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Strukturen des Protests -

Die Arbeitslosenbewegung - Frances Fox Piven


Die In du stri e arbeiterbewegung -
DieBürgchtsbwun- Richard A.Cloward
DieProtsbwgund
Wohlfahrtsempfänger Aufstand der Armen
edition suhrkamp
SV

1.3,1 3-5- I B4-1 < NIX>


Titel der Originalausgabe: Poor People's Movements Inhalt

Stephan Leibfried/Wolf-Dieter Narr


Sozialer Protest und politische Form I

Vorwort zur Ausgabe von 1979 7


Einleitung 18
I. Strukturen des Protests 2 5
Institutionelle Grenzen des Ausbruchs von Massenprotest 30
Formen des Aufruhrs 39
Die begrenzte Wirkung von Auflehnung 4 6
Eine Anmerkung zur Rolle der Anführer von Protest-
bewegungen 61

II. Die Arbeitslosenbewegung 63


Die Große Depression: Voraussetzungen des Aufruhrs 67
Das Aufkommen von Protest 72
Finanzkrise der Kommunen 83
Instabiles Wählerverhalten und staatliche Reaktion 88
Vom Aufruhr zur Organisation 92
Organisation und parlamentarischer Einfluß III

III. Die Industriearbeiterbewegung 118


edition suhrkamp 1184
Neue Folge Band 184 Der Staat gegen die Arbeiter 119
Erste Auflage 1986 Wirtschaftskrise und Vorbedingungen des Aufruhrs 130
© 1977 Frances Fox Piven/Richard A. Cloward, Das Aufkommen von Protest 133
© der deutschen Übersetzung Suhrkamp Verlag
Frankfurt am Main 1986
Der Staat am Scheideweg 15o
Erstausgabe Staatliche Konzessionen an die Arbeitermacht 155
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Vom Aufruhr zur Organisation 1 74
des öffentlichen Vortrags Folgen der Organisierung 181
sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen,
auch einzelner Teile.
Schlußfolgerung 198
Satz: Hummer, Waldbüttelbrunn
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden
Umschlagentwurf: Willy Fleckhaus IV Die Bürgerrechtsbewegung 202
Printed in Germany
Die Schwarzen in der politischen Ökonomie des Südens 205
I 2 3 4 5 6 — 91 90 89 88 87 86 Die ökonomische Modernisierung des Südens 211
Ökonomische Modernisierung und parteipolitische Stephan Leibfried/Wolf-Dieter Narr
Instabilität 217 Sozialer Protest und politische Form
Ökonomische Modernisierung und schwarzer Aufruhr 226
Die Mobilisierung weißen Widerstands 23 5 Ein Plädoyer fiir Unruhe, Unordnung und Protest
Das Wiederaufleben schwarzen und weißen Widerstands 24 7
Die Erlangung politischer Rechte 265
Vom Aufruhr zur Organisation 281
\Wahlpolitische Organisation und ökonomischer Fortschritt 285 »Neue Soziale Bewegungen«?

»Neue Soziale Bewegungen« : Schon länger als ein Jahrzehnt beun-


V Die Protestbewegung der Wohlfahrtsempfänger 289 ruhigen sie nun Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik. Sie
Die Entstehung einer Bewegung der Wohlfahrtsempfänger 291 vvaren zunächst sehr ungewohnt und sind es vielfach immer noch.
Ein Vorschlag zur Entfesselung einer institutionellen Krise 3or Gewiß, die Arbeiterbewegung ist etwas in Europa schon lange Ver-
Eine Organisation der Armen entsteht 316 trautes (vgl. Geary 1983). Auch wenn man ihre Äußerungen nach
Das Problem dauerhafter Mitgliedschaft 325 wie vor ablehnt oder skeptisch betrachtet, weiß man doch, woran
Die Auswirkungen interner Führungsstrukturen 339 man mit ihr ist.
Die Auswirkungen externer Anreize 348 Aber die »Neuen Sozialen Bewegungen«, die gleich im Plural
Der Niedergang der schwarzen Protestbewegung 364 daherkommen und sich als »neue« von der »alten« Arbeiterbewe-
Kampf um die Reform der Sozialfürsorge 369 gung abheben, sie sind nur schwer in die jüngere deutsche
Widerstand der »National Welfare Rights Organization« gegen die Geschichte einzuordnen. Es gibt keine rechte »Schublade« für sie.
Fürsorge-»Reform« 378 Sie scheinen sich noch einer eindeutigen Bestimmung zu entzie-
Die Auflösung der »National Welfare Rights Organization« 38 5 hen. Das nach 1945/49 so rasch etablierte »Kanalsystem« der Bun-
Abschließende Bemerkungen zur Bewegung der Schwarzen nach desrepublik, in dem sich alle Meinungs-, Willens- und Entschei-
dem Zweiten Weltkrieg 39i dungsbildung vollzieht, ist nicht in Gefahr.
Parteien und Parlament, Regierung und Bürokratie bleiben selber
Abkürzungsverzeichnis 399 ungefährdet. Doch vollziehen sich offenkundig Meinungs- und
Anmerkungen 4or Willensbildungsprozesse außerhalb dieses »Kanalsystems«. Tradi-
Literaturhinweise 454 tionelle Formen, wie die Möglichkeit, sich öffentlich zu versam-
meln und kollektiv Interessen kundzutun, werden in neuer und
ausgeweiteter Form aufgenommen. Demonstrationen verschiede-
ner Art, die mit dem herkömmlichen Versammlungsrecht und des-
sen Vorstellungen nicht mehr ohne weiteres zu vereinbaren sind,
beherrschen nicht gerade, aber beeinflussen doch den politischen
Alltag (Cobler u. a. 1983). Wie war es doch in Bonn vordem ohne
Demonstrationen so bequem.
Das vergleichsweise neue Phänomen (vgl. zunächst Eder 86,
198 5 ; ferner Raschke 198 5), das auch in anderen Ländern Paralle-
len kennt, hat unvermeidlicherweise eine erkleckliche Zahl von
politischen Spekulanten auf den Plan gerufen — von den herrschen-
den Versuchen, es möglichst zu unterdrücken, einmal ganz zu
schweigen. Es hat wie selbstverständlich die Sozialwissenschaftler Hinsicht besser als deutsche-bundesdeutsche Analytiker und Akti-
als Rapporteure der Bewegung angelockt: »Bewegungsbericht- visten. Sie können, erstens, auf eine lange Erfahrung mit sozialen
erstatter«, sei es über die Friedensbewegung, die Hausbesetzer- Bewegungen (»social movements«) zurückgreifen. Eine Mobilisie-
»Szene«, die Startbahn-West, AKW-Kampagnen, die »Öko- rung »von unten«, unorganisierte, vergleichsweise spontane Prote-
Szene«, Frauenbewegung... bis hin zu bäuerlichen Protesten gegen ste und Aktionen haben in den USA eine langeTradition. Piven und
Flurbereinigung. Da wird von einer »Zeitenwende« geträumt Cloward konzentrieren sich in ihrem Band auf vier große soziale
(Bahro 198o), einem Werte- und Gesellschaftswandel in einem Bewegungen während bzw. nach der Weltwirtschaftskrise ab 1929.
(Klages/Kmieciak 1979), von einem »postmodernen Neoproleta- Sie beginnen mit der Arbeitslosenbewegung und der Bewegung der
riat« (Gorz 198o) mit der Verheißung einer neuen Produktions- Industriearbeiter während des New Deal. Sie stellen die schwarze
form und einer ihr entsprechenden Kultur der Geselligkeit, wenn Bürgerrechtsbewegung vor und beschreiben schließlich die »Bewe-
nicht sogar Gemeinschaft (Huber 198o). Entsprechend zahlreich gung für die sozialen Rechte« (»welfare rights movement«) der
sind die Versuche, diese »Bewegungen« zu differenzieren und sechziger Jahre, die in den »Kampf gegen den Hunger« (»war
einzuordnen, ihnen ihren gesamtgesellschaftlich-historischen und against poverty«) unter der Präsidentschaft von Lyndon B. John-
zukünftigen Ort zuzuweisen (vgl. u.a. Habermas 1981; Ried- son mündete (vgl. zu dieser »Regulierung der Armut« schon Piven/
müller 1983). Cloward 1977).
So verständlich angesichts der restaurativen Enge und Starre des Bundesdeutsche Autoren, die die Geschichte der Arbeiterbewe-
CDU-Staates — sei es des ersten CDU-Staates, seiner untergründi- gung vornehmlich als Geschichte der politisch-gewerkschaftlichen
gen Fortsetzung nach 1966/69 oder seiner veränderten Wiederauf- Großorganisationen nacherzählt haben, versäumen es demgegen-
nahme als zweiter CDU-Staat seit Oktober 1982 — die politische über oft sträflich, diese Geschichte wieder als Mobilisierung und
und sozialwissenschaftliche Faszination ist, die von diesem Organisierung »nach unten« zu verflüssigen und die sozialen
»undeutschen« Phänomen »Neue Soziale Bewegungen« ausgeht, Erfahrungen aus dieser Entwicklung heraus zu verdichten (vgl.
so sehr muß weniger der politisch-praktische als der theoretische demgegenüber: Henkel/Traubert 1979; Puls 1979 und Thompson
Opportunismus verwundern. Der Eindruck drängt sich auf, als 1980 für England).
werde zu diesem Thema distanzlos und »bewegt« theoretisiert, als Piven und Cloward ist, zweitens, der Zugang zu diesem Thema
werde der an sich richtigen wissenschaftlichen Sucht nach gesamt- einfacher, weil sie den Begriff der »Bewegung« (»social move-
gesellschaftlichen Erklärungen zu rasch, zu unvermittelt und mit ment«) ohne Arg zu benutzen vermögen. Die von deutscher Tra-
zu großer Liebe zu Tendenzaussagen nachgegeben. Das gilt jeden- dition gesättigte Bundesrepublik läßt dies nicht — oder nur in un-
falls, wenn man von der Mehrheit der konventionellen, eng empiri- zulässiger Naivität — zu, gerade weil sie sich so unfähig erwies zu
schen Bereichsstudien absieht. trauern (Mitscherlich/Mitscherlich 198o). Der »Bewegungs«-Be-
In dieser durch Hoffnungen und Spekulationen, aber auch durch griff ist von den Nationalsozialisten derart besetzt und geprägt wor-
Enttäuschungen und mancherlei Resignationen gekennzeichneten den, daß wir ihn kaum noch ohne entsprechende Assoziationen
Lage, hängen Erfolge und Mißerfolge dieser so charakteristisch benutzen können.
vage benannten »Neuen Sozialen Bewegungen« entscheidend mit Sobald wir den Begriff gebrauchen, versehen mit dem Duft unmit-
davon ab, welche Politik man mit ihnen verfolgt und an welchen telbarer Demokratie, einem populistischen Geschmack im besten
Konzeptionen man sich orientiert. Vor diesem Hintergrund ist es Sinne des Wortes (vgl. Puhle 1983), ist zugleich die Gefahr der Per-
wichtig, daß dieses spannende, mit zeitgeschichtlicher Erfahrung version und des Mißbrauchs mitzudenken. Das gilt in Inhalt und
durchdrungene Buch von Frances Fox Piven und Richard Cloward Form auch für die »Neuen Sozialen Bewegungen«. Wo sind
einem breiteren Leserkreis in der Bundesrepublik zugänglich Anklänge an »Blubo« (= »Blut und Boden«) zu finden? Werden
gemacht wird. auch die für demokratische Ziele geeigneten Organisations- und
Beide Autoren sind Nordamerikaner und haben es in doppelter Mobilisierungsformen gewählt? Inwieweit stellen sich Ersatziden-
lI III
tifikationen ein, wie sie Sigmund Freud 1921 in Massenpsychologie eine Verfahrensweise, die den eingewöhnten offiziellen Verfahren
und Ich-Analyse (1982) diagnostiziert hat? gegenüber widerspenstig bleibe und von ihnen nicht ohne weiteres
Denoch: Gänzlich auf den Begriff zu verzichten und Kunstaus- integrierbar sei. Wer konventionelle Wege benutzt, um seine nicht
drücke zu erfinden, wäre naiv. Wir dürfen uns auch die Sprache berücksichtigten Interessen zu artikulieren und herrschenden
nicht enteignen lassen. Ohren zu vermitteln, hat nur geringe Chancen. Selbst wenn es, wie
hierzulande oft, gelingen sollte, auf diesem Wege Organisationen
aufzubauen, werden diese doch eher dazu dienen, die nicht berück-
Sozialer Protest und politische Form sichtigten Interessen in die herrschenden Konventionen einzubin-
den, als umgekehrt dazu, diese Konventionen zu verändern. Zwar
Was können wir von Piven und Cloward lernen? Oder genauer bilden einander widersprechende Ziele (Inhalte) den Ausgangs-
gefragt, da wir ein Lesen des Buches nicht ersetzen wollen: Zu wel- punkt, doch werden solche Interessen zunächst über die Formen in
chen Themen und Aspekten ist hier geschichtlich gewonnene die herrschenden Konventionen kooptiert, was aber im vveiteren
Erfahrung aufbereitet? Einige Einsichten, die uns für das Buch und auf die Inhalte zurückwirkt.
die sozialen Bewegungen zentral erscheinen und die auch in der Drittens: Kollektiver Protest ist als gesellschaftliche Normalität
deutschen Forschung zum sozialen Protest weitgehend geteilt wer- unwahrscheinlich (Moore 1982: 9 ff.). Auf der einen Seite wird Pro-
den (vgl. als Überblick Volkmann/Bergmann 1983 ; vgl. auch Hau- test durch die herrschenden Strukturen soweit wie möglich ausge-
sen 1977)1, wollen wir skizzieren: schlossen. Notfalls wird durch entsprechenden Einsatz repressiver
Erstens: Das Buch teilt wichtige Ausgangspunkte mit den Arbei- Instrumente kräftig nachgeholfen. Auf der anderen Seite hat man
ten Rosa Luxemburgs. DieVerfasser vertrauen und bauen auf spon- sich unbewußt meist immer schon mit den Verhältnissen arran-
tane Massenbewegungen, eben auf das, was keine Institution und giert. Des-wegen sind die jeweils in die Struktur eingelassenen Ent-
keine noch so ausgeklügelteTheorie im voraus berechnen und insti- scheidungen, solche also, die nicht mehr zur Disposition stehen,
tutionell oder begrifflich eingemeinden kann. Entsprechend fällt eben die »non-decisions« (Bachrach/Baratz 1977), so schwer zu
die Kritik an allen formalen Organisationen aus, die allzu rasch repolitisieren.
dem »Gesetz der Oligarchie« anheimfallen: Hierarchiebildung, Kollektiver Protest erfordert eine Reihe besonderer Bedingun-
Stellvertreterpolitik der Funktionäre, aus der Organisation als gen. Herkömmliche Gewohnheiten sind in Frage zu stellen. Vor
Instrument wird das Ziel selbst; die Organisationserhaltung wird allem die geltenden Formeln der Macht und ihre Moral sind in
vorherrschender Bezugspunkt, der Organisationspatriotismus Zweifel zu ziehen. Bevor es zu einer stärkeren und unüblichen
triumphiert. Dieses Gesetz formulierte Robert Michels igti nicht Mobilisierung kommen kann, muß ein kollektives Bewußtsein
zuletzt aufgrund von Erfahrungen, die er mit der Sozialdemokratie gemeinsamer Nöte entstanden sein (vgl. Hobsbawm/Ru& 1975).
gemacht hatte (195 8). Bestimmte Vorstellungen und Programme können dann sozialen
Zweitens: Alle Kapitel, bald jeder Abschnitt des Buches endet mit Protest auslösen und weiterverbreiten. »Plötzlich« wird die alte
dem gleichen Refrain: Soweit soziale Bewegungen und ihr Protest Realität verkehrt (vgl. Ruck 198o).
erfolgreich waren, verdankt dieser Erfolg sich nicht einer großen, Kollektiver Protest entsteht jedenfalls nicht durch gezielte Pla-
einflußmächtigen, auf Parteien und Regierung Druck ausübenden, nung. Das heißt nicht, daß er keine bestimmte Richtung nähme
mühsam aufgebauten Organisation. Entscheidend war vielmehr und nicht durch verhältnismäßig einheitliche Absichten gekenn-
die Verletzung herrschender Formen, der nicht berechenbare, der zeichnet wäre. Jedoch zeichnet den kollektiven Protest ein nicht im
nicht organisatorisch vermittelte und stillgelegte Protest : Das Sper- vorhinein kalkulierbares Element aus. Gerade dies erklärt die
rige gilt. unzureichenden Reaktionen der Vertreter etablierter Institutionen
Dementsprechend komme es darauf an zu informieren, zu und erregt deren Unruhe und Angst.
demonstrieren, zu mobilisieren und zu organisieren, kurzum auf Viertens: Die Vertreter herrschender Interessen vverden erst

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dadurch zu einem anderen Verhalten genötigt, und sei es nur vor- unten« wird umgeleitet, organisatorisch »geläutert«, geht seiner
übergehend, daß sie die Forderungen des Protests angesichts seiner Stärke verlustig und verpufft. Der kollektive Protest verliert sein
ungebärdigen Formen nicht mehr in dem bestehenden Kanalsy- kollektives Element wie die Eigenart des Protests, sprich: das
stem drainieren können. Ansonsten nutzen sie alles, was an Koop- Nicht-normal-Konsumierbare.
tationsmöglichkeiten zu Gebote steht. Die Angleichung an beste- Siebtens: Es darf dennoch nicht verkannt werden, daß Organisa-
hende Interessen gelingt dort am schnellsten, wo sich der Protest tionen und Positionen, die als Ausdruck kollektiven Protests ent-
selbst auf bestehende Willensbildungs- und Entscheidungsmuster standen sind oder erworben wurden, auch dann sinnvoll bleiben
einläßt. So geschieht es in dem von Piven und Cloward wiederholt können, wenn die Protestwurzel abgestorben und die ungebärdi-
untersuchten US-amerikanischen Fall: dem Versuch, große Orga- gen Formen des Protests gebändigt worden sind. In den USA ist
nisationen zu bilden, die auf Wahlen Einfluß nehmen und in dafür die Entstehung der CIO-Gewerkschaften ein Beispiel (vgl.
Washington oder an entsprechenden Orten als Lobby tätig werden Erd 1986). Ein anderes ist die Institutionalisierung sozialpoliti-
wollen. scher Rechtspositionen (vgl. Piven/Cloward 1982 und Sozialpoli-
Fünftens: Auch dort, wo sich der Protest nicht vornehmlich an die tik und Sozialstaat 198 5 : 513 ff. für die USAund andererseits den in
staatliche Adresse richtet, spielen staatliche Institutionen sowie ins- Arbeitsgruppe Sozialpolitik 1985 b: 12off. vor allem für das Deut-
besondere Rechtssystem und Repressionsapparat eine zentrale sche Reich nachgewiesenen Forschungsstand).
Rolle. Protest wird erst möglich bei Nachlassen halbfeudaler Allerdings sollte nicht vergessen werden, daß zuerst der Protest
Repression. Dies galt beispielsweise für die Schwarzen im Hinblick vorhanden war und dann die Organisation kam: Nicht die Organi-
auf die südstaatlichen Großgrundbesitzer und ihre Sklavenwirt- sation inszenierte einen erfolgreichen Protest (vgl. S. 147 ff.), der
schaft. Die Rolle von alltäglichem Terror, der auch als »legitimier- Protest inszenierte sich zunächst selbst und schuf eine Organisa-
ter« auftreten kann, ist nicht zu unterschätzen. So wird der staatli- tion.
che Repressionsapparat, etwa beim Einsatz gegen »wilde« Streiks, Der Erfolg so entstandener Organisationen oder so erworbener
Protest zerschlagen, ihn in genehmere Formen umleiten oder aber Rechtspositionen bleibt dauernd prekär. Das zeigt das Beispiel der
private Gewaltinstitutionen etwa der Unternehmen ermächtigen, politischen Rechte der Schwarzen. Erworbene Rechtspositionen
entsprechendes zu tun. Das Monopol physischer Gewalt erweist und institutionelle Errungenschaften mögen den herrschenden
gerade angesichts kollektiver Proteste seine bestandserhaltende Gebrauch symbolischer Politikformen verstärken (Edelman 1976).
Kraft. Der »stumme Zwang« ökonomischer Verhältnisse (Karl Gewerkschaftliche Organisationen etwa entwickeln sich zur Ord-
Marx) wird angesichts eines nicht mehr ohne weiteres besänftigba- nungsmacht.
ren Protests notfalls sehr laut und in den Farben grell: blut-rot. Achtens: Gerade die politische Geschichtsschreibung sozialen
Sechstens: Kollektive Proteste kommen »von unten«. Aber sie Protests belegt, daß diejenigen, die solche Geschichte schreiben,
besitzen gewöhnlich auch intellektuelle Vorreiter und professionell von ihrer eigenen Gegenwart ausgehen und von ihren eigenen Kon-
agierende Organisatoren. Beide wollen das Beste für die Protestie- zepten des Politischen. Man erführe aus dem Buch von Piven und
renden. Sie können allerdings den Protest unbeabsichtigt seines Cloward wenig, würden sie vorgeben, »neutral« zu berichten.
Stachels und damit seiner Wirkung berauben. Die Organisatoren Erfolg und Mißerfolg läßt sich bei sozialen Bewegungen nicht
und die Konzepte schmiedenden Reformer setzen auf die Logik allein oder primär an einem äußeren Erfolgsindikator messen, etwa
der Institution. Kontinuität soll erreicht werden, regelmäßiger Ein- an Wahlerfolgen und Positionsgewinnen. Die Autoren machen des-
fluß. Der Protest soll dort ein Ohr finden, wo entschieden wird wegen aus ihrem Interesse kein Geheimnis. Es wird im ersten und
usw. Doch allzu rasch wird dann die Mobilisierung und die Politi- im letzten Kapitel besonders deutlich.
sierung zum Aufbau der Organisation verwandt und der Hoffnung Freilich, es handelt sich nicht um eine Position, die voluntari-
geopfert, mit Hilfe der Organisation Einfluß nehmen zu können. stisch, aus beliebigen Gründen bezogen wird. Sie ergibt sich viel-
Robert Michels (19 5 8/[1911]) wird lebendig. Der Druck »von mehr aus ihren historischen Bedingungen und Wirkungen, beruht
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auf eigener Erfahrung. Von dieser Position aus wird weder die der verschlungen erscheinen. Sobald nämlich eine soziale Bewe-
»reine Geschichte« der »Protestierenden« noch die von »sozialer gung Erfolg hat, wird sie, gerade wenn man die Maßstäbe der Auto-
Organisation« als solcher geschrieben. Nur eine beide Seiten inte- ren zugrunde legt, »verlanden«, weil der Anlaß verschwindet. Sie
grierende Betrachtung wird dem sozialen Protest und seiner ist dann institutionell eingemeindet worden. Ein Perpetuum
»moralischen Ökonomie« (Thompson 198o) gerecht. mobile ist sozial ebenso schwer vorzustellen wie technisch.
Wer sozialen Protest untersucht, muß sich über die eigene Wahr- Woraus sollten sich die Motive des Protests speisen? Woher sollen
nehmung, die eigenen Urteilskriterien, den eigenen Politikbegriff die erforderlichen Ressourcen kommen, die allein ein langes
im besonderen Rechenschaft ablegen. Denn er nimmt unmittelbar Durchhaltevermögen garantieren? Gerade wenn feste organisatori-
oder mittelbar an den Bedingungen der Möglichkeit und der Wirk- sche Bindungen vermieden werden, un-, den Protest offen und
lichkeit des Protests und seiner Formen teil. Piven und Cloward unkalkulierbar zu halten, gerade dann ist schon entschieden, daß
hängen keinem Politikbegriff an, für den der Erfolg unwichtig nach der Protestflut die Ebbe folgen muß. Eine soziale Bewegung
wäre, im Gegenteil. Allerdings unterscheiden sie sehr deutlich zwi- läßt sich nur »veralltäglichen«, wenn sie entsprechend organisiert
schen kurzfristiger und langfristiger Wirkung. Demokratische wird. Nur dann kann sie vermeiden, ihren kontinuierlichen Bezug
Form und Substanz, ausgewiesen an den Protestierenden und ihren zu verlieren.
unterschlagenen Interessen, bilden für sie den ausschlaggebenden Zwischen Organisation und Organisation bleibt allerdings ein
Bezugspunkt. beträchtlicher, politisch entscheidender Unterschied. So mag man
Sie legen dabei durchaus großenWert auf die Form des politischen differenzieren z-wischen »Verkündungsbewegungen«, bei denen
Prozesses, die sie nicht mit der herrschenden Form repräsentativ das Ziel in Spontaneität ohne weiteres aufgehen kann, weil es im
verengter Willens- und Entscheidungsbildung gleichsetzen. Wenn Verhältnis zum Staat um einen »status negativus« geht, und
man auf letztere Einfluß nehmen will und muß, die nicht umsonst »Reproduktionsbewegungen«, bei denen es um die »Verfassung«
die herrschende heißt, gilt es, die politisch-prozedurale Fixierung sozialer Ressourcen geht und damit um einen »status positivus«,
auf die übliche politische Willensbildung über Parteien und Parla- der höhere Organisationsanforderungen stellt, ohne daß doch des-
ment qualitativ auszuweiten. Ein am Inhalt orientierter Demokra- halb Spontaneität in den Hintergrund gedrängt werden müßte.
tiebegriff, das wird gerade an den Protestbewegungen deutlich, In dem Maße wie der Staat der »Daseinsvorsorge« alle alten ele-
macht eine andere Form des Politischen unabdingbar. mentaren Lebensbedingungen systematisch bürokratisch besetzt
bzw. formt, übernimmt er allseits die Verantwortung. Er wird zum
kaum mehr ausweichlichen Gegner allen Protests, für den sich mit
Zur Verallgemeinerbarkeit des »Modells USA« der »sozialen Frage« immer zugleich die »Sicherheitsfrage« stellt.
Bei einem derart »inkorporierten« Protest sind die Grenzen zwi-
Das sind nur einige, uns wichtig erscheinende Aspekte des Bandes schen punktueller Sozialreform und Systemveränderung bzw. -be-
von Piven und Cloward, die historisch reich illustriert werden. drohung verwischt.
Fraglich ist aber, ob man die von ihnen anhand von vier sozialen jedoch sind die Aussagen von Piven und Cloward nicht auf die
Bewegungen gemachten Beobachtungen so verallgemeinern darf, Bewegung »armer Leute« begrenzt, wie schon der Originaltitel des
wie wir dies angedeutet haben — und wie es auch von denVerfassern Buches anzeigt. Und vor allem sind sie nicht beschränkt auf den
selbst in den Einleitungen und im ersten theoretisch zusammenfas- US-amerikanischen Kontext und seine besonderen Bedingungen
senden Kapitel über die »Strukturen des Protests« geschieht. seit der Weltwirtschaftskrise. Die von Piven und Cloward aufberei-
Hierbei kümmert uns weniger eine Binnenkritik ihrer Darstel- teten Erfahrungen im deutsch-bundesdeutschen Bereich zu
lung — selbstverständlich ist diese Untersuchung in den USA nicht berücksichtigen scheint schier unmöglich. Denn am Anfang neue-
unbestritten geblieben.' Gleichfalls mag dahingestellt bleiben, daß rer preußisch-deutscher Geschichte war hier der bürokratische
die Bedingungen von Erfolg und Mißerfolg merkwürdig ineinan- Staat. »Er« schuf sich, überspitzt gesprochen, seine bürgerliche
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Gesellschaft (vgl. etwa Koselleck 1975) — allerdings oft als Kontra- lierung. Sie erliegen außerdem einem Konzept des Industriearbei-
punkt zu manifester sozialer Unruhe. Von der kurzen und vom ters, das erst sehr spät einigermaßen trennscharf verwendbar
Erbe der Zeit vor 1919 überlasteten Phase der Weimarer Republik geworden ist und die Wirklichkeit immer eher künstlich überformt
abgesehen (vgl. etwa Luthardt 1978), gab es bis 1949 nicht einmal hat.' Dies geschah etwa in Form eines auf den Industriearbeiter
im Ansatz einen einigermaßen offenen Pluralismus mit einer Viel- zugeschnittenen Klassenbegriffs, der mit politischen Hoffnungen
zahl von Organisations-, Außerungs- und Einflußchancen. Unor- eng verbunden war (zu einer theoretisch-historischen Bilanz vgl.
ganisierte soziale Bewegungen hatten in einem solchen Kontext Kocka 1983).
großorganisatorischer, etatistisch ausgerichteter Vermachtung, so Dennoch läßt sich behaupten, die deutsche Arbeiterbewegung
scheint es, keine Chance. habe ihre Erfolge aufgrund ihrer Organisationen und nicht gegen
Wir wollen zunächst auf zwei Beispiele skizzenhaft eingehen, die sie errungen (vgl: a. Mommsen 1981). Diese durch die Organisatio-
darauf hinzuweisen scheinen, daß die Aussagen von Piven und Clo- nen Sozialdetnokratie und Gewerkschaften miterstrittenen Erfolge
ward abhängig sind von einer umfassenderen Dialektik von Staats- lassen sich schon im Laufe der Wilhelminischen Epoche erklecklich
struktur, Protest und jeweiligem Widerpart. Heutzutage ist der summieren, wenn sie auch diesen nicht unmittelbar zustatten
Protest insbesondere davon bestimmt, daß die staatlichen Regulie- kamen, so etwa in der Gesetzgebung zur Arbeiterversicherung.
rungsfelder sich gesellschaftsweit ausgebreitet haben, also davon, Andererseits sind diese »socialpolitischen« Erfolge »nicht im Sinne
daß Staatsstruktur und Protestgegner bald als »fusioniert« anzu- Bismarcks durch die Trennung der Arbeiter von ihrer Organisa-
sehen sind. tion, sondern faktisch gerade über deren Organisationen« (Ritter
Das erste Beispiel ist die Geschichte der deutschen Arbeiterbe- 1983: 5i) zustande gekommen. Gewiß, Diskriminierung und
wegung (vgl. Ritter 198o; Lehnert 1983), das zweite die der Sozial- Unterdrückung, Niederschlagung von Streiks u. a. sind bei den
politik (vgl. Tennstedt 1983; Preller 1978; Hentschel 1983). Wir er- unmittelbaren Klassenauseinandersetzungen nicht zu übersehen.
gänzen diese Einwände durch Argumente, wie sie von Piven und Sie stellten neben dem Aufbau sozialpolitischer Regulierungskapa-
Cloward in ihrem jüngsten Buch (1982) selbst im impliziten und zität ein zentrales Systemelement dar. Darüber hinausgehende
ausdrücklichen Gegensatz zu dem hier vorgelegten Band formu- institutionelle Zugeständnisse erfolgten vor allem im Ersten Welt-
liert wurden. Danach wird zu fragen sein, was als verallgemeiner- krieg und dann in derWeimarer Republik (vgl. zu einer zeitgenössi-
bare Botschaft des Buches bleibt — jenseits einer auch als solcher schen theoretischen Aufarbeitung: Heimann 198o).
erhellenden und lesenswerten Analyse eines wichtigen Abschnitts Die durch die Großorganisationen und ihre Vertreter ausgehan-
der jüngeren Geschichte der USA. delten und mit der revolutionsbezogen-hintergründigen Drohung
Erstens: Martin Henkel und Rudolf Traubert (1979) haben mit etwa mit Massenstreiks — die durch lokale Ereignisse und solche im
Recht davor gewarnt, die Geschichte der deutschen Arbeiterbewe- Ausland Realitätsgehalt gewann — durchgesetzten Erfolge begrün-
gung wie eine Evolutionsgeschichte, also von hinten aufzuzäumen. den die Weimarer Republik. Ein Hinweis auf die Verhandlungen im
So als ob als Arbeiterbewegung nur zähle, was auf die späteren November 1918 zwischen Gröner und Ebert einerseits, Stinnes und
Großorganisationen der Industriearbeiter hingeführt habe. Für Legien andererseits muß an dieser Stelle genügen.
viele Geschichtsschreiber, die einem merkwürdigen, von der Über- Im übrigen gibt es im Ersten Weltkrieg und zu Zeiten der Weima-
schätzung der Gegenwart zehrenden Fortschritts- und /vIoderni- rer Republik neue deutsche »poor people's movements«, etwa der
sierungsbegriff frönen, zählen nur organisatorisch faßbare Konti- Kriegsversehrten, Kriegshinterbliebenen (vgl. Geyer 1983), der
nuitäten. Sie ignorieren, daß die organisatorischen Ansätze oft aus Klein- im Gegensatz zu den Sozialrentnern (vgl. Leibfried 1981).
spontanen Bewegungen hervorgegangen sind. Dabei hat gerade die Sie nötigten »den Staat« vor allem dazu, Sonderfürsorgen und Ver-
Struktur des »Gegners« die Organisationsrichtung mitbestimmt, sorgungswerke aufzubauen, neue Formen der institutionellen und
so die Zentralisation und Konzentration auf seiten der Arbeitgeber regulierenden Ausdifferenzierung und Kanalisierung zu entwik-
(vgl. auch Schönhoven 198o) und die Formierung staatlicher Regu- keln:
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»Diese neue Armut war im besonderen Maße politisch und auch quer durch bliebenen; Reichsverband Deutscher Kriegsbeschädigter und Kriegshinter-
alle Parteien politisierbar. Die damit verbundenen finanziellen und organi- bliebener e.V.; Internationaler Bund der Opfer des Krieges und der Arbeit;
satorischen Probleme waren ein >Dauerbrenner< in der politischen Diskus- Bund erblindeter Krieger; Zentralverband der Arbeitsinvaliden und Wit-
sion mit häufig wechselnden Frontstellungen. Unstrittig war allein, daß wen Deutschlands; Verein der Klein- und Mittelrentner und der Deutsche
eine Ausgestaltung der Wohlfahrtspflege auf einer neuen rechtlichen Rentnerbund.
Grundlage vonnöten sei. Im Verlauf der Weimarer Republik wurden diese Verbände oft gesetzlich
Diese Politisierung der Armut und die entsprechenden Ausdifferenzie- anerkannt. Alle waren sich darin einig, daß die Armenfürsorge kein geeigne-
rungsprozesse erinnern in mancher Hinsicht an die Entwicklungen in der ter Träger der geforderten Fürsorge bzw. Rente sei.« (Sachße/Tennstedt
1987)
Sozialpolitik Preußen-Deutschlands von 194. Im Kaiserreich war deutlich
geworden, daß innerhalb der Armenbevölkerung differenziert werden
mußte. Der traditionelle Blickwinkel Tauperismus< war für die Arbeiterar- Den besten Beleg aber für den Erfolg von Großorganisatonen bie-
mut nicht mehr adäquat. tet nach der Niederlage der Arbeiterbewegung durch den und im
Vor allem die Arbeiterarmut wurde nicht mehr als >natürlich< hingenom- Nationalsozialismus die Geschichte gewerkschaftlich erzielter
men. Sie galt nicht zuletzt wegen ihrer politischen und gewerkschaftlichen Resultate nach 1949. Setzt man den qualitativen, strukturellen
Organisierung weitgehend als sozial bedingt, durch den Status des eigen- Unterschied zwischen Lohnarbeit und Kapital voraus, der nie in
tumslosen Lohnarbeiters in der Wirtschafts- und Rechtsstruktur der kapita- Frage stand, dann läßt sich summarisch feststellen, daß das durch
listischen Gesellschaft gegeben. Politischer Ausdruck dieser Anerkennung die Gewerkschaften erzielte Ergebnis für die Arbeiter im Prinzip
war auch die Arbeiterversicherung des Staates, die am Arbeitsverhältnis
nicht so ohne weiteres zu überbieten ist. Zu gering ist es gewiß aus
anknüpfte und privat — von Arbeitergruppen und Arbeitgebern — entwik-
kelte Ausdifferenzierungen aus der Armenfürsorge zwangsweise verallge-
der Perspektive hochgespannter Erwartungen, die in den Gewerk-
meinerte und ausdehnte. Die mit der Armenfürsorge verbundene politische schaften eine »Gegenmacht« verkörpert wissen will. Erklecklich
Entrechtung unterblieb. Mit der >socialpolitischen< Arbeiterversicherung viel aber, wenn man von der Sicht des Arbeiters im Kapitalismus
und gegenüber einigen persönlichen Armutsrisiken der Arbeiter war eine ausgeht (Schmidt 1975).
neue rechtliche Grundlage geschaffen. Eine im einzelnen materiell belegbare Erfolgsgeschichte gewerk-
Im Verlauf der Kriegs- und Nachkriegsereignisse kamen zu den versicher- schaftlicher und sozialdemokratischer, während der Weimarer
ten Arbeitnehmern die erwähnten neuen Gruppen Hilfsbedürftiger hinzu. Republik auch kommunistischer Großorganisationen muß ihre
Sie stammten zu einem erheblichen Teil aus dem bürgerlichen Mittelstand besonderen Umstände berücksichtigen. Im Unterschied etwa zu
und verstanden ihre Armut von vornherein als politisch induziert. Sie for-
den Vereinigten Staaten hat es keine vergleichbare Aufsplitterung
derten den ihnen während des Krieges immer wieder versprochenen >Dank
der Arbeit und keine entsprechende arbeitsspezifische Gewerk-
des Vaterlandes< ein. Im gesamten Parteispektrum der Weimarer Republik
war auch prinzipiell unstrittig, daß der Staat zur Sonderfürsorge verpflich- schaftsorganisation gegeben, die nur ein »Segment« der Arbeiter
tet sei. Strittig waren nur Ausmaß und Träger der Hilfe sowie die Begrün- repräsentiert (Gordon u. a. 1982). Umgekehrt betrachtet, forderten
dung. die frühe staatliche Konzentration und die sozialpolitische Aktivi-
Die Linksparteien argumentierten mit der Verpflichtung des Staates zur tät der öffentlichen Hand eine Arbeiterschaft heraus, ihre Aktivitä-
Unterstützung der Opfer der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft und des ten entsprechend zu konzentrieren (vgl. auch Tennstedt 1983). Der
Militarismus — die KPD entwickelte ähnliche Argumentationsmuster wie ethnische Faktor kann trotz der polnischen Arbeiter insbesondere
die SPD vor 1914. Die Rechtsparteien stellten auf den Dienst und das Opfer im Ruhrgebiet (Dohse 1981; Kleßmann 1978) vernachlässigt wer-
für das Reich in nationaler Beziehung ab bzw. darauf, daß der revolutionäre
den. Er erklärt aber zusammen mit dem »segmentalisierten
Staat Kriegsverletzte und Kleinrentner nicht >bestehlen< dürfe. Auf seiten
der Betroffenen entsprach dem ein handfester politischer Lobbyismus.
Arbeitsmarkt« und entsprechenden organisatorischen Folgen, in
Gab es im Kaiserreich keine Verbände von Armen, sondern nur für Arme — welcher Richtung Werner Sombarts schon 19°5 gestellte Frage,
in der Weimarer Republik gab es erstere, zum Teil mit parteipolitischen warum es in den USA keine einheitlich organisierte Arbeiterbewe-
Abschottungen. Zu nennen sind 7. B.: gung gegeben habe, beantwortet werden müßte (vgl. Sombart
Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegshinter- 1969; Foner 1984; Karabel 1979; Lipset 1977). Diese Umstände
XII XIII
erhellen gleichfalls, warum es in den USA auch außerhalb einer von 1844, die Hungerkrawalle von 1847/48 und die Berliner Reh-
organisierten Arbeiterbewegung zu verschiedenen »poor people's berger von 1848 (vgl. Tennstedt 1983: 36ff., 46ff., rD3 ff., 155 ff.;
movements« gekommen ist. Gailus 1984; vgl. für Ereignisse in Süddeutschland im Vormärz
So wenig die Erfolge der organisierten Arbeiterbewegung abzu- auch Wirtz 1981; vgl. zur gleichen Zeit in Norddeutschland
streiten sind, so unerläßlich ist es, vor einer zureichenden Qualifi- Husung 1983). Diese Beispiele lassen sich etwa im Fall der Lebens-
zierung zwei weitere Komplexe auszuloten. So die nicht einfach zu mittelunruhen und Obdachlosenkrawalle der siebziger (vgl.
beantwortende Frage nach dem bewegenden Element der Großor- Machtan/Ott 1983) und der neunziger Jahre des t9. Jahrhunderts
ganisationen selbst und den Bedingungen ihrer Erfolge. Welche (vgl. Fröba/Nietsche 1983: 44 ff.), des zweiten Jahrzehnts unseres
Motive hielten die Organisationen lebendig? Was machte sie erfolg- Jahrhunderts (Moabiter Unruhen; Bleiber 1955) wie für die Zeit
reich? nach dem Ersten (vgl. etwa Boll 198r) und dem Zweiten Weltkrieg
Immer wieder waren es von der etablierten Organisation nicht (Kleßmann/Friedemann 1977) fortführen (vgl. auch Tennstedt
vorhergesehene Unruhen von unten — Kritik der Mitglieder, »Mit- 1983: 282, 391; zu bibliographischen Nachweisen vgl. Sozialpolitik
gliederschwund«, spontane Streiks, Ansätze, kleine alternative und Sozialstaat 1985: 276ff.; zu den »Häuserkämpfen« vgl. Niet-
Organisationen aufzubauen, und Erwerbslosenbewegungen sehe 1981). Aufmerksamkeit verdienen die spontanen Arbeitsnie-
(Bahne 1981; Huber-Koller 1977) —, die die Funktionäre der Orga- derlegungen und Streikunruhen des 19. Jahrhunderts (vgl.
nisation zum Reagieren und zur Aktion angehalten haben. Noch Machtan 1983; Milles 1983). Sie wurden vielfach ohne großorgani-
die Streikbewegungen 1969 und 1973 belegen diesen Sachverhalt. satorische Einwirkung begonnen. Das gilt etwa auch für den Berg-
Auch dort, wo von Organisationen im großen Schoß der Arbeiter- arbeiterstreik von 1889, in dessen Licht dann der »take-off« des
bewegung neue Formen erkundet und erprobt wurden, etwa Neuen Kurses in der Sozialpolitik von 1890 (v. Berlepsch 1986) zu
genossenschaftliches Wohnen, gehen die Anregungen zunächst auf sehen ist. Dabei muß die evozierende und provozierende Rolle des
»wilde« Siedlungsansätze zurück, die dann sozialdemokratisch Staates, vor allem der Polizei, beachtet werden.
bzw. gewerkschaftlich aufgenommen und transformiert wurden Die Zusatzfrage, ob nicht die Großorganisationen lebendiger, kri-
(Novy 1983: 59 ff.). Diese Spontaneität des Protests wird aber in tischer, auch mobilisierungskräftiger wären, wenn sie gemäß ihrer
dem Maße prekär, wie die den Interessen der Protestierenden ver- organisatorischen Form mehr unvermittelten Einfluß von unten
bundenen Organisationselemente zugleich auf der Gegenseite legi- zuließen, leitet schon zum zweiten Komplex über. Wie steht es mit
tim organisatorisch integriert werden. den Kosten von Erfolgen? Hat man nicht das Erstgeburtsrecht
Dabei sollte nicht von einfachen »Basis-Überbau«-Vorstellungen emanzipatorischen Anspruchs und entsprechender gesellschaftli-
für jede Organisation ausgegangen werden: Vielfach profitierten cher Umgestaltung zugunsten des sozial- und tarifpolitischen Lin-
»qualifizierte« Organisationen, solche also, in deren Einzugsbe- sengerichts vergeben? Noch grundsätzlicher gefragt: Ist nicht die
reich höhere soziale Schichten lagen, von den spontanen Aktionen, größte Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung, von der sie
die von »proletaroiden« Schichten getragen worden waren: sei es, sich nie mehr ganz erholt hat, das Heraufkommen des Nationalso-
daß ihre revolutionären Hoffnungen so beflügelt wurden, sei es, zialismus, auch dadurch bewirkt worden, daß die Großorganisatio-
daß sie selbst so als »kleineres Übel« gewisse Akzeptanzchancen nen begleitet von sozialpolitischer Staatshegemonie auch ihren
erhielten. Auf diese Weise entstehen »Huckepackeffekte« in den eigenen Mitgliedern gegenüber de-politisierend wirkten und alles
sozialpolitischen »Regulierungskorridoren«. Ferner wird deutlich, andere weniger scheuten als Massenmobilisierung (vgl. u. a.
daß die organisierte Arbeiterbewegung in Deutschland nicht in der Luthardt 1983: 348 ff.)? Denn letztere behält ein organisatorisch
Lage gewesen ist, die gesamte »produktionsbezogene« soziale nicht kalkulierbares Element und könnte die Erfolge der Organisa-
Unruhe zu inkorporieren. Es gab immer Elemente, die unabhängig tion und gar die Organisation selbst in Frage stellen.
von ihr blieben oder ihr auch entgegenstanden. Man kann also auch unter den scheinbar und tatsächlich ganz
Die bekanntesten frühen Beispiele dafür sind der Weberaufstand anderen deutschen Bedingungen die Frage nicht umgehen, die
XIV XV
Piven und Cloward nicht zuletzt unter Berufung auf deutsche teibeamten — einerseits, und Bürgermeistern: den Gewerkschaftsbeamten
Autoren und Kritiker der Arbeiterbewegung in ihrer organisierten und Konsumvereinsvorständen andererseits. Sie schafft sich jetzt ihre Uni-
Form — MaxWeber, Robert Michels und Rosa Luxemberg — gestellt versitäten mit Professoren, die nun nach Lehrfreiheit schreien, sie kennt
ihre >Reichsfeinde‹, ihre gemaßregelten Landräte usw. Sie hat vor allem, wie
haben. Die Ambivalenz organisatorisch-institutionellen Erfolgs,
der Staat, ein zunehmendes Heer von Leuten, die vor allen Dingen >Avance-
die sich ebensogut am Fall des »politischen Beamtenstandes« der tnentsinteressen< haben.
Krankenkassenbewegung erläutern ließe (vgl. Tennstedt 1977), Man fasse das nicht lediglich in üblem Sinne auf : es handelt sich dabei auch
wird in einer Diskussionsbemerkung Max Webers anläßlich einer um rein ideale Interessen der Geltendmachung der eigenenWeltanschauung
Tagung des »Vereins für Socialpolitik« in Wien, auf der ein Referat in der Partei — aber außerdem hat dies Heer von Beamten und von der Partei
von Robert Michels diskutiert wurde, schlaglichtartig deutlich. abhängenden Existenzen allerdings auch höchst materielle Versorgungsin-
Weber wendet sich ironisch an die Adresse konservativer Mitglieder teressen. Die Träger dieser Interessen sind nicht nur die formell Angestell-
des Vereins, die befürchteten, durch mitbestimmende Sozialdemo- ten der Partei, sondern die lokalgebenden Gastwirte, die Redakteure von
sozialistischen Blättern usw. usw. Für alle diese Leute eröffnet sich nun eine
kraten im Rahmen der gemeindlichen Selbstverwaltung würden
goldene Zeit, sie werden an der Krippe der Kommune versorgt werden,
revolutionäre Elemente gefördert: direkt oder indirekt, ganz ebenso wie dies bei anderen Parteien auch der Fall
ist: der Oberbürgermeister Sevdel in Berlin, der mit der damals herrschen-
»Es handelt sich ja heute — reden wir offen und nüchtern — in praxi einfach
den Fraktion in stetem Kampfe lag, schrieb so und sooft — man könnte es in
darum, ob wir einer ganz bestimmten Partei: es ist heute die Sozialdemo-
den Akten noch nachsehen — auf Eingaben von Kollegen, welche die Anstel-
kratie, für kürzere oder für längere Zeit oder für sehr lange Zeit die Führung
lung bestimmter Persönlichkeiten befürworteten, an den Rand der Eingabe
in denjenigen zahlreichen großen Kommunen, in denen sie zur Zeit die
die Frage: aus welchem Wahlkreis stammt der Mann ? Nicht immer, aber oft
Mehrheit darstellt, anvertrauen können und sollen. Nun möchte ich vor-
doch mit gutem Grunde. So ähnlich vielleicht, wesentlich prononcierter,
weg, mit Rücksicht auf die Bemerkungen, die Herr Stadtrat Fischbeck hier
würde sich diese Parteiherrschaft der Sozialdemokratie zweifellos auch
gemacht hat, doch mit der Bemerkung nicht zurückhalten: es hat seinerzeit
g,estalten. Keineswegs erfreulich! — Es fragt sich nur, wer auf die Dauer das
immer tiefen Eindruck auf mich gemacht, wenn meinVater, der ganz gewiß
mehr zu fürchten hat, die bürgerliche Gesellschaft oder die Sozialdemokra-
kein Liebhaber der Sozialdemokratie war — er hatte als Reichstagsabgeord-
tie. Ich persönlich bin der Meinung, die letztere, d. h. diejenigen Elemente
neter hier in Magdeburg mit der Sozialdemokratie sich herumzuschlagen in ihr, welche Träger revolutioniirer Ideologien sind. Schon heute sind ja
und nicht minder als Stadtrat in der Berliner Kommune —, mir dennoch wie-
gewisse Gegensätze innerhalb der sozialdemokratischen Bureaukratie für
der und wieder sagte: daß in erster Linie in der Berliner Baudeputation
jedermann kenntlich. Und wenn vollends die Gegensätze der materiellen
seine sicherste Stütze gegen den Ansturm der Interessen des Bauspekulan- Versorgungsinteressen der Berufspolitiker einerseits und die revolutionäre
tentums der Stadtverordnete Paul Singer sei. Nun wird mir zwar, gegenüber
Ideologie andererseits sich frei entfalten könnten, wenn man ferner die
dieser Bemerkung, Herr Geheimrat Loening vielleicht einwerfen, und ich
Sozialdemokraten nicht mehr, wie jetzt, aus den Kriegervereinen hinaus-
müßte ihm eine gewiße Berechtigung dieses Einwurfs zugeben: daß das
werfen wollte, wenn man sie in die Kirchenverwaltungen hineinläßt, aus
eben eine Minderheitsfraktion sei, deren Kritik hier wie sonst sehr denen man sie heute hinauswirft, dann erst würden für die Partei die ernst-
erwünscht sei; wenn dagegen diese Fraktion in eine permanente herr-
haften inneren Probleme anfangen. Dann erst geriete die revolutionäre
schende Mehrheit sich verwandelte und die Stadtverwaltung in die Hand
Virulenz wirklich in ernste Gefahren, und es würde sich dann erst zeigen,
bekäme, so sei das eine andere Sache. Fragen wir also: was würde die Folge
daß auf diesem Wege auf Dauer nicht die Sozialdemokratie die Städte oder
davon sein? Gehen wir da nüchtern und ohne Illusion zu Werke. Die näch-
den Staat erobert, sondern daß umgekehrt es der Staat ist, der die Partei
ste Konsequenz würde zweifellos sein: eine schroffe Parteiherrschaft der
erobert. Und ich sehe nicht ein, wie die bürgerliche Gesellschaft als solche
Sozialdemokraten in den Gemeinden, wo sie die Macht in den Händen hät-
eine Gefahr darin erblicken soll.« (1924: 408 f.)
ten.
Und was bedeutet dies praktisch? Die Sozialdemokratie steht heute
ersichtlich im Begriff, sich in eine gewaltige bureaukratische Maschine zu
Zweitens: Piven und Cloward nehmen an, daß habhafte sozialpoli-
verwandeln, die ein ungeheures Heer von Beamten beschäftigt, in einen tische Positionen nur dadurch erkämpft worden sind, daß es in
Staat im Staate. Wie der Staat, so kennt denn auch sie schon, im Kleinen, den ihrem Sinne ungebärdige Bewegungen armer Leute gegeben hat.
Gegensatz von Ministern, Regierungspräsidenten und Landräten— den Par- Gewerkschaftliche u. a. Organisationen haben solche einmal

XVI XVII
erkämpften Positionen allenfalls stabilisiert. Betrachtet man die bündnisses (von Großindustrie und Agrariern — d. Verf.) notwendigen wirt-
Entwicklung des modernen Wohlfahrtsstaates in Deutschland und schafts- und sozialpolitischen Entscheidungen abzuzwingen. Dies wird
verfolgt seine seitherige Geschichte, scheint fast die gegenteilige selbst aus dem Bismarck-Zitat deutlich, das immer wieder als Beweis für die
durch den Druck der Arbeiterbewegung erzwungene Sozialreform ange-
Annahme richtig zu sein. Nicht der Druck »von unten«, gar ein führt wird, wenn man es im Zusammenhang liest.
kollektiver Konflikt, den man anders nicht mehr beruhigen zu kön- >Denn die Sozialdemokratie ist ... ein Menetekel für die besitzenden Klas-
nen fürchtete, vielmehr »weise«, am ökonomischen Interesse aus- sen ... und insofern ist ja die Oppositon ... ganz außerordentlich nützlich.
gerichtete staatliche Planung »von oben« wird als maßgeblicher Wenn es keine Sozialdemokratie gäbe, und wenn nicht eine Menge Leute
Agens sozialpolitischer Institutionalisierung kenntlich (vgl. inso- sich vor ihr fürchteten, würden die mäßigen Fortschritte, die wir überhaupt
weit extrem: Hentschel 1983). Als letzte Stufe dieser Entwicklung in der Sozialreform bisher gemacht haben, auch nicht existieren, und inso-
mag man die nach 1945 institutionalisierte Ideologie der Sozialpart- fern ist Furcht vor der Sozialdemokratie ... ein ganz nützliches Element.<
nerschaft ansehen. Im Kontext neuerer Untersuchungen (vgl. Entsprechend wurde Bismarcks Politik auch von Zeitgenossen verstan-
inzwischen die Zusammenfassung bei Tennstedt 1983: 409 ff.) den. Nicht die Sozialreform war die Ergänzung der 1878 per Gesetz sank-
tionierten Sozialistenverfolgung, sondern umgekehrt. Die 1878 zur
drückt Rüdeger Baron den Sachverhalt folgendermaßen aus: Pogromstimmung angeheizte Sozialistenfurcht war das Mittel, um die fäl-
»Nicht die Gefahr eines übermäßigen Verschleißes von Arbeitskräften war lige wirtschaftspolitische Wende im Rahmen des bestehenden Systems her-
also das Problem — Arbeitsschutzgesetze, wie sie in England und Frank- beizuführen, deren Ziel es u. a. war, die Ökonomie der Arbeitskraft auf eine
reich längst eingeführt waren, kamen für Deutschland zunächst gar nicht in neue Basis zu stellen. Die Dialektik von Sozialistenverfolgung und Sozialre-
Frage —, sondern die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Exportproduk- form besteht darin, daß diese nur durch Zerschlagung des Liberalismus
tion, von der die beherrschende Stellung des grundbesitzenden Adels und durchzusetzen war, d. h., daß die Sozialgesetzgebung nur zu realisieren war
der Großbourgeoisie abhing. Die Erringung des Anschlusses an die Ent- mittels Verfolgung gerade der Partei, die im Grundsätzlichen zu ihren glü-
wicklung der westlichen Industriemächte war zur Bedingung ihrer Herr- henden Befürwortern gehörte. Nicht ihre Stärke, sondern die parlamentari-
schaft geworden. Dieser Herausforderung versuchte man durch eine über- sche Schwäche der Sozialdemokratie im Verhältnis zum Liberalismus
legene Arbeitskraftökonomie in Gestalt des Zwangsversicherungssystems machte das Sozialistengesetz erforderlich und zugleich den Gebrauch des
zu begegnen. Insofern war die Bismarck'sche Sozialpolitik als außerökono- Parteiverbots als Mittel zum Zweck möglich.« (1979: 33 34)
-

mischer Eingriff in den Wirtschaftsprozeß Geburtshelfer eines verspäteten


Durchbruchs zur Entfaltung der kapitalistischen Produktionsweise durch Die Verdrängung sozialer Reform (präventive Ansätze) war aller-
einen Staat, der die Bourgeoisie als Klasse von der politischen Herrschaft dings der Ausgangspunkt der »positiven« (kompensatorischen)
ausschloß. Die Sozialdemokratie spielte dabei nur die Rolle eines >Sünden- Sozialpolitik der »Arbeiterversicherung« (vgl. Machtan 1985). Ba-
bocks<, der dafür herhalten mußte, das erbitterten Widerstand leistende rons Thesen über die Anfänge moderner Sozialpolitik in Deutsch-
Bürgertum im Interesse der Durchsetzung dieser Absicherung überkom- land könnten aus der bundesdeutschen Geschichte durch ver-
mener Herrschaftsverhältnisse unter Druck zu setzen.« ( 1979: 14 15)
-
gleichbare Belege ergänzt werden (vgl. Leibfried u. a. 1985). Soweit
Die Unterstellung eines Schemas, wonach sozialer Bewegungs- die sozialpolitischen Geleise in der Tradition des Kaiserreichs, der
druck staatliche Reaktionen hervorrufe, die wiederum sozialpoli- Weimarer Republik und teilweise des Nationalsozialismus nicht
tische Erfolge mit sich brächten, sei falsch. Der Druck der Arbei- einfach weiterverlegt wurden, ohne Spurweite und Richtung zu ver-
terbewegung habe nicht bewirkt, daß die Arbeiterversicherung ändern, geschahen alle umfänglicheren Reformen unter den Zeichen
der »sozialen Marktwirtschaft« und der »Sozialpartnerschaft« zu
entstanden sei:
Zeiten des ersten CDU-Staates. Die Gewerkschaften wurden so in-
»Was in den traditionellen Darstellungen als Hauptinstrument in dem
stitutionell in das Lager des Protestgegners eingebunden, ohne daß
angeblich die ganze Bismarck'sche Innenpolitik beherrschenden Kampf
gegen die systembedrohende Sozialdemokratie erscheint, entpuppt sich bei dem ein kollektiver Machtvorteil entsprochen hätte. Eine gesell-
näherem Hinsehen als ein Mittel, durch Verstärkung sozialer Ängste den schaftliche »Patt«-Situation wurde so vorprogrammiert. Die letzten
demokratischen Wählerwillen im Sinne der Herrschenden zu korrigieren »Stellungen« der Arbeiterbewegung, vor allem im Bereich der
und dem liberalen Bürgertum die zur Sicherung des konservativen Klassen- Krankenkassen, wurden »geschliffen« (vgl. Tennstedt 1977).
XVIII XIX
Zu erwähnen ist vor allem auch die Große Rentenreform von 1957 So notierte sich schon Karl Marx aus der Arbeit von Eugene Buret
(vgl. Hockerts 198o). So sehr diese Reformen im einzelnen umstrit- (184o: 128): »Merkwürdiges Geschrei und Lärm der Bevölkerung
ten waren und einem von den christdemokratischen Sozialaus- bei einer plötzlichen Disette oder bloßer Furcht derselben, ebenso
schüssen, der Sozialdemokratie und hintergründig den Gewerk- bei plötzlicher Drückung des Arbeitslohnes, dagegen Schweigen
schaften ausgeübten Druck entsprachen, so sehr paßten sie beim ordentlichen Elend. Je mehr das Elend den aufgeklärth en Teil
zugleich ins wirtschaftspolitische, unternehmensbezogene Kon- der arbeitenden Klasse trifft, um so unruhiger, raisonnirender,
zept und folgten den Absichten einer Reprivatisierung alles Politi- weniger resignierend wird er.« (Karl Marx rL1844] 1981: 5 52; Her-
schen mit Hilfe der Sozialpolitik. vorhebung im Original) Hier wird also, anders als bei Thompson,
Der Wohlfahrtsstaat in Deutschland ist jedenfalls nur verständ- gerade für den sozialen Protest, eine gewisse soziale »Grundquali-
lich, wenn man auch die staatlich-aktive Komponente beachtet. fikation« vorausgesetzt, hier als »Arbeiter« (=Facharbeiter oder
Die öffentlichen Institutionen haben nicht einfach nur reagiert. Handwerker — mit aufzuklärendem, revolutionärem Bewußtsein),
Dennoch wäre es falsch — und hier dringen die kritischen Fragen ohne die ein plötzliches Durchbrechen der Tradition des Schwei-
von Piven und Cloward erneut durch —, das simple Schema: sozia- gens und des Hinnehmens schwer zu verstehen ist.
ler Druck von unten, herrschende Reaktionen von oben (dem Für das 19. und sogar für das 20. Jahrhundert dürfte allgemein gel-
Piven und Cloward ohnehin nicht im Sinne einfacher Kausalität ten, daß es falsch wäre, durchgehend vom »Untertan« im Verständ-
anhängen) nun umzukehren. Man täte dann so, als gingen alle nis Heinrich Manns auszugehen. Peter Blickle hat jüngst darauf
sozialpolitischenVeränderungen auf aktive und bewußte politische aufmerksam gemacht, daß die deutsche Geschichte des Spätmittel-
Steuerungsleistungen zurück. alters und der frühen Neuzeit sich »nicht richtig begreifen« läßt,
DieThese darf nicht soweit überzogen werden, als ob es den »reel- »solange man den Untertan, den Gemeinen Mann, nicht als Sub-
len Gesamtkapitalisten« Staat gäbe, der über eine weitsichtige Pla- jekt der Geschichte würdigt« (1981). Ähnliches trifft auch für die
nung verfügte und sie entsprechend umzusetzen vermöchte. Ohne jüngere deutsche Geschichte zu: im Hinblick auf organisierte, aber
die damals »Neuen Sozialen Bewegungen«, die Arbeiterbewegung auch nicht-organisierte Arbeiterbewegung z. B. in Verbindung mit
also, ohne Unruhen und drohende oder aktuelle Streiks, wäre die Elementen der frühen Frauenbewegung u. a.
Diskussion im Rahmen der staatlichen Bürokratie nicht entspre- Unbeschadet aber der Entscheidung darüber, welches Gewicht
chend stimuliert worden. Ein einfaches Reiz-Reaktions-Schema man faßbaren sozialen Bewegungen gegenüber sperrig etablier-
auf soziale Bewegungen zu übertragen, ist falsch. Viele der Unru- ten Institutionen und Verfahrensweisen zuweist: die Vertreter der
hen, Streiks und der Arbeitsverweigerungen vielfältigster Art, die herrschenden Institutionen gerade im deutsch-bundesdeutschen
im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und später festzustellen Zusammenhang sind zweifelsohne immer erneut von einer sich
sind, waren nicht auf bestimmte staatliche Reaktionen gerichtet. wandelnden und doch erstaunlich konstant bleibenden »Angst vor
Ihr Verhältnis zu Staat und »Socialpolitik« war meist diffus, nicht dem Chaos« erfaßt (Schumacher 1972). Die Revolutionsfurcht
intentional (Ausnahme: die Lebensmittelkrawalle). Die Unruhen schon quer durchs 19. Jahrhundert bezeugt dies (T. Schieder
sind meist Ausdruck vielfältiger, gebündelter Ursachen. 195 8).
Will man soziale Bewegung erklären, sind Bedingungen wie Und diese Angst vor dem Unberechenbaren, dem bürgerlich-
Bevölkerungskonzentration (Ballungsgebiete), Verkehrsmöglich- herrschaftlich nicht Einhegbaren, dem »unten«, wurde und wird
keiten, Dornestizierungsgrad und »natürliche Gefälle« der Interes- nicht allein herrschaftsgewitzt zum Zwecke der Legitimation
senmobilisierung zu berücksichtigen. Vor allem aber spielt die »gemacht«. Das galt weder zu Zeiten der Kommune-Debatten im
»moralische Ökonomie« (Thompson 198o) eine große Rolle, die Deutschen Reichstag 871) noch zu denen der Demonstrations-
die »Erneute«, den Aufstand, als den explosiven Teil gelebter Tradi- Debatten im Deutschen Bundestag (198 5). Diese Angst erklärt jen-
tion sehen läßt, wenn der Sturm des Protests meist plötzlich los- seits aller nicht zu leugnenden Fermente wirtschaftspolitischer
bricht. Planung das antizipatorische Element einer Reihe staatlicher Maß-
XX XXI
nahmen gerade im sozialpolitischen Bereich (vgl. zur antiliberalen gen Konflikte erheblich ergänzt, allerdings ohne die Reorientie-
Tradition W. Schieder 1983). Man wollte möglichen Bewegungen rung ihres theoretischen Räsonnements ausführlicher auszuweisen
zuvorkommen, man wollte kollektives Bewußtsein und kollekti- (vgl. 1982: x-xi, 29; vgl. auch Ehrenreich/Piven 1985):
ven Protest von vornherein gar nicht zustande kommen lassen. —Die These vom wohlfahrtsstaatlichen Krisenzyklus, wonach
Selbst noch in der Passivität spielte und spielt die Potenz der Arbei- (fiktiver oder realer, gegebenenfalls antizipierter) Bewegungs-
terbewegung oder anderer Protestbewegungen eine politische druck, die hauptsächliche Quelle sozialstaatlichen Aufbaus wie
Rolle. Wozu wäre sonst der Einsatz so vielfältiger positiv wie nega- dessen Mangel Grund für sozialstaatlichen Verfall sei (vgl. Leib-
tiv sanktionierender Herrschaftsinstrumente erforderlich? fried 1977: to ff.), gelte weiterhin für die Vergangenheit, allerdings
Als ein Beispiel für diese Angst und die Politik der Antizipation nicht mehr für die Zukunft des amerikanischen Wohlfahrtsstaates
kann die Arbeitspolitik des Nationalsozialismus dienen. Die Orga- (1982: XII).
nisationen der deutschen Arbeiterbewegung waren 1933 zerschla- —Die Bewegungen der dreißiger Jahre, insofern wird die Theorie
gen, aufgelöst oder in andere nationalsozialistische Institutionen also auch für die Vergangenheit betroffen, und der sechziger Jahre
überführt worden. Auch die kleine »Nationalsozialistische hätten »eine tiefgreifende Transformation« (1982: 118) der Staat-
Betriebszellenorganisation« (NSBO) wurde durch die »Deutsche lichkeit bewirkt:
Arbeitsfront« (DAF) verdrängt. Und dennoch war es die Arbeiter- »Die neuen Programme ... schufen umfassende neue Verbindungswege
klasse in »Potenz«, in Elementen möglicher Aktualität, »die«, wie zwischen dem Staat und demokratischen Teilöffentlichkeiten, die paral-
es Tim Mason jüngst formulierte, »dem Regime die größten lel zu früheren Verbindungen zwischen Staat und Unternehmen zu sehen
Schwierigkeiten bereitete. Ihre Führung war physisch liquidiert sind .... Der Staat selber ist dadurch teilweise demokratisiert worden.«
worden, und das Regime unternahm andauernde, raffinierte und (198z: 118-119)
vielschichtige Anstrengungen, um solidarische Bezüge im Leben »Einmal geschaffen, institutionalisieren diese Programme die wechselsei-
tige Abhängigkeit von Staat und Demokratie. Indem die Bundesregierung
der Arbeiterklasse zu zerstören, um Arbeit von einer sozialenTätig-
auf die sozialen Bewegungen mit nationalen Programmen reagierte, hat sie
keit in eine politische Pflicht für jeden einzelnen zu verwandeln.« sich zum institutionellen Adressaten für wirtschaftliche Forderungen der
(Mason 1982: 13) Bevölkerung umgeformt.« (1982: 119)
Fast alle nationalsozialistischen Maßnahmen dienten der Zersplit-
terung bzw. der Verstärkung der Fragmentierung unter den Arbei- — Ein zusätzliches Element dieser Eigenläufigkeit des ehemals
tern, so etwa die Lohnpolitik (Siegel 1982). Fast alle Handlungen mehr bewegungsabhängigen Staatsapparats liege darin, daß gera-
repressiver und individueller privilegierender Art waren darauf de für die neuen Programme ein Apparat geschaffen worden sei,
gerichtet, solidarische Bezüge aufzulösen, bis hinein in die Fürsor- der Millionen Mitarbeiter auf allen Ebenen der Staatsverwal-
gepolitik (Leibfried u. a. 1984). tung umfasse, und der durch seine Leistungen »fest mit den sozia-
Entstehungs- und Bestandsbedingungen auch und gerade des len Bewegungen verknüpft ist« (1982: 12o). Es handele sich dabei
deutschen Wohlfahrtsstaates lassen sich unter einer Perspektive um eine eigene Machtgröße im Sinne der demokratischen Teil-
nicht erklären. Wenn auch die Perspektive von Piven und Cloward habe. Mehr noch, dies führe zu einer Zweiteilung der US-ameri-
nicht ausreicht, so ist sie doch gerade für das Verstehen deutsch- kanischen Staatsverwaltung: es seien zwei verschiedene Verknüp-
bundesdeutscher Bedingungen notwendig. fungsmuster von bürokratisch-parlamentarisch-gesellschaftlichen
Drittens: In ihrem jüngsten, 1982 in der amerikanischen »sozial- Prozessen festzustellen: eines setze an den kapitalistischen Unter-
politischen Wasserscheide« (vgl. Leibfried 1985: 195 ff.)4 erschiene- nehmen und ein anderes an den demokratischen Bewegungen an
nen Band Der neue Krieg der Klassen. Reagans Angriffe auf den (1982: 121).
Wohlfahrtsstaat und seine Folgen haben Piven und Cloward ihre für Die Interessen und Ziele der sozialen Bewegungen wurden also
den Aufstand der Armen vor allem historisch tragende These nicht teilweise durch die etablierten Institutionen aufgehoben und inte-
aufgegeben. Sie haben sie aber gerade im Blick auf die gegenwärti- griert. Das gegebene System entsprach damit einem Teil der Politik.

