard. Innerhalb festgelegter Grenzen: Uli. Bei Ge- „Ein Leben mit
schäftsprozessen: Eva und ich.
Bernhard Zünkeler: Ich glaube, jeder von uns ist auf seine Art Geschwistern ist einfach
kreativ. Ich bin wahrscheinlich nur der Radikalste oder Ver-
träumteste.
eine andere Form,
Wären Sie ohne Ihre Geschwister ein anderer
durch sein Leben zu gehen.“
Mensch?
Eva Sweeney: Mit Sicherheit, und ich glaube, ein schlechterer. Haben Sie sich ab und zu über berufliche
Ulrich Zünkeler: Sicher. Entscheidungen Ihrer Geschwister gewundert
Martin Zünkeler: Ganz sicher. Mir würde wahrscheinlich die oder geärgert?
Rückkopplung fehlen und letztlich der Halt. Martin Zünkeler: Als Uli seinen letzten Arbeitgeber verlassen
Bernhard Zünkeler: Ja. hat. Da hätte er mehr für sich kämpfen können. Bei Bernhard
waren einige unternehmerische Aktionen aus rein kaufmän-
Ist es eine gute Idee, mit den eigenen nischer Sicht Himmelfahrtkommandos. Da wollte er zu viel. Er
Geschwistern eine Firma zu gründen? hat sich viel zu viel zugemutet, und so sind einige sehr interes-
Eva Sweeney: Mir macht es Spaß, mit meinen Brüdern zusam- sante Projekte irgendwie auch gescheitert. Aber sie dienten ihm
menzuarbeiten. Allerdings ist die Voraussetzung, dass man sich dann als Grundlage für die neue Firma. Vielleicht hat sich Bern-
als Partner auf Augenhöhe begegnet. Ich könnte nie die Ange- hard auch in der Vergangenheit manchmal zu schnell für die
stellte von einem meiner Brüder sein. falschen Geschäftspartner entschieden.
Ulrich Zünkeler: Die Risiken liegen in der Verletzbarkeit. Men-
schen, die ich nicht liebe, können mich nicht verletzen. Der unangenehmste Konflikt mit einem oder
Martin Zünkeler: Ohne wenn und aber: ja. Allerdings gelten bei mehreren Ihrer Geschwister in den vergangenen
Geld leider andere Regeln. In einer Familie kennt man die Stär- zehn Jahren?
ken und Schwächen der anderen. Geschwister können leider Eva Sweeney: Der schwerste Konflikt war die Erkrankung und
auch verletzend sein. der Tod unseres Vaters. Er hat unter Alzheimer gelitten. Wir
Bernhard Zünkeler: Für mich: ja. Ich glaube, der Schlüssel liegt Kinder mussten ihn zwingen, seine Rechtsanwaltskanzlei aufzu-
darin, ehrlich miteinander zu sein. Wir hatten ja in der Vergan- geben. Manche von uns hätten mehr helfen müssen, inklusive
genheit nicht nur erfolgreiche Projekte zusammen, manches ist mir selbst.
gründlich schiefgegangen. Dann muss man Farbe bekennen, Ulrich Zünkeler: Wir können Konflikte ausräumen. Wir können
aufräumen und neu anfangen. Zwanghaft alles unter eine Glo- verzeihen. Wir können vergessen. Der unangenehmste Konflikt?
cke zu bringen würde bei uns nicht funktionieren. Natürlich In den letzten … Wie lange? Ich weiß es nicht mehr. Scharmüt-
kann man sich auch auf die Nerven gehen, aber man bekommt zel kommen in einem Rudel schon mal vor. >

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Martin Zünkeler: Eva: keiner. Ulrich: Einstellung zur Norma- Sozialplastik nähergebracht. Insofern war ich vielleicht etwas
lität. Bernhard: vorzeitiger Rückruf eines Darlehens. Ich wollte privilegierter als meine Geschwister.
selbst ein Haus kaufen und habe alle Mittel zusammengezogen,
auch ein kleines Darlehen, das ich Bernhard gegeben hatte. Das Befürchten Sie, dass es irgendwann Streit ums
war unnötig. Geld oder die Erbschaft geben könnte?
Bernhard Zünkeler: Ein schwieriges Thema. Unser Vater hat im Eva Sweeney: Nein. Zum Glück haben unsere Eltern all ihr
Krieg Entsetzliches erlebt, unter anderem den Tod seines klei- Vermögen in das Aufwachsen von uns Kindern investiert. Mein
nen Bruders. Als kriegstraumatisiertes Kind hat er immer nur Motto ist: Wer Geld hat, hilft den anderen drei Geschwistern
funktionieren müssen. Er hatte einen Hang zur Melancholie. aus.
Manchmal bricht das auch bei unserer Generation aus, das muss Ulrich Zünkeler: Erbschaft? Sie scherzen.
man dann konsequent bekämpfen. Martin Zünkeler: Nein. Ich bin davon überzeugt, dass wir das
ohne Streit untereinander regeln könnten.
Welche Rolle spielt für Sie und Ihre Geschwister Bernhard Zünkeler: Ich glaube, wir sind da ziemlich immun.
bildende Kunst, beruflich und privat?
Eva Sweeney: Meine Eltern haben uns immer in Museen und Eine Kindheitserinnerung?
alte Kirchen geschleppt. Kunst ist mehr als nur eine Dekoration Eva Sweeney: Jeden Samstag erlaubte unsere Mutter, dass wir
an der Wand. Mein Bruder Bernhard ist wohl der stärkste Ver- uns beim Einkaufen etwas Süßes aussuchen. Meine Brüder hat-
fechter der These: „Art is a state of mind“. ten ihre Schokoriegel oder ihre Kaubonbons meistens schon im
Ulrich Zünkeler: Für mich liegt in der Kunst die gesamte Am- Auto aufgegessen. Nicht ich. Ich habe so lange gespart, bis die
bivalenz des Lebens. Kommt also direkt hinter Gott, unserer drei bettelnd zu mir kamen und für jedes Spielchen zu haben
Mutter und Fußball. waren. Natürlich nur so lange, wie mein süßer Vorrat reichte.
Martin Zünkeler: Schon als wir Grundschulkinder waren, sind Ulrich Zünkeler: Uuuuuli, wach auf. Bringst du mich zu Mama
unsere Eltern an den Wochenenden mit uns in Museen oder und Papa ins Bett?
Kirchen gegangen. Ich war in romanischen Kirchen oder dem Martin Zünkeler: Immer was los.
Wallraf-Richartz-Museum in Köln, bevor ich das erste Mal den Bernhard Zünkeler: Für ein Weihnachtsfest hatte meine Mutter
Kölner Zoo gesehen habe. Ohne Kunst hätten wir nie die eigene aus Satin einen Morgenmantel für meinen Vater genäht. Weil
Kreativität entfalten können. Ich glaube, ich wäre dann immer noch Stoff übrig blieb, schneiderte sie für uns Jungs daraus an
noch Fachanwalt für Steuerrecht. die 20 Unterhosen. Einziger Nachteil: Die Hosen bekamen
Bernhard Zünkeler: Für mich ist Kunst einfach eine Art zu den- Gummieinzüge, auch an den Beinen. Wir sahen aus wie in Pam-
ken. Meine Eltern haben uns bereits im Kindergartenalter auf pers gewickelt. Uli gab darin eine Supervorstellung.
die Documenta und in romanische Kirchen mitgeschleppt. Wir
haben gemeinsam mit unserer Mutter schon Türen und Möbel Was wünschen Sie sich von Ihren Geschwistern
bemalt, als so etwas im Freundeskreis noch als antiautoritäre für die Zukunft, beruflich und privat?
Erziehung galt. Eva Sweeney: Viele gemeinsame Urlaube mit unseren Familien.
Ulrich Zünkeler: Weiter viel Geduld mit mir.
Und wer von Ihnen versteht am meisten Martin Zünkeler: Stärkere Achtsamkeit auf ihre Gesundheit,
von Kunst? nicht uneigennützig – so habe ich länger was von ihnen. Eva:
Eva Sweeney: Bernhard hat wohl die meiste Ahnung von Kunst- mehr Geduld mit sich selbst. Ulrich: mehr leben im Hier und
geschichte. Jetzt, sonst bekommt man keine Kinder. Bernhard: nicht zu al-
Ulrich Zünkeler: Verstehen ist schwer zu messen. Die größte truistisch sein.
Leidenschaft für Kunst haben wahrscheinlich Eva und Bern- Bernhard Zünkeler: Ich hoffe, dass wir mit unseren jährlichen
hard. gemeinsamen Urlauben den Familiensinn auf unsere Kinder
Martin Zünkeler: Allgemein und in der Ausführung: Bernhard. übertragen können. So vergnüglich und beharrlich, wie es un-
Architektur: Eva. Und Werbung: Uli. sere Oma durch fröhliches Zusammenleben mit ihren vier
Bernhard Zünkeler: Kunstgeschichte hat mich wahrscheinlich Geschwistern auf uns übertragen hat. –
immer am meisten interessiert. Vielleicht auch, weil ich mit
Franz-Josef van der Grinten einen begnadeten Inspirator als
Kunstlehrer hatte. Die Gebrüder van der Grinten hatten nach
dem Zweiten Weltkrieg Joseph Beuys auf ihrem Bauernhof auf-
genommen. Mein Kunstlehrer hat mir schon früh die Idee der

118 brand eins 12/18


Die besten Geschichten
aus dem Süddeutsche Zeitung
Magazin 2018.

Das Magazin
des Jahres!

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Er war es

Die Geschichte
meines Großvaters.
Text: Andreas Molitor Illustration: Tine Fetz
• „Bist du sicher, dass es Opa war?“ Die E-Mail dem linken Kragenspiegel. Die SA-Männer fassen
meiner Schwester bestand nur aus diesem einen Schmitz und schlagen mit Stahlruten und Kara-
Satz, aber sie ließ das ganze Entsetzen erahnen. binerhaken auf ihn ein, bis er zu Boden sinkt. „Bei
Ja, ich war sicher. Alles passte. Name, Ort, SA- wem kassieren Sie?“, fragt der Anführer wieder. Auf
Dienstrang. „Er war es“, schrieb ich zurück. „Er war seinen Befehl hin erhält Schmitz noch vier weitere
ein brutaler Sadist“, wollte ich noch ergänzen. Aber „Auflagen“. Jedes Mal dreschen die SA-Männer auf
dann löschte ich den Satz wieder. Ich wusste, dass ihn ein – bis er schließlich das Bewusstsein verliert.
meine Schwester, fünf Jahre älter als ich, sein Lieb- Zwischendurch wird er angespuckt und mit Kinn-
lingsenkelkind gewesen war. Es gibt ein Foto von haken traktiert. Zum Schluss tragen sie ihn hinaus
ihr, auf dem sie ein Schwarzwaldmädelkleid trägt und werfen ihn auf einen Sandhaufen. Als Schmitz
und lange Zöpfe. Das Kleid hatte unser Großvater wieder zu Bewusstsein kommt, sieht er einen SA-
ihr gekauft. So stellte er sich wohl ein deutsches Mann, der mit einem Karabiner bewaffnet neben
Mädchen vor. Mit meiner Schwester werde ich wohl ihm steht. „Bei dem brauchst du nicht Posten zu
nie mehr sprechen über das, was unser Großvater stehen, der verreckt ja doch“, hört er einen anderen
getan hat. Sie will nichts davon hören. Vielleicht SA-Mann sagen. Da geht der Posten ins SA-Heim
wäre es besser gewesen, ihr jene Textpassage mit zurück, und Schmitz kann sich in der Dunkelheit
der Aufforderung „Lies mal. Das ist furchtbar“ nie davonschleichen.
zu schicken. Joachim Schmitz ist 55 Jahre alt, als er am 3. No-
Joachim Schmitz hat das Gesicht des SA-Man- vember 1949 vor den Richtern und Geschworenen
nes, der an jenem Julitag des Jahres 1933 immer wie- der Schwurgerichtskammer des Landgerichts Aachen
der den Befehl zum Zuschlagen gab, nicht verges- Zeugnis über seine Misshandlungen ablegt. Ange-
sen, auch nach 16 Jahren nicht. „Wen kassieren Sie klagt sind neun ehemalige SA-Männer aus der nahe
Hund noch?“, schreit er, der Älteste der in dem gelegenen Stadt Düren. Das Protokoll des Prozesses,
Raum des SA-Heimes stehenden Männer. In die Anklageschrift und die Urteilsbegründung, Ak-
Schmitz’ Wohnung haben sie ein KPD-Parteibuch tenzeichen 4 Ks 5/49, liegen vor mir. 54 Seiten, eng
gefunden. Nun will der Anführer des Trupps von mit der Maschine beschrieben, mit handschriftlichen
ihm die Namen weiterer Genossen wissen, bei de- Ergänzungen hier und da.
nen Schmitz Mitgliedsbeiträge einsammelt. „Ich habe Der Mann, der immer wieder das Kommando
nichts zu kassieren“, antwortet Schmitz. „Geben Sie zum Zuschlagen gab an jenem Tag, der SA-Trupp-
dem roten Lump mal die erste Auflage“, befiehlt der führer, der Joachim Schmitz halb tot prügeln ließ,
Mann mit dem Rangzeichen des Truppführers auf hieß Josef Mundt. Er war mein Großvater. >
Ich habe an ihn wenige schemenhafte Erinne- Er starb mit 83 Jahren nach einem Schlaganfall.
rungen. Als er 1973 starb, war ich neun Jahre alt. Die Meine Mutter kam aus dem Krankenhaus heim und
sonntäglichen Besuche bei den Großeltern mit Vater, sagte: „Sie haben ihn jetzt ins Sterbezimmer gelegt.“
Mutter und Schwester, das waren lange Nachmit- Ich habe mich damals gefragt, warum sie eigent-
tage, die nicht vergehen wollten. Stundenlang saß lich nicht geweint hat.
ich da und studierte den von zu Hause mitgebrach- Dass mein Großvater ein Nazi war, wusste ich
ten Märklin-Katalog. Oder ich sah aus dem Küchen- aus den Erzählungen meiner Mutter. Er war früh in
fenster und wartete darauf, dass wieder ein Güter- die Partei eingetreten, im rheinischen Düren, wo die
zug am Waldrand vorbeizog, damals noch von einer ganze Familie wohnte, 1930 schon, ein „alter Kämp-
Dampflok gezogen. Bis heute habe ich den Geruch fer“ also. Ein Jahr später wurde er Mitglied der SA.
in der Nase, den das kleine Ölöfchen im Wohnzim- Die „Sturmabteilung“, die Braunhemden, das war
mer verbreitete. Dort saß mein Großvater, den Schei- Hitlers Truppe fürs Grobe. Mein Großvater hat sei-
tel stets zackig gezogen, auf dem Sofa. Ich war dazu nen Führer verehrt und imitiert, mit Frisur, Stum-
ausersehen, mir seine Erzählungen von früher anzu- melbart unter der Nase und Schäferhund. Wenn
hören. Es waren immer die gleichen Geschichten. eine Hitler-Rede übertragen wurde im Rundfunk,
Seine Meisterprüfung als Schlosser. Sein erster gro- mussten alle still sein, und oft gab es Streit, weil
ßer Auftrag. Seine erste elektrische Bohrmaschine. meine Großmutter beim Metzger oder beim Bäcker
Zur Kommunion kaufte er mir einen Anzug, den ich nicht mit „Heil Hitler“ grüßte.
danach nie mehr trug. Brotscheiben konnte er milli- Er vernachlässigte die Arbeit und führte seine
metergenau schneiden. Zum Frühstück trank er je- einst gut gehende Schlosserei in den Ruin. Aufträge
den Morgen ein rohes Ei und einen Schnaps dazu. von Juden nahm er nicht mehr an. Sein Lebens-
Er war mir sehr fern, fast fremd. Ich kann mich mittelpunkt war das Schlageterheim geworden, das
nicht erinnern, dass er mich mal in den Arm genom- frühere Jugendheim der Arbeiterwohlfahrt in der
men hätte. Nie hat er mich gefragt, wie es in der Wernersstraße, das die SA nach der Machtüber-
Schule vorangeht, nie ist er mit mir zur Kirmes ge- nahme für sich in Beschlag genommen hatte. Mit
gangen oder auf die Felder, die gleich hinter dem seinen Kameraden verbrachte er den ganzen Tag in
Haus begannen, um Falken und Bussarde bei der diesem Heim, benannt nach Albert Leo Schlageter,
Jagd zu beobachten. Ich glaube, er wusste nicht, was ein früher Anhänger Hitlers, der wegen mehrerer
er mit mir anfangen sollte. „Ein guter Handwerks- Sprengstoffanschläge 1923 hingerichtet und von den
beruf ist Gold wert“, sagte er oft. Ich aber hatte zwei Nazis zum Märtyrer erhoben worden war.
linke Hände. Meine Laubsägearbeiten waren ein Meine Mutter hat sehr darunter gelitten, dass ihr
Ausweis völliger Begabungsfreiheit. Vater ein überzeugter Nationalsozialist war. Sie

122 brand eins 12/18


„Schick das Mädel doch nicht da lang in der Dun-
kelheit“, sagten die Verwandten zu meinem Großva-
ter. Aber beim nächsten Mal schickte er sie wieder.
Am schlimmsten waren die Nächte. Da lag sie
wach und wartete darauf, dass ihr Vater aus dem
Schlageterheim kam. Wenn er getrunken hatte,
wurde er laut und grob, und wenn die Bratkartoffeln
nicht gleich auf dem Tisch standen, mitten in der
Nacht, oder ihre Mutter ihm die Stiefel nicht schnell
genug ausgezogen hatte, setzte es Schläge. „Ich er-
kannte immer schon am Stiefelschritt auf der Straße,
ob er getrunken hatte“, sagt sie.
Meistens hatte er getrunken.
Dass mein Großvater zu Hause seine Familie
tyrannisierte, ist schlimm genug. Aber was geschah
eigentlich in den 10, 12, 15 Stunden des Tages, die er
musste mit ansehen, wie ihr älterer Bruder Schläge nicht daheim war? Morgens zwischen acht und halb
bezog, wenn er in der Nachbarschaft für den »Stür- neun machte er sich auf den Weg, natürlich in Uni-
mer« kassiert hatte und die Kasse nicht stimmte, form – Braunhemd, braune Breecheshose, brauner
weil manche das Geld nicht hatten. Der verordnete Binder, Stiefel, Mütze mit Sturmriemen, braunes Le-
Gemeinschaftskult, dem mein Großvater huldigte, derkoppel mit Schulterriemen und Binde mit Haken-
war ihr zuwider. Ihr Vater zwang sie in den Jungmä- kreuz am linken Arm – und kam meist erst spät-
delbund, wo sie die meisten Gruppennachmittage abends wieder heim. Meine Mutter kann sich nicht
schwänzte. Sie mochte die Lieder nicht singen, „Ein erinnern, dass er je erzählt hat, wie es zuging im
junges Volk steht auf, zum Sturm bereit“. Meine Schlageterheim. Das SA-Heim war Terra incognita.
Großmutter zahlte dann von ihrem bisschen Haus- Irgendwann habe ich mir genau diese Frage
haltsgeld stillschweigend die Strafe für die versäum- gestellt: Was hat mein Großvater eigentlich den
ten Gruppenstunden, Hauptsache, der Vater bekam ganzen Tag so gemacht in diesem Heim? Ich hatte
nichts davon mit. gelesen, woraus der SA-Dienst bestand: Uniform-
Als Einzige aus ihrer Volksschulklasse nahm kontrolle, Anwesenheitskontrolle, Bekanntgabe von
meine Mutter nicht am Religionsunterricht teil. Sie Befehlen und Anordnungen, Vorträge über Ehre,
war ja nur „gottgläubig“, so der NS-Jargon für kon- Treue, Kameradschaft, gemeinsames Singen, Exer-
fessionslos. Mein Großvater entstammte einer erz- zieren. Aber war das alles? Wie war es, wenn sie
katholischen Familie, hatte als junger Mann sogar ausrückten und im Gleichschritt durch die Straßen
im Kirchenchor gesungen, aber nun wollte er mit von Düren marschierten, er als Truppführer voran,
der Kirche nichts mehr zu schaffen haben. Als meine unter Absingen von „SA marschiert“ und „Das
Mutter sieben oder acht war, nahm er sie mit zur Sturmband am Kinn“? Er war SA-Mann, ein Lands-
Maikundgebung, wo er eine Rede hielt und sich da- knecht, ein Kämpfer jener „braunen Bataillone“, die
bei an der gleichen Gestik versuchte wie Hitler. Sie schon lange vor Hitlers Machtübernahme in üblem
schämte sich. Gern hätte sie eine Pagenfrisur gehabt, Ruf standen, weil sie pöbelten und prügelten, Saal-
aber ihr Vater verbot es: „Ein deutsches Mädel muss schlachten und Straßenkämpfe anzettelten. Nach-
Zöpfe haben.“ Er erzählte ihr, dass die Juden Men- dem Hitler an die Macht gekommen war, trug die
schenblut in den Teig für die Matzenfladen gäben, SA Gewalt und Terror in jeden Winkel des Landes,
die sie für ihr Pessachfest herstellen. Sie fürchtete verhaftete und folterte politische Gegner; ihre Män-
sich jedes Mal, wenn sie an der Judenschule vorbei ner standen mit Schildern „Kauft nicht bei Juden“
musste. Und sie hatte Angst, wenn ihr Vater sie mit vor jüdischen Geschäften Posten und zündeten in
dem Siphon Bier holen schickte am Werderplatz, der Pogromnacht in ganz Deutschland die Synago-
durch die Straßen, wo die Kommunisten wohnten. gen an. >

brand eins 12/18 123


Wo war Josef Mundt, als all dies passierte? aufgehoben hatte, konnte sich der „Volkszorn“ ent-
Ich gebe fünf Wörter in die Suchmaske ein: Josef, laden. Die Straße gehörte den Braunhemden. Schub-
Mundt, Düren, Schlageterheim, SA. weise und planmäßig gingen die SA-Stürme gegen
Das einzige Suchergebnis ist ein Volltreffer: ein den politischen Feind vor; eine beispielslose Verhaf-
Text über das Dürener Schlageterheim, verfasst von tungswelle setzte ein. „Der Tag der Vergeltung und
einem Autor der örtlichen Geschichtswerkstatt. Er der Sühne für alle eure Not und Verfolgung kommt“,
enthält die Schilderung von Joachim Schmitz über hatte SA-Führer Ernst Röhm seinen Männern ver-
seine Misshandlung durch die SA. Und den Satz: heißen. Jetzt war der Tag gekommen.
„Mundt gab die Anordnung zu dieser Prügelvertei- Dutzende Dürener Kommunisten wurden aus
lung.“ Es finden sich Hinweise auf eine Vielzahl wei- ihren Wohnungen geholt. Die SA, so die Anklage-
terer Grausamkeiten: „Das Schlageterheim wurde in schrift, „führte sie in das Schlageterheim, wo sie
den folgenden Monaten zu einer regelrechten Zen- fortlaufend systematisch und in entwürdigender
trale des Terrors“, steht da. Und es gab wohl einen Weise misshandelt wurden“ – manche bis zu drei
Gerichtsprozess in der Nachkriegszeit, bei dem etli- Tage lang. Die SA hoffte, die Namen weiterer KPD-
che SA-Leute, darunter mein Großvater, sich verant- Mitglieder, die Parteizeitungen wie die »Rote Fahne«
worten mussten. verteilten oder Beiträge kassierten, aus den Verhafte-
Ich schreibe eine E-Mail an den Geschichts- ten herauszuprügeln. Düren war damals eine Arbei-
verein. Ich sei der Enkel des Josef Mundt. Ob sie terstadt, in den Fabriken hatte die KPD eine starke
vielleicht wüssten, wo die Prozessakten mit den Basis. Im Schlageterheim wurde jetzt noch mehr ge-
Zeugenaussagen liegen. Wenige Tage später finde sungen als sonst üblich. Das Einüben von Kampflie-
ich Kopien sämtlicher Akten in meinem Mail-Post- dern war ohnehin Bestandteil des täglichen Dienstes.
fach. Es sind Zeugnisse des SA-Terrors in jener Zeit. Aber in diesem Sommer, so heißt es in dem Urteil
Und sie geben Einblick in den täglichen Dienst mei- des Schwurgerichts, gab es noch einen anderen An-
nes Großvaters. Zum ersten Mal in meinem Leben lass zum Singen: „Damit die Schreie der Misshandel-
rückt er mir sehr nahe. Auf eine furchtbare Weise. ten auf der Straße nicht zu hören waren.“
Zwischen Mai und August 1933 verwandelte Mein Großvater bestimmte in vielen Fällen den
sich das Dürener Schlageterheim in eine Stätte der Takt der Folter, ihr Anfang und ihr Ende. Er führte
Inquisition. Nachdem die Reichstagsbrandverord- den zweiten Sturm der Standarte 161, die etliche
nung vom 27. Februar 1933 nahezu alle Grundrechte Vernehmungen durchführte. Er war nicht einer der

124 brand eins 12/18


Schergen, sondern ihr Befehlshaber. „Die Verhafte- „(…) Mundt fragte nun den Zeugen, wer von der
ten waren“, so das Gericht in seiner Urteilsbegrün- kommunistischen Jugend illegal weitergearbeitet
dung, „der Willkür und dem Terror des Angeklag- habe. Hierauf gab der Zeuge zur Antwort, dass er
ten Mundt schutzlos preisgegeben.“ Der seit zwei das nicht wisse, weil er erst vor Kurzem aus der
Jahren arbeitslose Schlosser hatte auf einmal Macht. Schutzhaft entlassen worden sei. Diese Antwort er-
Er war Führer. Der damals 43-Jährige war der bei schien dem Angeklagten Mundt nicht ausreichend,
Weitem Älteste seines Trupps, auf seine Befehle und er schlug dem Zeugen mehrmals mit der Hand
warteten die jungen Kerle. In seinem Trupp sam- ins Gesicht. (…)“
melten sich all die zu kurz Gekommenen und Ent- Zeuge Max Eichler, zur Tatzeit 21 Jahre
wurzelten. Fast alle der mit meinem Großvater „(…) richtete der dem Zeugen von Aufmärschen
Angeklagten gaben als Grund für ihren Eintritt in her bekannte Angeklagte Mundt und ein zweiter SA-
die SA an, dass sie keine Arbeit gehabt hatten. Die Mann, an einem Tisch sitzend, je eine Pistole auf den
SA bot ihnen Kameradschaft, Weltbild, Feindbild, Zeugen und forderte ihn auf, auszusagen, wer kom-
einen Teller Suppe, Bier, eine fest gefügte Ordnung, munistische Zeitungen und Flugblätter in Düren
Sinn. Und die Möglichkeit, Rache zu nehmen – zum verbreitet habe. Als er keine Aussagen machte, wur-
Beispiel für den Überfall von Kommunisten auf das de er auf Mundts Zeichen von den SA-Leuten ge- Die Sturmabteilung
(SA) war die paramili-
frühere SA-Heim im Jahr zuvor sowie für den Tod schlagen. (…)“
tärische Organisation
eines angeblich von Kommunisten umgebrachten Zeuge Engelbert Erven, zur Tatzeit 18 Jahre der NSDAP. Sie ent-
Dürener SA-Kämpfers. „(…) Man wollte den Zeugen zwingen, das wickelte sich Anfang
Auch 16 Jahre nach den Torturen kön- Horst-Wessel-Lied zu singen. Der Zeuge stellte der Zwanzigerjahre aus
Trupps, die zum Schutz
nen sich die Zeugen im Gerichtssaal an sich so, als ob er mitsinge. Als der Gesang nationalsozialistischer
fast alles erinnern. Vor allem an meinen einsetzte, wurde er auf ein Zeichen Versammlungen in
Großvater. Selbst das sperrige Pro- Mundts von den SA-Leuten miss- München formiert wor-
den waren.
tokolldeutsch kann die Grau- handelt. Man schlug ihm die Zähne
samkeit des Geschilder- aus. (…)“ Im Wesentlichen be-
ten nicht übertünchen. Und immer wieder heißt es: stand die SA aus Schlä-
„(…) Der Angeklag- „… befahl Mundt …“ gern, die in den Jahren
vor der Machtüber-
te Mundt wollte von dem Zeugen „… gab Mundt ein Zeichen …“
nahme der Nazis gezielt
wissen, woher die in Düren aufgetauchte „… hob Mundt die Hand …“ Zusammenstöße mit
kommunistische Broschüre über den Reichs- Die spröden Sätze verdichten sich in mei- Kommunisten provo-
tagsbrand ,Im Zeichen des Kreuzes‘ stammte. Als nem Kopf zu Bildern wie in einem Film. Aber die zierten, die vielfach in
brutale Saal- und Stra-
der Zeuge das gewünschte Geständnis nicht ableg- Erinnerung stellt Fallen. Der Mann, den ich vor mir ßenschlachten ausarte-
te, wurde er vom Angeklagten mit ,Lump‘ und sehe, der die Hand hebt als Signal zum Zuschlagen, ten. Die SA wuchs in
,Schwein‘ tituliert. Daraufhin fiel ein Teil von den 10 trägt weder Braunhemd noch Stiefel, es ist der Groß- dieser Zeit zu einer
schlagkräftigen und
bis 15 anwesenden SA-Männern über den Zeugen vater, den ich in Erinnerung habe, ich kenne ja kei-
straff organisierten For-
her und misshandelte ihn mit Schulterriemen und nen anderen, habe nie ein Foto aus jungen Jahren mation heran.
anderen Gegenständen. (…)“ gesehen. Da steht ein alter Mann in Pantoffeln und
Zeuge Alois Mainusch, zur Tatzeit 33 Jahre Hosen mit Bügelfalte. Sie erhielt, nicht zuletzt
aus den Massen
„(…) Als der Zeuge die Frage des Mundt nach Düren war eine kleine Stadt mit nur 50 000 Ein-
arbeitsloser Männer,
der Verteilung von Flugblättern und der Mitglied- wohnern. Mein Großvater muss die meisten seiner großen Zulauf –
schaft zur KPD verneinte, schlug ihn Mundt mit der Opfer gekannt haben, zumindest vom Sehen. „Beide die Mitgliederzahl stieg
Faust ins Gesicht. Mundt rief ihm zu: ,Du Hund, kannten sich von der Arbeit her“, heißt es in den allein zwischen
November 1930 und
wir kriegen dich schon zum Sprechen!‘ Die SA-Leu- Akten über meinen Großvater und einen der Miss- August 1932 von
te fielen daraufhin über den Zeugen her, schlugen handelten. Zu Beginn der Vernehmung habe er ihn 60 000 auf 471 000.
ihn mit Holzstücken zu Boden und traten ihn mit gefragt, wie er „als anständiger Arbeiter ein Kom- Die meisten SA-
Männer waren auch
Füßen. Diese Misshandlungen wiederholten sich des munist“ sein könne. „Du bist ein sehr guter Kerl,
Mitglied der NSDAP;
Öfteren zweieinhalb Tage lang. (…)“ aber politisch bist du ein Lump.“ Es waren einfache dies war aber nicht
Zeuge Johann Fücker, zur Tatzeit 38 Jahre Leute wie er, Arbeiter und Handwerker, viele > Voraussetzung. >