XXII XXIII
Mehr noch, zu einem Teil wurde sogar das bestehende Institutio- ren Blickwinkel ergänzt werden. Andererseits können auch die
nengefüge korrigiert und ergänzt. Die gewerkschaftliche Organisa- Ansätze über soziale Bewegungen, wie Piven und Cloward sie vor-
tion wurde z. B. anerkannt, ihr wurden tarifpolitische Kompeten- tragen, dadurch erweitert werden, daß sie das bürokratisch-staatli-
zen zugestanden usw. che Element als »brutum factum« systematisch in ihre Theorie ein-
Der Erfolg ist also sehr differenziert zu messen. Das Ende einer beziehen.
»ungebärdigen«, herrschaftlich nicht berechenbaren Bewegung Wir wollen nicht versuchen, den eingangs aufgenommenen Faden
»von unten«, ist nicht einfach als Mißerfolg, als Niederlage zu ver- hier fortzuspinnen, also keine auf die heutige Bundesrepublik
buchen. Die Strukturen des herrschenden Denkens und Handelns zugespitzten Schlußfolgerungen ziehen, die eine kritische Lektüre
mögen jedenfalls zu einem Teil ausgeweitet und verändert worden des Buches von Piven und Cloward nahelegen. Wir wollen einige
sein. Die »Bewegten« mögen gar an dem herrschaftlichen Prozeß allgemeine, auch aktueller sozialwissenschaftlicher »Bewegungs-
nun selbst beteiligt werden. Und es wäre falsch, jeweils von vorn- forschung« geltende Konsequenzen andeuten.
herein ohne genauere Einzeluntersuchung festzustellen, bei diesen Erstens: Piven und Cloward wenden sich erfreulicherweise gegen
Veränderungen handele es sich ausschließlich um herrschaftliche jeglichen Überdeterminismus, zu dem sozialwissenschaftliche
Kooptationstechniken, die generell aufgingen. Wenn sich Herr- Analysen und Theorien in der struktur-funktionalistischen Tradi-
schaft in Form und Inhalt zu einem Teil ändern muß, ohne sich als tion neigen (vgl. u. a. Wrong 1976). Das heißt nicht, daß man ins
Herrschaft selbst aufzugeben oder beseitigt zu werden, mag dies Gegenteil verfallen dürfte, indem man hypothetische Geschichts-
für die Herrschaftsunterworfenen eine prinzipielle Differenz dar- schreibung voluntaristisch überdehnte. Wissenschaftliche Arbeit
stellen. Zugleich freilich bedeutet herrschaftliche Eingemeindung hat die Kategorie realer Möglichkeit (Ernst Bloch) einzulösen. Das
allemal, daß Prozesse einer Politisierung und Demokratisierung verborgene anthropologisch-gesellschaftliche Konzept, das soziale
gestoppt worden sind. Die »Bewegungen« werden Teil des herr- Spontaneität ausschließt, ist aufzugeben, eben das »oversocialized
schaftlich etablierten Alltags und verlieren ihren radikal-demokra- concept of man«, wie es Denis H. Wrong ausgedrückt hat. Dann
tischen oder gar anarchistischen, nämlich antiherrschaftlichen werden sozialwissenschaftliche Erklärungen ebenso viel triftiger
Atem. Ein ähnlicher Prozeß läßt sich hier beobachten, wie ihn sein, wie sie bescheidener geworden sind.
Weber im Hinblick auf die »Veralltäglichung des Charisma« fest- Zweitens: Was Piven und Cloward dem Leser im besten Sinne ein-
stellte (Weber 1956: 157 ff.). pauken ist ein Formbewußtsein. Die »Grenzen des Staates« (Wil-
helm von Humboldt) werden nicht durch eine individualistisch
ausgrenzende Perspektive bestimmt, sondern im Wissen darum
Folgerungen für die sozialwissenschaftliche Diskussion gezogen, daß das staatlich-bürokratische Instrument (die »Form«)
auch die jeweiligen Inhalte festlegt. Hier liegen auch die hauptsäch-
Die von Piven und Cloward aus der US-amerikanischen Entwick- lichen »Grenzen des Sozialstaates«. Sie erschließen sich nicht,
lung gewonnenen Erfahrungen lassen sich also nicht unbesehen wenn man einer sozialdarwinistischen und darüber hinaus wirk-
verallgemeinern und demgemäß auf deutsch-bundesdeutsche Ver- lichkeitsfremden Philosophie der Privatheit und Privatisierung
hältnisse übertragen. Die Unterschiede zwischen den Traditionen anhängt, wie sie für die vielen neuen Jünger Milton Friedmans als
beider Länder sind zu groß (vgl. auch Kocka 1977: 296 ff.). Den- privilegierter Glaubenssatz gilt.
noch ist es fruchtbar, die Perspektive von Piven und Cloward unter Von dem Ansatz von Piven und Cloward aus betrachtet wird auch
anderen Umständen weiter zu verfolgen. Unter ihrem Blickwinkel verständlich, warum sozialdemokratische Politik — nicht nur in der
erschließen sich in der Bundesrepublik neue Realitäten. Bundesrepublik — überall dort, wo sie die »Regierungsverantwor-
Die Staatsfixierung deutscher Geschichtsschreibung, der selbst tung« übernommen hat, in eine mehr als beiläufige Krise geraten
ihre Kritiker nicht selten und durchaus verständlich unterliegen, ist. Wenn man herrschende Formen für neue oder doch reformierte
könnte wenigstens teilweise korrigiert, jedenfalls durch einen ande- Inhalte benutzen möchte, wenn man alles weniger fürchtet als Pol i-
X XI V XXV
tisierung und Mobilisierung, dann muß jede reformorientierte von ihnen referierten Erfahrungen — nicht nur die Anhänger der
Politik von vornherein scheitern — von den einer solchen Politik »Neuen Sozialen Bewegungen« und ihrer Organisationen in die
immanenten Widersprüchen und Konflikten einmal ganz zu Schule gehen, zumal nun die Institutionalisierung auch von Teilen
schweigen. Gerade an der Kurzsichtigkeit sozialstaatlicher Kon- dieser Bewegung deutliche Fortschritte macht (zu den Grenzen der
zeptionen, dem Kernstück der innenpolitischen Reformen der Institutionalisierung vgl. Eder 1986). Das mag gerade dort gelten,
bundesdeutschen Sozialdemokratie läßt sich der innere, der prä- wo sie alternatives soziales Verhalten anstreben. Ansonsten wäre
gende Widerspruch demonstrieren. Als ob »Sozialstaat oder Frei- auch das Etikett »neu« bestenfalls zeitlich zu verstehen, und der
heit« sich schlicht und wechselweise förderlich kombinieren ließen Bewegungsanspruch verpuffte oder signalisierte schiere Präten-
(so aber Ehrenberg/Fuchs u. a. 198o; vgl. inzwischen SPD 1986 tion.
und Arbeitsgruppe 1985; auch Sozialpolitik und Sozialstaat 1985: Der Versuch, über die nicht zu unterschätzende Kraft des Negati-
98i ff.). ven durch eine kritische Herausforderung herrschender Verhält-
Drittens: Für die Anhänger, Verehrer und Theoretiker der »Neuen nisse und Verfahrensformen hinauszugehen, ist zu begrüßen. Nur
Sozialen Bewegungen« ergibt sich aus der Untersuchung von Piven wenn die »Bewegung« andere Formen der Organisation gewinnt,
und Cloward keine Rezeptur: Man nehme ..., man vermeide..., läßt sie sich stabilisieren und vermag dem Fluch der Kooptation,
man verfolge ..., man widerstehe ... Und doch ist diese Untersu- der herrschaftlichen »Verlandung« zu entgehen. Selbsthilfe, kleine
chung anderer sozialer Bewegungen mit anderer sozialer Her- Netze, Vernetzung, Eigenökonomie ... lauten deshalb gegenwärtig
kunft, anderer Ziele in anderem Kontext voller Anregungen und die Stichworte.
voll, wenn nicht von Warn-, so doch von »Bedenk«schildern. Nicht Den Leitbegriff aber bildet die Autonomie, die insbesondere von
persönlich korruptes oder nicht immer konsequentes Verhalten der Frauenbewegung hochgehalten wird. Ein anderer Begriff des
stellen ein Problem dar. Das auch, aber solch individuell bestimm- Politischen und eine dementsprechend andere Praxis werden
tes Verhalten ist nicht entscheidend. Vielmehr verlocken und ver- dadurch signalisiert. Der persönliche (»private«) und der öffentli-
einnahmen die tausendfältigen Schlingen der Kooptation. che Bereich sollen nicht mehr auseinandergerissen, Rollen nicht
Indem man herrschende Formen ohne entsprechende Balance mehr getrennt werden. Die basisdemokratische Organisations-
benutzt, kann man allen anderen Reden zum Trotz schon Vertreter weise wird grundsätzlich verlangt. Entscheidungsverfahren nach
herrschender Politik sein. Das Parlament und sein abstrakter Ort, dem schematisch-abstrakten und unterdrückungsträchtigen Mehr-
aber auch die modernen Medien, deren Ausdruck man schnell heitsprinzip werden angezweifelt und zu ergänzen gesucht, u. a.
wird, indem man selbst noch vermeint, sie für Massenpropaganda mehr.
»gegen den Strom« zu gebrauchen, sind sozusagen inkarnierte Allerdings werden im alternativen Elan historische Erfahrungen
Kooptationsmechanismen. Deswegen ist der mühsame Prozeß allzu rasch beiseite geschoben oder oft gar nicht zur Kenntnis
immer erneuten Organisierens entgegen fertiger Organisation so genommen. Die »Neuen Sozialen Bewegungen« und ihre Theoreti-
wichtig. Fortlaufendes organisatorisches Experimentieren ist ker leiden nicht selten an einem gefährlichen Gedächtnisverlust,
nötig. Gerade das aber soll herrschaftlich unterbunden werden. der der herrschend erzeugten Gedächtnislosigkeit merkwürdig
Der Kooptationszwänge und -verlockungen wegen muß man sich entspricht. Zugleich sind sie in Gefahr, die gegebenen Herrschafts-
stets von neuem sperriger Formen bedienen und darf sich von dem, verhältnisse, die sie teilweise und unvermeidlich verinnerlicht
was unter Erfolg verstanden wird, nicht zu abhängig machen. Ist haben, nur verzerrt wahrnehmen zu können. Sie überziehen sie
Wahlerfolg Erfolg? Und ist es der Erfolg, auf den es ankäme? Sonst großleinwandartig oder verniedlichen sie jedenfalls im Hinblick
ist die Bewegung schon unversehens Teil des herrschenden Politik- auf die Möglichkeit von Alternativen.
begriffs und der entsprechenden Praxis des »symbolic use of poli- So wird häufig auf eine zureichende, d. h. zugleich auf eine Herr-
tics« (Edelmann 1976). schaftsanalyse verzichtet, die auf die gegebenen besonderen
Viertens: Bei Piven und Cloward können, ja sollten — wegen der Umstände bezogen bleibt. Alle neuen Ansätze können sich aber

XXVI X XV II
notgedrungen nur inmitten einer verstaatlicht-kapitalistischen Diskussion über staatsfinanzierte Projekte (»Staatsknete«) ist hier-
Gesellschaft und darauf bezogener Bewußtseins- und Verhaltens- für symptomatisch — und einer extremen Berührungsangst. Auf der
formen ereignen. Bestehende Institutionen werden aber von den einen Seite meint man, staatliche Gelder ohne Gefahr annehmen
Theoretikern der »Neuen Sozialen Bewegungen« zum Zwecke und fordern zu können. Auf der anderen führen die »Fundamenta-
alternativer Vorschläge gleichsam stillgestellt. listen« das Wort, die der Illusion nachjagen, man könne politisch
Ein Beispiel hierfür bieten nicht wenige Vorstellungen der »zwei aktiv sein und es gleichzeitig vermeiden, »schmutzige Hände«
Ökonomien« (»dual economy« ; vgl. etwa Huber 1983). Hier wird Uean-Paul Sartre) zu bekommen.
zu Recht davon ausgegangen, daß man im Versuch einer qualitativ Diese herrschaftskritische Analyse kennzeichnet Mangel an
anderen Organisation von Gesellschaft und Ökonomie dennoch Augenmaß wie an Leidenschaft. Dem entspricht die Lücke einer
nicht auf den Sektor der industriellen Massenproduktion verzich- offenen Erörterung der eigenen Organisationsprobleme. Das gute
ten könne. Es sei denn um den Preis der Barbarei. Demgemäß sei in eigene Emanzipationsgewissen und die gelben Sterne der Alternati-
diesem soweit wie möglich zu automatisierenden Sektor entfrem- ven scheinen auszureichen. Als ob in uns und um uns herum nicht
dete Arbeit nicht vollkommen auszuschließen. Darauf haben Marx jahrhundertelang angelegte Herrschaftsfallen zuhauf stünden.
und Engels schon aufmerksam gemacht. Es komme nur darauf an, Statt beispielsweise die Gefahren neu-alten Konkurrenzverhaltens
diesen Sektor so schmal wie möglich zu halten und außerdem die und neu-alter Formen der Unterdrückung offen zu diskutieren,
entfremdete Arbeit nicht einseitig einer Gruppe der Bevölkerung werden sie in ängstlicher Sensibilität und Hilflosigkeit verdrängt.
ohne zureichende Mitbestimmung zuzumuten. Im übrigen aber sei Und die Fallen schnappen um so leichter zu. Der Rationalisie-
der »zweite« ökonomische Sektor, die Eigenökonomie auszu- rungszwang wird durch die mangelnde Offenheit und Skepsis
bauen. Sie solle durch eine basisdemokratische Organisationsweise gegenüber den eigenen Umgangsformen noch erhöht.
und durch strikte Ausrichtung auf die Produktion von Gebrauchs- Sind die »kleinen Netze« (vgl. Gross 1982) in der Tat überall an-
werten ausgezeichnet sein. gebracht? Besteht nicht die Doppelgefahr, daß die in ihnen Gefan-
So weit, so gut. Problematisch, wenn nicht unzulässig naiv, wirkt genen unfrei behandelt werden, sich nicht wehren können und au-
aber die Annahme, der »erste« industrielle Sektor der Massenpro- ßerdem kollektiv-privatistisch nur dem jeweils eigenen Interesse
duktion lasse sich so organisieren, daß er keine eigene soziale nachjagen? Wie lassen sich lokale, regionale und national/überna-
Dynamik mehr entfalte und Bewußtsein und Verhalten nicht mehr tionale Erfordernisse der Koordination, der Kooperation und der
beeinflussen könne. Das ist etwa im Sinne der Engelsschen »Ver- Planung organisieren (Narr i983)? Wie sieht, anders formuliert, die
waltung von Sachen« zu verstehen, also als eine unpolitische, jeden- alternative Organisation gesellschaftlich nötiger Synthesis aus
falls politisch unproblematische Verwaltung und Produktion von (Narr 198c)?
Massengütern. Kurzum: Die Organisationsdebatte muß offener und nüchterner
Man unterstellt, der »zweite« Sektor würde expandieren und ver- geführt werden. Sie ist sinnvollerweise nur zu führen, wenn man
kennt außerdem, daß auch er — einmal angenommen, man könne systematisch vergangene Erfahrungen einbezieht, wenn man
ihn einer großen Oase gleich vom ersten Sektor isoliert organisie- »gelebtes Leben« nützt, um künftiges Leben besser entwerfen zu
ren — sehr bald mit dem Problem der Verherrschaftlichung der können. Dann wird man gegenüber übermäßigen Ansprüchen
Ökonomie, und das heißt zugleich mit ihrer Bürokratisierung kon- gewappnet und vor allzu raschen Enttäuschungen besser gefeit
frontiert ist. Dies geschieht, sobald die Produktion und die Vertei- sein.
lung der Produkte auf regionaler, nationaler, ja internationaler Aus dieser Untersuchung von Piven und Cloward und den dort
Ebene vor sich gehen soll. gewonnenen Erfahrungen läßt sich gewiß kein organisatorisches
Allgemeiner gesprochen: Eine nicht geringe Anzahl von Anhän- Muster entnehmen, nicht einmal eine klare Wegmarkierung. Aber
gern alternativer Projekte und ihrer Theoretiker oszilliert zwischen Tiefen und Untiefen, Scylla und Charybdis jedes alternativen und
einem eher naiven Umgang mit herrschenden Institutionen — die also antiherrschaftlichen Organisierungsprozesses werden deut-
X XVI II XXIX
lich. Gelernte Skepsis und »begründete Hoffnung« (»docta spes«; sprich geselligen Organisierung der Bürgerinnen und Bürger selbst
Ernst Bloch) sind zusammen möglich. erreicht werden kann, sondern allein durch die Delegation an einen
Fünftens: Wie andere soziale Einrichtungen auch, so unterliegen Sicherheitsapparat: an den Staat und an seine Sicherheitstechni-
die Sozialwissenschaften modischen Strömungen, Zyklen und ken.
»Zuckungen«. Die »Selbsthilfe«thematik ist dafür ein gutes Bei- Diese Delegation zielt nicht etwa nur auf physisch/psychische
spiel (vgl. von Kardoff/Koenen 1985, 1983; Gross 1982). Einmal Sicherung etwa durch »Polizei«, sondern auch auf »soziale Siche-
herrscht etwa die Untersuchung von Institutionen vor. Ein anderes rung«, die als »Sozialversicherung« nicht nur kollektiv-gesellige,
Mal entdeckt man in diesen Einrichtungen nur die »äußere Form«, sondern stark »Interessen-verlängernde« Momente kennzeichnen
die weniger wichtig scheint als die Vielfalt von Funktionen, die (Fortschreibung der Einkommenspyramide über das Äquivalenz-
durch eine Vielheit von Institutionen erfüllt werden können. Hat prinzip; vgl. Leibfried/Tennstedt 1985 b). »Soziale Sicherheit und
man das eine Mal Inhalte bzw. Ziele untersucht, so sind es das näch- soziale Disziplinierung« (»Policey«) bilden auch eine Einheit, die
ste Mal die Prozesse. Der »Zyklus der Aufmerksamkeit für soziale den harten Kern des Polizeistaats ummantelt und verfaßt (vgl.
Probleme« entwickelt sich ähnlich und bleibt vor allem konstant in Sachße/Tennstedt 1986).
der Eile der Verfallsformen. Sicherheit wird nur von oben geleistet und a-sozial gewährt: als
Wenn man konzeptionell-methodologisch eines aus der Untersu- Zuteilung des Sozialstaats, als Lohn prekärer, von der Arbeitslosig-
chung von Piven und Cloward lernen kann, dann nicht nur die keit geförderter Arbeit, als Eigentum, das gegen andere zu schüt-
Notwendigkeit historisch-konfigurativer Analyse, sondern vor zen ist. Einzig auf Eigentum als verdinglicht-versachlichter Grund-
allem die dauernd erforderliche Zusammenschau von »politics« lage baut das sozial nicht begründete Selbstbewußtsein auf. Die
und »policies«, von Inhalten bzw. Zielen und den ihnen entspre- herrschende Wohnungs- und Städtebaupolitik (zur letzteren vgl.
chenden wie widersprechenden Formen. Heute gilt aber zweifellos Häußermann/Siebel 198 ) bietet dafür ein treffendes Beispiel. Die
Theodore J. Lowis Feststellung, »that the most fundamental politi- anhaltend produzierte Sicherheitsangst orientiert auf die Flucht in
cal problem of our time is our politics« (1979: xiii). die Sachwerte und wird gerade dadurch aufrechterhalten: Vorur-
Sechstens: Liest man das Buch von Piven und Cloward mit den teile und alle Arten von Sicherheitstäuschungen stabilisierend, etwa
Augen einer bundesrepublikanischen Zeitgenossin bzw. eines Zeit- solche die das System »innerer und äußerer Sicherheit« tragen.
genossen, werden nicht zuletzt die Schichten herrschaftlicher Ver- Die Sicherheitsängste sind also nicht einfach »existentiell« vor-
werfung kenntlich. Herrschaftliche Aktions- und Reaktionsnor- handen. Sie werden produziert, um sie entsprechend herrschafts-
men werden einsichtiger, besser voraussagbar, erwartbarer. Das ist dienlich kanalisieren zu können. Sobald Gruppen versuchen, ihre
kein geringer Ertrag. Ängste in eigenen Organisationen zu bewältigen, werden sie daran
Die »Angst vor dem Chaos«, oder die Angst der Masse vor radi- bürokratisch und, wie Piven und Cloward gerade für den »New
kaldemokratischen Formen, bildet den Motivationskern. Ihr ent- Deal« zeigen, notfalls polizeilich gehindert.
sprechen der herrschende Sicherheitsbegriff, Sicherheitsängste und Die bürgerlichen Sicherheitsinteressen müssen nämlich so trans-
die Art der gekoppelten inneren und äußeren Sicherheitsproduk- formiert werden, daß es gelingen kann, sie im staatlichen Begriff
tion. Ein Zirkel der Art »Angst — Sicherheitsbegriff — Sicherheits- von Sicherheit aufzuheben. Sicherheit gibt es auch für den Bürger
produktion — Angst« läßt sich ausmachen, der legitimations- und nur so lange und so weit, wie der staatliche Sicherheitsapparat ein-
herrschaftskräftig rotiert. Die isolierten und möglichst getrennt deutig und gewiß funktioniert. Mit Hilfe dieses Sicherheitsap-
gehaltenen Bürgerinnen und Bürger, nach dem Modell des Bour- parats, seines Interesses an sich selber (vgl. Offe 1974), an seiner ei-
geois unpolitisch und schmalspurig eigen-interessiert, ängstigen genen Erhaltung, ist eine Sicherung institutionalisiert, die den
sich um ihren geringen oder üppigeren Besitz. A-sozial wie dieses a-sozialen Bürger in seinen unpolitischen Privatinteressen und sei-
Eigeninteresse ist und wie es auch herrschaftlich produziert wird, ner darauf bezogenen Sicherheitsangst erhält.
läßt sich nur eine Sicherung vorstellen, die nicht in der sozialen, Versteht man diesen hier verkürzt dargestellten herrschenden
XXX XXXI
Legitimationszirkel in seiner sozialen Mechanik, vermag man eine 2 Vgl. zusätzlich zu den von denVerfassern selbst auf S. 16 genannten Kriti-
Fülle mehr oder minder disparater Ereignisse der jüngeren Vergan- ken, die Arbeiten von: Majka 198o; Roach/Roach i98o; Wellstone r980.
3 Es verwischt sich heute ebenso wie das »Normalarbeitsverhältnis«, das
genheit und Gegenwart zu verstehen: Die Art und Weise, wie die
um das Konzept des Industriearbeiters gebaut worden ist. Vgl. Arbeits-
Studentenbewegung schließlich noch durch Berufsverbote aufge-
gruppe Sozialpolitik 1986 und die dort genannte weiterführende Litera-
halten wurde; das Ausmaß und die Formen der »Terroristenjagd« ; tUr.
das Management dispositiver Angst in »Sparrunden« (vgl. Bieback 4 Vgl. zur gegenwärtigen Situation der Sozialpolitik in den USA ferner:
1985) im bundesrepublikanischen »Sozial-Staat« (Grauhan/Leib- Bawden 1984; Duncan 1984; Harrington 1984; US-Bischöfe 1985.
fried 1977) des letzten Jahrzehnts. »Der Staat, der Staat ist in
Gefahr ...« (Werkentin 1984).
Der Ertrag dieser Untersuchung von Frances Fox Piven und
Richard Cloward greift also weit hinaus über ein schlichtes Messen
von Erfolg und Mißerfolg des »Aufstands der Armen«, von »poor Literatur
people's movements«, sei es in der Sache oder in der Form. Genau
besehen thematisieren sie das soziale Schicksal substantiell demo- Arbeitsgruppe 1985: Arbeitsgruppe »Armut und Unterversorgung«, Fach-
kratischer Gruppen insgesamt. Sie handeln nicht nur von den politische Stellungnahme: Bedarfsbezogene integrierte Grundsicherung.
Bewegungen armer Leute, sondern von den jeweils herrschaftlich Ein tragfähiges Fundament für die Sozial- und Gesellschaftspolitik,
Frankfurt/M., Dezember, vv. veröffentlichtes Man.
arm gemachten ur-demokratischen Bedürfnissen. Deren Chancen
Arbeitsgruppe Sozialpolitik 1986: Sozialpolitische Regulierung und die
standen in der Vergangenheit und stehen gegenwärtig nicht zum Normalisierung des Arbeitsbürgers, in: Neue Praxis, Nr. I, S. 1-21, und 2
besten. (im Druck) = Soz.ialpolitik und Sozialstaat 1985:1-88.
Und doch bietet die Sperrigkeit von »poor people's movements«, Arbeitsgruppe Sozialpolitik 1985 a: Sozialpolitische Regulierung von
ihre immer erneut aufbrechende Ungebärdigkeit die einzige Armut und Gesundheit, in: Zeitschrift für Sozialreform, Nr. 12, S. 722-
Chance, daß Menschenrechte und Demokratie nicht vollends in 756 = Sozialpolitik und Sozialstaat 1985: 393-437.
der Herrschaftsabstraktion untergehen. Arbeitsgruppe Sozialpolitik 1985 b: Perspektiven und Probleme einer histo-
rischen Betrachtung von Sozialpolitik, in: Sozialpolitik und Sozialstaat
1985, S. 93 132 (zu einer Bibliographie der Literatur über die Entste-
-

hung des deutschen Sozialstaats vgl. dort S. 12c-13 ).


Bachrach, Peter/Baratz, Morton S., 1977: Macht und Armut. Eine theore-
tisch empirische Untersuchung. Mit einem Vorwort von Claus Offe,
Anmerkungen Frankfurt/7\4. (Originalausgabe veröffentlicht 197o).
Bahne, Siegfried, 1981: Die Erwerbslosenpolitik der KPD in der Weimarer
Wir danken Heinz-Gerhard Haupt, Gisela Hegemann-Mahltig, Monika Republik, in: Hans Mominsen/Winfried Schulze (Hg.), Vom Elend der
Ludwig, Lothar Machtan, Ilona Ostner, Diana Mauri und vor allem Flo- Handarbeit. Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart
rian Tennstedt für Hinweise und Kritik. usf., S. 477 496.
-

Diese Arbeit ist während einer Gastprofessur Wolf-Dieter Narrs an der Bahro, Rudolf, 198o: Elemente einer neuen Politik. Zum Verhältnis von
Universität Bremen am Forschungsschwerpunkt »Reproduktionsrisi- Ökologie und Sozialismus, Berlin.
ken, soziale Bewegungen und Sozialpolitik« entstanden. Baier, Horst, 1977: Herrschaft im Sozialstaat. Auf der.Suche nach einem
Die deutsche Protestforschung konzentriert sich letzthin vornehmlich soziologischen Paradigma der Sozialpolitik, in: Christian von Ferber/
auf folgende Fragen: Was kann als ,rationaler« Gehalt eruptiver, »irratio- Franz-Xaver Kaufmann, Soziologie und Sozialpolitik, Opladen, S. 128—
naler« Bewegungen erschlossen werden? Welche sozialen Schichten tru- '42 (Sonderheft 19 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsy-
gen diese Unruhen? Gibt es elementare Organisationsformen für solche chologie).
Bewegungen? Wie kann »Erfolg« bestimmt werden, etwa indem Ergeb- Baron, Rüdeger, 1979: Weder Zuckerbrot noch Peitsche, in: Gesellschaft.
nisse an Intentionen rückgebunden werden? Beiträge zur Marx'schen Theorie 12, Frankfurt/M., S. 13-55.

XXXII XXXIII
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XXXVIII XXXIX
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Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts,
In den Rezensionen, die in dem Zeitraum zwischen der ersten Ver-
Frankfurt/M. öffentlichung im Jahr 1977 und der zweiten im Jahr 1979 von Auf-
US-Bischöfe 1985: Im Wortlaut: »Die Armen müssen Maßstab sein.«
Dokumente eines Konflikts: Der Hirtenbrief der Katholischen Bischofs- stand der Armen erschienen, äußerten eine Reihe von Kritikern
konferenz. Aus dem >›Gegen-Hirtenbrief« amerikanischer Geschäfts- ihre kontroversen Meinungen zu einigen unseren Schlußfolgerun-
leute. Kritik an beiden Texten, Frankfurt/M. gen. Mit diesem kurzen Vorwort zu der neuen Ausgabe wollen wir
Volkmann, Heinrich/Bergmann, Jürgen (Hg.), 1983: Sozialer Protest. Stu- die Gelegenheit nutzen, die Debatte fortzuführen.'
dien zu traditioneller Resistenz und kollektiver Gewalt in Deutschland Es ist vielleicht die herausragende Leistung des linken Denkens —
z,,om Vormärz bis zur Reichsgründung, Opladen. wie es sich seit dem ty. Jahrhundert entwickelt hat —, die Angehö-
Weber, Max, 1956: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden rigen der Arbeiterklasse gebührend in die Geschichtsschreibung
Soziologie, Köln. eingeführt zu haben: nicht mehr allein als Opfer, sondern als Han-
Weber, Max, 1924: Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik,
delnde. Die Linke hat begriffen, daß die Arbeiterklasse eine histori-
Tübingen.
Wellstone, Paul David, 198o: Poor People's Movements and the Organizers, sche Kraft ist und zu einer noch größeren Kraft werden könnte und
New York, vv. Man. daß sich diese Kraft in einer ganz bestimmten Form ausdrückt — der
Werkentin, Falco, 1984: Die Restauration der deutschen Polizei, Frank- Massenbewegung.
furt/M. Theoretisch hat die Linke ebenfalls begriffen, daß proletarische
Wirtz, Rainer, 1981: .»Widersetzlichkeiten, Excesse, Crawalle, Tumulte und Bewegungen nicht geboren werden, indem man sie einfach herbei-
Skandale,,. Soziale Bewegung und gewalthafter sozialer Protest in Baden zwingt, herbeidenkt oder herbeiredet. Proletarische Bewegungen,
i8r5-1848, Frankfurt/M. sagte Marx, entstehen in einem dialektischen Prozeß, die institutio-
Wrong, Dennis H., 1976: The Oversocialized Concept of Men in Modern nelle Logik der kapitalistischen Ordnung reflektierend. Das Pro-
Sociology, in: ders., Skeptical Sociology, New York, S. 31-46 (zuerst veröf-
fentlicht 1961).
letariat ist nicht die Schöpfung kommunistischer Intellektueller,
sondern des Kapitals und der Bedingungen der kapitalistischen
Produktionsweise, wie schon im Kommunistischen Manifest be-
tont:
»In demselben Maße, worin sich die Bourgeoisie, d. h. das Kapital, entwik-
kelt, in demselben Maße entwickelt sich das Proletariat, die Klasse der
modernen Arbeiter....
Aber mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Prole-
tariat; ..., seine Kraft wächst, und es fühlt sie mehr....
Von allen Klassen, welche heutzutage der Bourgeoisie gegenüberstehen,
ist nur das Proletariat eine wirklich revolutionäre Klasse. Die übrigen Klas-
sen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat
ist ihr eigenstes Produkt.« (Marx-Engels-Werke, Bd. 4, 468-472)

Wir wissen, daß die historische Entwicklung Marx' Prognose nicht


wahr werden ließ: die Ausweitung der kapitalistischen Produk-
tionsweise schuf kein revolutionäres Proletariat.
Dennoch bleibt die Grunderkenntnis der dialektischen Analyse,

7
auf der die unerfüllte Prognose fußte, gültig — daß nämlich die nen, die Massenbewegungen manchmal ermöglichen, sowie ihre
Kämpfe der einfachen Menschen sowohl durch die institutionelle jeweiligen Strukturen und die Reaktionen der Eliten bestimmen.
Ordnung geformt werden als auch gegen sie gerichtet sind. Marx Die unserer Meinung nach unzulängliche Art, in der bisher über
irrte, weil er weder die spezifischen institutionellen Strukturen, wie Protestbewegungen nachgedacht wurde, führte uns zu diesem
sie sich im Kapitalismus entwickelten, noch die besonderen For- Ansatz. Offenkundig werden sie in der herrschenden _pluralisti-
men des Kampfes, wie sie sich in Reaktion auf diese Bedingungen schen Praxis mit der Argumentation in Verruf gebracht, daß die
ergaben, vorhersah. Die kapitalistischen Strukturen verhinderten Arbeiterklasse ausreichend Gelegenheit habe, ihre Interessen
die Herausbildung einer vereinten und revolutionären Arbeiter- durch die demokratischen institutionellen Kanäle zu vertreten.
klasse: Die Ausbreitung des Imperialismus förderte die Produktion Und auch viele Linke diskreditieren diese Bewegungen, weil sie
jener Überschüsse, die den Lebensstandard der Arbeiter in den ihren doktrinären Vorstellungen in bezug auf ihreTräger, Strategien
Mutterländern anhoben; die Balkanisierung der modernen Indu- und Forderungen nicht gerecht werden. Doch übersehen diese Kla-
strie begünstigte die Fraktionierung der Arbeiterklasse; neue Ein- gen typischerweise die spezifischen historischen Umstände, unter
richtungen wie die allgemeine Schulbildung untermauerten die denen soziale Bewegungen entstehen, sich ihre Träger formieren
bürgerliche ideologische Hegemonie. Andererseits formten diese sowie Strategien und Forderungen Gestalt annehmen.
Strukturen den Charakter des proletarischen Widerstandes. Die Wir sehen uns zu diesen Anfangsbemerkungen veranlaßt, weil ein
gegenwärtigen Klassenkämpfe sind zersplittert, wo sich die Linke so großer Teil der frühen Reaktionen auf dieses Buch von der Wie-
Einheit wünscht, und die Forderungen der Arbeiter sind reformi- derholung doktrinärer Einwände geprägt war. Eine Reihe von Kri-
stisch, wo die Linke radikale Rezepte propagiert. tikern wandte sich dann auch mehr der Betrachtung der von uns
Doch hat die intellektuelle Linke sich mit dieser Entwicklung untersuchten Protestbewegungen als unserer Analyse zu, und sie
nicht auseinandergesetzt, zumindest nicht in ihrer Einschätzung waren unzufrieden. Die Bewegungen hielten der Doktrin nicht
der Protestbewegungen in den Industriegesellschaften.' Sie hat stand (und folglich auch wir nicht, da wir offen mit den Kämpfen
nicht begriffen, daß die Hauptcharakteristika heutiger sozialer sympathisieren, die, auf die eine oder andere Art, unsere Kritiker
Kämpfe sowohl Reflexionen einer institutionell determinierten enttäuschten). So mißfielen einigen Kritikern die verschiedenen
Logik als auch ein Angriff auf diese Logik sind. Statt dessen hielt sie Formen, in denen sich die Bewegung der Schwarzen seit dem Zwei-
an den spezifischen Inhalten der aus dem 19. Jahrhundert stam- ten Weltkrieg artikulierte: mit der Bürgerrechtsbewegung im
menden Dialektik fest, und indem sie dies tat, verzichtete sie auf Süden oder den Gettoaufständen im Norden oder mit den stürmi-
eine dialektische Analyse. Insoweit als die gegenwärtigen sozialen schen Forderungen nach öffentlicher Fürsorgeunterstützung, die
Bewegungen in den Industriegesellschaften nicht den durch die in den sechziger Jahren zu einer explosionsartigen Ausdehnung der
Analyse des Kapitalismus im 19. Jahrhundert gesetzten Erwartun- Sozialfürsorge führten. Die schwarze Bewegung wird beschuldigt,
gen entsprechen, hat die Linke sich nicht bemüht, diese Bewegun- die Spaltung innerhalb der Arbeiterklasse vertieft und eine breite
gen zu verstehen. Sie neigte vielmehr dazu, sie schlichtweg zu miß- Gegenbewegung verursacht zu haben. Außerdem habe sie es ver-
billigen: Die falschen Leute haben mobil gemacht, denn sie sind säumt, größere Fortschritte wie Vollbeschäftigung (oder gar eine
nicht das wahre industrielle Proletariat. Oder sie haben für die fal- neue Gesellschaftsordnung) zu erzielen.
schen Organisationsprinzipien und die falschen politischen Strate- Doch Massenaufstände folgen nicht irgend jemandes Regeln oder
gien mobilisiert. Diese Massenbewegungen haben die Doktrin ver- Hoffnungen; sie haben ihre eigene Logik und Richtung. Sie ent-
raten, folglich werden sie fallengelassen. springen spezifischen historischen Gegebenheiten: Sie sind Reak-
Als wir dieses Buch schrieben, versuchten wir uns von Doktrinen tionen auf diese Gegebenheiten und werden gleichzeitig durch sie
frei zu machen, um zu untersuchen, wie die spezifischen Eigenar- begrenzt. Die schwarze Bewegung wurde entscheidend durch die
ten der amerikanischen Sozialstruktur proletarische Bewegungen tiefe rassische Spaltung der amerikanischen Arbeiterklasse institu-
geprägt haben. Wir wollten die institutionellen Bedingungen erken- tionell strukturiert und damit beschränkt. Man mag wünschen, es

8 9
wäre anders; wenn es überhaupt Teile der Arbeiterklasse gebe, die Ein weiterer Kritikpunkt an den von uns analysierten Bewegun-
»die engsten Verbündeten«, wie ein Kritiker klagte, hätten sein sol- gen besteht in der Behauptung, sie hätten eine breite Gegenreak-
len, dann doch die schwarzen und die weißen Armen. Doch dies ließ tion in der amerikanischen Wählerschaft hervorgebracht. Harring-
die institutionelle Entwicklung derVereinigten Staaten nicht zu, wie ton sagt, die heftigen Proteste der sechziger Jahre hätten »den nie-
die Geschichte gescheiterter Bemühungen um multirassische, proleta- derträchtigen, von Leuten wie Richard Nixon ausgebeuteten
rische Protestbewegungen bezeugt. Als starke sozio-ökonomische Geist« hervorgebracht, und Bernstein warnt, derartige Proteste
und politische Veränderungen schließlich ein unabhängiges Aufbe- seien »gefährlich«. Dieser Kritik mangelt es an einem gehörigen
gehren der Schwarzen möglich machten, provozierten diese Aktionen Maß Realitätssinn. Sie tut so, als könnten die Kämpfe von Gruppen
den gewalttätigenWiderstand weißer Arbeiter aus den Südstaaten und oder einer Klasse — wenn sie nur vorsichtig genug geführt würden
später auch denWiderstand von weißen Arbeitern im Norden. Keine — ablaufen, ohne Konflikte zu schüren. Zweifellos trugen die
alternative Verfahrensweise hätte die Verschärfung der Feindseligkeit, Arbeitskämpfe Mitte der dreißiger Jahre zu den von der Industrie
die so tief in den Erfahrungen der weißen Arbeiterklasse verwurzelt initiierten Gegenreaktionen bei, die 1938 einsetzten und schließ-
ist, verhindern können. Wollten die Schwarzen in den Vereinigten lich in der »Hexenjagd« der späten vierziger und frühen fünfziger
Staaten in den fünfziger und sechziger Jahren überhaupt den Kampf Jahre gipfelten; und zweifellos verschuldeten die Kämpfe der
aufnehmen, mußte die Spaltung in der Arbeiterklasse unvermeidbar Schwarzen in den fünfziger und sechziger Jahren die Gegenreaktio-
vertieft werden. Was aber soll dann Jack Beattys Beharren, »Strate- nen der siebziger Jahre mit (zu denen auch die Studenten- und die
gien, die (die Arbeiterklasse) spalten, (seien) gefährlich«? Die Vorstel- Anti-Kriegsbewegung beitrugen). Doch wie hätte es anders sein
lung, die Schwarzen hätten anders vorgehen und große Teile der können? Wichtige Interessen standen auf dem Spiel, und wären
weißen Arbeiterschaft im Süden und im Norden zu einem Bündnis diese Interessen nicht wichtige Anlässe zur Konfrontation gewe-
bewegen können — ohne aber aufzuzeigen, wie ein solcher Weg sen, hätte es auch weder eine Notwendigkeit für die Arbeitskämpfe
unter den gegebenen institutionellen Bedingungen realisierbar in der einen noch für die Rebellion der Schwarzen in der anderen
gewesen wäre —, beruht auf der Annahme, daß die Menschen unab- Periode gegeben. Von Relevanz ist also nur, ob die Bewegung am
hängig von Behinderungen, die ihnen von ihrem gesellschaftlichen Ende Boden gewonnen oder verloren hat, ob sie den Interessen der
Un-ifeld auferlegt werden, agieren können. arbeitenden Menschen gedient oder ob sie ihnen geschadet hat.
Darüber hinaus könnte die rigide Anwendung doktrinärer Einige unserer Kritiker gehen jedoch über diese Gewinne hinweg,
Rezepte dazu führen, die längerfristigen Implikationen massenhaf- da sie ungenügend seien. Die realistischere Frage, ob die Gewinne
ten Aufruhrs zu übersehen. Die schwarze Bewegung könnte, so nicht an sich wichtig und deshalb erstrebenswert gewesen seien,
groß die unmittelbaren von ihr hervorgerufenen Spannungen auch wird nicht gestellt. Auch sagen die Kritiker nicht, -wieso größere
gewesen sein mögen, die Chancen breiterer proletarischer Kämpfe Gewinne möglich gewesen sein sollen und wie diese hätten erzielt
für die Zukunft durchaus verbessert haben. Infolge der von der werden können. So verweist Starr auf »die Dutzenden von >Mas-
Bewegung erzwungenen neuen rechtlichen Lage wurden zumin- senmobilisierungen< und die Gettoaufstände der sechziger Jahre,
dest einige der den Rassismus stützenden Aspekte des institutionel- die eine so schwache Spur im politischen Leben hinterlassen
len Rahmens geschwächt. Obwohl dies kaum eine Garantie für haben«; Harrington erklärt, das oberste Ziel der Bewegung der
spätere, die gesamte Klasse umfassende Kämpfe ist, schafft es doch Wohlfahrtsempfänger hätte Vollbeschäftigung sein sollen; Bright-
wenigstens eine der institutionellen Voraussetzungen. Mit anderen man wirft der Rebellion dieser Zeit vor, nicht auf eine »neue Gesell-
Worten: die doktrinäre Zurückweisung jeder Strategie, die Span- schaftsordnung« hingeführt zu haben; und Hobsbawm sagt über
nungen innerhalb der Arbeiterklasse hervorbringt, ignoriert die Erfolge der sechziger Jahre, sie seien zwar »nicht zu vernachläs-
sowohl die institutionellen Kräfte, die diese Spannungen über- sigen, aber nicht das, was wir wollten«.
haupt produzieren, als auch die konflikthaften Prozesse, durch die Wir sehen das anders. Die Erfolge müssen an dem gemessen wer-
sie — vielleicht — überwunden werden könnten. den, was möglich war. Aus diese Perspektive waren die Siege beacht-

IC I I
lich. Für die Schwarzen im Süden wurden politische Rechte durch- oder rechten Totalitarismus — etwa eine Spielart des demokrati-
gesetzt, und das bedeutete, auf unterster Ebene, ein beträchtlicher schen Sozialismus — bestanden habe, und er kommt zu einem posi-
Rückgang bei der Anwendung von Terror zur sozialen Kontrolle der tiven Ergebnis. Er argumentiert z. B., die Verwundbarkeit der SPD
Schwarzen (siehe Kapitel 4). Die unterste Schicht der schwarzen habe sich zum Teil aus ihrem Versagen bei der — durchaus im
Bevölkerung, die Armen, lehnte sich gegen das Wohlfahrtssystem auf Bereich des Möglichen gelegenen—Übernahme der Kontrolle über
und sicherte somit ihr Überleben in einer Gesellschaft, die ihr alterna- die Polizeigewalt ergeben. Als Folge dieses Scheiterns wurde sie
tive Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen, auch weiterhin schlicht- zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung vom Militär
weg verwehrte (siehe Kapitel 5). 3 Auch bevorzugten die Teilnehmer an abhängig. Moore versucht, anders formuliert, die unterdrückten
der Bewegung der Wohlfahrtsempfänger in den sechziger Jahren kei- Alternativen aufzuzeigen und darzulegen, daß sie auf empirisch
neswegs die Sozialfürsorge; ebenso wie Harrington hätten sie anstän- nachweisbaren institutionellen Bedingungen beruhten. Eben diese
dige Arbeitsplätze mit anständigen Löhnen lieber gesehen. Allerdings sorgfältige Analyse tatsächlicher politischer Möglichkeiten und
verstanden sie die politischen Realitäten ihres Lebens besser als Beschränkungen bleiben jene, welche die in den dreißiger und sech-
Harrington: die arbeitslosen Armen in dieser Zeit hatten nicht die ziger Jahren erzielten Erfolge kritisieren, schuldig. Um es noch ein-
Macht, Vollbeschäftigungsprogramme zu erzwingen. Welchen Un- mal deutlich zu sagen: Weder die Gewinne der einen noch der ande-
terschied hätte es also gemacht, wenn sie die Vollbeschäftigung zu ren Periode waren ausreichend. Sie entsprachen nicht dem, was wir
ihrem zentralen Ziel erklärt hätten? Man fühlt sich an die Kämpfe erreichen wollten. Doch sie waren keineswegs unbedeutend. Und
der Arbeitslosen während der Großen Depression erinnert, als die alles in allem scheinen sie das damals Erreichbare zu sein.
»Workers' Alliance of America« sowohl die Vollbeschäftigung als Wir wollen hiermit verdeutlichen, daß Lehrsätze über die Stra-
auch die Abschaffung des Profitsystems forderte. Doch ungeachtet tegien, die Protestbewegungen hätten verfolgen oder vermeiden
dieser großen Ziele bleibt die Tatsache, daß es der »Workers' »sollen«, daß Aussagen über die Ziele, die Bewegungen hätten
Alliance of America« nicht einmal gelang, dieWohlfahrtsleistungen anstreben oder ablehnen »sollen«, daß Bemerkungen über die
für die Arbeitslosen zu sichern (siehe Kapitel 2). Mit anderen Wor- Reaktionen von einflußreichen Gruppen oder von anderen, die
ten: eine Bewegung zu kritisieren, weil sie dieses oder jenes Ziel man hätte vermeiden »sollen« — daß keiner diese Kritikpunkte rele-
nicht proklamiert oder erreicht hat, ohne auch nur eine beiläufige vant ist, solange nicht auch gezeigt werden kann, daß ein anderer
Einschätzung der politischen Möglichkeiten abzugeben, ist nichts Weg tatsächlich möglich gewesen wäre. Um das aber zu demon-
als eine Übung in Selbstgerechtigkeit. strieren, wäre es nötig, über das Zurückgreifen auf eine Doktrin
Vielleicht gibt es, wie Barrington Moore in einem neueren Buch hinauszugehen und die institutionellen Bedingungen zu untersu-
schreibt, »unterdrückte historische Alternativen« — politische chen, die einerseits den Boden für Massenkämpfe bereiten, sie
Optionen, die institutionell greifbar gewesen wären, von der Füh- andererseits aber auch begrenzen. Zu einer solchen Untersuchung
rung einer Bewegung jedoch nicht verfolgt wurden.' Es ist der Vor- hofften wir mit diesem Buch beizutragen.
zug von Moores Ansatz, daß er das Thema nicht doktrinär behan- So wie die gesellschaftlichen Zusammenhänge auf den Verlauf von
delt und die Bewegungen und die Optionen ihrer Führer nicht aus Protestbewegungen einwirken, so beeinflussen sie auch die inner-
dem gegebenen historischen Kontext mit all seinen widersprüchli- halb der Bewegungen entwickelten Organisationsformen. Bei letz-
chen Beschränkungen und Zwängen herauslöst. Er analysiert den teren verfügen die »organizers«* und Anführer allerdings über eine
Fall der deutschen Sozialdemokratie in den Jahren nach dem Ersten Der Begriff »organizer« ist nicht ins Deutsche übertragbar, da er weit mehr beinhal-
Weltkrieg. Die SPD behauptete, sie sei, um eine kommunistische tet als etwa das deutsche Wort »Organisator«. »Organizers« sind Personen, die um
die Mobilisierung und Organisierung unterprivilegierter Gruppen bemüht sind,
Machtübernahme zu verhindern, gezwungen gewesen, ein Bünd- ohne im eigentlichen Sinne ihre Führer zu sein und vor allem, ohne selbst zu den
nis mit den militärischen und industriellen Eliten einzugehen—eine Gruppen zu gehören. In der Gewerkschaftsbewegung sind die »organizers« z.B.
Entscheidung, die letztendlich mithalf, die Nazis an die Macht zu Angestellte der Gewerkschaft, die von Ort zu Ort, von Fabrik zu Fabrik geschickt
bringen. Moore stellt die Frage, ob eine Alternative zum linken werden, um lokale Gewerkschaftsgruppen aufzubauen. (Anm. d. U.)

12 13
gewisse Entscheidungsfreiheit und spielen bei der Entwicklung die in den dreißiger Jahren geborenen Gewerkschaften zu beständi-
einer internen Organisationsstruktur eine Rolle. Unsere Kritik an gen Organisationen; und im 3. Kapitel führen wir aus, daß sie sich
der Art und Weise, wie diese Entscheidungsfreiheit in der Regel als nützliche Interessenvertreter der Arbeiter erwiesen haben. Und
genutzt wurde, hat unter den Rezensenten die größte Empörung dennoch bilden auch die Gewerkschaften offenkundig keine Aus-
ausgelöst. Vielleicht war diese Empörung nicht einmal überra- nahme von der Regel, daß formelle Organisationen oligarchische
schend, denn unsere Kritik an den Organisationsbemühungen und integrative Tendenzen zeitigen. Auf jeden Fall ermöglichte der
widersprach zentralen Glaubenssätzen linker Doktrin. einzigartige Vorteil, den ihnen ihre Stellung in der Massenproduk-
Zum größten Teil geht die Linke davon aus, konventionelle Mas- tionsindustrie verschaffte, die dauerhafte Organisierung der Arbei-
senorganisationen seien das richtige »Vehikel«, um der Arbeiter- ter; den meisten anderen Gruppen der Arbeiterklasse und der
klasse zur Macht zu verhelfen, zumindest in nicht-revolutionären Unterschichten aber bleiben diese situationsbedingten Vorteile ver-
Situationen. Diese Ansicht ist ein so fester Bestandteil linker Tradi- sagt.
tion, daß Debatten über politische Strategie praktisch auf die Frage Nun mag all dies beunruhigend sein, erschreckend ist es nicht.
nach dem Aufbau solch bürokratisch strukturierter Massenorgani- Unsere Schlußfolgerungen sind denen sehr ähnlich, zu denen
sationen beschränkt blieben. Die strategische Nützlichkeit dieser Robert Michels schon vor Jahrzehnten auf der Grundlage seiner
Organisationsform, ihre Effektivität als Machtinstrument, galt als Analyse der organisatorischen Zwänge gelangte, die die Ursache
axiomatisch. der konservativen Tendenzen in der deutschen Sozialdemokratie
In drei der vier von uns analysierten Bewegungen schufen die waren. Die intellektuelle Linke hat sich der Auseinandersetzung
»organizers« und Anführer Massenorganisationen (nur die Führer mit Michels weitgehend entzogen, indem sie seine Thesen igno-
der Bürgerrechtsbewegung des Südens bevorzugten koordinierte rierte. Das Dilemma jedoch, auf das er hinwies, besteht nach wie
Massenmobilisierungen); die Erfahrungen mit diesen Organisatio- vor. Ähnlich behandeln unsere Kritiker unsere Analyse: per Dekret
nen bieten die historische Grundlage für die Analyse ihrer Brauch- abgelehnt. »Ein gutes Buch mit einer schlechten These«, sagt Starr
barkeit. Wir ziehen mehrere Schlüsse aus diesen historischen Erfah- und fährt fort, uns der »Bewunderung der Spontaneität« zu
rungen: Erstens: es war nicht die formelle Organisierung, sondern beschuldigen. Unsere Kritik an bürokratisierten Massenorganisa-
der massenhafte Widerstand, dem die erzielten Erfolge der dreißi- tionen wird also behandelt, als lehnten wir jede Form kohärenter
ger und sechziger Jahre zu verdanken sind. So erzwangen z.B. die und koordinierter Massenaktivität ab. Ein anderer Rezensent
Industriearbeiter aufgrund der Massenstreiks Zugeständnisse von meint, »wir müssen härter arbeiten«, als könnten organisatorische
der Industrie und der Regierung; die rebellischen Schwarzen Zwänge durch einen Willensakt beseitigt werden. Bernstein argu-
erzwangen Zugeständnisse aufgrund ihres massenhaften zivilen mentiert, die von uns aufgezeigten Dilemmas »liegen nicht in der
Ungehorsams. Zweitens: weil die von den Bewegungen hervorge- Tatsache der Organisierung, sondern in der Natur ihrer Führung« ;
brachten bürokratischen Organisationen einerseits äußerst anfällig doch behaupten wir ja gerade, daß die sich aus der Aufrechterhal-
für Erstarrungstendenzen und die Herausbildung interner Oligar- tung von Massenorganisationen ergebenden Zwänge charakteristi-
chien und andererseits offen für die Verbindung mit außerhalb der scher-weise die Art der Führung hervorbringen, die Bernstein
Organisation stehenden Eliten waren, neigten sie dazu, die Mili- beklagt. Hobsbawm bestätigt die Kernpunkte unserer Analyse und
tanz zu unterdrücken, obwohl sie die eigentliche Quelle des von nennt sie »einen bedeutenden Beitrag zur Erfassung der Wirklich-
den Bewegungen ausgeübten Einflusses war. Und schließlich drit- keit«, um dann allerdings zu folgern, »die Argumentation ist un-
tens: größtenteils brachen die Organisationen mit dem Abebben befriedigend«, weil die Armen »mehr denn je nicht allein eine Stra-
der Bewegungen wieder zusammen. Dies ist ein wichtiger Aspekt, tegie zur Ausübung wirksamen Drucks benötigen, sondern
denn die Kritiker der Bewegungen beklagen deren Kurzlebigkeit, politische Programme — und Organisationen, die fähig sind, sie
als böten derartige Organisationen dauerhaftere Alternativen für durchzusetzen«.
die Mobilisierung der Arbeiterklasse. Natürlich entwickelten sich Die Armen benötigen eine ganze Menge, doch werden wir ihnen
'5
kaum helfen, es zu bekommen, wenn wir die Schwächen überliefer- rung von Sozialhilfe aus Bewegungen haben >herauskaufen< lassen, die
ter Traditionen — sichtbar geworden durch historische Erfahrungen von Historikern zu den >vorwärts schauenden< gezählt werden.« The
— ignorieren. Nehmen wir diese Schwächen jedoch zur Kenntnis, Police and the People, New York 197o, 32o.
könnten wir es besser machen. Dann könnten wir alternative Orga- 4 Barrington Moore,
Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen von Unter-
nisationsformen erwägen, in denen die Angehörigen der Arbeiter- ordnung und Widerstand, Frankfurt am Main 1982.
klasse kollektiv gegen ihre Herrscher aufbegehren können, die der
Struktur proletarischen Lebens und dem Ablauf dieser Kämpfe
entsprechen und die weniger anfällig für die Einflußnahme der
herrschenden Eliten sind. Schließlich sind die bürokratisierten
Massenorganisationen keine Erfindung der Linken, sondern viel-
mehr Nachahmungen von Organisationsformen, die in eben jener
bürgerlichen Gesellschaft bestehen, die sie zu verändern sucht.
Daß sie so unkritisch verteidigt werden, erscheint merkwürdig.

Juli 1978 EF.P


R.A.C.

Anmerkungen

Wir beziehen uns im folgenden auf diese Rezensionen: Jack Beatty, The
Nation, 8. Oktober 1977; J. Barton Bernstein, The Chronicle of Higher
Education, 27. März 1978; Carol Brightman, Seven Days, Januar 1978;
Michael Harrington, The New York Times Book Review, lt. Dezember
1977; E. J. Hobsbawm, The NeW York Review of Books, 23. März 1978;
Paul Starr, Working Papers, März/April 1978.
Im Gegensatz zu linken Analysen bäuerlicher Bewegungen, die genau
auf das Verständnis des Einflusses spezifischer gesellschaftlicher
Umstände auf diese Bewegungen abzielen; diese Einsichten profitieren
vielleicht von dem vergleichsweise weitgehenden Fehlen marxistischer
Überlegungen zu diesemThema aus dem 19. Jahrhundert. Siehe zum Bei-
spiel: Erich R. Wolf, Peasant Wars of the Twentieth Century, New York
1969; oder James C. Scott, The Moral Economy of the Peasant, New
Haven/Conn. 1976.
3 R. C. Cobbs Kommentar über die Bauernschaft im napoleonischen
Frankreich scheint uns hier passend: »(Analytiker), von denen nur
wenige jemals Hunger leiden mußten, haben kein Recht, armen Men-
schen vorzuwerfen, die Früchte bürgerlicher Mildtätigkeit, vielleicht
sogar dankbar, entgegengenommen zu haben. Und es wäre unanständig,
die affame' der Vergangenheit zu tadeln, weil sie sich durch die Gewäh-

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Einleitung rade diese Art der Analyse von Protestbewegungen gibt es bisher
jedoch kaum. Auf diese Weise sind den unterprivilegierten Grup-
pen und ihren Bündnispartnern die politischen Erkenntnisse, die
historische Analysen ihrer eigenen Kämpfe zu liefern vermögen,
Dieses Buch handelt von einer Reihe von Protestbewegungen, die vorenthalten worden.
in der Mitte des 20. Jahrhunderts von verschiedenen Gruppen der Der Mangel an historischer Analyse hat unter anderem dazu
US-amerikanischen Unterschicht ausgingen. Zunächst wollen wir geführt, daß die Aktivisten und Agitatoren, die im zo. Jahrhundert
zwei Protestbewegungen aus der Zeit der Großen Depression in von Zeit zu Zeit versucht haben, die Unterschichten politisch zu
den dreißiger Jahren untersuchen: die Arbeitslosenbewegung und mobilisieren, sich hartnäckig an bestimmte Doktrinen klammern
die Bewegung der Industriearbeiter. Anschließend wenden wir uns konnten. Einige von ihnen, wie z.B. die Kader der Bürgerrechtsbe-
den Protesten der Schwarzen in den Jahren nach dem Zweiten Welt- wegung, waren tapfere Reformer, die keine grundlegende Verände-
krieg zu, die ihren Ursprung im Süden der USA hatten und sich rung der Gesellschaft anstrebten, sondern sie im Rahmen der tradi-
später bis in die Städte des Nordens ausbreiteten. tionellen amerikanischen Ideale reformieren wollten. Andere, wie
Wir beabsichtigen jedoch nicht, eine umfassende historische Schil- z.B. viele ,organizers« aus der Zeit der Großen Depression, waren
derung der Ereignisse vorzulegen. So weit es möglich war, haben Sozialisten unterschiedlicher Prägung, die begrenzte Protestaktio-
wir uns auf die Forschungsergebnisse anderer gestützt. Wir wollen nen als ersten Schritt einer längerfristigen revolutionären Umwäl-
statt dessen nach der politischen Bedeutung der außergewöhnli- zung ansahen.
chen Kämpfe suchen, die in diesen beiden turbulenten Abschnitten Unabhängig von ihrer ideologischen Grundhaltung haben sich
der jüngeren amerikanischen Geschichte ausgefochten wurden. Aktivisten und Organisatoren sozialen Protests jedoch gewöhnlich
Dabei haben wir uns bemüht, diejenigen Merkmale der politischen darauf konzentriert, formal strukturierte Massenorganisationen zu
Ökonomie der Vereinigten Staaten aufzuspüren, die erklären, entwickeln, deren Mitglieder sich aus der Unterschicht rekrutier-
warum es zu den Eruptionen gerade zu den jeweiligen Zeitpunkten ten. Ihren Bemühungen liegt die Überzeugung zugrunde, daß for-
kam, warum sie ihre jeweiligen Formen annahmen und warum die melle Organisationen als Machtinstrument dienen können. Diese
Eliten gerade in der von ihnen gewählten Weise auf sie reagierten. Überzeugung beruht auf mehreren Annahmen. Erstens: formelle
Es geht uns darum, diese Ereignisse zu verstehen, weil wir glauben, Organisation ermöglicht die Koordinierung der politischen und
daß sie uns Aufschluß geben über die Grenzen — aber auch die Mög- ökonomischen Ressourcen einer großen Zahl von Menschen, die
lichkeiten — des Einflusses, den die Armen auf die parlamentarisch- als einzelne weitgehend machtlos sind; zweitens: sie erlaubt den
politischen Institutionen der USA ausüben können. intelligenten und strategischen Einsatz dieser Ressourcen im politi-
Es liegt selbstverständlich bereits umfangreiche Literatur über schen Kampf; drittens: sie gewährleistet die zeitliche Kontinuität
Protestbewegungen vor. Unserer Auffassung nach spart sie jedoch der Mobilisierung. Diese drei Annahmen machen, in wenigen Wor-
die wichtigste Fragestellung für die Analyse solcher Bewegungen ten, das Modell der in den Massen verankerten, dauerhaften Orga-
aus. Als Typ politischer Auseinandersetzung sind Protestbewegun- nisation aus, das die Versuche, Gruppen der Unterschicht politi-
gen manchmal erfolgreich, manchmal scheitern sie: Entweder sie schen Einfluß zu verschaffen, bisher weitgehend geprägt hat.
erzwingen Zugeständnisse vom Staat, die die Lebensbedingungen Da es der Kernpunkt des Modells ist, daß die formelle Organisa-
der Unterschicht verbessern, oder sie werden einfach ignoriert und tion die regelmäßige, disziplinierte und langfristige Mitarbeit ihrer
unterdrückt. Begeift man den Massenprotest als eine Form des Mitglieder gewährleistet, hängt sein Erfolg davon ab, ob es den
politischen Kampfes, muß das Verhältnis zwischen den Aktionen Organisationen gelingt, durch Anreize oder Sanktionen massen-
der Protestierenden, dem gesellschaftlichen Kontext, in dem die haftes Engagement langfristig sicherzustellen. Reformer wie Revo-
Aktionen stehen, und den verschiedenen Reaktionsformen des lutionäre sind meist davon ausgegangen, daß öffentliche oder
Staates notwendig im Mittelpunkt der Untersuchung stehen. Ge- private Eliten durch disziplinierte Massenaktionen der Unterprivi-
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legierten über kurz oder lang gezwungen werden könnten, Zuge- sie für die Eliten, die sie finanziell kontrollieren, nützlicher gewor-
ständnisse zu machen, die wiederum die Voraussetzung für die wei- den sind als für die Unterschichtsgruppen, die sie zu repräsentieren
tere Ausdehnung der Mitgliedschaft bilden. vorgeben. Kurzum: Organisationen überleben, indem sie ihre
Wie die hier vorgelegten Untersuchungen zeigen werden, hat sich oppositionelle Politik aufgeben.
dieses Modell der politischen Aktion in der Praxis jedoch nicht Es ist jedoch nicht unsere Hauptthese, daß es zwecklos sei, Orga-
bewährt. Es ist gescheitert, weil es auf einer falschen Voraussetzung nisationen aufzubauen. Viel wichtiger ist die Erkenntnis, daß
beruht — der Annahme, daß es möglich wäre, den Eliten die Zuge- »organizers« durch ihre Versuche, das Unmögliche möglich zu
ständnisse abzuringen, die als Instrumente zur Erhaltung dauer- machen, davon abgehalten werden, das tatsächlich Mögliche zu
hafter, oppositioneller Organisationen dienen könnten. realisieren. Während der kurzen Perioden, in denen Menschen sich
Es fällt den Aktivisten zum Teil deshalb so schwer, diesen Fehler erheben und ihrer Empörung »Luft machen«, die Autoritäten,
des Modells zu erkennen, weil sie fast ausschließlich in außerge- denen sie sich normalerweise unterwerfen, herausfordern — in die-
wöhnlichen Zeiten von der Möglichkeit, die Unterschichten zu sen kurzen Momenten, in denen Unterschichtsgruppen den Staat
organisieren, angezogen werden—in Momenten nämlich, wenn die unter Druck setzen, versagen in der Regel die selbsternannten
Armen ihre Empörung massenhaft kundtun und sich gegen ihre Anführer, scheitern sie an der Aufgabe, den Massenprotest voran-
Unterprivilegierung auflehnen; in Momenten, in denen große Ver- zutreiben. Denn sie sind emsig damit beschäftigt, embryonale
änderungen möglich scheinen. Diese Bedingungen sind jedoch, Organisationen zu schaffen und lebendig zu erhalten — in der festen
wie wir später belegen werden, nicht das Werk der »organizers«, Überzeugung, daß diese Organisationen wachsen und zu macht-
sondern diese selbst werden von den Ereignissen mitgerissen und vollen Instrumenten heranreifen werden. So werden die folgenden
durch die Zuspitzung der Revolte noch in ihrem Glauben an die Untersuchungen aufzeigen, daß Gewerkschaftsfunktionäre nur
Kraft der Organisation gestärkt. Die überschäumende politische allzuoft Beitrittserklärungen sammelten, während die Arbeiter die
Energie der Massen führt sie ohne Umschweife zu der Überzeu- Räder stillstehen ließen; daß »organizers« Hauskomitees gründe-
gung, daß große Organisationen geschaffen und am Leben erhalten ten, während die Mieter sich weigerten, ihre Miete zu zahlen, und
werden können. Ebenso irreleitend ist der Umstand, daß Eliten sich auch von der Polizei nicht aus ihren Häusern vertreiben ließen;
angesichts drohenden öffentlichen Aufruhrs manchmal Zugeständ- daß »organizers« bei massiven Gewaltvorfällen, bei Brandstiftung
nisse anbieten, die unter normalen Bedingungen ganz unwahr- und Plünderung damit beschäftigt waren, Satzungen zu entwerfen.
scheinlich wären; die Erfolge, derer es bedarf, um die Organisation Die historische Untersuchung politischer Bewegungen offenbart
zu festigen, scheinen jetzt greifbar nahe. Die Illusion der Brauch- noch einen anderen Punkt von gleicher Bedeutung. »Organizers«
barkeit des Modells wird aber vor allem dadurch genährt, daß Eli- versäumten es nicht allein, die Möglichkeiten, die das Aufkommen
ten in Zeiten massenhaften Aufruhrs nicht selten die entstandenen von Unruhen ihnen bot, am Schopfe zu packen, sondern agierten
Organisationen sogar konsultieren, deren Meinungen erbitten und in der Regel in einer Weise, die der von den Unterprivilegierten bis-
sie ermuntern, ihre Beschwerden staatlichen Institutionen vorzu- weilen entwickelten Sprengkraft die Spitze abbrach oder sie neutra-
tragen. Diese symbolischen Gesten verleihen den Organisationen lisierte. Zu einem kleinen Teil resultierte dies aus der dogmatischen
der Unterpriviligierten zwar den Anschein, als verfügten sie tat- Selbstverpflichtung zum Aufbau dauerhafter Massenorganisatio-
sächlich über Einfluß, in Wahrheit aber reagieren die Eliten nicht nen, denn die entsprechenden organisatorischen Aktivitäten führ-
auf die Existenz der Organisationen selbst, sondern allein auf die ten eher dazu, aus Straßendemonstranten Sitzungsteilnehmer zu
Gewalt des Aufruhrs. Aber der Aufruhr ist niemals von Dauer. machen. Zum Teil resultierte das Versäumnis auch aus der übermä-
Sobald er abebbt, die Massen wieder von den Straßen verschwin- ßigen Beschäftigung mit Führungsproblemen, die der Aufbau von
den, verschwinden nach und nach auch die meisten Organisatio- Organisationen nach sich zu ziehen scheint. Aber zum größten Teil
nen, die der Aufruhr vorübergehend hochgespült hat. Bleiben rührte es daher, daß »organizers« auf der Suche nach Ressourcen
trotzdem einige Organisationen bestehen, so meist deshalb, weil für den Erhalt ihrer Organisationen unweigerlich zu Eliten getrie-
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ben wurden, um sich deren materieller und symbolischer Unter- blick für wesentlich, denn die Kräfte, die die Massenerhebungen
stützung zu versichern. Die Eliten wiederum stellten diese Res- strukturieren, bestimmen auch die Grenzen, innerhalb derer
sourcen zur Verfügung, weil sie wußten, daß die »organizers« sich »organizers« und Anführer handeln können, wie sehr letztere auch
zum Ziel gesetzt hatten, Organisationen aufzubauen, nicht aber anderes annehmen mögen. Es ist unsere Überzeugung, daß viele
das gesellschaftliche Gefüge zu erschüttern. Organisierungsversuche der Vergangenheit fehlschlugen, weil sie
Normalerweise unterstützen Eliten Versuche zur Organisierung nicht in Betracht zogen, wie grundlegend die politischen Aktions-
von Angehörigen der Unterschicht natürlich nicht. Wenn aber Auf- formen, die der Unterschicht offenstehen, von der Gesellschafts-
ruhr ausbricht und offensichtlich nicht unter Kontrolle gebracht struktur eingeengt werden; und da die »organizers« und Anführer
werden kann, müssen sie reagieren. Und eine ihrer Möglichkeiten, diese Beschränkungen nicht erkannten, waren sie auch nicht
die Situation zu meistern, ist es, die Unterschichtsorganisationen, imstande, die Chancen, die sich durch die periodische Mobilisie-
die sich in solchen Perioden herauszubilden beginnen, zu kultivie- rung von Unterschichtsgruppen boten, wirklich zu nutzen.
ren; haben sie doch von Organisationen nur wenig zu fürchten, vor Danach wenden wir uns den Protestbewegungen während der
allem nicht von solchen, die mit der Zeit auf ihre Unterstützung Großen Depression und der Nachkriegszeit zu. Unsere Studien
angewiesen sind. So erleichtern die politischen Führer der Unter- über die Revolten der Depressionsjahre beschäftigen sich mit der
schicht mit ihren Aktionen — wie unbeabsichtigt auch immer — Arbeitslosenbewegung, aus der die »Workers' Alliance of America«
letztlich die Bemühungen von Eliten, die aufständischen Massen in geboren wurde, und der Industriearbeiterbewegung, die den
die Bahnen normaler Politik zu lenken; all dies in dem Glauben, »Congress of Industrial Organizations« (CIO) hervorbrachte. Aus
sich auf dem langen und mühsamen, doch sicheren Weg zur Macht der Nachkriegszeit greifen wir die Bürgerrechtsbewegung in den
zu befinden. Sind die Tumulte überstanden, verflüchtigen sich Südstaaten und die Bewegung der Wohlfahrtsempfänger, der die
diese Organisationen meist wieder, unnütz geworden für die, die »National Welfare Rights Organization« (NWRO) ihre Existenz
sie mit den zum Überleben nötigen Mitteln versorgten. Oder aber verdankte, heraus. Die Industriearbeiterbewegung und die Bürger-
die Organisationen bestehen fort, indem sie sich zunehmend denen rechtsbewegung erreichten mehr als die beiden anderen genannten
unterordnen, auf die sie angewiesen sind, Protestbewegungen; es ist unser zentrales Anliegen, zu zeigen,
So oder so, die Lehren aus den Erfahrungen werden anscheinend inwiefern Unterschiede in den Strategien der »organizers« und
nicht gezogen. Jede Generation von Aktivisten und »organizers« Anführer zur Erklärung des unterschiedlichen Erfolges beitragen.
tut so, als gebe es keine politische »Moral von der Geschichte«, als Bevor wir uns nun an die Ausführung unserer Argumente
gebe es weder etwas aus der Geschichte gescheiterter Organisie- machen, sollten wir noch erklären, wie wir die Begriffe »Unter-
rungsversuche, noch aus der offenkundigen Tatsache zu lernen, schicht« oder »arm« verwenden. Wir gebrauchen sie nicht in ihrer
daß alles, was die Menschen sich erkämpften, Ergebnis ihrer Auf- gegenwärtigen soziologischen Bedeutung, als Bezeichnung für
lehnung war und nicht ihrer Mitgliedschaft in Organisationen. eine Schicht unterhalb der Arbeiterklasse, sondern im Sinne einer
Folglich wollen Anführer immer wieder das Unmögliche möglich Schicht innerhalb der Arbeiterklasse, die nach dem in der jeweili-
machen, statt ihre reellen Chancen zu erkennen, wenn institutio- gen Periode geltenden Standard arm ist. Obwohl die spezifische
nelle Erschütterungen die Fesseln der herrschenden sozialen Kon- soziale Herkunft der Teilnehmer an den hier untersuchten Bewe-
trolle lockern, und neue Protestbewegungen für Aufruhr sorgen. gungen sehr vielfältig war — einige waren weiße Männer, andere
Dieses Buch soll einen Beitrag leisten zur Sammlung der histori- waren schwarze Frauen; einige waren entwurzelte Landarbeiter
schen Erkenntnisse, die in der Zukunft die politische Mobilisie- aus dem Süden, andere waren eingewanderte, städtische Industrie-
rung der unteren Schichten leiten und prägen könnten. Das erste arbeiter —, sind unseres Erachtens alle hier untersuchten Protest-
Kapitel gibt einen theoretischen Überblick über die gesellschaftli- bewegungen aus verschiedenen Sektoren der Arbeiterklasse her-
chen Kräfte, durch die Protestbewegungen der Unterschichten in vorgegangen, also auch die Proteste der Mütter aus den sechziger
den Vereinigten Staaten geprägt -werden. Wir halten diesen Über- Jahren, die mit ihren Familien von der Wohlfahrt lebten. Unsere
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Verwendung der Begriffe weicht vom üblichen soziologischen I. Strukturen des Protests
Brauch ab, deckt sich aber mit den klassischen marxistischen De-
finitionen der Arbeiterklasse. Unsere Begriffsbestimmung weicht
auch von der gegenwärtigen Mode in der Linken ab, verarmte und
unterbeschäftigte Gruppen der Arbeiterklasse als »Lumpenprole- Mit gesundem Menschenverstand und vor dem Erfahrungsschatz
tarier« zu bezeichnen — eine Mode, die wir, wegen der herabsetzen- der Geschichte fällt es nicht schwer, eine ebenso einfache wie zwin-
den Implikationen, nicht nur beleidigend finden, sondern auch für gende Auffassung von den Quellen der Macht in einer Gesellschaft
einen Mißbrauch des Marxschen Begriffes halten, der die devianten zu gewinnen. Grob aber unmißverständlich formuliert: Wer über
und kriminellen Elemente aller Klassen bezeichnet. die Mittel physischen Zwangs und über die Mittel zur Produktion
von Reichtum verfügt, übt Macht über diejenigen Personen aus, die
März 1977 F. F. P. weder das eine noch das andere tun. Es ist dabei irrelevant, ob der
R.A.C. Zwang von einer primitiven Kriegerkaste oder von einer technolo-
gisch hochentwickelten Armee ausgeübt wird. Und es ist ebenso
irrelevant, ob die Kontrolle über die Produktion in den Händen
von Priestern liegt, die die landwirtschaftliche Produktion nach
den Geheimnissen des Kalenders steuern, oder in den Händen des
Großkapitals, von dem die Industrieproduktion abhängig ist. Da
nun einerseits die physischen Gewaltmittel dazu benutzt werden
können, die Kontrolle über die Produktionsmittel zu erobern, und
andererseits die Verfügungsmacht über den gesellschaftlichen
Reichtum zur Eroberung des physischen Gewaltapparats genutzt
werden kann, vereinen sich in der Regel beide Machtquellen im
Laufe der Zeit in einer einzigen herrschenden Klasse.
Die Kombination von gesundem Menschenverstand und histori-
scher Erfahrung legt ferner die Vermutung nahe, daß die Herr-
schenden ihre Macht nicht allein dazu nutzen und ständig vergrö-
ßern, um die Handlungen ihrer Untertanen unter Kontrolle zu hal-
ten, sondern auch, um deren Bewußtsein maßgeblich zu prägen.
Was manche Überbau und andere Kultur nennen, besteht aus einem
ausgeklügelten System von Überzeugungen und rituellen Hand-
lungen, das allgemeingültig definiert, was falsch und was richtig
und warum dies so ist, was als möglich oder unmöglich gilt, und
schließlich, welche Verhaltensmuster zwangsläufig daraus zu fol-
gen haben. Da sich der Überbau aus Überzeugungen und Ritualen
im Rahmen ungleicher Machtverteilung entwickelt hat, ist es
unvermeidlich, daß er die Ungleichheit weiter vergrößert: die
Mächtigen werden zu Heiligen erklärt und ihre Herausforderer
verteufelt. So scheinen Klassenkämpfe, die in Gesellschaften mit
schroffen Klassengegensätzen sonst wohl kaum zu vermeiden
wären, Menschen, deren Bewußtsein vom herrschenden kulturel-
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len System geprägt wurde, entweder unvorstellbar oder verwerf- In den sechziger Jahren wurde die herrschende pluralistische Tra-
lich. Gerade die Menschen, die ihre Interessen nur dann kämpfe- dition jedoch — zumindest von Teilen der intellektuellen Linken —
risch durchsetzen könnten, wenn sie sich radikal von den durch die diskreditiert: die offene Auflehnung von Minderheiten und Stu-
Herrschenden gesetzten Überzeugungen und Ritualen lösten, sind denten gab Anlaß, bisher gültige Sichtweisen in Frage zu stellen. In
dazu in der Regel nicht in der Lage. der sich nun herausbildenden Kritik wurde argumentiert, es gebe
Was uns die Kombination von gesundem Menschenverstand und keineswegs zwei Machtsysteme, sondern die auf Reichtum und
historischer Erfahrung über vergangene Gesellschaftsordnungen Zwang basierende Macht übertreffe bei weitem die Macht der
lehrt, gilt in nicht geringerem Iviaß für moderne kapitalistische Stimmzettel. Die Pluralisten hätten geirrt, behaupteten die Kriti-
Gesellschaften, unter ihnen die USA: Macht beruht auf der Kon- ker, weil ihnen entgangen sei, auf wie vielfältige Art Reichtum und
trolle physischer Gewalt und der Produktionsmittel. Jedoch wird ökonomische Macht das Wahlrecht auszuhöhlen vermochten:
in kapitalistischen Gesellschaften diese Tatsache nicht durch Ver- einerseits würden viele Menschen ihres Stimmrechts gänzlich
herrlichung der Mächtigen legitimiert; deren Existenz wird viel- beraubt, andererseits die Wähler getäuscht und dazu verleitet,
mehr verschleiert. So erklären parlamentarisch-demokratische bereits vorbestimmte »Wahl«entscheidungen zu treffen. Ferner hät-
Ordnungen das Wahlrecht, anstelle von physischer Gewalt und ten die Pluralisten die Neigung vermeintlich neutraler Regierungs-
Reichtum, zur Grundlage der Machtausübung. Reichtum sei zwar apparate ignoriert, die Interessen der Eliten — unabhängig vom
— unbestritten — ungleich verteilt, Stimmrecht aber besitze fast Wählerauftrag — zu vertreten.
jeder, und durch die Ausübung dieses Rechts bestimmten die Bür- Wir vvollen diese durchaus nicht simple und auch nicht immer
ger selbst, von wem sie regiert werden wollen und was die Regieren- stringente Kritik hier nicht zusammenfassend beurteilen. Nur
den zu tun haben, wollen sie Regierende bleiben. soviel: Sie beruhte zum großen Teil auf der Erkenntnis, daß die
Auch die Analytiker der Macht sind durch die herrschenden Über- Form der Beteiligung am politisch-parlamentarischen Wahlsystem
zeugungen und Rituale geprägt; so haben sie ihren Teil zur Ver- keineswegs — wie die Pluralisten in ihrem engen empirischen
schleierung beigetragen, indem sie argumentierten, das Wahlrecht Ansatz immer impliziert hatten — die freie Entscheidung unabhän-
wiege ebenso schwer wie die übrigen Quellen der Macht. Sogar die giger Männer und Frauen war. In Wahrheit hänge die Form der
aufgeklärtesten amerikanischen Politikwissenschaftler begannen Beteiligung und der Grad des Einflusses, der durch sie erreicht wer-
mit der Annahme, daß es in der Tat zwei Machtsysteme gebe — das den könne, wesentlich von der Stellung in der Klassenstruktur ab.
eine basierend auf Reichtum, das andere auf Wählerstimmen. Diese entscheidende Erkenntnis ebnete den Weg zu der Schlußfol-
Anschließend widmeten sie sich der Aufgabe, die Bedeutung des gerung, daß Unterschichtsgruppen so lange nur geringen Einfluß
einen Systems gegen die des anderen abzuwägen. Dies galt als eine besaßen, wie sie sich den Normen des politisch-parlamentarischen
schwer lösbare und komplizierte Frage, die äußerst gründliche Systems anpaßten. Zumindest für einige von uns wurde jetzt deut-
Untersuchungen unterschiedlicher politischer Verhältnisse erfor- lich, daß Protestaktionen, die bewußt politische Normen verletz-
derte, wobei die Methoden den rigorosesten empirischen Kontrol- ten, sich nicht einfach als Taten von Störenfrieden und Dummköp-
len unterlagen. (»Nichts Kategorisches kann über die Machtver- fen abqualifizieren ließen. Für die Armen waren sie das einzig
hältnisse in sozialen Gemeinschaften angenommen werden«, war brauchbare politische Instrument.
Polsbys berühmtes Diktum.) Als Ergebnis stellte sich heraus, daß Doch weiter sind wir bisher nicht gekommen. Die Erkenntnisse,
die Wahl politischer Repräsentanten eine beträchtliche Streuung aus denen sich die Kritik am politisch-parlamentarischen Prozeß
von Macht in einer allerdings nicht perfekten Welt bewirke. Aus speisten, blieben in den wenigen Studien über das Wesen des Pro-
dieser Erkenntnis wurde dann abgeleitet, daß wer die Herrschen- tests selbst völlig unbeachtet. Aus intellektueller Sicht ist dieses
den durch Mißachtung der Spielregeln des liberal-demokratischen Defizit alarmierend; politisch ist es jedoch allzu erklärlich, beden-
Staates bekämpfe, entweder ein gefährlicher Störenfried oder ken wir die erdrückende Parteilichkeit unserer Tradition. In diesem
schlichtweg ein Dummkopf sein müsse. Kapitel wird es uns vor allem darum gehen, aufzuzeigen, daß Pro-
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test ebenfalls nicht Gegenstand freier Entscheidung ist; er steht Widerstandsformen — wie Kriminalität, Schulschwänzen oder
nicht allen Gruppen zu jeder Zeit zur Verfügung, und Angehörigen Brandstiftung — können, bei aller Widersprüchlichkeit, eine kollek-
der Unterschicht meist überhaupt nicht. In den Fällen, in denen tive Dimension besitzen, zumal wenn sich die Täter als Teil einer
Protest für die Armen zu einer realen Möglichkeit wird, sind sowohl größeren Bewegung begreifen. Diese scheinbar atomisierten
seine Form als auch seine Wirksamkeit durch die Sozialstruktur vor- Widerstandsakte sind als Aktionen im Rahmen einer breiteren
gegeben, und zwar gewöhnlich derart, daß sein Ausmaß verringert Bewegung zu werten, wenn die Akteure sich als Mitglieder einer
und seine Kraft vermindert wird. Aber bevor wir uns diesen Aspek- sozialen Gruppe fühlen und gemeinsame Überzeugungen über
ten näher widmen, wollen wir definieren, was in unseren Augen Ursachen und Ziele des Protestes teilen. Indem die vorherrschen-
eine Protestbewegung ausmacht. Dies ist um so nötiger, als die den Definitionen klar formulierte Ziele sozialer Veränderung zum
gebräuchlichen Definitionen sowohl Wissenschaftler als auch Akti- entscheidenden Kennzeichen sozialer Bewegungen erklären, spre-
visten dazu verleitet haben, einen großen Teil politischen Protests chen sie vielen Protestformen jede politische Relevanz ab. Obwohl
entweder zu ignorieren oder zu diffamieren. auch wir der Meinung sind, daß Begriffsdefinitionen nicht unnötig
Die Entstehung einer Protestbewegung hat sowohl eine Verände- ausgeweitet werden sollten, glauben wir doch, daß der Unterschied
rung des Bewußtseins als auch des Verhaltens zur Folge. Die zwischen unserer Definition und den in der umfangreichen sozio-
Bewußtseinsveränderung hat mindestens drei verschiedene logischen Literatur über Protestbewegungen zu findenden Defin-
Aspekte: Erstens verliert »das System« — oder zumindest diejeni- itionen keine reine Spitzfindigkeit ist. Joseph Gusfield definiert
gen Bestandteile des Systems, die direkt erfahrbar und wahrnehm- eine soziale Bewegung zum Beispiel als »gemeinschaftlich geteilte
bar sind — an Legitimation. Die Männer und Frauen, die normaler- Aktivitäten und Überzeugungen, die auf die Veränderung einiger
weise die Autorität der Regierenden und die Legitimität der institu- Aspekte der Sozialordnung gerichtet sind. ... Was eine soziale
tionellen Ordnung anerkennen, kommen in großer Zahl zu der Bewegung als Agenten sozialen Wandels kennzeichnet, ist ihre
Erkenntnis, daß die Regierenden und die Sozialordnung weder Eigenschaft als artikulierte und organisierte Gruppe.« (2, 453)
gerecht noch gerechtfertigt sind.' Zweitens beginnen Menschen, Ähnlich bei John Wilson: »Eine soziale Bewegung ist ein bewußter,
die sich normalerweise fatalistisch in ihr Schicksal ergeben und die kollektiver, organisierter Versuch, nachhaltige Veränderungen der
bestehenden Verhältnisse für unabänderlich halten, »Rechte« gel- Sozialordnung durch nicht institutionalisierte Mittel hervorzu-
tend zu machen, die die Forderung nach Veränderung implizieren. bringen oder zu verhindern.« (8)
Drittens entsteht ein neues Gefühl der eigenen Stärke; Menschen, Die Betonung der bewußten Intention in diesen Definitionen
die sich immer für machtlos gehalten haben, entwickeln allmählich spiegelt die Verwechslung von Massenbewegungen mit den for-
die Überzeugung, daß sie ihr Schicksal auch in die eigenen Hände malisierten Organisationen, die in der Regel auf dem Höhepunkt
nehmen können. der Bewegungen auftauchen, wider — die Verwechslung zweier
Die Veränderung der Verhaltensmuster ist ebenso einschneidend, zwar ineinander verwobener, aber dennoch ganz verschiedener
gewöhnlich aber leichter zu erkennen, zumindest wenn sie die Phänomene.' Formalisierte Organisationen verkünden in der
Form von Massenstreiks, Demonstrationen oder Unruhen Tat ausformulierte und vereinbarte Ziele, wie in den genannten De-
annimmt. Sie scheint uns durch zwei Elemente gekennzeichnet zu finitionen angedeutet; bei Massenunruhen aber sind solche Ziele
sein: Erstens beginnen Menschen massenhaft, sich gegen die beste- häufig nicht erkennbar (obwohl Außenstehende, uns selbst als
henden Verhältnisse aufzulehnen; sie verletzen die Traditionen und Beobachter und Analytiker eingeschlossen, ihnen manchmal
brechen die Gesetze, denen sie sich sonst unterwerfen, und trotzen durchaus Ziele zuschreiben). Für uns ist das entscheidende und
den Autoritäten, denen sie sich gewöhnlich beugen. Zweitens weh- kennzeichnende Merkmal einer Protestbewegung die kollektive
ren sie sich kollektiv, als Mitglieder einer Gruppe und nicht als iso- Auflehnung; in den Standarddefinitionen wird das Moment der
lierte Individuen. Streiks und Aufruhr sind eindeutig Formen kol- Auflehnung dagegen meist übersehen oder unterbewertet, weil
lektiver Aktion, aber sogar einige scheinbar individualistische sie gewöhnlich kein charakteristisches Merkmal der formellen Or-
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ganisationen ist, die auf der Woge der Protestbewegungen schwim- rern, alles in der Absicht, ein wenig Dank und Anerkennung zu ern-
men. ten. Mit anderen Worten, zumeist fügen Menschen sich in die insti-
Was auch immer die intellektuellen Ursachen für diesen Irrtum tutionelle Ordnung, die sie umgibt, und durch die sie ihre täglichen
sein mögen, die Gleichsetzung von Bewegungen mit ihren Organi- Belohnungen und Bestrafungen erfahren. Diese Ordnung er-
sationen — die zudem voraussetzt, daß Proteste einen Führer, eine scheint ihnen als die einzig mögliche Realität.
Satzung, ein legislatives Programm oder doch zumindest ein Ban- Selbst die Menschen, die am wenigsten von den bestehenden Ver-
ner haben müssen, bevor sie anerkannt werden — hat den Effekt, hältnissen profitieren und am stärksten unter der herrschenden
daß die Aufmerksamkeit von vielen Formen politischer Unruhe Ungleichheit leiden, passen sich an. Manchmal sind sie die Fügsam-
abgelenkt wird und diese per definitionem den verschwommenen sten, denn sie können sich am wenigsten vor den Strafen für Wider-
Bereichen sozialer Probleme und abweichenden Verhaltens zuge- spenstigkeit schützen. Darüber hinaus wird gerade den Armen fast
ordnet werden. Folglich erregen Phänomene wie massive Schulver- immer und fast überall — und besonders in den Vereinigten Staaten
weigerung, zunehmende Abwesenheit vom Arbeitsplatz, die stei- — beigebracht, daß ihr Elend durchaus verdient sei, ebenso wie der
gende Flut von Anträgen auf Sozialfürsorge oder die wachsende Reichtum und die Macht, über die andere verfügen. In eher tradi-
Zahl von Mietschuldnern kaum die Aufmerksamkeit der wissen- tionellen Gesellschaften werden extreme Ungleichheiten als gott-
schaftlichen Beobachter. Nachdem auf definitorischem Wege ent- gegeben angesehen oder gelten als Bestandteil der natürlichenWelt-
schieden worden ist, daß nichts Politisches vorgeht, bleibt auch ordnung. In moderneren Gesellschaften wie den USA werden
nichts zu erklären, jedenfalls nicht in den Begriffen des politischen Reichtum und Macht dem Fleiß und Talent des einzelnen zuge-
Protests. Und nachdem es so gelungen ist, Protest nicht mehr als schrieben; woraus folgt, daß, wer wenig oder nichts besitzt, auch
solchen anzuerkennen oder zu untersuchen, brauchen auch einige nicht mehr verdient. Edelman stellte in seiner Untersuchung über
ziemlich offenkundige und wichtige Fragen über ihn nicht mehr die politischen Überzeugungen der Amerikaner dazu fest:
gestellt zu werden. »Den amerikanischen Armen mußte weniger staatliche Gewalt angedroht
und weniger soziale Sicherheit zugestanden werden, um sie im Zaum zu
halten, als in anderen entwickelten Ländern, einschließlich autoritärer
Institutionelle Grenzen des Ausbruchs von Massenprotest Staaten wie Deutschland und extrem armer Nationen wie Italien; denn
ihr Schuldgefühl und ihr Selbstbild haben die Armen fügsam gemacht.«
(56)
Aristoteles hielt Ungleichheit für die H auptursache von Revolutio-
nen, glaubte, daß die Unteren rebellieren, um gleiche Rechte zu Kurz gesagt, die Unterschichten nehmen ihr Schicksal norma-
erlangen. Doch die Geschichte der Menschheit hat ihn ganz über- lerweise ergeben hin, und diese Ergebenheit kann von den Herr-
wiegend Lügen gestraft. Harsche Ungleichheit hat es immer gege- schenden als selbstverständlich angenommen und muß nicht extra
ben, Rebellionen aber nur selten. Aristoteles unterschätzte die prä- ausgehandelt werden. Diese Fähigkeit der Institutionen einer
gende Kraft der Sozialstruktur für das politische Verhalten. Wie Gesellschaft, politische Gefolgschaft zu gewährleisten, zeigt am
hart ihr Los auch sein mag: Menschen verhalten sich in der Regel deutlichsten, wie stark Protest von der Sozialstruktur bedingt und
fügsam, passen sich den etablierten Lebensumständen ihrer Umge- im übrigen meist von ihr verhindert wird.
bung an und halten diese sowohl für unabänderlich als auch für Manchmal jedoch lehnen sich die Armen auf. Sie fordern die tradi-
gerecht. Männer wie Frauen bestellen tagein, tagaus ihre Felder, tionellen Autoritäten heraus, widersetzen sich den von ihnen
heizen ihre Öfen oder bedienen ihreWebstühle — immer dem vorge- gesetzten Regeln und verlangen nach Wiedergutmachung für ihre
gebenen Rhythmus und den Regeln des täglichen Broterwerbs fol- Leiden. Die amerikanische Geschichte ist voll von solchen Ereig-
gend; sie zeugen und gebären voller Hoffnung Kinder und sehen nissen: von den ersten Aufständen der kleinen Landbesitzer, der
dann ergeben zu, wie sie sterben; sie unterwerfen sich den Geset- Pächter und Sklaven im vorrevolutionären Amerika, über die
zen von Kirche und Staat und gehorchen ihren politischen Füh- Schuldnerrebellionen in der Zeit nach dem Unabhängigkeitskrieg