brand eins 12/18 125


Nach der Machtüber- Familienväter darunter. Wie konnte er seine Männer den Bombenangriffen. „Wenn der Krieg vorbei ist,
nahme der NSDAP immer wieder auf sie hetzen, frage ich mich, auch werden hier Köpfe rollen“, hatte ein Nachbarsmäd-
entwickelte sich die SA
vollends zum Terror- wenn die Opfer bereits zerschunden und blutüber- chen drohend zu meiner Mutter gesagt. Es roch
instrument der Partei strömt am Boden lagen? Und wie mag es beim ers- nach Vergeltung. Meine Mutter und meine Groß-
und sicherte Hitlers ten Mal gewesen sein? Hat er da noch gezögert, viel- mutter zogen in die Nähe von Breslau, wo mein
Macht auf der Straße
leicht einen Moment? Ich fürchte, nein. Großvater stationiert war. Doch als bald darauf
ab. Besonders Kommu-
nisten, Sozialdemo- Spätestens Ende August 1933 gab es in Düren schon die Artillerie der Roten Armee zu hören war,
kraten und Gewerk- keinen kommunistischen Untergrund mehr. Die KPD- flohen sie mit dem Flüchtlingstreck zurück gen Wes-
schafter wurden Opfer Mitglieder saßen entweder im Gefängnis oder blie- ten und strandeten schließlich im 30 Kilometer von
des Terrors.
ben verängstigt daheim. Die SA-Männer hatten die Düren entfernten Bergheim.
1934 entzog Hitler der unumschränkte Herrschaft über die Straßen. Nicht Nach Düren kehrten sie nicht zurück – aus Angst
SA – deren Machtfülle die neuen Männer im Rathaus waren die Macht, vor Rache, aber auch, weil es kein Düren mehr gab.
er zunehmend als sondern sie. Mein Großvater hatte seine Sache offen- Ein verheerender britischer Luftangriff hatte die
Bedrohung empfand –
seine Gunst. Er in- bar zur Zufriedenheit seiner Vorgesetzten gemacht. Stadt am 16. November 1944 nahezu komplett aus-
trigier te gegen den SA- Kurz nach dem Ende der Verhaftungs- und Folte- gelöscht und 99,2 Prozent der Wohnungen zerstört.
Führer Ernst Röhm, rungswelle wurde er zum Obertruppführer beför- Nur vier Menschen harrten danach noch in den
ließ Putschgerüchte ver-
dert, später sogar bis zum Obersturmführer. Das ent- Trümmern aus. Ernest Hemingway, damals Korres-
breiten und Röhm
schließlich ermorden. spricht einem Oberleutnant beim Heer. pondent für das amerikanische Magazin »Collier’s
Danach versank die SA Hinweise auf weitere Gewalttaten in den darauf- Weekly«, sah eine „zu Staub zermahlene Stadt“.
allmählich in der Be- folgenden Jahren finden sich nicht in den Gerichts- Mein Großvater kam in Kriegsgefangenschaft
deutungslosigkeit; ihre
Mitgliederzahl sank
akten. Meine Mutter erinnert sich, dass mein Groß- und im Oktober 1945 wegen seiner NSDAP- und
von 2,9 Millionen im vater seine schützende Hand über Verwandte legte, SA-Mitgliedschaft für ein Jahr zur politischen Umer-
August 1934 auf seine Geschwister zum Beispiel, von denen er wuss- ziehung in ein amerikanisches Internierungslager in
900 000 Anfang 1940. te, dass sie Sozialdemokraten waren und Hitler die Recklinghausen. Die Insassen lebten völlig von der
Eine wichtige Rolle Pest an den Hals wünschten. Einer seiner Brüder Außenwelt isoliert. Erst im Februar 1946 wurde ih-
spielten die SA-Trupps stellte, um 1940 muss das gewesen sein, den im glei- nen gestattet, monatlich zwei Postkarten mit maxi-
beim Boykott jüdischer chen Haus wohnenden Juden Essen in den Flur. Ein mal 25 Wörtern zu schreiben.
Geschäfte und in der
anderer hörte heimlich BBC. Mein Großvater habe Vielleicht hatte mein Großvater nach der Entlas-
Pogromnacht vom
9. auf den 10. Novem- das gewusst, erzählt meine Mutter. „Aber er hat sie sung aus der Internierung gehofft, er sei noch mal
ber 1938. nicht angezeigt.“ davongekommen. Aber seine Opfer hatten ihre Qua-
Ende 1943 kam mein Großvater eines Tages nach len nicht vergessen. Und sie erinnerten sich an Josef
Hause und sagte, er habe gehört, dass die Juden mit Mundt. Eines Tages im Sommer 1949 wurde er ab-
Zügen in Konzentrationslager gebracht und dort in geholt aus der Wohnung in Bergheim. „Kommense,
Gaskammern umgebracht würden. „Der Hitler ist Herr Mundt, ich gehe voraus und Sie hinter mir her“,
ein Schwein!“, hörte meine Mutter meine Großmut- sagte der Polizist, der gegenüber wohnte, zu ihm.
ter sagen. Ich weiß nicht, ob er wirklich erschüttert „Die Nachbarn müssen es ja nicht mitkriegen.“
war über das, was er erfahren hatte, oder ob es bloß Ich suche in den Gerichtsprotokollen, aber ich
Anlass war, ein paar Vorsichtsmaßnahmen zu tref- finde kein Wort der Reue, der Scham, des Bedau-
fen für den immer wahrscheinlicher werdenden Fall erns, keine Entschuldigung bei den Menschen, die er
der Kriegsniederlage. Er trug kaum noch Uniform, gequält hatte und die ihm im Gerichtssaal gegen-
kaufte sich zwei Anzüge und ging nur noch selten übersaßen. Nicht einmal ein Eingeständnis seiner
ins Schlageterheim. Das Hitlerporträt verschwand Taten. „Der Angeklagte Mundt will keineswegs ei-
aus der Stube meiner Großeltern. Bei den Dürener ner der maßgebenden Männer im SA-Heim gewesen
Parteioberen wuchsen offenbar die Zweifel an seiner sein“, heißt es. Sein Vorgesetzter, der Sturmbann-
politischen Zuverlässigkeit. 1944 wurde er, obwohl führer Klotsch, „habe selbst alle Vernehmungen
schon 54 Jahre alt, zur Wehrmacht eingezogen. durchgeführt“. Es sei zwar „darüber gesprochen
Meine Großmutter verließ mit meiner Mutter worden, dass Ausschreitungen in dem Heim vorge-
Düren mitten in der Nacht – nicht nur aus Angst vor kommen seien, er habe sie aber nicht veranlasst“.

126 brand eins 12/18


Außerdem sei er ja tagsüber an den meisten Tagen wollen meine Mutter und meine
gar nicht im Heim gewesen, sondern mit seinem Schwester die Aussagen der Zeugen
Sturm „ausmarschiert zum Exerzieren und zu sport- nicht lesen.
lichen Übungen“. Die von den Zeugen geschilderten Vielleicht wird es jetzt heißen, dass
Vorfälle seien ihm „unerklärlich“, er habe nieman- man den Namen der eigenen Familie
den misshandelt, niemanden „über irgendwelche nicht beschmutzt. Aber ich will, dass die
Broschüren ausgefragt“. Das Gericht zeichnet das Taten nicht in Vergessenheit geraten.
Bild eines Angeklagten, der „durch ausweichende Und auch die Namen und das Leiden der
Antworten dem Kern der Dinge zu entgehen suchte Geschundenen und Gedemütigten nicht.
und in keiner Weise den Eindruck eines Mannes Dies alles aufzuschreiben ist wie eine De-
machte, der zu seinem früheren Verhalten steht“. kontamination. Hass empfinde ich keinen,
Am 5. November 1949 verhängt das Gericht ge- nicht mal Verachtung. Dass sein Blut in meinen
gen meinen Großvater wegen „Verbrechens gegen Adern fließt, ist nicht schön, aber aus mir ist deshalb
die Menschlichkeit in Tateinheit mit gefährlicher kein Nazi geworden. Mir tun die Menschen leid, die
Körperverletzung“ eine Gefängnisstrafe von einem unter seiner Willkür leiden mussten. Es muss doch
Jahr. Ein anderer SA-Mann aus seinem Trupp muss Nachkommen geben. Ob sich der eine oder andere
für zwei Monate ins Gefängnis. Die übrigen sieben vielleicht ausfindig machen lässt? Aber was soll ich
Angeklagten werden freigesprochen, weil die Bewei- ihnen sagen?
se nicht ausreichen oder die Zeugenaussagen sich Mein Großvater hat sich, da ist meine Mutter
widersprechen. sich sicher, nach dem Krieg nie mehr politisch betä-
Ich lese die Zeugenaussagen noch einmal und tigt. Er war wohl ein Anhänger Adenauers, sonst ein
denke, dass ein Jahr Gefängnis ein ausgesprochen biederer, allseits geschätzter Bürger. Eine kleine
mildes Urteil ist für die körperlichen und seelischen Schlosserwerkstatt hat er sich noch einmal einge-
Qualen, die diese Menschen durch ihn erleiden richtet und sehr schöne Arbeiten angefertigt. Ein
mussten. Damals kamen viele Mörder ohne Prozess schmiedeeiserner Tisch aus seiner Hand, filigran ge-
oder mit Freisprüchen davon. Dass die Justiz bei arbeitet, steht bei mir daheim als Unterlage für mei-
ehemaligen Nazis hart durchgriff, war in den Jahren nen Drucker. „Nazi-Opa-Tisch“ nenne ich ihn.
nach dem Krieg nicht der Normalfall. Eine Frage bleibt. Ich rufe meine Mutter an. „Wo
Meine Großmutter schickte meine Mutter im- war denn dein Vater eigentlich in der Pogromnacht?“
mer wieder mit frischer Wäsche nach Aachen ins Auch in Düren hatten SA-Männer die Synagoge
Gefängnis. Sie selbst hat ihn kein einziges Mal dort niedergebrannt, jüdische Geschäfte geplündert und
besucht, auch beim Prozess war sie nicht dabei. „Der demoliert. „An dem Abend war er zu Hause“, sagt
kommt mir hier nicht mehr rein“, sagte sie, als seine meine Mutter, „da bin ich mir sicher. Aber warum,
Entlassung anstand. Vielleicht war das ihre Rache. weiß ich nicht mehr.“ Am nächsten Tag ruft sie an.
Meine Mutter weinte. „Aber es ist doch der Vater“, Es ist ihr eingefallen. „Er lag krank im Bett mit einer
bettelte sie meine Großmutter an. Da nahm sie ihn Nierenkolik.“ Ihre Mutter habe sogar den Arzt rufen
doch wieder auf. Sie haben miteinander gelebt, ir- müssen. „Da war er nicht dabei“, sagt meine Mutter
gendwie, 23 Jahre noch, bis mein Großvater starb. noch. „Was für ein Glück.“ –
Sie überlebte ihn um sechs Jahre.
In der Familie meines Großvaters ist später nie
über diese Zeit geredet worden. Nicht über die SA,
nicht über den Krieg, nicht über seine Tyrannei da-
heim. Und nicht übers Schlageterheim. Auch sein
Sohn, der nach dem Krieg mit den Kommunisten
sympathisierte, die Trinkerei anfing und zwei Jahre Der Autor dankt der Dürener Geschichtswerkstatt für
vor ihm starb, hat ihn nie zur Rede gestellt. Als ihre Unterstützung und würde sich freuen, wenn Leser zu
einer Spende bereit wären:
wäre all dies nie geschehen. Als hätte es den Ober- Dürener Geschichtswerkstatt e. V., Bankverbindung:
sturmführer Josef Mundt nie gegeben. Auch jetzt IBAN DE34 3955 0110 0000 6544 42, BIC SDUEDE33

brand eins 12/18 127


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Bleib mir von In den USA legt man Tausende Meilen für
ein kurzes Familientreffen zurück.

der Pelle! Sonst aber geht man sich höchst freundlich


aus dem Weg.

Text: Steffan Heuer


Illustration: Silke Weißbach

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• Es gibt in Amerika eine eigene Sparte Während sich in Deutschland die Es ist auch relativ dünn besiedelt mit
Horrorfilm, das verbindende Thema lau- Heimkehr ins Elternhaus meist mit einer durchschnittlich 36 Menschen pro Qua-
tet: „Familienbesuch über die Feiertage“. relativ überschaubaren Zugfahrt bewerk- dratkilometer (in Deutschland sind es 237
Ich habe keine Ahnung, wie viele Versio- stelligen lässt, löst die Reise in den USA und in Singapur etwa 8000). Den Ameri-
nen dieses Kultklassikers existieren, aber mitunter einen Kulturschock aus. Etwa zu kanern ist räumliche Distanz wichtig, das
es müssen Hunderte sein. Jeder Star ver- Weihnachten: Man steigt in Kalifornien, gilt auch für die Metropolen, wie sich im
sucht im Laufe seiner Karriere, mindestens umgeben von braun gebrannten Beautys, Alltag immer wieder feststellen lässt. „Hab
eine dieser schicksalsschweren Prüfungen bei 20 Grad Celsius ein und sechs Stun- einen großartigen Tag!“ schmettern sie so-
zu absolvieren (und zu überleben). den später irgendwo im Mittleren Westen gar Unbekannten gern entgegen, so laut,
Die erbarmungslose Dramaturgie läuft bei minus 15 Grad und umgeben von dass sich ein Näherkommen erübrigt.
folgendermaßen ab: Die Familie ist über Menschen mit drei bis vier Konfektions- Am auffälligsten ist die Vorliebe zur
den gesamten Kontinent verstreut und größen gefühlt mehr wieder aus. Distanz in allen Situationen, die unter Um-
pflegt unterschiedlichste Lebensstile. Zu Am besten greift man jetzt zum ständen eine körperliche Berührung mit
Thanksgiving, wahlweise auch Weihnach- Smartphone und lässt sich anzeigen, wo sich bringen könnten. Wenn etwa zwei
ten oder Chanukkha, nehmen die Jün- es einen Whole Foods Market, Trader Personen gleichzeitig auf den Eingang ei-
geren den Treck zu den Eltern auf sich. Joe’s oder gar einen Apple Store gibt – nes Cafés zusteuern, könnte es in Deutsch-
Doch die Hoffnung, sich für ein paar Tage land gut passieren, dass beide einen Schritt
wieder nahezukommen, entpuppt sich als zulegen, um schneller da zu sein und den
Kollisionen auf dem
grober Irrtum. womöglich letzten Platz zu ergattern. In
Denn man hat sich nicht nur nichts Bürgersteig den USA undenkbar. Lieber verzichtet
zu sagen, sondern weiß plötzlich wieder, werden vorausschauend man auf den Café-Besuch, als Gefahr zu
warum man so weit weggezogen und der laufen, dass man dem Fremden an der Tür
Sicherheitsabstand über mehrere Zeitzo- verhindert zu nah kommt.
nen hinweg segensreich ist. In den meis- Auch auf dem Bürgersteig werden
ten Filmen bleibt es bei Alkoholmiss- nationale Einzelhandels-Oasen, die das mögliche Kollisionen vorausschauend ver-
brauch und Wortgefechten. In einigen Gefühl von Vertrautheit geben und das hindert. Steuern zwei Amerikaner auf
wenigen Fällen gleitet die offene Feindse- Ankommen etwas erleichtern. Der Streif- einer Linie aufeinander zu, sorgen Blicke
ligkeit in Handgreiflichkeiten oder schlim- zug durch Regale voller Bioprodukte oder und ein prophylaktisches „I’m sorry!“ oder
mere Gewalt ab. Importartikel lindert für wertvolle Minu- „Excuse me!“ dafür, dass der Sicherheits-
Disharmonie bei Familientreffen gibt ten die Panik davor, sich zu weit vom abstand eingehalten wird.
es vermutlich überall auf der Welt. Doch eigenen Ökosystem entfernt zu haben. Das Konzept des heiligen Nahraums
abgesehen von China, wo zum Neujahrs- Beim gemeinsamen Abendessen wird schon in der Schule eingeübt. Dort
fest ebenfalls Verwandte aus allen Teilen kommt es zu ersten Meinungsverschie- reden die Lehrer von einer unsichtbaren
des Landes an einem Ort zusammenkom- denheiten. Traditionell treten dabei die „persönlichen Blase“, die jeden Menschen
men, setzt sich wohl nirgendwo sonst auf Teams Ostküste gegen Westküste gegen- umgebe und in die man auf keinen Fall
der Welt jedes Jahr eine derart gewaltige einander an. Los Angeles sei fake und eindringen dürfe. „Je schlechter deine Lau-
Menschenlawine in Bewegung, um den hohl, sagen die einen. New York habgierig ne ist, desto größer ist die Blase!“ erklärt
vermeintlich Liebsten ein paar Tage nahe und neurotisch, halten die anderen dage- mir meine Tochter fachmännisch. Wer das
zu sein. 2017 waren an Thanksgiving, dem gen. Die ältere Generation, die Daheim- missachte, sei ein Aggressor.
wichtigsten Feiertag des Landes, knapp 51 gebliebenen, sind außen vor und wundern Genauso wenig wie man die ausneh-
Millionen Menschen auf Achse, fast jeder sich, wie aus den einst vertrauten Fami- mende Freundlichkeit der Amerikaner als
siebte US-Bürger. lienmitgliedern nach ihrem Wegzug an oberflächlich abtun sollte, sollte man ihre
Dass an den Klischees, die Hollywood eine der beiden Küsten solche Großstadt- paranoid wirkende Distanzwahrung als
bedient, einiges dran ist, weiß ich von neurotiker werden konnten. 48 Stunden Zeichen von Kälte bewerten. Nichts hat
einem guten Bekannten, dessen engste später sind alle erleichtert, dass die ver- das Land so sehr geprägt wie das Aufein-
Verwandtschaft zwischen Illinois und Ari- korkste Zusammenkunft ein Ende hat. andertreffen verschiedener Kulturen. Die
zona, Florida und Kalifornien verteilt lebt. Man verspricht sich lächelnd, in Kontakt Menschen haben Mittel entwickelt, bei
Er muss sich Monate im Voraus überle- zu bleiben, und: „Solltet ihr mal in der aller Unterschiedlichkeit miteinander klar-
gen, wen er diesmal besucht und mit wel- Nähe sein, meldet euch unbedingt!“ zukommen. Insofern kann man das herzli-
cher wohlkalkulierten Begründung („Tut Das ist schnell dahergesagt, weiß man che Aus-dem-Weg-gehen auch als Vorbeu-
mir leid, zu viel Arbeit liegen geblieben“) doch, dass das eher unwahrscheinlich ist gen von Missverständen verstehen – und
er nach 24 Stunden vorzeitig abreist. in diesem weitläufigen Land. damit als Ausdruck von Respekt. –

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Starke Bindung
Johannes Siebers, 33, (links) und Michael Siebers, 29

Sie sind Brüder und könnten kaum


unterschiedlicher sein.

Eine gute Voraussetzung, gemeinsam


eine Firma zu gründen.

Text: Nils Wischmeyer Fotografie: Daniel Delang


• Ein einziges Mal haben sie sich nicht an die Regeln gehalten. sagen sie. Dass ein Streit eskaliert, sei nur dieses eine Mal vor-
Vor knapp zweieinhalb Jahren war das. Da stritten die beiden gekommen. „Wir vertrauen uns zu hundert Prozent, wir kennen
Gründer des Ferienhausportals Holidu so sehr, dass am Ende jeden Tick, jede Schwäche und jede Stärke des anderen und
gar nichts mehr ging. Es brauchte einen Vermittler, und so kommunizieren extrem schnell. Mit welchem anderen Men-
setzte sich Jan Willem Siebers in den Zug von Offenburg nach schen hat man das schon?“, sagt Johannes Siebers. Er glaubt,
München. Wer da anreiste, war der Vater. Michael und sein Mit- dass sie schneller und konsequenter Entscheidungen treffen als
gründer Johannes sind Brüder. andere Gründer.
Sie sind füreinander die wichtigsten Menschen. Acht bis Das Brüdersein hilft ihnen im Geschäft. Und auch, dass sie
zehn Stunden sehen sie sich in ihrer Firma, Tag für Tag. Ein so unterschiedlich sind.
Großraumbüro im vierten Stock eines Gewerbe-Komplexes in Johannes und Michael Siebers sind behütet aufgewachsen, in
München, bei ihnen sieht es aus wie in einem typischen Start- Offenburg im Schwarzwald, im großen Haus der Eltern. Ge-
up: Alle sitzen in einem Raum vor ihren Laptops, an den Wän- meinsam mit ihrer Schwester, sie ist das zweite der drei Kinder.
den kleben bunte Post-its, Obst und Kaffee sind selbstverständ- Ihre Mutter hat Medizin studiert, ihr Vater war viele Jahre Chef-
lich gratis. Dass hier mit Urlaubsvermittlung Geld verdient wird, arzt der Gynäkologie des örtlichen Krankenhauses. Als Kinder
erkennt man nur an den Strandkörben und den ausrangierten waren die beiden Brüder eher introvertiert und verschlossen,
Flugzeugsitzen im Aufenthaltsraum. aber ehrgeizig. Der Ältere war besser in der Schule, was den jün-
Michael Siebers, 29, offenes Lachen, blaue Augen, die blon- geren wurmte, der jüngere war handwerklich geschickter, was
den Haare lässig zur Seite geföhnt, ist der Mann für die Technik, den älteren anstachelte. Es gab Konkurrenzkämpfe, und manch-
derjenige, der bis spät in die Nacht noch arbeitet. Johannes, 33, mal rauften sie sich – aber nie schlimm und nur so lange, bis
braune Wuschelfrisur, Hemd, den Pullover über die Schultern Michael genauso stark war wie Johannes. Das war früh der Fall.
gelegt, ist der Mann für Finanzen und Verträge. Wenn es darum
geht, neue Partner zu gewinnen, setzt er sich in den Flieger. Regel 1:
Sie vertrauen niemandem mehr als einander. Aber die ge-
meinsame Firmengründung machte ihnen trotzdem Angst. Was, Verantwortungen sind
wenn ihre Beziehung daran zerbräche? Was, wenn die Eltern mit strikt getrennt
reingezogen würden?
Alles fing im Dezember 2012 an, als Michael und Johannes Wenn man die zwei Brüder in ihrer Firma besucht, merkt man
Siebers Urlaub in Portugal machen wollten und nach Unterkünf- schnell, dass Johannes Siebers der ältere ist. Auch wenn sie beide
ten suchten. Sie waren genervt von den unübersichtlichen Ange- gleichberechtigte Chefs sind, spricht er bei den Teammeetings
boten und dachten, es wäre doch eine gute Idee, eine Suchma- zuerst. Er ist auch der vernünftigere.
schine für Ferienhäuser zu entwickeln. Die beiden beschlossen, Als Kind hielt er sich an die Regeln der Eltern, in der Schule
das Risiko einzugehen: 2014 gründeten sie ihre Firma Holidu, schrieb er gute Noten. Johannes sei alles zugeflogen, sagt seine
als Brüder. Mutter Sabine Siebers. Erfolg im Sport, am Klavier, in der Schu-
Mittlerweile hat Holidu 150 Mitarbeiter, zehn Millionen le. Mit 14 Jahren handelte er aus seinem Kinderzimmer heraus
Häuser und Wohnungen in der Datenbank, Millionenumsätze, erstmals mit Aktien, gewann viel Geld, verlor am Ende aber
genügend Investoren und die schwarze Null im Blick. Dass die alles, weil er nicht rechtzeitig verkaufte. Johannes Siebers ist
großen Konkurrenten sich nicht auf dieses Geschäft gestürzt einer, der gern länger nachdenkt und lieber eine Nacht vergehen
hätten, liege an einer Besonderheit, sagt Michael Siebers. Häuser lässt, bevor er etwas entscheidet.
und Wohnungen seien oft auf verschiedenen Websites gelistet, „Johannes ist in jedem Fall der Kopfmensch“, sagt Simon
mit jeweils anderen Namen. Einmal handle es sich um eine von Hertzberg, der Johannes aus dem Spanisch-Kurs an der Uni
„schicke Altbauwohnung“, dann wieder um ein „zentral gelege- kennt und nun bei Holidu arbeitet. Wenn man Michael Siebers
nes Apartment“. fragt, wie er seinen Bruder beschreiben würde, sagt er: „Mutig,
Die Brüder haben einen Algorithmus entwickelt, mit dem sie neugierig und detailverliebt.“ Und nach einer Pause: „Fokus-
die Bilder aus verschiedenen Anzeigen analysieren können. So siert“, manchmal ein wenig zu sehr.
können sie Duplikate identifizieren, den Preis vergleichen und Nach dem Abitur studierte Johannes Siebers internationale
das beste Angebot auf der eigenen Website anbieten. Für jede Betriebswirtschaftslehre in Tübingen, Madrid und Sydney und
vermittelte Unterkunft erhalten sie eine Provision. fing danach bei Siemens an. Dort kümmerte er sich in der Risi-
In ihrer Firma pflegen Michael und Johannes Siebers eine kokapital-Sparte des Konzerns darum, Start-ups zu fördern.
offene Kultur, in der alle ihre Meinung sagen und auch mal strei- „Ich war immer stolz darauf, wie er das gemacht hat“, sagt sein
ten sollen. Gerade weil sie Brüder seien, hielten sie das gut aus, jüngerer Bruder.

134 brand eins 12/18


men zu gründen. Johannes Siebers blieb
noch vier Monate lang bei Siemens und
unterstützte seinen Bruder vor und nach
der Arbeit. Als die erste Version des Pro-
duktes stand, kündigte er.
Holidus Firmenzentrale liegt, wenig
idyllisch, in einem Industriegebiet im
Münchener Stadtbezirk Moosach. Dass
sie ihr Unternehmen dort gründeten,
lag daran, dass Johannes Siebers schon
in der Stadt lebte und sein Bruder nach
dem Studium flexibel war.
Die beiden Brüder sind nicht immer
die Ersten, aber die Letzten im Büro, sie
arbeiten viel. Am Anfang waren es 70
Stunden pro Woche, jetzt sind es um
die 60. Ihre Büros sind nur wenige
Bei der Arbeit: Johannes und Michael Siebers in ihrer Firma Schritte voneinander entfernt. „Wenn
man sich mal über etwas auslassen
muss, geht man schnell ins Büro des
Michael Siebers war immer mehr der Machertyp und rebel- anderen“, sagt Michael Siebers. Auch wenn es ein Problem in der
lischer. Hatte er Hausarrest und Computerverbot, legte er heim- Firma oder zwischen ihnen gibt. „Wir müssen nicht auf eine
lich Kabel über den Balkon. Als kleiner Junge baute er einmal Feedback-Runde warten“, sagt Johannes Siebers.
eine riesige Holzeisenbahn quer durch ein Zimmer, ein anderes Abends sitzen die Brüder in den Strandkörben im Gemein-
Mal im Garten eine Seilbahn. „Michael hatte schon in der Ju- schaftsraum und bringen sich auf den neuesten Stand über „den
gend seine Projekte“, sagt seine Mutter. Er habe sie aber selten anderen Teil“ der Firma. Denn das ist ihre vielleicht wichtigste
allein umgesetzt, sondern meist seinen älteren Bruder gefragt. Regel: Ihre Verantwortungen sind strikt getrennt. Michael Sie-
Der half ihm gern. bers entscheidet über Technik, Johannes Siebers über Finanzen.
Mit 14 Jahren wurde Michael Siebers zu einem begeisterten „Das letzte Wort bei Entscheidungen hat immer der, in dessen
Programmierer. Erst entwickelte er eine Art SchülerVZ für seine Bereich die Entscheidung fällt“, sagt Johannes Siebers. „Einen
Stadt, später die Anwendung Picturecloud, die wie Dropbox einzigen Boss gibt es nicht. Wichtige Entscheidungen treffen wir
funktioniert. In der Schule war er nicht so gut. Während seine zusammen.“
Eltern das hinnahmen, habe sein Bruder ihn „gepusht“, besser Als sie die Firma gerade gegründet hatten, sagt Chris Hit-
zu werden, sagt er. „Er hat mich immer angestachelt. Heute chen, einer ihrer Investoren, hätten sich Johannes und Michael
stacheln wir uns gegenseitig an.“ Siebers in einer Investorenrunde beide als Managing Director
In gemeinsamen Gesprächen wirft Michael immer wieder vorgestellt. Für die Geldgeber sei das irritierend gewesen. Wer
einen Blick zu Johannes, schaut, ob er ansetzt zu reden, und denn nun der Boss sei, hätten sie gefragt. Wir beide, antworte-
wenn nicht, spricht er. Der ältere Bruder wiederum sitzt auf bei- ten die Brüder. „Die beiden ergänzen sich, die sind mehr so eine
den Händen und schaukelt mit seinem Oberkörper vor und Symbiose“, sagt Hitchen.
zurück, wenn der jüngere redet.
Nach seinem Abitur studierte Michael Siebers Informatik in Regel 2:
Karlsruhe und Südafrika, dann begann er, als Werkstudent bei
Zalando zu arbeiten. Dort baute er mit seinem damaligen Chef Der Familienfrieden muss
Arash Yalpani das IT-Team auf, programmierte und übernahm gewahrt bleiben
die Verantwortung für größere Projekte. In dieser Zeit sammel-
te er auch Managementerfahrung. „Michael denkt mit. Dem Das erste Büro von Holidu in München war sehr klein: 100
kannst du eine komplexe Aufgabe geben, und der macht eigen- Quadratmeter, knapp ein Dutzend Mitarbeiter, draußen brütete
ständig etwas daraus“, sagt Yalpani. die Hitze, drinnen schwitzten die Programmierer. Innerhalb nur
Es war auch Michael Siebers, der die Nächte durcharbeitete weniger Wochen wuchs die Firma schnell. Das führte dazu, dass
und seinen Job zuerst schmiss, als sie beschlossen, ein Unterneh- überall Männer in T-Shirts, Badehosen und Laptops auf dem >

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Schoß herumsaßen, ihre Füße in Eimern mit Eiswasser. Es sei Brüder sind, vergessen wir kleine Streits viel schneller wieder“,
die Zeit gewesen, in der die Brüder lernen mussten, dass sie auch sagt Michael Siebers.
führen müssen, sagt Hitchen. „Das sind keine geborenen Füh- In ihrer Firma diskutieren die beiden miteinander und mit
rer. Aber sie haben von anderen und untereinander extrem ihren Mitarbeitern manchmal bis ins kleinste Detail, aber es
schnell und viel gelernt.“ Nach sechs Monaten wurde das Büro werde nie persönlich, sagt Simon von Hertzberg. „Die diskutie-
zu klein – und die Firma zog in das Gebäude in Moosach. ren schon heftig, aber es geht immer um die Sache.“
Als Michael Siebers von Karlsruhe nach München zog, Nur das eine Mal, als ihr Vater anreisen musste, ging es
schlief er bei seinem Bruder im Wohnzimmer, bis er eine eigene schief. Damals waren viele Dinge zusammengekommen: Die
Wohnung gefunden hatte. Die Brüder teilten sich ein Hotelzim- Brüder stritten sich um Zuständigkeiten in der Firma, über die
mer, wenn sie reisten. Sie reisten viel in den ersten zwei Jahren. Quartalsplanung, und weil sie sich kaum noch sahen, tauschten
All das stärkte das Band zwischen ihnen. sie sich zu wenig aus. Der eine ärgerte sich, weil ihm einige
Thomas Hax-Schoppenhorst, Pädagoge an der psychiatri- Neuigkeiten nicht mitgeteilt wurden, der andere darüber, dass
schen Fachklinik LVR-Klinik Düren und Buchautor zu dem die Meetings schlecht geplant waren.
Thema Geschwisterbeziehungen, erklärt: Meist entwickelten Viele Kleinigkeiten, die sich aufgestaut hatten und nun aus
sich zwei Geschwister sehr unterschiedlich, wenn ihre Eltern das beiden herausbrachen. „Das war schon ernst“, sagt Jan Willem
förderten. „Wenn beide unterschiedliche Richtungen einschlagen Siebers, der Vater, das habe er vor Ort gemerkt. Über Stunden
und die Rolle, die damit einhergeht, zufrieden ausfüllen, gibt es sprachen sie sich aus, es wurde laut, mit Türen geknallt. Aber
keine bessere Beziehung“, sagt Hax-Schoppenhorst. „Dann gibt am Ende konnte der Vater beide beruhigen, sie machten eine
es meist blindes Vertrauen.“ Flasche Wein auf, reichten sich die Hand und arbeiteten weiter.
Angst, dass sie mit der Firma die Familie zerreißen könnten, „Das ist dann der Unterschied, wenn man als Brüder gründet“,
hatten auch ihre Eltern. „Wenn es der Familie schaden würde, sagt Johannes Siebers, „beide wissen, ohne den anderen mach’
sollen sie es lieber lassen“, sagt Sabine Siebers noch heute. „Bis- ich das hier nicht.“
her läuft das aber alles sehr harmonisch, das ist dann toll.“ Dass Seit diesem Vorfall gibt es eine dritte Regel: Alle zwei Wo-
sich Gründer wegen finanzieller Fragen oder strategischer Ent- chen – wenn es zeitlich passt – gehen die Brüder abends essen.
scheidungen zerstreiten, kommt häufig vor. „Wir sprechen über Privates, was wir im Büro kaum schaffen“,
sagt Johannes Siebers. Sie haben gemeinsame Freunde, gehen
Regel 3: zusammen aufs Oktoberfest, fahren mit der Familie in den
Urlaub und an den Wochenenden manchmal zusammen weg.
Persönliches bleibt in der Firma Außerhalb des Büros ist das Thema Holidu dann tabu.
außen vor Während ihre Mitarbeiter vor ihren Laptops tippen und
telefonieren, sitzen Johannes und Michael Siebers mittlerweile
Dieses Risiko bestehe immer, und Brüder, sagt Hax-Schoppen- fast nur noch in Meetings. Den anderen immer auf den neuesten
horst, seien in dieser Hinsicht besonders gefährdet: „Die Brüder- Stand zu bringen sei zu einer der größten Herausforderungen
beziehung kann etwas sehr Starkes sein, aber deshalb auch geworden, sagt Johannes Siebers. „Umso größer der Laden hier
etwas extrem Zerstörerisches.“ wird, desto schwieriger wird das.“ Gerade deswegen kommen
Für alle Varianten gibt es Beispiele: Die in der deutschen sie abends zusammen und besprechen die nächsten Schritte. Der
Start-up-Szene bekanntesten Brüder, die gut zusammenarbei- Lieferbote bringt ihnen fast jeden Abend Essen vorbei.
ten, sind Marc, Oliver und Alexander Samwer. Erst wurden sie Dadurch dass sie sich so oft austauschen, könne sie auch
mit Klingeltönen Millionäre, dann bauten sie mit Rocket Inter- kein Mitarbeiter oder Investor gegeneinander ausspielen, auch
net einen der wichtigsten Inkubatoren für junge Unternehmen das sei ein Pluspunkt, sagen die Brüder.
hierzulande auf. Mit ihrer Hilfe sind Firmen wie Home24 oder In den vergangenen vier Jahren wurden sie oft nach ihrer
Zalando erfolgreich geworden. In der Popkultur für ihre ständi- Gründungsgeschichte gefragt. Dabei kam immer wieder diesel-
gen Anfeindungen unvergessen sind dagegen die Brüder Liam be Frage auf: Obwohl ihr Brüder seid? Seit einiger Zeit haben
und Noel Gallagher, die bis 2009 als Oasis zusammenspielten, Johannes und Michael Siebers darauf eine Standardantwort:
die Band dann aber auflösten. gerade weil. –
Die ersten Jahre waren für die Brüder anstrengend. „In der
Anfangszeit, wenn wir keinen Schlaf hatten, gestresst waren, die
Verantwortung groß war: Klar, streitet man da schneller mal“,
sagt Johannes Siebers. Man ärgere sich über den anderen, ob-
wohl es nur um Kleinigkeiten gehe. „Aber dadurch dass wir