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bis hin zu den periodischen Ausbrüchen von Streiks und Unruhen bungen, die den Protestausbrüchen vorangingen, beitragen können;
der Industriearbeiter und den Getto-Aufständen des 2o. Jahrhun- das gilt zumindest für die von uns untersuchten Perioden. Alle
derts. In all diesen Fällen konnten Massen von Armen plötzlich, behaupten, daß es nicht nur einer größeren Strukturverschiebung
wenn auch nur vorübergehend, das Gefühl der Scham überwinden, bedarf, um Protest möglich zu machen, sondern daß wahrschein-
das von einer Kultur hervorgerufen worden war, die ihnen selbst lich eine Folge oder Kombination von Verschiebungen nötig ist,
die Schuld an ihrem jämmerlichen Dasein zuschob. Irgendwie um die dem Protest zugrundeliegende Empörung so zu vergrößern
schafften sie es, die Fesseln des Konformismus, die ihnen von ihrer und aufzustauen, daß sie sich in kollektivem Widerstand entlädt.
Arbeit, ihren Familien, ihren Gemeinden, von jedem Strang des Es erscheint uns nützlich, Theorien über Aufruhr in zwei Katego-
institutionellen Lebens angelegt worden waren, abzustreifen; rien einzuteilen: eine Gruppe von Theorien, betont den sozialen
irgend etwas verlieh ihnen plötzlich die Kraft, ihre Angst vor Poli- Druck, der Massenprotest hervorruft; eine zweite hebt den Zusam-
zei, Miliz oder Werkschutz zu überwinden. menbruch der regulativen Kräfte einer Gesellschaft hervor, der
Wenn Protest laut wird, wenn sich die Massen der sonst so Duldsa- Auflehnung ermöglicht und sie die Form politischen Protestes
men auflehnen, hat sich eine bedeutende Transformation vollzo- annehmen läßt. So könnte man zur Gruppe der »Druck«-Theoreti-
gen. Der größte Teil der Literatur über öffentlichen Aufruhr ist vor ker diejenigen zählen, die ökonomische Veränderungen, und zwar
allem darum bemüht, die Voraussetzungen für diesen Wandel zu Verbesserungen wie Verschlechterungen, als Voraussetzung öffent-
identifizieren (häufig, weil man sich von den Ergebnissen der Ana- licher Unruhen hervorheben. Krasse ökonomische Veränderungen
lyse Aufschlüsse darüber verspricht, wie politische Unruhen zu stören offensichtlich das Verhältnis zwischen den bei Menschen
verhindern oder einzudämmen sind). Ungeachtet aller — in der Tat geweckten Erwartungen und ihren tatsächlichen Lebensbedingun-
wesentlichen — Meinungsverschiedenheiten zwischen den Verfech- gen. Werden geweckte Erwartungen aber nicht erfüllt, so empfin-
tern der verschiedenen wissenschaftlichen Ansätze, besteht gene- den die betroffenen Personen wahrscheinlich Frustration und
relles Einvernehmen, daß der Ausbruch öffentlicher Unruhen Ärger.' Einige Theoretiker betonen in der Nachfolge von de
grundlegende Veränderungen in der Gesellschaft widerspiegelt. Tocqueville vor allem die Enttäuschung, die gerade in Phasen öko-
Diese Übereinstimmung ist von einiger Bedeutung, stützt sie doch nomischen Aufschwungs entstehen kann, wenn die Erwartungen
unsere These, daß Protest unter normalen Bedingungen strukturell schneller steigen als der reale Lebensstandard.' Andere gehen in der
unterdrückt wird. Die entscheidende Übereinstimmung besteht in Tradition von Marx und Engels' davon aus, daß neue und unerwar-
der Feststellung, daß die Unterprivilegierten nur unter außerge- tete Härten Enttäuschung und Empörung hervorrufen und so das
wöhnlichen Bedingungen aufbegehren — daß also, in unsererTermi- Potential für soziale Konflikte schaffen. Diese Auffassungen sind
nologie, die Unterschicht nur unter außergewöhnlichen Umstän- allerdings, wie andere Autoren angemerkt haben, nicht miteinan-
den die gesellschaftlich bedingte Gelegenheit erhält, ihre eigenen der unvereinbar. Ob gute oder schlechte Zeiten als Ursache für
Klasseninteressen mit Nachdruck zu vertreten. sozialen Unfrieden angesehen werden, könnte eher auf den Cha-
Sämtliche wichtigen Theorien über zivilen Aufruhr unterstrei- rakter des jeweiligen empirischen Gegenstands, vielleicht sogar auf
chen die Validität dieses Punktes. Betrachtet man die einzelnen die Klassensympathien der Autoren zurückzuführen sein, als auf
theoretischen Ansätze nebeneinander und untersucht sie im Lichte entscheidende konzeptionelle Unterschiede.' Denn in einem
der in diesem Buch analysierten historischen Ereignisse, so liegt Punkt stimmt das Konzept der steigenden Erwartungen mit der
der Schluß nahe, daß verschiedene Theorien zwar unterschiedliche Verelendungstheorie überein: daß Menschen, deren Erwartungen
soziale Strukturverschiebungen hervorheben, daß die meisten die- nicht erfüllt werden, unter Umständen mit Empörung reagieren.
ser Verschiebungen jedoch gleichzeitig während der dreißiger und Unerwartetes Elend dürfte zwar die historisch bedeutendere
sechziger Jahre auftraten. Man braucht keineswegs von der gleich- Voraussetzung für Massenunruhen sein, doch sind beide Arten von
rangigen Gültigkeit der größeren Theorieansätze auszugehen, um zu Veränderung den Bewegungen vorausgegangen, um die es auf den
erkennen, daß alle auf ihre Weise zur Erhellung der sozialen Verschie- folgenden Seiten geht.'

32 33
Wiederum andere »Druck«-Theoretiker konzentrieren sich nicht cher Instabilität einen, wenn auch mehr oder weniger allgemeinen
allein auf die sozialen Spannungen, die aus dem Gegensatz von rea- Einblick in den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Verän-
ler Wirtschaftslage und Erwartungen erwachsen, sondern folgen derung, dem Zusammenbruch sozialer Kontrolle — was Ash die
Parsons' (1951) Erweiterung des Modells um solche sozialen Bela- »Entroutinisierung« des Lebens nennt (164-167) — und dem Aus-
stungen, die durch allgemeine Strukturveränderungen hervorgeru- bruch von Protest.' Sie behaupten, daß in Perioden schneller Verän-
fen werden, durch Gegensätze zwischen verschiedenen »Hand- derung die in die Struktur des Alltagslebens eingebaute soziale
lungskomponenten« die, wie Parsons es nennt, zu Ausbrüchen Kontrolle abgebaut wird, während gleichzeitig Frustrationen
»irrationalen Verhaltens« (1965) führen. Dieses Modell ist aller- zunehmen.
dings so weitgefaßt und vage, daß es weitgehend unbrauchbar ist. Genauer gesagt: ökonomische Veränderungen können derartig
Wie Charles Tilly kommentierte, »steckt genug Ambiguität in einschneidend sein, daß die Strukturen und Gewohnheiten des All-
Begriffen wie >strukturelle Veränderung<, >Spannungen< und tagslebens praktisch außer Kraft gesetzt werden. Hobsbawm weist
>soziale Unruhen<, um ein ganzes Bataillon von Philologen ihr auf die große Bedeutung solcher Umstände für den Anstieg des
Leben lang zu beschäftigen« (ioo). »sozialen Banditentums« unter der italienischen Landbevölkerung
Der hauptsächliche Fehler der »Druck«-Theorien ist unseres im r9. Jahrhundert hin:
Erachtens, daß sie sich allesamt auf die stillschweigend vorausge- 4Das Sozialbanditentum] wird sehr wahrscheinlich dann zum bestimmen-
setzte, aber inkorrekte Annahme stützen, ökonomische oder struk- den Phänomen werden, wenn ihr traditionelles Gleichgewicht gestört ist:
turelle Veränderungen seien außergewöhnlich, Stabilität und der während und nach Zeiten großer Bedrängnis wie Hungersnot und Krieg
von ihr genährte Konsens dagegen der Normalzustand. Ökonomi- oder in den Augenblicken, in denen die Wucht der dynamischen modernen
sche Veränderungen — und vermutlich auch strukturelle Verände- Welt diese statischen Gemeinden packt, um sie zu zerstören und zu verän-
rungen, soweit wir uns über die Bedeutung dieses Begriffes im kla- dern.« (41 f.)
ren sind — sind aber eher normale als nur gelegentlich auftretende Ähnliches betont Barrington Moore:
Kennzeichen kapitalistischer Gesellschaften. Allerdings deuten »Die primären Voraussetzungen für die Entstehung revolutionärer Massen
historische Erkenntnisse darauf hin, daß äußerst rascher ökonomi- sind eine plötzliche Verschärfung der Not zusätzlich zu ohnehin großen
scher Wandel schon bestehende Frustrationen und Ärger erheblich Entbehrungen sowie der Zusammenbruch des gewohnten alltäglichen
verstärken kann. Lebensablaufs — Nahrung besorgen, zur Arbeit gehen etc. —, der die Men-
Zur zweiten Kategorie von Theorien über öffentlichen Aufruhr schen sonst in die bestehende Ordnung einbindet.«
gehören Ansätze, die den Zusammenbruch der regulativen Fähig- Wirtschaftliche Veränderungen sind also mit anderen Worten nicht
keit gesellschaftlicher Institutionen als Bestimmungsfaktor für den nur deshalb von Bedeutung, weil sich die Menschen in ihren Erwar-
Ausbruch von Massenunruhen ansehen. Diese Erklärungsversuche tungen getäuscht sehen und deshalb aufgebracht sind, sondern auch,
sind ebenfalls sehr vielfältig. Sie reichen von Theorien sozialer weil eine Schwächung der Strukturen des Alltagslebens ebenfalls eine
Desorganisation wie bei Hobsbawm, der den Zusammenbruch der Minderung der sozialen Kontrolle durch diese Strukturen mit sich
sozialen Kontrolle durch die Strukturen und Gewohnheiten des bringt. »Wenn die Leute«, schreibt Lefebvre, »in der so analysier-
Alltagslebens betont; über Theoretiker wie Kornhauser, der ten Gesellschaft nicht mehr ihre Alltäglichkeit leben können, dann
behauptet, daß größere gesellschaftliche Veränderungen — Wirt- beginnt eine Revolution. Nur dann. Solange sie das Alltägliche
schaftskrise, Industrialisierung, Urbanisierung — die Fesseln zer- leben können, rekonstituieren sich die alten Verhältnisse.« (5 t)
schlagen, die die Menschen an die vielfältigen Sekundärgruppen Das Leben der meisten Menschen wird gewöhnlich von ihrer
binden, welche gewöhnlich ihr politisches Verhalten kontrollieren Arbeit und den damit verbundenen Belohnungen bestimmt, und
(1959); bis hin zu Theoretikern, die sich auf Gegensätze zwischen das Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Doch einmal
gesellschaftlichen Eliten als Auslöser öffentlicher Unzufriedenheit aus diesem Rhythmus herausgerissen, fallen sie auch aus dem regu-
konzentrieren. Insgesamt gewähren diese Theorien gesellschaftli- lativen Rahmen des Alltagslebens heraus. Die Arbeit und ihre Be-

34 35
lohnungen erhöhen auch die Stabilität der übrigen sozialen Institu- verdienen, insbesondere in den dreißiger Jahren, als ein Drittel der
tionen. Männer, die nicht mehr genug Geld nach Hause bringen, Erwerbsbevölkerung keine Arbeit hatte. Für die Schwarzen aber
um ihre Familien zu ernähren, lassen Frau und Kinder im Stich war die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso verheerend, als
oder weigern sich von vornherein, ihre Partnerin zu heiraten. Und Millionen von ihnen vom Land vertrieben und in die städtischen
ist die Arbeitslosigkeit von Dauer, brechen ganze Gemeinden aus- Gettos verschlagen wurden. In diesen Gettos erreichte die Arbeits-
einander, weil die arbeitsfähigen Männer auf der Suche nach Arbeit losigkeit in den fünfziger und sechziger Jahren den Stand der
fortziehen. Das alltägliche Leben gerät zusehends durcheinander, Depression. Das bloße Ausmaß dieser sozialen Verschiebungen
weil die, wie Edelman sagt, ',tröstenden Banalitäten« des Alltags trug dazu bei, das Gefühl des individuellen Versagens abzubauen
zerbrechen (95). und den Menschen statt dessen bewußt werden zu lassen, daß ihr
Die ersten Anzeichen der resultierenden Demoralisierung und Schicksal kollektiv geprägt war, und die Herrschenden für ihr
Unsicherheit sind gewöhnlich steigende Kriminalität, zuneh- Elend verantwortlich zu machen waren.
mende Zerrüttung von Familien, Landstreicherei und Vandalis- Solche Bewußtseinsänderungen gehen mit größerer Wahrschein-
mus.' Ihrer anerzogenen sozialen Rollen beraubt, stolpern und lichkeit — oder rascher — vor sich, wenn die sozialen Strukturver-
schlagen sich Männer wie Frauen mühsam durchs Leben, gleich- schiebungen, unter denen bestimmte Gruppen leiden, im Rahmen
gültig, ob im Rahmen oder außerhalb der Legalität. allgemeinerer Veränderungen und Instabilität stattfinden, in Zei-
Die katastrophale Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre sowie die ten, in denen die herrschende Gesellschaftsordnung, wie sie von
Modernisierung und Wanderbewegung der sechziger Jahre führten den Menschen verstanden wird, ganz offensichtlich aus den Fugen
also nicht nur zu unerwarteten Härten — massive Arbeitslosigkeit geraten ist. Als in den frühen dreißiger Jahren riesige industrielle
und die Entwurzelung von Menschen und ganzen Gemeinden hat- Imperien in den USA so gut wie am Ende waren und die Banken
ten andere, vielleicht ebenso traumatische Auswirkungen auf das einfach ihre Pforten schlossen, war der »arnerican way« für die ver-
Leben der Leute. Der Verlust der Arbeit und die Desintegration armten Arbeitermassen und Arbeitslosen plötzlich keine Selbstver-
von Gemeinwesen bedeuteten den Verlust der Regulierungsinstan- ständlichkeit mehr. Die Strukturverschiebungen, die den B ewegun-
zen, Ressourcen und Beziehungen, von denen die Struktur des All- gen der Schwarzen in den sechziger Jahren vorangingen, waren
tagslebens abhängig ist, und damit auch die Zerstörung der Struk- zwar für die Gesamtgesellschaft nicht auf so dramatische Weise
turen, die die Menschen an die bestehende Sozialordnung binden. erkennbar; für die Menschen, die durch sie entwurzelt wurden,
Und dennoch reichen oft weder die Frustrationen, die aus den öko- hatten sie dafür aber um so mehr Gewicht. Für die Schwarzen
nomischen Veränderungen erwachsen, noch der Zusammenbruch bedeuteten die Veränderungen der Südstaaten-Ökonomie nichts
des Alltagslebens aus, um Menschen zum Protest gegen ihr leidvol- weniger als die Auflösung des Ancien Regime der feudalen Planta-
les Dasein zu bewegen. Denn in der Regel machen sie Gott — wenn genherren, ebenso wie die anschließende Massenabwanderung in
nicht gar sich selbst — für ihr Leid verantwortlich. die Städte für sie die gewaltsame Verpflanzung in eine unbekannte
Damit aus diesen Traumata des Alltagslebens heraus eine Protest- Gesellschaft darstellte.
bewegung entstehen kann, müssen die von den Menschen erfah- Doch nicht allein die objektiven Bedingungen institutioneller
rene Benachteiligung und Zerrüttung sowohl als ungerecht wie Umwälzungen veranlassen Menschen, ihre Lage zu überdenken,
auch als veränderbar angesehen werden.' Die gesellschaftliche auch die gesellschaftlichen Eliten tragen unter Umständen zu die-
Ordnung, die gewöhnlich für gerecht und unverrückbar gehalten sem Bewußtseinsprozeß bei und wirken so dabei mit, die Massen
wird, muß erst als unrechtmäßig und verbesserungsfähig erschei- aufzurütteln — ein von Sozialwissenschaftlern oft beobachteterVor-
nen. Das Ausmaß des Elends ist dabei von entscheidender Bedeu- gang. Die herrschende Klasse verfolgt gewöhnlich das begründete
tung. In den dreißiger Jahren zum Beispiel und auch in der Nach- Interesse, den status quo zu bevvahren und die Fügsamkeit der
kriegszeit erreichte die Arbeitslosigkeit verheerende Ausmaße. unteren gesellschaftlichen Ränge sicherzustellen. Doch schnelle
Viele Menschen konnten sich ihren Lebensunterhalt nicht mehr institutionelle Veränderungen und Umwälzungen berühren die ver-
36 37
schiedenen Elitegruppen auf unterschiedliche Weise, sie können daß es außergewöhnlicher Störungen in weiten Bereichen der
die Macht bestimmter Teile der herrschenden Klasse unterminieren Gesellschaft bedarf, um die Apathie der Armen in Hoffnung, ihre
und die Macht anderer Teile vergrößern, so daß sich die Eliten in Ergebenheit in Empörung zu verwandeln." Zumindest in diesem
unterschiedliche Interessen aufspalten. Diese Uneinigkeit kann die Punkt — vielleicht dem einzigen — stimmen Theoretiker unter-
Autorität der Herrschenden untergraben, ebenso wie die Autorität schiedlichster Couleur überein. Darüber hinaus gibt es gute
der von ihnen gesetzten institutionellen Normen. Wenn im Zuge Gründe für die Annahme, daß eine Folge zusammenwirkender
des anschließenden Machtkampfes dann Teile der Elite versuchen, Strukturverschiebungen den Massenprotesten der dreißiger und
sich der Unterstützung der verarmten Massen zu versichern, indem sechziger Jahre zugrunde gelegen hat. Auf dieser Basis drängt sich
sie deren Forderungen für gerechtfertigt erklären, werden die Hoff- die Schlußfolgerung über die Möglichkeiten politischer Einfluß-
nungen der Unterschicht auf Veränderungen genährt, und die nahme der Armen schließlich förmlich auf: Da Perioden grundle-
Legitimität der sie unterdrückenden Institutionen verfällt» gender sozialer Strukturverschiebungen selten sind, erhält auch die
Es kommt sogar vor, daß die Massen den Eliten eine derartige Unterschicht nur selten Gelegenheit zum Protest.
Rolle andichten, obwohl diese sie keineswegs zum Protest ermutigt
haben. Hobsbawm beschreibt, wie ukrainische Bauern im Revolu-
tionsjahr 19°5 Landadlige und Juden in der festen Überzeugung Formen des Aufruhrs
ausplünderten, durch ein neueres Dekret des Zaren angewiesen
worden zu sein, sich zu nehmen, was sie wollten. Der Bericht eines Wie die Fügsamkeit der Menschen durch die Strukturen ihres All-
Grundbesitzers verdeutlicht dies: tagsiebens sichergestellt und die Entstehung von Unzufriedenheit
>Warum seid ihr gekommen? , fragte ich sie. durch Veränderungen ihrer Lebensverhältnisse herbeigeführt wird,
>Um Getreide zu verlangen, um dich zu zwingen, uns Getreide zu geben<, so wird auch die jeweilige Form des politischen Protests von dem
riefen einige Stimmen gleichzeitig ... institutionellen Kontext, in dem die Protestierenden leben und
Ich konnte mich nicht zurückhalten, ihnen ins Gedächtnis zu rufen, wie arbeiten, bestimmt. Obwohl uns dieser Punkt ganz selbstverständ-
ich sie so lange Zeit freigehalten hatte. lich erscheint, wird er dennoch meist übersehen, zum Teil, weil die
>Aber was sollen wir tun?, antworteten mir einige Stimmen. pluralistische Tradition politische Handlungen im wesentlichen als
>Wir machen dies nicht in unserem Namen, sondern im Namen des Zaren.< Ergebnis freier Entscheidung definiert. Man tut so, als seien politi-
>Es ist der Befehl des Zaren<, sagte eine Stimme in der Menge.
sche Akteure bei der Auswahl zwischen möglichen politischen
>Ein General hat diesen Befehl des Zaren in allen Distrikten verteilt<, sagte
Strategien nicht von ihrem sozialen Umfeld eingeengt; als würden
ein anderer.« ( 2 44-f.) 2
die von verschiedenen Gruppen verfolgten Strategien von diesen
Dieses Phänomen läßt sich nicht nur bei russischen Bauern beob- frei gewählt, als seien sie nicht vielmehr das Resultat von Ein-
achten. Als im Mai 1968 Sozialfürsorgeempfänger in New York für schränkungen, die sich aus der Position der Akteure in der Sozial-
Sonderzuwendungen demonstrierten, rechtfertigten sie ihre struktur ergeben. Im folgenden Abschnitt werden wir uns eher
Aktion auf ähnliche Weise: eine reiche Frau sei gestorben und habe überblicksartig der Frage zuwenden, inwieweit verschiedene For-
bestimmt, ihr Vermögen solle von den Fürsorgeämtern verteilt wer- men des Aufruhrs von institutionellen Bedingungen geprägt sind.
den. Diese Ereignisse deuten darauf hin, daß Menschen, selbst
wenn sie sich auflehnen, das Bedürfnis haben, ihrVerhalten zu legi- Das politische Wahlsystem als strukturierende Instanz
timieren, und daß die Autorität der Eliten zur Bestimmung von
Legitimität auch in angespannten und wirren Zeiten noch groß ist. In den Vereinigten Staaten wird die Form des Protests, zumindest
Unser hauptsächlicher Punkt ist jedoch, daß — unabhängig von in seinen Anfangsphasen, primär durch das politische Wahlsystem
den unterschiedlichen Auffassungen über die »Ursachen« von geprägt. Damit wollen wir allerdings nicht behaupten, daß das
Massenunruhen — allgemeine Übereinstimmung darüber besteht, Wahlsystem unter normalen Bedingungen die Möglichkeit der poli-

38 39
tischen Einflußnahme biete. Wir werden ganz im Gegenteil aufzei- indem sie sich mit überwältigender Mehrheit bei der Präsident-
gen, daß die Armen erst dann einen gewissen Einfluß gewinnen, schaftswahl gegen die Republikanische Partei stellte, für deren
wenn sie aus den vorgegebenen Bahnen parlamentarischer Wahlen Kandidaten sie seit 1896 meist gestimmt hatte.' Ähnlich war es bei
ausbrechen, denn nur die Instabilität und Polarisierung, die sie mit den wichtigen Präsidentschaftswahlen von 1956 und 196o, als die
ihren Protestaktionen in den Fabriken und auf den Straßen herauf- politische Bedeutung der Modernisierung und der Migrationsbe-
beschwören, werden die politischen Führer zu Reaktionen zwin- wegung erstmals deutlich wurde: Städtische Schwarze, die seit
gen. Ob es allerdings zu Aktionen in den Fabriken oder auf der 1936 in immer größerer Zahl die Demokraten gewählt hatten,
Straße kommt, hängt andererseits auch davon ab, welchen Kurs der begannen, sich wieder den Republikanern zuzuwenden oder gar
Protest in seiner frühen Phase an der Wahlurne einschlägt. nicht mehr zu wählen.
Es ist übrigens keineswegs verwunderlich, daß sich der Wider- Gewöhnlich rufen diese frühen Anzeichen politischer Instabilität
stand zunächst in Wahlentscheidungen ausdrückt, ist doch allen rasch Aktivitäten rivalisierender Politiker hervor, die sich bemü-
Bürgern, ob sie nun aufbegehren oder nicht, im Laufe ihrer politi- hen, die davonlaufenden Wählergruppen zu beschwichtigen — in
schen Sozialisation vermittelt worden, daß der Weg zur politischen diesem Stadium meist nur mit versöhnlichen Erklärungen. Je ern-
Veränderung über das Wahllokal führt. Um die Vitalität dieser poli- ster die Verluste bei den Wahlen oder je schärfer die Konkurrenz
tischen Kultur und ihrer normativen Kraft zu verstehen, die politi- zwischen den politischen Eliten, um so wahrscheinlicher werden
sche Unzufriedenheit immer wieder in den Akt des Wählens über- derartige symbolische Beschwichtigungsversuche unternommen
führt, genügt es nicht, ständig auf die allgegenwärtige Präsenz der werden. Sind aber die Ursachen der Unruhe und Empörung ernste-
liberalen politischen Ideologie in den USA und das Fehlen konkur- rer Natur, sind sie schwerwiegend und von Dauer, dann schüren die
rierender Ideologien hinzuweisen, denn genau diesen Umstand gilt rhetorischen Versöhnungsangebote nur das Feuer der Rebellion,
es zu erklären. Bestimmte Merkmale des Wahlsystems selbst wei- implizieren sie doch, daß einige der höchsten Politiker des Landes
sen schon auf eine Erklärung hin: seine Rituale, Siegesfeiern und sich mit der Empörung der unterprivilegierten Massen identifi-
Erfolgserlebnisse tragen ohne Zweifel dazu bei, das Vertrauen in zieren.
die gültigen Wahlverfahren zu erhalten. Es ist daher nicht unwich- Politische Führer spielen aber nicht nur bei der Stimulierung von
tig, daß weißen, männlichen Arbeitern schon zu einem sehr frühen Massenprotest eine einflußreiche Rolle, sondern auch bei der Her-
Zeitpunkt in der amerikanischen Geschichte das Wahlrecht ausbildung von Zielen und Forderungen der Protestierenden."
gewährt wurde, und daß sich ein aktives System lokaler Selbstver- Was nur als symbolische Beschwichtigung gedacht war, kann leicht
waltung entwickelte. Durch diese Mechanismen wurden weite zum Kristallisationspunkt der noch diffusen Ängste und unartiku-
Teile der Bevölkerung in die Rituale des Wahlkampfes einbezogen lierten Wut werden, von denen die Massen getrieben werden. So
und konnten an den symbolischen Belohnungen, die das System trugen beispielsweise anfängliche rhetorische Erklärungen libera-
bereithielt, teilhaben; einige kamen schließlich auch in den Genuß ler politischer Führer — zu denen auch Präsidenten der Vereinigten
der materiellen Vorteile des ziemlich ausgeprägten Patronagesy- Staaten gehörten — über die >ltechte« der Arbeiter und die
stems, das das amerikanische politische Leben kennzeichnete. Auf »Rechte« der Schwarzen nicht allein dazu bei, die Unzufriedenheit
diesem Boden gewachsene Überzeugungen sind nur schwer zu von Arbeitern und Schwarzen zu schüren, sondern halfen gleich-
erschüttern. zeitig dabei mit, die Unzufriedenheit auf eben die Forderungen zu
Dementsprechend ist auch heute noch in den USA gewöhnlich die konzentrieren, die von Politikern artikuliert worden waren.'Wenn
einschneidende Veränderung traditionellen Wählerverhaltens eines aber Menschen auf diese Weise symbolisch ermutigt werden, ohne
der ersten Anzeichen für verbreitete Unzufriedenheit.' In gewis- daß ihren Forderungen in der Praxis entsprochen wird, kann ihre
sem Sinne dient das Wahlsvstem dazu, das Ausmaß aufkommender Auflehnung durchaus den Rahmen der Wahlrituale und auch der
Unzufriedenheit zu messen und zu registrieren. So reagierte die politischen Normen des Gesellschaftssystems sprengen. Aus
städtische Arbeiterschaft 1932 auf die wirtschaftliche Katastrophe, Untertanen können dann in der Tat Rebellen werden; während
4° 4
aber ihre Rebellion aus der Sicht amerikanischer politischer Tradi- (Widerstand der Unterschicht führt natürlich oft zu Gewalttätig-
tion — oder auch in den Augen mancher »organizers« — häufig chao- keiten, wenn mächtigere Gruppen durch die Aufmüpfigkeit der
tisch erscheint, ist sie es in Wahrheit keineswegs: sie ist eine struk- Armen aufgeschreckt worden sind und Gewalt anwenden, um sie
turierte politische Handlung. Wenn Menschen in Aufruhr geraten, wieder gefügig zu machen. Die lange Liste von Gewalttätigkeiten
ist ihr Verhalten von sozialen Mustern geprägt, und im Rahmen die- im Verlauf von Protestbewegungen in den USA ist zum überwie-
ser Muster sind ihre Aktionen bis zu einem gewissen Grad bewußt genden Teil eine Liste der Gewalttätigkeiten staatlicher und priva-
und planmäßig. ter Repressionsorgane gegen die Protestierenden.)
Die erwähnten Vorurteile haben in der Öffentlichkeit ein Bild
Soziale Stellung und Formen der Auflehnung geschaffen, das Protestbewegungen von vornherein diskreditiert,
indem sie ihnen jede Bedeutung und Legitimität absprechen,
Im Gegensatz zu den angestrengten Bemühungen, die Ursachen anstatt ihr Auftreten zu erklären. Zwar kann die Schwächung sozia-
von Aufruhr zu erklären, ist der Frage, weshalb Aufruhr die eine ler Kontrollen, die mit drastischen Veränderungen der Lebensum-
oder andere Form annimmt, relativ wenig Aufmerksamkeit stände einhergeht, eine wichtige Voraussetzung für öffentlichen
geschenkt worden. Warum, mit anderen Worten, wird einmal Aufruhr sein; daraus folgt aber weder, daß die Infrastruktur des
gestreikt, ein andermal boykottiert, geplündert oder Feuer gelegt? gesellschaftlichen Lebens einfach zusammenbricht, noch, daß die
Vielleicht hat diese Frage deshalb so wenig Beachtung gefunden, Protestierenden auch die persönlich am stärksten Betroffenen und
weil rebellisches Verhalten häufig unreflektiert wirkt und Beobach- Verunsicherten sind. Ganz im Gegenteil: Menschen, die in einem
tern rational nicht erklärbar scheint — ähnlich der allgemeinen Auf- institutionellen Zusammenhang verwurzelt sind, die in regelmäßi-
fassung von Geisteskrankheit im 19. Jahrhundert. So charakteri- gen Beziehungen zu anderen Menschen mit ähnlichen Problemen
siert Parsons Reaktionen auf Spannungen als »irrational« (1965); stehen, sind oft viel eher dazu bereit, die Herrschenden, und nicht
Neil Smelser beschreibt kollektive Handlungen als »primitiv« und sich selbst, für ihre Not verantwortlich zu machen und sich zu kol-
»mysteriös« ; und Kornhauser attestiert Massenbewegungen Labi- lektivem Protest zusammenzuschließen.' So waren z. B. viele
lität sowie extremistische und antidemokratische Tendenzen. Viele Schwarze aus den Südstaaten, die sich an der Bürgerrechtsbewe-
Formen massenhafter Auflehnung werden deshalb oft nicht als gung beteiligten, zwar arm, erst kürzlich in die Stadt umgesiedelt
intelligentes politisches Verhalten erkannt, es sei denn, sie entwik- oder arbeitslos; sie waren aber auch durch die schwarzen Kirchen
kelten sich zu planmäßigen bewaffneten Aufständen. miteinander verbunden, die zur treibenden Kraft der Bewegung
Die verbreitete aber falsche Assoziierung von Unterschichtspro- wurden.'
test mit Gewalttätigkeit paßt ebenfalls zu dieser traditionellen Ebenso wie es den politischen Institutionen in den Vereinigten
Sichtweise, die in demonstrierenden Massen nur einen regellosen Staaten meist gelingt, Protest in Wahlverhalten zu lenken und even-
und gefährlichen Mob zu erkennen vermag: den entfesselten Bar- tuell sogar ganz einzudämmen — sofern die Empörung nicht zu
baren. Gewalttätige IVlassenaktionen sind sicherlich eine von vielen groß ist und das Wahlsystem flexibel genug erscheint —, so bestim-
Formen der Auflehnung, vielleicht sogar eine sehr elementare men andere institutionelle Lebensbereiche die Formen, die der Pro-
Form, denn sie verletzen die grundlegenden Gebote der zivilisier- test annimmt, sobald er die geordneten Bahnen elektoraler Politik
ten Gesellschaft. Unterschichtgruppen werden in der Tat manch- verläßt. Es ist folglich kein bloßer Zufall, wenn manche Menschen
mal gewalttätig, greifen Eigentum und Personen an; solches Verhal- streiken, andere sich an Straßentumulten beteiligen, Kornkam-
ten ist wohl um so wahrscheinlicher, je mehr ihnen aufgrund ihrer mern plündern oder Maschinen zerstören, denn so wie die Struktu-
sozialen Stellung die Möglichkeit anderer Formen von Auflehnung ren des Alltagslebens in normalen Zeiten den Gehorsam der Mas-
verwehrt ist. Häufiger jedoch sind sie gewaltlos, wenn auch mili- sen gewährleisten, wirken sich dieselben Strukturen entscheidend
tant. Gewaltanwendung ist schon deshalb selten, weil die Risiken darauf aus, welche Form die Auflehnung annimmt, wenn sie aus-
zu hoch sind; die Strafen zu furchterregend und abschreckend: 8 bricht.

42 43
Zum einen erfahren die Menschen Entbehrungen und Unterdrük- besteht hauptsächlich aus der Auflehnung gegen die Gebote und
kung unter ganz konkreten Bedingungen und nicht als Ergebnis Vorgesetzten am unmittelbaren Arbeitsplatz. Arbeitslose streiken
umfassender und abstrakter Prozesse. Es sind die konkreten Erfah- nicht, könnten es auch gar nicht, auch wenn sie realisierten, daß
rungen, die ihre Unzufriedenheit in spezifische Kritik an spezifi- Fabrikbesitzer und Unternehmer schuld an ihrem Los sind. Statt
schen Zuständen umformen. Arbeiter erleben die Fabrik, den zer- dessen versammeln sie sich zum Protest auf der Straße, wo sie auch
mürbenden Takt des Fließbandes, den Vorarbeiter, die Spitzel und sonst herumlungern, oder stürmen die Fürsorgeämter, und man
den Werkschutz, den Unternehmer und die Lohntüte. Den Mono- kann sich nur schwer vorstellen, daß sie anders handeln könnten.
polkapitalismus aber erleben sie nicht. Sozialfürsorgeempfänger Und dennoch wird ihnen ständig vorgehalten daß sie anders han-
erleben die schäbigen Warteräume, die Betreuer und Sachbearbei- deln müßten. In solchen Aufforderungen wird der Einfluß (und
ter, die hingeworfenen Almosen. Die amerikanische Wohlfahrtspo- auch die Absurdität) der pluralistischen Lehre besonders deutlich.
litik erleben sie nicht. Mieter erfahren, daß es durchregnet und daß Indem man die institutionell bestimmten Zwänge einfach leugnet,
die Heizungen kalt bleiben, und sie kennen ihren Vermieter. Das läßt sich Protest bequem diskreditieren, z. B. wenn Aufständische
System der Banken, Makler und Bauwirtschaft erkennen sie nicht. gerügt werden, daß sie sich mit ihren Problemen nicht an die wah-
Deshalb ist es keinWunder, daß die Armen ihre seltenen Proteste so ren Zentren der Macht gewandt und die falschen Ziele mit den fal-
oft gegen ihre Aufseher, gegen die Vermieter ihrer schäbigen Slum- schen Mitteln attackiert hätten. So tadeln Wohlfahrtsbürokraten
wohnungen oder gegen den kleinen Eckladenbesitzer richten und die Lahmlegung ihrer Ämter durch Fürsorgeempfänger und schla-
nicht gegen die Banken oder die herrschenden Eliten, denen der gen ihnen statt dessen vor, lieber eine Lobby im Staatsparlament
Aufseher, der Vermieter und der Krämer selbst untertan sind.' Es oder im Kongreß in Washington aufzubauen. Fürsorgeempfänger
sind also die tagtäglichen Erfahrungen der Menschen, die ihren haben aber meistens nicht einmal die Möglichkeit, in die jeweilige
Klagen Ausdruck geben, das Ausmaß ihrer Forderungen bestim- Staats- oder in die Bundeshauptstadt zu fahren, und wenn einige es
men und die Ziele bezeichnen, gegen die sich ihre Empörung dennoch schaffen, werden sie dort natürlich nicht beachtet.
richtet. Manchmal aber können sie ein Sozialamt durcheinanderbringen,
Zweitens prägen die Strukturen des Alltagslebens die Form von und das ist schon schwerer zu ignorieren.
Massenbewegungen, indem sie die Kollektivität schaffen, ohne die Ähnlich wurde als einer der beliebtesten Kritikpunkte an der stu-
es keinen Protest gäbe. Soziale Strukturen fügen Menschen zusam- dentischen Friedensbewegung — oft gerade von ehemaligen Sympa-
men oder verstreuen sie, formen Gruppenidentitäten, und schaffen thisanten — vorgebracht, es sei töricht von den Studenten gewesen,
Situationen, aus denen kollektive Aktionen erwachsen können. So dadurch gegen den Vietnam-Krieg zu protestieren, daß sie an den
bringt die Fabrikarbeit Männer und Frauen zusammen, setzt Universitäten demonstriert und schuldlose Administratoren und
gemeinsame Lernprozesse in Gang und lehrt sie, daß Kooperation Professoren angegriffen hätten. Es seien ja offenkundig nicht die
und kollektives Handeln möglich sind.22 Gelegenheitsarbeiter oder Universitäten gewesen, die den Krieg führten, argumentierten die
Kleinunternehmer sind dagegen aufgrund ihrer Tätigkeiten weit Kritiker, sondern der militärisch-industrielle Komplex. Die Stu-
verstreut und haben es deshalb viel schwerer, die Gemeinsamkeiten denten waren jedoch keineswegs töricht. Vielmehr machte es das
ihrer Situation wahrzunehmen und sich in kollektivem Handeln Wesen der Massenaktion unumgänglich, den Widerstand gegen den
zusammenzuschließen.23 Krieg innerhalb der Universitäten zu leisten, dort nämlich, wo die
Drittens und am wichtigsten: Die sozialen Rollen der Menschen Studenten physisch präsent waren und kollektiv handeln konnten,
in ihren jeweiligen institutionellen Bereichen bestimmen die strate- wo sie eine Rolle spielten, auf die die Institution angewiesen war.
gischen Möglichkeiten der Auflehnung, denn normalerweise prote- Nur deshalb hatte ihr Widerstand Gewicht.
stieren Menschen gegen die Regeln und Autoritäten, denen sie im Da unsere Beispiele den gegenteiligen Eindruck erwecken könn-
täglichen Leben unterworfen sind. Arbeiter wählen deshalb den ten, möchten wir an diesem wichtigen Punkt anmerken, daß der
Streik, weil ihre gemeinsame Welt die Fabrik ist, und ihr Kampf Glaube an die Freiheit der Entscheidung zwischen verschiedenen
44 45
politischen Strategien nicht allein diejenigen auszeichnet, die aber wegen seiner primären Bedeutung: ist er doch das Instrument,
großes persönliches Interesse an der Erhaltung bestimmter Insti- mit dem die am geringsten Privilegierten versuchen, den Herr-
tutionen haben, wie z. B. die Wohlfahrtsbürokratie oder Universi- schenden Zugeständnisse abzutrotzen. 25
tätsprofessoren. Sie ist auch nicht den Vertretern konservativer Nach unserem Urteil sollten Überlegungen über die Effektivität
politischer Richtungen vorbehalten. Radikale »organizers« gehen von Protest mit der Untersuchung beginnen, inwieweit die ver-
nämlich von genau derselben Annahme aus, wenn sie die Arbeiter- schiedenen Formen von Auflehnung die betroffenen Institutionen
schaft auffordern, sich auf die eine oder andere Weise zu organisie- zu erschüttern vermögen, um anschließend zu untersuchen, welche
ren und die eine oder andere politische Strategie zu verfolgen, sogar politischen Auswirkungen diese Erschütterungen haben. Die Wir-
wenn so gut wie alles dafür spricht, daß die gesellschaftlichen kung massenhafter Auflehnung wird, mit anderen Worten, nicht so
Bedingungen bestimmte Optionen nicht zulassen. Gelegenheiten sehr direkt, als vielmehr vermittelt spürbar. Protest ruft vor allem
zur Auflehnung werden nicht durch die Analyse von Machtstruk- dann ernste Erschütterungen einer Institution hervor, wenn die
turen geschaffen. Sollte es so etwas wie organisatorische Genialität Protestierenden eine zentrale Rolle in ihr spielen; weitergehende
geben, dann zeichnet sie sich durch die Fähigkeit aus, das unter ge- politische Auswirkungen sind wahrscheinlicher, wenn mächtige
gebenen Umständen Mögliche zu erkennen und den Menschen da- Gruppen starkes Interesse an den betroffenen Institutionen haben.
bei zu helfen, es zu realisieren. Meistens jedoch verlangen »organi- Diese Abhängigkeiten werden in der Literatur über soziale Bewe-
zers«, das Unmögliche zu tun—und das Resultat sind Niederlagen. gungen fast vollständig ignoriert; es gibt keinerlei Studien, die die
Unsere zweite allgemeine These heißt also, daß die Möglichkeiten unterschiedlichen Formen von Auflehnung, die Umstände, unter
zur Auflehnung von den Eigenheiten der jeweiligen institutionellen denen Menschen aufbegehren, die institutionellen Erschütterun-
Lebensbereiche bestimmt werden.' Mit einfachen Worten: man gen, die daraus folgen können, sowie die politischen Auswirkun-
kann nicht gegen Institutionen aufbegehren, zu denen man keinen gen dieser institutionellen Erschütterungen systematisieren und
Zugang hat und in denen man keine Rolle spielt. untersuchen.

Die Grenzen institutioneller Erschütterung


Die begrenzte Wirkung von Auflehnung
Der Begriff der institutionellen Erschütterung impliziert immer
Massenhafte Auflehnung ist also, wie wir gesehen haben, weder auch die offensichtliche Tatsache, daß das reibungslose Funktionie-
jederzeit möglich, noch kann die Form, in der sie zum Ausdruck ren einer jeden Institution von der Anpassung an etablierte Rollen
kommt, frei bestimmt werden. Darüber hinaus ist sie im allgemei- und der Befolgung festgesetzter Regeln abhängig ist. Auflehnung
nen von begrenzter politischer Wirkung. Es scheint allerdings, als vermag deshalb den normalen Ablauf in Institutionen zu stören.
seien bestimmte Protestformen wirkungsvoller als andere, was ein Die Maschinen stehen still, wenn die Arbeiter ihren Arbeitsplatz
nicht unbedeutendes analytisches Problem aufwirft. Es handelt verlassen oder einen Sitzstreik beginnen; die Wohlfahrtsbürokratie
sich dabei um eine Fragestellung, die in den bisherigen Untersu- gerät völlig durcheinander, wenn plötzlich große Menschenmen-
chungen über Protestbewegungen, besonders über zeitgenössische gen nach Unterstützung verlangen; Hausbesitzern droht die Pleite,
amerikanische Bewegungen, weitgehend ignoriert worden ist. Die wenn ihre Mieter sich weigern, die Miete zu zahlen. In all diesen
Literatur ist dagegen reich an Studien über die soziale Herkunft der Fällen hören Menschen auf, sich ihren gewohnten institutionellen
Protestierenden, die Determinanten von Führungsstilen oder die Rollen entsprechend zu verhalten; sie verweigern die gewohnte
Schwierigkeiten, organisatorische Kontinuität zu gewährleisten; es Kooperation, und indem sie dies tun, verursachen sie institutionelle
will scheinen, als würde man sich für den Protest vor allem interes- Erschütterungen.
sieren wegen der vielfältigen, faszinierenden Aspekte des gesell- Nach unserer Definition ist eine institutionelle Erschütterung das
schaftlichen Lebens, die von ihm aufgedeckt werden, am wenigsten Resultat einer negativen Sanktion, nämlich der Verweigerung eines

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wichtigen Beitrags, auf den andere angewiesen sind. Sie ist deshalb nungen, haben — ökonomisch unbedeutend und marginal, wie
ein natürliches Mittel, auf andere Druck auszuüben. Diese Form deren Eigentümer sind — nur selten die Möglichkeit, auf massive
der Machtausübung wird in der Tat auch regelmäßig von Indivi- Störungen mit größeren Konzessionen zu antworten.
duen wie von Gruppen, die durch viele Formen kooperativer Inter- Schließlich sind Unterschichtsgruppen nur selten in der Lage,
aktion miteinander in Verbindung stehen, praktiziert — vor allem sich vor Gegenschlägen zu schützen. Die Armen brauchen die
von Produzenten bestimmter Güter und Dienstleistungen. So hal- lange Geschichte verhafteter und erschossener Protestteilnehmer
ten zum Beispiel Farmer ihre Produkte vom Markt zurück, um die nicht unbedingt zu kennen, um diesen Punkt zu begreifen. Die
Agrarpreise hochzutreiben; Ärzte verweigern die Behandlung, Erfahrung, wie wehrlos sie sind, ist fester Bestandteil ihres Alltags:
wenn ihre Patienten nicht bereit sind, das geforderte Honorar zu jeder Polizeiübergriff, jedeWohnungsausweisung, jederVerlust des
zahlen; Ölgesellschaften halten ihre Vorräte zurück, bis Preiskon- Arbeitsplatzes, jede Streichung der Sozialbeihilfe ist in ihr Bewußt-
zessionen gemacht werden.' sein eingraviert. Schon die herabsetzenden Begriffe, mit denen
Wie groß der Einfluß jedoch wirklich ist, den eine Gruppe durch Auflehnung der Unterschicht versehen -wird — die abwertende
die Anwendung negativer Sanktionen erreichen kann, ist äußerst Etikettierung durch Illegalität und Gewalt —, zeugen von ihrer
unterschiedlich. Der Grad des Einflusses hängt erstens davon ab, Wehrlosigkeit und dienen zudem noch als Rechtfertigung für häu-
ob der zurückgehaltene Beitrag für andere entscheidende Bedeu- fige und schwerwiegende Vergeltungsmaßnahmen. Indem wir eine
tung hat oder nicht; zweitens, ob die von der Erschütterung Betrof- solche Etikettierung als selbstverständlich hinnehmen, verkennen
fenen in der Lage sind, Zugeständnisse zu machen; und drittens, ob wir, was all dies wirklich repräsentiert: die Struktur politischen
die aufbegehrende Gruppe sich wirksam vor Gegenschlägen schüt- Zwangs als inhärenter Bestandteil des Alltagslebens der Unter-
zen kann. Diese Kriterien machen deutlich, daß die Armen norma- schicht.
lerweise nicht in der strategischen Position sind, aus ihrer Aufleh- Wenden wir uns nun der verbreiteten Assoziierung von Aufruhr
nung Profit zu schlagen. mit Spontaneität zu, die vielleicht ein weiteres Relikt der traditio-
So befinden sich die unteren Schichten, im Vergleich zu den mei- nellen Denkweisen über Aufstände der Unterschicht darstellt;
sten Produzentengruppen, häufig an einer allzu unwichtigen Posi- allerdings ist der Sachverhalt in diesem Fall etwas komplizierter.
tion im Institutionengefüge, um Erschütterungen als Taktik zur Institutionelle Erschütterungen an sich sind nicht notwendig die
Verstärkung ihres Einflusses benutzen zu können. Viele Unter- Folge spontaner Aktionen; von Unterschichtsgruppen ausgehende
schichtsangehörige befinden sich in Positionen, die ihre Koopera- Störaktionen aber sind es sehr oft — zumindest in dem Sinne, daß sie
tion für den Bestand wichtiger Institutionen nicht erforderlich von formellen Organisationen weder geplant noch durchgeführt
machen. Wer zum Beispiel in gesamtwirtschaftlich unbedeutenden werden. Diese Tatsache ist einerseits ein Beleg für das geringe Maß
Unternehmen arbeitet, wer nur nebensächliche Funktionen in organisatorischer Stabilität in der Armutsbevölkerung, und ande-
Großunternehmen ausübt oder wer überhaupt arbeitslos ist, der rerseits für das vorsichtige und zurückhaltende Taktieren derjeni-
übt keinerlei Rolle aus, auf die bedeutende Institutionen angewie- gen Organisationen, denen es gelingt, zu überleben. Aber selbst
sen wären. Bisweilen sind Arme in der Tat so weitgehend von der wenn es stabile Organisationen gäbe, die nicht ständig zu vorsichti-
Teilnahme an gesellschaftlichen Institutionen ausgeschlossen, daß gem Taktieren gezwungen wären, um zu überleben, blieben die
der einzige »Beitrag«, den sie verweigern könnten, ihre passive Umstände, die zu massenhafter Auflehnung der Unterschicht füh-
Duldsamkeit ist — für sie bleibt Aufruhr der einzige Ausweg. ren, nur äußerst schwer vorherzubestimmen; kommt es dann zur
Darüber hinaus verfügen die Leiter gerade der Institutionen, in Auflehnung, können die Führer sie nur schwer unter Kontrolle hal-
denen sich viele Unterschichtsangehörige wiederfinden, nur selten ten. Rosa Luxemburgs Anmerkungen zum Massenstreik treffen
über die Möglichkeit, den Rebellierenden Zugeständnisse zu genau diesen Sachverhalt :
machen. Die wenigen Institutionen, in denen Unterschichtsgrup- »... der Massenstreik [wird] nicht künstlich >gemacht<, nicht ins Blaue hin-
pen wichtige Rollen spielen, wie »sweatshops« oder Slum-Woh- ein >beschlossen<, nicht propagiert ..., sondern ... er [ist] eine historische

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Erscheinung ..., die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnis- nur das Leben ihrer eigenen Gemeinde ins Chaos stürzen, wie in
sen mit geschichtlicher Notwendigkeit ergibt. ... den Einwandererslums des 19. Jahrhunderts geschehen, mag das
Wollte es jemand unternehmen, den Massenstreik überhaupt als eine Form
furchterregend wirken, doch läßt sich das Geschehen auf die Slums
der proletarischen Aktion zum Gegenstand einer regelrechten Agitation zu
machen, mit dieser >Idee< hausieren zu gehen, um für sie die Arbeiterschaft
selbst begrenzen; die Bedeutung für die Gesellschaft als ganzes ist
nach und nach zu gewinnen, so wäre das eine ebenso müßige, aber auch gering und auch das Wohlergehen anderer, wichtiger Gruppen
ebenso öde und abgeschmackte Beschäftigung, wie wenn jemand die Idee bleibt unberührt. Dasselbe trifft zu auf verarmte Mobs, die nach
der Revolution oder des Barrikadenkampfes zum Gegenstand einer beson- öffentlicher Unterstützung verlangen; sie können einzelne Wohl-
deren Agitation machen wollte.« (icof.) fahrtsämter ins Chaos stürzen, aber Chaos in Wohlfahrtsämtern ist
Auch wenn Unterschichtsangehörige also nur selten die Möglich- kein sonderliches Problem für die Gesellschaft als ganzes, oder für
keit haben, Institutionen nachhaltig zu erschüttern, und obwohl -wichtige Gruppen. Zu repressiven Maßnahmen wird erst gegriffen,
diese seltenen Möglichkeiten nicht einmal exakt geplant werden wenn zentrale gesellschaftliche Institutionen betroffen sind, etwa
können, sind sie doch das einzige Machtmittel, das sie besitzen. Ob als Ende des 19. Jahrhunderts die Eisenbahner mit ihren Streiks
sie dieses Mittel einsetzen oder nicht, wie potentielle Erfolge und und Ausschreitungen das Transportwesen lahmzulegen drohten,
Risiken abzuwägen sind — das wird nicht in Vorstandszimmern ent- oder als nach dem Ersten Weltkrieg in Boston die Polizisten streik-
schieden, sondern ergibt sich von selbst aus den schrecklichen Not- ten. Doch ob sie nun ignoriert oder bestraft werden, eine dieser bei-
lagen, in denen sich diese Menschen in wirren und gespannten Zei- den Reaktionsformen erwarten die Armen normalerweise von der
ten befinden.27 Und in eben solchen Zeiten kann das Aufbegehren Regierung, denn dies sind die Reaktionen, die sie gewöhnlich her-
der Armen eine Sprengkraft entwickeln, die über den Rahmen der vorrufen. 28
direkt betroffenen Institutionen hinausgeht. Protestbe-wegungen entstehen jedoch nicht in normalen, stabilen
Zeiten; sie entstehen, wenn tiefgreifende Veränderungen die politi-
Die Grenzen politischer Erschütterung sche Stabilität unterhöhlen. Wie wir schon festgestellt haben, ist es
dieser Zusammenhang, der den Armen Hoffnung gibt und ihr Auf-
Letztlich ist der Einfluß der Armen nicht daran zu messen, wie ihr begehren überhaupt erst möglich macht. Es ist dieser Zusammen-
Aufruhr einzelne Institutionen trifft, sondern daran, welche Aus- hang, der auch die politischen Führer durch Proteste der Armuts-
wirkungen auf das politische System er besitzt. Auf dieser Ebene bevölkerung in gewisser Weise verwundbar macht.
kommt jedoch eine neue Gruppe von Strukturelementen ins Spiel, In Zeiten schneller ökonomischer und sozialer Veränderungen
denn der politische Einfluß institutioneller Erschütterungen wird fällt es den Politikern weit schwerer, Unruhen zu ignorierenen oder
durch das politische Wahlsystem vermittelt. Strafmaßnahmen zu ergreifen. In solchen Zeiten wird das Verhält-
Die Reaktionen auf Protestaktionen unterscheiden sich je nach nis der Politiker zu ihrenWählern leicht ungewiß.29 Dieser Zustand
ihrer Bedeutung für den Wahlausgang. In Phasen der Stabilität hat politischer Unsicherheit macht das Regime wesentlich empfindli-
die Regierung drei ziemlich einleuchtende Möglichkeiten, auf Mas- cher für Unruhen, denn nicht nur steigt die Gefahr, daß zunächst
senprotest zu reagieren: sie kann ihn ignorieren, sie kann Strafmaß- unbeteiligte Gruppen aktiviert werden könnten — in Schattschnei-
nahmen gegen die Protestierenden ergreifen, oder sie kann versu- ders Terminologie: der Konfliktbereich wird erweitert —, sondern
chen, die Lage durch Zugeständnisse zu entschärfen. Wenn die sich dieser Konfliktbereich wird ausgerechnet zu einem Zeitpunkt aus-
auflehnende Gruppe ohnehin kaum eigenen politischen Einfluß gedehnt, zu dem politische Bindungen bereits unzuverlässig
hat — wie es für Unterschichtsgruppen typisch ist —, wird sie entwe- geworden sind."
der ignoriert oder unterdrückt werden. Sie wird vermutlich igno- Wenn die politische Führung sich ihrer Unterstützung nicht mehr
riert, wenn die erschütterte Institution keine zentrale gesellschaftli- sicher sein kann, lassen sich nicht einmal mehr Erschütterungen in
che Rolle spielt und auch für andere, wichtigere Gruppen keine peripheren Institutionen gefahrlos ignorieren, denn allein das Auf-
Bedeutung hat. Wenn also Männer und Frauen Amok laufen, aber treten von Problemen und Unordnung wird bedrohlich, wenn politi-
5° 5 I
sehe Bindungen instabil geworden sind. Wenn die gestörten Institu- ihnen reine Feigenblattfunktionen zuschreibt — es bleibt eine Tatsa-
tionen dazu noch von zentraler Bedeutung für die Wirtschaft oder für che, daß diese Konzessionen von der Regierung keineswegs leich-
die Stabilität des gesellschaftlichen Lebens sind, dann wird die Wie- ten Herzens gemacht wurden. In jedem dieser Fälle setzte die
derherstellung geordneter Zustände unumgänglich, will das Regime Reform einen mehr oder weniger heftigen Bruch mit der traditio-
die Unterstützung seiner Wähler nicht verlieren. Als z. B. die Indu- nellen Anpassung staatlicher Politik an die Interessen privater
striearbeiter in den dreißiger Jahren massenhaft streikten, gefährdeten Eliten voraus. Die liberale Wohlfahrtspolitik des New Deal mußte
sie die gesamte Wirtschaft des Landes und — angesichts des dama- beispielsweise gegen die breite Opposition der Wirtschaft durchge-
ligen instabilen Wählerverhaltens — die gesamte Zukunft der natio- setzt werden. Auch die streikenden Arbeiter konnten in den dreißi-
nalen politischen Führung. Unter diesen Bedingungen konnte es ger Jahren ihre Lohnforderungen nur deshalb gegen die Konzerne
sich die Regierung kaum leisten, die Unruhen zu ignorieren. durchsetzen, weil führende Politiker aus Bund und Einzelstaaten
Allerdings konnte die Regierung es damals ebenfalls nicht riskie- mit der alten Tradition brachen, Streiks von Polizei und Militär nie-
ren, die Streikenden mit massiver Gewalt zu unterdrücken. Sie derschlagen zu lassen. Die Aufhebung der Rassentrennung in
konnte, mit anderen Worten, nicht mehr einfach von ihrer Option öffentlichen Einrichtungen schließlich wurde möglich, weil sich
der Unterdrückung Gebrauch machen. Zum einen hatten die strei- Bundespolitiker der Demokratischen Partei gegen ihre alten Ver-
kenden Arbeiter, wie später auch die Bürgerrechtsdemonstranten bündeten aus den Plantageneliten im Süden stellten. Die Zuge-
der sechziger Jahre, beträchtliche Sympathie bei Gruppen gewon- ständnisse kamen in all diesen Fällen erst zustande, als sich die ver-
nen, die zu den entscheidenden Stützen des Regimes gehörten. Zum antwortlichen Politiker aus Sorge um ihr politisches Überleben
anderen machen instabile politische Verhältnisse Gewaltanwen- gezwungen sahen, bestimmte Maßnahmen auch gegen den hefti-
dung zu riskant, da sich die Reaktion anderer, ebenfalls unzufriede- gen Widerstand ökonomischer Eliten durchzuführen. Kurzum:
ner Gruppen nicht voraussagen läßt — es sei denn, die aufsässigen Bei einer schwerwiegenden Störung des Wählerverhaltens wird das
Gruppen gehören im wesentlichen zu den sozial Ausgestoßenen, Bündnis zwischen politischer und privater Macht gelegentlich,
was den Regierenden erlauben würde, den Haß der Öffentlichkeit wenn auch nur kurzfristig, brüchig. In diesen kurzen Momenten
gegen sie zu mobilisieren. Ist die Regierung also weder in der Lage, können die Armen durch Aufruhr ihre Lage verbessern.'
die Rebellen zu ignorieren, noch bereit, das Risiko repressiver Die zweite Beschwichtigungsvariante besteht aus dem Versuch,
Maßnahmen auf sich zu nehmen, muß sie versuchen, die Prote- den Aufruhr nicht allein durch Eingehen auf die unmittelbaren For-
stierenden zu beschwichtigen und ihrer Bewegung die Spitze abzu- derungen der Protestierenden einzudämmen, sondern die Energie
und Wut der Protestierenden in legitimere und weniger explosive
brechen.
Gewöhnlich bieten sich verschiedene Varianten der Beschwichti- Bahnen politischen Verhaltens zu lenken, unter anderem, indem
gung an: Die erste und offenkundigste Variante besteht darin, daß den Anführern lohnende Angebote gemacht werden — mit anderen
die politischen Führer Konzessionen anbieten oder gegebenenfalls Worten: indem man sie kooptiert. So wurden Demonstranten für
die Eliten des privaten Sektors drängen, Zugeständnisse zu bessere Sozialfürsorge sowohl in den dreißiger wie in den sechzi-
machen, um den dringendsten — ideellen wie materiellen — Klagen ger Jahren dazu ermutigt, den offiziellen Beschwerdeweg einzu-
der sich auflehnenden Gruppe abzuhelfen. So wurden den Arbeits- schlagen, statt »einfach nur« Sozialämter zu stürmen. Gleichzeitig
losengruppen in den dreißiger Jahren Beihilfen zugesichert; strei- bot man den Führern der Bewegung Positionen als Berater der
kende Arbeiter bekamen mehr Lohn und kürzere Arbeitszeit; und Wohlfahrtsbehörden an. In den sechziger Jahren vertauschten Bür-
den massiven Bürgerrechtsdemonstrationen begegnete man in den gerrechtsaktivisten die Straße mit Posten in den »Great Society«-
sechziger Jahren mit der Aufhebung der Rassentrennung in öffent- Programmen'', und als sich die Gettoaufstände in den Städten des
lichen Einrichtungen. Die »Great Society» war das große gesellschaftspolitische Programm Präsident
Ob man derartige Maßnahmen nun als Beweise für das Reform- Johnsons zur Bekämpfung der Armut und Herstellung sozialer Gerechtigkeit. Trä-
potential der amerikanischen politischen Institutionen nimmt oder ger des Programms sollte die alte liberale Koalition Roosevelts aus Gewerkschaften,