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Zarte Gefühle
für einen Planeten
Der Mars ist so weit entfernt, dass ihn
noch nie ein Mensch betreten hat, aber nah
genug, um eine Expedition in Betracht
zu ziehen. Ein Forscher aus den USA kann
es kaum erwarten.

Text: Steffan Heuer


Fotografie: David Magnusson

Das Werben

Skok hat nichts gegen Nebenbuhler, sondern wünscht sich,


dass möglichst viele Menschen seine Leidenschaft teilen.
Wie aber lassen sich bei Leuten, die nicht so versessen sind
wie er, Gefühle für einen derzeit rund 200 Millionen
Kilometer entfernten Himmelskörper mit kargem Antlitz
erzeugen? Skok hat zu diesem Zweck die Kampagne
„Made of Mars“ ersonnen: Sie wirbt für Produkte aus
Material von seinem Lieblingsplaneten.

Der Verehrer

Der Weltraum-Geologe John Roma (kurz: JR) Skok fühlt sich


dem Mars schon seit Teenager-Tagen verbunden. Als er 13 war,
beklebte seine Mutter seine Zimmerdecke mit Sternbildern.
Er half in der örtlichen Kopernik-Sternwarte im Norden des Bundes-
staates New York aus. Das muss irgendetwas in ihm ausgelöst
haben. Heute arbeitet der 33-Jährige im südlich von San Francisco
gelegenen Seti-Institut, das seit 1984 das Weltall und extra-
terrestrische Intelligenz erforscht.
Skok ist Teil eines Teams, das gerade die vielversprechendsten
Landepunkte für das Nasa-Fahrzeug ermittelt, das 2020
zum Mars aufbrechen soll. Das freut ihn. Noch glücklicher wäre er,
wenn er seinem Herzens-Planeten bald selbst seine Aufwartung
machen könnte.
Das Lockmittel

Ein bisschen Schummelei ist dabei: Denn der Basalt, den er heute
verwendet, stammt von der Erde. Die Klumpen vom Bild hat
Skok im Pisgah Lava-Feld in der Mojave-Wüste Südkaliforniens
und dem Taylor Valley in der Antarktis eingesammelt. Immerhin:
Hätte eine Sonde Basalt vom Mars zur Erde transportiert,
sähe es nicht anders aus.
Das Objekt der Begierde

„Die dunklen Flecken auf der Oberfläche des Mars


sind riesengroße Basaltvorkommen, allen voran
das Syrtis-Major-Plateau, das Menschen schon im
17. Jahrhundert mit einem Teleskop sehen konn-
ten“, erklärt Skok mit leuchtenden Augen.
Wenn Menschen den Planeten in der Zukunft
tatsächlich nicht nur betreten, sondern sich dort
auch niederlassen sollten, bräuchten sie eine
entsprechende Behausung. Baumaterial von der
Erde dorthin zu transportieren erscheint um-
ständlich, der Abbau des vor Ort vorhandenen
Vulkangesteins wesentlich praktikabler.

Die Planung

Leichter als Stahl oder Aluminium, hitzebeständig und korrosionsfrei


– das schätzen Ingenieure auf der Erde an Basaltfasern. Man stellt sie her,
indem man die Gesteinsbrocken zu Pulver zermahlt, bei 1300 bis
1450 Grad Celsius schmilzt und zu Fasern spinnt. Das Gewebe sieht
aus wie eine golden schimmernde Rüstung.
In Skoks Plänen soll eine modulare Fabrik dabei helfen, Mars-Geröll
in Baustoff zu verwandeln. Sie soll damit anfangen, lange bevor die ersten
Bewohner anreisen. Damit sie transportfähig würde, müsste sie in eine
Rakete passen. Circa 100 Millionen Dollar würde die Entwicklung einer
solchen Fabrik kosten, hat Skok ausgerechnet.

Der Anreiz

Das Versprechen Um Materialwissenschaftler und Designer dazu zu bewegen, über


Basalt-Produkte nachzudenken und auch bei der Entwicklung
Basalt-Produkte werden heute vor allem für die Isolierung der modularen Fabrik zu helfen, will Skok das Gestein populärer
von heißen Röhren in Fabriken oder für Bewehrungs- machen. Er hat Laptop- und Brieftaschen aus Basalt und Leder
stäbe verwendet, die der Verstärkung von Betonbauteilen herstellen lassen, in der Hoffnung, dass diese vielleicht besser
dienen. Stäbe aus Basalt seien genauso robust wie als Bewehrungsstäbe geeignet sind, Begeisterung zu erzeugen.
Eisenstäbe, gleichzeitig bedeutend leichter und rostfrei, Zudem hat Skok eine Kampagne auf der Finanzierungsplattform
schwärmt Skok. „Zudem sind sie flexibler als Glasfasern Kickstarter initiiert. Wer spendet, kann sich eines der ersten
und viel billiger als Kohlefasern.“ Er verspricht viele Produkte sichern, die später in der Fabrik entstehen sollen. Ob das
weitere praktische Anwendungen – es müssten sich nur hilft, seinem geliebten Mars näher zu kommen? Skok lässt jeden-
Leute ernsthaft damit beschäftigen. falls nichts unversucht.
Mit Wau-Effekt

Fotos: © Ren Netherland / Barcroft Media / Getty Images (6); ddp images; Media Drum World / Alamy Stock Photo (2) – Bildrecherche: Silke Baltruschat
Vielen sind ihre Hunde und Katzen
die Liebsten – und lassen sich
diese Zuneigung etwas kosten.

Einblick in ein krisenfestes Business.

Text: Franziska Jäger

• In deutschen Haushalten leben Schätzungen zufolge knapp


14 Millionen Katzen, mehr als 9 Millionen Hunde und 6 Milli-
onen Kleintiere. Hinzu kommen Ziervögel und all das, was in
Aquarien schwimmt und in Terrarien kriecht. Verglichen mit
den europäischen Nachbarn, liegen die Deutschen mit ihrer
Tierliebe auf Platz zwei hinter den Russen.
Mit der Geburt eines Tieres beginnt das Geldverdienen – und
hört längst nicht mit dem Tod auf. Mehr als 9 Milliarden Euro
werden pro Jahr in Deutschland für Haustiere ausgegeben. Fer-
tignahrung stellt den größten Kostenpunkt dar, gefolgt von der
tierärztlichen Versorgung, Zubehör und Dienstleistungen. Was
nun genau hinter den Begriffen Zubehör und Dienstleistungen
steckt, ist eine Geschichte für sich.

Chalets für Vierbeinere

Eine große Lounge zum Kuscheln, Schwimmteich mit Terrasse


und Sonnenliegen bietet das Fünf-Sterne-Hundehotel Platz-
hirsch in Essen an, das seit 2013 „Hundeurlaub à la Rosamunde
Pilcher“ verspricht. Dort herrscht kein „Massentourismus“, wie
es auf der Website heißt. Maximal 10 Hunde werden gleichzeitig
aufgenommen. 60 Euro pro Tag zahlen Halter, die ihren Hun-
den große, weiche Betten, Fernseher und Warmwasserduschen
für gepflegte Pfoten gönnen möchten. Ob das Programm ihren
Hunden gut genug ist, können die Besitzer per Webcam verfol-
gen.
Im Animal Resort Wesel bekommt jeder Hund gleich sein
eigenes Chalet mit Privat-Garten. Jedes Holzhäuschen hat eine
eigene Küchenzeile und Fenster bis auf den Boden, „damit auch
der Kleinste nach draußen blicken kann“. Sollte der Hund >

Des Pudels neue Frisur: Die abgebildeten Fotomodelle


aus den USA wurden von ihren Besitzern gestylt – und tragen
ihre neuen Haarkleider mit Fassung.
Eingewöhnungsprobleme haben, lassen sich Geräusche aus dem Und Designermöbel
eigenen Zuhause über eine Anlage abspielen.
In den Chalets für Katzen stehen Riesenkratzbäume, die bis Abgewetzte Hundekörbe und schlichte Kartons, in denen Katzen
zur Decke reichen. Schafft es die Katze, den Eichenbaum hoch- spielen – das war gestern. Die Designbranche hat mittlerweile
zuklettern, gelangt sie zum Panoramafenster und hat zur Beloh- auch Tiere auf dem Radar und legt den Besitzern besonders
nung Ausblick über das gesamte Areal. Angenehm für sensible feine Stücke nahe: Hunde-Sofas aus Kunstleder mit dekorativen
Pfoten: Die Chalets verfügen über Fußbodenheizung. Eine Nacht Kissen gibt es in Graubraun oder Nougatbraun für knapp hun-
pro Katze kostet 21, die Betreuung tagsüber zusätzlich 18 Euro. dert Euro. Eine große Auswahl an Kratzbrettern und ganzen
Für den Hund werden pro Nacht 36 Euro fällig, in der Tages- Katzenhäusern haben die Tierdesigner ebenfalls geschaffen: von
stätte 22 Euro. schlicht und zeitlos bis barock und verschnörkelt.
Einen besonderen Service bietet das Canis Resort in Freising Stilbewusste Katzen wohnen heute zum Beispiel in einer
an, etwa 40 Kilometer von der Münchener Innenstadt entfernt: Höhle aus Leder auf einem Standfuß aus Edelstahl. Die halb
Gegen einen Aufpreis (1,50 Euro pro Kilometer) holt ein eigenes geschlossene Form soll die Katzen abschirmen vor dem, was in
Taxi den Hund im Hotel oder am Flughafen ab und bringt ihn der Wohnung sonst so passiert. Kostenpunkt: ab 570 Euro für
dort auch wieder hin. das Modell „Rondo Stand“. Minimalistischer ist dagegen das
„Kläffer-Hundebett“ aus Birken-Sperrholz. Optisch ist es schlicht
Therapie gibt’s auch gehalten, ohne jeden Schnickschnack, es besteht nur aus zusam-
mengesteckten Holzplatten. Eine Decke wird mitgeliefert. Doch
Glücksdrogen für depressive Hunde, Psychopharmaka für ge- gerade das Understatement will bezahlt sein: 650 Euro kostet das
stresste Katzen – die Pharma-Industrie hat mit Haustieren eine Bett für den das Puristische liebenden Hund.
neue Patientengruppe entdeckt. Hunde mit Trennungsängsten
etwa können angeblich nicht allein in der Wohnung bleiben. Außerdem Doga
Sobald sich der Besitzer zur Haustür bewegt, geraten die Tiere
in Panik und verwüsten die Wohnung. Der Pharmakonzern In London gehen Hunde einfach mit zur Sportstunde. Mensch
Pegasus Laboratories hat deshalb eine Pille auf den amerikani- und Tier entspannen gemeinsam, Yoga-Übungen machen sie
schen Markt gebracht, die denselben Wirkstoff enthält wie das in trauter Zweisamkeit. Die Trainerin Mahny Djahanguiri hat
menschliche Antidepressivum Prozac, Fluoxentin. Die Kautab- Doga (abgeleitet von Dog und Yoga) in Großbritannien bekannt
lette Reconcile schmeckt nach Rindfleisch. gemacht. „Doga ist Menschen-Yoga, bei dem Hunde dabei sein
Für übergewichtige Hunde gibt es in Deutschland das Mittel und frei herumlaufen dürfen“, sagt sie. Beim Doga wird der
Slentrol. Der Abspecksaft reduziert die Fettaufnahme aus der Hund zum Beispiel als lebendiges Gewicht auf den Bauch gelegt.
Nahrung. Außerdem hemmt das Mittel den Appetit – wer den Oder er soll die Entspannung verstärken: Bei einer Übung sitzt
Fressnapf nur noch halb füllt, darf also hoffen, dass er nicht allzu der Yogi vor dem Hund, schaut ihm tief in die Augen und presst
vorwurfsvoll angeschaut wird. Luft gut hörbar aus den Lungen heraus – Stress wird nach dem
Ist die Katze ängstlich oder aggressiv, bieten Tierpsycholo- Vorbild des Hundes einfach weggehechelt. Auch in Deutschland
gen ihre Hilfe an. Konkret lauten die Probleme, die behandelt gibt es erste Studios, die Doga anbieten.
werden sollen: Angst vor Menschen oder anderen Katzen, Krat-
zen an der Schlafzimmertür, Möbeln oder Teppichen, Selbstver- Schließlich Diamanten aus tierischer Asche
letzung durch Beißen, übermäßiges Putzen, Hyperaktivität. Für
das erste Beratungsgespräch können schon mal 220 Euro fällig Gedenkstein mit Tupfmalerei, 3D-Foto im Glasblock mit Tee-
werden, um die 90 Euro für jede weitere Stunde. lichtvertiefung, Gipsguss-Pfotenabdruck oder Armband mit ein-
Manche alternative Tierheilpraxen bieten Rundum-Pflege- graviertem Namen: Trauernde Tierbesitzer haben die Qual der
programme an: Zahnreinigung für 15 Euro, Blutegelbehand- Wahl, wenn es darum geht, ihre Gefährten in Form eines Erin-
lung gegen Rheuma und Muskelverspannungen für 60 Euro, nerungsstückes zu verewigen. Die Semper Fides Diamonds GmbH
halbstündige Akupunktur für 35 Euro, außerdem Massagen aus Salzgitter hat sich auf die exklusive Variante spezialisiert.
sowie Wärme- und Aromatherapien für den Hund. Gegen Schon wenige Gramm Asche oder Tierhaar von Pferd, Hund,
Stress, hervorgerufen etwa durch das Feuerwerk an Silvester, Katze oder Vogelfedern genügen, um den verstorbenen Liebling
den Tierarztbesuch, einen Umzug oder eine Reise, sollen Bach- in einen Diamanten zu pressen. Aus fünf verschiedenen Farben
blüten helfen. Die pflanzlichen Beruhigungsmittel in Tabletten- (Gelb, Grün, Blau-Weiß, Rot oder Pink) können die Tierbesitzer
form gibt es in der Apotheke. Sie helfen angeblich auch gegen wählen. Kosten: ab 2990 Euro für den gelben Brillanten, den
Angst vor Gewitter. Diamanten mit zwei Karat gibt’s für knapp 20 000 Euro. –

142 brand eins 12/18


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Rolle vorwärts

Die Luftfahrtbranche wird beherrscht


von alten weißen Männern.

Noch. Denn nun startet Rexy Rolle durch.


Text: Michael Kneissler
Fotografie: Katharina Poblotzki
• Natürlich beginnt eine Geschichte über eine junge schwarze
Anwältin, die eine Airline auf den Bahamas führt, damit, dass
man mit einem ihrer Flugzeuge dahin fliegt. Es ist eine nicht
mehr ganz taufrische Saab 340 mit zwei tosenden Propellern,
die einen von der Inselhauptstadt Nassau ein paar Korallenriffe
weiter nach Freeport auf Grand Bahama bringt. Das Flugzeug
hat 37 Sitze, 16 sind besetzt, keine ganz optimale Auslastung,
dafür ist der Blick aus dem Fenster grandios: viel Wasser, viel
Himmel, ein paar Wolken, kleine Inseln.
35 Minuten später rollt die Maschine vor einer flachen blauen
Baracke aus, auf der in roten Buchstaben Western Air Terminal
steht. Die junge Flugbegleiterin klappt die Treppe aus, auf dem
Rollfeld empfängt die Passagiere ein milder warmer Wind. Sie
schnappen sich ihre Koffer und Einkaufstüten und sind inner-
halb von fünf Minuten verschwunden. Das würde ich mir auch
für München, Frankfurt oder Berlin wünschen.
Ich setze mich vor der Baracke auf einen roten Plastikstuhl
und warte auf Rexy Rolle. Neben mir sitzen zwei sehr ent-
spannte Männer und warten auf nichts. Sie blicken auf ein Stück
Rasen und ein paar Bäume hinter dem Parkplatz. Ich auch.
Rexy Rolle ist 30 Jahre alt, und ich kenne sie von Instagram.
Sie ist eine erfolgreiche Influencerin mit mehr als 23 000 Abon-
nenten, alle zwei bis drei Tage postet sie Selfies. Mal steht sie im
Businesskostüm vor einem Flugzeug, mal im Bikini am Strand.
Und gelegentlich sieht man sie tanzen oder singen. Neulich hat
sie ein Musikvideo online gestellt, es heißt „Here to Stay“ und
spielt im und am Wasser. Die Musikrichtung ist Tropical Pop,
man sieht wenig Kleidung und viel Twerking, das ist der Fach-
begriff für rhythmische Bewegungen des Hinterteils. Rexy Rolle weiß, wie eine gute Pose aussieht. Hier eine auf dem Rollfeld
Davon sollte man sich allerdings nicht zu sehr ablenken las- ihrer Airline am Flughafen von Freeport
sen. Im Hauptberuf ist Rexy Rolle nämlich Vice President of
Operations & General Counsel einer der wenigen Fluglinien im Meter lang, 1,90 Meter hoch, acht Zylinder, 420 PS, und eine
Besitz einer schwarzen Familie. Und sie macht ihren Job so gut, zierliche Frau mit wallender Haarpracht steigt aus.
dass alle von ihr schwärmen – außer den Platzhirschen in der
traditionell von weißen Männern dominierten Branche. Die Auftritt Rexy Rolle! Der Boss ist da
müssen sich erst noch daran gewöhnen, dass in ihren Kreisen
plötzlich eine junge schwarze Frau mitmischt, die wie ein Pop- Die beiden Männer erheben sich von der Bank, der eine nimmt
star auftritt. einen Besen und fegt ein wenig den Boden, der andere öffnet
Vor dem Western Air Terminal fährt jetzt ein Kleinbus vor. Rexy Rolle die Tür zum Terminal.
Drei dicke Frauen steigen aus, grüßen mich fröhlich, küssen die „Michael!“, ruft Rexy. Sie trägt einen Anzug von Tommy
beiden Männer neben mir und verschwinden im Gebäude. Hier Hilfiger, High Heels von Louboutin, eine Handtasche von Marc
kennt man sich. „Cousinen“, sagt einer der Männer, „die fliegen Jacobs. „Sorry für die Verspätung“, sagt sie, „aber heute hat es
mit der nächsten Maschine nach Nassau.“ Der andere Mann etwas länger gedauert.“ Ihre Morgenroutine kostet eben Zeit.
steht gemächlich auf und kommt nach einiger Zeit mit einer Am längsten braucht sie für das Gebet, Rexy ist gläubige Chris-
Tasse Kaffee zurück, die er mir in die Hand drückt. „Rexy ist tin, am zweitlängsten für die Haare und das Schminken. „Ohne
bestimmt gleich da“, sagt er. Make-up und ohne künstliche Wimpern gehe ich nicht aus dem
Wir schauen wieder auf den Parkplatz und das Rasenstück. Haus“, sagt sie, „ich bin schließlich ein Mädchen.“ Das Früh-
Ein paar Vögel picken etwas aus dem Gras. Man kann nicht sa- stück dagegen ist kaum erwähnenswert. Es besteht aus einer
gen, dass das Leben hier besonders hektisch ist. Aber dann Flasche Proteinshake, Schokogeschmack. Das kann man im
braust ein schwarzer Cadillac Escalade auf den Parkplatz, 5,70 Auto zu sich nehmen. Der ganze Kofferraum ist voll damit.

146 brand eins 12/18


Ihr Büro befindet sich unmittelbar hinter dem Check-in, der Trauerreden gehalten. Für Shandrice Rolle war das ein Schlüssel-
aus zwei Schaltern besteht. Es ist etwa zehn Quadratmeter groß erlebnis. „Reden Sie mal mit meinen Eltern“, sagt Rexy.
und fensterlos. Im Büro gibt es einen Schreibtisch mit drei Com- Besuchen geht leider nicht, sie leben ein wenig abgelegen auf
putern, eine Klimaanlage, eine Couch (auf der ich jetzt neben einer anderen Insel mit ungünstiger Flugverbindung. Da ist noch
Rexys Handtasche sitze) und einen Monitor mit Bildern von Luft nach oben für Western Air. Rexy richtet eine Konferenz-
neun Überwachungskameras. Viel ist nicht zu sehen. Ab und zu schaltung ein. Auf der einen Seite: ich neben Rexys Handtasche.
kommt der Mann mit dem Besen ins Bild, die drei Damen für Auf der anderen Seite: Mrs. Rolle neben Mr. Rolle.
den Nassau-Flug sitzen im Warteraum, am Sicherheits-Check „Ich war stinksauer!“, ruft Rexys Mutter ins Telefon. „Dort
wartet eine Mitarbeiterin auf Kundschaft, an der Bar im Abflug- die tote Oma, und wir sitzen irgendwo auf einer Insel fest. Da
bereich zeigen die Kameras ein gut gefülltes Regal mit Alkoholi- musste ich einfach was unternehmen, ich hatte schließlich gera-
ka, sonst herrscht gähnende Leere. Der nächste Flug geht erst in de meinen Bachelor gemacht und hielt mich für ein Business-
90 Minuten. Durch die offene Bürotür hört man das Personal am Genie. Ich sagte meinem Mann: ,Rex, das ist eine Marktlücke,
Check-in und ab und zu das Telefon. „Ich habe noch ein größeres wir gründen unsere eigene Airline. Du fliegst, ich mache den
Büro am anderen Ende des Gebäudes“, sagt Rexy. „Aber ich bin Rest.‘ Stimmt doch, Rex?“ Durchs Telefon hört man ein zustim-
lieber hier, da kriege ich hautnah mit, was läuft.“ mendes Grunzen. „Wahrscheinlich isst Papa gerade etwas und
Der Monitor schaltet um auf das Rollfeld vor dem Terminal. hat den Mund voll“, flüstert Rexy. Sie kennt ihren Vater. Ihre
Dort sieht man zwei schlanke Jets im Sonnenschein blitzen. Das Mutter erzählt jetzt, wie es dann statt einem drei Turboprop-
ist zurzeit Rexys größter Erfolg. Und ihr größtes Problem. Flugzeuge gab, weil der Investor aus Missouri mehr Geld als
erwartet locker machte, und wie sie plötzlich tatsächlich eine
Soziale Medien und Gottvertrauen eigene kleine Airline hatten.
„Das klingt jetzt so einfach!“, ruft Shandrice Rolle auf der
Western Air gibt es seit 2001. Damals war Rexy zwölf Jahre alt anderen Insel ins Telefon, „aber es war ein langer und harter
und lebte mit ihren Eltern in Fort Lauderdale, Florida. Papa Rex Weg. Die Behörden hatten keine Ahnung von privaten Flug-
Rolle, ein Mann im XXL-Format, arbeitete als Privatpilot und linien. Und wir auch nicht.“ Rexy nickt: „Ich würde gern sagen,
flog Turboprop-Maschinen über die USA und die Karibik. Mama dass wir nicht diskriminiert worden sind wegen unserer Haut-
Shandrice Rolle beendete gerade ihr Management-Studium. Da farbe. Aber das wäre gelogen. Wir mussten ständig kämpfen
starb die Oma auf den Bahamas. und kämpfen immer noch.“
Die Flugreise zur Beerdigung wurde zum Fiasko: Flugzeug- Es dauerte ein Jahr, bis alle Widerstände überwunden und die
ausfälle, Verspätungen, Ärger, Stress. Während Familie Rolle erste Maschine in der Luft war, Rex Rolle am Steuerknüppel.
noch auf einem Inselflughafen festhing, wurden schon die ersten „Von da an“, sagt seine Frau, „ging’s aufwärts.“ Rexy Rolle er-
gänzt: „Das geht nur mit absoluter Über-
zeugung für deine Arbeit, mit Beharrlich-
Der Check-in-Schalter im Western Air Terminal. Anderswo geht es hektischer zu keit. Und Gottvertrauen.“ Wie gut, dass
Rex Rolle aus einer Pastorenfamilie kommt
und Rexy täglich betet. Und im Flugzeug ist
man dem Himmel ohnehin sehr nahe.
Das Geschäft brummte schließlich lau-
ter als die Motoren der kleinen Propeller-
maschinen, mit denen Western Air unter-
wegs war, und das Familienleben fand nun
am Flughafen statt. Bei jeder neu gekauf-
ten Maschine kam ein Geistlicher und
sprach Gebete, während Oma und Opa
(von der anderen Seite der Familie) ein
paar Gospels schmetterten. Mittlerweile
hat ein Onkel, Pastor Gunsmoke, die
Leadstimme des verstorbenen Großvaters
übernommen. All das scheint zu helfen.
Noch nie ist eine Western-Air-Maschine
abgestürzt. >

brand eins 12/18 147


10 Gebote von Rexy Rolle der Familie St. George und des global aktiven Wie man eine Fluggesellschaft gründet
1. Deine wichtigste Superpower ist Empathie. Mischkonzerns Hutchison aus Hongkong, der Um ein Airline Operator’s Certificate (AOC)
Verstehe die Perspektive anderer, auch unter anderem Häfen, diverse Unternehmen und zu erhalten, muss man eine Reihe bürokratischer
wenn du sie nicht teilst. Das erleichtert dir die Immobilien besitzt. Hürden nehmen. Businessplan, Führungs-
Kommunikation. personal, Banksicherheit oder Finanzkraft der
2. Keine Panik, alles hat seinen Sinn. Firma – ein Antrag wird in fünf Phasen sehr
3. Wenn es stressig wird, mach eine Pause, Western Air Ltd. sorgfältig geprüft. Auch Gebäude und Maschinen
entspanne kurz, lache, telefoniere mit deiner Anzahl der Flugzeuge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 werden untersucht und Testflüge durchgeführt.
Mama oder Freundin – danach geht Flüge pro Tag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 Erst wenn alles gut gelaufen ist, kann eine
alles leichter. Zahl der Destinationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Fluglinie in Betrieb gehen. Der Genehmigungs-
4. Suche nicht nach Geld und materiellen Gütern. Sitzauslastung, Durchschnitt 2018, prozess dauert bis zu einem Jahr.
Suche nach dem Sinn. in Prozent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (Quelle: The Bahamas Civil Aviation Department
5. Lass dich nicht in die Schublade stecken, Umsatz 2018, in Millionen US-Dollar . . . . . . . . 61 (BCAA), Advisory Circular AC-12-001)
die andere für dich bereithalten. Zahl der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
6. Sei unermüdlich, hoffnungsvoll, intuitiv und (Quelle: Western Air)
achtsam. „Guter Job“
7. Trage internen Streit niemals nach außen. Gerald Wissel ist der Geschäftsführer von Air-
8. Wer Erfolg haben will, muss Risiken eingehen. Luftnummern borne Consulting in Hamburg, einem internatio-
9. Fehler sind ärgerlich, aber unvermeidlich. Zahl der Flugpassagiere weltweit nal tätigen Beratungsunternehmen für Fluglinien.
Lerne von Menschen, die ihre Fehler schon im Jahr 1998, in Milliarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1,5 Über Western Air sagt der Luftfahrtexperte:
gemacht haben. Dann brauchst du sie nicht zu Zahl der Flugpassagiere weltweit
wiederholen. im Jahr 2018, in Milliarden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4,3 „Airline und Standort sind sehr attraktiv. Aus
10. Gib dein Bestes und lege den Rest in unserer Sicht macht Rexy Rolle einen guten Job
Durchschnittspreis pro Rückflugticket
Gottes Hand. mit Western Air, indem sie systematisch die
im Jahr 1998, in US-Dollar . . . . . . . . . . . . . . . . . 604
Schwächen der konkurrierenden Bahamasair
Durchschnittspreis pro Rückflugticket
nutzt. Das ist ein Wettbewerbsvorteil. Als Staats-
im Jahr 2018, in US-Dollar . . . . . . . . . . . . . . . . . 380
Bahamas linie fliegt Bahamasair nicht unbedingt die wirt-
Die Bahamas sind ein Inselstaat vor der Küste Umsatz der Luftfahrtbranche weltweit schaftlich sinnvollsten Strecken, sondern politisch
Floridas mit mehr als 700 Inseln und 2400 im Jahr 2018, in Milliarden US-Dollar . . . . . . 834 gewünschte. Außerdem gilt Bahamasair als be-
Korallenriffs. Staatsoberhaupt ist Queen Eliza- Gewinn der Luftfahrtbranche weltweit sonders unzuverlässig. Western Air dagegen fliegt
beth, Amtssprache ist Englisch. Die 350 000 im Jahr 2018, in Milliarden US-Dollar . . . . . . . 34 pünktlich, zuverlässig und kostengünstig mit gut
Einwohner leben hauptsächlich von Tourismus gewarteten gebrauchten Maschinen. Rexy Rolles
und Geldwäsche. Die Bahamas stehen auf der Höchste jemals gemessene Zahl Marketingstrategie über die sozialen Medien hilft,
Schwarzen Liste der Steueroasen der EU. von Flügen pro Tag* . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 468 neue Kunden zu gewinnen. Aber entscheidend
Die wichtigsten Städte sind die Hauptstadt Nas- Höchste jemals gemessene Zahl ist die Performance von Western Air. Die muss
sau (266 000 Einwohner) auf New Providence von Flugzeugen in der Luft* . . . . . . . . . . . . . 19 000 gut und zuverlässig bleiben, um Kunden zu
und Freeport (27 000 Einwohner) auf Grand (*gemessen am 13.7.2018; Quellen: IATA, Worldbank, binden. Kundenbindung macht den Unterschied
Bahama. Freeport befindet sich im Privatbesitz Flightradar24) zwischen Erfolg und Misserfolg aus.“