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Nordens ausbreiteten, wurden die Anführer zu »Dialogen« mit Der »Social Security Act« raubte dem Townsend-Plan also die
Lokalpolitikern eingeladen und manchem von ihnen Positionen in Unterstützung der Öffentlichkeit, ohne für die Alten von Nut-
städtischen Behörden angeboten.' zen zu sein. Die Liste staatlicher Maßnahmen mit diesem Effekt
Die dritte Variante möglicher Regierungsmaßnahmen dient nicht ist lang. Die in den sechziger Jahren großartig verkündeten Bun-
der Beschwichtigung der Protestierenden, sondern soll die Sym- desprogramme für die Gettos waren weder ausreichend geplant
pathie untergraben, die ihnen in der Öffentlichkeit entgegenge- noch finanziell abgesichert, um eine wesentliche Linderung der
bracht wird. Gewöhnlich werden neue Programme verkündet, die Armut oder der Traumata des Gettolebens erreichen zu können.
die Forderungen der Bewegung scheinbar erfüllen und ihr somit Die mit diesen Programmen verbundene Publizität — all das Trara
die weitere moralische Unterstützung der Öffentlichkeit rauben, über den »Krieg gegen die Armut« und die Entwicklung von »Mo-
ohne daß tatsächlich reale Zugeständnisse gemacht wurden. Ein dell-Städten« — trug jedoch entscheidend dazu hei, die aufgebrach-
schlagendes Beispiel für diese Politik war die Verabschiedung der ten liberalen Sympathisanten der städtischen Schwarzen zu beru-
Rentenbestimmungen des »Social Security Act«*. Die in der Town- higen.
send-Bewegung organisierten Senioren hatten Renten in Höhe von Letztlich setzt die scheinbare Erfüllung von Forderungen die
monatlich 2oo Dollar ohne Einschränkungen gefordert. Rund 25 Regierung auch wieder in die Lage, ohne Risiko repressive Maß-
Millionen Unterschriften hatten sie für ein entsprechendes Gesetz nahmen zu ergreifen. In der Regel werden jetzt die militanten Füh-
gesammelt. Der schließlich verabschiedete »Social Security Act« rer und Gruppen, die sich von den Scheinkonzessionen nicht
enthielt dann zwar Bestimmungen, die den Lebensabend vieler haben besänftigen lassen, herausgegriffen und zu Opfern willkürli-
zukünftiger Rentner sicherten, für die Mitglieder der Townsend- cher Polizeiaktionen, aber auch formeller, legaler Schikanierung
Bewegung aber war er bedeutungslos. Das neue Versicherungssy- durch Kongreßausschüsse oder Gerichte gemacht. Flankiert von
stem basierte nämlich auf der Zahlung von Beiträgen während des den weithin publizierten Bemühungen der Regierung, die Lage der
Arbeitslebens — die schon damals Alten hatten jedoch nie Beiträge unzufriedenen Gruppen zu verbessern, erregen repressive Maß-
gezahlt und waren folglich nicht rentenberechtigt. Und auch wenn nahmen dieser Art nur noch selten die Empörung der sympathisie-
sie es gewesen wären, hätten viele von ihnen den vorgesehenen renden Öffentlichkeit. Diese Doppelstrategie verleiht der Regie-
Beginn der Zahlungen, sieben Jahre nach der Verabschiedung des rung zusätzlich die Aura der Ausgewogenheit und Klugheit.
Gesetzes, ohnehin nicht mehr erlebt. Doch die Rentenbestimmun- Als wichtigste Erkenntnis bleibt festzuhalten, daß die politische
gen des »Social Security Act« erfüllten die moralischen Ansprüche Relevanz institutioneller Erschütterungen vom jeweiligen politi-
der Seniorenbewegung. Prinzipiell hatte die Regierung Maßnah- schen Wahlverhalten abhängig ist. Sogar schwere Erschütterungen,
men ergriffen, um für die Alten Amerikas zu sorgen, und so gelang wie Streiks in der Großindustrie, werden nur dann Konzessionen
es ihr, jeglicher Identifizierung der zukünftigen Rentner mit den erzwingen, wenn die Proteste von instabilem Wählerverhalten
bereits jetzt aus dem Erwerbsleben Ausgeschiedenen zu zerstören. begünstigt werden. Aber selbst wenn die Regierung gezwungen ist
fortschrittlichem Bürgertum, Schwarzen und linksliberalen Intellektuellen, vereint zu reagieren, können die Protestierenden ihr nicht den Inhalt ihrer
in der Demokratischen Partei, sein. Tatsächlich konnten einige Programme initiiert Reaktionen diktieren. Über die Vielfalt der spezifischen Umstände,
werden, die ', Great Society. zerbrach jedoch mit dem Ende der Johnson-Admini- von denen Erfolg und Scheitern von Protestbewegungen abhängig
stration. (Anm. d. Ü.)
Der »Social Security Act, , von r93S umfaßte drei Hauptpunkte: erstens ein Sozial-
sind, haben wir noch viel zu lernen.
fürsorge-Programm, das Zuschüsse des Bundes an die Einzelstaaten für die Unter-
stützung von Bedürftigen, Alten, Blinden und abhängigen Kindern vorsah; zwei- Der Niedergang des Protests
tens das Rentenversicherungssystem, das heute meist gemeint ist, wenn von »social
security gesprochen wird; drittens ein Arbeitslosenunterstützungs-Programm, das
den bundesgesetzlichen Rahmen für die Gesetzgebung der Einzelstaaten schuf. Die Es überrascht nicht, daß die koordinierten Regierungsmaßnahmen
konkrete Ausformung ist von Staat zu Staat unterschiedlich, besonders in bezug auf — Konzessionen auf der einen, Unterdrückung auf der anderen
die Höhe und Dauer der Zahlungen. (Anm. d. U.) Seite — gewöhnlich zum Zerfall der Protestbewegung führen,
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indem sie zum einen die Bewegung selbst, zum anderen das poli- das Koalitionsrecht, das Wahlrecht, die schwarze Beteiligung in der
tische Klima, in dem der Protest gedeihen konnte, verändern. Stadtverwaltung — nicht zuletzt Reaktionen auf ganz spezifische
Danach ist das Arsenal der institutionellen Kontrollen wieder Forderungen der Protestierenden selbst. Allem Anschein nach
voll funktionstüchtig: Protest wird wieder im Keim erstickt, hatte die Regierung nur gehandelt, um Mißständen abzuhelfen.
und der Unterschicht aufs neue jeglicher politische Einfluß ver- Doch so geradlinig war der gesamte Prozeß keineswegs. Wie schon
wehrt. angedeutet, waren die Bewegungen durch die Interaktion mit Eli-
Wir schrieben, eine mögliche Variante von Regierungsmaßnah- ten entstanden und ihre Forderungen zum Teil nach Ermunterung
men bestehe darin, den Protestierenden Konzessionen zu ma- durch führende Politiker formuliert worden. Es war kein bloßer
chen, einigen ihrer — symbolischen oder materiellen — Forderungen Zufall, daß Parteipolitiker gerade Forderungen wie die nach dem
nachzugeben. Derartige Zugeständnisse sind jedoch vermutlich Recht auf gewerkschaftliche Organisierung, dem Wahlrecht oder
kaum von besonderer Bedeutung für den Niedergang einer Pro- dem Recht auf »Bürgerbeteiligung« für gerechtfertigt erklärten. In
testbewegung. Einerseits sind die Zugeständnisse in der Regel jedem dieser Fälle reagierten Eliten auf Unzufriedenheit, indem sie
ohnehin nur mäßig bis unbedeutend; andererseits demonstrieren Reformen vorschlugen, mit denen sie sich auskannten und die im
selbst bescheidene Zugeständnisse, daß Protest »funktioniert« — wesentlichen daraus bestanden, etablierte politische Verfahren auf
ein Umstand, von dem ebensogut angenommen werden könn- neue Gruppen oder neue Politikbereiche auszudehnen. Tarifver-
te, daß er einer Bewegung weiteren Auftrieb gibt, anstatt sie zu handlungen sind nicht in den dreißiger Jahren erfunden worden
zügeln. und das Wahlrecht nicht in den sechziger Jahren. Vom Aufruhr
In der Regel jedoch haben alle Konzessionen einen entscheiden- angetrieben, schlugen die Politiker Reformen vor, die in gewisser
den Haken. Wenn sie überhaupt gewährt werden, sind sie gewöhn- Weise bereits von den bestehenden Gesellschaftsstrukturen vorge-
lich Teil eines ganzen Pakets von Maßnahmen zur Reintegration geben waren und aus dem Repertoire bewährter Traditionen
der Bewegung in den normalen politischen Prozeß und ihrer stammten. Das aufgebrachte Volk reagierte dann auch tatsächlich
Anführer in stabile institutionelle Rollen. So bedeutete das in den mit der Forderung nach dem, was politische Führer ihm in den
großen und militanten Streiks der dreißiger Jahre erkämpfte Koali- Mund gelegt hatten. Hätte es durch einen historischen Zufall
tionsrecht der Industriearbeiter, daß diese ihre Interessen fortan im anders gehandelt, hätten beispielsweise die Industriearbeiter die
Rahmen neugeschaffener Beschwerdeverfahren und nicht mehr in Vergesellschaftung der Fabriken verlangt — bekommen hätten sie,
Sitz- oder wilden Streiks zu vertreten hatten; und die jetzt in offi- wenn überhaupt etwas, vermutlich trotzdem das Koalitionsrecht;
zielle Beziehungen zum Management und in die Gremien der hätten die verarmten Schwarzen im Süden eine Landreform gefor-
Demokratischen Partei integrierten neuen Gewerkschaftsführer dert, wäre ihnen wahrscheinlich auch dann das Wahlrecht zuge-
entwickelten sich bald zu den ideologischen Verfechtern und orga- sprochen worden.
nisatorischen Anführern dieser neuen, auf Normalisierung und Parallel zu den Bemühungen, unzufriedene Gruppen zu reinte-
Mäßigung beruhenden Strategie. Ähnliches gilt für die Schwarzen: grieren und zu weniger explosivem politischen Verhalten zu bewe-
als sie in den sechziger Jahren im Süden das Wahlrecht erkämpft gen, ist die Regierung ständig bemüht, Protestbewegungen von
und in den nördlichen Großstädten als Folge der Gettounruhen möglichen Bündnispartnern zu isolieren und dadurch die Moral
einen Anteil am politischen Patronagesystem erlangt hatten, wur- der Protestierenden zu brechen. Wenn die Bewegung schließlich
den ihre führenden Vertreter zusehends von bürokratischen Appa- infolge all dieser Einflüsse zerfällt — wenn die Führer von neuen
raten und Parteipolitik absorbiert und zu ideologischen Verfech- Betätigungsfeldern angezogen und die einfachen Mitglieder entwe-
tern einer Strategieverschiebung »vom Protest zur Politik« der beschwichtigt, verwirrt oder entmutigt worden sind — dann
(Rustin).33 werden durch die demonstrative Anwendung repressiver Gewalt
Dieser Aspekt staatlicher Maßnahmen verdient nähere Betrach- gegen widerspenstige Elemente die wenigen noch verbliebenen
tung, waren doch dic bedeutendsten reintegrativen Maßnahmen — Aktivisten aufgerieben.
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Die weiterreichenden Veränderungen gehen jedoch nicht in der Restbestände der Reform
Bewegung selbst vor, sondern in dem politischen Umfeld, in dem
die Bewegung ursprünglich gedeihen konnte. Die Aufrührer und Wenn der Protest verebbt ist, werden Zugeständnisse häufig wieder
Rebellen, die die eigentliche Bewegung bilden, stellen ja nur einen zurückgenommen. Wenn also z.B. die Arbeitslosen besänftigt sind,
kleinen Teil der gesamten unzufriedenen Bevölkerungsgruppe dar, werden viele von ihnen wieder von den Unterstützungslisten
aus der sie hervorgegangen sind. Nun könnte man annehmen, daß gestrichen, obwohl sie noch immer arbeitslos sind; wenn sich die
kooptierte Sprecher durch andere ersetzt werden und daß für Lage im Getto beruhigt hat, werden die Zwangsräumungen wieder
beschwichtigte oder entmutigte Mitstreiter andere nachrücken. aufgenommen. Der Grund für diesen Umschwung ist einfach
Dem ist jedoch nicht so, denn die Regierungsmaßnahmen vernich- genug: Da die Armen keine Bedrohung mehr darstellen, haben sie
ten nicht allein die Bewegung, sie verwandeln auch das politische jeden Einfluß auf die Politik verloren; ein Grund, den Armen ent-
Klima, das den Protest erst ermöglicht hat. Die Konzessionen an gegenzukommen, existiert nicht mehr. Ganz im Gegenteil, das
die Bewegung, die Bemühungen, »sie in das System zurückzufüh- politische Klima wird jetzt nicht selten von Feindseligkeit gegen-
ren«, und vor allem die auf potentielle Anhänger zielenden Maß- über den Armen bestimmt, weil die erzwungenen Zugeständnisse
nahmen schaffen das überzeugende Image einer wohltätigen und mit großer Wahrscheinlichkeit zur Zielscheibe der Mißgunst ande-
verständnisvollen Regierung, die sich der Not ihrer Bürger rer Gruppen werden.
annimmt und Probleme entschlossen anpackt. Meist versiegt dar- Es gibt allerdings Zugeständnisse, die nicht zurückgenommen
aufhin die einmal vorhandene Unterstützung aus der Öffentlich- werden. Auch nachdem der Aufruhr verebbt ist, bleiben wichtige
keit. Darüber hinaus ruft die Demonstration staatlicher Wohltätig- institutionelle Veränderungen zuweilen unangetastet. So wurde das
keit antagonistische Gruppen auf den Plan und fördert feindselige gewerkschaftliche Koalitionsrecht nicht wieder zurückgenommen,
Stimmungen bislang eher neutraler Gesellschaftsschichten. Die nachdem der Arbeitsfrieden wiederhergestellt war (obwohl eine
öffentliche Meinung beginnt umzuschlagen: gegen die Gewerk- Reihe von gewerkschaftlichen Rechten später beschnitten wurde).
schaften zum Ende der dreißiger, gegen die Schwarzen in den spä- Und es ist unwahrscheinlich, daß den Schwarzen im Süden das
ten sechziger Jahren. In diesem Prozeß ändern auch die Regie- Wahlrecht wieder entzogen werden könnte (obwohl das nach der
rungspolitiker ihre Haltung, vor allem, wenn sie von politischen Rekonstruktionsphase im Anschluß an den Bürgerkrieg schon ein-
Gegenspielern herausgefordert werden, die den öffentlichen IVIei- mal geschehen ist). Warum aber werden gewisse Zugeständnisse
nungsumschwung und die resultierende geschwächte Position der wieder zurückgenommen, während andere zu bleibenden Struk-
Amtsinhaber sehr wohl registriert haben. In den späten sechziger turreformen werden?
Jahren machten sich beispielsweise Politiker der Republikanischen Die Antwort ist vielleicht, daß einige der in unruhigen Zeiten
Partei die wachsenden Ressentiments der weißen Bevölkerung durchgeführten Reformen allzu kostspielig oder anderen Gruppen
gegen die Schwarzen zunutze, um Demokratische Wähler zu ein Dorn im Auge sind und ohnehin nur unter äußerstem Zwang
gewinnen: Lauthals forderten sie »Recht und Ordnung« und akzeptiert wurden, während andere sich als durchaus mit den Inter-
»workfare not welfare« (die Koppelung von Fürsorgeleistungen an essen einflußreicher, vor allem herrschender ökonomischer Grup-
Arbeitswilligkeit) — die Codeworte für Rassenantagonismus. Der- pen vereinbar (oder zumindest nicht als unvereinbar) erweisen.
artige Veränderungen verkünden Unheil. Wo einst prominente Diese Feststellung klingt ein wenig nach Konspirationstheorie, tat-
Politiker große Reden hielten und den Armen Mut machten, verfal- sächlich hat der Prozeß mit einer Verschwörung jedoch nichts zu
len sie nun in eine Rhetorik, die alle Hoffnung auslöscht und tun. Zwar hatten sich wichtige Industrielle der gewerkschaftlichen
Furcht in die Herzen pflanzt. Es sollte deutlich geworden sein, daß, Organisierung zunächst widersetzt; nachdem sie aber gezwungen
wenn diese verschiedenen Umstände zusammenkommen, Aufleh- worden waren, sie um des industriellen Friedens willen zu akzep-
nung nicht länger möglich ist. tieren, entdeckten sie mit der Zeit, welch nützliche Rolle die
Gewerkschaften als Ordnungsfaktor spielten. Das Problem, wie

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Industriearbeiter am wirkungsvollsten diszipliniert werden konn- Eine Anmerkung zur Rolle der Anführer
ten, hatte sich schon seit der Jahrhundertwende gestellt. Die von Protestbewegungen
Große Depression brachte schließlich die politischen Unruhen her-
vor, aus denen eine Lösung erwachsen sollte. Diese Lösung wurde Es ist unser zentraler Punkt in diesem Kapitel, daß sowohl die
aber nicht einfach aus der Luft gegriffen. Wie bereits erwähnt, Grenzen als auch die Erfolgsaussichten von Massenprotest durch
waren Tarifverhandlungen eine bereits erprobte Methode, mit gesellschaftliche Bedingungen bestimmt werden. Die sich daraus
Arbeitskonflikten umzugehen. Die Tumulte der dreißiger Jahre ergebenden Konsequenzen für die Rolle der führenden Sprecher
aber erzwangen erst die breite Anwendung dieser Methode; und von Protestbewegungen können knapp zusammengefaßt werden.
einmal eingeführt, erwiesen sich die Reformen als brauchbar und Protest ist das Resultat folgenschwerer Veränderungen der institu-
wurden institutionalisiert. tionellen Ordnung. Er läßt sich nicht durch »organizers« und
Die ökonomischen Eliten in den Südstaaten hatten zunächst Anführer ins Leben rufen.
ebenfalls keinerlei Interesse, den Schwarzen das Wahlrecht zu Wenn Protest ausbricht, werden seine spezifischen Formen weit-
gewähren. Sie von den Wahlen auszuschließen, hatte allerdings an gehend durch Merkmale der Sozialstruktur bestimmt. »Organi-
Bedeutung verloren. Die alte Plantagenökonomie wurde zusehends zers« und Anführer sind zum Scheitern verdammt, wenn sie bei der
durch die Industrialisierung zurückgedrängt, und die alteingesesse- Entwicklung von Strategien die soziale Position der Menschen, die
nen, auf der Plantagenwirtschaft basierenden Eliten verloren einen sie mobilisieren wollen, nicht beachten.
Teil ihres Einflusses an die Industriellen. Die feudalen politischen Eliten reagieren auf die von Protesten hervorgerufenen institutio-
Verhältnisse, auf die die Plantagenökonomie angewiesen war, verlo- nellen Erschütterungen und auf andere starke institutionelle
ren so ihre zentrale Bedeutung, vor allem für die neuen ökonomi- Zwänge. Die von den »organizers« und Sprechern der Protestbe-
schen Eliten. Indem sie durch die Erringung voller Bürgerrechte wegung aufgestellten Forderungen beeinflussen die Reaktionen
die Modernisierung der Südstaatenpolitik erzwangen, trugen die der Eliten dabei nur unbedeutend. Auch die formell strukturierten
schwarzen Proteste dazu bei, einen Riß im institutionellen Gewebe Organisationen der Armen haben keinen nennenswerten Einfluß
der amerikanischen Gesellschaft zu flicken — einen Riß, der die auf die Reaktionen der Eliten. Der Einfluß, den Unterschichts-
Folge des wachsenden Widerspruchs zwischen den ökonomischen gruppen gelegentlich in der amerikanischen Politik ausüben, ist
und politischen Institutionen des Südens gewesen war. nicht das Resultat von Organisierung, sondern allein von Massen-
Diese Beispiele deuten darauf hin, daß Proteste, wenn überhaupt, protest und den daraus folgenden institutionellen Erschütterun-
nur das erreichen, was ohnehin auf der historischen Tagesordnung gen.
steht. Dennoch, und Alan Wolfe hat es gesagt: Regierungen ändern Protestbewegungen in den Vereinigten Staaten sind immer nur
ihre Politik nicht durch eine mysteriöse »radikale historische Trans- vorübergehende Episoden gewesen, denn während sie noch an
formation«, sondern allein, weil sie durch die realen Kämpfe der Kraft gewinnen, entwickeln sich auch schon die verschiedenen For-
jeweiligen Epoche dazu gezwungen werden (ts 4).Wenn Menschen men institutioneller Anpassung und Einschüchterung, die schließ-
letzten Endes gegen gewaltige Widerstände zum Protest greifen, lich zur Wiederherstellung der Ruhe führen. »Organizers« und
nehmen sie die einzige Möglichkeit wahr, die ihnen innerhalb der Anführer können das Abebben von Protesten ebensowenig verhin-
Grenzen ihres sozialen Status offensteht. Wer allerdings diese dern wie den Verfall des Einflusses, den die Unterschicht durch ihre
Grenzen nicht wahrhaben will, verweist Proteste der Unterschicht Proteste besessen hat. Sie können nur versuchen, das zu gewinnen,
nicht nur blindlings in das Reich des Halbrationalen, sondern was gewonnen werden kann; zu dem Zeitpunkt, wenn es gewon-
beharrt darüber hinaus auf der Illusion, als stünden im amerikani- nen werden kann.
schen politischen System andere, regulärere Möglichkeiten der Protestbewegungen werden in der genannten Weise von institutio-
politischen Einflußnahme zur freien Verfügung. nellen Bedingungen und nicht durch planmäßige Bemühungen von
Anführern und »organizers« geschaffen. Innerhalb dieser engen
6o 61
strukturellen Grenzen existiert jedoch ein gewisser Spielraum für II. Die Arbeitslosenbewegung
zielgerichtete Aktivitäten. »Organizers« und Anführer haben die
Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten — und ihre
Entscheidung wird den Kurs der Protestbewegung auch bis zu
einem gewissen Grad beeinflussen. Aber der Spielraum ist klein. Er Die Massenbewegungen der Arbeitslosen und der Industriearbei-
wird auch dadurch nicht größer, daß man die institutionellen ter während der Depression folgten einer Periode des ökonomi-
Schranken leugnet und Strategien verfolgt, die den Realitäten schen Zusammenbruchs: Elend und Verwirrung waren in das All-
hohnsprechen. Es ist allemal weiser, die Grenzen zu erkennen und tagsleben von Millionen Menschen eingebrochen, und auch die
den gegebenen Spielraum so weit wie möglich auszunutzen. Nur Haltung der Eliten war von Widersprüchen und Konfusion nicht
so läßt sich der potentielle Einfluß der Unterschicht voll geltend verschont geblieben. Wer noch Arbeit hatte, zeigte seine — vom
machen. Falls unsere Schlußfolgerungen richtig sind, kann das nur wirtschaftlichen Zusammenbruch hervorgerufene — Unzufrieden-
heißen, daß solche Strategien zu verfolgen sind, die die Wucht und heit in den Kämpfen innerhalb des Fabriksystems. Wir werden im
Wirkung des Protests in jedem Stadium seiner Genese und Ent- nächsten Kapitel auf sie zurückkommen. Die Männer und Frauen
wicklung eskalieren. aber, deren Leben sich am dramatischsten und unmittelbarsten ver-
Vor dem Hintergrund dieses Thesen werden wir uns im folgenden ändert hatte, waren nicht mehr in den Fabriken. Sie gehörten zu
der Analyse einiger jüngerer Protestbewegungen zuwenden. den Massen der Arbeitslosen; ihr Kampf mußte eine andere Form
annehmen, in einem anderen institutionellen Zusammenhang aus-
getragen werden. Während der Depression erlebten die Vereinigten
Staaten den Aufstieg und Fall der stärksten Arbeitslosenbewegung
ihrer Geschichte, und die Institution, gegen die sich die Bewegung
unweigerlich richtete, war die Sozialfürsorge.
Zu der Zeit, als die Große Depression über die USA hereinbrach,
floß öffentliche Unterstützung für Bedürftige nur spärlich und
bruchstückhaft. Vielerorts, einschließlich der Städte NewYork und
Philadelphia, gab es schlichtweg keine »out-door«-Unterstützung
(dieser Begriff bezog sich auf Hilfe für alle Personen, die nicht in
Heimen lebten). Aber auch wo es öffentliche Fürsorgeeinrichtun-
gen gab, stammte das wenige, was sie zu verteilen hatten, gewöhn-
lich aus privater Wohltätigkeit. Doch dürftige Unterstützungslei-
stungen und eine zersplitterte Verwaltung bedeuteten keineswegs
eine völlig unterentwickelte Institution. Ganz im Gegenteil läßt
sich ohne Einschränkung von einem nationalen Sozialfürsorge-
system sprechen. Zwar existierte eine Vielzahl unterschiedlicher
administrativer Verwaltungsstellen, doch erfolgte die Verteilung
der Unterstützung überall im Land nach etwa den gleichen Richtli-
nien. Fürsorge stand in diametralem Gegensatz zur amerikani-
schen Ideologie der Arbeit und der individuellen Tüchtigkeit. Also
sollten auch nur so wenige wie möglich in ihren Genuß kommen,
und ihre Gewährung sollte an strenge Bedingungen geknüpft wer-
den, um zu verhindern, daß die Bedürftigen sich auf öffentliche
63
Unterstützung verließen. So waren die Fürsorgeleistungen auch tion, Lohnarbeit auch angesichts der extremen Ungleichheiten im
entsprechend gering; und als Empfänger kam nur eine Handvoll amerikanischen Kapitalismus zu legitimieren. Viele Menschen lei-
Alter und Behinderter, Witwen und Waisen in Frage — Menschen, steten harte Arbeit bei geringen Gegenleistungen; gleichzeitig
die Hilfe »verdient« hatten, da sie ohne Zweifel nicht in der Lage waren die Fesseln der Tradition durch die vom Industriekapitalis-
waren, selbst für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. mus hervorgebrachten Veränderungen gelockert worden. Doch die
Diese Praxis war jedoch nicht allein Spiegel des ausgeprägten ame- Unzufriedenheit der Betroffenen wurde zum Teil gerade durch das
rikanischen Individualismus. Sie war gleichermaßen Reflex der Fürsorgesystem und die schreckliche Erniedrigung, die mit dem
amerikanischen ökonomischen Realitäten. Arbeit und individuelle Empfang von Fürsorge verbunden war, gedämpft. Kurzum, die als
Tüchtigkeit bedeutete für viele Menschen unbarmherzige Plackerei Wohlfahrt bezeichneten Praktiken wurden von ökonomischen
und niedrige Löhne. Solange das so war, konnten Wohlfahrtslei- Erfordernissen bestimmt, vom Bedarf an ebenso billigen wie willi-
stungen nicht allzu freizügig gewährt werden, da die Gefahr gen Arbeitskräften auf den Farmen und in den Fabriken einer auf-
bestand, daß mancher die staatliche Unterstützung der Arbeit vor- blühenden kapitalistischen Gesellschaft. Um diese Praktiken zu
gezogen hätte. Folglich schloß man die Masse der Armen einfach verändern, mußte die Unterordnung der Fürsorge unter die Insti-
von der Fürsorge aus und stellte so sicher, daß ihnen keine Alterna- tution des Profits gebrochen werden.
tive blieb, als nach jedmöglicher Arbeit, wie gering der Lohn auch Das Verblüffende an diesem Wohlfahrtssystem war jedoch, daß es
war, zu suchen. Wer keine Arbeit fand, mußte sich, so gut es ging, soviel Scham und Angst erzeugen konnte, daß die Armen sich
mit anderen Mitteln durchs Leben schlagen. widerstandslos seinen rauhen und restriktiven Praktiken unterord-
Soviel hätte allerdings auch ohne jedwede öffentliche Unterstüt- neten. Zum Teil taten sie dies, weil sie den amerikanischen Glauben
zung erreicht werden können; der drohende Hungertod war ein an den Wert der Arbeit und die Eigenverantwortung des einzelnen
ausreichender Antrieb. Die wichtigere Funktion des Wohlfahrts- teilten, diese Ideologie, nach der jeder die Möglichkeit habe zu
systems bestand nicht darin, daß Hilfe verweigert wurde, sondern arbeiten und für sich selbst zu sorgen, wenn er nur strebsam und
vielmehr in der Tatsache, daß die wenigen Fürsorgeempfänger zu würdig ist. Sollte es Zweifel an der Gerechtigkeit der Auswahl der
wertlosen Außenseitern gestempelt wurden. Zur Zeit der Großen Würdigen durch den amerikanischen Markt gegeben haben, so
Depression bestand die gesetzliche Vorsorge für die Notleidenden wurden sie durch die Zurschaustellung des entehrten Fürsorge-
vor allem darin, daß man sie in Armen- oder Arbeitshäuser steckte. empfängers beseitigt. Selbst wenn Arbeitslosigkeit zum Massen-
An manchen Orten überließ man die Versorgung der Armen noch phänomen wurde, litten die meisten Betroffenen still und machten
immer den Häusern, deren Kostensätze am niedrigsten waren, und sich selbst für ihr Schicksal verantwortlich. Sie verlangten nicht
notleidende Waisen wurden vertraglich auf bestimmte Zeit an nach Hilfe, denn nur so konnten sie ihre soziale Stellung über der
Leute gebunden, die sie als Arbeitskräfte benutzten und ihnen Klasse der verachteten Wohlfahrtsempfänger behaupten. Fast
dafür zu essen gaben. In vierzehn US-Bundesstaaten verweigerte immer gehorchten die arbeitslosen Armen dem Gebot, keine
die Verfassung Fürsorgeempfängern das Wahlrecht (Brown, 9—to; Almosen anzunehmen, und indem sie sich so verhielten, konsoli-
Woodroofe, 154). Auf diese Weise schuf das Sozialfürsorgesystem dierten sie ihre eigene Notlage und die repressiven Praktiken der
eine deutlich gekennzeichnete und erniedrigte Klasse von Parias, lokalen Fürsorgebürokratie.
deren Zahl zwar gering war, deren Schicksal jedoch den am Rande Gelegentlich erreichte die Arbeitslosigkeit allerdings so unge-
der Bedürftigkeit lebenden Menschen ständig vor Augen stand — heure Ausmaße, daß die Arbeitslosen rebellierten. Auf den Höhe-
eine permanente Warnung, daß es ein Leben gab, das sogar noch punkten der regelmäßig wiederkehrenden Wirtschaftskrisen des
schlimmer war, als das eigene, von harter Arbeit und bitterer Armut 19. und frühen zo. Jahrhunderts schlossen sich Bedürftige zusam-
geprägte Dasein. men und verlangten Hilfe, um ihre Not zu mildern. Während der
Die Bedeutung dieser Fürsorgepraxis lag also nicht allein in ihrer Krise von 1837 versammelten sich in Philadelphia 2.c) coo Arbeits-
Unmenschlichkeit, sondern vor allem in der von ihr erfüllten Funk- lose, um von der Bundesregierung unter anderem zu fordern, das

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Elend unter den Arbeitslosen durch ein öffentliches Arbeitsbe- Die Scheu vor staatlicher Unterstützung ist durchaus zu erschüt-
schaffungsprogramm zu lindern (Foner, 162); in New York prote- tern, wenn vielleicht auch nur, weil das Ausmaß der Not die allge-
stierte eine Menge von mehreren Tausend vor dem Rathaus gegen meine Auffassung, ökonomisches Glück oder Unglück seien eine
die »Monopole« und die hohen Lebensmittelpreise und Mieten. Angelegenheit persönlicher Tüchtigkeit bzw. individuellen Schei-
Anschließend marschierte die Menge zu einem Großhandelslager terns, ganz offensichtlich widerlegt. In solchen Zeiten verlangen
und warf Mehl und Weizen auf die Straße (Gutman, 1976, 60-61). die Armen in großer Zahl nach Unterstützung, sei es durch die
In der Krise von 18 57 kam es in mehreren Städten zu Protesten von Schaffung von Arbeitsplätzen oder durch die Verteilung von
Arbeitslosen. In Philadelphia versammelten sich zehntausend Lebensmitteln und Geld. Eine solche Neubewertung erfolgte auch
Menschen, »um ihre Vertreter im Staatsparlament [von Pennsylva- während der Großen Depression, und ebenso -wie die Not damals
nia] dazu zu bewegen, sich ihren Nöten zu widmen«, woraufhin unerreichte Ausmaße annahm, so war auch die Protestbewegung
ein Netz von Bezirksstellen eingerichtet wurde, um die Bedürfti- der Arbeitslosen in den dreißiger Jahren ohne Beispiel.
gen mit Lebensmitteln zu versorgen (Feder, 32). In New York, im
Tompkins Square, gipfelte eine Massenversammlung von 15 000
Menschen, die Arbeit forderten, in der Zerstörung von Zäunen und Die Große Depression: Voraussetzungen des Aufruhrs
Bänken und der Aneignung von Lebensmitteltransporten. In die-
sem Fall bekamen die Arbeiter allerdings weder Arbeit noch Unter- Die Depression brach urplötzlich herein, zu einer Zeit, als in Ame-
stützung, sondern die Macht der Staatstruppen zu spüren (Feder, rika der Glaube an beispiellosen und ungebrochenen Wohlstand so
3 5). Auch die Depression von 1873 rief wieder Demonstrationen fest war wie nie zuvor, ungeachtet früherer Wirtschaftskrisen. Das
hervor. In New York kamen loco° bis 15 000 Menschen zu Ver- Land wurde überrumpelt, die Regierenden wie die Regierten
sammlungen, die von berittener Polizei aufgelöst wurden, und in gleichermaßen, und es brauchte eine Weile, bevor die politischen
Chicago gipfelten Massendemonstrationen der Arbeitslosen, orga- Kräfte, die von der Katastrophe freigesetzt wurden, an die Oberflä-
nisiert von Anarchisten unter der Parole »Brot und Blut«, in einem che drangen. Doch in dem Maße, wie sich die Krise verschärfte,
Marsch von 2o 000 Menschen auf den Stadtrat (Feder, 52; Boyer fanden die härter und chaotischer werdenden Lebensumstände
und Nlorais, 86). Später stürmten arbeitslose Arbeiter die Büros der ihren Ausdruck in wachsender öffentlicher Unzufriedenheit. Die
»Chicago-Relief and Aid Society« und überschwemmten die Ver- Reaktionen der Eliten beschleunigten diesen Prozeß noch, denn
waltung mit Anträgen auf Unterstützung. Das Amt kapitulierte, auch sie waren aus der Fassung gebracht worden und uneins; ihre
und im Laufe des folgenden Jahres erhielten ungefähr zehntausend dissonanten Beschuldigungen und Vorschläge verschärften noch
Menschen Sozialfürsorge (Feder, 52; Seymour, August 1937, 8).1 das Gefühl der Empörung, das sich im Land ausbreitete. In der fol-
Während der Depression von 1884 zogen wieder Demonstrations- genden Periode politischer Unsicherheit entstanden in einer Reihe
züge von Arbeitslosen durch Chicago, diesmal in die wohlhabende- gesellschaftlicher Gruppen Protestbewegungen, die sich gegen ver-
ren Viertel (Montgomery, 2o); 1893 führte dann eine neue, schwere schiedene institutionelle Mißstände richteten. Arbeitslose waren
Wirtschaftskrise zu einer Serie von Arbeitslosenmärschen auf Wash- die ersten, die sich erhoben.
ington, deren bekanntester als »Coxeys Armee« in die Geschichte
einging. Coxeys Demonstranten gingen leer aus, doch Massende- Der ökonomische Zusammenbruch
monstrationen in den großen Industriestädten erzielten zumindest
Teilerfolge: Suppenküchen wurden eingerichtet, und in einigen Das der Depression vorausgegangene Jahrzehnt war für die ameri-
Städten sogar öffentliche Arbeitsbeschaffungsprogramme initiiert. kanische Wirtschaft eine Zeit des Aufschwungs gewesen. Das
Diese Ereignisse deuten darauf hin, daß es zu einer wenigstens Nationaleinkommen war von rund 6o Milliarden Dollar im Jahre
teilweisen Neueinschätzung unter den Armen kommen kann, 1922 auf 87 Milliarden Dollar im Jahre 1929 gestiegen, und im Juni
wenn die Arbeitslosigkeit schwerwiegend und weit verbreitet ist. 1929 erreichte der Index der Industrieproduktion seinen absolut
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höchsten Stand (Bernstein, 197o, 54, 251). Nie zuvor schien Wohl- Ganze Industriezweige wurden vernichtet, ebenso wie die Städte,
stand für die ganze Nation so gesichert gewesen zu sein. in denen sie angesiedelt waren. Bernstein berichtet beispielsweise,
Allerdings waren auch diese Jahre für viele Arbeiter und Farmer daß im Januar 1930 3o% bis 4o°/0 der männlichen Erwerbstätigen
bei weitem nicht so golden. Die wachsende Produktivität und stei- von Toledo ohne Arbeit waren. Willys-Overland hatte dort seine
genden Profite der zwanziger Jahre waren zum großen Teil das Belegschaft von 2o 000 auf 4 000 verringert. In Detroit stellte im
Ergebnis zunehmender Mechanisierung und nicht einer Ausdeh- März ein Kreditinstitut fest, daß die Hälfte der überfälligen Raten-
nung der Beschäftigtenzahlen. Gleichzeitig trieben die niedrigen zahlungen von Leuten stammten, die ihre Arbeit verloren hatten.
Preise für Farmerzeugnisse (ein Ergebnis der Überproduktion, zu Ende des Jahres lag fast die Hälfte der neuenglischen Textilarbeiter
der es wegen der hohen Einwanderung zu Anfang des Jahrhunderts auf der Straße, und die »Metropolitan Life Insurance Company«
und später aufgrund der Nachfrage nach Lebensmitteln während berichtete, daß 24% der Industriearbeiter unter ihren Kunden in 46
des Ersten Weltkriegs, als die Vereinigten Staaten ihre Verbündeten größeren Städten ohne Arbeit waren. Im Frühjahr 1929 beschäf-
miternährten, gekommen war) Millionen von Menschen vom Land tigte die Ford Motor Company noch 13o 000 Arbeiter; im Sommer
in die Städte. Das resultierende Überangebot an Arbeitskräften be- 193 I -waren davon nur 37 000 übrig (Bernstein, 197o, 2 5 5 - 2 5 6). Sid-
deutete, daß zum ersten Mal in der Geschichte der USAWohlstand ney Hillman (Präsident der Bekleidungsarbeitergewerkschaft —
während des gesamten Jahrzehnts von andauernd hoher Arbeitslo- d. Ü.) teilte mit, daß auf dem Höhepunkt der Saison im Januar 1932
sigkeit begleitet wurde (Lescohier und Brandeis, 137-151). Auf das nur noch io°/0 seiner Textilarbeiter in New York in Stellung waren
'Überangebot an Arbeitskräften war es auch zurückzuführen, daß (Bernstein, 197o, 317). Die chronische Arbeitslosigkeit der zwanzi-
die Löhne relativ stagnierten, während die Profite stiegen. Darüber ger Jahre hatte sich zu einer katastrophalen Arbeitslosigkeit gewan-
hinaus befanden sich einige Branchen, besonders Bergbau und Tex- delt.
tilindustrie, während des gesamten Jahrzehnts in der Krise; die Trotz allem weigerten sich — zumindest anfänglich — die meisten
dort beschäftigten Arbeitskräfte mußten krasse Lohnkürzungen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beharrlich, das Desaster
hinnehmen. Doch solche von bestimmten Gruppen erlittenen Här- zur Kenntnis zu nehmen. Das Weiße Haus gab beruhigende Ver-
ten blieben unter der Oberfläche, denn die von ihnen betroffenen lautbarungen heraus und beteuerte, »die fundamentale Stärke der
Menschen wurden von der Aura des Wohlstandes, der diese Ära nationalen Wirtschaft ist ungemindert«, der Wiederaufschwung
umgab, zum Stillhalten veranlaßt. Es waren doch offensichtlich stehe »unmittelbar vor der Tür« und die vorübergehende Rezession
gute Zeiten für Amerika; jeder, der wirklich arbeiten wollte, werde auf alle Fälle durch gezielte Ausgaben für öffentliche Ar-
konnte allem Anschein nach seinen Lebensunterhalt verdienen. beiten gebannt werden. Die offizielle Weigerung, sich mit der Ka-
Dann, im Jahr 1929, begann der Produktionsindex plötzlich, nach tastrophe schon in der Frühphase der Depression auseinander-
dem Höchststand vom Juni, abzufallen, und im Oktober, nach zusetzen, drückte sich auch darin aus, daß das Weiße Haus das
schwindelerregenden Spekulationen, reagierte die Börse mit der Vorhandensein beträchtlicher Arbeitslosigkeit überhaupt leugnete.
Panik, die wir als »schwarzen Donnerstag« kennen. Die Lage Wenn der Zensus von 193o diese Behauptung nicht bestätige, argu-
wirkte sich umgehend auf die Beschäftigungssituation aus. Ein mentierte Präsident Hoover, dann nur deshalb, weil die Statistiker
Regierungsvertreter meinte, daß sich das Heer der Arbeitslosen »den unsteten Bürger, der nicht die Absicht hatte, sich seinen
nach dem Börsenkrach innerhalb von zwei Wochen um 2,5 Millio- Lebensunterhalt durch eigene Arbeit zu verdienen, als Arbeitslo-
nen Menschen vermehrt habe, und Präsident Roosevelts »Commit- sen in die Statistik aufnehmen mußten« (zitiert bei Edelman, 184).2
tee on Economic Security« schätzte später, daß die Zahl der Gab es aber nur unbedeutende Arbeitslosigkeit, so war es auch nur
Arbeitslosen von 429 000 im Oktober 1929 bis auf 4 065 000 im logisch, daß es keiner außergewöhnlichen Maßnahmen zur Unter-
Januar 193o angestiegen sei (Bernstein, 197o, 254-2 57). Ihre Zahl stützung der Arbeitslosen bedürfe. Hoover beschränkte sich
wuchs beständig weiter auf 8 Millionen im Januar und 9 Millionen hauptsächlich darauf, lokale karitative Bemühungen mit rhetori-
im Oktober 1931 (Bernstein, 197o, 2 54-2 5 7). schen Ermutigungen zu bedenken. Im Oktober 193o richtete er ein
68 69
»Emergency Committee for Employment« ein, ignorierte jedoch zustemmen, außer vielleicht, daß man begonnen hatte, sie zur
die Empfehlung des Ausschußvorsitzenden, Oberst Arthur Kenntnis zu nehmen.
Woods, das Weiße Haus möge den Kongreß um die Bewilligung
beträchtlicher Geldmittel für öffentliche Arbeitsbeschaffung ersu- Die Bedeutung für das Alltagsleben
chen. Ein zweites Komitee, das im August 1931 ernannt wurde,
erhielt den Namen »Organization an Employment Relief«. Wäh- Arbeitsgewohnheiten und Arbeitslöhne sind mitentscheidend für
rend aber der Name auf eine vage Zurkenntnisnahme des Problems die Lebensweise der Menschen. Als die Arbeitslosigkeit weiter
schließen ließ, galt das nicht für seine Aktivitäten, die sich darauf zunahm und die Löhne der noch Beschäftigten schrumpften, zer-
beschränkten, lokale Bemühungen zu »koordinieren« und die US- brach daher eine ganze Lebensweise. Trotz aller Dementis durch
Bürger zu drängen, Spenden an lokale Wohltätigkeitsorganisatio- Personen des öffentlichen Lebens sprach das Alltagsleben der Men-
nen zu leisten. schen eine beredte Sprache. Die Zunahme von Unterernährung
Auch die Kommunalverwaltungen reagierten zunächst nicht und Krankheiten war ein dramatisches Anzeichen für den Ein-
angemessener auf das Ausmaß der Problematik. Politiker in Buf- bruch der Krise in das tägliche Leben. An Schulkindern durchge-
falo, Cincinnati, Kansas City, Milwaukee und Louisville initiierten führte Untersuchungen ergaben, daß ein Viertel von ihnen an
Kampagnen unter den Slogans »Schafft einen Arbeitsplatz« oder Unterernährung litt, die Zahl neu aufgenommener Patienten in
»Arbeit in jedem Block«. Man ließ die Arbeitslosen Schnee fegen Tuberkulose-Kliniken verdoppelte sich fast; eine Studie des »U. S.
und Straßen reinigen; nebenher durften sie an die Wohnungstüren Public Health Service« deckte auf, daß die Zahl der Krankheitsfälle
klopfen und um kleinere Spenden bitten. Der Bürgermeister von in Arbeitslosenfamilien um 66% höher lag als in Familien von
Philadelphia ernannte ein Komitee, das den Hausverkauf von Obst Beschäftigten. 1931 meldeten die Krankenhäuser von New York
organisieren sollte (Colcord, r66); in einigen Orten sammelten annähernd to° Todesfälle durch Verhungern (Bernstein, 197o, 331).
Restaurants und Clubs Essensreste für die Arbeitslosen; wieder Ein weiteres Anzeichen war die Schwächung der familiären Bin-
andere Gemeinden stellten ihnen Grundstücke zur Verfügung, auf dungen, die den Belastungen und den unwürdigen Bedingungen
denen sie Gemüse anbauen konnten, um ihre Not zu lindern. Man der Armut nur schwerlich standhielten. Männer ließen ihre Fami-
hatte das Problem als unbedeutend und vorübergehend definiert, lien im Stich, und die Scheidungsrate stieg, während die Zahl der
und entsprechend fielen die Gesten aus, mit denen man ihm begeg- Heiraten und Geburten fiel.' In dem Maße, in dem sich die Armut
nete. Bis 1932 gab es sogar in den Zeitungen kaum Meldungen über verstärkte und die Moral sank, erhöhte sich auch die Kriminalitäts-
die Depression. Die Zeitungen von Middletown erwähnten sie erst- rate, breiteten sich Alkoholismus und Promiskuität aus und stieg
mals im April 193o — unter der Überschrift: »Fabriken erholen sich die Selbstmordquote (Bernstein, 197o, 332).
von schlimmer Krise« (Lynd und Lynd, 17). Ohne Arbeit und angesichts ihrer zerrütteten Familien, machten
Als sich 193c) die Krise verschärfte, wurden im Kongreß Rufe nach sich Männer und Frauen auf und davon, besonders die jungen.
Maßnahmen der Bundesregierung zur Verringerung der Arbeitslo- Zunächst war es eine Bewegung zurück aufs Land. Doch schon
sigkeit laut. So forderte man die Wiederbelebung und Erweiterung bald fielen auch die Einkommen der Landbevölkerung ins Boden-
des »United States Employment Service« sowie die Ausdehnung lose — es blieb nur noch die Möglichkeit weiterzuziehen, sich rast-
öffentlicher Arbeitsprogramme. Die vorgeschlagenen Maßnahmen los von Stadt zu Stadt treiben zu lassen. Wie groß die Zahl der Hin-
waren eher bescheidener Natur, und der im Herbst 193c gewählte und-her-Getriebenen wirklich war, ist nicht bekannt, doch die
Kongreß verabschiedete beide Gesetze. Hoover, unerschüttert wie »Southern Pacific Railroad« meldete, sie hätte 1932 683 457 Perso-
eh und je, legte gegen das erste sein Veto ein und kastrierte das nen von ihren Zügen gewiesen (Bernstein, 1970, 325). Allerorts ent-
zweite, indem er zu dessen Durchführung Beamte ernannte, die standen Barackensiedlungen aus Pappkarton- und Wellblechhäu-
öffentlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen feindlich gegenüber- sern. In Oklahoma City lebten die vagabundierenden Menschen
standen. Nichts war geschehen, um sich der Katastrophe entgegen- im Flußbett; in Oakland bewohnten sie Kanalisationsrohre, die ein

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Hersteller nicht losgeworden war; in New York bauten sie ihre Im März plünderten wo Männer, die in New York vor einem
Hütten auf dem Grund eines trockengelegten Wasserreservoirs im Büro der Heilsarmee um Brot anstanden, zwei Lastwagen, die ein
Central Park und nannten es »Hoover Valley«. nahegelegenes Hotel mit Backwaren belieferten. In Henryetta im
Bundesstaat Oklahoma marschierten 3oo Arbeitslose von Geschäft
zu Geschäft und forderten Lebensmittel. Sie seien nicht gekom-
Das Aufkommen von Protest men, um zu bitten, beteuerten sie und drohten, notfalls auch
Gewalt anzuwenden (Bernstein, 1970, 422; Brecher, 13i). Bern-
Die meisten ihrer Arbeit beraubten Menschen litten still, besonders stein geht so weit zu behaupten, daß organisierte Lebensmittel-
zu Beginn der Depression, als die offiziellen Dementis zur Verwir- plünderungen in den ersten Jahren der Depression ein im ganzen
rung der Arbeitslosen beitrugen und dazu führten, daß diese sich Land verbreitetes Phänomen gewesen sei (197o, 421-423).
ihrer Not schämten. Immer wieder klapperten die Männer und Es kam jetzt auch zu Demonstrationen mit eindeutig politischem
Frauen die Arbeitsvermittlungen ab, standen Schlange bei jedem Charakter. Im Frühjahr 193o marschierten arbeitslose Männer und
Stellenangebot und zweifelten an sich selbst, weil sie keine Arbeit Frauen in New York, Detroit, Cleveland, Philadelphia, Los Ange-
fanden. Familien brauchten ihr Erspartes auf, pumpten von Ver- les, Chicago, Seattle, Boston und Milwaukee unter kommunisti-
wandten, verkauften ihre Habe und machten sich entweder selbst schen Parolen wie »Arbeit und Lohn« und »Kämpft — statt zu ver-
oder gegenseitig für ihre Niederlage im Kampf um materielle hungern« (Karsh und Garnian, 87; Leab, 3 oo). Der Gewerkschafts-
Unabhängigkeit verantwortlich. Doch als sich die Krise ver- journalist Len deCaux lebte damals in Cleveland. Er beschrieb die
schärfte, als ganze Fabriken dichtmachen mußten, Wohngebiete in dortigen Ereignisse:
Industriestädten förmlich zurWüste wurden und zumindest einige »Die Demonstrationszüge der Arbeitslosen waren bald ein vertrautes Bild.
Politiker schließlich den wahren Ernst der Lage zur Kenntnis nah- Auf öffentlichen Plätzen fanden Protestveranstaltungen mit Zehntausen-
men, begannen sich einige Arbeitslose bewußt zu werden, was den von Teilnehmern statt ... .
geschehen war und warum, und wer dafür verantwortlich zu Diese Straßenszene hat sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Es war
machen war. Sie begannen ihr persönliches Elend nicht einfach als im Herzen des Arbeiterviertels von Cleveland, bei einer von Kommunisten
individuelles Mißgeschick zu begreifen, sondern als ein Schicksal, geleiteten Demonstration. Die Polizei hatte einen früheren Demonstra-
das sie mit vielen anderen teilten, mit Menschen, die so waren wie tionszug angegriffen. Bei der Straßenschlacht waren mehrere Arbeitslose
sie selbst. Wenn aber so viele Menschen in denselben Schwierigkei- verletzt worden und einer von ihnen war seitdem gestorben. Der Arbeitslo-
senrat hatte zu einer Protestdemonstration in demselben Viertel aufgerufen.
ten steckten, dann war es vielleicht gar nicht ihre eigene Schuld, Der traurige Anlaß brachte Tausende auf die Straße. Die staatlichen Autori-
sondern Schuld des »Svstems«.4 täten, die scharfer Kritik ausgesetz.t waren und sich in der Defensive befan-
den, zogen daraufhin jeden Polizisten aus dem viele Häuserblocks umfas-
Plünderungen, Märsche und Demonstrationen senden Gebiet zurück. (163-164)

Zunächst fand die Auflehnung der Arbeitslosen ihren Ausdruck Nicht immer blieb die Menge in ihrem eigenen Viertel, und die
vor allem in Plünderungen. Wie es in der Geschichte so häufig zur Autoritäten verhielten sich nicht immer so weise. Am t I. Februar
Zeit ökonomischer Krisen der Fall gewesen ist, rotteten sich Men- 193o beispielsweise bestürmten etwa 2 000 Arbeitslose das Rathaus
schen zusammen und verlangten nach Nahrung. Im großen und von Cleveland: Erst als die Polizei androhte, sie mitWasserwerfern
ganzen wurde in der Presse nicht über diese Ereignisse berichtet, da auseinanderzutreiben, zogen sie sich wieder zurück. Nur wenige
man einen Ansteckungseffekt befürchtete. In New York fielen Tage später demonstrierten Arbeitslose vor dem Rathaus von Phila-
regelmäßig Banden von 3o bis 4o Männern über Lebensmittelge- delphia; erst die Polizei trieb sie auseinander. Eine Woche später
schäfte her, doch die Ladenketten weigerten sich, die Polizei zu zerstreute in Chicago berittene Polizei mit Schlagstöcken eine
rufen, um die Überfälle nicht in die Zeitungen kommen zu lassen. Menge von 2oo arbeitslosen Männern und Frauen. Und am 26.

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Februar jagte die Polizei von Los Angeles einen Demonstrations- bestand, Gelder zu sammeln und an die Arbeitslosen zu verteilen.'
zug von 3 000 Menschen vor dem Rathaus mit Tränengas auseinan- Im Oktober 193o kam es zu einer weiteren Massendemonstra-
der (Bernstein, 197o, 426-427). tion auf dem Rathausplatz, in dessen Verlauf die Arbeitslosen
Im März wurden die Demonstrationen zu einem nationalen Phä- das »Board of Estimate« aufforderten, jedem Arbeitslosen 25 Dol-
nomen. Die Kommunisten erklärten den 6. März 193o zum »Inter- lar in der Woche auszuzahlen. Zwar wurden die Demonstranten
nationalen Tag der Arbeitslosen«, und in allen größeren Städten gab von der Polizei wiederum attackiert und dabei zwei der Organisa-
es Versammlungen und Märsche. Viele der Demonstrationen verlie- toren verletzt, das »Board of Estimate« jedoch bewilligte anschlie-
fen friedlich, wie zum Beispiel in San Francisco, wo sich sogar der ßend eine Million Dollar für die Arbeitslosenunterstützung (Nai-
Polizeichef den z 000 Demonstranten anschloß und der Bürgermei- son, 72-73).
ster eine Rede hielt, oder wie in Chicago, wo etwa 4 000 Menschen Die Presse brandmarkte die Demonstrationen als schwere Aus-
die Halsted und die Lake Street entlangmarschierten und dann ein schreitungen; kommunistische und sozialistische Drahtzieher hät-
Komitee mit einer Petition zum Bürgermeister entsandten (Las- ten sie fälschlicherweise Arbeitslosendemonstrationen genannt,
well und Blumenstock, 196). In anderen Städten jedoch, wie etwa meinte die New York Times (17 Oktober 193o). Doch die Arbeitslo-
in Washington und Seattle, blieben die Stadtverwaltungen nicht so sen marschierten weiter, gleichgültig, welches Etikett ihre Anfüh-
gefaßt und ließen die Demonstrationen mit Tränengas auseinander- rer trugen und ungeachtet der Geißelungen durch die Presse. Len
treiben. In Detroit, Cleveland, Milwaukee und Boston setzten sich deCaux nennt die Gründe:
die Menschenmengen zur Wehr, und es kam zu heftigen Straßen- »Die Kommunisten brachten die Not, die in den Arbeitervierteln
schlachten zwischen den Demonstranten und der Polizei (Keeran, herrschte, ans Tageslicht. Sie führten sie der Öffentlichkeit vor und stellten
72-73 ; Leab, 306-307). 5 Zum schlimmsten Zusammenstoß kam es radikale Forderungen ... Auf Hunderten von Arbeitslosenversammlungen
in New York6 ; die New York Times berichtete: hörte ich keine Einwände gegen die Argumente der Kommunisten und viel
»Die Arbeitslosendemonstration, die von der Kommunistischen Partei auf Beifall für sie. Manchmal hörte ich, wie kommunistische Redner Dinge sag-
dem Union Square in Szene gesetzt worden war, endete in den schlimmsten ten, die so bitter und extrem waren, daß ich peinlich berührt wurde. Doch
Ausschreitungen, die New York in den letzten Jahren erlebt hat. Innerhalb dann blickte ich mich um nach den arbeitslosen Zuhörern mit ihren armse-
von wenigen Minuten verwandelten sich die 3 5 000 Menschen, die an der ligen Kleidern, den besorgten und verbitterten Gesichtern — Gesichter, die
Demonstration teilnahmen, von einer friedlichen, gelegentlich sogar jetzt begannen zu strahlen, Köpfe, die zustimmend nickten, Hände, die
gelangweilten Menge in einen kämpfenden Mob. Zu der Explosion kam es, Beifall spendeten.« (162-163)
als kommunistische Anführer Warnungen und Anordnungen der Polizei Zumindest bei einigen Menschen verwandelte sich die Verzweif-
mißachteten und ihre Gefolgschaft aufforderten, zum Rathaus zu mar-
lung nach und nach zu einem Zorn, der stark genug war, um offi-
schieren und von Bürgermeister Walker eine Anhörung zu fordern. Hun-
derte von Polizisten und Zivilbeamten drangen in die Menge und schlugen
zieller Schelte oder staatlicher Gewalt zu widerstehen.
mit Schlagstöcken und Gummiknüppeln, oder auch mit bloßen Fäusten, Kommunistische Agitatoren trugen zu dieser Wandlung bei, doch
auf jeden ein, der ihnen in die Quere kam. Viele Demonstranten wurden die Arbeitslosen waren bereit, jedem Führer zu folgen, der ihre
über die Straße und in Nebenstraßen hineingetrieben, Hunderte zu Fall Nöte artikulierte. Als Vater James R. Cox, ein Pittsburgher Prie-
gebracht ... An allen Ecken des Schlachtgetümmels hörte man Frauen krei- ster, den man den Bürgermeister von Shantytown (der dortigen
schen und Männer schreien, denen das Blut über Kopf und Gesicht lief. Barackensiedlung) nannte, zu einer Versammlung im Pitt Stadium
Eine Reihe von Männern lagen niedergestreckt auf dem Platz, und noch aufrief, um gegen die Arbeitslosigkeit zu demonstrieren und
immer schlugen Polizisten auf sie ein. Auch als die Männer und ein paar öffentliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Unterstützungs-
Frauen ihr Heil in der Flucht suchten, ließen die Polizisten nicht von ihnen
leistungen zu verlangen, kamen rund 6o 000 Menschen zusammen;
ab.«
iz 000 von ihnen zogen mit ihm nach Washington, wo er Präsident
Die Demonstration war bedrohlich genug, um den Bürgermeister Hoover ihre Forderungen überbrachte (Bernstein, 197o, 432). 8 Spä-
zur Bildung eines Komitees zu veranlassen, dessen Aufgabe darin ter, im Frühjahr 193 2, machten sichTausende arbeitsloser Kriegsve-
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teranen mit ihren Familien auf den Weg nach Washington. Ihre Lie- der Bronx am 2. Februar 1932 aus ihren Wohnungen zwangsge-
der machten kein Hehl aus ihrer Unzufriedenheit: räumt wurden:
»Es lag wohl an der Kälte, daß die Menge nur i 000 Köpfe zählte, in ihrer
Mellon blies die Pfeife Widerspenstigkeit jedoch stand sie jener Schar von 4 000 Personen, die am
und Hoover rief »Los, Marsch« 22. Januar bei den ersten Unruhen ähnlicher Natur auf die Polizei losge-
Wall Street gab den Startschuß, stürmt war, nicht nach. Donnerstag droht einem weiteren Dutzend Fami-
da war das Land am Arsch. lien die Ausweisung aus ihren Wohnungen, wenn sie bis dahin nicht die aus-
stehenden Mieten zahlen.
Die Kriegsveteranen waren nicht einmal in revolutionärer oder Inspektor Joseph Leonary setzte eine Truppe von fünfzig Polizeibeamten
besonders kriegerischer Stimmung angerückt. Sie wollten den — Zivilbeamte, berittene und Streifenpolizisten — auf der Straße ein, wäh-
Kongreß nur ersuchen, die laut Gesetz erst im Jahre 1945 beginnen- rend Marshal Novick zehn Möbelpacker in das Gebäude führte ... Frauen
den Pensionszahlungen vorzuziehen. Doch der Kongreß lehnte ab, kreischten aus den Fenstern, aus der Menge erschollen Pfiffe, Buhrufe und
Hoover weigerte sich, ihre Führer zu treffen, und als die Veteranen Schmähungen. Auf der Straße und im Haus brachen gleichzeitig Kämpfe
nicht bereit waren, wieder abzuziehen, schickte er die Armee, um aus. Die Männer des Marshal eilten die Treppe hinauf und gingen an die
sie fortzujagen. »Welch ein erbärmliches Spektakel«, schrieb die Arbeit, nachdem die Polizisten die Mieter wieder in ihre Wohnungen
Washington News, »wenn die große amerikanische Regierung, die zurückgetrieben hatten.«
mächtigste der Welt, Männer, Frauen und Kinder mit Panzern jagt Laut Boyer und Morais konnte durch den Widerstand 77 000 ausge-
... Wenn die Armee gerufen werden muß, um einen Krieg gegen wiesenen Familien in New York ihre Wohnung erhalten werden
unbewaffnete Bürger zu führen, dann ist dies nicht mehr Ame- (261).
rika.« (Schlesinger, 1957, 26 5) Auch Chicago wurde zum Schauplatz verschiedener »Mieterun-
ruhen«, besonders in schwarzen Wohngebieten, wo die Arbeitslo-
Mieterunruhen sigkeit katastrophale Ausmaße erreichte und Zwangsräumungen
an der Tagesordnung waren. In der kurzen Zeit vom r t. August bis
Die wachsende Empörung unter den Arbeitslosen nahm noch 31. Oktober 193 r wurden 2185 Fälle vor dem Mietergericht verhan-
andere Formen an als Straßendemonstrationen und Ausschreitun- delt, von denen es in 3 8 % um schwarze Mieter ging (Gosnell, 1967,
gen. Arbeitslose Männer und Frauen begannen, sich gegen lokale 321-329). Kleinere Gruppen, die als »black bugs« bekannt waren,
Autoritäten und gegen die von ihnen gesetzten Regeln aufzuleh- marschierten durch die Straßen und mobilisierten größere Men-
nen, die sie für ihre Probleme verantwortlich machten. Dies wurde schenmengen, um damit geräumten Familien wieder zu ihren Woh-
u. a. in dem massenhaften Widerstand gegen Wohnungsräumungen nungen zu verhelfen — manchmal sogar, wenn die betroffene Fami-
deutlich. Bei steigender Arbeitslosigkeit konnte vielerorts eine lie gar nicht anwesend war." Die Repression durch die Polizei in
große Zahl von Familien ihre Miete nicht mehr bezahlen, worauf- Chicago war so umfassend'', daß diese Aktionen notwendiger-
hin die Zahl der verfügten Zwangsräumungen täglich anstieg. 9 193o weise spontan sein mußten:
und 1931 gingen kleine Gruppen von Männern, häufig unter der »In den späten dreißiger Jahren hatten die Arbeitslosenräte in vielen der
Leitung von Kommunisten, dazu über, die Polizei mit Gewalt ärmeren Stadtviertel Geschäftsstellen errichtet. Die Versammlungshallen
daran zu hindern, Mobiliar aus den Wohnungen auf die Straße zu dienten auch als Clubräume, wo die arbeitslosen Männer ihre von der
räumen. Manchmal waren sie erfolgreich. Aber auch wenn sie es Arbeitssuche müden Beine ausruhen, wo sie sich unterhalten und der
nicht waren, blieb physischer Widerstand das einzige Mittel, zu gespannten Atmosphäre in ihren Familien entziehen konnten. Diese Män-
dem die auf die Straße gesetzten Menschen noch Zuflucht nehmen ner, die sich auf der Grundlage ihres gemeinsamen Unglücks miteinander
konnten. Die Mieterunruhen begannen in der Lower East Side von identifizieren konnten, begannen nun, gemeinsam zu handeln, um Woh-
New York und in Harlem 10 , breiteten sich aber schnell auf andere nungsräumungen zu verhindern. Die Demonstrationen waren vollkommen
ungeplant und konnten nicht im Keime erstickt werden, weil nicht einmal
Stadtteile aus. Die New York Times beschrieb, wie drei Familien in
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die Männer selbst im voraus wußten, wann und wo sie als nächstes demon- Karsh und Garman berichten, daß in vielen Orten die Kommu-
strieren würden. Da kam etwa jemand in das Hauptquartier und berichtete nisten »gas squads«, organisierten, deren Aufgabe es war, das Gas
von einer Person, die einige Blocks entfernt gerade aus ihrer Wohnung in den Wohnungen wieder anzustellen. »Electric squads« über-
gewiesen würde. Voller Zorn machten sich die Männer dann gemeinsam auf brückten die Stromzähler, nachdem sie von den Elektrizitätswer-
den Weg. Gleichgesinnte und Neugierige schlossen sich ihnen an, und wenn
ken abgestellt worden waren (88). In Detroit mußten hundert Poli-
die Menge am Ort der Räumung angelangt war, hatte nicht nur ihre Zahl,
sondern auch ihr Zorn beträchtlich zugenommen. Man brachte die Möbel
zisten aufgeboten werden, um eine Widerstand leistende Familie
der unglücklichen Familie in die Wohnung zurück, und nach und nach löste aus ihrer Wohnung zu werfen, und später wurden in der gleichen
sich die von ihrem Erfolg begeisterte Menge wieder in kleine Gruppen auf.« Stadt zwei Familien von den mitfühlenden Geschworenen freige-
(Lasswell und Blumenstock, 170-171) sprochen, nachdem sie, um ihr Grundstück zu verteidigen, denVer-
mieter erschossen hatten (Bernstein, 1970, 428).
Horace Cayton beschreibt Mieterunruhen in Chicago, an denen er
selbst teilnahm. Eines Tages im Jahre 1931 saß Cayton in einem
Aktionen gegen Fürsorgeämter
Restaurant auf der South Side, als er durch das Fenster eine lange
Reihe von Schwarzen mit todernsten Gesichtern vorbeiziehen sah.
Es scheint, als falle es den meisten Amerikanern leichter, ihr Heim
Er schloß sich ihnen an und beschrieb später, was geschah:
gegen die Staatsgewalt zu verteidigen, als Unterstützung zu for-
»In der betreffenden Straße trafen wir auf zwei Mannschaftswagen der Poli- dern; und zwar aus dem einfachen Grund, daß sie eher davon aus-
zei und wurden gefragt, wohin wir gingen. Die Menge umringte die Polizi- gehen, ein Anrecht auf ihre Wohnung als ein Anrecht auf staatliche
sten ... Keiner bewegte sich von der Stelle. Alle standen nur da und starrten Unterstützung zu besitzen, sei das ökonomische Desaster, dem sie
sie an. Da verlor einer der Polizisten die Nerven, zog seinen Revolver und
gegenüberstehen, auch noch so überwältigend. Die Mehrzahl der
richtete ihn auf die Menge ... Keine Drohungen, kein Murren, keine Unruhe;
die Menge sah ihn nur an. Da stand er nun, der Polizist. In diesem Moment
Arbeitslosen widerstand dieser letzten Demütigung, um Sozial-
ertönte eine Sirene — ein Murmeln ging durch die Menge: die Kampfeinheiten hilfe bitten zu müssen, so lange sie nur konnte. So hieß es zum Bei-
der Polizei rückten an! ... vier Mannschaftswagen mit Polizisten in blauen spiel in einer Studie über die Personen, die 1932 in den Regierungs-
Uniformen und ein Patrouillenwagen. Noch bevor die Wagen stoppten, bezirken San Francisco und Alameda Anträge auf Unterstützung
sprangen sie auf die Straße und stürmten auf die Menge los. Schlagstöcke gestellt hatten:
und Gummiknüppel wirbelten auf schwarze Köpfe. >Haltet die Stellung!<
»Nahezu zwei Drittel der antragstellenden Familien ließen ein Jahr oder
schrie eine Frau. >Handelt wie Männer!< antwortete die Menge. Sie standen
mehr nach dem Beginn der Arbeitslosigkeit des Haupternährers vergehen,
da wie tumbe Tiere — keincr lief davon, keiner kämpfte oder leistete Gegen-
bevor sie sich an die Sozialfürsorge wandten; fast ein Drittel dieser Familien
wehr, sie standen nur da, eine unverrückbare schwarze Masse.«
hatte sich sogar zwei oder mehr Jahre durchgeschlagen ... Zum Zeitpunkt
Nicht selten führte diese Taktik dazu, daß die Demonstranten ver- der Antragsstellung waren viele dieser Familien bei ihrem Lebensmittel-
prügelt, verhaftet, ja sogar getötet wurden', doch sie zwang die händler und ihrem Vermieter verschuldet; sie hatten ihre ohnehin jämmerli-
Wohlfahrtsämter auch, Geld für Mietzahlungen zur Verfügung zu chen Ersparnisse verbraucht; sie hatten sich Geld geborgt, das sie trotz der
niedrigen Summen wahrscheinlich nie würden zurückzahlen können.
stellen (Seymour, Dezember 1937, 14). Bei Mieterunruhen im
Doch letzten Endes unterlagen sie bei ihrem ritterlichen Kampf um die
August 193t wurden drei Leute getötet und drei Polizisten verletzt: Erhaltung ihrer Selbständigkeit ...« (Huntington, 66, 74)15
»Nachrichten über die Straßenschlacht schrien von den Titelseiten
der Abendzeitungen. Als offenbar wurde, welches Ausmaß die Es war die reine Verzweiflung, die viele schließlich zwang, ihre Vor-
Unruhen im Negerviertel erreicht hatten, geriet Chicago in Panik.« behalte gegen die Sozialfürsorge aufzugeben. Bei anderen war es
(Lasswell und Blumenstock, 197) Bürgermeister Anton Cermak mehr als nur Verzweiflung: es war Wut. Einige gelangten zu der
reagierte prompt: er ordnete eine Aussetzung der Zwangsräumun- Überzeugung, daß sie ein Recht auf dieses Einkommen, das sie
gen an, und einige der Demonstranten erhielten Arbeit unter Auf- zum Überleben benötigten, hatten, wo es doch keine Arbeit für sie
sicht der Fürsorgeverwaltung." gab, da sie von den Fabriken, Büros und Handwerksbetrieben

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beständig abgewiesen wurden. Von ihrer Wut angestachelt, mach- nach. Mit jeder dieser zermürbenden Begegnungen verloren die
ten sich Mengen von arbeitslosen Männern und Frauen auf zu den Beamten in den kommunalen und privaten Fürsorgebüros ein wei-
Fürsorgeämtern, deren Beamte sie unter Druck setzten und in die teres Stück ihres bisherigen Ermessensspielraums, Unterstützung
Ecke trieben, und deren Räume sie zuweilen sogar besetzt hielten, zu bewilligen oder zu verweigern. Mark Naison berichtet von eini-
bis ihre Forderungen erfüllt wurden — bis man ihnen Geld oder gen dieser Vorfälle:
Naturalien aushändigte.' Lasswell und Blumenstock beschreiben
»Ich stand drei Tage lang im Regen, ohne daß das Home Relief Bureau
diese anfänglichen Aktionen gegen die Wohlfahrtsämter in Chi- mich beachtete<, erklärte eine Frau bei einer Nachbarschaftsversammlung
cago: in New York. >Dann hörte ich von den Arbeitslosenräten.... Wir gingen als
»Wenn bekannt wurde, daß einer Familie Fürsorgeunterstützung verwei- geschlossene Gruppe hinein, und sie kamen uns sehr schnell entgegen.<
gert worden war oder daß einem besonders dringenden Fall nicht sofortige >Die Frau hinter dem Schreibtisch sagte mir, ich sei abgewiesen<, fügte eine
Aufmerksamkeit geschenkt wurde, bildeten sich Gruppen, die zu den Für- andere Frau hinzu. >Ich weinte und da sagte mir Genosse Minns, ich sollte
sorgeämtern marschierten und verlangten, daß Abhilfe geleistet werde. Die zur Sitzung des Arbeitslosenrates kommen. EineWoche später hatte ich den
Sozialarbeiter in vielen der Büros wußten nur zu gut um die Not, die hinter Scheck und konnte meine Miete bezahlen.<« (I52)17
solchen Forderungen stand, und zögerten, die Polizei zu rufen. ... Und so Als die Arbeitslosen immer aufsässiger wurden, wurde sogar die
gaben die Fürsorgeämter zunächst bereitwillig den Forderungen der
lang gepflegte Praxis, Fürsorgeempfänger gründlich zu durch-
Demonstranten nach und gaben Mrs. Jones den Lebensmittelkorb, den sie
schon in der Woche zuvor hätte bekommen müssen. Der Erfolg ließ die leuchten und zu überwachen, aufgegeben. Ein Nachrichtenblatt,
Zahl und Größe dieser Demonstrationen anwachsen. Die Wohlfahrtsämter das von einer Arbeitslosengruppe in Port Angeles im Staate Wash-
sahen sich außerstande, mit dieser Art von massenhaftem Druck fertig zu ington herausgegeben -wurde, war exemplarisch für den neuen
werden. Ein Beispiel: Am Nachmittag des 31. August 1931 marschierte eine Geist:
Gruppe von 400 Personen zu den Büros der United Charities in der Prairie >»Hausbesucher< oder >Schnüffler< sind nur Sozialarbeiter auf Honorarba-
Avenue 45oo. Als der Zug schließlich dort ankam, war er auf t5oo bis 600 sis. Sie werden allein wegen ihrer Begabung als Schnüffler oder Spitzel aus-
Menschen angeschwollen. Vor dem Gebäude sprach ein Redner zu der gewählt. Sie stellen Dir so verflucht viele Fragen, daß Dir sowieso keine Pri-
Menge, und die Situation wurde so angespannt, daß es schien, als wolle die vatsphäre mehr bleibt« (zitiert bei Seymour, Dezember 1.937, 15).
Menge das Büro stürmen, als Joel Hunter, der Verwaltungschef der Chari-
ties, darum bat, ein Komitee auszuwählen, das ihre Forderungen vortragen Mit anderen Worten: als ihre Empörung sich steigerte, überwanden
solle. Als eine Polizeitruppe eintraf, kam es dann zu allgemeinen Ausschrei- einige Leute nicht nur ihre Vorbehalte gegen die Annahme öffentli-
tungen.« (i7i) cher Unterstützung, sondern begannen auch, sich gegen das ganze
Eine Untersuchung, die im Jahre 1937 von der »American Public Gebäude ritualisierter Demütigung und Stigmatisierung der
Welfare Association« veröffentlicht wurde, berichtete von ähnli- Sozialfürsorge aufzulehnen. Und je entschlossener sie dies taten,
chen Demonstrationen im ganzen Land: urn so mächtiger wurde die Bewegung.
Naison beschreibt die Arbeitslosenbewegung von Harlem (wo
',Größere Komitees mit zehn, fünfzehn, zwanzig und manchmal mehr Mit-
gliedern tauchten in den Fürsorgeämtern auf und verlangten, umgehend
8o% der Haushaltsvorstände von der Arbeitslosigkeit betroffen
gehört zu werden, ohne sich zuvor angemeldet zu haben und ohne Rück- waren) während dieser Periode:
sicht auf die Terminkalender des Personals.... Hinter ihnen standen häufig »Um das Sozialhilfesystem zu einem effektiveren Vorgehen zu zwingen,
Gruppen von Anwohnern aus den jeweiligen Wohnbezirken, die sich vor verlegte sich die Arbeitslosenbewegung auf eine Strategie der Stimulierung
den Wohlfahrtsbüros versammelten und warteten, während drinnen die von Aufruhr. Aktivisten des Harlemer Arbeitslosenrates organisierten
Abordnung ihre >Forderungen< präsentierte.« (Seymour, Dezember 1937, 15) große Gruppen erwerbsloser Arbeiter, führten sie zum örtlichen Wohl-
fahrtsamt und verlangten Unterstützung. Wenn sich die Verwaltungsange-
Die Wohlfahrtsbeamten, die daran gewöhnt w-aren, Unterstützung stellten weigerten, sie zu empfangen, oder behaupteten, die Mittel seien
nach eigenem Gutdünken an unterwürfige Antragsteller zu vertei- erschöpft, kampierten die Demonstranten in den Büroräumen und harrten
len, gaben angesichts der aggressiven Proteste gewöhnlich schnell dort aus, bis sie Beihilfe erhielten oder von der Polizei geräumt wurden.
So 8i
Wenn die Polizei versuchte, sie zu entfernen oder am Betreten der Büros zu sten organisierte Demonstration von Arbeitslosen zum River-
hindern, wurde das Vorgehen des Rates militanter. Bei einer Demonstration Rouge-Werk von Ford in Dearborn, einem Vorort Detroits, von der
im Spät-Juni 1932 habe, so berichtete die Amsterdam News, eine Gruppe, Polizei unter Beschuß genommen. Vier Demonstranten wurden
die zum Harlemer Arbeitslosenrat gehörte, die Türen des Büros eingeschla-
getötet, viele verletzt. Die Presse reagierte unterschiedlich: der
gen und >Tische und Stühle um geworfen<, bevor die Polizei sie festnehmen
Detroit Mirror attackierte blindwütig die »randalierenden«
konnte. Andere Demonstrationen endeten mit regelrechten Straßen-
schlachten zwischen der Polizei und Aktivisten des Rates, bei denen es zu Demonstranten, die Detroit Times allerdings beschuldigte die Poli-
blutigen Köpfen und einer Vielzahl von Festnahmen kam.« ( -137) zei, »eine friedliche Demonstration in eine Straßenschlacht, die
Tote und viel Blutvergießen forderte, verwandelt« zu haben
In Chicago »wuchsen Zahl und Umfang spontaner Ausbrüche, (Keeran, 82 83 ; Prickett, 119). Zwei Tage nach den Vorfällen gaben
-

durch welche die aufgestauten Spannungen — das Ergebnis wirt- rund 6o 000 Detroiter Arbeiter zu den Klängen der Internationale
schaftlicher Not, von Vernachlässigung oder Kritik durch die Zei- den Toten das letzte Geleit.
tungen und der Repression durch die Polizei — >kollektiviert< wur- In Atlanta entschlossen sich Stadt- und Bezirksämter im Juni
den«. Die Zahl der Demonstrationen erhöhte sich von 408 im Jahre 1932, 23 ooc Familien von der Liste der Fürsorgeempfänger zu
1931 auf 566 im folgenden Jahr (Lasswell und Blumenstock, 172— streichen; angeblich wären die Mittel erschöpft. Um angesichts die-
'73). Die Demonstrationen wurden außerdem größer und besser ser Entscheidung ein Mindestmaß an Ordnung aufrechterhalten zu
organisiert. Am 11. Januar 1932 fanden bei allen Fürsorgeämtern können, ließen die lokalen Behörden Hunderte von Landarbeitern
von Chicago gleichzeitig Demonstrationen statt. 18 Später im selben (die auf der Suche nach Arbeit nach Atlanta gekommen waren)
Jahr marschierten etwa 5 000 Männer, die gewungen waren, in städ- unter der Anklage der Landstreicherei festnehmen und aufs Land
tischen Notunterkünften zu leben, zur Fürsorgezentrale, um dort zurückschicken. Als sich aber etwa eintausend Arbeitslose vor dem
ihre Forderungen— drei Mahlzeiten pro Tag, freie medizinische Ver- Gerichtsgebäude versammelten, wurden die Streichungen wieder
sorgung, zwei Tabakrationen pro Woche, das Recht, in den Wohn- zurückgenommen und zusätzliche Mittel für die Sozialfürsorge
heimen Sitzungen des Arbeitslosenrates abzuhalten, und die Zusi- bereitgestellt (Herndon, 188-192). 19 In St. Louis erzwangen drei-
cherung, daß den Mitgliedern des Rates keinerlei Nachteile entste- tausend demonstrierende Arbeitslose die Verabschiedung von zwei
hen würden — vorzutragen. Die Forderungen wurden erfüllt. Als Sozialhilfeverordnungen im Stadtrat (Boyer und Morais, 263). Jede
die Stadtverwaltung Ende 193 2 aufgrund der angespannten Haus- erfolgreich beendete Protestaktion, jeder erkämpfte Dollar stärkte
haltssituation die Wohlfahrtsausgaben um so% kürzte, gingen wie- die Moral und die Durchschlagskraft der Bewegung und nagte wei-
derum 25 000 Arbeitslose auf die Straße und marschierten trotz ter an der Doktrin, die Annahme von Sozialfürsorge sei das Einge-
eines kalten und heftigen Regens durch das Stadtzentrum von Chi- ständnis persönlichen Versagens, schlicht: eine Schande.
cago. Die Autoritäten reagierten schnell: es gelang ihnen, Anleihen
bei der »Reconstruction Finance Corporation« aufzunehmen, so
daß die Kürzungen wieder zurückgenommen werden konnten. Finanzkrise der Kommunen
In Detroit organisierten die Arbeitslosenräte im August 1931 eine
Protestveranstaltung vor dem Rathaus, auf der mehrere hundert Die Zahl der Arbeitslosen stieg unaufhörlich weiter. In den großen
Menschen bessere Ernährung und eine bessere Behandlung durch Industriestädten, wo die Arbeitslosigkeit besonders groß war,
die Polizei in städtischen Notunterkünften forderten. Nur wenige machten die Arbeitslosen zuweilen die Mehrheit der wahlberech-
Monate darauf führte die ;Young Communist League« einen Zug tigten Bevölkerung aus. Angesichts wachsender Proteste konnten
von mehreren tausend Demonstranten zu einem der Briggs-Auto- es sich lokale Verwaltungen nicht länger leisten, tatenlos zu blei-
werke an, um der Forderung nach Arbeitsplätzen und Arbeitslo- ben. Es wurde unübersehbar, daß die privaten Sozialhilfeorganisa-
senversicherung Ausdruck zu verleihen (Keeran, 77). Im März 1932 tionen, denen es vielerorts überlassen worden war, die bescheide-
dann, nach einem bitterkalten Winter, wurde eine von Kommuni- nen Mittel zu verteilen, die wachsende Nachfrage nicht mehr
82 83
bewältigen konnten. So wurde rasch eine Reihe von Ad-hoc-Plä- der Straße, aber dennoch wurde nur den völlig Mittellosen Hilfe
nen, häufig in Zusammenarbeit mit örtlichen Geschäftsleuten und gewährt. Ein höherer Beamter berichtete:
Philanthropen entwickelt. Komitees wurden gebildet, die Bürger »In der Stadt Chicago essen i 000 Männer in den öffentlichen Verpflegungs-
zu verstärkter Wohltätigkeit aufgefordert, und in einigen Orten stellen Mahlzeiten, die viereinhalb Cents pro Tag kosten — und diese Män-
wurden den städtischen Angestellten automatisch Spenden an den ner sind aus der sogenannten Goldküste von Chicago. Diese Mittel gehen
Sozialfürsorgehaushalt vom Gehalt abgezogen. Auf diese Weise nun dem Ende zu, und vielleicht 3o Tage, nachdem der Stadt das Geld aus-
erhöhten sich die Ausgaben für Sozialfürsorge von 71 Millionen gegangen sein wird, werden sie sich mit einer Mahlzeit pro Tag zufriedenge-
ben müssen« (zitiert bei Chandler, 45)•
Dollar im Jahre 1929 auf 171 Millionen Dollar im Jahre 1931
(Chandler, 192). Da Chicago ein Eisenbahn-Knotenpunkt war, sah sich die Stadtver-
Doch in Städten wie New York, Chicago, Detroit und Philadel- waltung mit einem zusätzlichen Problem konfrontiert: große Zah-
phia war auch diese Summe nur ein Tropfen auf den heißen Stein. len vagabundierender Arbeitsloser kamen durch die Stadt, von
Der Stadtdirektor von Cincinnati schilderte die Methoden der denen ein Teil in einem Barackenlager am Ende der Randolph Street
Sozialfürsorge in der Stadt gegen Ende des Jahres 1931, als etwa ein hauste und die Abfälle nach Eßbarem durchstöberte. Andere wur-
Viertel der Arbeiter dort ohne Arbeit war und ein weiteres Viertel den in Asyle und Armenhäuser gepfercht. Bernstein berichtet, daß
kurzarbeitete: das Oak-Forest-Armenhaus, in dem sogar die Flure überfüllt
»Die eine Woche erhält eine Familie Sozialhilfe, in der nächsten aber wird waren, 1931 1900o Menschen abweisen mußte (1970, 297 29 8). Im -

sie abgewiesen, in der Hoffnung, daß ihr Ernährer doch irgendwie Arbeit Juni 1932 sagte Bürgermeister Cermak einem Ausschuß des Reprä-
finden könnte.... Mietzahlungen übernehmen wir überhaupt nicht. Das sentantenhauses, daß der Bundesregierung nur noch zwei Möglich-
schafft natürlich ein sehr ernstes Problem, denn wir haben ständig Woh- keiten blieben: entweder sofort 1So Millionen Dollar zu schicken,
nungsräumungen. Die Sozialarbeiter... haben große Schwierigkeiten, um die Not zu lindern — oder aber darauf vorbereitet zu sein, zu
Unterkünfte für Leute zu finden, deren Möbel auf die Straße gestellt wur- einem späteren Zeitpunkt Truppen entsenden zu müssen. Auch die
den», (zitiert bei Chandler, 43). führenden Industriellen und Bankiers Chicagos appellierten
In der Stadt New York, wo ein Statut von 1898 »outdoor«-Unter- gemeinsam an Hoover, Bundesmittel für Sozialfürsorge zur Verfü-
stützung untersagte und nur die Einweisung in Arbeits- und gung zu stellen (Bernstein, 1970, 467).
Armenhäuser zuließ, hatten die Proteste der Arbeitslosen heftige In Philadelphia war die öffentliche Wohlfahrt 1879 abgeschafft
Erschütterungen hervorgerufen, die schließlich zu einer Regelung worden', und so fiel einem Komitee führender Philanthropen und
führten, wonach über die Polizeireviere in den einzelnen Bezirken Geschäftsleute die Aufgabe zu, das Problem zu bewältigen. Sie
Sozialhilfe direkt an die Allerbedürftigsten verteilt wurde. Die Mit- initiierten ein vielfältiges Programm mit Arbeitsbeschaffungsmaß-
tel dazu stammten aus Spenden der städtischen Angestellten. 1931 nahmen, Notunterkünften und Kreditangeboten, doch gemessen
schuf der Staat New York auf Initiative von Gouverneur Roosevelt an der herrschenden Not fielen ihre Bemühungen kaum ins
ein Notstandsprogramm, durch das die lokalen Fürsorgebudgets Gewicht. Es gab etwa 25o 000 Arbeitslose in Philadelphia. »Jedes
Zuschüsse in Höhe von zunächst insgesamt 20 Millionen Dollar dritte Haus ist von der Arbeitslosigkeit betroffen«, berichtete der
erhielten. Und dennoch: auch 1932 erhielten die Glücklichen unter geschäftsführende Direktor des »Philadelphia Children's Bureau«
den Arbeitslosen in der Stadt New York durchschnittlich nur eine dem »Senate Subcommittee on Manufactures«. »Es ist fast wie in
wöchentliche Unterstützung von 2,39 Dollar, und das war nur ein Ägypten zur Zeit des Auszuges des Volkes Israel, als der Tod die
Viertel aller Arbeitslosen (Schlesinger, 1957, 2 5 3). Laut Aussagen Häuser der Ägypter heimsuchte.« (Bernstein, 1970, 299-300)
vor dem »Senate Committee on Manufactures« vom Sommer 1932 In Detroit hatte Frank Murphy die Bürgermeisterwahlen von
waren in New York 20 000 Kinder in Heime eingewiesen worden, 1930 mit einer Wahlkampagne gewonnen, in der er Unterstützung
weil ihre Eltern sie nicht mehr ernähren konnten. für die Arbeitslosen versprochen hatte. Sein neues Wohlfahrtspro-
In Chicago standen im Oktober 1931 40% der Arbeitskräfte auf gramm führte zu einer Erhöhung der Ausgaben für Sozialfürsorge