Rexy wuchs mehr oder weniger hinter dem Ticketschalter Es war ein ziemlicher Schock für alle Beteiligten, für Mitar-
auf, und in den Ferien jobbte sie am Gepäckband. „Es war keine beiter und Passagiere und auch für die eigene Familie, als Rexy
Frage, dass ich später in die Firma einsteigen würde“, sagt sie. begann, den Schalter eine Stunde vor Abflug zu schließen.
Aber erst sollte sie eine gute Ausbildung bekommen. Sie studier- Knallhart ließ sie alle stehen, die danach noch gemütlich ange-
te Politikwissenschaften und Kommunikation in Ottawa und schlendert kamen. Die entspannten Bahamiens verstanden die
Florida, schloss selbstverständlich mit summa cum laude ab. Welt nicht mehr. Rexy wird seitdem in der Familie „der Dikta-
Danach machte sie noch schnell den Dr. jur. in Kalifornien, tor“ genannt. Sie trägt den Titel mit Stolz.
Schwerpunkt Luftfahrts- und Wirtschaftsrecht, arbeitete in ei- Seit Western Air geradezu überpünktlich fliegt – 85 bis 90
ner US-Kanzlei, die Millionendeals im Aviation-Business einfä- Prozent aller Flüge kommen rechtzeitig an –, wächst das Ver-
delte, nebenher sang und tanzte sie, und 2015 wurde sie dann trauen in die kleine Fluggesellschaft, sie hat mehr Fluggäste
Vice President bei Western Air. denn je. Mittlerweile finden viele von ihnen Rexy und ihr stren-
Seitdem weht dort ein anderer Wind. „Wir flogen jeden Tag“, ges Regiment auch ganz gut. Damit das so bleibt, hat Rexy fünf
sagt Rexy, „alles funktionierte, aber der Check-in war seeeeehr Millionen Dollar ausgegeben und ein neues Terminal nur für
entspannt, und wir hatten jede Menge Verspätungen.“ Klar, Western Air gebaut. Jetzt ist sie nicht mehr davon abhängig, wie
wenn alle sich kennen so wie hier, wartet man eben noch ein gut andere arbeiten.
paar Minuten, bis Onkel und Tante endlich da sind und der Pas- Hier hat sie das Sagen. Und da kommen die beiden blitzen-
tor und natürlich auch der lokale Abgeordnete. den Jets auf dem Rollfeld ins Spiel. Die hat Rexy angeschafft. Es

148 brand eins 12/18


war ihre Idee, eine ziemlich größenwahnsinnige. Denn das sind herumgesprochen, dass Rexy große Pläne hat und expandieren
keine lärmenden Turboprop-Maschinen mit scheppernder Karos- will. Mit ihrem Vater haben sie schon gesprochen, der ist offi-
serie, sondern nagelneue und nicht gerade günstige Regionaljets ziell der Chef. Aber die Entscheidungen trifft Rexy. Mit Mama.
vom Typ Embraer 145. Zwei Stahltriebwerke, 50 elegante blaue „Papa unterschreibt alle Verträge“, sagt Rexy, „aber ob er sie
Ledersitze, eine Reisegeschwindigkeit von bis zu 860 Kilometern auch alle liest? Eher nicht. Ist aber nicht so schlimm: Gott in
pro Stunde, eine Reichweite von 2800 Kilometern. Karibik, wir seiner weisen Voraussicht hat mich schließlich Luftfahrtsrecht
kommen! Jamaica, Kuba, Belize, die Dominikanische Republik studieren lassen.“ Shandrice Rolle ist immer noch in der Lei-
und nächstes Jahr die USA – das sind die neuen Reiseziele. Diese tung. Sie ruft: „Ich glaube, dass ich letztlich die entscheidende
Orte fliegt Western Air zwar schon mit Charterflügen an, aber Person bin, weil ich Lösungen finde. Rexy und Rex sind beide
sobald die beiden Jets startklar sind und zwei weitere geliefert sehr starke Charaktere, da prallen große Energien aufeinander.
werden, soll der Linienflug beginnen. Sie brauchen mich, um einen Ausgleich zu finden.“
So weit die Theorie. Rexy nickt. Stimmt. Manchmal ist sie ein wenig verspannt.
Im Moment ist nämlich gar nichts startklar. Auf den Trieb- Zum Beispiel, wenn Behörden und Verbände sie schlechter be-
werken der Jets stecken Schutzhüllen, sie dürfen nicht in die handeln als die Konkurrenz. Oder wenn sie bei einem Branchen-
Luft. Die zuständigen Behörden in Nassau geben keine Geneh- treffen ist und die Herren sie zunächst für die Sekretärin halten,
migung – weil sie nicht können. „Wie sich herausstellte, kennen bevor ihnen schwant, dass die personifizierte Disruption vor ih-
sich die Inspektoren hier mit diesem Typ nicht aus“, sagt Rexy. nen steht. Die Luftfahrt ist noch überwiegend in Männerhand,
„Also müssen erst mal zwei geschult werden. Auf meine Kosten, und obwohl ihre Airlines von Pan Am über Swissair bis Air Berlin
80 000 Dollar.“ Das geht noch. Doch auch die Leasingfirma eine Pleite nach der anderen hinlegen, wenn sie nicht vom Staat
bucht jeden Monat 215 000 Dollar ab, während die beiden Jets oder von Scheichs gesponsert werden, sitzen im 30-köpfigen
nutzlos auf dem Rollfeld herumstehen. So verbrennt man Geld. Board of Governors der International Air Transport Association
Rexy sagt: „Gott sei Dank wurden die Jets verspätet ausgeliefert. (IATA), dem wichtigsten Verband der globalen Luftfahrtindustrie
Der erste sollte im Mai da sein, er kam im August, und die bei- mit 290 Mitgliedsgesellschaften, nur zwei Frauen: Christine Ou-
den letzten sind noch gar nicht da. Ist doch gut, wenn wir sie mieres-Widener von der Flybe Group im Vereinigten Königreich
ohnehin nicht fliegen dürfen. Für Maschinen, die nicht da sind, und Maria José Hidalgo Gutiérrez von Air Europa. Nur drei
zahlen wir natürlich auch keine Leasinggebühren.“ Prozent aller Geschäftsführer in dieser Branche sind weiblich, in
Ein Privatflugzeug aus den USA landet mit zwei Herren an anderen Industrien ist dieser Wert viermal so hoch. Da besteht
Bord, die gern mit Rexy Rolle reden würden. Sie hätten zwei Aufholbedarf – und Rexy ist so etwas wie die Speerspitze der
weitere Embraer-Jets im Angebot, sagen sie, gebraucht, general- Frauenpower, die hier bald stärker vertreten sein will.
überholt, günstig. In der Branche der Flugzeugmakler hat sich Die beiden Herren aus dem Privatflugzeug scheinen keine
Probleme mit Rexys Alter oder ihrer Haut-
farbe zu haben. Aber hier geht’s ja auch
In ihrem Büro direkt hinter dem Check-in ist die Airline-Chefin nah dran am Geschehen nicht um Politik, sondern ums Geschäft.
Wir essen im Pier One, einem Lokal
im Hafen. Vor der Terrasse des Restau-
rants warten meterlange Haie im glaskla-
ren Wasser auf Essensreste. Die Männer
machen Fotos. Rexy bestellt Sushi, ihr
Lieblingsgericht. Für die Haie bleibt nichts
übrig.
Im Gespräch geht es jetzt um Details.
Eine Flugstunde mit der alten Saab kostet
Western Air 1800 Dollar, eine Stunde mit
den neuen Jets 2800 Dollar. Wenn beide
Maschinen zu 50 Prozent ausgelastet sind,
wird die Gewinnschwelle auf der Strecke
Nassau-Freeport mit einem Ticketpreis von
56 Dollar erreicht, bei einer Auslastung
von 100 Prozent schon mit der Hälfte des
Preises. Das heißt: Wenn die Flugzeuge >

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Was? Wann? Wo? Anzeigen

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QUO VADIS 2019 15. Europäischer Trendtag


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neue Kommunikation

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Wie lassen sich angesichts teils absurder Bodenpreise, Aufla- erfüllen unsere Wünsche immer schneller und reibungsloser.
gen und Baukosten noch Gewinne erzielen? Wie wird die Gleichzeitig waren Propaganda und Attention Hacking nie
Zukunft stark wachsender Metropolen verlaufen und liegen einfacher als heute. Am 15. Europäischen Trendtag erörtern
die Standorte von morgen etwa ganz woanders? Wie wird Vordenker und Praktiker die Zukunft der Kommunikation.
denn nun alles? QUO VADIS 2019 greift die drängenden The- Sie diskutieren Fragen wie: Ersetzen die Bildwelten von
men punktgenau auf, nimmt die Politik in die Pflicht, schaut Youtube und Instagram bald den geschriebenen Text?
nach vorne, zeigt Lösungen. Sind Sie dabei? Wer hört überhaupt noch zu? Was bedeutet das für das
Marketing? Ist Biometrie das nächste Interface?
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Mittelstands und digitale Pioniere zusammen. Auf zwei Stages unserer nächsten Zukunftskonferenz. Auch diesmal werden
mit 40 international bekannten Speakern und 160 Experten wir mit rund 300 Lesern Antworten auf die brennenden
wird die digitale Zukunft der deutschen Wirtschaft neu Fragen von Morgen suchen. Uns interessiert nicht der Status
geschrieben! Seien Sie dabei, wenn es heißt „best of both Quo, wir wollen wissen, was sich entwickelt und wer diese
worlds“: Deutschlands Top-Startups treffen den “German Entwicklung treibt. Auf der Bühne und im Publikum: Men-
Mittelstand”. schen und Unternehmen, die nicht jammern und stillstehen,
sondern beherzt vorangehen. Haben Sie Lust, mit uns die
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länger: Machen Sie mit! Wir freuen uns auf Sie.

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150 brand eins 12/18


voll sind, kann Rexy Tickets für 28 Dollar verkaufen, ohne Ver- Cockpit würden Frauen das Kommando übernehmen und alle
lust zu machen. Normalerweise kosten Hin- und Rückflug auf Flugbegleiterinnen Prada und Louboutin tragen, die Kabine
dieser 30-Minuten-Strecke um die 200 Dollar. Gut für Rexy. Im wäre hell und weiblich eingerichtet, und die Beleuchtung schmei-
weltweiten Durchschnitt verdient die Branche laut IATA nur chelte dem Teint. Die Sicherheitseinweisung würde einer Hip-
7,54 Dollar pro Flugschein, bei der Airline-Chefin von den Ba- Hop-Choreografie folgen, und als kleine Aufmerksamkeit gäbe
hamas ist es deutlich mehr. Von ihr können die Jungs von der es einen Detox-Shake oder ein edles Praliné. Bisher lacht sie noch
Konkurrenz noch etwas lernen. über diese Idee. Aber den Mut zu dieser Veränderung hätte sie
Problematischer ist die Pilotenfrage. Der Markt sei leer ge- schon. Dann wäre ihre Fluglinie wirklich Kult.
fegt, sagen die Männer aus den USA. China, Indien und Dubai Auf dem Rückweg in die USA muss ich mit der Konkurrenz
kaufen jeden weg, der einen Steuerknüppel halten kann, und fliegen. Für diese Strecke sind die Western Air Jets noch nicht
zahlen auch noch bis zu 20 000 Dollar Gehalt. Pro Monat. Das zugelassen. Rexy bringt mich noch zum anderen Terminal.
ist zu viel für Rexy. Sie zahlt höchstens 9000 Dollar, kann aber Was sie dann macht, erfahre ich nach der Landung in Flori-
damit punkten, dass die Bahamas schöner sind als die meisten da, als sich mein Smartphone in das Internet einloggt und ich
Orte in Indien, China oder Dubai. Wahrscheinlich müsse sie sofort eine Facebook-Nachricht erhalte. @VPRexy hat etwas
ihre Piloten selbst ausbilden, sagen die beiden Herren. Sie hätten Neues online gestellt: „Happy to be hosting German magazine
da zufällig eine Pilotenschule in der Hinterhand. brand eins at Western Air today! Talkin’ jets, family, women in
Auf dem Rückweg zum Flughafen erklärt mir die Unter- aviation, legal fights, social media and not being afraid to be yo
nehmerin, wie man neue Destinationen auswählt: Man wertet self!“, steht da. Darunter hat sie zwei Fotos gepostet von sich,
Statistiken aus, wie viele Menschen aus welchen Ländern wo im Business-Outfit. Auf ein Bild von mir hat sie verzichtet.
landen, und man braucht ein wenig Erfahrung. „Für Flüge von Ziemlich clever, diese Rexy Rolle. –
den Bahamas in die USA“, sagt sie, „gibt es eigentlich nur eine
Bedingung: ein möglichst großes Einkaufszentrum direkt am
Flughafen. Bei uns hier ist alles so teuer, dass die Leute vor dem „Be yo self!“: Die Unternehmerin schreitet im Gegenlicht zum Hangar
Rückflug taschenweise elektrische Geräte, Handys und andere von Western Air
Produkte einpacken wollen.“ Bei Flügen nach Jamaica sollte
man Kingston meiden und direkt nach Montego Bay fliegen,
weil die meisten ohnehin dorthin wollen und die 170 Kilometer
Überlandstraße zwischen den beiden Städten der blanke Horror
sind. Nur warum plötzlich alle nach Belize fliegen wollen, da-
hinter ist Rexy noch nicht gekommen.

Welcher Boss kann schon singen und tanzen?

In den sozialen Medien ist sie ein absoluter Profi. „Als urban
millennial weiß ich, wie wichtig Onlinepräsenz ist“, sagt sie.
„Ich hatte keinen Werbeetat und wollte trotzdem so viel Auf-
merksamkeit schaffen, als hätte ich einen. Außerdem war es
wichtig, uns international bekannt zu machen, auf den Bahamas
kennt uns ohnehin schon jeder.“ Deshalb setzt sie auf Instagram,
Facebook, Twitter und Youtube, schließlich kann sie singen,
tanzen und twerken wie kein anderer Airline-Boss – und selbst
wenn die es könnten, würde Rexy besser dabei aussehen.
Fromm, wie sie ist, glaubt sie, dass der liebe Gott ihr den
Körper nicht zum Spaß geschenkt hat, sondern auch damit ein
höheres Ziel verfolgt. Also zeigt sie ihn jedem, der @rexyisland
auf Instagram eintippen kann. Und hat damit ihre kleine, auf-
strebende Airline ohne finanziellen Aufwand bekannter gemacht,
als es jede Werbekampagne hätte schaffen können.
Vielleicht verändert sie bald sogar das Branding ihrer Flug-
linie und nennt sie Rexy Air – the first all female Airline. Im

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brand eins 12 /18 153


Was wäre, wenn …
… der öffentliche Nahverkehr gratis wäre?

Ein Szenario.