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von 116 000 Dollar im Februar 1929 auf 582 oco zwei Jahre später. derbringlich. Männer, jung und alt, ziehen ruhelos umher ..., die Armee der
Dennoch erhielt ein erwachsenes Paar in Detroit nur 3,6o Dollar Wohnungslosen erreicht alarmierende Ausmaße. ... Unsichere Existenzbe-
dingungen, fragwürdige Methoden >sich durchzuschlagen<, werden immer
wöchentlich, und eine Untersuchung aus dem Jahr 1931 über die
häufiger.« (zitiert bei Bernstein, 197o, 32t)
von den Fürsorgelisten Gestrichenen ergab, daß das durchschnittli-
che Gesamteinkommen pro Person nur 1,56 Dollar in der Woche 1932 brachte dann die New Yorker Evening Graphic eine Serie über
betrug. So war es keine Überraschung, daß Bürgermeister Murphy Fälle von Hungertod in jenem Jahr. Die Depression wurde endlich
seinen Glauben an die Verantwortlichkeit der Kommunen aufgab nicht länger verleugnet.
und dem »Senate Manufactures Subcommittee« erklärte, er halte Doch wie kläglich die lokalen Fürsorgeprogramme gemessen an
Bundeshilfe für notwendig. der tatsächlichen Not auch gewesen sein mögen, ihre Kosten brach-
Diese Städte gehörten dabei eher noch zu den liberalen. In den ten viele Städte an den Rand des Konkurses, und andere kommu-
meisten Orten erhielten die Menschen nur ein paar Lebensmittel: nale Dienstleistungen waren die Leidtragenden des fiskalischen
In Baltimore zum Beispiel beschränkte sich die durchschnittliche Engpasses. Ein Mitglied der Detroiter Stadtverwaltung berichtete,
wöchentliche Zuteilung auf Waren im Wert von achtzig Cents daß essentielle öffentliche Dienstleistungen bis zu einem Punkt
(Greenstein). In Atlanta bekamen weiße Fürsorgeempfänger sech- hätten verringert werden müssen, »der unter dem Minimum
zig Cents in der Woche; schwarze bekamen weniger, falls sie über- (liege), das für das Wohlergehen und die Sicherheit der Stadt abso-
haupt etwas bekamen (Herndon, 188). Die Zeitschrift Fortune lut notwendig« sei, und dies trotz der Tatsache, daß die Gehälter
faßte die lokalen Wohlfahrtsbemühungen im Herbst 1931 folgen- der städtischen Angestellten radikal gekürzt worden seien. Chi-
dermaßen zusammen: cago (dessen Finanzen sogar schon vor der Depression zerrüttet
»Man ging davon aus, daß private Sozialhilfeorganisationen und halböf- gewesen waren) schuldete seinen Lehrern zo Millionen Dollar an
fentliche Wohlfahrtsgruppen ... in der Lage wären, für die Opfer der welt- Gehalt (Hopkins, 92-93). In Boston waren seit Monaten die Poli-
weiten ökonomischen Katastrophe zu sorgen. In der Praxis bedeutete das, zisten nicht mehr bezahlt worden (Bird, to8).
daß Fürsorgestellen, die auf die Versorgung weniger hundert Familien einge- Unter dem Eindruck wachsender lokaler Unruhen und zuneh-
richtet sind, und Notunterkünfte, die bisher eine Handvoll wohnungsloser mend angespannter Kommunalhaushalte folgten weitere städtisch
Männer zu beherbergen hatten, durch die brutalen Zwänge des Hungers dazu geprägte Bundesstaaten dem Beispiel des Staates New York. New
verdammt sind, für Hunderttausende von Familien und ganze Armeen ent- Jersey, Pennsylvania, Ohio und Wisconsin bewilligten Notausga-
wurzelter und arbeitsloser Personen zu sorgen.... Das Ergebnis sehen wir
heute in Stadt für Stadt ..., heterogene Gruppen offizieller und privater Fürsor-
ben für Sozialfürsorge, und andere Staaten gingen dazu über, kom-
gestellen, die unter der Führung ernsthafter, doch unausgebildeter lokaler Ho- munale Anleihen für öffentliche Unterstützung zu zeichnen. Auf-
noratioren gegen einen unüberwindlichen Dauerzustand von Not, Leid und grund der einzelstaatlichen und lokalen Bemühungen wuchsen die
unerfüllbaren Wünschen ankämpfen.« (zitiert bei Bernstein, 197o, 3or) Gesamtausgaben für Sozialfürsorge zwischen 1931 und 1932 um
weitere 71 Millionen auf insgesamt 317 Millionen Dollar. Mit die-
Im November 1932 veröffentlichte eine Gruppe angesehener kali-
sere Summe konnte den 12 Millionen Arbeitslosen in jenem Jahr
fornischer Bürger, die als Mitglieder der »State Unemployment
allerdings nur eine Unterstützung von weniger als 27 Dollar pro
Commission« tätig waren, die Ergebnisse ihrer Untersuchungen:
Kopf gezahlt werden. Dennoch rissen die Zahlungen ein tiefes
»Arbeitslosigkeit und derVerlust des Einkommens haben zahllose Familien Loch in die Kassen der Kommunalverwaltungen; um die Verschul-
ruiniert. Die Moral der Familienmitglieder ist gebrochen, ihre Gesundheit dung durch Sozialhilfe in Grenzen zu halten, mußten bei stark sin-
angegriffen, ihr Selbstrespekt verloren, ihre Leistungs- und Arbeitsfähig-
kendem Steueraufkommen die Ausgaben für andere Programme
keit zerstört. ... Viele Haushalte haben sich aufgelöst; kleine Kinder wer-
den in die Obhut von Freunden, Verwandten oder Heimen gegeben ; Män-
zwischen 1931 und 1932 um 966 Millionen Dollar gekürzt werden.
ner und Frauen, Eltern und Kinder sind getrennt, vorübergehend oder für In zunehmendem Maße nahmen Lokalverwaltungen Kredite auf,
immer. Häuser, in die Ersparnisse eines ganzen Lebens investiert wurden doch die Käufer ihrer Schuldverschreibungen wurden immer rarer,
und an denen große Hoffnungen hingen, sind für immer verloren, unwie- zum Teil, weil viele Kommunen ihre Kreditwürdigkeit verloren
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hatten. Am 15. April veröffentlichte die Zeitschrift Survey Berichte Umwälzung hervorbrachte — den Erdrutsch bei den Präsident-
aus siebenunddreißig großen Städten und schloß, »die Industrie- schaftswahlen von 1932. Im Zuge der Lawine neuer Gesetze, die
städte des Mittleren Westens und die großen Städte Pennsylvanias den Wahlen folgten, wurden jeder Gruppe in der unberechenbar
sind in einer verzweifelten Lage.... Ihnen droht der totale Zusam- gewordenen Wählerschaft Konzessionen gemacht. Den Arbeitslo-
menbruch.« Bis zum Frühjahr 1933 konnten nahezu eintausend sen billigte man Unterstützung aus Bundesmitteln zu.
Kommunalverwaltungen ihre Kredite nicht termingerecht zurück- Die Republikanische Partei war seit den Wahlen von 1920, bei
zahlen (Chandler, 48 5o).
- denen die Wilson-Administration abgewählt worden war und Har-
Im Februar 1932 schickte Senator LaFollette im Rahmen einer ding in allen bedeutenden Städten außerhalb des Südens die Mehr-
Kampagne für seinen Gesetzentwurf, der Bundesanleihen für heit errungen hatte, an der Regierung gewesen. Mit Geschäftsleuten
Arbeitslosenunterstützung vorsah, Fragebögen an Bürgermeister von der Ostküste an ihrer Spitze, hatte sie seitdem unangefochten
im ganzen Land. Er erkundigte sich darin, -wie viele Menschen zum regiert und bis 193o bei jeder Wahl ansehnliche Mehrheiten errun-
damaligen Zeitpunkt von der Fürsorge lebten, welche Zuwachsra- gen. Ihre Hochburgen waren vor allem im städtischen Norden zu
ten erwartet würden, welchen Gesamtumfang die Unterstützungs- finden. Zuletzt hatte Hoover die Präsidentschaftsvvahl von 1928
zahlungen aufwiesen, ob die Stadt in der Lage sei, über kurzfristige mit einem Vorsprung von 6,5 Millionen Stimmen gewonnen.
Schuldverschreibungen die notwendigen Sozialhilfekosten aufzu- Nach dem Debakel von 1924, bei dem ihr agrarischer Flügel
bringen, und ob die Bürgermeister Bundesmittel wünschten, »um besiegt worden war, war auch die Demokratische Partei fest unter
zu einer angemesseneren Unterstützung der Bedürftigen oder zur die Kontrolle konservativer Kräfte von der Ostküste gekommen;
Verminderung der Belastung der lokalen Steuerzahler beizutra- Geschäftsleute -wie Bernard Baruch und John J. Raskob und Vertre-
gen«. In ihren Antworten beschrieben die Bürgermeister die herr- ter der »Parteimaschine« wie Alfred E. Smith hatten fortan denTon
schende Not und verlangten nachdrücklich Bundeshilfe. Nicht angegeben. Doch die Depression entfachte die politischen Wirbel-
allein, daß die zur Verfügung stehenden Mittel kaum ausreichten, stürme, die neue Männer an die Spitze der Demokratischen Partei
um die Menschen vor dem Hungertod zu bewahren; beinahe jede trugen, und bewirkte schließlich die massive Umgruppierung der
Kommune gab außerdem an, am Rande des Bankrotts zu stehen Wählerschaft, die diesen Politikern zur Macht im Staate verhalf.
und möglicherweise jegliche Unterstützung einstellen zu müssen.' Erste Anzeichen für das veränderte Wählerverhalten wurden bei
Unfähig, dem politischen Druck der Arbeitslosen zu widerste- den Wahlen von 1928 deutlich, als die Lohnabhängigen in den
hen, hatten die lokalen Eliten ihre Städte an den Rand des fiskali- großen Städten begannen, sich der Demokratischen Partei und
schen Zusammenbruchs gebracht. Dennoch konnten die kommu- ihrem Präsidentschaftskandidaten Al Smith zuzuwenden.' Dieser
nalen Haushalte den Bedarf an Sozialfürsorge nicht bewältigen, und Umschwung unter den Wählern der städtischen Arbeiterschaft
so ließ der Druck nicht nach, sondern verstärkte sich mit zunehmen- wurde mit der Verschärfung der Krise zunehmend offensichtlich;
der Arbeitslosigkeit noch. Die Proteste der arbeitslosen Massen und bei den Kongreßwahlen von 1930 erlitten die Republikaner eine
den drohenden finanziellen Ruin im Nacken, waren die Bürgermei- Reihe von Niederlagen. Doch es blieb der Präsidentschaftswahl
ster der größten amerikanischen Städte, und mit ihnen führende Ge- von 1932 vorbehalten, eine der einschneidendsten Veränderungen
schäftsleute und Bankiers, zu Lobbyisten der Armen geworden. der politischen Kräfteverhältnisse in der amerikanischen Ge-
schichte hervorzubringen, die schließlich bei den Wahlen von 1936
bestätigt wurde.
Instabiles Wählerverhalten und staatliche Reaktion Der Mann, der diesen Verschiebungen seine Macht verdankte, war
natürlich Franklin Delano Roosevelt; er wurde von einer gespalte-
Bis zum November 1932 hatte die politische Unruhe, die die Lokal- nen und verunsicherten Demokratischen Partei im vierten Wahl-
politiker dazu bewegt hatte, sich dem Problem der Arbeitslosigkeit gang nominiert und führte dann einen Wahlkampf, in dem er
zu stellen, so weite Kreise erfaßt, daß sie eine nationale politische jedem, der ihm zuhören wollte, Versprechungen machte.' Die
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arbeitende Bevölkerung hörte auf seine Versprechen, »von unten den war, 5oo Millionen Dollar bewilligt, die den Einzelstaaten
nach oben zu bauen und nicht andersherum, und wieder auf den umgehend als Zuschüsse für Arbeitslosenunterstützung gewährt
vergessenen Mann auf der untersten Stufe der ökonomischen Pyra- werden sollte. Die Hälfte dieser Mittel wurde mit der Maßgabe
mide zu vertrauen« (Roosevelt, i59-2o6, 625). Roosevelt siegte mit bewilligt, daß die Bundesstaaten selbst einen entsprechenden
einem Vorsprung von fast sieben Millionen Stimmen, dem größten Betrag für die Fürsorge aufbrachten. Das Gesetz wurde am 12. Mai
Wahlsieg seit 1864 (der Wiederwahl Abraham Lincolns — d. Ü.); mit unterzeichnet. Am 22. Mai wurde Harry Hopkins als Programmdi-
ihm zog eine überwältigende Mehrheit von Demokraten in den rektor vereidigt, und noch am Abend desselben Tages bewilligte er
Kongreß ein. Zu einem großen Teil verdankte er seine Mehrheit den die ersten Zuschüsse an die Bundesstaaten. Anfang Juni hatten 45
großen Städten im Land, wo auch die Arbeitslosigkeit und die Not Staaten Zuschüsse für ihre Wohlfahrtsprogramme erhalten, und die
am größten waren. Die ökonomische Katastrophe hatte dazu Gesamtausgaben für Sozialfürsorge stiegen auf 794 Millionen Dol-
geführt, daß die Wähler der regierenden Partei eine massive Abfuhr lar im Jahre 1933, auf 1489 Millionen im Jahre 1934 und auf 1834
erteilten. Millionen Dollar im Jahre t935 (Brown, 204). Als das Programm
In der Zeit zwischen der Wahl und Roosevelts Amtsantritt sank im Juni 1936 auslief, hatte die Bundesregierung drei Milliarden
der Index der Industrieproduktion auf den tiefsten Stand aller Zei- Dollar für Sozialfürsorge zur Verfügung gestellt.'
ten, und die Zahl der Arbeitslosen stieg um ca. 200 000 pro Monat Es hatte der Proteste und der anschließenden fiskalischen und
(Lescohier und Brandeis, 163), um im März 1933 einen Stand von wahlpolitischen Turbulenzen bedurft, um eine Bundessozialhilfe-
mindestens 12 Millionen zu erreichen. Die lautstarken Forderun- gesetzgebung hervorzubringen, und es bedurfte weiterer Proteste,
gen nach Bundeshilfe waren praktisch nicht mehr zu umgehen. um die Implementation der Gesetze zu erreichen. 1934 waren viele
Eine Veröffentlichung des »Social Science Research Council« cha- Menschen schon seit geraumer Zeit ohne Arbeit gewesen — laut
rakterisierte die Situation folgendermaßen: Schätzungen sechs Millionen länger als ein Jahr (Karsh und Gar-
»Zu dem Zeitpunkt, als die neue Bundesregierung 1933 ihr Amt antrat, war man, 86). Während der gesamten Jahre 1933, 1934 und 1935 dauerte
die Forderung nach mehr Geld so nahezu einmütig geworden, daß es für die Agitation der Arbeitslosengruppen an, und es war diesen Akti-
Kongreßabgeordnete und Senatoren politisch empfehlenswert war, die vitäten zumindest teilweise zu verdanken, daß viele Staaten und
Bewilligung großer Mittel für Sozialfürsorge zu unterstützen; viele Kandi- Kommunen überhaupt an den Bundesnothilfeprogrammen teil-
daten waren aufgrund von Programmen gewählt worden, die die Bewilli- nahmen. Als in Ohio Zuwendungen des Staates benötigt wurden,
gung adäquater Mittel für die Fürsorge durch den Kongreß befürworte- marschierten im August 1933 7 000 Arbeitslose zur Hauptstadt des
ten.<= (White und White, 84)
Bundesstaates (Rosenzweig, 1975, 58). Als im Winter 1934 der
Drei Wochen nach seiner Amtseinführung forderte Roosevelt in Bund seine Zuschüsse zur Sozialfürsorge an Colorado einstellte,
einer Botschaft an den Kongreß die Schaffung eines »Civilian weil der Staat zum wiederholten Male seinen Anteil an den Kosten
Conservation Corps«, eines öffentlichen Arbeitsbeschaffungspro- nicht geleistet hatte, stürmten Mobs von Arbeitslosen die Fürsor-
gramms und eines massiven Bundeswohlfahrtsprogramms zur Lin- geämter, plünderten Lebensmittelgeschäfte, drangen schließlich
derung der Not. Das »Civilian Conservation Corps« bot nur dürf- sogar in den Senat ein und trieben die verängstigten Senatoren aus
tigen 250 000 Personen Arbeitsplätze zu Subsistenzlöhnen. Die dem Sitzungssaal. Nur zwei Wochen später sandte das Parlament
»Public Works Administration« kam nur langsam in Schwung und ein Sozialfürsorgegesetz zur Unterzeichnung an den Gouverneur,
war zudem weniger darauf abgestellt, Arbeitsplätze für Erwerbs- und die Bundeszuschüsse begannen wieder zu fließen (Cross). Der
lose zu schaffen, als vielmehr die Wirtschaft zu stimulieren, so daß Versuch, im November 1934 die Lebensmittelrationen in Chicago
die meisten der neuen Arbeitsplätze von Facharbeitern besetzt wur- um ro% zu kürzen, führte zu einer mächtigen Arbeitslosendemon-
den. Im Gegensatz dazu wurden im Rahmen des »Federal Emer- stration, woraufhin der Stadtrat die Kürzungen wieder zurück-
gency Relief Act«, der von den Senatoren Edward P. Costigan, nahm. Im Frühjahr 1935 sperrte der Bund seine Zahlungen an
Robert F. Wagner und Robert N. LaFollette, Jr. eingebracht wor- Illinois, weil der Staat seinen Anteil an der Finanzierung nicht ge-
90 91
leistet hatte. Als die Wohlfahrtsämter schließen mußten, gingen Die Kommunisten waren die ersten, die sich dieser Aufgabe wid-
die Arbeitslosen in Chicago und Springfield so lange auf die Straße, meten — und dies schon seit 192r, als sie versucht hatten, die
bis das Staatsparlament die Mittel bewilligte. Später in demselben Arbeitslosen in »Aktionsausschüssen« zu organisieren, damals
Jahr wurden die Sozialfürsorgeleistungen in Kansas City gekürzt. noch ohne großen Erfolg. 1929 starteten sie eine neue Kampagne
2 000 Arbeitslose versammelten sich daraufhin vor dem Amts- zur Gründung von Arbeitslosenräten (»Unemployed Councils«).'
gebäude, wo sie mit Gebeten und Kirchenliedern so lange ausharr- Im Winter 1929/193o arbeiteten kommunistische »organizers« mit
ten, bis weitere Mittel für Sozialfürsorge bewilligt wurden (Gil- großem Einsatz an den Verpflegungsstellen, in den billigen Abstei-
pin). gen, in den Warteschlangen an den Fabriktoren und auf den Fürsor-
Dies waren nur die von den Medien verbreiteten Protestaktionen. geämtern. Mitte 193o waren die Arbeitslosen zum zentralen
Eine in New York durchgeführte Untersuchung ergab, daß fast alle Gegenstand der Parteiaktivitäten geworden. Das theoretische
der 42 Bezirksstellen für Sozialhilfe in der Stadt häufigen Streit mit Organ der Partei, The Communist, stellte fest, die Arbeitslosen
Arbeitslosengruppen meldeten, die meistens von Kommunisten seien »der taktische Schlüssel zum gegenwärtigen Klassenkampf«
angeführt wurden. Die Gruppen waren aufsässig—sie wurden laut- (zitiert bei Rosenzweig, 1976 a).
stark, demonstrierten vor den Büros oder weigerten sich, diese zu In dieser frühen Phase konzentrierten sich die Aktivisten der
verlassen — und setzten ihre Forderungen häufig durch. Fünf der Kommunistischen Partei der USA noch stärker auf die Durchfüh-
Fürsorgeämter wurden 3o Tage lang genauestens überprüft: In die- rung direkter Aktionen als auf den Aufbau von Organisationen,
sem Zeitraum wurden 196 Forderungen von Arbeitslosengruppen und die von ihnen angeführten Aktionen auf den Straßen und Für-
registriert und davon ro7 bewilligt (Brophy und Hallowitz, 63— sorgeämtern waren gewöhnlich militanter und explosiver als die
65). anderer Arbeitslosengruppen. Die Kommunisten, von denen viele
Im Winter 1934 lebten schließlich zo Millionen Menschen von selbst beschäftigungslose Arbeiter waren 26 , nutzten jeden Miß-
öffentlicher Unterstützung, und die monatlichen Zahlungen hat- stand als eine Gelegenheit zur Auslösung von Massenaktionen und
ten sich von durchschnittlich 15,15 Dollar pro Familie im Mai r93 3 stellten mit ihrer beträchtlichen Selbstdisziplin und Energie eine
auf durchschnittlich 24,53 Dollar im Mai 1934 erhöht und stiegen umfassende Flugblatt- und Agitationskampagne auf die Beine, die
bis zum Mai 1935 weiter auf 29,33 Dollar. Harry Hopkins erklärte wesentlich dazu beitrug, die Arbeitslosen zu vereinen und ihre Wut
die neue Haltung der Regierung gegenüber den Arbeitslosen: in Widerstand zu verwandeln. Zudem übernahmen die Kommuni-
»Lange Zeit hegten diejenigen, die keine Unterstützung benötigten, die sten häufig selbst die Führung bei Auseinandersetzungen mit der
Illusion, daß Sozialhilfeempfänger ihr Schicksal selbst verschuldet hätten. Polizei; die Genossen wurden ermahnt, nicht zurückzuweichen
Doch inzwischen ist es der Nation ziemlich bewußt geworden, daß die und die anderen Arbeitslosen zu verteidigen, wenn die Polizei
Arbeitslosen aus allen Schichten der arbeitenden Bevölkerung stammen angriff, was häufig vorkam (Seymour, August 1937, 9 11; Leab,
-

und zu den besten Menschen im Land gehören.« (Kurzman, 8 5) 300-303 ; Lasswell und Blumenstock, 165-213).
In diesem Stadium gab es nur wenige Mitgliederversammlungen,
Vom Aufruhr zur Organisation kaum formelle Strukturen in den Gruppen und nur beschränkte
Versuche, zwischen den einzelnen Gruppen formelle Bande zu
Seit Beginn der Depression zog das rebellische Potential, das in den knüpfen. Die Räte wurden auf Massenversammlungen und De-
arbeitslosen Massen steckte, »organizers« und Aktivisten der Lin- monstrationen schlagartig lebendig, in der Zwischenzeit machte
ken magisch an. Sie näherten sich den Arbeitslosen zwar auf unter- nur eine Kadergruppe die Organisation aus. »Doch die in dieser
schiedliche Weise, doch eines war ihnen allen gemeinsam: sie Zeit herrschende Stimmung«, schreibt Leab, »ermöglichte es die-
beklagten ohne Ausnahme den lockeren und chaotischen Charak- sem harten Kern, Menschen in immer größerer Zahl für Protestde-
ter der Bewegung und strebten durchweg den Aufbau einer Organi- monstrationen zu mobilisieren.« (304)
sation an. In der Anfangsphase der Depression hatte sich die Mehrheit der

92 93
Sozialisten gegen die Organisierung der Arbeitslosen gestellt. Statt den ländlichen Gebieten und Kleinstädten Ohios, West Virginias,
dessen hatte der Nationale Exekutivrat der »Socialist Party« im Kentuckys, North Carolinas und Pennsylvanias auf, wo sie zumin-
Mai 1929 die Bildung von Notausschüssen zur Bekämpfung der dest anfänglich eine undogmatische und an den unmittelbaren
Arbeitslosigkeit angeregt, die sich für die Durchsetzung des Partei- Nöten der Arbeitslosen orientierte Politik verfolgten. Die »Unem-
programms — Altersversorgung, Arbeitslosenversicherung und die ployment League« von Seattle, die so etwas wie ein Modell für viele
Abschaffung der Kinderarbeit — einsetzen sollten. Doch daraus dieser Versuche darstellte (obwohl sie nicht Teil der CPLA war),
wurde nicht viel. In einigen Orten begannen statt dessen Gruppen hatte, zumindest für kurze Zeit, besonderen Erfolg. Sie gab Ende
von Sozialisten, die häufig mit der »League for Industrial Demo- 1931 für Seattle selbst 12 000 Mitglieder sowie Ende 1932 für den
cracy« assoziiert waren, Arbeitslosenkomitees und Arbeitslosenge- gesamten Staat Washington 8o 000 Mitglieder an. Zu Beginn propa-
werkschaften zu organisieren, auch ohne dafür ein Mandat der gierte die Gruppe den direkten Tausch; die Mitglieder arbeiteten
nationalen Parteiorganisation zu besitzen. Sie operierten ähnlich bei Farmern und ließen sich mit Naturalien entlohnen. Doch als die
wie die kommunistischen Arbeitslosengruppen: mit ständigen Erntezeit von 1931 und damit diese Art der Selbsthilfe zu Ende
Beschwerden und massivem Druck auf die Institutionen.' Am ging, wandte sich die »League« um Hilfe an die Stadt. Der Stadtrat,
erfolgreichsten von diesen Gruppen war das »Workers' Committee der wegen der ständig wachsenden Zahl von Gefolgsleuten der
on Unemployment« in Chicago, dem man zuschrieb, die Wohl- Gruppe besorgt war, bewilligte eine halbe Million Dollar für
fahrtszahlungen in Cook County auf eines der höchsten Niveaus Sozialfürsorge und übergab die Mittel der »League« zur Verwal-
im Land gebracht zu haben (Rosenzweig, 1974, 12). Aufgrund der tung. Bei den Wahlen von 1932, als schätzungsweise ein Drittel der
Erfolge der kommunistischen Arbeitslosenräte und dieser lokalen, Wähler von Seattle Mitglieder der »League« waren, unterstützte die
von Sozialisten geführten Organisationen entschloß sich endlich Gruppe eine von John E Dore angeführte Kandidatenliste. Dore
auch der Nationale Exekutivrat der »Socialist Party«, die direkte versprach während des Wahlkampfes, den Wohlhabenden große
Organisation der Arbeitslosen zu unterstützen (Rosenzweig, 1974, Vermögen abzunehmen, »die sie von den amerikanischen Arbeitern
14). Jetzt begannen auch Sozialisten in anderen Orten, vor allem in gestohlen« hätten. Er siegte daraufhin mit der größten Mehrheit in
New-York und Baltimore, mit der Organisierung von Gruppen, die der Geschichte Seattles. Gleich nach seiner Amtsübernahme ent-
dem Modell des »Chicago Workers' Committee« folgten. Aus die- zog er der »League« jedoch die Verwaltung der Fürsorgegelder und
sen Gruppen entstand später die »Workers' Alliance of America«, drohte, die Arbeitslosendemonstrationen mit Maschinengewehren
der Höhepunkt aller Organisationsbemühungen unter den Ar- zusammenschießen zu lassen, was ihm den Beinamen »Revolving
beitslosen. Dore« einbrachte (Bernstein, 1970, 416-418). (Ein Wortspiel, das
Auch andere Radikale waren aktiv. Viele von ihnen gehörten zur auf den angedrohten Schußwaffengebrauch [Revolver] und auf
»Conference for Progressive Labor Action« (CPLA), in der sich im Dores Opportunismus anspielt [»revolving door« = Drehtür;
Mai 1929 Sozialisten und Gewerkschafter zusammengefunden hat- d. Ü.1)
ten, die sowohl die konservative Führung des Gewerkschaftsdach- Viele der »Unemployed Leagues« blieben, wie die Gruppe in
verbandes AFL als auch das Modell einer Gegengewerkschaft, das Seattle, nicht lange Selbsthilfeorganisationen — nicht zuletzt, weil
von der kommunistischen ›Trade Union League« propagiert Selbsthilfeprogramme nicht in der Lage waren, mit der umfas-
wurde, ablehnten. Die CPLA war ursprünglich nur als Propagan- senden und andauernden Arbeitslosigkeit fertig zu werden. 1933
da- und Aufklärungsorganisation gedacht gewesen, begann jedoch wurden die »Leagues« politischer und ihre Taktiken härter. Sie
1931 nach links zu rücken; gleichzeitig wurde A. J. Muste, der in stimmten jetzt in den allgemeinen Chor der Forderungen nach
den zwanziger Jahren das »Brookwood Labor College« geleitet öffentlichen Wohlfahrtsprogrammen ein. In einigen Ortsgruppen
hatte, mit einem Pogramm zur Bildung lokaler Arbeitslosenorgani- übernahmen Kommunisten die Führung, und später schlossen sich
sationen zur führenden politischen Figur. Die Muste-Gruppen, einige Führer der Leagues, unter ihnen Louis Budenz, der Kom-
gewöhnlich »Unemployed Leagues« genannt, blühten vor allem in munistischen Partei an.
94 95
In vielen Städten tauchten noch weitere Gruppen auf, zum Teil ten William Green und John L. Lewis zwar Grußbotschaften an
unter Vorzeichen, die nichts mit radikaler Politik gemein hatten. So Versammlungen von Arbeitslosen (Seymour, Dezember 1937, io),
gründeten zum Beispiel lokale Politiker in ihren Wahlkreisen Ver- doch lehnte der CIO Anträge von Arbeitslosenorganisationen auf
eine, die sich für die Probleme einzelner Bedürftiger unter ihren Aufnahme in den Gewerkschaftsbund ab.
Wählern einsetzen sollten —vor allem natürlich vor Wahlen.' In vie- Wegen des vielfältigen Charakters der Arbeitslosenbewegung
len ländlichen oder teilweise ländlichen Gebieten bildeten sich kann ihre Mitgliederzahl nicht genau bestimmt werden; es ist ohne-
Gruppen nach dem Konzept der Selbsthilfe oder des direkten hin wahrscheinlich, daß sie stark fluktuierte. Durch die Hoffnung
Tauschs.' In Dayton wurde Ralph Borsodi, ein utopischer Denker, auf Sozialfürsorge motiviert, stießen viele Menschen zur Bewe-
der eine Rückkehr zum einfachen Landleben propagierte, vom gung, und viele verließen sie wieder, sobald sie die benötigte Unter-
»Council of Social Agencies« dazu engagiert, Gruppen zu organi- stützung erhalten hatten. Bis zum Februar 1934 kannten die
sieren, die sich weitgehend selbst versorgten (Bernstein, t97o, 42o). Arbeitslosenräte weder Beiträge noch Mitglieder; wer sich dazu-
Arthur Moyer, Präsident des »Antioch College«, gründete die zählte, wurde schlicht »Anhänger« genannt (Seymour, August
»Midwest Exchange, Inc.«, die unabhängige Gruppen zu Selbst- 1933 ir — 3). Geht man von den Angaben der Gruppen selbst aus,
hilfe und unmittelbarem Tausch ermutigte (Glick, 13-14). In Har- waren die Mitgliederzahlen für eine reine Basisorganisation
lem nahm die Selbsthilfe die Form von Lebensmittelsammlungen äußerst eindrucksvoll. 1933 gab die »Unemployed League« in
und Mieter-Partys an, die häufig von Kirchengemeinden oder Ohio insgesamt too 000 Mitglieder in 187 Ortsgruppen an; die
Anhängern Father Divines veranstaltet wurden.3° »Unemployed League« von Pennsylvania zählte 193 5 25 000 Mit-
In manchen Gebieten, vor allem den Bergbauregionen, wo die glieder in zwölf Landkreisen; die »Pennsylvania Security League«
Arbeitslosigkeit besonders umfassend war, leisteten die Gewerk- meldete rund 7o 000 Mitglieder (Seymour, Dezember 1937); die
schaften den Arbeitslosen Unterstützung und führten gelegentlich »Pittsburgh Unemployed Citizens' League« zählte nach eigenen
sogar gemeinsame Aktionen mit ihnen durch. So führten Ortsver- Angaben 5o 000 beitragzahlende Mitglieder in 5o Ortsgruppen
bände der »United Mine Workers« (UMW) zwei Hungermärsche (Karsh und Garman, 92). In Chicago gaben allein die Arbeitslosen-
in Charleston (West Virginia) an und organisierten in Gallup (New räte an, über eine Mitgliedschaft von 22 000 in 45 Zweigstellen zu
Mexico) zusammen mit dem dortigen Arbeitslosenrat massenhaf- verfügen, während die von den Sozialisten geführten Gruppen bis
ten Widerstand gegen die Zwangsräumung arbeitsloser Bergarbei- Mitte des Jahres 1932 000 Arbeitslose organisiert hatten (Rosen-
ter aus Häusern, die auf dem Boden der Bergwerksgesellschaften zweig, 1967 a).
standen. In Pennsylvania schlossen sich Ortsverbände der UMW
mit Arbeitslosengruppen zusammen und gaben ihnen finanzielle Die Bildung einer nationalen Organisation
Unterstützung (Seymour, Dezember 1937, 6). Woanders kam es
gelegentlich auch vor, daß Arbeitslosengruppen streikende Arbei- Entstanden war die Arbeitslosenbewegung in einzelnen Städten,
ter unterstützten. Der Streik bei Auto-Lite in Toledo und der Stra- bei sporadischen Straßendemonstrationen, Mieterunruhen und
ßenbahner-Streik in Milwaukee im Jahre 1934 wurden letztlich Störaktionen auf Sozialämtern. Die Ortsgruppen waren oft nur
durch die Unterstützung von Tausenden von Arbeitslosen zugun- locker organisiert und wurden mehr durch die periodischen
sten der Arbeiter entschieden. In Minneapolis schließlich gehörten Demonstationen als durch reguläre und formelle Mitgliedschaft
auch Arbeitslose zum militanten Ortsverband 574 der Teamsters zusammengehalten. Sie gewannen an Kraft durch die Erfolge in
(der Gewerkschaft der Lastwagenfahrer und anderer Dienstlei- den direkten Aktionen, die Geld oder Lebensmittel einbrachten
stungsberufe — d.Ü.) (Glick, 13). Im großen und ganzen allerdings oder Wohnungsräumungen verhinderten. Doch die Mehrzahl der
vermieden die Gewerkschaften den Kontakt zu den Arbeitslosen, radikalen Sprecher der verschiedenen Gruppen hielt die organisa-
die von den Mitgliederlisten gestrichen wurden, wenn ihre Mit- torische Unverbindlichkeit der Ortsgruppen für einen Nachteil.
gliedsbeiträge nicht mehr eingingen.' Kurz nacheinander schick- Schon im November 1930 kritisierte das Politbüro der Kommuni-
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stischen Partei das Fehlen »organisatorischer Klarheit« in den nisierten die Kommunisten Ende jenes Monats eine Konferenz in
Arbeitslosenräten, und ein Parteifunktionär klagte, »trotz Millio- New York, zu der, Berichten zufolge, 215 Delegierte aus dreizehn
nen Flugblättern und Hunderten von Versammlungen, nicht zu Bundesstaaten erschienen und auf der sie zur Gründung einer auto-
reden von dem halben Dutzend Demonstrationen in jeder Stadt, nomen nationalen Arbeitslosenorganisation aufriefen.' Im Juli
sind gut organisierte Arbeitslosenräte praktisch nicht existent« fand in Chicago eine größere Versammlung mit 132o Delegierten
(Rosenzweig, 1976 b, 42).' statt, auf der die Gründung der »Unemployed Councils of the
Trotz tiefgehender Differenzen zwischen den Kommunisten, U.S. A.« verkündet wurde. Es wurde ein Programm verabschiedet,
Sozialisten und Muste-Anhängern in Fragen des internationalen das nach einer nationalen Arbeitslosenversicherung und bundes-
Sozialismus, teilten sie doch die Auffassung, daß die Erfolge der staatlichen Geldern für Sozialfürsorge verlangte, sowie eine for-
Arbeitslosen in der Frühphase der Depression reine Almosen dar- melle Organisationsstruktur erarbeitet, die das Verhältnis zwi-
stellten. Eine signifikante politische Bewegung, die in der Lage schen verschiedenen organisatorischen Ebenen — Stadtteil, Orts-
gewesen wäre, entscheidende Erfolge zu erringen, konnte ihrer gruppen, Landkreis, Einzelstaat und Bundesebene — festlegte. 1934
Meinung nach nur auf der Grundlage fest organisierter lokaler und gaben sich die Arbeitslosenräte auch eine schriftlich niedergelegte
einzelstaatlicher Gruppen entstehen, die sich zu einem nationalen Satzung (Leab, 308-31 ). Die Kursänderung der Komintern von
Verband mit einem nationalen Programm zusammenschlossen.' 1935 schließlich beschleunigte nicht nur die organisatorische Ent-
Anstelle uneinheitlicher lokaler Gruppen, die Fürsorgeämter wicklung, sondern ebnete den Weg zum Aufbau einer Organisa-
besetzten oder Demonstrationszüge zum Rathaus anführten, wo tion, die alle Arbeitslosengruppen umfassen sollte.
sie doch nur Almosen erhielten, sollte eine bundesweite Organisa- Als im Herbst 1932 die Wahlen vor der Tür standen, unternahmen
tion der Armen entstehen; eine Organisation, die eine so große auch die Sozialisten Schritte zur Entwicklung einer nationalen
Zahl von Wählern hinter sich wüßte, daß sie den Kongreß zur Ver- Organisation.' Das »Chicago Workers' Committee« berief eine
abschiedung grundlegender ökonomischer Reformen zwingen Versammlung »aller uns bekannter >Unemployed Leagues<, mit
könnte. Das Heraufkommen des New Deal, die Amtsübernahme Ausnahme der >Arbeitslosenräte< der Kommunistischen Partei«,
durch einen wohlgesonnenen Präsidenten und Kongreß ermutig- ein (Seymour, Dezember 1937, 7). Das Ergebnis der Konferenz war
ten diesen Ansatz natürlich: die Zeit schien reif, mit Hilfe des poli- die Gründung der »Federation of Unemployed Workers' Leagues
tischen Wahlsystems weitreichende Veränderungen zu erreichen. of America«, die den nächsten Präsidenten und Kongreß auffor-
Darüber hinaus bestärkte eine grundlegende Kursänderung der derte, ein ganzes Gesetzgebungspaket zu verabschieden: direkte
Komintern-Politik (die aufgrund der verspäteten Erkenntnis Sozialfürsorge, öffentliche Arbeitsprogramme und Beseitigung der
zustande gekommen war, daß der Faschismus eine schwerwiegende Slums, Arbeitslosen- und Rentenversicherung, Verkürzung der
Bedrohung für den Weltkommunismus darstellte) den Stellenwert Arbeitszeit und Abschaffung der Kinderarbeit. Die »Federation«
von Organisationsaufbau und parlamentarischer Strategie durch selbst war nur von kurzem Bestand, doch der Glaube an die mäch-
die Kommunisten, die bis dahin die militantesten und aufsässigsten tige politische Kraft einer nationalen Organisation lebte fort, und
Arbeitslosengruppen angeführt hatten.' Der neue »Volksfront«- so vereinten sich die sozialistischen Gruppen 1934 zu »Federa-
Ansatz verlangte von den Kommunisten, Allianzen mit liberalen tions« auf einzelstaatlicher Ebene.
und sozialistischen Gruppen anzustreben, die sie zuvor noch als In der Zwischenzeit waren im Juli 1933 Soo Delegierte aus drei-
»Sozialfaschisten« verleumdet hatten. Dies bedeutete ganz eindeu- zehn Bundesstaaten in Columbus, Ohio, zusammengekommen,
tig, daß man sich um Allianzen innerhalb der New-Deal-Koalition um die erste nationale Konferenz der »Unemployed Leagues«
und mit dem New Deal selbst zu bemühen hatte.' abzuhalten. Zu diesem Zeitpunkt waren die radikalen, intellektuel-
Im Grunde genommen hatte es fast von Beginn an Bestrebungen len Führer der »Conference for Progressive Labor Action«, von
gegeben, eine nationale Organisation zu schaffen. Durch die denen die Leagues organisiert worden waren, bereits zu überzeug-
erfolgreichen Demonstrationen vom 6. März 193o ermutigt, orga- ten Verfechtern einer »Massenpartei der Arbeiter« geworden, deren

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Ziel die »vollständige Abschaffung des planlosen, nach Profit stre- neten sich den Sozialisten weitgehend unter und gaben sich mit nur
benden Kapitalismus und der Aufbau einer Arbeiter-Republik« halb so vielen Sitzen im neuen Exekutivausschuß zufrieden. Nach
sein sollte (Karsh und Garman, 91)." Lösung dieser Fragen wurde ein Hauptquartier in Washington ein-
Die Bemühungen, eine nationale Organisation zusammenzu- gerichtet und der Mitarbeiterstab vor Ort erweitert. »Vereinigungs-
schweißen, hielten während des ganzen Jahres 1934 an. Im März Kongresse« auf einzelstaatlicher Ebene folgten dem nationalen
hoben die Anführer von sozialistisch orientierten Organisationen Treffen, und neue lokale Organisationen begannen, sich um Auf-
aus Baltimore, New York, Westchester, Pittsburgh, Reading und nahme in die Allianz zu bemühen. Allem Anschein nach war eine
Hartford die »Eastern Federation of Unemployed and Emergency Menge erreicht worden: eine nationale Organisation der Armen
Workers« aus der Taufe. Im Laufe des Sommers und Herbstes 1934 war geboren.
trafen die Gruppen der »Eastern Federation« mit den sozialistisch
geführten Federations der Bundesstaaten Illinois, Wisconsin und Der Niedergang der Protestbewegung
Florida sowie mit den Muste-Gruppen zusammen, um eine
Demonstration vorzubereiten. Aus diesem Treffen ging ein vorläu- Als Lasser damit begann, den Aufbau einer nationalen Organisa-
figer Nationalausschuß hervor, der Pläne zur Gründung einer tion zu betreiben, hatte er argumentiert, eine solche Vereinigung
nationalen Organisation der Arbeitslosen entwickeln sollte." würde nicht nur die Bildung weiterer lokaler Gruppen stimulieren,
Im Frühjahr 1935 war es endlich so weit: aus einer Konferenz in sondern ihnen auch Dauerhaftigkeit verleihen (New Leader, 22.
Washington wurde ein »permanenter, parteipolitisch ungebunde- Dezember 1934, i). Tatsächlich aber ging die Zahl der lokalen
ner Verband« der meisten großen Arbeitslosenorganisationen der Gruppen im Land zu der gleichen Zeit zurück, als die Vertreter der
Vereinigten Staaten — die »Workers' Alliance of America« — geboren. Arbeitslosenorganisationen sich darauf konzentrierten, eine natio-
Delegierte von Arbeitslosenorganisationen aus 16 Staaten waren nale Organisation — komplett mit Satzung und bürokratischer
anwesend.' Eine Satzung wurde verabschiedet, ein Beitragssystem Struktur — aus der Taufe zu heben. Dieser Rückgang war zum gro-
geschaffen und ein Nationales Exekutivkomitee ernannt, das den ßen Teil Folge der liberaleren Wohlfahrtspraxis der Roosevelt-
Auftrag erhielt, mit den kommunistischen Arbeitslosenräten Ver- Administration, der es gelang, lokale Gruppen von ihren Störaktio-
handlungen über einen Zusammenschluß aufzunehmen. Ein zwei- nen abzubringen und lokale Anführer in bürokratische Funktionen
ter Nationalkongreß der »Workers' Alliance« im April 1936 zog einzubinden. Sobald die Bewegung aber an Stärke verlor und die
Delegierte von Organisationen aus 36 Bundesstaaten an, darunter Instabilität, deren Ausdruck sie war, zurückging, wurden auch die
auch die Arbeitslosenräte. Ende des Jahres hatte die »Alliance« Fürsorgeleistungen wieder eingeschränkt. Daß dies geschah,
eigenen Angaben zufolge 600 Ortsverbände mit insgesamt spricht hauptsächlich für die Fähigkeit des amerikanischen politi-
600000 Mitgliedern in dreiundvierzig Bundesstaaten." Auf dem schen Systems, immer wieder auf die Füße zu fallen. Daß es aller-
letztgenannten Kongreß wurde der Zusammenschluß der meisten dings so schnell geschah, und dazu noch zu einem so niedrigen
bedeutenden Arbeitslosengruppen eingeleitet: der »Workers' Preis, sagt einiges über die Rolle aus, die die Führer der Arbeitslo-
Alliance«, der Arbeitslosenräte, der »National Unemployment sen selbst spielten. Denn bei dem Versuch, durch organisierten und
League«, der »American Workers Union« und mehrerer unabhän- wahltaktischen Druck wesentlichere Reformen durchzusetzen,
giger einzelstaatlicherVerbände. Der Sozialist David Lasser, der an verzichteten sie auf lokale Störaktionen und -wurden unbeabsich-
der Spitze der »New Yorker Workers' Committee on Unemploy- tigt zu Kollaborateuren in einem Prozeß, der der Bewegung letzt-
ment« stand und bereits Vorsitzender der ersten Alliance gewesen lich die Spitze abbrach.
war, wurde wiederum zum Vorsitzenden gewählt; der Kommunist Die Fähigkeit der lokalen Gruppen, Anhänger anzuziehen, war
Herbert Benjamin, der nationaler Sekretär der Arbeitslosenräte von ihren konkreten Erfolgen in den Sozialämtern abhängig gewe-
gewesen war, wurde Organisationssekretär. Die Kommunisten der sen. Doch der vergrößerte Verwaltungsapparat, die Mittelauswei-
Arbeitslosenräte — inzwischen voll in ihrer Volksfront-Phase — ord- tung und die wohlwollender gewordene Atmosphäre unter der
I00 IC I
Roosevelt-Administration erlaubten es den Fürsorgeverwaltun- Anfrage.) Die Formulare müssen in zweifacher Ausfertigung vorgelegt wer-
den.
gen, ihre Arbeit zu normalisieren und wieder volle Kontrolle über
Wenn der Klient nach Antragstellung nicht erhält, was er seiner Meinung
die Gewährung der Sozialhilfe zu erlangen. Die Fürsorgebeamten nach braucht und worauf er einen Anspruch zu haben glaubt, kann er, wenn
behaupteten häufig, daß es in Wahrheit keine Interessengegensätze er möchte, nach Besprechung des Falls mit dem zuständigen Sachbearbeiter
zwischen ihnen und den Arbeitslosen gebe, sondern daß Konflikte einem gewählten Vertreter seiner Organisation den Fall vortragen, worauf-
von bestimmten Anführern geschaffen worden seien, die sich hin dieser auf dem dafür vorgesehenen Formular des Amtes die notwendi-
Unzulänglichkeiten des Systems zunutze gemacht hätten, um gen Informationen klar und gut leserlich niederlegen wird. Anfragen wer-
künstliche Gegensätze zu schaffen, die Arbeitslosen zu manipu- den nicht bearbeitet, wenn der Antragsteller die Angelegenheit nicht vorher
lieren und sie für ihre politischen Zwecke auszunutzen. Es seien mit dem zuständigen Sachbearbeiter besprochen hat. ... Der gewählte Ver-
standardisierte Vergaberichtlinien notwendig, um Ansprüche ent- treter wird ... sich darum bemühen, den Klienten davon zu überzeugen,
unmögliche Forderungen fällen zu lassen, ebenso wie Forderungen, die eine
sprechend ihrer »Berechtigung« und nicht »unter Druck« behan-
Änderung der Regeln und Vorschriften über die Vergabe von Unterstüt-
deln zu können. (Druck, so argumentierten sie, sollte auf den
zung betreffen und außerhalb des Kompetenzbereiches des örtlichen Für-
Gesetzgeber ausgeübt werden und nicht auf wohlmeinende Fürsor- sorgeamtes liegen.
gebeamten.) Nach diesen Erwägungen machten sie sich daran, prä- jede Beschwerde wird in zweifacher Ausfertigung auf dem dafür vorgese-
zise Kriterien auszuarbeiten, wer wieviel Unterstützung bekom- henen Formular dem Vorsteher des Bezirksamts bei regelmäßigen, zu die-
men solle. Gleichzeitig entwickelten sie komplizierte, formalisierte sem Zweck angesetzten Treffen vorgelegt. ... Die Treffen mit einem aus
Verfahren für Verhandlungen mit organisierten Arbeitslosengrup- nicht mehr als fünf Mitgliedern bestehenden Ausschuß der Arbeitslosenor-
pen. In der Stadt New York zum Beispiel besagten die Verhand- ganisation finden in jedem Fürsorgebezirk einmal pro Woche statt.
lungsrichtlinien, daß die Delegationen der Arbeitslosen maximal Fälle, die nach Auffassung des Arbeitslosenausschusses nicht befriedigend
drei bis fünf Personen umfassen dürften; Treffen dürften nur alle behandelt worden sind, können dem Bezirksausschuß der Arbeitslosenor-
ganisation unterbreitet werden; wenn der Bezirksausschuß nach Prüfung
zwei Wochen stattfinden und auch nur mit dem dazu vorgesehe- des Sachverhaltes der Meinung ist, daß weitere Maßnahmen zu ergreifen
nen Verwaltungsbeamten; Delegationsmitglieder und die von sind, legt er den Fall dein >Executive Director< zur endgültigen Beschlußfas-
ihnen vertretenen Arbeitslosen durften niemals gemeinsam ange- sung vor. ... Der 'Executive Director< nimmt nur Beschwerden entgegen,
hört werden; schriftliche Antworten waren verboten; und schließ- die diesen Anforderungen entsprechen.
lich durfte Unterstützung keinesfalls gewährt werden, solange die Die Vertreter der Arbeitslosenorganisiation ... haben sich ernsthaft darum
Delegation sich noch in den Amtsräumen aufhielt (Hervorhebung zu bemühen, eine gründliche Kenntnis der Verfahrensweisen und Vorschrif-
v. Verf. — Brophy und fjallowitz, 50-53). Ähnliche Regelungen ten zu erwerben, und zur Erklärung dieser Sachverhalte gegenüber ihrer
wurden im ganzen Land getroffen, häufig sogar durch Verhandlun- Mitgliedschaft beizutragen.« (Hervorhebungen im Original — zitiert bei
Seymour, Dezember 1937, Anhang)
gen mit den Arbeitslosengruppen selbst. Auszüge aus einem dieser
Vorschriftenkataloge, der von dem Amt des »Consultant an Com- Innerhalb kurzer Zeit hatte in Pennsylvania die Vorlage von
munity Contracts« in Pennsylvania (einer Dienststelle, die Lokal- Beschwerden durch Arbeitslosenausschüsse die bisherigen Mas-
verwaltungen bei der Abfassung von Verträgen beriet — d.Ü.) aus- sendemonstrationen ersetzt. Ein Artikel im Survey vom September
gearbeitet worden war, illustrierten die Komplexität dieser neuen 1936 gab die Ansichten eines typischen Fürsorgebeamten über die
Verfahrensweisen ebenso wie die wohlwollende Sprache, in die sie Vorzüge dieser Regelungen wieder:
sich kleideten: »Früher mußten wir Gruppen empfangen, die so groß waren, wie ihre Füh-
»Verfahrensrichtlinien für die Anerkennung von Arbeitslosen- und Arbeiter- rer es wollten, selten unter 25 Mann. Das Ergebnis waren ständige Massen-
organisationen und die Behandlung ihrer Beschwerden versammlungen, auf denen der eine noch mehr redete als der andere. Spezi-
Den Vertretern der Arbeitslosenorganisationen eines jeden Distrikts wer- fische Beschwerden und Probleme gingen bei den langen Tiraden gegen die
den vorn Fürsorgeamt Formulare zur Verfügung gestellt, auf denen jede allgemeine Organisation der Gesellschaft völlig unter. Manchmal hatten
Anfrage deutlich dargestellt werden muß. (Pro Formular jeweils nur eine wir uns mit einem halben Dutzend Delegationen pro Tag auseinanderzuset-

102 103
zen, und das Büro war in ständigem Aufruhr. Es war einfach nicht genug Mancherorts gingen die Wohlfahrtsverwaltungen so weit, Vertre-
Zeit, um unsere Arbeit zu machen und dazu noch bei diesem ständigen ter der Arbeitslosen in den bürokratischen Apparat aufzunehmen.
Gerede präsent zu sein. Also bestanden wir darauf, daß die Größe der Dele- Begründet wurde dies damit, daß »organisierte Klientengruppen
gationen beschränkt wird. Jetzt ... können wir endlich was schaffen.« einem Bedürfnis entsprechen«, und deshalb »Wege gefunden wer-
(zitiert bei Seymour, Dezember 1937, 16) den sollten, die es diesen Gruppen erlauben, sich zu >artikulieren<.
Einige Fürsorgeämter formalisierten nicht nur ihre Beziehungen Faire Anhörungen und ähnliche Mittel zurVertretung der Klienten-
zu den Arbeitslosenorganisationen, sondern verlegten dieVerhand- gruppen im Beratungsausschuß dürften sich bei der Bewältigung
lungen darüber hinaus in separate Beschwerdestellen oder Public- spezieller Probleme als nützlich erweisen.« (zitiert bei Seymour,
Relations-Büros, die man weit entfernt von den eigentlichen Dezember 1937, 2o) Ein von der »Family Welfare Association«
Ämtern eröffnete. Chicago war eine der ersten Städte, die ein sol- verbreiteter Bericht beschreibt die ungevvohnte Einfühlungsgabe
ches System einführten. Es gab dort eineVielzahl von Arbeitslosen- der Fürsorgebeamten: »Nur wenn unsere Mitbürger Verständnis
gruppen; allein das »Workers Committee on Unemployment« für unsere Arbeit aufbringen und ihren Teil dazu beitragen, können
hatte nach eigenen Angaben im Jahr 193 3 36 Stadtteilgruppen die Bedürfnisse der Klienten zufriedenstellend erfüllt werden.«
(Karsh und Garman, 89).Wiederholte lokale Demonstrationen, die (Seymour, August 1937, 66)42 Und tatsächlich: je stärker die
mehrere Verletzte forderten, veranlaßten das Sozialamt des Regie- Arbeitslosengruppen auf diese Weise integriert wurden, um so »rei-
rungsbezirkes, im Januar 1933 ein Public-Relations-Büro einzu- fer« und »vernünftiger« wurden sie. Sie fungierten dann als eine
richten und gleichzeitig den Arbeitslosengruppen den Zutritt zu Art Hilfsstab, der sogar Untersuchungen durchführte, die das Amt
den lokalen Fürsorgestellen zu verw-ehren. Anfangs boykottierten selbst nicht leisten konnte (Seymour, August 1937, 68). Unbestreit-
die Chicagoer Gruppen das neue Büro, beklagten dessen Abgele- bar stellten die Arbeitslosen, nachdem sie einmal in die neuen
genheit und erklärten, daß es ohnehin nur eingerichtet worden sei, Verfahren eingewilligt hatten, für die lokalen Verwaltungen kein
um sich dem Druck der Arbeitslosen zu entziehen. Das Amt blieb größeres Problem mehr dar. Ein Fürsorgebeamter aus Chicago
jedoch fest und so gaben die Gruppen schließlich nach. Der Direk- konnte dann auch einem Reporter erzählen, daß die Arbeitslosen-
tor konnte anschließend berichten, daß das neue Büro gruppen eine gute Sache seien, denn: »Sie haben den Männern die
Möglichkeit gegeben, rrial richtig Dampf abzulassen.« (Rosen-
»in dieser Beziehung ein voller Erfolg ist; es hat einem der ärgerlichsten zweig, 1976 a)
Probleme bei der Verwaltung der Sozialfürsorge im Regierungsbezirk ein
Ende bereitet. Individuelle Eingaben, sowohl von den zu RechtVerärgerten Im Rahmen des Arbeitsbeschaffungsprogrammes wurden ähnli-
als auch von den notorischen Nörglern, werden auch weiterhin im lokalen che Verfahrensweisen entwickelt, die sich dort ebenfalls als Stabili-
Büro entgegengenommen, Delegationen dort jedoch nicht mehr empfan- sierungsfaktor herausstellten. Zunächst noch unter der »Civil
gen. Insofern, als einige dieser Komitees zuvor durch ihr aufsässiges Verbal- Works Administration« (CWA) von 1933 und später unter der
ten eine geordnete Abwicklung unmöglich gemacht haben, hat sich die »Works Progress Administration« (WPA) bildeten die Arbeitslosen
Situation entscheidend verbessert.« (zitiert bei Seymour, Dezember 1937, Vereinigungen nach dem Vorbild der Gewerkschaften. Anfangs
22) führten sie — häufig erfolgreiche — Streiks für höhere Löhne und
Die Eröffnung eines zentralen Beschwerdebüros beraubte die bessere Arbeitsbedingungen durch. In West Virginia beispielsweise
Arbeitslosengruppen von Chicago ihrer wichtigsten Waffe in der erreichten streikende CWA-Arbeiter eine Lohnerhöhung von 3 5
Auseinandersetzung mit den Fürsorgeämtern. In der Folge gingen auf 4 5 Cents in der Stunde; in Illinois setzten sie eine Anhebung
ihre Mitgliederzahlen zurück, und interne Differenzen unter den von 4o auf 50 Cents durch. Aber die Streiks hatten zum Teil auch
Gruppen nahmen zu (Seymour, August 19 3 7, 8 ). Zur gleichen Zeit schwere Strafen zur Folge. Häufig wurden die Männer, die an
nahmen die beiden führenden Vertreter des »Chicago Workers einem Ausstand teilgenommen hatten, für »freiwillig ausgeschie-
Committee on Unemployment« Positionen in der »Federal Emer- den« erklärt. Doch mit der starken Ausweitung der Arbeitsbeschaf-
gency Relief Administration« (FERA) an (Rosenzweig, 1974, 35). fungsmaßnahmen des Bundes im Jahre 1935 begann sich eine neue,

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konziliantere Politik der Bundesregierung herauszubilden. Man senführer sie teilten. Die frühen Erfolge der Arbeitslosenbevvegung
gestand den Arbeitern jetzt das Recht zu, sich zu organisieren und im Kampf um öffentliche Unterstützung waren nicht in den Lob-
Vertreter für Verhandlungen mit der Fürsorgeverwaltung zu bys der Parlamente oder in Verhandlungen gewonnen worden,
bestimmen; Beschwerdeverfahren und Appellations-Ausschüsse oder etwa weil man sich nach standardisierten Beschwerdeverfah-
wurden eingerichtet, und die ausführenden Behörden dazu ange- ren gerichtet hatte. (Wenn es eine wirksame parlamentarische
halten, faire und freundliche Beziehungen mit den Arbeitern zu Lobby gab, dann bestand sie aus Lokalpolitikern, die aufgrund
unterhalten. Nachdem diese Regelungen erlassen waren, erklärte steigender kommunaler Wohlfahrtsausgaben unter Druck standen.
der Präsident persönliche Streiks bei Arbeitsbeschaffungsprojek- Die »United States Conference of Mayors« war zum Beispiel in
ten für illegal und ermächtigte die Verwaltungen, streikende Mitar- dieser Zeit ausdrücklich zu dem Zweck gegründet worden, auf die
beiter zu ersetzen. Bundesregierung einzuwirken, damit sie den Kommunen finan-
Es soll hier nicht unterschlagen werden, daß einige Vertreter der zielle Hilfe bei deren Wohlfahrtsprogrammen leistete.) Das ganze
Arbeitslosen die Verstrickung in die Mechanismen der Wohlfahrts- politische Gewicht dieser Gruppen, ihr Einfluß auf die lokalen Für-
bürokratien fürchteten und Widerstand propagierten. Besonders sorgeverwaltungen war doch das Resultat der Erschütterungen
die von der Militanz der frühen dreißiger Jahre geschulten »organi- gewesen, die sie mit eben den »Gewalttaktiken« hervorgerufen hat-
zers« der Kommunistischen Partei neigten zumindest anfangs ten, die später von den eigenen Anführern wie auch den Behörden-
dazu, die Beschwerdesysteme zu ignorieren.' (Die Sozialisten hat- vertretern als primitiv gescholten wurden. Erfolge im Kampf um
ten aufruhrähnliche Taktiken niemals ausdrücklich befürwortet.) Unterstützung waren dadurch errungen worden, daß man aggres-
Wenn aber die Fürsorgeverwaltungen nicht nachgaben, mußten die sive Protestdemonstrationen organisiert und die sofortige Gewäh-
kommunistischen Sprecher gelegentlich erfahren, daß ihr Drängen rung von Beihilfen für Hunderte von Menschen gefordert hatte.
auf aggressiveres Vorgehen ihrem Ansehen bei den Mitgliedern Durch die Preisgabe rebellischer Taktiken zugunsten bürokrati-
schadete (Brophy und Hallowitz, 8). Die meisten Organisations- scher Prozeduren verlor die Bewegung die Möglichkeit, Entschei-
vertreter priesen die bürokratischen Reformen aber und verzichte- dungen der lokalen Fürsorgeverwaltungen zu beeinflussen. Nicht
ten auf Konfrontation, weil sie glaubten, durch bereitwillige länger fähig, greifbare Erfolge zu produzieren, verlor die Allianz
Zusammenarbeit einen wesentlichen Einfluß auf die Politik der auch ihre große Anziehungskraft, durch die sie eine so große Zahl
Fürsorgeverwaltungen gewinnen zu können. Sie willigten in die von Menschen hatte aktivieren können. Am Ende hatte sie keine
Schaffung der neuen Beschwerdesysteme ein, stimmten den massenhafte Gefolgschaft mehr — so instabil diese auch gewesen
umständlichen Regeln über die Verhandlungsführung zu und lie- sein mag —, in deren Namen und mit deren Unterstützung sie ver-
ßen sich selbst zu »mitbestimmenden Klienten« oder »Beratern« handeln konnte. Die Kraft der Bewegung war gebrochen, ihre lo-
der Verwaltungen umfunktionieren (um sich dann gelegentlich kalen Anführer tanzten auf dem glatten Parkett der Bürokratie,
Belehrungen über die sinnvollere Nutzung ihrer Freizeit anhören während die nationale Führung sich auf legislative Reformen kon-
zu müssen). Die gesamte Entwicklung schien zukunftsweisend zu zentrierte — so hatten die Fürsorgebeamten ihre Büros bald wieder
sein, jedenfalls in den Augen der Fürsorgebeamten, von denen sich fest im Griff, und die nationale Administration gewann die Kon-
die progressiveren rühmten, mit der Führung der Bewegung trolle über die Wohlfahrtspolitik zurück.
zusammenzuarbeiten, um den Armen begreiflich zu machen, nicht
länger in primitive »Gewalttaktiken« zurückzufallen, sondern zu Die Einschränkung der Sozialfürsorge
intelligenteren Formen politischer Aktion überzugehen — womit
sie Lobbyismus in Parlamenten und Verhandlungen mit Behörden Schon als die radikalen Führer sich noch bemühten, eine nationale
anstelle von Tumulten in Fürsorgebüros meinten. Organisation aus dem Boden zu stampfen, hatten sich dramatische
Die Ironie bestand nun nicht darin, daß die Fürsorgebeamten Veränderungen in der Wohlfahrtspolitik vollzogen. Im Oktober
diese Auffassung vertraten, sondern daß auch viele der Arbeitslo- 1934 erklärte Roosevelt, daß die direkten Fürsorgeleistungen eiriL

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gestellt werden sollten. Seine Botschaft klang vertraut, wie das umzusetzen. Statt 3,5 Millionen Arbeitsplätzen stellte die »Works
Echo uralter Überzeugungen: Progress Administration« während der ersten fünf Jahre ihrer
››Die fortwährende Abhängigkeit von der Sozialfürsorge führt nur allzu
Tätigkeit nur durchschnittlich etwa zwei Millionen Arbeitsplätze
leicht zu einena geistigen und moralischen Verfall, der einen grundlegend zur Verfügung. Darüber hinaus schwankte das Angebot heftig von
destruktiven Einfluß auf unseren nationalen Charakter h at. ... Wir müssen Monat zu Monat ohne ersichtlichen Zusammenhang zur realen
nicht nur die Körper unserer Arbeitslosen vor Verfall bewahren, sondern Arbeitslosigkeit, so daß die Beschäftigten nie wußten, wann sie
auch ihre Selbstachtung, ihre Unabhängigkeit, ihren Mut und ihre Ent- wieder entlassen werden würden. Es war ohnehin mehr oder weni-
schlossenheit.« ger Glückssache, ob man in das Programm hineinkam oder nicht.
Folglich: »Die Bundesregierung muß mit dieser Praxis der [direk- Zu ihrer besten Zeit konnte die WPA gerade ungefähr jedem vierten
ten] Fürsorge Schluß machen.« (Schlesinger, 196o, 267-268) Arbeitslosen einen Arbeitsplatz zuweisen (Howard, 2- 54-857).45 So
Anstelle von direkter Sozialfürsorge forderte der Präsident die waren im Jahr 1936, als die WPA rund 2,5 Millionen Arbeitsplätze
Schaffung von öffentlichen Arbeitsprogrammen, um jeder arbeits- anbot, trotzdem noch immer fast ro Millionen ohne Arbeit.
fähigen Person einen Arbeitsplatz anbieten zu können. Zu diesem Nach der Einstellung der direkten Fürsorgeleistungen des Bundes
Zweck ersuchte er den Kongreß, einen beispiellosen Etat von vier war die große Masse der Arbeitslosen — und mit ihnen die Alten, die
Milliarden Dollar zu bewilligen, zu dem noch 88o Millionen Dol- Schwachen und die Waisen — gezwungen, sich wieder an die einzel-
lar kommen sollten, die unter dem vorherigen Nothilfeprogramm staatlichen und lokalen Fürsorgeämter zu wenden, die einerseits
noch nicht ausgegeben worden waren. Wer nicht arbeiten konnte — praktisch gar nicht in der Lage waren, das Problem zu bewältigen,
dazu gehörten etwa 1,5 Millionen Familien oder Einzelpersonen, die dies aber andererseits in politischer Hinsicht auch gar nicht
die zu jenem Zeitpunkt Gelder aus dem Nothilfeprogramm erhiel- mehr zu tun brauchten. Einige Kommunen reduzierten ihre Lei-
ten —, sollte wieder, wie vor dem New Deal, den Bundesstaaten und stungen, andere stellten sie einfach ganz ein. Die Not war in
Kommunen überantwortet werden. Nach Verabschiedung des bestimmten Industriestaaten wie Ohio, Pennsylvania und Illinois
»Social Security Act« von 1935 übernahm der Bund allerdings besonders groß. In New Jersey verfiel man auf die Idee, statt So-
einen Teil der den Bundesstaaten und Kommunen durch das zialfürsorge Bettelgenehmigungen zu erteilen (Seymour, Dezem-
Gesetz entstehenden Sozialausgaben. ber 1937, 9). Texas stellte einfach jede Unterstützung an arbeitsfä-
Auf den ersten Blick schien das neue Programm des Präsidenten hige Personen ein (VVashington Post, 6. Februar 1936). Anfang 1936
eine kühne Reform — weit kühner als das bisherige Fürsorgepro- ließen die FERA und die WPA in mehreren Orten Umfragen durch-
gramm — und einen Erfolg für die Arbeitslosen zu bedeuten. Die führen, um festzustellen, was aus ehemaligen Empfängern bundes-
Beschäftigungslosen im Lande würden nicht länger darauf ange- staatlicher Sozialfürsorge, die anschließend nicht vom WPA-Pro-
wiesen sein, von der entwürdigenden Wohlfahrt zu leben. Die gramm erfaßt wurden, geworden war. Überall fanden sie große
Regierung würde ihnen Arbeit geben, Arbeit beim Wiederaufbau Zahlen von Menschen in bitterer Not, ohne Nahrung und Hei-
Amerikas.“ zung. Einige versuchten, sich mit den jämmerlichen Unterstüt-
Zur gleichen Zeit würden die Bundesstaaten und Kommunen für zungszahlungen lokaler Fürsorgestellen durchzuschlagen; die
alle diejenigen sorgen, die nicht mehr arbeiten konnten — ganz in weniger Glücklichen bettelten oder durchsuchten die Mülltonnen
der alten amerikanischen Tradition der lokalen Verantwortung für nach Eßbarem.' Und im Februar r936 berichtete Dr. Harry Ward,
die Bedürftigen. Doch während die neuen Bundesprogramme zwar Professor am Union Theological Seminarv, nach einer Rundreise
den Vorstellungen von Reformern nahekamen, die sich von denVer- der Presse, daß viele Menschen aufgrund der Sozialfürsorgekür-
sprechungen auf massive Unterstützung für die Arbeitslosen über- zungen langsam dem Hungertod entgegengingen (New York Post,
zeugen ließen, stellte sich bald heraus, daß sie bei weitem nicht aus- 13. Februar 1936).
reichten, um der real existierenden Not gewachsen zu sein, oder Diese Härten provozierten eine Reihe neuer Proteste. In Fall
auch nur die großartigen Versprechungen des Präsidenten in die Tat River, Massachusetts, stürmten Männer, die von der WPA entlassen
ro8 109
worden waren, das Rathaus (Boston Globe, z6. Januar 1936). In hingewiesen wurde, daß es den privaten Arbeitgebern unmöglich
New York demonstrierten rund Zoo Fürsorgeempfänger vor der sei, mit den von derWPA gebotenen Löhnen und Arbeitsbedingun-
Stadtverwaltung (New York Times, 27. Juni 1936). Im Mai 1936, gen zu konkurrieren. Am 3o. März faßte die New York Times die
einen Monat nach dem Kongreß der »Workers' Alliance«, veranstal- Pressemeinung mit einem Leitartikel zusammen, der erklärte, wie
tete die Organisation in New Jersey einen Marsch mit 5 000 Teil- wichtig es sei, die Kosten des Arbeitsbeschaffungsprogramms zu
nehmern zum Staatsparlament, als die Fürsorgegelder auszulaufen senken. Es gebe kein Recht auf Arbeit, verkündeten die Redak-
drohten. Im Sommer desselben Jahres fand ein ähnlicher Marsch teure; die Protestaktionen seien nur Symptome einer »Demorali-
zum Regierungsgebäude von Pennsylvania statt. Im Herbst des sierung, hervorgerufen durch fehlgeleitete Sozialprogramme«.
Jahres 1936 organisierten Vertreter der »Alliance« Arbeitsniederle- Doch nicht nur das politische Klima war umgeschlagen. Die
gungen und Demonstrationen bei WPA-Projekten, um angemes- Arbeitslosen selbst stellten nur noch eine geringere Bedrohung dar,
sene Löhne zu fordern und gegen Entlassungen zu protestieren und so brauchte auch weniger für sie getan zu werden. Sie waren
(Karsh und Garman, 93 94).
- zum Teil deshalb zu einer geringeren Gefahr geworden, weil ihre
Zwar wurden den Demonstranten in einigen Ländern und Reihen gespalten waren. Viele ihrer fähigsten und kompetentesten
Gemeinden Versprechungen gemacht, doch Washington zeigte sich Vertreter waren von den neuen Arbeitsbeschaffungsprogrammen
von den Vorfällen unbewegt. Ein Grund dafür war, daß die fast ein- aufgesaugt, einige sogar von den Fürsorgeämtern eingestellt wor-
hellige Unterstützung für Wohlfahrtsmaßnahmen aus dem Jahre den. Viele andere waren in die Obhut der übriggebliebenen Pro-
1933 sich inzwischen verflüchtigt hatte. Die Geschäfte gingen wie- gramme für direkte Unterstützung seitens der Bundesstaaten und
der besser (obwohl die Arbeitslosigkeit noch kaum zurückgegan- Kommunen abgeschoben worden. Der Rest wurde sich selbst über-
gen war); die lokalen Finanzen hatten sich einigermaßen erholt; lassen, doch ihre Zahl war nun geringer und ihre Empörung durch
und wer noch immer für öffentliche Unterstützung eintrat, war die Reformen des New Deal gedämpft worden. All dies war durch
durch das kühne neue Programm von 1935 zufriedengestellt wor- den Kurs, den die Ortsverbände der »Workers' Alliance« in der
den. Gleichzeitig stieg, nachdem der Höhepunkt der Wirtschafts- Auseinandersetzung mit den lokalen Fürsorgeämtern eingeschla-
krise offensichtlich überschritten war, die Opposition gegen alle gen hatten, erleichtert worden. Nun blieb noch abzuwarten, wel-
Formen der Sozialfürsorge vor allem in der Geschäftswelt wieder che Erfolge die »Alliance« als nationale Lobby würde vorweisen
an. Eine Auswahl von Pressestimmen aus der Zeit gibt einen unge- können.
fähren Eindruck von dieser Opposition — und von den aus der
Geschichte vertrauten Argumenten, auf die sie sich berief. Am 23.
November 1935 brachte die Chicago Tribune einen Artikel mit der Organisation und parlamentarischer Einfluß
Überschrift: »Fürsorgeempfänger verweigern Arbeit als Erntehel-
fer.« Es folgte ein Bericht über eine Umfrage in neun Landkreisen Die »Workers' Alliance of America«, die von Beginn an darauf fest-
und die Entschuldigungen, mit denen sich Fürsorgeempfänger vor gelegt war, Reformen durch Lobbying zu erreichen, reagierte auf
der Arbeit auf den Maisfeldern gedrückt hatten. Am S. November die neuen Regierungsprogramme mit heftigen Angriffen gegen das
193 5 erklärte der Los Angeles Examiner seinen Lesern unter der Weiße Haus, das nur leere Versprechungen gemacht habe, sowie mit
Überschrift »Farm-Verluste in Millionenhöhe« ebenfalls, daß Für- dem Entwurf eines eigenen Wohlfahrtsgesetzes. Der Entwurf ließ
sorgeempfänger die Arbeitsaufnahme verweigert hätten. Der New keinen Raum für Kompromisse. Er verlangte Sozialausgaben in
Mexican führte am 6. März 1936 ähnliche Klage, als er seinen Lesern Höhe von sechs Milliarden Dollar für den Zeitraum vom I. Februar
berichtete, Schafzüchter könnten keine Hirten mehr bekommen, 1936 bis zum 3o. Juni 1937 sowie angemessene Standards öffentli-
weil diese von der Wohlfahrt 4c Dollar im Monat erhielten. Am cher Unterstützung und ein Lohnniveau bei Arbeitsbeschaffungs-
nächsten Tag druckte die Indianapolis News einen Leitartikel über projekten, das gewerkschaftlichen Tariflöhnen entsprechen sollte.
die Verschwendung von Fürsorgegeldern, wobei besonders darauf Die »Alliance« nutzte ihren weitläufigen Organisationsapparat, um
das Weiße Haus mit Postkarten, Telegrammen und Petitionen zu den WPA-Beschäftigten erlaubt sein sollte, die Zeit, die sie wegen
überschwemmen. Doch der Gesetzentwurf wurde mit überwälti- »Alliance«-Sitzungen versäumten, nachzuarbeiten.
gender Mehrheit im Kongreß abgelehnt. »Alliance«-Vertreter schrieben auch regelmäßig an den Präsiden-
Diese Erfahrung brachte die Führer der »Alliance« nicht von ihrer ten: Sie kommentierten die ökonomische Lage, beklagten Kürzun-
bündnispolitischen Strategie und beständigen Überzeugungsarbeit gen im WPA-Haushalt und verlangten eine Ausweitung des
ab. Zudem hatten Roosevelts Initiativen von 193 5 auf anderen Arbeitsbeschaffungsprogramms (vgl. die Korrespondenz zwischen
Gebieten — wie z. B. der »Wagner Act«, der »Wealth Tax Act« und David Lasser, Herbert A. Benjamin, Aubrey Williams, David
der »Social Security Act« — zur Folge, daß auch die letzten Re- Niles, Colonel F. C. Harrington und Franklin Delano Roosevelt;
ste ihrer aggressiven Rhetorik gemildert wurden. Der zweite Kon- WPA-Archiv).
greß der »Alliance« fand im Auditorium des Arbeitsministeriums Im Juni 1937 forderte der dritte Jahreskongreß der »Workers'
statt; Roosevelt selbst war eingeladen worden, zu den Delegierten Alliance« in Milwaukee die Bereitstellung von drei Milliarden Dol-
zu sprechen (Rosenzweig, 1974, 3 5). Roosevelt lehnte ab, doch lar für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und eine Milliarde Dollar
Nels Anderson, der Direktor für Arbeitsbeziehungen bei der für direkte Unterstützung. Ferner verlangte er die Ernennung einer
sprach an seiner Statt zu der freundlich gesonnenen Ver- nationalen Planungskommission, die die Bildung eines dauerhaf-
sammlung. David Lasser bezeichnete sich später als der linke Sta- ten Arbeitsbeschaffungsprogramms vorbereiten sollte. Außerdem
chel des New Deal: »Wir hatten eine Vereinbarung mit Harry Hop- unterstützte die »Alliance« die Schwellenbach-Allen-Resolution,
kins, daß wir immer nach mehr verlangen sollten.« (Rosenzweig, die vorsah, daß kein WPA-Beschäftigter entlassen werden dürfe,
1974, 33) der nicht eine angemessene Anstellung bei einem privaten Arbeit-
Die Vereinbarung sah allerdings nur vor, mehr zu verlangen, nicht geber finden könne. Die Resolution ist im Kongreß nie zur Abstim-
zu bekommen. Hopkins Stellvertreter, AubreyWilliams, rügte eine mung gekommen. Der Kongreß vertagte sich sogar für zwei Tage,
Delegation der »Alliance«, die eine Erhöhung der WPA-Löhne for- bevor ein von der »Alliance« unterstützter nationaler Demonstra-
derte, und wies sie an: ;Fragt Eure Probleme dem Kongreß vor, tionszug Washington erreichte, um sich dort für die Resolution ein-
wenn er wieder zusammentritt, aber bringt doch Eure Freunde zusetzen; dabei war eine Vorhut von mehreren hundert Personen
nicht in Verlegenheit.« (Rosenzweig, 1974, 34) Als sich dann im bereits eingetroffen (Benjamin).47 Statt dessen willigte Harry Hop-
April 1937 die Führung der »Alliance« mit Harry Hopkins traf, um kins ein, in einem gemeinsamen Ausschuß mit der »Alliance« Pläne
wiederum höhere WPA-Löhne zu fordern, wies Hopkins sie ohne für den Aufbau eines »labor relations board« der WPA zu entwik-
Umschweife ab. keln.
Als hätte sie sich die Ermahnung der New-Deal-Politiker zu Her- Als im Winter 1937/1938 eine weitere ernsthafte Rezession herein-
zen genommen, begann die »Alliance«, inzwischen mit Sitz in brach, kam es zu einer Welle kleinerer Arbeitslosendemonstratio-
Washington, im Frühjahr 1937 Beziehungen zu mehreren wohlge- nen im Land. Es gibt allerdings keinerlei Hinweise dafür, daß sie
sonnenen Senatoren und Kongreßabgeordneten aufzubauen und von der Zentralorganisation der »Alliance« gewünscht oder von
ihr herzliches Verhältnis zur WPA-Führung zu vertiefen. Die ihren lokalen »organizers« vorbereitet wurden. Die Proteste schei-
»Alliance« war als offizielle Tariforganisation der WPA-Beschäftig- nen in Städten ausgebrochen zu sein, in denen die Arbeitslosen
ten anerkannt worden, und ihre Vertreter korrespondierten nun noch nicht organisiert waren; in New York oder Chicago zum Bei-
regelmäßig mit der WPA-Führung. Sie übermittelten eine Vielzahl spiel, früheren Hochburgen der »Alliance«, blieb es ziemlich
von Beschwerden und diskutierten über ungezählte Verfahrensfra- ruhig." Nur in Detroit fand eine größere Protestdemonstration
gen und Verwaltungsvorschriften. Einige der Beschwerden waren statt, zu der allerdings die erst kurz zuvor gegründete Gewerk-
von größerer Bedeutung, betrafen Lohnkürzungen und willlkürli- schaft der Automobilarbeiter aufgerufen hatte, um gegen die unge-
che Entlassungen. Ein großer Teil der Korrespondenz ging jedoch nügende Unterstützung entlassener Automobilarbeiter zu prote-
um unbedeutende Verfahrensfragen, vor allem um die Frage, ob es stieren (State Journal, Lansing, Michigan, 5. Februar 1938)."
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Trotz ihrer parlamentarischen Mißerfolge schlug die »Alliance« Und draußen im Westen, in Montana, hat die >Workers' Alliance« das
unbeirrbar weitere legislative Programme vor und festigte ihre Be- ganze Gewicht ihrer mächtigen Organisation hinter die Kampagne zur Wie-
ziehungen zur Administration. Im März 1938 berief die »Alliance« derwahl eines der hervorragendsten progressiven Männer im Kongreß,
eine »National Conference an Work and Securitv« ein, um »ein Jerry O'Connell, geworfen
echtes Programm« des sozialen Wiederaufbaus »zu schmieden« Schon bald sollten die Ereignisse beweisen, wie es um die Macht-
(Rodman). Um sicherzustellen, daß ihr Programm auch Gehör fülle der Organisation bestellt war. Der Einsatz der »Alliance« im
fand, mobilisierte die »Alliance« ihre Kräfte zur Unterstützung der Wahlkampf reichte nicht einmal aus, um auch nur symbolische
Kandidaten der Demokratischen Partei bei den Wahlen im Herbst. Zugeständnisse der Bundesregierung zu erreichen. Als die
Die Titelgeschichte der Ausgabe ihrer Zeitung Work vom »Alliance« Aubrey Williams, den stellvertretenden Leiter der WPA,
22. to. 1938 — geschmückt mit der Überschrift: »Die >Alliance» einlud, auf ihrem Kongreß im September 1938 zu sprechen, lehnte
zieht mit voller Kraft in den Wahlkampf« — liefert uns eine Beschrei- er ab. Als man Father Francis J. Haas, einen wichtigen New-Deal-
bung dieser Bemühungen: Vertreter, als Ersatzredner verpflichtete, sagte auch der in letzter
Minute ab, nachdem bereits r oo (Da° Flugblätter mit seinem Namen
»Das von 5 co Delegierten auf dem vierten Jahreskongreß der >Workers' verteilt worden waren.
Alliance» in Cleveland verabschiedete politische Aktionsprogramm wird Von größerer Bedeutung war allerdings, daß 1939 der WPA-Haus-
umgehend in die Tat umgesetzt. Lokale und einzelstaatliche Verbände der halt gekürzt wurde, nachdem der Kongreß eine Reduzierung der
»Alliance» aus dem ganzen Land berichten von ihren fieberhaften Aktivitä- WPA-Löhne durchgesetzt und überdies bestimmt hatte, daß die
ten zur Unterstützung von fortschrittlichen, New-Deal- und gewerk- maximale Beschäftigungsdauer im WPA-Programm 18 Monate
schaftsorientierten Kandidaten, die sich um Gouverneursposten, Staatspar- nicht überschreiten dürfe. Die Führung der »Alliance« berief, wie
laments- und Kongreßsitze bewerben.
Flugblätter, auf denen umrissen wird, was für die Arbeitslosen und WPA-
vorherzusehen war, einen nationalen Kongreß für das Recht auf
Beschäftigten bei den Wahlen im November auf dem Spiel steht; Massenver- Arbeit ein, und am 13. Juni unterbreiteten Lasser und Benjamin
sammlungen, zu denen von der »Alliance» und progressiven Gewerkschaf- dem Präsidenten voller Respekt die Meinung der versammelten
ten gemeinsam aufgerufen wurde und auf denen gewerkschaftsfreundliche Delegierten der Arbeitslosen. Die Arbeitslosen, meinten sie, hätten
Kandidaten ihr Programm vorstellen; Hausbesuche; Radioprogramme — sich für öffentliche Arbeitsprogramme und Regierungsmaßnah-
durch jedes Medium ruft die >Workers' Alliance«, im Namen von .400000 men zur Ankurbelung der Wirtschaft ausgesprochen, versicherten
organisierten arbeitslosen Männern und Frauen im ganzen Land, ihre Mit- dem Präsidenten aber gleichzeitig: »Es ist die Überzeugung der auf
glieder auf, am 8. November an die Urnen zu strömen und ihre Stimmen für unserem Kongreß vertretenen Delegierten, daß es nicht Ihrer
den Fortschritt abzugeben. Regierung angelastet werden kann, wenn der wirtschaftliche Auf-
Die >NewYork City Alliance« wird die Monate rastloser politischer Aktivi-
tät mit einer großen und neuartigen Parade krönen, mit der sie der Öffent-
schwung auch bis zum heutigen Tage noch nicht herbeigeführt wer-
lichkeit demonstrieren wird, welch große Bedeutung die WPA für die den konnte.« Sie schlossen mit diesem milden Vorwurf:
175 000 Arbeiter und ihre Familien hat, die im Rahmen des dortigen »Der Kongreß hat uns ferner aufgetragen, Ihnen die Enttäuschung der
Arbeitsbeschaffungsprogramms ihren Lebensunterhalt verdienen. Delegierten über die unzureichenden Mittel, die Sie im Parlament für die
Die >Pennsylvania Workers' Alliance» hat die gesamte Organisation des kommenden zwölf Monate für Arbeitsbeschaffungsprogramme beantragt
Staates mobilisiert, um im Wahlkampf den falschen >Liberalismus«, mit dem haben, zu übermitteln. Diese Enttäuschung war besonders groß, weil es
sich die Republikaner bei den Vorwahlen maskieren, zu entlarven und um den Delegierten unmöglich schien, die Mittelanträge mit Ihren generösen
die arbeitslosen Sozialhilfeempfänger und die WPA-Beschäftigten dazu und vernünftigen Grundsatzerklärungen in dieser Frage, die wir so enthu-
aufzurufen, bis auf den letzten Mann für die New-Deal-Liste von Gouver- siastisch begrüßt haben, in Einklang zu bringen ... somit wird der Hoff-
neur Earle zu stimmen. nung Ausdruck verliehen, daß Ihre Regierung, solange noch Zeit dafür ist,
Die >Minnesota Alliance< hat eine entschlossene Kampagne für die Wieder- den von ihr veranschlagten Etat noch einmal im Licht der gegenwärtigen
wahl von Gouverneur Benson und die Wahl progressiver Kandidaten der ökonomischen Bedingungen und Geschäftslage überdenken wird. ... Die
»Farmer-Labor Party< eingeleitet ... Delegierten haben uns gebeten, Ihnen die herzliche Dankbarkeit zu vermit-
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teln, die sie für Ihre weise und mutige Führung empfinden, und unserer gezwungen ist, die Forderungen einer organisierten Avantgarde zu
Hoffnung auf ein Programm Ausdruck zu verleihen, das es ihnen erlauben erfüllen, um Massenunruhen zu ersticken, wenn sie sich auch mit
wird, ihren Beitrag als amerikanische Bürger dazu zu leisten, unserem Land den Unruhen selbst sehr wohl auseinandersetzen muß. Indem der
und seinen Menschen wieder Aufschwung, Sicherheit und Wohlstand zu New Deal ein politisches Klima schuf, das den Glauben der Men-
bringen.« schen stärkte, durch Wahlen politischen Einfluß nehmen zu kön-
Ein paar Wochen später ließ Lasser diesem Brief ein Telegramm fol- nen, schwächte er die Bereitschaft der Arbeitslosenführer, Aufruhr
gen. Der Ton war nachdrücklicher, und das Telegramm schloß mit zu schüren.' Ihre Fähigkeit dazu unterminierte er überdies mit
der Bitte, es der Presse zugänglich machen zu dürfen. Das Weiße Hilfe der Etablierung vorgeschriebener Verfahren bei den lokalen
Haus teilte Lasser mit, er könne tun, was er für richtig halte (WPA- Behörden, die aggressiveren Taktiken die Grundlage entzog. Als
Archiv). dieser Prozeß einmal abgeschlossen war, spielte die »Workers'
Die »Alliance« hatte sich als politisch bedeutungslos erwiesen. Alliance of America« keinerlei Rolle mehr. Die besondere Tragödie
Das Ende war bereits gekommen und schon beim vierten Jahres- der »Workers' Alliance« besteht nicht darin, daß es ihr nicht gelang,
kongreß im September 1938, zu dem nur noch fünfhundert Dele- die fundamentalen Reformen, denen sie sich verschrieben hatte,
gierte erschienen waren, offenkundig geworden. Die lange Reihe durchzusetzen. Errungenschaften dieser Größenordnung sind das
parlamentarischer Niederlagen und der Prozeß fortschreitender Resultat von Kräften, die größer sind als alles, was politische Füh-
Bürokratisierung, der einen Rückgang der Basisaktivitäten zur rer allein auf die Beine stellen können, und die »Alliance« war
Folge hatte, waren nicht ohne Konsequenz geblieben. Mitglieder- weder der erste, der es versucht hat, noch der letzte, der daran
zahlen und Militanz waren zurückgegangen. Die Differenzen zwi- gescheitert ist. Die Tragödie — wenn man es so nennen kann —
schen den verschiedenen Fraktionen verschärften sich ; verbittert besteht vielmehr darin, welche Rolle die »Alliance« während der
und frustriert begannen die übriggebliebenen heterogenen Grup- kurzen, stürmischen Zeit spielte, als die Menschen bereit waren,
pen sich abzuwenden. 194o trat David Lasser von seinem Amt sich gegen die Autoritäten und Normen, die normalerweise ihr
zurück, um einen Posten bei derWPA zu übernehmen, und ein Jahr Leben bestimmen, aufzulehnen. Anstatt die Möglichkeiten, die
darauf wurde die »Workers' Alliance of America« in aller Stille diese Zeit bot, voll auszunutzen und den Aufruhr bis an seine äuße-
begraben. Die »Workers' Alliance of America« hatte hochfliegende ren Grenzen zu treiben, gingen die Sprecher der Arbeitslosen
Ziele verfolgt. Bis zum Jahr 1937 forderte ihre Satzung »die daran, eine Organisation aufzubauen und nach gesetzlichen Refor-
Abschaffung des Profitsystems«, wenn auch die Sprache infolge der men zu rufen — und indem sie das taten, fügten sie sich im Grunde
vv-achsenden Verpflichtung auf den New Deal verbindlicher wurde. den Gesetzen des Bürokratismus.
Ihre Gesetzesvorschläge schlossen u. a. eine umfassende, von Für eine kurze Zeit lebten zo Millionen Menschen von der Sozial-
Arbeitern und Farmer selbstverwaltete und durch Einkommens- fürsorge, doch noch weitere Millionen hätten Unterstützung
und Umsatzsteuern finanzierte Arbeitslosenversicherung ein. gebraucht und haben sie nie bekommen. Als die »Alliance« sich
Über die Notwendigkeit, eine nationale Organisation aufzubauen, dann von dem Kampf in den Fürsorgeämtern abwandte, um auf der
die genügend wahlpolitischen Druck ausüben müsse, um diese großen politischen Bühne für hochfliegende Pläne auf grundle-
Reformen durchzusetzen, waren sich fast alle einig: Kommunisten gende Veränderungen zu werben, wandte sie sich praktisch auch
wie Sozialisten, Muste-Anhänger, Trotzkisten und andere, unab- von den Millionen Fürsorgeempfängern ab. Als Resultat -wurden
hängige Radikale.' Doch als die Führung der »Alliance« noch stolz die Leistungen wieder eingeschränkt und Millionen von Men-
auf ihre Organisationsstruktur und ihre beitragszahlende Mitglied- schen, die noch immer ohne Arbeit waren, mit ihrer Not alleinge-
schaft verwies, während sie noch weitreichende legislative Refor- lassen. Um es zusammenfassend zu sagen: Die Tragödie der
men ausarbeitete, da wurden die lokalen Gruppen bereits von dem »Alliance« war, daß sie nicht soviel erreicht hat, wie sie hätte errei-
Gewirr bürokratischer Prozeduren stranguliert und verloren an chen können, als sie die Gelegenheit dazu hatte.
Bedeutung. Die Führung erkannte nicht, daß die Regierung nicht
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III. Die Industriearbeiterbewegung weil die Regierung gewerkschaftliche Organisierung unterstützte.
Doch sobald die Arbeiter organisiert waren, nahm ihr politischer
Einfluß ab. Nicht nur, daß der Regierung fortan keine Zugeständ-
nisse mehr abgerungen werden konnten, die den großen Erfolgen
Es sind die Erfahrungen der Gewerkschaften in den Vereinigten der unorganisierten Arbeiter in den dreißiger Jahren vergleichbar
Staaten, die dem Glaubensbekenntnis amerikanischer »organi- gewesen wären — sogar der schon gewonnene Spielraum wurde
zers« die Grundlage geliefert haben. Wie »organizers« die langsam wieder eingeengt. Bevor wir im folgenden unsere Erklä-
Geschichte überliefern, organisierten sich die Fabrikarbeiter nach rung vorstellen, warum die Industriearbeiter während der Depres-
vielen blutigen Kämpfen schließlich in großen, stabilen Organisa- sion zu einem politischen Machtfaktor vvurden, müssen wir kurz
tionen und waren nun in der Lage, in den Fabriken endlich ein Wort auf ihre vorherige Machtlosigkeit eingehen.
mitzureden. Mehr noch: ihre Organisierung, so hieß es, habe den
Arbeitern auch in der Politik Einfluß verschafft. Die große Zahl
von Wählerstimmen und die finanziellen Mittel, über die die Der Staat gegen die Arbeiter
Gewerkschaften verfügten, hätten den Arbeitern ein erhebliches
Maß politischer Macht beschert. Zugegeben: einige Anhänger die- Wenn Industriearbeiter sich zusammenschließen, verfügen sie in
ses Kredos sind enttäuscht, wie die Gewerkschaften ihre Macht der Auseinandersetzung mit dem Kapital über größere Macht —
seitdem gebraucht haben: Sie werfen einer oligarchischen Füh- zumindest scheint es so. Ihre Macht, das ist natürlich die spren-
rungsclique vor, sich primär mit Löhnen und Arbeitszeitproble- gende Kraft des Streiks. Wenn Arbeiter ihre Arbeitskraft verwei-
men beschäftigt zu haben, anstatt sich grundlegenderen ökonomi- gern, dann stoppt die Produktion, schmelzen die Profite dahin,
schen und politischen Fragen zuzuwenden. Die Überzeugung sehen sich die Unternehmer zu Zugeständnissen gezwungen.
jedoch, die Arbeiterschaft hätte durch die Schaffung ihrer großen Zudem sollte man meinen, daß, bei zunehmender Kapitalkonzen-
Organisationen sowohl ökonotnische als auch politische Macht tration, wenn die Gesellschaften immer größer werden und ihre
errungen, bleibt ungebrochen. Aufgrund dieser Überzeugung gegenseitige Verflechtung zunimmt, auch die Macht der Gewerk-
empfehlen »organizers« anderen machtlosen Gruppen immer wie- schaften wächst. Nicht nur erleichtern große Industrieunterneh-
der, diesem Modell zu folgen. men die kollektive Aktion der Arbeiter; auch sind die Auswirkun-
Bei genauerer historischer Überprüfung aber erweist sich als unsi- gen von Streiks in einer eng verflochtenen und konzentrierten
cherer Grund, was als unerschütterliche historische Wahrheit gilt. Ökonomie sehr viel weitreichender.
In Wirklichkeit verfügten die Fabrikarbeiter über ihren größten Dies mag im Prinzip richtig sein; doch sprechen die historischen
Einfluß, erzwangen sie die wesentlichsten Konzessionen der Regie- Fakten eine andere Sprache. Vom Beginn der rasanten Industriali-
rung während der ersten Jahre der Großen Depression — bevor sie sierung am Ende des ty. Jahrhunderts bis zur Großen Depression
sich in Gewerkschaften organisiert hatten. Ihre Macht beruhte war die Geschichte der Streiks in den Massenindustrien zum gro-
nicht auf Organisation, sondern auf ihrer Fähigkeit, die Wirtschaft ßen Teil eine Geschichte des Scheiterns.' Die Suche nach den Grün-
zu erschüttern. Streiks, Demonstrationen und Fabrikbesetzungen den für dieses Scheitern hat Gewerkschaftshistoriker ausgiebig
breiteten sich Mitte der dreißiger Jahre vorwiegend trotz der beste- beschäftigt. Die vorgelegten Interpretationen kreisen um die viel-
henden Gewerkschaften aus, und nicht weil es sie gab. Da diese fältige Spaltung der amerikanischen Arbeiterklasse, die die Solida-
Unruhen in einer Zeit verbreiteter politischer Instabilität auftraten, rität unter den Arbeitern, ohne die ein effektiver Arbeitskampf
waren die bedrohten Politiker gezwungen, mit demonstrativen nicht möglich ist, verhindert habe2; den zerstörerischen Effekt der
Konzessionen zu reagieren. Eine dieser Konzessionen war der Konjunkturzyklen auf die Einheit der Arbeiterschaft; massive Sta-
Schutz des Koalitionsrechtes durch die Regierung. In der Folge tuskonflikte und ethnische Rivalitäten unter den Arbeitern; die
stieg die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder stark an, nicht zuletzt, spalterischen Effekte der Hoffnung auf sozialen Aufstieg (die für
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manche Wirklichkeit wurde); und den oligarchischen und exklusi- die Identität von Klasseninteressen. Die Spaltung war zu einem
ven Charakter der bereits bestehenden Gewerkschaften. gewissen Grad das natürliche und unvermeidbare Produkt der
Wir werden jeden dieser Erklärungsansätze kurz behandeln, weil heterogenen Herkunft der amerikanischen Arbeiterschaft. Doch
wir glauben, daß sie zum Verständnis der geringen Wirksamkeit des die Unternehmer nutzten diese Verschiedenheiten auch in ihrem
Streiks beitragen. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß Solida- eigenen Interesse aus und vertieften sie so gut es ging, um damit die
rität eine wesentliche Voraussetzung für die Effektivität von Streiks Solidarität der Arbeiterklasse zu schwächen.
gewesen ist, denn ohne sie ließ sich eine streikende Belegschaft So ist es beispielsweise bestens bekannt, daß die statusbewußten
mühelos ersetzen und die Produktion schnell wieder aufnehmen. Handwerker des 19. Jahrhunderts auf die wachsende Schicht der
Ebensowenig kann ein Zweifel darüber bestehen, daß die amerika- ungelernten Arbeiter, die ihre Existenz der Industrialisierung ver-
nische Arbeiterschaft gespalten war. Die Zersplitterung hatte ihre dankte, herabblickten. Ihr Gefühl, eine Klasse für sich zu sein,
Wurzeln in den Eigenheiten der amerikanischen Wirtschaft und in wurde noch verstärkt, als die Industriellen einwilligten, bei Mas-
den spezifischen Merkmalen der arbeitenden Bevölkerung, aber senstreiks ausschließlich mit den Facharbeitern zu verhandeln.
auch in bewußten Praktiken der Unternehmer, die darauf abziel- Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die fortschreitende Mechani-
ten, Spaltungen zu vertiefen, und die verschiedenen Gruppen sierung viele Facharbeiter in die Reihen der Ungelernten hinab-
gegeneinander auszuspielen. Dies zugestanden, wollen wir jedoch stieß und eine Serie von großen Industriestreiks mit Niederlagen
im weiteren behaupten, daß die Gespaltenheit der amerikanischen endete, führten Statusängste und einfache Furcht zusammen dazu,
Arbeiterklasse die Niederlagen in den Arbeitskämpfen nicht ad- daß die übriggebliebenen Facharbeiter ihr Handwerk noch weiter
äquat erklären kann. In unzähligen Fällen brachen Arbeiterkämpfe gegen die Außenwelt abschotteten.' Selbst als dieser Einebnungs-
nicht aufgrund mangelnder innerer Geschlossenheit zusammen, prozeß weiter fortschritt, schienen den Industriellen die Vorzüge
sondern wurden durch den gnadenlosen Einsatz der Staatsgewalt der Differenzierung ihrer Beschäftigten nach Beruf und Status
niedergeschlagen. bewußt zu bleiben. Unter dem Banner des »wissenschaftlichen
Zunächst — und am offensichtlichsten — wurde die Solidarität der Management« wurden in einigen Industrien sorgfältige Arbeits-
Arbeiter durch Marktbedingungen beeinflußt. Arbeitsniederlegun- platzdifferenzierungen — und zwar sowohl hierarchisch als auch
gen und Bummelstreiks waren einfacher durchzuführen, wenn die horizontal — vorgenommen, wodurch die Gräben zwischen den
Geschäfte gut gingen und die Nachfrage nach Arbeitskraft groß einzelnen Arbeitergruppen noch vertieft wurden.'
war. Doch in Krisenzeiten wurden Männer und Frauen entlassen, Status- und Arbeitsplatzdifferenzierungen wurden oft durch Ras-
Löhne gekürzt und die Arbeitszeit verlängert. Manchmal brachen senunterschiede und ethnische Besonderheiten vertieft. Rassische
im Verlauf der Krisen Defensivstreiks und Unruhen aus, die aber und ethnische Zugehörigkeit wurden auch zum Vehikel für Unter-
gewöhnlich weitgehend wirkungslos blieben. Denn einerseits nehmer, Gräben zwischen Arbeitergruppen, die sich in ähnlicher
konnten die Unternehmen bei ohnehin bestehenden Absatzproble- ökonomischer Lage befanden, aufzureißen. Der wachsende Bedarf
men Produktionseinbußen leicht verschmerzen, andererseits an ungelernten Arbeitskräften wurde durch einen immer stärker
waren die Arbeiter gezwungen, ihre Arbeitskraft zu immer niedri- werdenden Einwandererstrom gedeckt — zunächst aus Irland und
geren Preisen anzubieten, um einen der knappen Arbeitsplätze zu Nord-Europa, später aus Süd- und Ost-Europa (sowie im Westen
ergattern. Arbeiterorganisationen, die in Zeiten der Hochkonjunk- der USA aus Ostasien). Die Einwanderer stellten ein buchstäblich
tur entstanden waren, standen diesen Bedingungen meist hilflos unerschöpfliches Reservoir von hilflosen und verarmten Arbeitern
gegenüber und wurden in der Regel einfach hinweggefegt, wenn dar, auf das die Unternehmer jederzeit zurückgreifen konnten.
die Wirtschaft in eine Krise geriet.' Daß der gleichmäßige Zustrom von Immigranten nicht nachließ,
Zweitens war Solidarität so schwer, weil die amerikanische Arbei- wurde von mächtigen Industrielobbies sichergestellt, die jegliche
terschaft aufgrund von Status-, Rassen- und ethnischen Unter- Einschränkung des »freien Arbeitsmarkts« ablehnten (gleichzeitig
schieden fragmentiert war. Entsprechend gering war die Einsicht in aber entschlossen für die Erhaltung der Zollschranken zur Begren-
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zung des Freihandels kämpften).6 Zwischen 1860 und 192c kamen Arbeitskämpfe im Osten später oft auf dem freien Land im Westen
28,5 Millionen Einwanderer in die Vereinigten Staaten (Brecher, zu finden waren (Lescohier und Brandeis, xiii). In der Tat vvird der
to). Die Löhne der Ausländer waren niedrig, und so verdrängten »Homestead Act«, der den öffentlichen Boden im Westen zur
sie die höherbezahlten einheimischen Arbeiter langsam aus vielen Besiedelung freigab, allgemein als eine Konzession an die Arbeiter-
Berufen. Damit wuchs auch die Feindschaft gegen ethnische Min- schaft angesehen. Das Los der Fabrikarbeiter wurde dadurch zwar
derheiten, gesellte sie sich zum Gegensatz zwischen gelernten und nicht verbessert, doch bot das Gesetz einigen wenigen die Alterna-
ungelernten Arbeitern; auf diese Weise wurde jegliches Bewußtsein tive, nicht länger Fabrikarbeiter sein zu müssen. So ließen Auf-
gemeinsamen Schicksals weiter geschwächt. Die Unternehmer stiegschancen und der Zugang zu einem eigenen Stück Land einige
taten das Ihre, um diesen Effekt zu verstärken. Regelmäßig hetzten der Unzufriedeneren und vielleicht auch der Fähigeren ihr indivi-
sie verschiedene Einwanderergruppen gegeneinander auf, indem duelles Glück finden. Gleichzeitig trugen die Beispiele von Auf-
sie die eine Gruppe dazu benutzten, die Löhne der anderen zu stieg und Erfolg dazu bei, die Hoffnungen der Zurückgebliebenen
drücken. Commons beschreibt einen Besuch, den er 19°4 einem zu nähren — Hoffnungen, daß auch sie den Sprung nach oben schaf-
Arbeitsvermittlungsbüro in Chicago abstattete: fen würden, daß ihre Zukunft nicht in den Kämpfen der Gegen-
»Ich sah eine Gruppe blonder, kräftiger Nordeuropäer auf Bänken an den wart, sondern den individuellen Chancen kommender Tage liege.
Bürowänden sitzen. Ich fragte den Arbeitsvermittler: >Wie kommt es, daß Ein weiterer Faktor, der Arbeitskämpfe erschwerte und ab-
Sie nur Schweden einstellen?< Er antwortete: >Das ist nur diese Woche so. schwächte, war der statusbewußte und oligarchische Charakter
Letzte Woche haben wir Slowaken eingestellt. Wir wechseln immer z.wi- jener Arbeiterorganisationen, die sich in der Praxis herausbildeten.
schen den verschiedenen Nationalitäten und Sprachen ab. Damit wird ver- Meist -waren dies lokale Gewerkschaften von Handwerkern, deren
hindert, daß sie zusammenkommen. Wir haben das richtig systematisiert.«< Organisierung zum großen Teil ihrer Tradition der Brüderlichkeit
(Lescohier und Brandeis, xxv) und dem Stolz auf ihre Zunft zu danken war. Zudem konnten die
Brecher zitiert einen Betriebsleiter von Carnegie, der 1875 schrieb: organisierten Handwerker in den Industrien, wo sie den Zugang zu
»Ich habe festgestellt, daß eine vernünftige Mischung von Deut- ihrem Berufsstand kontrollierten, einigen Einfluß ausüben. Doch
schen, Iren, Schweden und amerikanischen Bauernjungen die ihre relative Machtposition bestärkte sie darin, die wachsende
effektivste und gefügigste Belegschaft ergibt, die sich finden läßt.« Masse der ungelernten Arbeiter zu ignorieren, ja zu verachten. Dar-
(tu) Noch 1937 hielt der Stahlkonzern Jones und McLaughlin die über hinaus scheint die unvermeidbare Tendenz zur Oligarchie, die
verschiedenen Nationalitätengruppen strikt voneinander getrennt Michels in Europa feststellte, bei den berufsständischen Gewerk-
und spielte sie kunstvoll gegeneinander aus (Bernstein, 1971, 475).7 schaften der Vereinigten Staaten noch stärker ausgeprägt gewesen
Zu solchen Praktiken wurde natürlich am häufigsten bei Streiks zu sein — vielleicht weil das Klassenbewußtsein geringer und das
gegriffen, wenn Einwanderer und amerikanische Schwarze als Streben nach sozialem Aufstieg verbreiteter war, und weil die
Streikbrecher eingesetzt wurden.' Arbeiter und ihre Fi_ihrer stärker an die Verheißungen der Markt-
Drittens hatten amerikanische Arbeiter im Vergleich zu Europa wirtschaft glaubten.' Im Laufe der Zeit entwickelten sich die
weit größere Chancen zu sozialer wie geographischer Mobilität — Funktionäre der Berufsgewerkschaften zunehmend von Arbei-
zumindest bis zum Ende des 19. Jahrhunderts. Die Löhne in dem terführern zu Arbeitsvermittlern, die sich zur Behauptung ihrer
neuen Land waren höher; und als die Industrieproduktion sich aus- Führungspositionen mehr auf geheime Vereinbarungen mit den
dehnte, schienen die Möglichkeiten unbegrenzt, jedenfalls für die Unternehmern als auf eine vereinte und militante Gefolgschaft ver-
Glücklichen, die Facharbeiter, die Ehrgeizigen, und zumindest in ließen.' So ließen sich die Gewerkschaftsfunktionäre immer selte-
Zeiten der Hochkonjunktur.' Darüber hinaus gab es für jeden, der ner auf Streiks und Agitation ein und schienen immer weniger
nicht vollkommen mittellos war, noch die Möglichkeit, sein Glück daran interessiert, eine Massengefolgschaft zu rekrutieren. Kam es
im Westen, wo es freies Land und freien Bergbau gab, zu versu- gelegentlich doch zu Massenstreiks, dann oft gegen die Opposition
chen.' Commons berichtet davon, daß die Anführer gescheiterter der etablierten Gewerkschaftsführer, von denen einige während
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der großen Streiks gegen Ende des ig. und zu Beginn des zo. Jahr- sie das Land mit Protesten überzogen. Nach vier Jahren schwerer
hunderts sogar so weit gingen, ihre Mitglieder zum Streikbrechen Wirtschaftskrise, die zu erheblichen Lohnkürzungen geführt und
aufzufordern. vielleicht eine Million Industriearbeiter arbeitslos gemacht hatte,
In den vorhergehenden Abschnitten haben wir versucht, die vor- mündete 1877 ein Eisenbahner-Streik in Pennsylvania, Baltimore
herrschenden Erklärungen für die Unfähigkeit der amerikanischen und Ohio in schwere Unruhen, die sich auf ein Dutzend wichtiger
Gewerkschaften, vor der Großen Depression relevante Fort- Eisenbahnzentren ausbreiteten und schließlich zu offenem Kampf
schritte zu machen, zusammenzufassen. Wir sind jedoch der zwischen Arbeitern und Bundestruppen eskalierten. Als örtliche
Ansicht, daß Erklärungsansätze, die auf die Spaltung der Indu- Polizei und Staatsmiliz den Aufruhr nicht mehr unter Kontrolle
striearbeiterschaft verweisen, am Kernpunkt vorbeigehen. Es hat halten konnten — oder sogar offen mit den Streikenden sympathi-
Massenstreiks gegeben, und die Streikenden sind häufig, auch sierten, wie in Pittsburgh, wo die Menge Eigentum der Eisenbahn-
angesichts überwältigender ökonomischer Zwänge, standhaft gesellschaft niederbrannte — entsandte das Kriegsministerium 3 000
geblieben. Daß die Arbeiter letztlich zu schwach waren, lag nicht Soldaten der Bundesarmee, um in den betroffenen Städten die Ord-
nur an mangelnder Solidarität und einem daraus resultierenden nung wiederherzustellen. In Pittsburgh leistete die rebellische
Mangel an ökonomischer Stärke, sondern an der fehlenden politi- Menge offenen Widerstand, was 26 Menschen mit dem Leben
schen Macht. Auch wenn sie ihren Bossen mit noch so viel Ent- bezahlen mußten; in Reading, Pennsylvania, wurden 13 Menschen
schlossenheit entgegentraten, auch wenn sie alle ihre Kräfte gesam- getötet und 43 verletzt; Chicago beklagte 19 Tote und mehr als ioo
melt und ihre Reihen geschlossen hatten: der geballten Macht des Verletzte (Brecher, 13-36). Der Sachschaden betrug ca. fünf Millio-
Staates, seinen Gerichten und seiner militärischen Stärke, hatten sie nen Dollar (Walsh, 2o). Als Folge der Aufstände wurden im Herzen
nur wenig entgegenzusetzen. Und diese Macht bekamen die Arbei- der amerikanischen Großstädte Quartiere und Waffenlager der
ter regelmäßig zu spüren. Während der Kolonialzeit legten Arbeits- Nationalgarde errichtet (Josephson, 365). Ein Jahrzehnt später
verordnungen Maximallöhne fest, erklärten Arbeit zur Pflicht und löste eine weitere Depression erneute Arbeiterunruhen aus, die
verboten jegliche Vereinigung von Arbeitern zum Zweck der Lohn- diesmal noch massiver ausfielen. Wieder wurden die Streiks mit
erhöhung (Rayback, 12). Noch bis 1842 sahen die Gerichte Hilfe von Polizei und Miliz niedergeschlagen, was diesmal mit dem
Gewerkschaften als kriminelle Verschwörungen an (Fleming, 123). Bombenattentat auf dem Haymarket in Chicago gerechtfertigt
Im Laufe der Zeit wurden zwar die Arbeitsgesetze liberaler, die wurde.
Praktiken der jeweiligen Regierungen jedoch nicht. Bis zur Großen Während der Depression in den neunziger Jahren des vorigen Jahr-
Depression sahen sich streikende Arbeiter regelmäßig mit gerichtli- hunderts wiederholte sich das Szenario. Auf Lohnkürzungen und
chen Verfügungen und strafrechtlichen Sanktionen konfrontiert. 13 steigende Arbeitslosigkeit in der verarbeitenden Industrie und im
WendirchtlMnausreicht,wdzmlä- Transportwesen waren Streiks gefolgt, an denen etwa 75o 000 Arbei-
scher Gewalt gegriffen. Privatarmeen der Unternehmer, die, wenn ter, vor allem Stahlarbeiter, Bergleute und Eisenbahner, teilnah-
nötig, vorn örtlichen Polizeichef zu Hilfssheriffs ernannt wurden, men. In Pennsylvania machte der Gouverneur 7 000 Soldaten
Staatsmilizen und Bundestruppen wurden wieder und wieder ein- mobil, um die Stahlarbeiter von Homestead zur Räson zu bringen;
gesetzt, um streikende Arbeiter anzugreifen und Streikbrecher zu in Idaho trieben in der Coeur d'Alene-Region Nationalgardisten
beschützen. Diesem Widerstand ausgesetzt, mußten Streiks und Bundestruppen alle gewerkschaftlich organisierten Bergarbei-
zwangsläufig scheitern, ob die Arbeiter nun einig waren oder nicht. ter zusammen und sperrten sie in ein Lager, wo sie monatelang
Einige der bittersten Beispiele für den Einsatz der staatlichen ohne Anklageerhebung festgehalten wurden. Der Pullman-Eisen-
Gewalt gegen streikende Arbeiter trugen sich während der schwe- bahnstreik von 1894 brachte mehrere tausend Armeesoldaten nach
ren Depressionen im späten lg. Jahrhundert zu, als Arbeitslosig- Chicago, mit dem Resultat, daß wahrscheinlich 34 Menschen getö-
keit und Lohnkürzungen die Menschen zur Verzweiflung trieben, tet wurden. Unter den Verurteilten befand sich auch Eugene Debs
das Ausmaß der Not die Arbeiter so fest zusammenschweißte, daß (einer der Führer des Streiks und mehrfacher Präsidentschaftskan-
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didat der »Socialist Party« — d. Ü.) In der Folgezeit stationierte die anderswo Bundes- und Staatstruppen eingesetzt wurden, um die
Bundesregierung Polizeitruppen in zahlreichen Eisenbahnzentren, Streiks zu brechen, riefen die »United Mine Workers« (UMW)
um für den Schutz des Eigentums der Eisenbahngesellschaften zu einen bundesweiten Streik aus, um die Organisation der wichtig-
sorgen. Die Kosten für diese Maßnahmen beliefen sich auf wenig- sten Bergwerke durchzusetzen. Als zwei Unternehmen in Illinois
stens 400 000 Dollar (Taft und Ross, 29o-299; Greenstone, 21).14 Streikbrecher heranschaffen ließen, die von den Streikenden am
Diese Statistiken können uns das wahre Ausmaß der Gewalt, mit Betreten der Minen gehindert wurden, ließ Gouverneur John
der die Regierung in dieser Periode gegen die Arbeiter vorging, B. Tanner zwar Nationalgardisten anrücken, um drohende Gewalt-
wohl kaum vor Augen führen. Ein zeitgenössischer Autor schätzte ausbrüche zu verhindern, wies sie jedoch an, den Minenbesitzern
beispielsweise, daß allein in den Jahren zwischen 19o2 und 1904 198 nicht zu helfen. Beide Unternehmen erkannten die UMW schließ-
Personen getötet und 1986 verletzt worden sind (zitiert bei Taft lich an und unterschriebenTarifverträge (Taft und Ross, 3 oo 3 02).
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und Ross, 38o). Ingesamt ist es Taft und Ross gelungen, 16o Fälle zu Es wird oft gesagt, die Unternehmer in den Vereinigten Staaten
identifizieren, in denen Staats- oder Bundestruppen eingesetzt seien in ihrer Opposition zu den Forderungen der Arbeiter außer-
wurden, um Arbeiterunruhen zu beenden. Nachdem t894 der gewöhnlich unerbittlich gewesen." Ihre Abwehr ist nicht schwer
Streik seiner »American Railway- Union« von der Bundesregierung zu verstehen. Aber wer will behaupten, daß sie angesichts der
zerschlagen worden war, schrieb Eugene Debs: umfassenden Streikbewegungen auch dann erfolgreich gewesen
»Unsere Organisation besteht aus einer begrenzten Zahl schlecht bezahlter wären, wenn ihnen die Regierungen nicht auf allen Ebenen regel-
Leute. 'Wenn sie keinen Lohn mehr erhalten, müssen sie verhungern. Wir mäßig zu Hilfe gekommen wären?' Mit anderen Worten: ohne die
haben die Macht der Regierung nicht hinter uns. Wir haben keinen aner- Macht, den Präsidenten, Gouverneur und häufig auch den Bürger-
kannten Einfluß auf gesellschaftliche Vorgänge. ... Die Konzerne dagegen meister'' davon abhalten zu können, Truppen gegen sie einzuset-
verfügen über solide Bündnispartner. Ihnen fehlt nichts, was man mit Geld zen, blieben die Arbeiter hilflos, waren sie durch die repressive
kaufen kann. Sie fördern die Presse, kontrollieren sie, beeinflussen die
Gewalt der Regierung um ihr ökonomisches Machtmittel des
öffentliche Meinung und verbreiten falsche Nachrichten. Die Kirche steht
fast einhellig hinter ihnen. Vergessen wir nicht die Gerichtshöfe, die Miliz,
Streiks gebracht.'
die Regierungstruppen. Jeder und alles vertritt die Sache der Konzerne.« Im r9. Jahrhundert lag das sicher teilweise daran, daß die politi-
(zitiert bei Brecher, gz) sche Macht der Unternehmer, die in ihrer ökonotnischen Macht
Nachdem die United States Steel Corporation den Streik von 1919 begründet war, noch nicht von den erforderlichen Massen einer
gebrochen hatte, wiederholte die »Interchurch Commission« in umfangreichen Industriearbeiterschaft in Frage gestellt wurde. Bis
einem Bericht die Einschätzungen, die Eugene Debs 25 Jahre zuvor zum Bürgerkrieg blieben die USA überwiegend ein Land unabhän-
giger Farmer und Grundbesitzer. Und sogar nachdem der Vor-
niedergeschrieben hatte.
marsch der Industrialisierung bereits begonnen und das Heer der
»Die United States Steel Corporation war zu groß, um von 3oo coo arbei-
tenden Menschen besiegt zu werden. Sie verfügte über zuviel Geld, zu viele
Lohnarbeiter schon stattliche Ausmaße erreicht hatte, wurde die
Verbündete in anderen Unternehmen, zu große Unterstützung von seiten politische Kultur noch immer durch die Sichtweise des ländlichen
der lokalen wie nationalen Regierung, zuviel Einfluß bei den g„esellschaftli- Kleineigentümers vom amerikanischen Leben und von der Rolle
chen Institutionen wie Presse und Kirche; sie umfaßte einen zu großen Teil des Privateigentums darin bestimmt. Schon 188o machten die
dieser Erde — wobei sie dennoch alles unter zentraler Kontrolle behielt —, Lohn- und Gehaltsempfänger 62% der arbeitenden Bevölkerung
um von weit verstreuten Arbeitern mit vielen Meinungen und vielen Äng- aus, die Farmer und kleinen Selbständigen dagegen nur noch 37`)/0
sten, mit unterschiedlich dicken Geldbeuteln und einer vergleichsweise (Reich, Tabelle 4-J, 175). Doch diese Zahlen wurden noch von einer
improvisierten Führung besiegt werden zu können.« (zitiert beiWalsh, 561 politischen Ideologie übertönt, die durch Leugnung der ökonomi-
In einer Handvoll Fällen verhielt sich die Regierung neutral oder schen Realitäten die politische Artikulation städtischer Arbeiterin-
hilfsbereit, und das entschied über den Erfolg oder Mißerfolg von teressen zumindest auf bundes- und einzelstaatlicher Ebene durch-
Streiks. Als z.B. während der Unruhen in den neunziger Jahren kreuzt haben mag.
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Entscheidender für das Fehlen klassenorientierter Politik als die mendere Politik vorbereiten halfen, hatten sich mit großer Schnel-
amerikanische politische Kultur war vielleicht die Herausbildung ligkeit vollzogen, als die Industrialisierung in zunehmendem Maße
politischer Institutionen, die die Illusion breiter Mitbestimmung das öffentliche Leben in den USA bestimmte. Die Transformation
der Bevölkerung schufen. Lange vor Entstehung einer industriel- erfolgte rasch und vollständig. Im Jahre r86o rangierten die Ver-
len Arbeiterklasse —in den meisten Bundesstaaten vor 82o — hatten einigten Staaten bei der Industrieproduktion hinter England,
die amerikanischen Arbeiter das Wahlrecht erhalten. Das hatte Frankreich und Deutschland; 1894 hatten die USA nicht nur die
unter anderem zur Folge, daß die politische Entfremdung, der Ben- Führung übernommen, sondern ihre Industrieproduktion war
dix die europäischen Arbeiterbewegungen des 19. Jahrhunderts inzwischen fast so groß wie die Englands, Deutschlands und
zuschreibt, in den USA nicht so deutlich hervortrat, war es doch Frankreichs zusammengenommen (Gutman, 33). In den folgen-
den Arbeitern zumindest erlaubt, ihre Stimme — das Symbol politi- den Jahren ging der Konzentrationsprozeß schnell voran. Im Zuge
schen Einflusses — abzugeben und an den Ritualen politischer Par- von Übernahmen und Zusammenschlüssen entstanden Konzer-
tizipation teilzunehmen. So reagierten Handwerker auf die ne, deren Vermögenswerte sich auf Milliarden von Dollar beliefen.
Depression zwischen 1828 und 1831 mit der Gründung von Par- Im Jahre 1904 produzierten nur 4% der amerikanischen Kon-
teien der Arbeit, vornehmlich in New York und Philadelphia. 19 Sie zerne 57`)/0 des Gesamtwerts aller Industriegüter (Weinstein, t). Im
schürten damit genügend Unruhe, um wenigstens einige Konzes- Jahre 1910 waren die Gesamtinvestitionen in der verarbeitenden
sionen zu erzwingen, wie die Abschaffung von Haftstrafen bei Ver- Industrie schließlich zwölfmal so hoch wie im Jahr 186c (Brecher,
schuldung und die Gründung freier öffentlicher Schulen. Nach 8).
kurzer Zeit wurden die Parteiführer in New York vom Demokrati- Parallel zu dieser Entwicklung stieg der Anteil der Industriebe-
schen Parteiapparat geschluckt (Pelling, 32-33). Dieses Beispiel schäftigten an der gesamten Erwerbsbevölkerung auf 40% (Reich,
wiederholte sich in größerem Maßstab, als die Arbeiterklasse an Tabelle 4-L, 178); auch waren diese Arbeitskräfte in immer größe-
Umfang zunahm. Die Parteiapparate der großen Städte konnten ren Industrieimperien konzentriert. m Die genannten Veränderun-
die Unterstützung der Arbeiter gewinnen und auch behaupten, gen bereiteten zusammen den Boden für die erfolgreichen Kämpfe
indem sie deren Führer absorbierten und den Arbeitern auf indivi- der dreißiger Jahre. Der fortgeschrittene Stand der Industrialisie-
dueller, regionaler und ethnischer Basis Vorteile verschafften und rung bedeutete, daß kein Bereich der Ökonomie verschont und
symbolische Gefälligkeiten erwiesen, um ihre Loyalität zu erhal- kein Teil der Bevölkerung ausgespart blieb, als es zum ökonomi-
ten. Dies verhinderte nicht nur die Herausbildung der Industriear- schen Zusammenbruch der dreißiger Jahre kam. Die Unzufrieden-
beiterschaft als einer politischen, auf ihre Klasseninteressen orien- heit, die die Arbeiter in Bewegung setzte, wurde praktisch von der
tierten Kraft, sondern erlaubte der politischen Führung auf allen gesamten Bevölkerung geteilt, was zur Folge hatte, daß die Agita-
Ebenen des Staatsapparats sogar, Polizei, Miliz und Truppen gegen tion der Arbeiter die politische Führung nun stärker bedrohte.
streikende Arbeiter einzusetzen, ohne die Unterstützung der Außerdem war die Industriearbeiterschaft inzwischen soviel grö-
Arbeiterklasse an den Wahlurnen aufs Spiel setzen zu müssen. ßer und ihre Bedeutung für die Wirtschaft soviel zentraler gewor-
In den dreißiger Jahren des zo. Jahrhunderts aber zerfiel dieses den, daß auch die Arbeiter selbst gefährlicher erschienen, wenn sie
Politikmodell, und die Industriearbeiter zwangen die Regierung, rebellierten. Zweifellos schufen diese strukturellen Veränderungen
ihnen als Klasse entgegenzukommen. Staughton Lynd hat den die Bedingungen, unter denen die Regierung den Industriearbei-
Wandel auf einen knappen Nenner gebracht: »Nicht nur vor der tern schließlich politisch entgegenkam; der entscheidende Wandel
Jahrhundertwende, sondern gleichermaßen in der Zeit nach dem aber vollzog sich erst, als sich die Arbeiter selbst auflehnten und
Ersten Weltkrieg hat der Staatsapparat aufkommende Industriege- dabei so schwere Erschütterungen hervorriefen, daß sie den Staat
werkschaften zerschlagen. In den dreißiger Jahren hat er sie dann zum Nachgeben zwangen.
gefördert.« (Lynd, 1974, 30)
Die strukturellen Veränderungen, die diese neue entgegenkom-
128 129
Wirtschaftskrise und Vorbedingungen des Aufruhrs Dollar im Jahr 1929 auf 26 Milliarden Dollar im Jahr 1933 (Ray-
back, 3210
Die öffentlichen Reaktionen des Weißen Hauses auf den Zusam- Während dieser ersten Krisenjahre blieb die Not, die durch die
menbruch von 1929 und auf die rasch wachsende Arbeitslosigkeit rasch sinkenden Löhne erzeugt wurde, meist noch in der Privat-
beschränkten sich im wesentlichen auf einen ständigen Strom auf- sphäre verborgen. Die meisten Arbeiter erduldeten ihr Schicksal
munternder Erklärungen, wonach die Wirtschaft im Kern gesund still; vielleicht flößte ihnen der Anblick der arbeitslosen Massen
sei und die Beschäftigungszahlen wieder anstiegen. Privat aller- vor den Fabriktoren Angst ein. Auch die fehlende Bereitschaft der
dings war Hoover allem Anschein nach weniger optimistisch. Ende Eliten, überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, daß einiges im argen
November berief er eine Konferenz führender Industrieller ein, auf lag, trug dazu bei, daß die Menschen ihre Verzweiflung nach innen
der er die Lage als ernst beschrieb und die Industrie drängte, das kehrten und das Chaos in ihrem Privatleben nicht zum öffentlichen
bestehende Lohnniveau zu halten, um die Panik so gering wie mög- Thema wurde. Doch als sich die Wirtschaftslage weiter verschlech-
lich zu halten. Zumindest im ersten Jahr zeigten sich die meisten terte, als die Arbeitslosigkeit immer mehr um sich griff und die
großen Konzerne kooperationsbereit, so daß die Löhne der noch lokalen Fürsorgebemühungen zusammenbrachen, setzte ein Wan-
Beschäftigten relativ stabil blieben. del ein. Mitte 1931 wurde die Depression schließlich allgemein zur
Doch die Krise verschärfte sich rasch bis zu dem Punkt, an dem Kenntnis genommen, wodurch die privaten Sorgen der Menschen
die Industrie sich dem völligen Zusammenbruch näherte. Bis 1932 öffentliche Bedeutung gewannen und sich Zorn und Empörung
mußte die Hälfte der Produktionsanlagen geschlossen werden; breit machten. Im September 1931 verkündete der Verband der
die Produktion sank um 48`)/0; die Unternehmenserträge gingen Kriegsveteranen (die American Legion), daß »der Krise ... mit den
von II auf 2 Milliarden Dollar zurück; der Wert der Industrie- und gängigen politischen Methoden nicht mehr schnell und wirksam
Eisenbahnaktien sank um 8o%; und das Heer der Arbeitslosen beigekommen werden kann«. Theodore Bilbo erzählte einem Re-
wurde immer größer.21 Im Frühjahr 1931 waren schätzungsweise porter: »Die Leute sind aufgebracht. Der Kommunismus gewinnt
8 Millionen Menschen arbeitslos, Ende 1932 rund r3,5 Millionen an Einfluß. Hier bei uns in Mississippi sind einige Leute inzwischen
und 1933 über 15 Millionen, ein Drittel der arbeitenden Bevölke- bereit, einen Mob anzuführen. Sogar ich werde langsam ein biß-
rung. chen rosa.« (Schlesinger, 1957, 204 205) (Bilbo galt als extrem reak-
-

Bei sinkender Produktion und weitverbreiteter Arbeitslosigkeit tionärer und rassistischer Politiker — d.Ü.) Der Republikanische
war der Versuch, das bestehende Lohnniveau zu halten, zum Schei- Gouverneur des Staates Washington erklärte: »Noch einen solchen
tern verurteilt. Als erste senkten kleinere Unternehmen die Löhne. Winter der Entbehrungen, wie wir ihn im Moment durchmachen,
Im Herbst 1931, nachdem die Nettoerträge der 55o größten Indu- können wir nicht durchstehen.« (Rees, 224) Edward F. McGrady
strieunternehmen des Landes um 68'Y° gefallen waren, kündigte von der AFL sagte dem »Senate Subcommittee on Manufactures«:
dann United States Steel eine zehnprozentige Lohnkürzung an — »Meine Herren, ich muß Ihnen diesen Rat geben: Wenn nicht bald
das Startzeichen zu allgemeinen Lohnsenkungen war gegeben. Das etwas geschieht ... werden die Tore der Rebellion in diesem Land
durchschnittliche Wocheneinkommen der im Sommer 1932 noch aufgerissen werden.« (Bernstein, 197o, 354) Einige Zeit später, im
Beschäftigten sank von 25,o3 Dollar auf 16,73 Dollar.' Dabei kam Februar 1933, berichtete der Vorstandsvorsitzende der »National
es in der verarbeitenden Industrie und im Bergbau, wo auch die Steel Corporation«, Ernest T. Weir, dem »Senate Finance Commit-
Arbeitslosigkeit größer war, zu den umfangreicheren Lohnsenkun- tee«: »Praktisch jeder Amerikaner hat große Not erfahren, und die
gen, während die Eisenbahner weniger starke Einbußen erlitten; Menschen verlieren nicht nur ihren Lebensunterhalt, sie verlieren
insgesamt bedeutete der Rückgang von Löhnen und Gehältern, auch die Geduld.« John L. Lewis ging noch weiter: »Die politische
zusammen mit der Arbeitslosigkeit und der Ausweitung der Teil- Stabilität der Republik ist in Gefahr.« (Bernstein, 1971, 15)
zeit-Beschäftigung, daß das Gesamteinkommen der arbeitenden Erste Zeichen einer bevorstehenden Arbeiterrevolte wurden
Bevölkerung sich um die Hälfte verringert hatte: von 51 Milliarden sichtbar. Aus der Verzweiflung geborene Streiks gegen Lohnkür-
1 30 1 3I
zungen brachen in den Textilfabriken in Massachusetts, New Jer- rung sofort die Initiative, und in ihrer Verblüffung legten ihr die
sey und Pennsylvania aus. In Harlan County revoltierten die Berg- Nation und der Kongreß kaum Hemmnisse in den Weg. Die Wäh-
arbeiter gegen die sich kontinuierlich verschlechternden Lebensbe- ler hatten der Regierung das deutliche Mandat gegeben, den Wie-
dingungen. Schießereien zwischen Streikenden und Wachmännern deraufschwung in Angriff zu nehmen, zudem hatte Roosevelt auf-
kosteten dort mehrere Menschen das Leben. In den Bergbaugebie- grund der ökonomischen Panikstimmung und der Eindeutigkeit
ten von Arkansas, Ohio, Indiana und West Virginia folgten ähnli- seines Wahlsieges jetzt relativ freie Hand bei der Gestaltung seiner
che gewaltsame Auseinandersetzungen. Im April 1932 traten im ersten Gesetzesinitiativen. Jede einzelne seiner nun eingeleiteten
südlichen Teil des Staates Illinois 15 o 000 Bergleute in den Streik. Maßnahmen war auf einen speziellen Aspekt der Krise gerichtet,
Bis zum Sommer verwandelten sich die dortigen Kohlereviere in und jede zielte darauf ab, eine andere Wählergruppe zu gewinnen
ein Schlachtfeld, auf dem sich ganze Armeen von Bergleuten und oder in ihrer Loyalität zu bestärken: Farmer und Arbeiter, Bankiers
Hilfspolizisten gegenüberstanden, als Tausende von Kumpels zu und Geschäftsleute. Für die Farmer gab es den »Agricultural
den noch nicht bestreikten Minen zogen, um sie stillzulegen. 24 Adjustment Act« als Lohn ihres fünfzigjährigen Kampfes um staat-
NachdemAusbrvonStikgewschaflntorgie- liche Garantie der Erzeugerpreise, billige Kredite und erhöhten
ter Textilarbeiter schrieb Gouverneur 0. Max Gardner von North Geldumlauf. Die Arbeitslosen erhielten den »Emergency Relief
Carolina im Sommer 1932 an einen Freund: Act«. Wirtschaft und Gewerkschaften bekamen den »National
»Diese Explosion in High Point und Thomasville war weitgehend spontan Industrial Recovery Act« (NIRA). Der Wirtschaft gab der NIRA
und verbreitete sich wie die Pest. Das bestärkt nur mein allgemeines das Recht, die Produktion zu begrenzen und Festpreise festzuset-
Gefühl, daß der Geist der Revolte schon weit um sich gegriffen hat. ... Bei zen. Den Arbeitern bescherte der NIRA Lohnleitlinien, Arbeits-
dieser Sache hat sich die nervöse Anspannung der Menschen Luft gemacht, zeitbegrenzung und das Koalitionsrecht. Diese Bestimmungen
die mehr und mehr verloren haben und für die es in diesem Kampf ums bare sollten für die gewerkschaftlich nicht organisierten Arbeiter eine
Überleben geht.« (zitiert bei Bernstein, i970, 421-422)
beispiellose Bedeutung gewinnen — nicht so sehr, weil sie ihnen
In demselben Sommer bewaffneten sich notleidende Farmer in materiell viel eingebracht hätten, sondern aufgrund dessen, was sie
North Dakota, Michigan, Indiana, Ohio, New York und Tennessee versprachen. Die Versprechen wurden nicht eingelöst, jedenfalls
mit Knüppeln und Heugabeln, um die Auslieferung landwirt- nicht zu Anfang. Aber allein die Tatsache, daß die Bundesregierung
schaftlicher Erzeugnisse, deren Preise häufig nicht einmal die in einer solchen Zeit derartige Versprechen gemacht hatte, verlieh
Unkosten deckten, zu verhindern. Diese Ereignisse waren ernstzu- den Kämpfen der unorganisierten Arbeiter neuen Elan und Recht-
nehmende Warnsignale. fertigung — und sie wies ihnen eine neue Richtung.
Und dennoch: gemessen am Ausmaß der Bedrängnis, in die sie
geraten waren, waren die meisten Arbeiter relativ ruhig geblieben.
Sie gaben ihrer Unzufriedenheit zum ersten Mal auch nicht auf der Das Aufkommen von Protest
Straße, sondern an den Wahlurnen massenhaften Ausdruck, mit
jenem dramatischen Erdrutsch bei den Wahlen von 1932, als sich Franklin Delano Roosevelt war kein Hasardeur; wo immer es mög-
große Mengen von Wählern aus der städtischen Arbeiterschaft lich war, versuchte er Unterstützung zu gewinnen und auszubauen.
gegen die Republikaner wandten, um einen Präsidenten »des ver- Der NIRA zielte darauf ab, die Wirtschaft wieder in Schwung zu
gessenen Mannes« zu wählen. bringen: ein ebenso politisches wie ökonomisches Ziel, denn wenn
Als Roosevelt im Frühjahr 1933 sein Amt antrat, war das Ausmaß die Krise anhielt, bedeutete das auch anhaltende politische Ent-
der Katastrophe für jeden erkennbar. Die Industrieproduktion fremdung und Ungewißheit. Zudem war auch die Methode, mit
hatte einen neuen Tiefpunkt erreicht, und als der Tag der Amtsein- der der Aufschwung herbeigeführt werden sollte, eine politische.
führung gekommen war, hatten sämtliche Banken in den USA ihre Der NIRA schuf einen Mechanismus, der es den Unternehmen
Schalter schließen müssen. Einmal im Amt, ergriff die neue Regie- erlaubte, Produktion und Preise zu regulieren, ohne dabei von der
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Kartellgesetzgebung eingeengt zu werden. Genau das hatten füh- seit geraumer Zeit in der öffentlichen Diskussion gewesen. So hat-
rende Vertreter der Wirtschaft schon immer verlangt. So hatte Ber- ten alle im zwanzigsten Jahrhundert amtierenden Präsidenten der
nard Baruch bereits im November 193o eine Änderung der Kartell- Vereinigten Staaten betont, daß es xvünschenswert sei, die Bezie-
gesetze und die Beseitigung »unwirtschaftlicher Konkurrenz« hungen zwischen Unternehmern und Arbeitern tarifvertraglich zu
durch Selbstregulierung der Wirtschaft unter administrativer Auf- regeln (Taft und Ross, 3 8 7). Schon im Jahre 19oo hatten die Bergar-
sicht gefordert. Und so hatte im Oktober 193t das »Committee on beiter und Minenbesitzer in den Pechkohlerevieren ein Tarifab-
Continuity of Business and Employment« der Handelskammer kommen geschlossen, dem zwei Jahre später ein Abkommen für
Vorschläge unterstützt, die eine weitgehende Planung der Indu- den Steinkohlebergbau gefolgt war, für das sich sowohl die Finan-
strieproduktion unter Aufsicht der Regierung vorsahen.' Sogar ziers der Minenbesitzer als auch Präsident Theodore Roosevelt
die »National Association of Manufacturers« hatte dem zuge- stark gemacht hatten (Lescohier und Brandeis, xiv-xv). Ähnliche
stimmt. Rechte hatte der »Railway Labor Act« den Eisenbahngewerkschaf-
ten schon 1926 zugestanden. Diese früheren Erfolge hatten sich
Die Verheißung des NIRA jedoch als flüchtig erwiesen:Tarifverhandlungen im Kohlebergbau
waren nicht von Dauer, und auch der »Railwav Labor Act« erwies
Der NIRA war zwar entworfen und in Kraft gesetzt worden, um sich angesichts des Widerstandes der Eisenbahngesellschaften als
die Wirtschaft zu gewinnen, doch sollte er andererseits auch nie- nicht durchsetzbar.
manden verprellen. Daher wurden drei Passagen eingefügt, die zur Als jedoch Anfang der dreißiger Jahre die Arbeitslosigkeit anstieg
Beruhigung der Gewerkschaften dienen sollten. Absatz 7(a), der und die Notlage der Arbeiter der Öffentlichkeit zunehmend zu
nach eingehender Beratung mit der »American Federation of Bewußtsein kam, schien auch die Zeit für eine umfassendere und
Labor« formuliert worden war, schrieb verbindlich vor, daß alle dauerhaftere Reform der Arbeitsgesetzgebung gekommen: der
unter dem Gesetz getroffenen Regeln und Abkommen folgen- Oberste Gerichtshof fällte eine Entscheidung, die der jahrzehnte-
de Klausel enthielten: »... Arbeitnehmer sollen das Recht haben, langen gewerkschaftsfeindlichen Rechtssprechung ein Ende setzte;
sich zu organisieren und durch Vertreter ihrer Wahl Tarifverhand- der Senat lehnte die Ernennung von John J. Parker zum Richter am
lungen zu führen, und sie sollen frei sein von Einmischung, Behin- Obersten Gerichtshof ab, weil er den Abschluß von »gelben« Tarif-
derung oder Zwang durch Arbeitgeber ...« Die Unternehmen verträgen befürwortet hatte; der »Norris-LaGuardia Act« wurde
waren alles andere als glücklich über diesen Paragraphen; die verabschiedet, der das Recht der Gerichte einschränkte, mit Verfü-
»National Association of Manufacturers« und das »Iron and Steel gungen in Arbeitskonflikte einzugreifen.
Institute« bekundeten von Anfang an ihre Opposition. Die Han- Die Bestimmungen des NIRA schienen diese Fortschritte zu ver-
delskammer schlug jedoch einen anderen Kurs ein und einigte sich vollständigen, und William Green, der Präsident der »American
hinter verschlossenen Türen mit der AFL auf gegenseitige Unter- Federation of Labor«, verkündete, Millionen von Arbeitern im
stützung (Bernstein, 1971, 31). Mit anderen Worten : einige Wirt- ganzen Land sei das »verbriefte Recht auf industrielle Freiheit« ver-
schaftsführer waren, wenn auch widerstrebend, dazu bereit, im liehen worden (Rayback, 328). Doch verbriefte Rechte sind eine
Austausch gegen die großen Vorteile, die der NIRA ihnen bot, das Sache, praktische Unterstützung ist eine ganz andere, und nichts
Recht der Arbeiter, »sich zu organisieren und ... Tarifverhandlun- deutet darauf hin, daß die Roosevelt-Administration mehr im Sinn
gen zu führen«, anzuerkennen. Zusätzlich wurden den Gewerk- gehabt hätte, als ein verbrieftes Recht zu gewähren. »Dies ist kein
schaften die Klauseln 7(b) und 7(c) zugebilligt, die die Festsetzung Gesetz, das Zwietracht säen soll«, erklärte Roosevelt der Öffent-
von Mindestlöhnen und Maximalarbeitszeiten vorsahen (die ent- lichkeit; vielmehr biete es die Gelegenheit »zu gegenseitigem Ver-
weder durch Tarifverträge oder — wo diese nicht existierten — durch trauen und Hilfestellung« (zitiert bei Bernstein, 1971, 172). In den
Industriestatute erfolgen sollte) und Kinderarbeit verboten.' wirren Zeiten der Depression säte das Gesetz aber nicht nur Zwie-
Die im NIRA formulierten Prinzipien waren im übrigen schon tracht — es löste einen industriellen Krieg aus.