Text: Christoph Koch


Fotografie: Philotheus Nisch

• Im Mai 2018 wurde es der EU-Kom- schon viele Bewohner auf ein Auto ver- Der niederländische Verkehrsforscher
mission endgültig zu viel: Sie verklagte die zichten, den Fahrpreis für ihr dichtes und Oded Cats von der Universität Delft ist
Bundesrepublik Deutschland und fünf großflächiges Netz abschafft – oder ob zu einem ähnlichen Ergebnis gekommen.
andere Länder vor dem Europäischen eine ländliche Gemeinde den Bus, der „Würde man das Geld für den Gratis-
Gerichtshof, weil diese die vereinbarten zweimal am Tag fährt, kostenlos anbie- ÖPNV stattdessen in einen höheren Takt
Grenzwerte für die Luftqualität zu lange tet. Das Thema ist komplex, und doch der öffentlichen Verkehrsmittel investie-
und zu oft überschritten hatten. Drei lassen sich einige wahrscheinliche Kon- ren, also mehr Züge und Busse in kürze-
Monate zuvor hatten das Kanzleramt und sequenzen durch verschiedene Studien ren Abständen, würden deutlich mehr
die Ministerien für Umwelt und Verkehr und Modellversuche vorhersagen. Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel
noch mit einer Vorschlagsliste versucht, Die wohl wichtigste Erkenntnis: Der umsteigen“, sagte er Anfang des Jahres in
die EU-Kommission von einer Klage ab- Preis ist für viele Menschen nicht der einem Interview mit »Spiegel Online«.
zubringen. Einer dieser Vorschläge: kos- entscheidende Faktor, wenn es darum „Das Auto bietet für viele Menschen im-
tenloser öffentlicher Nahverkehr. geht, sich für oder gegen ein Verkehrs- mer noch die höchste Verbindungsquali-
„Zusammen mit den Ländern und der mittel zu entscheiden. „Den ÖPNV gratis tät. Gleichzeitig sind die gesellschaftli-
kommunalen Ebene erwägen wir, den öf- anzubieten ist ein nahezu wirkungsloses chen Kosten beim Autofahren, also die
fentlichen Nahverkehr gratis anzubieten, Instrument, wenn es darum geht, die Emissionen, Staus und der Verbrauch öf-
um die Zahl der Privatfahrzeuge zu redu- Menschen zum Umsteigen vom Auto in fentlichen Raums, für den Verursacher
zieren“, hieß es in dem Schreiben. Die Kla- Bus und Bahn zu bewegen“, sagt Marlon quasi unsichtbar.“
ge kam trotzdem. Die Bundesregierung Philipp vom Fachbereich Techniksozio- In einer Statista-Umfrage vom März
kündigte daraufhin an, den öffentlichen logie der TU Dortmund, der dazu eine 2018 gaben 54 Prozent der Befragten in
Personennahverkehr (ÖPNV) zu fördern Simulationsstudie durchgeführt hat. „Die Deutschland an, im Falle kostenloser Fahr-
und die verkehrsbedingten Emissionen zu Menschen wägen nach vielen verschiede- scheine bei innerstädtischen Fahrten auf
senken. Neben anderen Maßnahmen sol- nen Kriterien wie Schnelligkeit, Komfort das eigene Auto zu verzichten. Bessere
len in fünf Städten (Bonn, Essen, Herren- oder Flexibilität ab und gewichten diese Verbindungen waren für 41 Prozent eine
berg, Mannheim und Reutlingen) die Prei- individuell unterschiedlich.“ Sein Fazit: weitere Voraussetzung dafür, eine kürzere
se für den ÖPNV gesenkt werden. Bonn Gratis-Tickets für den ÖPNV allein brin- Taktung für 31 und mehr Sitzplätze für 17
plant ein Klima-Jahresticket für einen Euro gen niemanden dazu, das Auto stehen zu Prozent. 18 Prozent wollten gar nicht um-
pro Tag, Essen will Prämien zahlen, wenn lassen. Hinzukommen müssten Regeln, steigen, 12 Prozent nur bei höheren Treib-
jemand über einen längeren Zeitraum Mo- die das Autofahren unattraktiver machen. stoff- und Energiepreisen.
natstickets kauft. Etwa eine Citymaut, drastische Parkgebüh- Bislang sind weltweit viele Modellver-
Aber was wäre, wenn der öffentliche ren, Tempolimits. Oder ein besseres Stre- suche, einen Gratis-Nahverkehr einzufüh-
Nahverkehr komplett kostenlos wäre? ckennetz und eine höhere Taktung von ren, an der Finanzierung gescheitert (siehe
Es macht einen Unterschied, ob eine Bussen und Bahnen, um schneller und fle- „Freie Fahrt für alle“, brand eins 06/2017) *.
Großstadt wie Berlin, in der sowieso xibler unterwegs zu sein. Anders in der estnischen Hauptstadt Tal-

154 brand eins 12/18


Wie würde sich ein kostenloser Nah-
verkehr auf den Straßenverkehr auswirken?
Zahl und Schwere der Unfälle könnten
sinken. Denn Fußgänger und Radfahrer,
die öfter in den ÖPNV wechseln, sind die
ungeschütztesten Verkehrsteilnehmer und
am stärksten von Unfällen betroffen.
Die meisten der bisherigen Tests fan-
den in Kleinstädten in ländlichen Regio-
nen statt. Der niederländische Experte
Oded Cats hält das für sinnvoll, weil in
diesen Orten wenig mit Fahrscheinen ver-
dient wird, die Subventionen aber hoch
sind. Ein Gratis-Nahverkehr könnte dort
mit geringen Mehrkosten einen großen
gesellschaftlichen Nutzen haben.
In Großstädten dagegen sind die
öffentlichen Verkehrsmittel schon oft an
die Grenzen ihrer Auslastung gelangt, und
es ist fraglich, ob mehr Fahrgäste ohne
vorherige Investitionen in zusätzliche
Gleise, Busse und Waggons zu bewältigen
linn: Dort ist der ÖPNV seit dem Jahr Philipp. „Aber soziale Auswirkungen kann und wünschenswert wären. Denn wenn
2013 für Einheimische kostenlos und das es durchaus haben, da hierdurch Men- der ÖPNV durch ständig überfüllte Busse
Experiment erfolgreich – die Zahl der schen die Nutzung ermöglicht wird, die und Bahnen sowie längere Haltezeiten für
Fahrgäste ist um 14 Prozent gestiegen. sich vorher weder Auto noch ÖPNV leis- seine treuen Kunden unattraktiver wird,
Allerdings sind kaum Autofahrer hinzuge- ten konnten.“ erreicht man schlimmstenfalls das Gegen-
kommen, sondern vor allem Menschen, In Tallinn müssen Auswärtige weiter- teil: dass die Menschen von Tram und
die zuvor zu Fuß gegangen oder Fahrrad hin für ihre Tickets bezahlen. Automaten U-Bahn zurück hinters Steuer eines Autos
gefahren waren und den ÖPNV jetzt noch und Fahrscheinkontrollen werden jedoch wechseln. –
öfter nutzen als vorher. „An der CO2- erst überflüssig, wenn niemand mehr ein
Bilanz ändert es kaum etwas, wenn die Ticket braucht. Automaten und Schaffner
Ticketpreise auf null gesenkt werden“, machen allerdings auch nur drei bis fünf
sagt der Dortmunder Techniksoziologe Prozent der Gesamtkosten aus. * b1.de/0617_buergerticket

brand eins 12/18 155


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• Hausverwaltungen oder Architekten


Immer messen in der Regel mit einem Laser, wie
waltungen die Quadratmeter einer Fassade
berechnen, die gestrichen werden müssen,
groß ein Zimmer oder ein Gebäude ist. und Unternehmer ermitteln, wie sie eine
an der Wand Das ist zeitaufwendig. Die Freiburger Fir- Produktionsstraße in einer Halle unterbrin-
ma Dotscene macht das praktisch im Vor- gen. Die Messergebnisse werden dazu in
lang beigehen, beziehungsweise im Vorbeiflie-
gen, in ein paar Minuten.
gängige CAD-Programme übertragen.
Das System erfunden haben fünf Frei-
burger – zwei Unternehmer und zwei Wis-
senschaftler des Instituts für autonome in-
telligente Systeme der Universität Freiburg.
Hinzu kommt Professor Wolfram Burgard,
der als Wissenschaftlicher Berater fungiert.
Er forscht seit mehr als 20 Jahren an auto-
nomer Roboternavigation und hat die
technischen Grundlagen für das autonome
Fahren miterfunden.
Auf einer Modellbaumesse lernte man
sich kennen, tauschte Ideen aus und be-
schloss, Drohne, Sensor und Robotersoft-
ware für einen Test zu kombinieren. „Un-
ser erstes Objekt war eine Burgruine in
der Nähe von Freiburg“, erzählt Maryan
Wieland, einer der fünf Gründer. „Das war
Eine Firma aus Freiburg Kernstück der Erfindung ist ein Sen- unser Wow-Moment. Wir waren total ver-
vermisst Gebäude im Fluge – sorsystem, wie es ähnlich auch zum auto- blüfft, wie gut das funktioniert.“
dank Drohnen- nomen Fahren verwendet wird. Es sendet Im Oktober 2016 gründeten sie dann
und Robotertechnik. ein Laserlicht aus, das zum Beispiel von Dotscene und entwarfen den ersten Pro-
einer Mauer reflektiert wird und zum Sen- totyp. Der Sensor musste leicht genug
sor zurückkommt. Aus der Zeit, die da- sein, um von einer Drohne getragen zu
Text: Frank Dahlmann zwischen vergeht, kann die Software den werden. Er sollte Objekte aus bis zu 100
Abstand zum Objekt ermitteln. Sagenhaf- Metern Entfernung messen. Und er soll-
te 600 000 Punkte misst der Sensor in der te auch von Laien bedienbar sein. Dabei
Sekunde. Das funktioniert nicht nur sta- musste die Software nicht nur eine Karte
tisch, sondern auch in Bewegung, da die der Umgebung erfassen, sondern auch er-
Software erkennt, wo sich der Sensor zum kennen, wo sich die Drohne selbst gerade
Zeitpunkt der Messung befindet. Es ist befindet.
daher egal, ob er durch Innenräume getra- Mitte 2019 soll das System so weit
gen wird oder mit einer Drohne außen um sein, dass es auch an Laien vermietet wer-
das Gebäude herumfliegt. den kann. „Die Technik funktioniert“, sagt
Dargestellt werden die Messungen in Wolfram Burgard. „Nun müssen wir die
einer dreidimensionalen Punktewolke. Je Infrastruktur aufbauen, um die Idee in
mehr Messpunkte hinzukommen, desto großem Stil umzusetzen.“ –
Abbildung: © dotscene GmbH

klarer zeichnen sich die Konturen eines


jeden Gebäudeteils ab. Und das rasend
Dotscene GmbH
schnell und zentimetergenau. Bauherren Nicolas Trusch, Maryan Wieland, Andreas
Gespenstisch:
Aus einer Punktewolke entsteht ein und Architekten können so Häuser oder Wachaja, Michael Ruhnke, Wolfram Burgard
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brand eins 12/18 157


Den Unterschied zu anderen Wirtschaftsmagazinen
kann man auch hören.

Der brand eins-Schwerpunkt


als Audioversion auf b1.de/audioversion:
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hören.
Leichte Sprache
Die Leichte Sprache nimmt
den Inhalt ernst, aber nicht schwer.
Das kann erhellend sein.

Und ich habe Hier die Übersetzung


der Paragrafen 186 und 187
es trotzdem erzählt aus dem Strafgesetzbuch.

Text: Holger Fröhlich

§ 186 Das ist verboten:


Üble Nachrede schlecht über andere Leute reden

Wer in Beziehung auf einen anderen eine Tatsache behauptet Manche Sachen sind im Gesetz verboten.
oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder Wenn ich sie trotzdem mache, kriege ich eine Strafe.
in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, Das nennt man: Straf·Tat.
wird, wenn nicht diese Tatsache erweislich wahr ist, mit Frei- Die „üble Nachrede“ ist eine Straf·Tat.
heitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe und, wenn die Das bedeutet „üble Nachrede“:
Tat öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) – Wenn ich über einen anderen Menschen schlecht rede.
begangen ist, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit – Wenn das dem anderen Menschen peinlich ist oder
Geldstrafe bestraft. ihm schaden kann.
– Wenn ich die Sachen nicht beweisen kann.
Vielleicht habe ich sogar die Wahrheit gesagt.
Aber ich habe nicht genug Beweise.
Vielleicht war ich der Erste, der die Sachen erzählt hat.
Oder ich habe sie nur weitererzählt. Das ist dem Gesetz egal.
Das passiert, wenn ich es nur wenigen Leuten erzählt habe:
– Ich muss bis zu einem Jahr ins Gefängnis,
– oder ich muss Geld bezahlen.
Das passiert, wenn ich es vielen Leuten erzählt habe:
– Ich muss bis zu zwei Jahre ins Gefängnis,
– oder ich muss Geld bezahlen.

§ 187 Das ist auch verboten:


Verleumdung über andere Leute Lügen erzählen

Wer wider besseres Wissen in Beziehung auf einen anderen Die „Verleumdung“ ist ähnlich wie die „üble Nachrede“.
eine unwahre Tatsache behauptet oder verbreitet, welche den- Nur schlimmer.
selben verächtlich zu machen oder in der öffentlichen Meinung Denn diesmal habe ich mit Absicht gelogen.
herabzuwürdigen oder dessen Kredit zu gefährden geeignet Ich wusste, dass es eine Lüge war.
ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geld- Und ich habe es trotzdem erzählt. Vielleicht hat deshalb
strafe und, wenn die Tat öffentlich, in einer Versammlung jemand kein Geld von der Bank bekommen.
oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) begangen Das passiert, wenn ich es nur wenigen Leuten erzählt habe:
ist, mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe – Ich muss bis zu zwei Jahre ins Gefängnis,
bestraft. – oder ich muss Geld bezahlen.
Das passiert, wenn ich es vielen Leuten erzählt habe:
– Ich muss bis zu fünf Jahre ins Gefängnis,
– oder ich muss Geld bezahlen.

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Impressum

Wege zu brand eins Herausgeber: brand eins Medien AG, Speersort 1, 20095 Hamburg
Telefon: 040 / 32 33 16 – 70, Fax: 040 / 32 33 16 – 80, Internet: brandeins.de
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Wir freuen uns über Ihre Zuschriften. Ihr Brief muss sich
klar auf einen in brand eins veröffentlichten Artikel Redaktion: Sophie Burfeind / Textredaktion <sophie_burfeind@brandeins.de>, Patricia Döhle / Textredaktion <patricia_
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Alle nebenstehend unter Redaktion aufgeführten (USA), Christoph Koch, Dorit Kowitz, Peter Laudenbach, Andreas Molitor, Thomas Ramge (Technik), Stefan Scholl (Russland),
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Die nächste Ausgabe von brand eins erscheint am 21. Dezember 2018

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Wer hat’s gesagt?


„ Ein verordnetes Du schafft das Gegenteil
von Nähe. Nähe kann man nicht verordnen.“
Dieses Zitat * stammt von

a. Heiner Thorborg, Personalberater


b. Johannes Siebers, Gründer
c. Caroline Scheff, Freiberuflerin
d. Eva Sweeney, Architektin
e. Philipp Glöckler, Unternehmer
f. Björn Vedder, Philosoph

* Sie finden es in dieser Ausgabe.

Senden Sie die Lösung an:


brand eins, „Stichwort: Wer hat’s gesagt?“, Speersort 1, 20095 Hamburg –
zur leichteren Kontaktaufnahme gern mit Telefonnummer oder E-Mail-Adresse.
Oder füllen Sie unser Online-Formular aus unter b1.de /werhatsgesagt
Einsendeschluss ist der 20. Dezember 2018.

Der Gewinner wird in der brand eins-Ausgabe Februar 2019 bekannt gegeben (erscheint am 1. Februar 2019).
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Mitarbeiter der brand eins Medien AG, deren Angehörige sowie Einsendungen von
Gewinnspiel-Services sind von der Teilnahme ausgeschlossen.

Zu gewinnen gibt es den 34WK95C von LG im Wert von 1099 Euro.


Der Curved UltraWide Monitor im 21:9-Format hat eine Bildschirmdiagonale
von 34 Zoll und bietet viel Arbeitsfläche für Multitasking, Filme und
Spiele. Die Auflösung von 3440 x 1440 Bildpunkten sorgt für eine scharfe
Darstellung und die Nano IPS Technologie für eine gleichmäßige
Helligkeit bis zum Displayrand. Das Gerät verfügt über Displayport sowie
zwei HDMI-, einen USB-C- und zwei USB-3.0-Anschlüsse.
Mehr Informationen unter www.lg.com/de

In brand eins 10 / 2018 fragten wir nach folgendem Zitat aus dem Heft:
„Es geht … darum, Dinge auf neue, womöglich bessere Art und Weise anzuordnen.“
Das hat gesagt: Tobias Nolte, Unternehmer

Ein Bett, Modell Marquis, von Hästens im Wert von rund 7110 Euro hat gewonnen:
Christian Lebrenz, Wachtberg

162 brand eins 12 /18


» Wachstum braucht Entscheider.
Deshalb haben wir uns für
Werbung am DUS entschieden. «

Carolin Fell, Marketing Manager

Markenbekanntheit steigern,
Employer Branding stärken – gerade für
IT-Beratungen wie Platinion kommt es
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