34 13 5
Der Drang nach gewerkschaftlicher Organisierung wo sie verkündeten: »Der Präsident möchte, daß Ihr Euch gewerk-
schaftlich organisiert.« Bernstein zitiert den Bericht eines UMW-
Schon vor der Amtseinführung Franklin Delano Roosevelts gab es »organizers« vom Juni 1933: »Diese Leute sind so ausgehungert,
deutliche Anzeichen dafür, daß einschneidende Lohnkürzungen daß sie zu Tausenden in die Gewerkschaft strömen ... Ich hab allein
und die Verlängerung der Arbeitszeit Proteste der Arbeiter hervor- Dienstag neun Ortsverbände gegründet« (1971, 37, 41-42). Inner-
rufen würden, wie es schon so oft zuvor geschehen war. Die wach- halb von zwei Monaten schnellte die Zahl der UMW-Mitglieder
sende Streikbewegung in der Textilindustrie und im Bergbau — bei- von 6o 000 auf 30000o hoch (Thomas Brooks, 163; Levinson, zo-
des Branchen, die schon während der zwanziger Jahre in der Krise 21), und im Juli 1934 erreichte die Zahl der beitragszahlenden Mit-
gesteckt hatten und bei Ausbruch der Depression weiter abge- glieder sogar 528,685 (Derber, 8); die »International Ladies Gar-
rutscht waren — waren die ersten Vorboten gewesen. Die Amtsüber- ment Workers Union« vervierfachte ihre Mitgliedschaft auf 200 000
nahme eines Präsidenten, der versprach, sich für den Mann auf der im Jahre 1934 (Derber, 9); die »Amalgamated Clothing Workers«,
Straße, den »forgotten man«, einzusetzen, und die Verabschiedung die 1932 mit 7000 beitragszahlenden Mitgliedern ihren tiefsten
von Gesetzen, die dem vergessenen Industriearbeiter Schutz ver- Stand erreicht hatte, erhielt Zulauf von 125000 Arbeitern (Bern-
sprachen, verliehen den Unzufriedenen schließlich einen Elan, den stein, 1970, 335). Schließlich konnte die »Oil Field, Gas Well and
sie vorher nicht gekannt hatten, und gaben ihnen die Rechtferti- Refinery Workers Union«, die 1933 ganze 30o Mitglieder in einer
gung für ihr Handeln. Branche mit 275 coo Beschäftigten hatte melden können, im Mai
Die Wirkung auf die Arbeiter war elektrisierend. Es war, als seien 1934 auf die Gründung von 125 neuen Ortsverbänden in den voran-
die nun einsetzenden Kämpfe mit einer Aura der — wie Rude es gegangenen Monaten verweisen (Bernstein, 1971, log—tu).
genannt hat — »natürlichen Gerechtigkeit« umgeben. Die eigenen In zuvor nicht-organisierten Industrien »gab es im wahrsten
Probleme wurden zu öffentlichen Problemen, denn hatte nicht die Sinne des Wortes einen Arbeiteraufstand für gewerkschaftliche
Bundesregierung selbst die Sache der Arbeit zu einer gerechten Organisierung«, berichtete der AFL-Vorstand auf dem Gewerk-
Sache erklärt? Nehmen wir die Geschichte einer Gruppe von schaftskongreß von 1934; »die Arbeiter hielten Massenversamm-
Arbeitern in der Philco-Radio-Fabrik. Erst organisierten sie einen lungen ab und verkündeten, daß sie in die Gewerkschaften eintre-
Wander-, Jagd- und Angelclub und machten den 2I jährigen James ten wollen« (Levinson, 52). Und so schossen in der Autoindustrie
Carey zu ihrem Anführer. Daraufhin gingen sie zum Präsidenten 200 Ortsverbände mit i00000 Mitgliedern aus dem Boden; unge-
von Philco und forderten den Abschluß eines Tarifvertrages. Der fähr 7o 000 Arbeiter der Gummifabriken in Akron wurden
NIRA habe Tarifverhandlungen zu einem nationalen Anliegen Gewerkschaftsmitglieder; ca. 300000 Textilarbeiter schlossen sich
gemacht, insistierten sie, und als der Unternehmensvertreter der »United Textile Workers of America« an; und schätzungsweise
ablehnte, setzten sich die Arbeiter in zwei alte Autos und fuhren 5o 000 verkündeten lautstark ihre Absicht, sich der Stahlarbeiterge-
nach Washington, in dem vollen Bewußtsein, ihre Auffassung dort werkschaft anzuschließen, und organisierten sich in Logen, die sie
bestätigt zu bekommen. 28 In Unternehmen, die bereits gewerk- nach dem großen Versprechen benannten: »New Deal«, »National
schaftlich organisiert waren, erwachten verschlafene Gewerkschaf- Recoverv Administration« (NRA) oder »Blue Eagle« (das Wappen-
ten zu neuem Leben. Die Reihen der »United Mine Workers« tier der USA — d. Ü.) (Levinson, 51-78; Bernstein, 1971, 92-94).
(UMW) hatten sich in den zwanziger Jahren infolge der zehnjähri- Harvey O'Connor, ein Gewerkschaftsjournalist und ehemaliger
gen Kohlekrise stark gelichtet und waren dann während der Wobbly (so nannten sich die Mitglieder der radikalen Gewerk-
Depression fast vollständig dezimiert worden. Nach Verabschie- schaft »IndustrialWorkers of the World« (IWW), die in der Zeit vor
dung des NIRA wurde auch John L. Lewis, der Vorsitzende der dem Ersten Weltkrieg eine gewisse Bedeutung erlangt hatte),
UMW, aktiv : unter Einsatz aller finanziellen Mittel der Gewerk- berichtet von den Ereignissen in den Stahlwerken:
schaft und einer Hundertschaft von »organizers« blies er zum >, 1933 kam dann der New Deal, danach der NRA, und überall in der
Sturm. Lautsprecherwagen wurden in die Kohlereviere geschickt, Gegend war die Wirkung enorm. Die Stahlwerke nahmen die Produktion
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teilweise wieder auf, und die Stahlarbeiter lasen in den Zeitungen über die- zwanziger Jahren wurde diese Verbrüderung mit derWirtschaft fast
sen NRA-Paragraphen 7(a), der einem das Recht garantierte, sich zu orga- vollkommen. Matthew Woll, einer der Vizepräsidenten der AFL,
nisieren. Das stimmte schon, aber das war's zunächst auch: man hatte das wurde amtierender Präsident der »National Civic Federation«,
Recht auf gewerkliche Organisierung, aber was danach geschah, das war
woraufhin die AFL ihre historische Gegnerschaft gegen das wis-
eine ganz andere Sache. Im ganzen Land schossen spontan Ortsverbände
der Stahlarbeitergewerkschaft aus dem Boden. ... Diese Ortsverbände ent-
senschaftliche Management beendete, der Verknüpfung von Lohn-
standen in Duquesne, Homestead und Braddock. Wo es ein Stahlwerk gab, erhöhungen mit Produktivitätszuwächsen zustimmte und der
da gab es auch einen Ortsverband, mit Namen wie >Blue Eagle< oder >New Zusammenarbeit von Gewerkschaft und Management größeres
Deal<. ... Ich glaube, es gab sogar einen >FDIU-Ortsverband. Diese Leute Gewicht verlieh.' Auch leitete sie eine Säuberungsaktion ein, um
hatten überhaupt keine Erfahrung mit Gewerkschaften. Alles was sie wuß- ihre Mitgliedsgewerkschaften von kommunistischen Einflüssen zu
ten, war: By golly, die Zeit war gekommen, sich zu organisieren, und die befreien. Streiks gab es so gut wie gar nicht mehr, und die Masse der
Regierung garantierte ihnen das Recht dazu.« (Lynd, 1969, 58) Industriearbeiter blieb weiter unorganisiert.
Die Depression ließ die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder dann
Diese Garantie sollte sich allerdings als wenig wirksam erweisen.
auf den neuen Tiefpunkt von 2 126 000 fallen, was 9% der arbeiten-
Interessanterweise wurden die ersten Hindernisse von den existie-
renden Gewerkschaften selbst errichtet. Ihre Rolle bestand in die- den Bevölkerung entsprach.' Zunächst schienen die flehenden
ser Phase im wesentlichen darin, den Ansturm der unorganisierten Rufe nach gewerkschaftlicher Vertretung, die aus den Reihen der
Industriearbeiter auf die Gewerkschaften abzublocken. Industriearbeiter erschollen, bei der AFL-Führung auf offene
Ohren zu treffen. Präsident William Green nannte Absatz 7(a) eine
»Magna Charta« für die Arbeiterschaft und prahlte, bald werde die
Gewerkschaften behindern die gewerkschaftliche Organisierung Zahl der Gewerkschaftsmitglieder to Millionen, später sogar 25
Millionen erreichen. Motto der AFL, so proklamierte er, werde
Als die Depression über das Land hereinbrach, war die AFL fast ein sein: »Organisiert die Unorganisierten in den Massenindustrien!«
halbes Jahrhundert alt. Sie war in den achtziger Jahren des 19. Jahr- Dem sollte aber nicht so sein, und dafür gab es mehrere Gründe.
hunderts als Dachverband nationaler Berufsgewerkschaften Ein Grund lag in der Vorherrschaft der großen Berufsverbände in
gegründet worden, und ihre führenden Vertreter waren (mit Aus- der AFL, für die es nichts Wichtigeres gab als die Behauptung ihres
nahme von William Green, einem ehemaligen UMW-Funktionär) eigenen Einflußbereichs, ihrer »jurisdiction«. Die Arbeiter, die in
alle Präsidenten großer Berufsverbände: Bill Hutcheson, Boss von gutem Glauben und voller Enthusiasmus auf die Gewerkschaften
300 000 Zimmermännern, der einst Streikbrecher angeheuert hatte, zuströmten, schickte man in sogenannte Bundesverbände (»federal
um seine Führungsposition zu behaupten; Dan Tobin, Präsident locals«) innerhalb der AFL. Im zweiten Halbjahr 1933, nach Verab-
der Teamsters, mit einem Jahresgehalt von 2c 000 Dollar29; John schiedung des NIRA, gingen bei der AFL zos Anträge auf Grün-
Frey, alternder Vorsitzender der ebenso alternden Formengießer; dung von »federal locals« ein, von denen r oo6 bewilligt wurden
Matthew Woll von den Lithographen. Die AFL erreichte ihren (Bernstein, 1971, 355). Mit Rücksicht auf die Hoheitsansprüche der
höchsten Mitgliederstand von fünf Millionen im Jahr 192o, als die Berufsgewerkschaften billigte man diesen Verbänden nur einen
Gewerkschaften 17% der arbeitenden Bevölkerung repräsentier- provisorischen Status zu und verweigerte ihnen das Stimmrecht in
ten (Mills, 5 3), verlor dann aber 114itglieder in der Wirtschaftskrise den Gremien der AFL (obwohl das Beitragsaufkommen der »fede-
von 1921 und stagnierte in den scheinbar »goldenen« zwanziger ral locals« wesentlich zur Finanzierung der zentralen AFL-Organe
Jahren. Die Oligarchen auf ihren gesicherten Posten waren deshalb beitrug, da die großen Mitgliedsgewerkschaften daraus keine
kaum beunruhigt. Um die Jahrhundertwende hatte sich die AFL Anteile erhielten. Darüber hinaus ging man offensichtlich davon
eng mit der »National Civic Federation« verbündet, einer Gruppe aus, daß die Mitglieder der »federal locals« im Laufe der Zeit voll-
von einflußreichen Bankiers und Geschäftsleuten, die eine »ver- ständig auf die bestehenden Berufsgewerkschaften aufgeteilt wer-
nünftige« Kooperation von Kapitel und Arbeit anstrebten. In den den würden, da sie ja auf Fabrikbasis und nicht nach Berufsgrup-
138 139
pen organisiert waren. 32 Die Gewerkschaften machten also ihre Sorte von Ausländern ich zusammen gewesen bin.« (Levinson,
Ansprüche geltend und verteilten in einigen Fällen die neuen 60) 33 Teamster-Präsident Tobin schrieb auf dem Höhepunkt der
Gewerkschaftsmitglieder eines Betriebes auf nicht weniger als 15 NIRA-Agitation: »Das Gerangel um die Aufnahme in die Gewerk-
oder 20 verschiedene Gewerkschaften, was dazu führte, daß die schaft ist in vollem Gange. Die Penner und Nichtsnutze wollen wir
Arbeiter hoffnungslos in konkurrierende Lager gespalten und bei uns nicht haben, auch nicht diejenigen, für die man unmöglich
handlungsunfähig wurden. gute Löhne und Arbeitsbedingungen herausholen kann. ... Wir
Mochten die Bestrebungen der großen Berufsverbände, die neuen wollen die Männer heute nicht, wenn sie morgen in den Streik tre-
Gewerkschafter in ihre Reihen einzugliedern, auch noch so viele ten.« (Levinson, 13-14)
Schwierigkeiten verursachen — sie waren nur allzu natürlich. Doch Das Verhalten von Michael E Tighe, dem Präsidenten der »Amal-
wurden auch sie nur halbherzig verfolgt, denn den Führern der gamated Association of Iron, Steel, and Tin Workers«, die 1933 ca.
AFL brachten die neuen Mitglieder auch eine Menge Probleme. 5o 000 Facharbeiter in der Stahlindustrie — einer Branche mit rund
Diese Funktionäre behaupteten ihre Machtpositionen auf der einer halben Million Beschäftigten — repräsentierten, ist exempla-
Grundlage von Mitgliedern, deren Ergebenheit sie beanspruchten risch. Tighe hatte 1919 dazu beigetragen, den großen Stahlarbeiter-
und auf deren Apathie sie zählen konnten. Große Sprüche über die streik zu brechen, indem er einen Tarifvertrag für seine kleine Schar
Organisierung von zehn Millionen neuer Mitglieder zu machen von Facharbeitern abschloß, während die Masse der Stahlarbeiter
war eine Sache; Massen von ruhelosen Neulingen in existierende noch immer im Ausstand war. Als jetzt der Andrang auf Mitglied-
Organisationen, die statisch und saturiert waren, oder, noch schaft in der Gewerkschaft einsetzte, schien er zunächst nur ver-
schlimmer, in neue Konkurrenzorganisationen innerhalb der AFL- wirrt, doch dann verurteilte er Arbeitsniederlegungen von neuen
Struktur aufzunehmen, eine ganz andere Sache. Im Oktober 1 933 Gewerkschaftsmitgliedern in zwei Stahlwerken, rügte ein von der
verurteilte ein Kongreß des »AFL Metal Trades Department« die Basis eingerichtetes Komitee zur Weiterentwicklung von Streiktak-
Führung des Dachverbands wegen der Zulassung von »federal tiken und schloß zuletzt einfach 75% der neuen Mitglieder wieder
locals« und behauptete: »Dieser Zustand wird, wenn wir zulassen, aus. In der Zwischenzeit hatte er zur Demonstration seiner guten
daß er erhalten bleibt, die verbrieften Rechte und Einflußbereiche Absichten einen Brief an die Fabrikbesitzer geschickt, in dem er sie
der einzelnen Mitgliedsgewerkschaften untergraben, wenn nicht bat, den Arbeitern, die die Anerkennung ihrer Ortsverbände als
sogar zerstören.« (Levinson, 54) Tarifpartner forderten, Gehör zu schenken, und in dem er ferner
Zudem waren die oligarchischen Gewerkschaftsführer nicht versicherte, ihm liege »nur eines am Herzen: den Interessen sowohl
allein an interne Stabilität gewöhnt, sondern auch an eine Politik der Arbeitgeber als auch der Arbeitnehmer zu dienen«. Der Brief
der Konzilianz nach außen. Die Anzeichen der Militanz unter den blieb unbeantwortet (Levinson, 68-72). Im Sommer 193 5 konnte
Unorganisierten ließen Formen der Auseinandersetzung befürch- Tighe nur noch eine Gesamtmitgliedschaft von 8 600 in der ganzen
ten, die vielen AFL-Funktionären schlichtweg widerwärtig gewor- Stahlindustrie melden. Die in Akron konzentrierten neuen
den waren. Bill Collins, ein Vertreter der AFL, der damit beauftragt Gewerkschaftsgruppen der Gummiarbeiter fanden ihre Mitglied-
worden war, die drohende Gefahr unabhängiger Gewerkschaften schaft bald auf 19 verschiedene Berufsgewerkschaften aufgeteilt
in der Automobilindustrie zu bannen und die Automobilarbeiter (Schlesinger, 1958,3 5 5). Demoralisiert schrumpfte ihre Mitglied-
für die »Federation« zu gewinnen, erzählte den Autoherstellern: schaft von 7o 000 im Jahr 1934 auf 22 000. Die Zahl der organisier-
»Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie für einen Streik ten Automobilarbeiter sank von geschätzten to° 000 auf lo 000; das
gestimmt.« (Fine, 69) Und schließlich war da noch die uralte Ver- waren 0/0" der mehr als 4oc 000 Beschäftigten in der Branche. Die
achtung für die Ungelernten, die als Rechtfertigung für die Engstir- »United Textile Workers of America«, deren Reihen bis zum Som-
nigkeit der AFL-Führung in der Organisierungsfrage diente. Col- mer 1934 auf 300 000 angeschwollen waren, verfügten im August
lins soll einmal Norman Thomas anvertraut haben: »Meine Frau 193 5 nur noch über 79 200 Mitglieder. Die »Union of Mine, Mill,
erkennt immer schon am Geruch meiner Kleidung, mit welcher and Smelter Workers«, ein Abkömmling der militanten »Western
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Federation of Miners«, hatte unter einer neuen, jungen Führung Die Industrie leistet Widerstand
49 oco neue Mitglieder gewonnen. Ohne die Hilfe von AFL-»orga-
nizers« riefen sie im Mai 1934 zum Streik auf, woraufhin 6600 Mochte die An-Führung auch noch so viel Widerwillen gezeigt
Männer der »Anaconda Copper Mine Company« in Butte und haben, sich der Massen unorganisierter Industriearbeiter anzuneh-
Great Falls die Arbeit niederlegten. Da tauchte das »AFL Buildings men — sie hatte den Versprechungen des NIRA an die Arbeiter
and MetalTrades Department« am Ort der Auseinandersetzung auf immerhin applaudiert. Die Unternehmer waren anderer Ansicht.
und handelte einen Tarifvertrag für die 600 beteiligten Facharbeiter Sie hatten nur murrend zugelassen, daß die Versprechungen
aus, die bald auf 16 Berufsgewerkschaften verteilt werden sollten; gemacht wurden — im Austausch für die Zugeständnisse, die der
damit war der Streik unterlaufen (Bernstein, 1971, to6-109). Im NIRA der Wirtschaft machte —, und waren keinesfalls gewillt zu
Sommer 1935 war die Mitgliedschaft der »Mine, Mill, and Smelter erleben, wie die Verheißung sich erfüllte.
Workers« auf 14 000 gefallen (Levinson, 78). Weniger umstritten waren die Bestimmungen des Gesetzes über
Nach einer schweren Niederlage beim AFL-Kongreß vom Herbst Mindestlöhne und maximale Arbeitszeiten gewesen; da die Unter-
1935 in der Auseinandersetzung über das Industriegewerkschafts- nehmer die Gremien beherrschten, die die Industriestatuten für die
prinzip zogen sich John L. Lewis und eine Reihe anderer Gewerk- einzelnen Branchen festsetzten, konnten diese Bestimmungen in
schaftsführer zurück, um das »Committee for Industrial Organiza- der Praxis auch leichter unterlaufen werden. In rnanchen Statuten
tion« aus der Taufe zu heben. Das »Committee« spaltete sich später blieben die Mindestlohnsätze einfach unerwähnt. Wo Mindest-
von der AFL ab und erklärte sich zum »Congress of Industrial löhne und Arbeitszeit festgelegt -waren, vvurden bestimmte Unter-
Organizations« (CIO), zum Dachverband der Industriegewerk- nehmen ohne große Probleme von der Einhaltung der Vorschriften
schaften. Zum CIO gehörten auch die kleinen »federal locals« der befreit, wenn sie auf die besonderen Bedingungen, die in ihrer
Auto- und der Gummiarbeiter, die 1934 nur widerwillig (und auch Branche oder ihrem Unternehmen herrschten, verwiesen, während
nur mit erheblichen Einschränkungen ihrer Handlungsfreiheit, um andere die Statuten durch Arbeitsintensivierung (»stretch-out«)
die Ansprüche der Berufsgewerkschaften und die Autorität der umgingen.
AFL-Führung zu schützen) in die AFL aufgenommen worden Trotz allem erbrachte das neue Gesetz und die anschließende Bil-
waren. Wie schon die AFL, so verkündeten nun auch die Führer des dung der »National Recovery Administration« im großen und
CIO, sie würden »die Organisierung der Arbeiter in den Massenin- ganzen eine Verbesserune; die durchschnittliche Zahl der
dustrien und in den noch nicht organisierten Branchen ermutigen wöchentlichen Arbeitsstunden sank von 43,3 auf 37,8, und das
und fördern« (Levinson, t9). Was sie tatsächlich tun würden, blieb durchschnittliche Jahreseinkommen der Beschäftigten in der verar-
abzuwarten. beitenden Industrie, im Bergbau und im Baugewerbe stieg von 874
Männer und Frauen -waren in die Gewerkschaften geströmt, ange- Dollar im Jahre 1933 auf 1068 Dollar zwei Jahre später (Rayback,
lockt von der Verheißung auf Arbeitermacht durch Organisierung. 332)-
Sie hatten die hohen Beiträge gezahlt, die die AFL von ihren »fe- Absatz 7(a), der den Arbeitern das mutmaßliche Recht gab, sich in
deral locals« verlangte, um dann durch das Gewirr einzelge- Ge-werkschaften zu organisieren und Tarifverhandlungen zu füh-
werkschaftlicher Hoheitsansprüche verunsichert und von den ren, war von der Industrie von Anfang an als die ernstere Bedro-
Forderungen ihrer Funktionäre nach Mäßigung und Versöhnungs- hung angesehen worden, und so zögerten die Wirtschaftsführer
bereitschaft demoralisiert zu werden. In diesem Stadium scheiterte nicht lange, die Bestimmungen zu mißachten und offen zu verlet-
die Organisierung der Arbeiter, und vielleicht war das der Grund, zen. Einige Konzerne verboten die Gründung von Gewerkschafts-
-warum ihre Bewegung wuchs. gruppen einfach; eine größere Zahl anderer Unternehmen etablier-
ten sogenannte »emplovee representation« -Programme. Diese
Programme — auch »companv unions« oder gelbe Gewerkschaften
genannt — waren schon in den zwanziger Jahren zu einem beliebten
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Instrument geworden: 1928 schlossen sie 1,5 Millionen Beschäf- Widerstand der Unternehmen heftiger wurde, eskalierten viele der
tigte ein (Pelling, 146). Zwischen 1933 und 193 5 schossen viele neue Streiks zu umfangreichen Straßenschlachten.
gelbe Gewerkschaften aus dem Boden.' Als die Forderung nach Die erste war die »Schlacht von Toledo«. Toledo war von der Wirt-
gewerkschaftlicher Organisierung trotzdem immer lauter wurde, schaftskrise arg mitgenommen worden. Das Hauptwerk in der
begannen die Unternehmen schwarze Listen zu führen und Stadt war Willys-Overland, wo im März 1929 42 000 Autos produ-
bekannte Gewerkschafter zu Tausenden zu entlassen, ungeachtet ziert worden waren und 28 000 Menschen gearbeitet hatten. Inner-
des demonstrativen Schutzes durch Absatz 7(a). Als die Militanz halb weniger Monate wurde die Produktion erheblich reduziert,
der Arbeiter zunahm, griffen die Unternehmen verstärkt auf bis Willys im Frühjahr 1932 nur noch 3 000 Personen beschäftigte
Gewaltmethoden und Bespitzelung zurück, auf Stacheldrahtzäune (Keerah, 63). Auch die Zuliefererindustrie in Toledo war nicht von
und Sandsackbefestigungen, auf gut bewaffnete und gut finanzierte der Krise verschont geblieben. So war die Arbeitslosigkeit über-
»Bürgervereinigungen«, auf Hilfspolizisten und den massiven Ein- durchschnittlich hoch und die Löhne der noch Beschäftigten lagen
satz von Spitzeln in den Gewerkschaften.' Spätere Aussagen vor unter den N1RA-Mindestnormen. Anfang 1934 hatten die »Elec-
einem Unterausschuß des »Senate Committee an Education and tric Auto-Lite Company« und eine Reihe kleinerer Firmen die
Labor«, dem Senator LaFollette vorsaß, lassen darauf schließen, Anerkennung von Gewerkschaften verweigert. 4 000 Arbeiter leg-
daß die amerikanischen Unternehmen zwischen 1933 und 1937 ten daraufhin die Arbeit nieder. Nachdem Regierungsvertreter von
3 781 Spitzel in die Gewerkschaften eingeschleust hatten (Rayback, den Unternehmen die Zusicherung erwirkt hatten, »einen Apparat
344)37 ; allein 1936 betrugen die Ausgaben für die Anti-Gewerk- (für Tarifverhandlungen) zu errichten«, kehrten die Streikenden an
schafts-Agenten 8o Millionen Dollar (Thomas Brooks, 164). ihre Arbeitsplätze zurück. Da sich Auto-Lite jedoch anschließend
weigerte, Verhandlungen aufzunehmen, wurde am 11. April ein
Der Konflikt verschärft sich zweiter Streik ausgerufen. Diesmal beteiligte sich jedoch nur eine
Minderheit an dem Ausstand, woraufhin die Gesellschaft ent-
Ebensowenig wie die Unternehmer waren die Arbeiter an der Basis schied, die Produktion aufrechtzuerhalten, und Streikbrecher
mit den Kompromissen des New Deal zufrieden. Das Koalitions- anheuerte, um auf vollen Touren weiterproduzieren zu können.
recht hatte den Arbeitern Hoffnung gegeben und ihre Unzufrie- Toledo war eine Hochburg von A. J. Mustes radikalen »Unem-
denheit angestachelt." Doch die Organisierungsversuche hatten ployed Leagues«, denen es gelang, innerhalb kurzer Zeit große
sich bisher als Mißerfolge erwiesen: von Unternehmern bekämpft, Mengen von Arbeitslosen zu mobilisieren, um die Streikposten zu
von den AFL-Führern unterlaufen und in endlosen bürokratischen verstärken. Am 17. April erwirkte das Unternehmen eine gerichtli-
Scharmützeln ausgelaugt. Die Zahl der gewerkschaftlich organi- che Verfügung, die die Zahl der Streikposten begrenzte und den
sierten Beschäftigten fiel bis 193 5 auf einen neuen historischen Tief- Mitgliedern der »Unemployed Leagues« gänzlich untersagte,
punkt, als sie nur noch 9,5% der arbeitenden Bevölkerung aus- Posten zu stehen. Die Muste-Anhänger beschlossen jedoch, das
machten (Mills, 53). Während aber der Organisationsgrad der Urteil zu ignorieren; ihnen schlossen sich einige Kommunisten
Arbeiter sank, nahm ihre Militanz zu. Im Frühjahr und Sommer unter der Parole an: »Zerschlagt den Gerichtsbeschluß durch mas-
1934 stieg die Zahl der Streiks, und je mehr etablierte Gewerk- senhaftes Postenstehen.« (Keeran, 168) Eine Handvoll dieser mili-
schaftsfunktionäre die Kontrolle über sie verloren, um so unbere- tanten Arbeitslosen bezog daraufhin Streikposten. Sie wurden bald
chenbarer wurden sie. Nach Verabschiedung des NIRA streikten festgenommen, kehrten aber nach ihrer Freilassung vor das Werk
1933 dreimal so viele Arbeiter als 1932; die Zahl der Arbeitskon- zurück, wo sie von einer immer größer werdenden Zahl von Arbei-
flikte in der Industrie stieg nach den Statistiken des »U.S. Bureau of tern unterstützt wurden, die sich von ihrem Beispiel anspornen lie-
Labor Statistics« von 841 im Jahr 1932 auf 1 695 1933 39 und dann ßen. Weitere Festnahmen und neue Gerichtsbeschlüsse schienen
auf 1 856 1934, als eineinhalb Millionen Arbeiter in Streiks verwik- die Streikenden nur weiter anzustacheln, und die Zahl der Streikpo-
kelt waren (Millis und Montgomerv, 692, 700 701). Da auch der
- sten stieg von Tag zu Tag. Die Arbeiter genossen so viel Sympathie
1 44 14 5
in der Bevölkerung von Toledo, daß es dem Polizeichef unmöglich den Transportunternehmern seine Forderungen präsentierte, mel-
war, die lokale Polizei zum Schutz der Streikbrecher einzusetzen. dete sich die »Citizens' Alliance« zu Wort und versprach, den Streik
Statt dessen vereidigte er von Auto-Lite bezahlte Männer als Hilfs- 711 zerschlagen. Die Forderungen der Gewerkschaft wurden sämt-

polizisten. lich zurückgewiesen.


Bis zum 23. Mai war die Menge vor dem Werk auf rund to 000 Vermittlungsversuche des »Regional Labor Board« blieben
Menschen angeschwollen, wodurch ca. 5oo Streikbrecher prak- fruchtlos und am 15. Mai 1934 begann der Streik. Die Alliance ließ
tisch im Werk gefangen waren. Der Polizeichef entschloß sich umgehend 5 5 »special officers« als Sonderpolizei vereidigen, was
daraufhin, die Initiative zu ergreifen, und ließ seine Hilfstruppen die Arbeiter von Minneapolis dazu veranlaßte, sich voll hinter die
vorrücken. Doch die Menge leistete Widerstand, und mehrere streikenden Lastwagenfahrer zu stellen; viele von ihnen traten auch
Menschen -wurden schwer verletzt, woraufhin die Nationalgarde selbst in den Ausstand. Beide Seiten errichteten militärische Haupt-
von Ohio in Marsch gesetzt wurde. Mit Maschinengewehren und quartiere und bewaffneten ihre Männer. Streikposten patrouillier-
aufgepflanzten Bajonetten marschierten die Nationalgardisten in ten in Gruppen — teilweise auf Motorrädern — durch die Stadt und
der Stille des Morgengrauens in die Auto-Lite-Fabrik ein und eva- sorgten dafür, daß kein Lastwagen unterwegs war. Am 21. Mai,
kuierten die Streikbrecher. Doch am nächstenTag versammelte sich nachdem die Polizei angedroht hatte, die Laster abschleppen zu las-
die Menge wieder, ging auf die Nationalgardisten los und deckte sie sen, brach die erste Schlacht zwischen den beiden Armeen aus.
mit einem Hagel von Pflastersteinen und Flaschen ein. Beim drit- Dreißig der zahlenmäßig weit unterlegenen Polizisten wurden bei
ten Angriff feuerte die Garde in die Menge. Zwei Menschen vvur- den Kämpfen Mann-gegen-Mann verletzt. Am folgenden Tag ver-
den getötet und viele andere verletzt. Noch immer löste sich die sammelte sich eine 2o 000köpfige Menge; neue Straßenschlachten
Menge nicht auf. Vier weitere Einheiten der Nationalgarde wurden brachen aus, in deren Verlauf zwei Hilfspolizisten getötet und rund
mobilisiert, und schließlich vvilligte Auto-Lite ein, das Werk zu 5o Personen verletzt wurden. Die Stadt -war praktisch in der Hand
schließen. Erst jetzt, als ein drohender Generalstreik vor der Tür der Arbeiter; in den »besseren Kreisen« brach Panik aus, und in der
stand, stimmten die Unternehmer einem staatlichen Schlichtungs- ganzen Stadt machte sich das Gefühl eines bevorstehenden Klas-
verfahren zu, das zu einer 22%igen Lohnerhöhung und einge- senkrieges breit.
schränkter Anerl5ennung der Gewerkschaft führte:2 An diesem Punkt gelang es Gouverneur Olson, einen vorüberge-
Minneapolis wurde zum Schauplatz der nächsten Schlacht. Die henden Waffenstillstand durchzusetzen. Verhandlungen begannen,
Stadt war immer eine Hochburg des »open shop«, der gewerk- doch die mehrdeutig formulierte Vereinbarung, auf die man sich
schaftsfreien Betriebe, gewesen. Daß es so blieb, darüber wachte einigte, platzte bald wieder, und beide Seiten rüsteten erneut zum
eine 19o8 von Unternehmern gegründete »Citizens' Alliance«, die Kampf. Nachdem die Unternehmer einen Schlichtungsversuch aus
ihre Umwelt mit Hilfe von Spitzeln, Schlägern, Schnüffelei und Washington zurückgewiesen hatten — offenbar in der Hoffnung,
Propaganda gewerkschaftsfrei hielt. Im Laufe des Jahres 1933, als der Gouverneur werde die Nationalgarde einsetzen, um den Streik
ein Drittel der Beschäftigten in Minneapolis arbeitslos war, und die zu brechen —, traten die Arbeiter wieder in den Ausstand. Bei der
Löhne der übrigen um zwei Drittel gekürzt worden waren, gewann nächsten Konfrontation der beiden Lager verletzte die Polizei 67
eine Handvoll örtlicher Trotzkisten — Mitglieder der »Socialist Arbeiter und tötete zwei. Gouverneur Olson griff jetzt entschlos-
Workers Party« — Kontrolle über den Ortsverband 574 der Team- sen ein, verhängte das Kriegsrecht und ließ die Hauptquartiere bei-
sters und schickte sich an, neue Arbeiter für die Gewerkschaft zu der Lager ausheben. Jetzt endlich akzeptierten die Transportunter-
gewinnen. Nach einem ersten Erfolg in den Kohlelagern, begann nehmer einen Vorschlag der Bundesregierung, der innerhalb von
der Ortsverband, Lastwagenfahrer und deren Hilfskräfte zu orga- zwei Jahren zu Tarifabkommen mit 5oo Unternehmern in Minne-
nisieren. Doch die Geschäftsleute von Minneapolis v,raren durch apolis führte (Bernstein, 197r, 229-252; Schlesinger, 19 5 8, 38 5—
die Unruhe unter den Arbeitern in anderen Landesteilen gewarnt 38.9). Die ganze Zeit über hatte sich Daniel Tobin, der Vorsitzen-
und auf eine Konfrontation vorbereitet. Als der Ortsverband 574 de der Teamsters. geweigert, die Arbeiter zu unterstützen, und

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die Streikführer als »Rote« gebrandmarkt (Karsh und Garman, Angriff auf Streikposten, die gerade versuchten, Streikbrecher vom
99).
41 Betreten der Docks abzuhalten. Diesmal landeten 115 Personen im
In San Francisco strömten die von Absatz 7(a) ermutigten Hafen- Krankenhaus, zwei Streikende wurden getötet; 170o Nationalgar-
arbeiter in die »International Longshoremen's Association« (ILA). disten marschierten schließlich in San Francisco ein, um Ruhe und
Sie klagten besonders über das »shape-up«-Einstellungssystem, Ordnung wiederherzustellen. Den Trauerzug für die ermordeten
das sie völlig den Vorarbeitern auslieferte: nie konnten sie sicher Gewerkschafter verwandelte die arbeitende Bevölkerung von San
sein, auch am nächsten Tag wieder arbeiten zu dürfen. Doch die Francisco in eine gewaltige politische Demonstration. Ein Schrift-
ILA-Führer machten keine Anzeichen, gegen das »shape-up« vor- steller, der den Zug beobachtete, hat ihn beschrieben:
zugehen, und so entstand eine Basisbewegung, die von einer klei- »In geschlossenen Reihen, acht bis zehn Seite an Seite, Tausende von Sym-
nen Gruppe von Kommunisten und anderen Radikalen, unter pathisanten des Streiks. Der Hall der Schritte, sonst kein Geräusch. Die
ihnen Harry Bridges, angeführt wurde.' Auf einer Versammlung Kapelle mit ihren dumpfen Trommeln, der ernsten Musik.... Da zogen sie
im Februar 1934 zwang die Gewerkschaftsbasis die Funktionäre, vorüber — Stunde um Stunde — zehn-, zwanzig-, dreißigtausend. ... Ein
die Einrichtung eines gewerkschaftlich kontrollierten Vermitt- fester Strom von Männern und Frauen, die von der Rechtmäßigkeit ihrer
lungsbüros (»union hiring hall«) zu verlangen oder binnen zwei Forderungen überzeugt waren und ihre Empörung in dieser gigantischen
Demonstration ausdrückten.« (Charles G. Norris, zitiert bei Bernstein,
Wochen in den Streik zu treten. Roosevelt war gewarnt worden,
1971, 281-282)
daß die Hafen-Bosse es auf eine Konfrontation abgesehen hätten
und daß die Verluste, die ihnen durch einen Streik drohten, sich für In dem Aufwallen von Wut und Solidarität verstärkte sich die Stim-
sie bei einer Zerschlagung der Gewerkschaft allemal bezahlt mung für einen Generalstreik. Bis zum 12. Juli stimmten rund
machen würden (Schlesinger, 1958, 390). Ein Schlichtungsaus- zwanzig Gewerkschaften für den Streik, und Hugh Johnson (Vor-
schuß der Bundesregierung erarbeitete einen Kompromißvor- sitzender der »National Recovery Administration«) meldete einen
schlag, der die teilweise Anerkennung der Gewerkschaft vorsah, »Bürgerkrieg« in San Francisco. Doch der Streik wurde vom »San
ihr aber die Kontrolle über die Arbeitsvermittlung verweigerte. Francisco Central Labor Council« — dem Zentralausschuß der
Joseph Ryan, der Präsident der ILA, akzeptierte. Doch die lokalen lokalen AFL-Gewerkschaften, der zur Führung eines General-
Führer, von der Basis unter Druck gesetzt, wiesen das Abkommen streiks gezwungen worden war, von dem er nichts hatte wissen wol-
zurück — der Streik war da. len — unterminiert und brach nach vier Tagen zusammen. Nach
Die Unternehmer karrten große Mengen von Streikbrechern dem Zusammenbruch blieb den Hafenarbeitern keine andere Wahl
heran, doch organisierte Lastwagenfahrer weigerten sich, die Gü- mehr, als dem Schlichtungsverfahren zuzustimmen. Das Ergebnis
ter von und zu den Docks zu transportieren, und einige schlossen war die Einrichtung einer gemeinsam von Gewerkschaft und
sich sogar den Streikposten an. Am to. Mai trat auch die von Kom- Unternehmern betriebenen Arbeitsvermittlung. In der Zwischen-
munisten geführte »Maritime Workers Industrial Union« in den zeit hatte AFL-Vorsitzender William Green den Generalstreik von
Streik. Daraufhin folgten weitere in der AFL organisierte Gewerk- San Francisco persönlich verurteilt (Brecher, 144).
schaften, so daß der Streik sich ausweitete und bald die meisten im Der Textilarbeiterstreik, der im Sommer 1934 überall im Land aus-
Hafen- und Schiffahrtsbereich Beschäftigten einschloß (Weinstein, brach, nahm den Charakter eines Kreuzzuges an, als »fliegende
64-67). Vom ersten Tag an versuchte die Polizei, den Streik mit Schwadronen« von Männern und Frauen von einer südlichen Tex-
Gewalt zu brechen, doch hatten sich die Streikenden bislang mit tilstadt zur anderen zogen, um die Arbeiter in den Fabriken aufzu-
Erfolg gewehrt. Nach 45 Tagen entschieden die Geschäftsleute von rufen, sich der Streikbewegung anzuschließen. Im September
San Francisco, der Hafen müsse wieder geöffnet werden, und 700 befanden sich dann 375 oco Textilarbeiter im Streik. Die Unterneh-
Polizisten machten sich zum Angriff auf die Streikposten bereit. mer stellten bewaffnete Wachmannschaften auf, die zusammen mit
Als die Schlacht vorüber war, lagen 25 Personen im Krankenhaus. der Nationalgarde dafür sorgten, daß die Fabriken in Alabama,
Mehrere Tage später, am 5. Juli, führte die Polizei den nächsten Mississippi, Georgia und den Carolinas offen blieben. Bevor alles
1 48 14 9
vorüber vvar, waren ein lokaler Gewerkschafts-Vorsitzender er- den Autounternehmen vorgelegt und vom Präsidenten unterzeichnet
schossen und seine Mitarbeiter verprügelt worden, hatte Gouver- wurde, setzte einen Lohnrahmen von 41 bis 43 Cents in der Stunde
neur Talmadge von Georgia das Kriegsrecht verkündet und ein und erlaubte eine wöchentliche Arbeitszeit von 35 bis 48 Stunden,
Internierungslager für etwa 000 Streikende errichtet. Fünfzehn doch die Gewerkschaftsführer behaupteten, daß diese Standards
Streikende wurden insgesamt getötet, sechs von ihnen, als Hilfsshe- vielfach verletzt würden. Der Paragraph, der die Einhaltung von
riffs in Honea Path (South Carolina) auf eine der »fliegenden Absatz 7(a) durch die Autoindustrie demonstrieren sollte, wurde als
Schwadronen« trafen. Auch in Rhode Island, Connecticut und ”Verdienst-Klausel« bekannt. Darin hieß es: »Die Arbeitgeber in die-
Massachusetts kam es zu schweren Unruhen und in ganz Neu-Eng- ser Branche haben das Recht, Arbeitnehmer entsprechend ihrem
land standen die Nationalgardisten in Bereitschaft; das Journal der persönlichen Verdienst auszuwählen, zu beschäftigen oder zu beför-
Textilbranche Fibre and Fabric ließ verlauten, »ein paar hundert dern, ungeachtet ihrer Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft in
Beerdigungen vverden einen beruhigenden Einfluß haben«.' einer Organisation.« (Levinson, 57 58) Auf der Grundlage dieser
-

In demselben Sommer töteten Hilfspolizisten zwei Streikende Klausel begannen die Unternehmen im Herbst 1933, Gewerkschaf-
und verletzten 35 weitere, als die »Kohler Company« sich weigerte, ter zu entlassen. Zur selben Zeit ließ General Motors in schneller
in der unternehmenseigenen »Modell-Stadt« Kohler Village in Wis- Folge eine Reihe gelber Gewerkschaften wählen und gab bekannt,
consin mit der Gewerkschaft in Tarifverhandlungen einzutreten man werde keine unabhängigen Gewerkschaften anerkennen oder
(Taft und Ross, 352). Alles in allem mußten 1933 mindestens 15 einen Tarifvertrag mit einer solchen Ge-werkschaft unterzeichnen.
streikende Arbeiter und 1934 mindestens 4o weitere ihr Leben las- Bei jeder Verlängerung der Laufzeit der Statute — im Dezember 1933,
sen. In einem Zeitraum von 15 Monaten waren in 16 Bundesstaaten im September 1934 und im Februar 1935 protestierten die Gewerk-

Truppen eingesetzt worden (Levinson, 56-57). schaftsführer vehement, aber ohne großen Erfolg, sieht man einmal
davon ab, daß der Präsident einen Beratungsausschuß (»labor advi-
sory board«) ernannte und eine Untersuchung über Lohnniveau
Der Staat am Scheideweg und Arbeitslosigkeit in der Automobilindustrie anordnete.
Die Unruhe unter den Automobilarbeitern hielt an. Als im März
Je entschlossener die Arbeiter ihre Forderungen vorbrachten, um 1934 die Beschäftigten mehrerer GM-Fabriken mit einem Streik
so entschlossener schlugen die Unternehmen zurück, und beide drohten, rief Präsident Roosevelt Vertreter der Konzerne und der
Seiten ersuchten die Bundesbehörden wiederholt um Vermittlung. Gewerkschaften zu einer Konferenz ins Weiße Haus. Man schloß
Zunächst lief die vorherrschende Politik der Bundesregierung auf einen Friedensvertrag, in dem das Prinzip der proportionalen
Anpassung an die Unternehmensinteressen hinaus, doch wurde Repräsentation aufgestellt wurde. Die Beschäftigten eines Werkes
dies zusehends schwieriger, je militanter die Arbeiter auftraten. sollten zum Zweck yon Tarifverhandlungen auf »company unions«
Die Automobilindustrie ist dafür exemplarisch. Vor Verabschie- und verschiedene unabhängige Gewerkschaften verteilt werden.
dung des NIRA waren die Automobilarbeiter so gut wie unorga- Roosevelt nannte den Plan »das Gerüst für eine neue Struktur der
nisiert.' Nach Verabschiedung des Gesetzes schlossen sich die industriellen Beziehungen« ; der Präsident von General Motors,
Arbeiter den »federal locals« der AFL an, aber auch unabhängige Alfred P. Sloan, meinte: »Ende gut, alles gut« ; und William Green
Gewerkschaften entstanden, und im Sommer 1933 kam es zu einer stimmte ein und verkündete einen großen Sieg der Gewerkschafts-
Serie von Streiks. Die »National Recovery Administration« hatte in bevvegung. Die Erfahrung ließ jedoch vermuten, daß es sich um
der Zwischenzeit den Automobilunternehmen — wie auch in ande- einen Plan zur Spaltung der Arbeiter handelte. Der Korrespondent
ren Branchen — die Initiative bei der Festsetzung der Industriesta- der New York Times schrieb: ”Die Bemühungen der organisierten
tute überlassen.45 In der Praxis wurde die Handelskammer der Au- Arbeiterbewegung um größere Gleichheit der Verhandlungsstärke
tomobilbranche zur eigentlichen Autorität bei der Norrnensetzung sind zunichte gemacht worden.«'
(Levinson, 57). Das Löhne und Arbeitszeiten regelnde Statut, das von Die Textilunternehmer verfolgten ähnliche Strategien. Lohn- und

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Arbeitszeit-Normen wurden durch »stretch-outs«, die eine erheb- Während aber die Bundesregierung in dieser Periode die Ge-
liche Intensivierung der Arbeit bewirkten, unterlaufen. Trotz des schäftswelt zu gewinnen suchte, zeigte sie auch ein ungekanntes
vermeintlichen Schutzes durch Absatz 7(a) wurden Tausende von Interesse an der Arbeiterschaft. »In dieser Zeit«, schreibt Bern-
Gewerkschaftern entlassen, und das Amt zur Überwachung der stein, »blickten die Werktätigen in den Vereinigten Staaten in außer-
Arbeitsbestimmungen (das »Cotton National Textile Industrial gewöhnlichem Maße auf die Bundesregierung und besonders auf
Relations Board«) verwies Beschwerden der Arbeiter schlichtweg Präsident Roosevelt in der Hoffnung auf Führung und Beistand«
an das »Textile Institute«, die Vereinigung der Textilunternehmer. (1971, 17o). Und doch war in dem herrschenden Klima der Unsi-
Zudem sanktionierte die NRA eine branchenweite Einschränkung cherheit die Unterstützung durch die Arbeiter keineswegs gesi-
der Produktion, was zu weiterer Lohnkürzung und Verringerung chert. Dementsprechend zeigte sich Roosevelt bemüht, Forderun-
der Beschäftigtenzahlen führte. Der unvermeidbare Streik wurde gen der Arbeiterschaft entgegenzukommen; sogar die unerfüllten
vorübergehend abgewendet, als die NRA eine Untersuchung ver- Versprechungen und ausweichenden Studien der NRA zeugten von
sprach und der Textilarbeitergewerkschaft einen Sitz im »Textile diesem Bemühen und standen in scharfem Gegensatz zu den
Board« zusagte. Als es im Sommer 1934 dann doch zum Streik gerichtlichen Verfügungen und Truppeneinsätzen früherer Zeiten.
kam, intervenierte der Präsident, indem er ein neues >Textile Labor Als die Klagen von Gewerkschaftsführern über Verletzungen von
Relations Board« ernannte, das die Arbeitsbelastung in der Textil- Absatz 7(a) heftiger wurden, wurde das »National Labor Board«
industrie untersuchen sollte, während das Arbeitsministerium das (NLB) eingerichtet, das Auseinandersetzungen zwischen Beschäf-
Lohnniveau erheben und die »Federal Trade Commission« die tigten und Unternehmern schlichten sollte. Senator Robert F. Wag-
Fähigkeit der Textilunternehmen einschätzen sollte, Produktions- ner, ein Freund der Gewerkschaften, wurde zum Vorsitzenden
volumen und Beschäftigung wieder zu erhöhen (Brecher, 158). ernannt; unter ihm entwickelte sich das NLB zu einem Verteidiger
Daraufhin bliesen die Führer der Textilarbeitergewerkschaft den des Koalitionsrechtes und des Tarifverhandlungsprinzips. Doch
Streik ab und erklärten sich zum Sieger.' Als jedoch die Streiken- fehlte dem NLB die rechtliche Autorität; somit war es, trotz einiger
den an ihre Arbeitsplätze zurückkehren wollten, verweigerten die Anfangserfolge, machtlos, wenn Unternehmer seine Entscheidun-
Fabrikbesitzer Tausenden von ihnen die Weiterbeschäftigung und gen schlichtweg ignorierten, wie es in mehreren wichtigen Fällen
warfen sie aus den werkseigenen Häusern.' $ Ende 1933 geschah. Im Februar 1934 erhielt das NLB, das zunächst
In der Stahlindustrie ordnete das »National Labor Board« — unter nur dazu autorisiert war, Schlichtungsgespräche zu führen, das
dem Druck von Streiks in Weirton und Clairton — schließlich die Recht, Repräsentationswahlen durchzuführen; ein paar Monate
Durchführung von Repräsentationswahlen der dortigen Beleg- später wurde es dann aufgrund einer von Wagner eingebrachten
schaften an, doch die Unternehmer wollten die Anordnung nicht Resolution in das »National Labor Relations Board« (NLRB)
akzeptieren. Als der Fall dem Justizministerium übergeben wurde, (Nationaler Ausschuß für Arbeitsbeziehungen) umgewandelt.
weigerte es sich, irgend etwas dagegen zu unternehmen. Später, als Aber keine dieser Veränderungen erwies sich angesichts des Wider-
die Unternehmen Lager mit Tränengasbomben, Munition und standes der Unternehmer als besonders effektiv, vor allem da das
Schnellfeuerwaffen anlegten, um sich gegen die Gewerkschaften zu Justizministerium die ihm vom »Board« vorgelegten Fälle nur sehr
verteidigen, suchten Basisgewerkschafter den Präsidenten in Wash- zögernd verfolgte. Sogar in Fällen, bei denen es um die Durchfüh-
ington auf, der jedoch auf einer Seereise war. Diesmal lehnten die rung von Repräsentationswahlen in den Betrieben ging und das
Arbeiter das Angebot des NRA-Vorsitzenden, General Hugh NLRB eindeutige Befugnisse hatte, verzögerten die Unternehmen
Johnson (der vorgeschlagen hatte, einen Ausschuß zur Untersu- die Inkraftsetzung von NLRB-Beschlüssen und prozessierten hin-
chung ihrer Beschwerden einzusetzen) ab und schrieben statt des- haltend. Bis zum März 1935 hatte noch keiner der dem Justizmini-
sen an den Präsidenten, sie hielten es für »nutzlos, noch mehr Zeit sterium übergebenen Fälle zu einem Urteil geführt (Bernstein,
in Washington zu vergeuden und sich von Pontius zu Pilatus schik- 1971, 32o-322).
ken zu lassen« (Levinson, 70). Angesichts der Eskalation des Klassenkrieges war jedoch eine
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Politik des Ausgleichs zwischen Unternehmer- und Gewerk- ihre Delegierten Roosevelt eine stehende Ovation. Gleichzeitig ver-
schaftsinteressen zum Scheitern verurteilt. Die Regierung konnte besserte sich die allgemeine Wirtschaftslage — zumindest teilweise
die Schlachten, die zwischen Unternehmen und Arbeitern tobten, dank der Privilegien, die der Industrie unter den NIRA-Statuten,
nicht ignorieren, und wenn nur aus dem einen Grund, daß Arbeits- zugestanden wurden. Bis zum Frühjahr 1934 war der Index der
frieden eine unabdingbare Voraussetzung für den Wiederauf- Industrieproduktion, besonders in den Branchen mit NIRA-Statu-
schwung war. Einmal verwickelt, konnte sie nicht Partei ergreifen, ten erheblich gestiegen. Die Industriellen gewannen ihre Zuver-
ohne es sich mit der jeweils anderen Seite zu verderben. Als im sicht zurück, doch gleichzeitig wuchs ihre Verstimmung über den
Sommer 1933 in den von den Stahlkonzernen abhängigen Bergwer- Aufruhr, den die Arbeitspolitik des New Deal in ihrem eigenen
ken (»captive mines«) Streiks und Unruhen ausbrachen, erzwang Haus hervorgerufen hatte. Kurz vor den Kongreßwahlen von 1934
Hugh Johnson ein Abkommen, dem zwar (UMW-Vorsitzender) schloß sich eine Gruppe von führenden Vertretern der Wirtschaft,
Lewis zustimmte, das die Bergleute selbst jedoch zurückwiesen. unter ihnen Alfred P. Sloan und William S. Knudsen von General
Stahlindustrie und UM\XT befanden sich bald in einem verbissenen Motors, Edward F. Hutton und Colby M. Chester von General
Konflikt: die New York Times meldete schon to° 000 streikende Foods, J. Howard Pew von Sun Oil, Sewell L. Avery von Montgo-
Bergleute, und die Verhandlungen unter Aufsicht der NRA führten mery Ward und die Du Ponts mit mehreren Politikern, die der New
zu nichts. Da die Koksvorräte bedrohlich zusammengeschmolzen Deal entthront hatte, zusammen, um die »American Liberty Lea-
waren, bestanden die Stahlmanager schließlich auf der Intervention gue« aus der Taufe zu heben, eine Organisation, die sich aufgerufen
des Präsidenten. Doch was immer sie sich von der Intervention ver- sah, das Recht auf Eigentum vor dem »Radikalismus« des New Deal
sprochen hatten, das resultierende Abkommen kann ihnen kaum zu schützen (Schlesinger, 1958, 486). Ungerührt von Roosevelts Aus-
gefallen haben. In der Tat hielt sich keiner der Stahlkonzerne an die gleichspolitik, hatte die Wirtschaft ihm den Fehdehandschuh hin-
Abmachungen, bis die Streitfälle vor das NLB gebracht wurden, geworfen. Doch die Zwischenwahlen von 1934 brachten einen glän-
was dazu führte, daß für viele der »captive mines« modifizierte zenden Sieg des New Deal und bescherten den Demokraten eine
Tarifabkommen abgeschlossen wurden (Bernstein, 1971, 49-61). Mehrheit von 45 Sitzen im Senat und von 219 Sitzen im Repräsentan-
Auch gelang es der Regierung nicht, sich 1934 aus den Auseinan- tenhaus — »der überwältigendste Sieg in der Geschichte amerikani-
dersetzungen in Toledo, Minneapolis und San Francisco herauszu- scher Politik«, wie die New York Times erklärte.
halten, wo die Unternehmer sich den Forderungen der Arbeiter
ebenso energisch widersetzten wie den Vermittlungsvorschlägen
der Bundesregierung. Mit beispiellosen Arbeiterrevolten konfron- Staatliche Konzessionen an die Arbeitermacht
tiert, schlugen sich die Schlichter, waren sie erst einmal tätig gewor-
den, zwar nicht auf die Seite der Arbeiter, aber sie ergriffen auch In diesem Stadium machte die unbeugsame Opposition der Privat-
nicht Partei für die Unternehmer. Das reichte aus, um zu erkennen, wirtschaft die Regierung weit empfänglicher für die Forderungen
daß die Politik der ausschließlichen Anpassung anWirtschaftsinter- anderer gesellschaftlicher Gruppen. Erst kürzlich schrieb Ray-
essen zu einem Ende gekommen war. mond Moley, der zu Roosevelts Brain-Trust gehörte, über Roose-
Obwohl die meisten Geschäftsleute bei den Wahlen von 193z velt:
Hoover unterstützt hatten, waren doch ein paar prominente Indu-
«Keiner war in seiner Herangehensweise an wichtige nationale Probleme so
strielle für die Wahl Roosevelts eingetreten; andere schlugen sich wenig an Ideologien gebunden wie er. Die Strategie, die er irgendwann 193 5
schnell auf seine Seite, als der Präsident schon im ersten Monat sei- einschlug und die er zusammen mit Edward J. Flynn entworfen hatte, zielte
ner Amtszeit die Banken wieder öffnen ließ, die Regierungsausga- darauf ab, viele Minderheitengruppen, einschließlich der Gewerkschaften,
ben senkte und Bier legalisierte. Was den NIRA betraf, hatte sich mit Hilfe von Maßnahmen, die die städtischen Massen gewinnen sollten, in
vor der Wahl selbst die U.S.-Handelskammer für »die Philosophie der Demokratischen Partei na sammeln, während er die Farmer mit Sub-
einer geplanten Wirtschaft« ausgesprochen, und 1933 bereiteten ventionen bei der Stange hielt.« (5 59)

1 54 155
Ursprünglich hatten sich Roosevelt und seine Berater Zugeständ- Auch der Präsident verweigerte seine Unterstützung und sprach
nisse an die Arbeiterschaft nur im Rahmen von Arbeitslosenunter- sich statt dessen für die Resolution Nr. 44 aus, mit der das »Natio-
stützung und -versicherung, Renten, Mindestlöhnen und Arbeits- nal Labor Relations Board« geschaffen wurde. Edelman schreibt
zeitregelungen vorgestellt (Bernstein, 1971, r). Aber die Unruhe über Roosevelt:
unter den Arbeitern hatte die Rahmenbedingungen verändert, und
»Er versäumte es regelmäßig, Arbeitsgesetze zu unterstützen, solange er
auf diese galt es sich einzustellen, wollte Roosevelt die Lohnabhän- nicht überzeugt war, daß die Vorlage über ausreichenden politischen Rück-
gigen »bei der Stange halten«. halt verfügte; gelegentlich sabotierte er bereits gesetzlich verankerte arbei-
terfreundliche Bestimmungen sogar, weil die Wirtschaft ihn unter Druck
Der »Wagner Act« setzte. ... Er konnte sich verhältnismäßig sicher sein, daß das Land seine
Wohlfahrts- und Wirtschaftspolitik unterstützte, aber er scheute immer
Im Jahr 1935 bei wachsenden Auseinandersetzungen zwischen

lange vor langfristigen Reformen zurück, w-eil die Unternehmer und Mittel-
Kapital und Arbeit — war endgültig klar, daß die Politik des Aus- schichten ihnen ablehnend gegenüberstanden. Da er ganz bewußt den Kon-
gleichs gescheitert war. Die Regierung hatte die Unterstützung der takt zum gesamten Spektrum gesellschaftlicher Gruppen hielt, wußte er
besser als seine Vorgänger, was politisch vorteilhaft war und welches Timing
Wirtschaft verloren; wenn überdies die Forderungen der Arbeiter angebracht schien.« (182)
unerfüllt blieben, wäre sie Gefahr gelaufen, auch noch in der Arbei-
terschaft an Boden zu verlieren. Im Frühjahr 1935 wurden der Ein Jahr später war das Timing richtig, und die Unruhe der Arbeiter
NIRA und der Präsident von allen Seiten angegriffen. »Franklin hatte dazu beigetragen. Als Wagner eine veränderte Fassung des
Delano Roosevelt ist die Nummer eins unter den Feinden der Gesetzes vorlegte, das dann der »National Labor Relations Act«
Gewerkschaft«, meinte Heyw-ood Broun. Der Oberste Gerichts- werden sollte, fand er schnell Unterstützung. Da das Recht der
hof spitzte die Lage vollends zu, als er am 27. Mai 1935 den NIRA Arbeiter auf gewerkschaftliche Organisierung ohnehin schon seit
für verfassungswidrig erklärte und damit dem Kernstück der Wirt- langem prinzipiell anerkannt worden war, fiel es den Befürwortern
schaftspolitik des New Deal den Boden entzog. Ohne diesen ohne- der Vorlage nicht schwer, Argumente für sie zu finden. Neu waren
hin schwachen Schutz nahm die Arbeitslosigkeit wieder zu, fielen nur die Argumente, daß das Gesetz, indem es die Kaufkraft erhal-
die Löhne und wurden die Arbeitszeiten länger (Rayback, 341). te, dem ökonomischen Gleichgewicht diene, und daß es ein Boll-
Dabei standen am Horizont schon die Wahlen von 1936. werk gegen den Kommunismus darstelle. Mit wenigen Ausnahmen
Anfang 1934 hatte Senator Robert Wagner einen Gesetzentwurf lehnten die Unternehmer die Vorlage weiterhin vehement ab;
vorgelegt, der die Schaffung eines neuen »Labor Relations Board« die »National Association of Manufactureres« führte sogar eine
vorsah, das im Gegensatz zu seinen Vorgängern auch über eine ihrer bisher größten Kampagnen durch, um den Entwurf zu Fall
Implementationsmaschinerie verfügen sollte. Die neue Behörde zu bringen. Das Commercial and Financial Chronicle nannte ihn
sollte dazu ermächtigt sein, Repräsentationswahlen in den Betrie- »eines der anstößigsten wie revolutionärsten Gesetzeswerke, das
ben durchzuführen, Unternehmen davon abzuhalten, ihren dem Kongreß jemals vorgelegt worden ist« (Schlesinger, 1958, 404).
Beschäftigten zu drohen oder sie an der Ausübung ihrer Rechte zu Die AFL hielt sich weitgehend abseits, wie auch die Regierung.
hindern, und die Betriebsleitungen zu verpflichten, Tarifverhand- Arbeitsminister Perkins, der einzige Regierungsvertreter, der vor
lungen mit von einer Mehrheit der Belegschaft in einer Tarifeinheit dem zuständigen Senatsausschuß eine Stellungnahme abgab, legte
bestimmten Vertretern aufzunehmen. Die Vorlage räumte dem sich nicht eindeutig fest (Bernstein, 1974 33r). Am 2. Mai 1935
»Board« das Recht ein, die Unterlassung ungesetzlicher Praktiken stimmte der Arbeitspolitische Ausschuß im Senat einstimmig für
zu verfügen (»cease and desist«) und sah bei Mißachtung seiner den Entwurf; das Abstimmungsergebnis im Senat war 63 zu
Entscheidungen die Anrufung eines ordentlichen Gerichtes vor.' 12. Mehrere Wochen später schloß sich das Repräsentantenhaus
Die Privatwirtschaft legte heftigen Widerspruch ein, und Wagner mit der überwältigenden Mehrheit von 132 zu 42 Stimmen an.
fand für seinen Entwurf nur wenig Unterstützung im Kongreß. Schließlich sprach sich auch Roosevelt, der bis dahin geschwiegen
56 157
hatte, für die Vorlage aus und unterschrieb das Gesetz am 5. Juli der gewerkschaftlichen Rechte, wie im »Wagner Act« formuliert,
1935. zum Ziel (Millis und Montgomery, 692, 7o1). Zum ersten großen
Noch war der Kampf allerdings nicht vorüber. ZweiWochen nach- Streik nach Verabschiedung des »Wagner Act« kam es in Akron.
dem das Gesetz in Kraft getreten war, veröffentlichte die »Ameri- Der Hintergrund des Streiks war vertraut. Akron war eine einseitig
can Liberty League« eine von 58 Juristen unterzeichnete Erklä- auf die Gummiindustrie orientierte Stadt, in der die Beschäftigung
rung, in der der »Wagner Act« für verfassungswidrig erklärt wurde. nach dem Börsenkrach um die Hälfte geschrumpft war. Bis zum
Die Industrie verhielt sich daraufhin so, als ob das Gesetz nicht Frühjahr 1933 hatten viele der Gummifabriken die Produktion ein-
befolgt zu werden brauche. U. S. Steel, General Motors und Good- gestellt; Goodyear produzierte nur noch zwei Tage in der Woche,
year Tire and Rubber wandten sich umgehend an die Bundesge- die Hauptbank hatte schließen müssen, die Stadt war bankrott und
richte und erreichten einstweilige Verfügungen, die dem neuen mußte eine große Zahl ihrer Bediensteten entlassen (Bernstein,
»National Labor Relations Board« die Hände banden; bis zum 3o. 1971, 98-99). Dann kam Absatz 7(a) und brachte Bewegung in die
Juni 1936 war das »Board« in 83 derartige Verfahren verwickelt Gummiarbeiterschaft. »Federal locals« wurden gegründet und
(Bernstein, 1971, 646). Darüber hinaus gab es Grund zu der 4o 000 bis 5o 000 Arbeiter traten bei. Die MT-Führung versuchte
Annahme, daß die Einwände der Unternehmer vom Obersten wie stets, die neuen Mitglieder auf die bestehenden Berufsgewerk-
Gerichtshof bestätigt würden. Seit 1935 hatte das Gericht schon schaften zu verteilen. Ende 1934 ordnete das NLRB die Durchfüh-
andere wichtige Elemente des New Deal für ungültig erklärt, dar- rung von Repräsentationswahlen in den Goodyear- und Firestone-
unter den »National Industrial Recovery Act«. 1936 fegte das Fabriken an, doch die Unternehmen gingen vor Gericht und die
Gericht auch den »Guffey-Snyder Act« vom Tisch, der Bestim- Angelegenheit wurde auf unbestimmte Zeit verschoben (Brecher,
mungen für die Kohleindustrie enthalten hatte, die denen des t6t). Die Arbeiter drängten auf einen Streik, doch ihre Gewerk-
»Wagner Act« sehr ähnlich waren. Die amerikanische Industrie schaftsführer unterzeichneten ein durch Bundesschlichtung zu-
hatte allen Grund zum Optimismus. standegekommenes Abkommen, in dem sie versicherten, die
Gerichtsentscheidung abwarten zu wollen. Goodyear erklärte, daß
Der Widerstand der Industrie wird gebrochen durch die Vereinbarung »die Beziehungen zu den Arbeitnehmern
in keiner Weise verändert werden, da die Bestimmungen sich völlig
Auch die amerikanischen Arbeiter waren voller Optimismus. Die mit der Politik decken, die Goodyear schon immer vertreten hat«
Verabschiedung des »Wagner Act« zu einer Zeit, als sich die Arbeits- (Brecher, 161). Entmutigt durch die Manöver der AFL und der
bedingungen nach der vorübergehenden Erholung von 1934 wie- Regierung verließen viele die Gewerkschaft wieder.
der verschlechterten, bestätigte ihnen nur, daß ihr Kampf gerecht Doch die Unzufriedenheit der Arbeiter schwand nicht, vor allem
und der Sieg möglich war. Der Kongreß hatte sich auch von den dann nicht, als Goodyear Tire and Rubber im November 1935 und
Drohungen und eindringlichen Mahnungen früherer Industrieller nochmals im Januar 1936 die Löhne kürzte. Am to. Februar entließ
nicht abhalten lassen. Darüber hinaus wiederholte sich die 1934 die Gesellschaft dann eine große Anzahl von Beschäftigten, ohne
erfolgte Wahlniederlage vieler Kapitalvertreter bei den Wahlen von die übliche vorherige Ankündigung. Einige Nächte später stellten
1936, als der New Deal trotz der entschlossenen Opposition der 137 Arbeiter, von denen fast keiner in der Gewerkschaft war, ihre
Industrie einen überwältigenden Sieg davontrug. Die Arbeiter Maschinen ab und setzten sich einfach auf den Boden. Lokale
begriffen wahrscheinlich, daß die Wirtschaft, zumindest für den Funktionäre der Gummiarbeitergewerkschaft überredeten die
Moment, die Kontrolle über den Staat verloren hatte. Folglich Sitzstreikenden zum Verlassen der Fabrik, aber soo Goodyear-
nahm die Ivlilitanz der Arbeiter in den Jahren 1936 und 1937, insbe- Arbeiter beriefen ein Treffen und stimmten für Streik (Brecher,
sondere in den Massenindustrien, weiter zu. Die Zahl der Streiks 165-166). Die Nachricht verbreitete sich rasch, die Arbeiter ver-
stieg kontinuierlich an: von 2014 im Jahre 193 5 auf 2172 1936 und sammelten sich in der bitteren Kälte, und als der Morgen herein-
474° 1937 Mehr als die Hälfte von ihnen hatte die Anerkennung brach, umringte ein elf Meilen langer Kreis von Streikposten das

158 159
Werksgelände. Nur wenige der to 000 bis 15 000 Streikenden waren täten nach dem Ersten Weltkrieg geschaffen worden war. Mit
Mitglieder der Gewerkschaft 50, aber die Arbeit in der Fabrik stand Beginn der Großen Depression zerfiel das Wohlfahrtsprogramm,
still. Draußen machten sich die Streikposten an die Arbeit und bau- und nach 1933 verließ sich GM mehr auf ein ausgedehntes Netz
ten über 30o Hütten, um sich gegen den kalten Winterwind zu von Spitzeln in ihren Fabriken, um gewerkschaftliche Aktivitä-
schützen. Auf den Hütten hißten sie amerikanische Flaggen und ten zu unterbinden. Nach Ermittlungen des LaFollette-Untersu-
wieder benannten sie sie nach der Verheißung: »Camp Roosevelt«, chungsausschusses war GM der beste Kunde der professionellen
»Camp John L. Lewis«, »Camp Senator Wagner«. Gewerkschaftsbespitzelungs-Agenturen, und die Ausgaben des
Es gelang Goodyear zwar, beim Gericht in Summit County eine Unternehmens für Spitzeldienste stiegen parallel zur Zunahme der
Verfügung gegen die Streikposten zu erwirken, doch konnte sie gewerkschaftlichen Aktivitäten (Fine, 37) — insgesamt auf minde-
nicht durchgesetzt werden. Als der Sheriff androhte, er werde den stens eine Million Dollar für den Zeitraum von Januar 1934 bis Juni
Zugang zum Werk mit 15o Hilfspolizisten freimachen, bewaffne- 1936 (Walsh, 109).
ten sich Tausende von Arbeitern mit Knüppeln und Stöcken und Die Unternehmensspitzel machten den Männern zwar angst,
blockierten die Werkstore. Die Polizisten zogen sich zurück. Spä- brachten sie aber auch in Wut, was angesichts der ohnehin gereizten
ter verbreitete sich das Gerücht, eine »Liga für Recht und Ord- Stimmung nicht verwundert. Es gab noch andere Gründe zum Kla-
nung« wolle die Streikposten angreifen, doch wieder bewaffneten gen. Die Stundenlöhne in der Autoindustrie waren zwar relativ
sich die Gummiarbeiter und verhinderten, daß die Drohung wahr- hoch, aber die Beschäftigung schwankte extrem stark, so daß die
gemacht werden konnte. Goodyear wandte sich jetzt an Gouver- Arbeiter in ständiger wirtschaftlicher Unsicherheit lebten. In der
neur Davey und bat um den Einsatz von Truppen, aber in Ohio Zeit von September 1933 bis September 1934 waren zum Beispiel
standen Wahlen vor derTür und die öffentliche Meinung sympathi- 40°/0 der GM-Arbeiter weniger als 29 Wochen beschäftigt, und
sierte mit den Streikenden. Zudem erklärte der Zentralausschuß 6o% verdienten weniger als r000 Dollar. Noch wütender aber
der Gewerkschaften in Akron, der Einsatz von Gewalt würde einen machten die Arbeiter das erhöhte Arbeitstempo (»speed-ups«) und
Generalstreik zur Folge haben. Der Gouverneur entschied darauf- die Modelländerungen, die sie auslaugten und die nach ihrer Ein-
hin, es gebe keine Rechtfertigung für den Einsatz der Miliz. schätzung der Gesellschaft höhere Profite bei weniger Beschäftig-
Ende Februar erschien der Stellvertretende Arbeitsminister ten einbrachten (Fine, 5 5 61). 1933 setzte eine Welle von spontanen
-

McGrady auf der Szene, um zu vermitteln. Er empfahl den Strei- Streiks in der Autoindustrie ein. John Anderson, ein Basisgewerk-
kenden, wieder an die Arbeit zurückzukehren und die Angelegen- schafter aus jener Zeit, schildert eine solche Arbeitsniederlegung:
heit von einem Schlichter klären zu lassen. Etwa 4 000 Arbeiter »Ich bekam bei der Briggs Manufacturing Company einen Job in der
kamen vor dem Waffendepot der Nationalgarde zusammen und Metallverarbeitung für 52 Cents in der Stunde, aber dann haben sie mir
schrien den Vorschlag nieder, singend: »Nein, nein und tausendmal doch nicht soviel ausgezahlt. In der ersten Woche kriegte ich 45 Cents in der
nein« (Bernstein, 1971, 595)• In der vierten Streikwoche stimmte Stunde. In der zweiten Woche wurde der Lohn auf 4o Cents gekürzt und in
Goodyear Tire und Rabber einer Vereinbarung zu: die entlassenen der dritten Woche sogar auf 35 Cents. Diese Lohnkürzungen haben ausge-
Arbeiter wurden wieder eingestellt, die Arbeitswoche verkürzt und reicht, um die Leute zum Streik zu provozieren. Nachdem sie am Sonntag
zur Arbeit bestellt worden waren, legten sie mittags die Arbeit nieder, ohne
Betriebsausschüsse der Gewerkschaft anerkannt (Levinson, 143—
dem Vorarbeiter Bescheid zu sagen. Montag gingen wir wieder zur Arbeit,
146; Thomas Brooks, 181-182).' aber bevor wir anfingen, sagten wir zu dem Vorarbeiter: >Wir wollen erst
Als nächstes krachte es in der Autoindustrie, im gigantischen wissen, wie hoch unser Lohn ist. Wir sind mit 5 2 Cents die Stunde einge-
Industrieimperium von General Motors, das von den DuPonts und stellt worden und bekommen nur 3 5 Cents.< Der Vorarbeiter sagte: >Seht ihr
J. P. Morgan regiert wurde.' GM hatte sich immer entschieden und die Schlange von Leuten da draußen, die nach Arbeit suchen? Wenn ihr
erfolgreich gegen gewerkschaftliche Organisierung gewehrt, zum nicht arbeiten wollt, dann zieht euch um und macht euch aus dem Staub. Da
Teil dank eines ausgeklügelten Programms des »Wohlfahrtskapita- sind genug Männer, die eure Plätze einnehmen werden.<
lismus«, das in einer Zeit zunehmender gewerkschaftlicher Aktivi- Diese Äußerung hat die Männer dann dazu veranlaßt, als geschlossene

16o 161
Gruppe, nicht als Individuen, die Arbeit niederzulegen. Sie waren nicht timer, einen kommunistischen Basisgruppenvertreter aus Cleve-
organisiert ; sie hatten niemanden, der für sie sprach. Es waren mehrere hun- land, einige Monate später nach Flint geschickt hatte, um dort eine
dert Männer, die da auf der Straße rumliefen und nicht wußten, was sie tun Rekrutierungskampagne einzuleiten, brach der GM-Streik relativ
sollten. ... Ich stieg auf ein Auto und schlug vor, daß wir die 52 Cents ver-
spontan aus, an mehreren Orten fast gleichzeitig.55 Mehrere
langen sollten, die auf unseren Einstellungsbescheiden standen. ... Wegen
des Streiks bin ich auf die schwarze Liste gesetzt worden. ... (aber) ich
Zusammenstöße in der GM-Fabrik in Atlanta führten am 18.
erfuhr, daß die Löhne in der Metallverarbeitung aufgrund des Streiks auf 6o November 1936 zu einem Streik, als sich das Gerücht verbreitete,
Cents die Stunde erhöht worden waren. ...« (Lynd, 19_9, A A A .1 das Management wolle mehrere Männer entlassen, weil sie
Gewerkschaftsabzeichen trügen. Ein paar Wochen darauf legten
Nach Verabschiedung von Absatz 7(a) hatten die Automobilarbei- die Arbeiter einer GM-Chevrolet-Fabrik in Kansas City die Arbeit
ter begonnen, in Gewerkschaften einzutreten. Viele waren der von nieder, als die Betriebsleitung angeblich einen Mann entließ, weil er
der AFL eingerichteten »federal union« beigetreten (aus der später eine Vorschrift verletzt hatte, die es untersagte, über das Fließband
die »United Automobile Workers« wurden, die sich dem CIO zu springen. Am 28. Dezember trat eine kleine Gruppe von Fließ-
anschlossen» Doch aufgrund der zurückhaltenden Politik der bandarbeitern in der GM-Fisher-Karosseriefabrik in Cleveland in
AFL und der Regierungskonzessionen an die Autokonzerne war den Sitzstreik, -woraufhin 7 coo weitere Beschäftigte die Arbeit nie-
die Mitgliedschaft schnell wieder gesunken, so daß Anfang 1935 derlegten. Am 3o. Dezember gab es dann in der Fisher-Karosserie-
nur 5% der Automobilarbeiter organisiert waren. Doch ob mit fabrik in Flint einen Sitzstreik von etwa 5o Arbeitern, vermutlich
oder ohne Gewerkschaften: nach der Verabschiedung des »Wagner wegen einer Entscheidung des Managements, drei Kontrolleure zu
Act«, dem überwältigenden Sieg des New Deal bei denWahlen von versetzen, die sich geweigert hatten, aus der Gewerkschaft auszu-
1936 und den Erfolgen der Gummiarbeiter von Akron wuchs der treten. In derselben Nacht traten Arbeiter in einer zweiten und grö-
Mut der Automobilarbeiter und mit ihm die Unruhe. Im Herbst ßeren Karosseriefabrik in Flint ebenfalls in einen Sitzstreik — der
und Winter des Jahres 1936 wirkte jede kleine Unkorrektheit des Flint-Sitzstreik hatte begonnen, und das zu einer Zeit, als nur eine
Managements wie ein Peitschenhieb auf die Rücken von empörten kleine Minderheit der Arbeiter in Flint gewerkschaftlich organi-
Männern, die ungeduldig auf den Moment des Losschlagens warte- siert war.' Der Streik dehnte sich auf andere Städte aus. Streikende
ten. Nehmen wir aus der Geschichte der frühen Streikbewegung besetzten das Fleetwood- und das Cadillac-Werk von GM in
einen Sitzstreik in Flint, der ausgelöst wurde, als ein Gewerkschaf- Detroit und eine Scheinwerferfabrik in Indiana; Arbeitsniederle-
ter, der gegen die Entlassung eines Arbeiters protestiert hatte, vom gungen wurden in St. Louis, Janesville, Norwood, Kansas City
-Vorarbeiter durch die Fabrik geführt wurde, um offensichtlich und Toledo ausgerufen. Am t. Januar 1937 befanden sich '12 000
seine Entlassungspapiere zu holen. Als er am Fließband entlang- Produktionsarbeiter bei General Motors im Ausstand.
ging, konnten die Arbeiter an seinem Gesicht ablesen, worum es Flint, das Hauptschlachtfeld des Arbeitskampfes, war als Zen-
ging, und wandten sich nach und nach vom Fließband ab, bis trum des GM-Imperiums auch eine GM-Stadt. Das Unternehmen
schließlich 7co Männer aufgehört hatten zu arbeiten. Das Unter- kontrollierte rund 8o°,4) der Arbeitsplätze. Die Spitzen von General
nehmen mußte die Entlassung rückgängig machen, bevor die Motors waren auch die Spitzen der Gesellschaft, und die meisten
Arbeit wieder aufgenommen wurde (Levinson, 175).54 Kurze politischen Ämter in Flint waren von ehemaligen Konzernangehö-
Arbeitsniederlegungen und Sitzstreiks bei Chrysler, im Bendix- rigen oder GM-Aktionären besetzt. So war es auch keine Frage,
Werk in South Bend und in den Midland Steel- und Kelsey-Hayes- daß derWerkschutz sofort von der Polizei unterstützt wurde, als er
Werken in Detroit endeten mit teilweiser Anerkennung der Sympathisanten der Streikenden daran hindern wollte, die Männer
Gewerkschaft. Bei dieser Stimmung war es nur noch eine Frage der in der Fabrik mit Lebensmitteln zu versorgen. Es kam zu einer
Zeit, wann der Kampf bei General Motors ausbrechen würde. regelrechten Schlacht, in der die Polizisten Tränengas einsetzten
Obwohl die noch unerfahrene Automobilarbeitergewerkschaft, und auf die Streikenden feuerten; diese antworteten mit Wasser-
die sich inzwischen dem CIO angeschlossen hatte, Wyndham Mor- strahlen aus Schläuchen der Werksfeuerwehr und einem Bombar-
162 1 63
dement mit Türangeln, Flaschen und Steinen. Rund zwei Dutzend Gadola erlassene Verfügung besagte, die Arbeiter hätten die Fabri-
Streikende und Polizisten wurden bei dieser Auseinandersetzung ken bis spätestens drei Uhr am 3. Februar zu verlassen. Der Druck
verletzt, die als »Battle of the Running Bulls« (Die Schlacht der ren- auf den Gouverneur, die Fabriken mit Gewalt räumen zu lassen,
nenden Bullen) bekannt werden sollte. nahm jetzt zu. Aber auch der Druck der Arbeiter verstärkte sich.
Die Unruhen bechleunigten die Intervention des Gouverneurs Am Abend des 2. Februar schickten die Streikenden eines der
von Michigan, Frank Murphy, der im Zuge des Roosevelt-Wahlsie- besetzten Werke eine Botschaft an den Gouverneur. Ihre Worte
ges im November des vorigen Jahres ins Amt gekommen war. Er zeugten davon, wie stark sie von der Rechtmäßigkeit ihres Han-
war von der gesamten Arbeiterbewegung von Michigan unterstützt delns überzeugt waren; die Verantwortung für den Ausbruch von
worden, obwohl er auch mit den Magnaten der Autoindustrie auf Gewalt lastete auf ihren Gegnern:
gutem Fuß stand. Später sollte sich herausstellen, daß er sogar ein »Wir führen diesen Besetzungsstreik jetzt schon seit einem Monat, weil wir
beachtliches Paket von GM-Anteilen besaß (Brecher, 176). Gou- die General Motors Corporation dazu bringen wollen, dem Gesetz zu
verneur Murphy ließ das GM-Management wissen, es möge den gehorchen und Tarifverhandlungen aufzunehmen.... Unbewaffnet wie wir
Streikenden im Interesse der öffentlichen Gesundheit nicht die Ver- sind, wird der Einsatz von Miliz, Sheriffs oder Polizei mit ihren mörderi-
sorgung mit Lebensmitteln verweigern und das Werk außerdem schen Waffen ein Blutbad unter unbewaffneten Arbeitern bedeuten. ... Wir
beheizen. Dann begab er sich persönlich zum Ort der Auseinander- haben beschlossen, in der Fabrik auszuharren. Wir haben keine Illusionen
setzung, begleitet von rund 200o Nationalgardisten, die er allerdings über die Opfer, die diese Entscheidung uns abverlangen wird. Wir erwarten
durchaus, daß viele von uns ihr Leben lassen werden, wenn der gewaltsame
angewiesen hatte, sich neutral zu verhalten.' Der Gouverneur Versuch unternommen werden sollte, uns zu räumen. Und so wenden wir
übernahm die Rolle des Friedensstifters und brachte Gewerk- uns auf diesem Wege an unsere Frauen und Kinder und an die Bürger von
schaftsvertreter und Unternehmensleitung an den Verhandlungs- Michigan, um sie wissen zu lassen, daß Sie es sind, der für unseren Tod zur
tisch. Die Verhandlungen erwiesen sich jedoch als fruchtlos: die Verantwortung zu ziehen sein wird.« (Levinson, 164-165)
Arbeiter beendeten die Besetzung von drei kleineren Fabriken, nur
um festzustellen, daß GM auch mit der »Flint Alliance«, einer von Der Geist dieser Botschaft von den Fabrikbesetzern beflügelte
GM beherrschten Selbstschutzorganisation, Verhandlungen aufge- auch viele Arbeiter außerhalb der Fabriken. Am Morgen des 3.
nommen hatte. Mitte Januar beschwor Arbeitsminister Frances Februar, als die Nationalgarde ihre Maschinengewehre und Hau-
Perkins die Unternehmensleitung, sich mit den Vertretern der bitzen in Stellung brachte, waren die Straßen nach Flint von Tau-
Gewerkschaft an einen Tisch zu setzen. Der Konzern mußte täglich senden von Lastwagen und Automobilen verstopft; viele Sym-
Verluste von ungefähr zwei Millionen Dollar hinnehmen, verwei- pathisanten waren aus umliegenden Städten gekommen, um die
gerte aber trotzdem auch weiterhin standhaft jedes Treffen mit der Streikposten zu verstärken. Gummiarbeiter kamen aus Akron;
Gewerkschaft, bevor die besetzten Werke nicht geräumt seien. Am Automobilarbeiter aus Lansing, Toledo und Pontiac; Walter Reu-
27. Januar gab GM seine Absicht bekannt, die Produktion wieder ther kam mit mehreren hundert Männern seines West Side-Ortsver-
aufzunehmen, und wandte sich an das Gericht, um eine einstwei- bandes in Detroit; Arbeiter aus dem Kelsey-Hayes-Werk in Detroit
lige Verfügung gegen die Besetzer zu erwirken. 58 Die Streikenden kamen mit einem Transparent, auf dem stand: »Kelsey-Hayes-
antworteten mit der Besetzung einer weiteren Fabrik im Zuge eines Arbeiter vergessen ihre Freunde nie.« Als die im Gerichtsbeschluß
dramatischen, verdeckten Manövers. Präsident Roosevelt rief dar- genannte Stunde nahte, zogen vielleicht to coo Arbeiter, die von
aufhin John L. Lewis an und teilte ihm mit, er unterstütze einen sogenannten »Frauen-Notbrigaden« mit der amerikanischen
Plan, der die Anerkennung der UAW durch GM für einen Monat Nationalflagge angeführt wurden, einen Kreis um das bedrohte
vorsehe. Lewis soll ihm geantwortet haben: »Meine Leute sagen Werk. Die Demonstranten trugen Knüppel und Stöcke, Eisenrohre
mir, es müßten mindestens sechs Monate sein«, und der Sitzstreik und Garderobenständer, um für die erwartete Schlacht gerüstet zu
ging weiter. sein. So lief die Frist ab.'
Am 2. Februar entschied das Gericht. Die von Richter Paul Die Krise war an einem Punkt angelangt, an dem das Weiße Haus

164 165
gezwungen war, mit der gebotenen Entschlossenheit einzuschrei- >company union< — einen Ausschuß bilden. Ich fragte mich, wer denn wohl
ten. Auf Ersuchen Roosevelts und nach Aufwendung aller Überre- entscheiden sollte, vvenn es ein Patt gab, und ich fand heraus, daß es natür-
lich das Management sein sollte. ... Wir haben versucht, die >company
dungskünste des Arbeitsministers setzten sich die Vertreter des
union< abzuschaffen und haben eine Gruppe gegründet, die wir die >Verei-
Konzerns mit den Führern des CIO und der Automobilarbeiterge-
nigten Beschäftigten< nannten. Das waren alles nur Arbeiter so wie ich, die
werkschaft an einen Tisch. Man einigte sich schließlich darauf, daß versuchten, etwas zu tun, indem sie eine richtige Gewerkschaft aufmach-
das Unternehmen die Gewerkschaft sechs Monate lang als aus- ten. ... Eines Tages haben wir dann in der Zeitung gelesen, daß sie unten in
schließlichen Vertreter der Arbeiter in den 17 besetzten Fabriken Pittsburgh versuchten, dasselbe zu machen.« (Lynd, 55 57)-

anerkennen werde. 61
Eine ähnliche Abfolge von Ereignissen gab es nur wenige Wochen Anfang 1935 wurden die ersten Anzeichen von Unzufriedenheit in
nach Beilegung des GNI-Streiks in den Werken der Chrysler Cor- den Betriebsgewerkschaften (»company unions«) deutlich. In den
poration. (Nur zwei Jahre zuvor hatte die überwältigende Mehr- Werken um Pittsburgh und Chicago begannen Belegschaftsvertre-
heit der Chrysler-Arbeiter noch für eine gelbe Gewerkschaft ter für Lohnerhöhungen zu agitieren; für Lohnfragen aber galten
gestimmt.) Nachdem die Diskussionen zwischen Chrysler und der sie nicht als zuständig, ebensowenig wie die einzelnen Werksleiter,
UAW ergebnislos geblieben waren, traten 6o 000 Arbeiter in den die darauf verwiesen, daß die Löhne von der Konzernspitze festge-
Ausstand, zwei Drittel von ihnen in Form von Sitzstreiks in den setzt wi_irden. In der Folge begannen sich dieVertreter der Betriebs-
Fabriken. Die Streikenden hielten die Fabriken dreißig Tage lang gewerkschaften verschiedener Werke zu treffen, um über gemein-
besetzt und wurden draußen von unzähligen Streikposten vertei- same Aktionen zu beraten (Brooks, Robert, 85-89). Im Januar
1936 gründeten 13 der 25 Belegschaftsvertreter im Carnegie-Illi-
digt. Der Versuch des örtlichen Polizeichefs, nach einer gerichtli-
chen Verfügung die Fabriken räumen zu lassen, brachte 30000 bis nois-Stahlwerk von Gary, Indiana, eine Gewerkschafts-Loge. In
5o 000 Menschen auf die Beine, die sich schützend um die Fabriken Pittsburgh (wo die Arbeiter besonders wütend waren, weil Garne-
stellten. Anfang April wurde schließlich ein Abkommen mit gie-Illinois ihnen to°/0 ihrer Löhne als Rückzahlung früherer Für-
Chrysler unterzeichnet. Im Laufe des folgenden Jahres wuchs die sorgeleistungen abgezogen hatte) kamen etwa 25 Belegschaftsver-
Mitgliedschaft der UAW (nach eigenen Angaben) auf 350000 treter zusammen und hoben einen Pittsburgher Zentralrat aus der
Taufe, um über die Betriebsgewerkschaften gemeinsame Forderun-
(Walsh, 126-133).
Auch die Stahlarbeiter waren in Bewegung. Die Löhne in der gen zu Lohn- und Arbeitszeitfragen zu stellen.
Stahlindustrie waren von einem Wochendurchschnitt von 32,6o Im Sommer 1936 brodelte es dann so sehr in den Betrieben, daß
Dollar im Jahr 1929 auf 13,2o Dollar im Jahr 1932 gefallen — für die spontane Streiks unvermeidlich wurden. In der angespannten Stim-
Glücklichen, die überhaupt noch Arbeit hatten. In den Jahren 1933 mung konnte jedes Problem zum auslösenden Faktor eines Spon-
tanstreiks werden — wie im Fall der Youngstown-Sheet-and-Tube-
und 1934 waren die Unternehmen den Forderungen der Arbeiter
damit begegnet, daß sie 9o% der soo 000 Stahlarbeiter in Betriebs- Werke, den Jessie Reese schildert:
gewerkschaften aufnahmen (Robert Brooks, 79). Ironischerweise »Sie feuerten unseren Vorarbeiter, einen netten Kerl, und setzten uns einen
wurden ausgerechnet diese »company unions« als erste zum Vehi- Sklaventreiber, den sie aus Gary holten, vor dic Nase. Ein weißer Kollege
kel kollektiver Aktion.62 Ein Stahlarbeiter berichtet: meinte, er wäre ein >organizer< für den Ku Klux Klan, und sagte: >Wollt ihr
alle euch das etwa gefallen lassen, daß die den Kerl hierherbringen?‹ Also
»Also, wir fingen an, uns für die Gewerkschaft zu interessieren ..., als die ging ich zu den Männern rüber, die die Beizmaschinen bedienten, und sagte
Leute vom Stahlwerk so um 1933 ins Werk kamen und jedem ein Blatt ihnen, sie sollten abschalten, was sie auch taten. Dann ging ich zu Long,
Papier gaben. Wir guckten es uns an, und es hieß >Ein Programm zurVertre- dem früheren Vorarbeiter, und sagte ihm: >Long, du hast deinen Job verlo-
tung der Belegschafy ... Ich war noch ein junger Bursche, aber als ich mir ren ... gib mir fünf Minuten, und wir werden sie dazu bringen, dir eine neue
das Papier ansah, wußte ich schon damals, daß die Sache gar nicht funktio- Arbeit zu geben ...< Ich fuhr zu den Walzanlagen rüber, wo die weißen Bur-
nieren konnte, denn gleich zu Anfang hieß es da, fünf Vertreter des Mana- schen heißen Stahl walzten, und sagte: >1-ley, Kumpels, hört doch mal einen
gements sollten zusammen mit fünf Vertretern der Gewerkschaft — der Augenblick auf zu arbeiten. Wir haben da drüben die Arbeit niedergelegt.

166 167
Wir kämpfen für zehn Cents in der Stunde und daß wir unseren alten Vorar- U.S.Steel einen Tarifvertrag mit den Stahlarbeitern, ohne jeden
beiter wiederkriegen.< (Es hätte blöd ausgesehen, nur für deinen Vorarbei- Streik.
ter zu kämpfen und nicht für dich selbst.) Und sie sagten: >Oh, habt ihr das Der leichte Sieg hatte wahrscheinlich mehrere Gründe. GM hatte
auch gut organisiert?< Worauf ich sagte: >Ja, die Räder stehen still. Seht nur nur wenige Wochen zuvor kapituliert, nachdem die Produktion zu
rüber, alles steht, bei uns rührt sich nichts ...< Da meinten die weißen Kum- einem totalen Stillstand gekommen war', und U. S. Steel muß
pel: >Wir machen mit.«< (Lynd, 1969, 6o-67)
ernstlich besorgt gewesen sein, im Falle eines Streiks hohe Verluste
Am 5. Juli 1936 versammelten sich Stahlarbeiter in Homestead im zu erleiden, da die Aussicht auf einen bevorstehenden Krieg in
Bundesstaat Pennsylvania, um der Märtyrer des Homestead- Europa die Nachfrage nach Stahl außerordentlich erhöht hatte. Die
Streiks zu gedenken und der Verlesung einer »Unabhängigkeitser- Unruhe in den Betrieben störte die Produktion gerade zu einem
klärung der Stahlarbeiter« durch einen vormaligen »company Zeitpunkt, als U. S. Steel mitten in Verhandlungen über riesige
union«-Funktionär beizuwohnen. Der stellvertretende Gouver- Rüstungsaufträge aus Großbritannien stand, und die Briten
neur von Pennsylvania, Kennedy, ein ehemaliger Bergmann und bestanden auf einer Garantie, daß es keine Produktionsunterbre-
Funktionär der UMW, sagte der Menge, die Stahlindustrie sei nun chungen geben werde. Die Anerkennung der Gewerkschaft bot die
für gewerkschaftliche Agitation offen, und die Stahlarbeiter könn- Möglichkeit, eine solche Garantie geben zu können; diese Erfah-
ten im Falle eines Streiks mit Unterstützung aus dem Wohlfahrts- rung hatte U. S. Steel-Chef Myron Taylor schon gemacht, nachdem
etat der Regierung rechnen — welch ein Unterschied zu der Behand- 1933 der Tarifvertrag für die »captive mines« abgeschlossen worden
lung, die streikende Arbeiter in früheren Kämpfen in Homestead war (Walsh, 73). Außerdem war klar, daß U. S. Steel im Falle einer
erfahren hatten (Walsh, 49). Noch im selben Sommer sagte Gouver- offenen Konfrontation nur geringe politische Unterstützung erhal-
neur Earle einer Menge von 200 000 Menschen, die sich anläßlich ten hätte. Gouverneur Earle von Pennsylvania, der von einer Koali-
des Tages der Arbeit (in den USA jeweils am ersten Montag im Sep- tion aus Arbeitern und Liberalen gewählt worden war, hatte den
tember — d. Ü.) in Pittsburgh versammelt hatten, daß während sei- Stahlarbeitern seinen Beistand versprochen. Auch im Kongreß
ner Amtszeit Staatstruppen niemals dazu mißbraucht werden wür- wuchs die Kritik an den Stahlkonzernen wegen ihrer Spitzelaktivi-
den, einen Streik zu brechen, und »der Beifall der Menge ließ den täten und Preisabsprachepraxis. Schließlich war Myron Taylor,
Himmel erzittern« (Walsh, 171). anders als die Vorsitzenden der übrigen Stahlunternehmen, nicht
Vor diesem Hintergrund startete der CIO das »Steel Workers aus der Branche selbst hervorgegangen, sondern von den Bankiers,
Organizing Committee« (SWOC); 433 »organizers« wurden aus- die den Konzernvorstand beherrschten, eingesetzt worden; er
gesandt und die üblichen Beiträge und Beitrittsgebühren vorüber- schien flexibel und intelligent genug zu sein, um auf neue Bedin-
gehend abgeschafft, um die Arbeiter schneller rekrutieren zu kön- gungen mit neuen Methoden zu reagieren. 64 Die Gewerkschaft
nen (Bernstein, 1971, 45 2 4 5 3 ). Im November 1936, als das SWOC
-
faßte auch in den Tochtergesellschaften der U. S. Steel schnell Fuß,
meldete, daß 82 315 Personen Beitrittserklärungen unterzeichnet ebenso in einigen unabhängigen Stahlunternehmen. Im Mai 1937
hätten, konterte U. S. Steel mit der Bekanntgabe einer zehnpro- erreichte die SWOC-Mitgliedschaft 300 000, und über hundert
zentigen Lohnerhöhung und mit dem Angebot, Tarifabkommen Tarifverträge waren geschlossen worden (Rayback, 3 51).
abzuschließen — allerdings nur mit den Betriebsgewerkschaften. »Little Steel«, die kleineren Stahlgesellschaften — unter ihnen
Viele Vertreter von »company unions« waren jedoch inzwischen National Steel Corporation, Republic, Bethlehem, Inland Steel
zum SWOC gekommen und weigerten sich zu unterschreiben. und die Youngstown Sheet and Tube Corporation —, unterzeichnete
Auch Arbeitsminister Perkins erklärte, Vertreter arbeitgeberorien- nicht. Ende Mai 1937 rief das SWOC 7o 000 Männer zum Streik
tierter Betriebsgewerkschaften hätten »kein Recht,Tarifverträge zu auf, der letztlich aber von örtlicher Polizei und feindseligen Staats-
unterzeichnen«. Im März 1937, als das SWOC inzwischen 15o truppen gebrochen wurde. Die Lokalverwaltungen von Johnstown
Ortsverbände mit too 000 Mitgliedern aufgebaut hatte (Rayback, in Pennsylvania, von Canton und Youngstown in Ohio, sowie von
351) und die »company unions« am Ende waren, unterschrieb Chicago kooperierten offen mit den Stahlunternehmen.' In Chi-
168 169
cago ging die Polizei von Anfang an gegen friedliche Streikposten wahrscheinlich noch sehr viel mehr Sitzstreiks von kürzerer Dauer
vor; als die Streikenden am Memorial Day einen ungeordneten gegeben, denn diese Kampfform hatte sich zu einer Art Allzweck-
Demonstrationszug durchführten, um gegen eine gerichtliche Ver- waffe der Arbeiter entwickelt. Die Hymne der Bewegung deutet es
fügung gegen das Postenstehen und die anschließende Verhaftung an:
von Streikposten zu protestieren, wurden sie von der Polizei nie- »When thev tie the can to a union man, sit down! Sit down!
dergeschossen: es gab zehn Tote und 90 -Verwundete (Taft und When they give him the sack, they'll take him back, sit down! Sit down!
Ross, 358-359).6' In Ohio erklärte Gouverneur Martin L. Davey, When the speed up comes, just twiddle your thumbs, sit down! Sit down!
er werde Truppen einsetzen, um die Stahlwerke wieder öffnen zu When the boss won't talk, don't take a walk, sit down! Sit down!«
lassen. Die Nationalgarde zog daraufhin systematisch durch den (Häng'n sie 'nem Gewerkschaftsmann irgendwas Übles an, Sitzstreik! Sitz-
streik!
Bundesstaat, ging gegen Streikposten vor und verhaftete örtliche
Wird er gar noch rausgefeuert, er wird schon wieder angeheuert, Sitzstreik!
Streikführer. Nach Angaben von Senator LaFollette wurden imVer- Sitzstreik!
lauf des Little-Steel-Streiks 16 Personen getötet und 307 verletzt. Wenn die Räder zu schnell sich dreh'n, dein Däumchen dreht sich auch sehr
Der Bericht des LaFollette-Untersuchungsausschusses faßt das schön, Sitzstreik! Sitzstreik!
Aufgebot zusammen, mit dem der Streik in den Fabriken der Repu- Und wenn der Boss nicht reden will, da bleiben wir noch lang nicht still,
blic Steel Corporation gebrochen wurde': Sitzstreik! Sitzstreik!)
»... es sind in einem Maße Männer, Geld und Waffen aufgeboten worden, Der Sitzstreik war die ideale Kampfform für die unorganisierten
wie es in der jüngeren Geschichte der Arbeitskonflikte bisher unbekannt Arbeiter Mitte der dreißiger Jahre. Schon eine kleine Zahl von
war. Die von uns gesammelten Daten, obwohl bekanntermaßen unvollstän- Arbeitern konnte durch einen Sitzstreik am Band die Produktion
dig, besagen, daß insgesatnt 7 000 Männer direkt in dem Konflikt eingesetzt stoppen, ohne langfristige Vorausplanung und ohne vorherige Ver-
worden sind — als \Wachen, Staatspolizisten, Hilfssheriffs, Nationalgardi-
pflichtung. Und solange die Arbeiter die Fabrik besetzt hielten,
sten, Stadtpolizei und Werkschutz. über vier Millionen Dollar sind direkt
konnten die Unternehmen auch keine Streikbrecher einsetzen. In
für die, Niederschlagung des Streiks ausgegeben worden. Munition im
Werte von insgesamt 141 coc Dollar wurde für den Einsatz bereitgestellt.« Unternehmen wie General Motors, wo viele spezialisierte Fabriken
voneinander abhängig waren, konnten vv-enige Sitzstreiks einen
Wie schon während der Sitzstreiks von Flint erwarteten die Arbei- ganzen Konzern lahmlegen. So konnten verhältnismäßig kleine,
ter auch diesmal Hilfe vom Präsidenten, doch am 3o. Juni 1937 spontane Aktionen das Management auf die Knie zwingen. Die
stand Roosevelts Antwort in der Presse. »Der Teufel soll beide Sei- meisten Sitzstreiks endeten mit Erfolgen der Arbeiter.' Darüber
den holen.« Mitte Juli war der Streik verloren. Die letzte große hinaus führte ein Sitzstreik, der ja ein gewaltloses Kampfmittel war,
Schlacht der Depression war geschlagen; eine Ära war zu Ende bei dem in der damaligen Zeit herrschenden politischen Klima in
gegangen. Aber während der Little-Steel-Streik selbst mit einer der Regel nicht zum Einsatz der Polizei!' So griff die Taktik um
Niederlage geendet hatte, erreichte die Bewegung, deren Teil er sich: von den Fabrikarbeitern auf Verkäuferinnen, Krankenhausbe-
war, die politischen Konzessionen, die später die Anerkennung der dienstete, Müllmänner und Uhrmacher, auf Seeleute, Farmarbeiter,
gewerkschaftlichen Rechte mit Hilfe staatlicher Intervention er- Optiker und Hotelangestellte. Ein für die Hotel- und Restaurant-
zwangen. 68 angestellten zuständiger AFL-Funktionär erinnert sich:
Das gesamte Jahr 1937 hindurch kam es zu unzähligen Sitzstreiks »An irgendeinem Tag irn März 1937 sitzt du im Büro, das Telefon klingelt,
und Arbeitsniederlegungen in allen Bereichen der Wirtschaft. 1936 und die Stimme am anderen Ende sagt: >Mein Name ist Mary Jones, ich
noch hatte es nur 48 Sitzstreiks gegeben, 1937 waren es rund 5 oo arbeite bei Liggett's am Erfrischungsstand. Wir haben den Manager rausge-
mit einer Dauer von mehr als einem Tag und mit einer Beteiligung worfen und haben den Schlüssel. Was sollen wir jetzt machen?< Und dann
von insgesamt etwa 400 000 Arbeitern. Ihren Höhepunkt erreichte ist man so schnell wie möglich rüber zu dem Laden, um zu verhandeln, und
die Bewegung im März, als 17c Sitzstreiks im Gange waren, an wenn du ankommst, sagen die Besitzer: >Es ist doch wohl in höchstem
denen sich ungefähr i7o oco Arbeiter beteiligten (Fine, 33 1). Es hat Maße verantwortungslos, in den Streik zu treten, bevor man überhaupt

1 70 171
einen Tarifvertrag verlangt hat.< Und alles, was man dann antworten konnte, Autoindustrie, um ca. 6o Millionen Dollar in der Textilindustrie,
war: 'Sie haben ja so recht.«< (Thomas Brooks, 18o) um 6 Millionen Dollar in der Transportbranche und um 12 Millio-
Im Herbst 1937 gab es sogar Fälle, in denen sich Filmvorführer in nen Dollar in der Elektroindustrie.' Nahezu eine Million Arbeiter
den Vorführungsraum einschlossen und den Film so lange anhiel- hatte eine 3 5 oder 36-Stunden-Woche erkämpft (Levinson, 260-
-

ten, bis ihre Forderungen erfüllt waren (Levinson, 173-175). Noch 2 77)•
mehr Arbeiter beteiligten sich an Arbeitsniederlegungen traditio- Die politische Wirkung der wachsenden Unruhe in der Arbeiter-
neller Art. Bevor das Jahr 1937 vorüber war, hatten sich allein in schaft ließ sich auch an den Zugeständnissen erkennen, die der
dem einen Jahr fast zwei Millionen Arbeiter in Arbeitskämpfen Regierung direkt abgerungen wurden. Die staatliche Regulierung
engagiert (Millis und Montgomery, 692), mehr als die Hälfte von Löhnen und Arbeitszeiten war seit den fruchtlosen NIRA-Sta-
davon, um die Anerkennung ihrer Gewerkschaft durchzusetzen. tuten Gegenstand von Diskussionen gewesen, vor allem auch im
Die Streiks, die 1936 und 1937 das ganze Land erfaßten, waren als Wahlkampf von 1936. Ende 1937, nach einer erneuten Rezession,
ökonomische Kämpfe überaus erfolgreich, konnten aber nur des- machte sich Roosevelt zunehmend für ein Gesetz zur Regulierung
halb Erfolg haben, weil die jahrzehntelange Allianz zwischen der von Löhnen und Arbeitszeiten stark (das die AFL auch weiterhin
Regierung und den ökonomischen Eliten zerbrochen war. Die ablehnte). Nachdem das »Rules Committee« im Repräsentanten-
Arbeiterbewegung hatte genügend politischen Einfluß gewonnen, haus, das von Abgeordneten aus dem Süden dominiert wurde, die
um ihr ökonomisches Instrument, den Streik, wirksam schützen aus gutem Grund über die ökonomischen Auswirkungen eines
zu können. Die Gummiarbeiter von Akron, die Automobilarbeiter gesetzlichen Mindestlohns auf die Wirtschaft in den Südstaaten
von Flint, die Stahlarbeiter von Pennsylvania — sie alle hatten den besorgt waren, verhindert hatte, daß das Gesetz noch während der
Widerstand der Unternehmen nur brechen können, weil Gouver- regulären Sitzungsperiode zur Abstimmung kam, berief Roosevelt
neure, die auf die politische Unterstützung der aufgebrachten den Kongreß zu einer Sondersitzung. Im Januar 1938 trat dann
Arbeiter angewiesen waren, darauf verzichteten, Truppen gegen endlich der »Fair Labor Standards Act« in Kraft; er betraf rund
Streikende einzusetzen. Wohingegen in Youngstown und Chicago, 300 000 Arbeiter, die weniger als den neuen Mindestlohn von 25
wo Staatsregierung und Lokalverwaltung eine feindselige Haltung Cents in der Stunde verdienten, und rund 1 300 oco Arbeiter, deren
einnahmen, der Little-Steel-Streik verlorenging, die ökonomische offizielle Arbeitswoche über dem 44-Stunden-Standard lag, den
Stärke der Arbeiter wieder einmal im Kugelhagel der Regierungs- das Gesetz bestimmte (Rayback, 360). Die erneute Depression von
truppen vernichtet wurde. 1937/38 verhalf mehreren anderen Maßnahmen zugunsten der
Obwohl sich die wirtschaftliche Lage 1937 erneut verschlechterte, Arbeiterschaft zum Durchbruch; die wichtigsten davon waren: die
lagen die Löhne der Gummiarbeiter, wie das Arbeitsministerium Ausdehnung der öffentlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen,
bekanntgab, um ein Drittel über dem Niveau von 1934, wobei die die Erweiterung des Personenkreises, der in den Genuß dieser Pro-
Erhöhungen in den unteren Lohngruppen am größten waren. In gramme kam, die Initiierung eines Bundesprogrammes zum sozia-
vielen Gummiwerken wurde der 6-Stunden-Tag eingeführt. Das len Wohnungsbau und die Vorverlegung der ersten Rentenauszah-
SWOC erkämpfte Lohnerhöhungen in der Stahlindustrie, die zu lungen von 1942 auf 1939.
einer Anhebung des Mindestlohns auf fünf Dollar pro Tag führten; Doch von allen Maßnahmen waren der »Wagner Act« und die
die Lohnausgaben der Stahluntnernehmen stiegen gegenüber 1929 Unterstützung gewerkschaftlicher Organisation durch die Bun-
um ein Drittel. In der Autoindustrie erkämpften die Arbeiter einen desregierung für die politische Zukunft der Arbeiter bei weitem am
Mindeststundenlohn von 75 Cents sowie die 40-Stunden-Woche. bedeutendsten. Nachdem die Wirtschaft 193 5 mit Roosevelt gebro-
Seeleute bekamen einen Höchstlohn von 72,5o Dollar im Monat. chen hatte, verlieh der Präsident nicht nur dem Gesetz seine Unter-
Alles in allem, so schätzte Philip Murray im Oktober 1937, sei das stützung, sondern ernannte auch eine Reihe den Gewerkschaften
Lohnvolumen um eine Millliarde Dollar gestiegen: um 2s o Millio- nahestehender NLRB-Mitglieder. Im April 1937, mehrere Monate
nen Dollar in der Stahlindustrie, um too Millionen Dollar in der vor dem Debakel im Little-Steel-Streik, erging dann das Urteil des
172 17 3
Obersten Gerichtshofs im Fall »National Labor Relations Board mögen, ihre Visionen halfen, Arbeiter zum Widerstand zu bewe-
gegen John and Laughlin Steel Company«, das den »Wagner Act« gen, und ihre Tapferkeit gab den Protestierenden Mut und Ent-
verfassungsrechtlich bestätigte. Mit dieser Entscheidung wurde die schlossenheit.
staatliche Garantie des Rechtes der Arbeiter, sich zu organisieren Die Kämpfe der dreißiger Jahre verliefen nach einem ähnlichen
und Tarifverhandlungen zu führen, bekräftigt. Muster. Zwar hatten viele der Auseinandersetzungen die Anerken-
nung gewerkschaftlicher Rechte zum Ziel. Doch weder die Kämpfe
noch die Erfolge waren das Ergebnis schon vorhandener gewerk-
Vom Aufruhr zur Organisation schaftlicher Organisation oder das Verdienst von Gewerkschafts-
führern. Im Gegenteil: der Anstieg der Streikaktivitäten nach 1934
Der »Wagner Act« garantierte nicht nur das Koalitionsrecht mit der verlief parallel zum Rückgang des gewerkschaftlichen Organisie-
ganzen Autorität des Staates, sondern schuf auch eine Reihe von rungsgrades, als die AFL ihren eigenen »federal unions« das Wasser
Mechanismen zur faktischen Durchsetzung dieser Garantie. abgrub. So kam es zu den gewalttätigen Auseinandersetzungen von
Durch die Verabschiedung des Gesetzes war die Organisierung der Toledo, Minneapolis und San Francisco entweder nach dem Schei-
Arbeiter dem Staat in nicht geringeren) Maße als den Gewerkschaf- tern gewerkschaftlicher Organisierungskampagnen oder bevor die
ten zu verdanken; auf diesen Punkt -werden wir noch zurückkom- Gewerkschaften überhaupt hatten Fuß fassen können. Der Textil-
men. Darüber hinaus konnten die Gewerkschaften kaum für sich arbeiterstreik von 1934 brach in der Gewerkschaftsbasis aus, nach-
in Anspruch nehmen, großen Anteil an den Revolten gehabt zu dem die Führung sich mit den Unternehmern geeinigt hatte; später
haben, durch die die Regierung gezwungen worden war, sich schüt- lehnte die Textilarbeitergewerkschaft jede Verantwortung für die
zend vor die Organisierungsbemühungen der Arbeiter zu stellen — »fliegenden Schwadronen« ab, durch die sich der Streik ausgewei-
dies dürften unsere bisherigen Schilderungen deutlich gemacht tet hatte (Brecher, 153). Der große Streik der Goodyear-Arbeiter
haben. von 1936 brach zu einem Zeitpunkt aus, als die »United Rubber
Workers« zu einer schwachen, unbedeutenden Gewerkschaft
Wer entfesselte die Revolten? geschrumpft war. Noch vier Tage nach Streikbeginn beharrten die
URW-Funktionäre darauf, mit dem Ausstand nichts zu schaffen zu
In der Vorstellung der meisten Menschen sind Arbeiterkämpfe ge- haben (Brecher, 166). Als dann später 5 000 Männer im Streik
wöhnlich mit gewerkschaftlicher Organisation verknüpft. Schon waren, schickte das CIO schließlich »organizers«, Geld und Ver-
lange vor den dreißiger Jahren hatte das Recht auf gewerkschaftli- handlungsführer. Bernstein schreibt, diese erfahrenen Gewerk-
che Organisierung undTarifverhandlungen häufig zu den zentralen schafter hätten die Verhandlungen angeleitet und »die natürliche
Forderungen in Arbeiterrevolten gehört. Das bedeutet jedoch Tendenz der Leute aus den Bergen, Gewalt anzuwenden«, gezügelt
nicht, daß etablierte Gewerkschaften auch eine zentrale Rolle in (1971, 595). Es war aber gerade die Bereitschaft der Leute aus den
diesen Revolten spielten. Eher im Gegenteil: einige der bittersten Bergen, der Gewalt mit Gewalt zu begegnen, die dem Streik zum
Kämpfe im 19. und frühen zc. Jahrhundert tobten zu Zeiten, als die Erfolg verhalf.
Gewerkschaften am schwächsten waren, und manchmal erhoben Nach den fruchtlosen Erfahrungen mit der AFL in den Jahren
sich die Arbeiter sogar gegen den Widerstand etablierter Gewerk- 1933 und 193473 war nur ein kleiner Prozentsatz der Automobilar-
schaftsführer.' Aber auch wenn die großen Arbeiterrevolten frühe- beiter der neu benannten »United Automobile Workers« beigetre-
rer Jahre nur selten das Verdienst existierender Gewerkschaften ten. Als 193674 die Sitzstreiks begannen, hatten die Funktionäre der
waren, gab es doch Fi_ihrer in diesen Kämpfen. Einige von ihnen Gewerkschaft die Streikwelle, die durch die Autofabriken flutete,
waren Arbeiter von der Basis, andere waren »organizers« aus der alles andere als unter Kontrolle. Homer Martin, der Präsident der
Linken, denen die Vision einer besseren Zukunft außergewöhnli- UAW, soll ziemlich perplex gewesen sein, als ihm klar wurde, daß
chen Mut verlieh. Doch woher diese Führer auch gekommen sein der Streik im GM-Werk in Atlanta sich ausweitete und die Gewerk-
175
174
schaft vor einem umfassenden Streik bei General Motors stand. etwas zu ändern, daß sie die Gewerkschaftsarbeit in die eigene Hand
John L. Lewis, der zu der Zeit schon mit der AFL gebrochen und genommen haben.... Der Enthusiasmus der Leute im Werk führte zu einer
das »Committee for Industrial Organization« ins Leben gerufen ganzen Reihe von Streiks, zu wilden Streiks, Produktionsunterbrechungen,
Bummelaktionen — alles mögliche, was den Arbeitern nur einfiel, um das zu
hatte, soll versucht haben, die Sitzstreiks zu unterbinden; und der
bekommen, was sie nun einmal haben wollten.« (Lynd, 1969, 74)
CIO-Sprecher Charles Howard erklärte dem UAW-Kongreß von
1936, das CIO >›erwägt nicht einmal die Möglichkeit eines Streiks Len De Caux vermittelt einen Eindruck von der Stimmung in der
in der Automobilindustrie, denn wir predigen den Arbeitsfrieden« Bewegung:
(Keeran, 126). Laut J. Raymond Walsh, dem späteren Leiter der »Die Arbeiter warteten auf das CIO, hämmerten schon an seiner Tür, lange
Forschungs- und Bildungsabteilung des CIO, versuchte »das bevor das CIO bereit war, sich ihnen zu widmen. Ich hörte das Hämmern
Oberkommando des CIO, das vollauf mit der Kampagne in der vom ersten Moment an, als ich 193 5 zum CIO kam —von Delegationen, am
Stahlindustrie beschäftigt war, ... vergeblich, den Streik zu verhin- Telefon, in der Post, in den Nachrichten. Es kam von innerhalb der AFL
dern ...« (1'2). 75 Als die Sitzstreiks erst einmal begonnen hatten, und aus allen unorganisierten Industrien. ... Wir hörten von Auto- und
sprangen auch die CIO-Führer auf den fahrenden Zug auf, um die Gummiarbeitern; von Seeleuten; von Radio-, Elektrik-, Werft-, Möbel-,
spontanen Aktionen der aufgebrachten Arbeiter und ihrer lokalen Textil-, Stahl-, Sägewerkarbeitern; von Arbeitern in Gas- und Kokswerken,
in Glasbläsereien und in Steinbrüchen; von Landpächtern, Zeitungsleuten.
Anführer in den Griff zu bekommen. Seine ungeheuren Ambitio-
... Alle sagten: >C10, los geht's<!« (226)
nen und sein scharfer Instinkt — Eigenschaften, die Lewis bewegt
hatten, die Gelegenheit zur Organisierung der Industriearbeiter Wer war es also, der die Männer und Frauen in den Fabriken, auf
am Schopf zu packen — ließen ihn auch die Sitzstreiks unterstützen, den Werften und in den Handwerksbetrieben mobilisierte, sie
nachdem sie einmal ausgebrochen waren, und die Verhandlungs- anspornte, »CIO, los geht's!« zu fordern? In vielen Betrieben
führung mit General Motors übernehmen. kamen die Anführer von der Basis, wurden wie selbstverständlich
Als das CIO daranging, die Arbeiter der Stahlindustrie zu rekru- von der bloßen Kraft der Bewegung in Führungspositionen kata-
tieren, waren diese schon längst darauf vorbereitet zu handeln, und pultiert. In vielen Unternehmen waren diese Basisvertreter ideolo-
traten oft von sich aus an Lewis und das SWOC heran: gisch radikal, Sozialisten der einen oder anderen Art. Ihre leiden-
»Ich wurde Präsident der >Vereinigten Beschäftigten<, und dann hörten wir schaftliche Militanz rührte nicht zuletzt aus ihrer Überzeugung,
von einem Mann namens John Lewis, der sehr interessiert daran war, die die Gesellschaft als ganzes bedürfe der Veränderung, sowie aus der
Unorganisierten zu organisieren. Ich schrieb ihm einen Brief und sagte moralischen und praktischen Unterstützung, die sie von gleichge-
ihm, wir hätten eine unabhängige Gewerkschaft, die sich gern anschließen sinnten Radikalen erfuhren. Bei vielen Streiks schlossen sich Radi-
würde. Er schrieb zurück, wenn wir am Ball blieben, würde er in naher kale, die selbst keine Arbeiter waren, den Streikenden an und leiste-
Zukunft zu uns kommen, vorher aber schon einen Mann namens Philip
ten ihnen auf vielfache Art Unterstützung. So wurden Mitglieder
Murray vorbeischicken.« (Lynd, 1969, 57 58)
-

der »Industrial Workers of the World« bei einigen der frühen Auto-
John Sargent, ein anderer »organizer«, schildert die Situation bei mobilarbeiterstreiks des Jahres 1933 aktiv. Muste-Anhänger und
Inland Steel: Kommunisten übernahmen 1934 in Toledo die Führung und ermu-
»Ohne einen Tarifvertrag, ohne überhaupt irgendein Abkommen mit dem tigten die Streikenden, Gerichtsentscheidungen zu mißachten.
Unternehmen, ohne irgendwelche Regelungen betreffs Arbeitszeit, Trotzkisten leiteten die Mobilisierung streikender Transportarbei-
Arbeitsbedingungen oder Löhne, brach ein ungeheurer Sturm los. Wir
ter in Minneapolis; auch waren Kommunisten und andere radikale
reden hier von einer Basisbewegung: der Anfang gewerkschaftlicher Orga-
nisierung war die beste Art von Basisbewegung, die man sich denken
Hafenarbeiter die treibenden Kräfte im Hafenstreik von San Fran-
konnte. John L. Lewis hat zwar ein paar >organizers< losgeschickt, aber bei cisco, während die von Kommunisten geführte »Maritime Workers
Youngstown Sheet and Tube gab es keinen einzigen. Die die Gewerkschaft Industrial Union« dazu beitrug, den Streik auszuweiten.
aufbauten, waren im wesentlichen Arbeiter aus dem Werk, die die Nase so Es besteht allgemeine Übereinstimmung, daß die Kommunisten
voll hatten von ihren Arbeitsbedingungen und die so entschlossen waren, von allen radikalen Gruppen am einflußreichsten waren 76 ; sie
176 177
waren ganz eindeutig eine treibende Kraft in der Automobilindu- Die Kommunisten beteiligten sich zwar an den hauptsächlich de-
strie und bei den Hafenarbeitern, wo kleine kommunistische Zel- fensiven Automobilarbeiterstreiks dieser Periode, führten sie aber
len eine Schlüsselrolle bei der Agitation und Mobilisierung spiel- nicht an. Überhaupt gelang es ihnen nicht, sich »wirklich in den Fa-
ten. Deshalb scheint es uns nützlich, sich zunächst einmal mit der briken (zu) verankern«, wie ein Parteiführer damals feststellte.
Rolle der Kommunisten zu befassen und zu prüfen, wie sie dazu Der zunehmende Widerstand der Arbeiter nach Verabschiedung
kamen, diese Rolle zu spielen. cies NIRA eröffnete den Kommunisten neue Möglichkeiten. Die
Als die Depression ausbrach, hatten die Kommunisten ein Jahr- Arbeiter waren aufgebracht, hoffnungsvoll und voller Tatendurst,
zehnt der Isolation und des Niedergangs hinter sich.' Anfang der und die Kommunisten in den Fabriken halfen ihnen, diesen Durst
zwanziger Jahre hatte die Partei die >Trade Union Educational zu stillen. Als 193.4 und 193 5 der Ansturm auf die Gewerkschaften
League« gegründet, deren Aufgabe es war, innerhalb der AFL-Ge- einsetzte, gab die Partei, die Teil der Gewerkschaftsbewegung blei-
werkschaften auf den Aufbau von Industriegewerkschaftsorganisatio- ben wollte, ihre unabhängigen Gewerkschaften auf und mäßigte
nen hinzuarbeiten. In dieser Periode waren die Kommunisten prak- ihre Kritik an der AFL; die kommunistischen Fabrikarbeiter
tisch die einzigen, die mehrere aus der Verzweiflung geborene Streiks betonten weniger die Parteilinie als die Klagen der Kollegen über
in der Textilindustrie und im Bergbau unterstützten. »Während der Mißstände am Arbeitsplatz, die es abzustellen gelte.78 In diesem
schmerzlichen Isolation der zwanziger Jahre«, schreibt Paul Buhle, Stadium betrieben die Kommunisten ihre Gewerkschaftsarbeit mit
»hatten die Kommunisten ein Rezept nach dem anderen ausprobiert, Agitation von unten; sie versuchten, die Arbeiter voranzutreiben,
wie sie die Massen erreichen könnten« (193). Gegen Ende des Jahr- indem sie die Kompromisse des New Deal' und der AFL-Füh-
zehnts fielen eine Reihe von Mißerfolgen und eine Kampagne zur rung entlarvten und immer wieder betonten, die Arbeiter müßten,
Säuberung der AFL von Kommunisten mit einer Änderung der wollten sie Zugeständnisse gewinnen, »auf Massenaktionen und
Komintern-Politik zusammen, was dazu führte, daß die Partei eine nicht auf die Versprechungen der NRA und hochbezahlter
neue Strategie einschlug: man strebte nun die Schaffung unabhän- [Gewerkschafts-funktionäre« setzen (zit. bei Keeran, 124). Wäh-
giger Gewerkschaften (»dual unions«) an. Aus der >Trade Union rend dieser Periode arbeiteten die Kommunisten kurz gesagt
Educational League« wurde 1928 die >Trade Union Unity League«, daran, die Bewegung aufzubauen, Wut zu entfachen und Wider-
und einige der bitteren Streiks zu Anfang der Depression wurden stand zu ermutigen. Weil sie dabei halfen, die Bewegung aufzu-
von den Kommunisten der TUUL angeführt. bauen, gewannen sie einigen Einfluß in ihr, zumindest solange die
Schon 1928 begann die kleine Schar von Kommunisten in der Auflehnung der Massen anhielt. Keeran berichtet beispielsweise,
A.utoindustrie — vielleicht nur z.wei oder drei in einer Fabrik — eine Zelle in der Fisher-Karosserie-Fabrik in Cleveland habe vor
Werkszeitungen wie den Ford VC7orker, Packard Worker, Hudson dem GM-Streik vielleicht ein Dutzend Mitglieder gehabt, sei dann
Worker und den Fisher Body Worker herauszugeben (Prickett, iio), aber auf fünfzig angewachsen (244). Die Ausdauer und Entschlos-
und den Ausbau einer »Auto Workers Union« voranzutreiben, die senheit der Kommunisten in den Jahren der Isolation und des Nie-
der TUUL angeschlossen war. dergangs vor der Wirtschaftskrise zahlten sich nun aus.
Die Arbeiter, einschließlich der Kommunisten, aber kämpften für
,Ls war eine langwierige, schwierige und wenig glanzvolle Aufgabe. Zu die gewerkschaftliche Organisierung, und so war es der CIO, der
einer Versammlung, die nach den Lohnkürzungen in der Briggs-Waterloo-
als Sieger aus dem Kampf hervorging. Es machte den Genius des
Fabrik einberufen worden war, kamen nur zwei Arbeiter. Eine Woche dar-
auf wurde eine zweite Versammlung abgehalten, zu der nur vier Arbeiter
John L. Lewis' aus, die Unruhe in jenen Tagen gespürt, sich ihrer
erschienen. Man beschloß, bei der betrieblichen Agitation zunächst an bemächtigt und sie schließlich angeführt zu haben. Bewußt bezog
einem einzigen Problem anzusetzen: an der Praxis, einen Mann zwei Dreh- er die kommunistischen »organizers« ein, nutzte ihre Disziplin
bänke bedienen zu lassen. ... Die kleine Gruppe von Arbeitern traf sich und ihren Schwung, um seine Organisation aufzubauen. John
kontinuierlich und verteilte regelmäßig kleinere Flugblätter, die in der L. Lewis und der »Congress of Industrial Organizations« haben
Fabrik von Hand zu Hand gingen.« Tricken, 12.2) die Streikbewegung nicht geschaffen; es war die Streikbewegung,
17 8 179
die den CIO geschaffen hat. Sie tat dies hauptsächlich dadurch, daß Als Resultat stiegen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften
sie die Bundesregierung dazu zwang, das gewerkschaftliche Koali- beträchtlich. Ende 193 7 konnte das CIO auf 32 angeschlossene
tionsrecht gesetzlich zu schützen und diesen Schutz auch admini- nationale und internationale (wegen der Mitgliedschaft von kanadi-
strativ durchzusetzen. schen und puertorikanischen Verbänden — d. Ü.) Gewerkschaften
verweisen, darunter die gigantischen Gewerkschaften der Massen-
Der Staat organisiert die Arbeiterschaft industrien Stahl, Auto, Kohle und Gummi. Zusätzlich gehörten
Es war weitgehend der unter dem »Wagner Act« eingerichtete noch 60o lokale Verbände sowie 8o regionale Gewerkschaftszen-
»National Labor Relations Board«, das die Mitgliedsgewerkschaf- tren (»central labor councils«) auf einzelstaatlicher oder kommuna-
ten des CIO organisierte. Überdies hielt das NLRB die CIO- ler Ebene zum CIO-Dachverband. Die Mitgliedschaft war von
Gewerkschaften auch angesichts einer gesellschaftlichen Kräfte- weniger als einer Million im Dezember 193 6 auf 3 700 000 gewach-
konstellation zusammen, die in früheren Perioden zu einem Abbau sen. Aber auch die AFL blühte auf — zum Teil, weil manche Un-
der Mitgliedschaft geführt hatte. Das NLRB gestaltete und be- ternehmen lieber rasch einen Tarifvertrag mit einer AFL-Ge-
schützte die gewerkschaftlichen Organisationen auf mehrfache werkschaft unterzeichneten, als sich mit dem militanteren CIO
Weise. Es nahm den Unternehmern ihre bekannten Waffen wie auseinandersetzen zu müssen' — und die Mitgliedschaft der AFL-
»gelbe« Tarifverträge, Spitzel und sogar anti-gewerkschaftliche Pro- Gewerkschaften stieg auf ungefähr die gleiche Höhe wie die des
paganda wirksam aus der Hand. Es verpflichtete die Unternehmer, CIO.' Der organisatorische Apparat der Gewerkschaften blähte
mit den von einer Mehrheit der Belegschaft gewählten Vertretern sich genauso schnell auf: 1937 verfügte das CIO über ein Netz von
Tarifverhandlungen zu führen. Es bot schließlich sogar einen staat- 48 Regionalbüros, in denen mehrere hundert Funktionäre beschäf-
lichen Mechanismus für die Abhaltung dieser Wahlen. tigt waren (Levinson, 275 ; Bernstein, 1971, 684).
In früheren Zeiten war der Bestand einer Gewerkschaft von den
unablässigen Bemühungen ihrer »organizers«, die Mitgliedschaft
zu erhalten, abhängig gewesen. Diese immer schon schwierigen Folgen der Organisierung
Bemühungen waren stets dann zum Scheitern verurteilt, wenn ein
Unternehmen seine Angestellten problemlos austauschen konnte. Das Feuer und die Entschlossenheit der Massenstreiks hatten dazu
Das NLRB änderte das, indem es »den Beschäftigten die Mög- beigetragen, die Industriegewerkschaften aufzubauen. Die politi-
lichkeit an die Hand gab, mit Hilfe der staatlichen Gewalt ihre sche Kraft der Streiks, die das System in seinen Grundfesten
Arbeitgeber zur Anerkennung der Gewerkschaft zu zwingen« erschütterte, hatte die Bundesregierung gezwungen, einen institu-
(Greenstone, 47). 8c So hob das Amt 1938 die Niederlage im Linie- tionellen Rahmen zu schaffen, der den Gewerkschaften dauerhaf-
Steel-Streik praktisch auf, indem es die Wiedereinstellung von Strei- ten Schutz bieten würde. Doch einmal etabliert, schürten die
kenden und Auflösung der Betriebsgewerkschaften verfügte sowie Gewerkschaften die Rebellion nicht weiter, weder in der ökonomi-
anti-gewerkschaftliche Aktivitäten der Stahl-Unternehmen unter- schen noch in der politischen Arena.
sagte (Bernstein, 1971, 727-728). Insgesamt behandelte das NLRB
in den ersten fünf Jahren seiner Existenz nahezu 3o oco Fälle; es Organisierung und ökonomische Macht
intervenierte in 2 161 Streiks und führte 5 954 Wahlen durch, in
denen zwei Millionen Arbeiter ihre Stimmen abgaben (Bernstein, Im Gegenteil: von Anfang an unternahmen es die Gewerkschaften,
1974 652-6 5 3). Bis 194 5 behandelte das »Board« 74 000 Fälle, ins- im Austausch für ihre Anerkennung die Fabrikdisziplin aufrecht-
besondere zu arbeitsrechtlichen Verstößen (»unfair labor practi- zuerhalten. Zu einer Zeit, da spontane Arbeitsniederlegungen die
ces«) und Fragen der gewerkschaftlichen Repräsentation, und hielt Industrie plagten, war dies sogar ihre Trumpfkarte im Verhand-
24 000 Repräsentationswahlen ab, um die tariflichen Vertreter von lungspoker mit dem Management. So beklagte sich der Hauptver-
sechs Millionen Arbeitern bestimmen zu lassen (Rayback, 345). handlungsführer von General Motors am Ende der Flint-Sitz-
8o 8
streiks bitter, daß es in den vorhergehenden 20 Tagen 18 Sitzstreiks Gewerkschaft zu einigen, damit man endlich wieder ungestört produzieren
in GM-Fabriken gegeben hatte. Der Tarifvertrag mit GM verpflich- könne. Die Topmanager von Westinghouse hatten sich verkalkuliert. Wäh-
tete die UAW, sicherzustellen, daß es zu keinen Arbeitsniederle- rend der von Swope mit der Gewerkschaft geschlossene GE Tarifvertrag ein
gungen komme, bevor nicht ein ausgeklügeltes Beschwerdesystem geordnetes Beschwerdesystem etabliert hatte, steckten die Vorarbeiter und
Betriebsleiter bei Westinghouse bis zum Hals in Reibereien.« ( izz)
erschöpft und die Zustimmung der UAW-Führung eingeholt wor-
den sei (Fine, 305, 325). 83 »Es war durchaus einleuchtend«, schreibt Bernstein, »mit verant-
Der CIO hatte Sitzstreiks niemals wirklich propagiert, doch nach wortungsbewußten Gewerkschaftsfunktionären wie John L. Lewis
seiner Anerkennung rückte er ausdrücklich von ihnen ab. Die zu verhandeln, anstatt mit verzweifelten und zu allem entschlos-
Kommunisten, die inzwischen schon weit in die Volksfrontphase senen lokalen Gruppen.« (197i, 468)
und teilweise auch in die Gewerkschaftsbürokratie vorgedrungen Erkannten einige Industrielle die Vorteile gewerkschaftlicher
waren, unterstützten die Forderung nach Gewerkschaftsdisziplin. Organisierung auch nur in extremer Bedrängnis, so sicherte die
Anfang 1937 gab Wyndham Mortimer eine Stellungnahme heraus, Bundesregierung mit der Verabschiedung des »Wagner Act« doch
in der es hieß: »Sitzstreiks sollten nur dann durchgeführt werden, bald die breite Anwendung dieser Alternative. »Aus unseren Erfah-
wenn es absolut notwendig ist.« (Keeran, 294) Auch der Flint Auto rungen wissen wir«, sagte William M. Leiserson, als er sich vor dem
\Vorker, der von dem Kommunisten Henry Kraus herausgegeben Kongreßausschuß für die Gesetzesvorlage aussprach, »daß der ein-
wurde, leitartikelte: »Das Problem besteht nicht darin, Streiks und zige Weg, der uns jemals Frieden bescheren wird ... darin liegt,
Unruhen in der Fabrik anzuzetteln. Die Gewerkschaft kann nur zuzugeben, daß ... die Beschäftigten dasselbe Recht haben, sich zu
auf der Grundlage von etablierten Verfahren und Tarifverhandlun- organisieren und durch eine Organisation vertreten zu lassen, wie
gen gedeihen.« (Keeran, 294) Entsprechend untersagte sowohl der die Investoren ...« (Bernstein, 1971, 333). Taft und Ross fassen die
GM- als auch der U.S. Steel-Tarifvertrag, die beide gegen Ende des Gewerkschaftspolitik der Bundesregierung in diesem Sinne zusam-
Jahres 1937 unterzeichnet wurden, die Durchführung lokaler men:
Streiks (De Caux, xv). »Es war eines der fundamentalen Ziele der nationalen Gewerkschaftspoli-
Matles und Higgins geben eine ähnliche Erklärung für die früh- tik — erstmals formuliert durch den >Wagner Act< und durch die späteren
zeitigen Erfolge der »United Electrical Workers« bei den Vertrags- Zustände des >Taft-Hartley< und des >Landrum-Griffin Act< bestätigt —, an
verhandlungen mit General Electric und Westinghouse. die Stelle von Kampfgetümmel geordnete Verfahren zu setzen. Doch nach
Abwägung des öffentlichen Interesses an einer friedlichen Beilegung indu-
Bei General Electric: strieller Dispute gegen die Freiheit von Kapital und Arbeit, ihre Probleme
Unter den Fabrikarbeitern herrschte eine ungeheure Unruhe. Die im Licht ihrer Bedürfnisse und Erfahrungen zu lösen, hat das Gesetz die
Beschwerden häuften sich. Spontane Arbeitsniederlegungen waren mehr Anwendung ökonomischer Macht nicht ausgeschlossen.... Diese Billigung
die Regel als die Ausnahme: schlechte Zeiten für ein Unternehmen, das von Streik, Streikposten und des autonomen Verfolgens auch starrer Ver-
stets das Prinzip verkündet hatte, eine >zufriedene< Belegschaft bedeute handlungspositionen durch Unternehmer und Gewerkschaften ist jedoch
ungestörte Produktion und einen gleichmäßigen Strom von Profiten. durch spezifische Verhaltensmaßregeln, die für alle Seiten gelten, einge-
Swope und GE mußten erkennen, daß das alte System des Paternalismus schränkt worden.« (378-379)
zusammengebrochen war, und daß ein Ersatz gefunden werden mußte, der Die Gewerkschaften haben ihren Teil des Handels erfüllt. Wäh-
Produktion und Profite sicherstellen könne — besonders unter den Bedin- rend der Laufzeiten von Tarifverträgen haben die Gewerkschaften
gungen der Depression.« (83)
sich darum bemüht, Arbeitsniederlegungen zu verhindern und die
Bei Westinghouse: Produktion aufrechtzuerhalten. Mit der Zeit nahmen die Laufzei-
»... permanente Arbeitsniederlegungen, Sitz.- und Bummelstreiks und jede ten und damit die Dauer des Arbeitsfriedens zu, bis 19 so die UAW
Menge Beschwerden störten die Produktion, als die Arbeiter immer mili- einen fünfjährigen Streikverzicht mit General Motors unter-
tanter und aggressiver wurden. Das nahm solche Ausmaße an, daß der Kon- schrieb, ohne selbst einen Schutz vor Erhöhungen des Arbeitstem-
zernleitung von unzufriedenen Betriebsleitern geraten wurde, sich mit der pos zu erhalten. 195 6 rühmte sich George Meany, Präsident der
182 183
inzwischen vereinigten AFL-CIO, vor dem amerikanischen Unter- — seit dem Zweiten Weltkrieg — selbst, die Anführer örtlicher Spon-
tanstreiks zu bestrafen.'
nehmerverband:
Was war geschehen? Die Organisationen, die ein Produkt der
»Ich war nie in meinem Leben im Streik; ich habe nie in meinem Leben
jemand anderem befohlen, einen Streik zu führen; ich habe nie etwas mit Arbeiterproteste gevvesen waren, wurden mit der Zeit immer weni-
Streikposten zu tun gehabt. ... Wenn man es genau betrachtet, dann unter- ger von den Arbeitern, und immer mehr von der Erhaltung ordent-
scheiden sich meine Überzeugungen und die Überzeugungen des Unter- licher Beziehungen zur Betriebsleitung abhängig. Diese Bewegung
nehmerverbandes gar nicht so besonders.« (zitiert bei Georgakas und Sur- von den abhängig Beschäftigten hin zum Management war teil-
kin, 39) weise die natürliche Folge der Tendenz zur Oligarchie in formellen
Organisationen. So schreiben Matles und Higgins über die Füh-
Im Jahre 1973 machte die US-amerikanische Stahlarbeitergewerk-
schaft einen weiteren Schritt in Richtung auf die Zusammenarbeit rung des CIO während der Kriegsjahre: »Die Funktionäre der
von Gewerkschaft und Management und unterzeichnete ein Industriegewerkschaften, die auf der schwindelerregenden Wash-
Abkommen mit zehn führenden Stahlunternehmen, das sie dazu ingtoner Szene mit den Vertretern der >großen Politik< und des >Big
verpflichtete, auf Streiks zu verzichten und sich statt dessen einem Business< auf du und du standen, verwandelten sich langsam — ohne
bindenden Schlichtungsverfahren zu unterwerfen (New York daß die meisten von ihnen sich dessen wirklich bewußt waren — in
>Gewerkschafts-Staatsmänner‹.« (164)87 Zum Teil rührte dies
Times, 5. Juni 1973). Als das Abkommen unterzeichnet wurde, hat-
ten die Stahlarbeiter ohnehin seit vierzehn Jahren nicht mehr daher, daß die organisatorische Stabilität der Gewerkschaften vom
gestreikt. In derselben Zeit waren sie aber auch vom ersten Platz Wohlergehen der Industrie abhing. B. J. Widick schreibt dazu:
auf der Lohnskala der Industriegewerkschaften auf Platz vierzehn »Mit geringen Ausnahmen haben sich die Gewerkschaften den Wünschen
zurückgefallen (Bogclanich, t72)." Andere Gewerkschaften, dar- der Unternehmer nach Steuervorteilen und Befreiung von Verwaltungsvor-
unter die Seeleute, folgten dem Beispiel und unterschrieben Tarif- schriften oder ihren Bitten an den Kongreß um Unterstützung anderer
verträge, nach denen Streiks untersagt waren und statt dessen im Natur — seien es Schutzzölle, Geld oder was immer — angeschlossen. Die
Konfliktfall neutrale Schlichtungsinstanzen entscheiden sollten. Eisenbahnergewerkschaften haben den Kongreß bedrängt, den Eisenbahn-
gesellschaften höhere Kredite zu gewähren; d ie Gewerkschaft der Kommu-
Daß die Gewerkschaften allerdings durch das Zugeständnis, wäh-
nikationsarbeiter sorgt sich wegen der Kartellklage gegen AT&T; die Stahl-
rend der Laufzeit eines Vertrages auf Streiks zu verzichten, Störun- arbeiter fordern im Gleichklang mit den Unternehmen die Errichtung von
gen der Produktion auch wirklich eindämmen konnten, liegt nicht Schutzzöllen und Festsetzung von Importquoten; die Automobilarbeiter-
unmittelbar auf der Hand.' Denn zu Arbeitsniederlegungen kam gewerkschaft unterstützt die Argumente der Großen Drei (GM, Ford und
es trotzdem. Aber die Gewerkschaften hatten nun die Aufgabe Chrysler — d. Ü.) für eine Verlängerung der Fristen zur Abgaskontrolle; in
übernommen, ihre Basis unter Kontrolle zu halten, gewissermaßen derTransportbranche arbeiten die Lobbyisten der Teamsters erfolgreich auf
als Puffer zwischen den Arbeitern und dem Management zu ste- Bundes- und Länderebene, um die flöchstlastbegrenzungen im Fernver-
hen. Zum Teil taten sie dies, indem sie einige Rituale der repräsen- kehr zu lockern oder urn den Treibstoff für Transportunternehmer zu ver-
tativen Demokratie in die Produktion einführten — Rituale, die billigen; die Bekleidungs- und Textilarbeitergewerkschaften bemühen sich
darum, ihre Beschäftigten vor der Konkurrenz durch >billige, ausländische
einem Aufbegehren von Arbeitern weitgehend die Legitimität Waren< zu schützen.« (t7o)
raubten. Zum Teil erhielten die Gewerkschaften ihre Funktion als
Ordnungsfaktor durch ausgeklügelte Beschwerdesysteme, die an Schließlich wurde die Orientierung der Gewerkschaften auf das
die Stelle direkter Aktion traten. Die Beschwerdesysteme dienten Management durch die Lösung der Gewerkschaftsführung aus
mehr dazu, Unmut abzuschwächen und abzulenken, als Proble- ihrer Abhängigkeit von der Basis erleichtert — zunächst, weil sie
me aus der Welt zu schaffen. Auch die Disziplinarverfahren der sich für den Mitgliederzuwachs auf die Unterstützung der Bundes-
Gewerkschaften reflektierten ihre Rolle als Ordnungsfaktor, denn regierung verließen, und später durch die automatische Einbehal-
entweder sanktionierten die Gewerkschaften jetzt die Strafmaß- tung der Gewerkschaftsbeiträge vom Lohn (»dues check-off«)."
nahmen des Managements gegen die Arbeiter, oder übernahmen es 197o schrieb ein schwarzer Automobilarbeiter dazu:

185
84
»Das automatische Einziehen der Beiträge hat die Gewerkschaft vollstän- konnte das CIO 1936 noch nicht auf das Millionenheer von Mit-
dig aus ihrer Abhängigkeit von der Mitgliedschaft befreit. Ihre großen Ver- gliedern blicken, über das es schon bald darauf verfügen sollte,
mögen, die ursprünglich als Rücklagen für den Klassenkrieg gedacht doch begann es seine Existenz immerhin mit der nicht unbedeuten-
waren, haben die Gewerkschaften zu Investoren im Banken-, Makler- und
den Mitgliedschaft der Bergarbeiter- und der Bekleidungsarbeiter-
Versicherungsgeschäft gemacht.«. (zitiert bei Georgakas und Surkin, 45)
Gewerkschaft. Auch versuchte das CIO von Anfang an, seinen
Die logische Konsequenz aus dem Handel, den die Gewerkschaf- organisatorischen Apparat und seine Mitgliedschaft einzusetzen,
ten abgeschlossen hatten, wurde von John Laslett in einem Band um in Washington auch auf der politisch-parlamentarischen Bühne
über eine frühere Periode amerikanischer Gewerkschaftsge- eine Rolle zu spielen. Angespornt von der wachsenden Opposition
schichte auf den Punkt gebracht: der Wirtschaft gegen den New Deal und dem erheblichen Rück-
»Die Idee des Vertrages impliziert, daß die Gewerkschaft ihre Verantwor- gang von Wahlkampfspenden der Unternehmer, startete das CIO
tung für die Einhaltung des Abkommens anerkennt, was zuweilen sogar eine massive Kampagne zur Wiederwahl des Präsidenten im Jahr
eine radikale Gewerkschaftsführung in die scheinbar abnorme Lage 1936. Als Vehikel gewerkschaftlicher Aktivitäten wurde die »Non-
brachte, gegen die eigene Mitgliedschaft vorgehen zu müssen, wenn derVer- Partisan League« ins Leben gerufen, die begann, Wähler in den
trag von Mitgliedern ihrer Basis verletzt wurde. So war denn der Preis, den industrialisierten Bundesstaaten New York, Pennsylvania, Illinois
die Gewerkschaft für ihre Privilegien zahlen mußte, daß sie selbst zu einem und Ohio anzusprechen, und sich dabei im -wesentlichen der
Teil des Produktionssystems wurde. ...« (297 ff.)"
Methoden bediente, mit denen auch die Wahlkampforganisationen
Auch die kommunistischen Gewerkschaftsführer waren gegenüber der Parteien operierten: Radiosendungen, Wahlversammlungen
diesen Einflüssen nicht immun; in dem Maße, wie sich ihre organi- und Flugblattaktionen. Ihr Kostenaufwand betrug annähernd eine
satorische Rolle im CIO herausbildete, wurde ihre Politik zuse- Million Dollar (Schlesinger, 1960, 594; Greenstone, 49). In der
hends verschwommen. Radikale Ideologie war kein Schutz gegen Stadt New York verließen führende Gewerkschafter aus der Textil-
die Sachzwänge organisatorischer Behauptung.9° branche die »Socialist Party«, um gemeinsam mit Kommunisten
die »American Labor Party« (ALP) zu gründen, womit es den Lin-
Organisierung und politische Macht ken, die nicht für die Demokraten stimmen wollten, leichter
gemacht wurde, mit ihrer Stimme den New Deal zu unterstützen.
Die Gewerkschaften minderten nicht nur die Fähigkeit der Arbei- Auf dem Umweg über die ALP erhielt Roosevelt 27o 000 Stimmen
ter, das Fabriksystem zu erschüttern, sie begrenzten auch ihre Wir- in New York. Später führte die ALP auch die Kampagne zur Wie-
kung im politischen Wahlsystem. Bevor wir aber diesen Punkt derwahl von Bürgermeister Fiorello LaGuardia an (Rayback, 357;
näher ausführen, müssen wir zunächst über die Bemühungen der Schlesinger, 196o, 594). Unterdessen hatten die CIO-Gewerkschaf-
Gewerkschaften berichten, im politischen Wahlsystem größeren ten Roosevelts Wahlkampffonds um 77o 000 Dollar aufgebessert,
Einfluß zu erringen. Bis zum Ende des Jahres 1937 war die Zahl der größtenteils aus der Kasse der Bergarbeiter. Das wahre Ausmaß die-
Gewerkschaftsmitglieder auf fast acht Millionen angewachsen, ser Spenden wird deutlich, wenn man sie mit den 9 5 000 Dollar ver-
und auch während der Kriegsjahre hielt der Zustrom an. Wenn die gleicht, die in den vorangegangenen dreißig Jahren von der AFL für
Organisierung großer Zahlen für die Bestimmung von Macht in Präsidentschaftswahlkämpfe gespendet worden waren (Pelling,
der politisch-parlamentarischen Arena entscheidend wäre, dann 166).
müßten die Gewerkschaften von Beginn an ein bedeutender Der Wahlkampf von 1936 war natürlich nur der erste Schritt auf
Machtfaktor gewesen sein; je mehr ihre Mitgliedschaft wuchs, um dem neuen Weg, der das CIO zu politischem Einfluß führen sollte.
so größer hätte ihr Einfluß werden müssen. Doch dem war nicht i938 stellte sich die CIO-Lobbv hinter Roosevelts Vorschläge zur
so. Reform des Verfassungsgerichts und unterstützte eine Reihe ande-..
Die Organisationsphase der Industriearbeiterbewegung begann, rer Gesetzgebungsvorhaben des New Deal; während des Wahl-
als der Aufruhr gerade seinen Höhepunkt erreicht hatte. Zwar kampfes verteilte der Verband eine Broschüre mit dem Titel »Wie

186 187
organisiere ich eine Wahlkampagne?« (Greenstone, 49). In der Zwi- die Kanäle des politischen Wahlsystems Einfluß auszuüben. Bleibt
schenzeit war Walter Reuther aus der »Socialist Party« ausgetreten, zu fragen, was ihnen ihre Mühe eingebracht hat?
um den Demokratischen Kandidaten für den Gouverneurs-Posten Es war in der Tat sehr wenig, was die organisierte Arbeiterbewe-
von Michigan, Frank Murphy, zu unterstützen (Bernstein, 1971, gung bekam, und das von Anfang an. Lewis hatte gedacht, seine
78o). Im Jahre 194o stellte sich John L. Lewis zwar gegen Roose- eindrucksvollen Gesten der Unterstützung bei den Wahlen von
velt'', der CIO gab ihm dennoch seine überwältigende Unterstüt- 1936, nicht zuletzt die gewaltigen Zuschüsse zu den Wahlkampf-
zung: Gewerkschaftsdelegierte nahmen am Parteikonvent der ausgaben, würden Roosevelt dazu bewegen, die Kämpfe in der
Demokraten teil, und Roosevelt erhielt in Wahlkreisen mit einer Auto- und Stahlindustrie zu unterstützen. Während der Flint-Sitz-
hohen Konzentration von CIO-Mitgliedern die höchsten Stirn- streiks formulierte Lewis das von ihm erwartete quid pro quo:
menanteile. 92 Die Bindung des CIO an die Politik der Demokraten »Sechs Monate lang investierten die Wirtschaftsmagnaten, mit General
war zu diesem Zeitpunkt schon so fest geworden, daß Lewis bei der Motors an der Spitze, ihr Geld und ihre Energie, um diese Administration
Gewerkschaftsführung für seinen Bruch mit Roosevelt keinerlei aus dem Amt zu jagen. Die Regierung bat die Gewerkschaften um Hilfe,
Unterstützung fand, und er daher als Präsident des CIO zurück- und die Gewerkschaften gaben sie ihr. Dieselben Wirtschaftsmagnaten
treten mußte. 1943 erweiterte der CIO seine Investition in die haben jetzt ihre Krallen in die Gewerkschaften gebohrt. Die Arbeiter dieses
Demokratische Parteipolitik"' und gründete das »Political Action Landes erwarten von der Regierung, ihnen auf jede legale Art und Weise zu
Committee« (PAC), das eine äußerst funktionstüchtige und gut helfen und den Beschäftigten in den General-Motors-Fabriken ihre Unter-
finanzierte Organisation aufbaute. In manchen Gebieten war PAC stützung zu gewähren.« (zitiert bei Rayback, 368)
in der Lage, mit Hilfe einer gut organisierten Basisarbeit die Wäh- Lewis' Einschätzung war korrekt: die GM-Führung gehörte zu
lerschaft ganzer Städte zu erreichen; das galt fürVorwahlen ebenso Roosevelts aktivsten Gegnern bei der Wahl von 1936. Doch seine
wie für die eigentlichen Wahlkampagnen. Loyalität war dabei Erwartungen waren falsch. Als Roosevelt endlich im GM-Streik
Trumpf: PAC hielt seine regionalen Organisationen nach Möglich- intervenierte, tat er es zögernd und vorsichtig. Er tat es nicht, weil
keit von Auseinandersetzungen mit Demokratischen Parteiverbän- er sich der Gewerkschaftsführung politisch verpflichtet fühlte, son-
den ab, um »alle Kräfte, die den Oberbefehlshaber (Präsident dern weil die sich eskalierende Krise in Flint ihn dazu zwang. Auch
Roosevelt — d. Ü.) unterstützen, hinter einem einzigen progressi- im Little-Steel-Streik — nachdem Roosevelt angeblich geäußert
ven >win-the-war<-Kandidaten für jedes Amt zu konzentrieren« hatte, der Teufel solle beide Seiten holen — schrie Lewis Verrat:
(zitiert bei Lichtenstein, 61 ).' PAC kann für sich in Anspruch neh- »Einen Mann, der sich am Tisch der Gewerkschaft den Bauch vollgeschla-
men, entscheidenden Anteil am Wahlsieg der Demokraten von gen hat und dem im Hause der Gewerkschaft Schutz gewährt worden ist,
1944 gehabt zu haben. Jede einzelne der CIO-Gewerkschaften geziemt es wahrlich nicht, mit gleicher Intensität und vornehmer Neutrali-
hatte im Wahlkampf Roosevelt unterstützt, und der CIO selbst gab tät sowohl die Gewerkschaften wie ihre Gegenspieler zu verfluchen, wenn
rund 1328 000 Dollar aus (Pelling, i8o). 1948 folgte die AFL dann sie sich in tödlichem Zweikampf gegenüberstehen.« (zitiert bei Rayback,
dem Beispiel des CIO und hob die »League for Political Educa- 368)
tion« aus derTaufe, die beiWahlkämpfen mit PAC zusammenarbei- Gleichwohl: die Lehren, die zu ziehen es gegolten hätte, blieben
tete. Nach dem Zusammenschluß von AFL und CIO im Jahre 1955 den CIO-Führern (abgesehen vielleicht von John L. Lewis selbst)
wurde das »Committee an Political Education« (COPE) gebildet; verschlossen. Obwohl die Gewerkschaften immer mehr Ressour-
das Engagement der Gewerkschaft in Wahlkämpfen und Demokra- cen in die Parteipolitik steckten, nahm ihre Fähigkeit, die in den
tischer Parteipolitik nahm auch weiterhin zu (Greenstone, 5 2— dreißiger Jahren erzielten Gewinne zu verteidigen, rapide ab. Die
6o)."5 Die Gewerkschaften waren, mit anderen Worten, dem tradi- Streikwelle war 1938 verebbt, ihre Kraft durch die bittere Nieder-
tionellen amerikanischen Modell politischer Einflußnahme lage im Little-Steel-Streik gebrochen. Unterdessen hatte die Privat-
gefolgt: sie hatten immer neue Mitglieder hinzugewonnen, und wirtschaft zusammen mit der Regierung einen Zangenangriff auf
sich des Geldes und der Stimmen ihre Mitglieder bedient, um über die Industriegewerkschaften eingeleitet, der ein Jahrzehnt später in
88 1 89
der Verabschiedung des >Taft-Hartley Act« gipfeln sollte. Zum untersagten, das Aufstellen von Streikposten einschränkten, die
einen war eine Anti-Kommunismus-Kampagne eingeleitet wor- Registrierung von Gewerkschaften vorschrieben, Zwangsmitglied-
den, die zu einer erheblichen inneren Schwächung der Gewerk- schaft (den sog. »closed shop«) verboten, Gewerkschaftsbeiträge
schaften führte, indem sie heftige Fraktionskämpfe auslöste, die nach oben begrenzten, und schließlich bei Verstößen gegen die
schließlich im Ausschluß der militanteren kommunistischen Ele- neuen Gesetze hohe Gefängnisstrafen androhten. Bis 1947 hatten
mente resultierten. Eine zweite Kampagne zielte auf die Einschrän- fast alle Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, die zumindest einige
kung der gerade erst durch den »Wagner Act« gewonnenen gewerk- dieser Beschränkungen beinhalteten.
schaftlichen Rechte ab. Der Zweite Weltkrieg unterbrach die Kampagne gegen die
Die Kommunistenhatz im CIO, die gewöhnlich der McCarthy- Gewerkschaften nicht, bewirkte aber, daß die Probleme weitge-
Ära in der Nachkriegszeit zugeordnet wird, begann in Wahrheit hend verwischt wurden, erlaubte er doch der Regierung und Indu-
schon 1938. Sie wurde durch die Kriegsjahre nur unterbrochen, um strie, ihre anti-gewerkschaftliche Politik mit dem Mantel des
dann Ende der vierziger Jahre mit großem Eifer wieder aufgenom- Patriotismus zu tarnen. Die Haltung der Roosevelt-Administra-
men zu werden. Den Beginn des Feldzuges signalisierten 1938 die tion während des Krieges gegenüber den — ihr so treu ergebenen —
Hearings des »Un-American Activities Committee« (Ausschuß Gewerkschaften offenbarte deutlich, wie sehr der Einfluß der Basis
über unamerikanische Aktivitäten) im Repräsentantenhaus unter geschvvunden war. Als nach der Wahl von 194o die Kriegsvorberei-
Vorsitz von Martin Dies, die eine breite Öffentlichkeit fanden. John tungen ernsthaft begannen, stieg die Nachfrage nach Arbeitskräf-
Frey sagte vor dem Ausschuß aus, und die New York Times veröf- ten schlagartig an. Es war ein Boom, wie ihn die amerikanischen
fentlichte seine Botschaft am nächsten Tag mit der Überschrift: Arbeiter schon lange nicht mehr gekannt hatten : Innerhalb weni-
»Kommunisten regieren den CIO. Frey von der AFL sagt aus: Er ger Monate sank die Zahl derArbeitslosen von zehn auf vier Millio-
nennt die Namen von 248 Roten« (Matles und Higgins, 1°4-105; nen, und auch die Löhne nahmen wieder zu — von durchschnittlich
29,88 Dollar in der Woche im Jahre 194o auf 38,62 Dollar im De-
Prickett, 374). Zur selben Zeit sah sich der CIO ungünstigen Zei-
tungs- und Radiokommentaren ausgesetzt, in denen die Gewerk- zember 1941 (Rayback, 371). Eine neue Streikwelle erfaßte das
schaften als gewalttätig und kommunistisch — zumindest aber als Land, als die Gewerkschaften die frisch eingestellten Beschäftigten
»verantwortungslos« — porträtiert wurden (De Caux, 291-292), rekrutierten und die steigende Nachfrage nach Arbeitskräften dazu
während der amerikanische Unternehmerverband den Druck von ausnutzten, um auf Lohnerhöhungen zu drängen.
zwei Millionen Exemplaren eines Pamphlets finanzierte, das John Doch die Roosevelt-Administration handelte schnell, um die
L. Lewis als Streikposten mit einem Schild zeigte, auf dem stand: Streiks zu unterdrücken. Als zwei Wochen nach den Präsident-
>Tretet dem CIO bei und schafft ein Sowjet-Amerika«. (Matles und schaftswahlen von 194o UAW-Arbeiter im Vultee-Flugzeugwerk
von Los Angeles die Arbeit niederlegten, wurde der Streik von FBI
Higgins, 118)
1939 war nicht mehr zu übersehen, daß der politische Wind sich und Justizministerium als »rot« gebrandmarkt, und Regierungs-
gedreht hatte. Eine Reihe von Maßnahmen vvurden ergriffen, um agenten fielen über die Streikenden her. Dennoch konnten die
die Konzessionen, die den Gewerkschaften gemacht worden Arbeiter die meisten ihrer Forderungen durchsetzen (Green, 8-9;
waren, wieder auszuhöhlen. Unter dem Druck südstaatlicher Keeran, 333).97 Kurz darauf ließen UAW-Streikende die Räder in
Demokraten und Republikanischer Kongreßabgeordneter wurde der Allis-Chalmers-Fabrik in der Nähe von Milwaukee stillstehen,
das NLRB umbesetzt und seiner progewerkschaftlichen Mitglie- woraufhin lokale Polizei und Staatsmiliz anrückten, und Roosevelt
der beraubt%; der Oberste Gerichtshof erklärte Sitzstreiks für ille- drohte, das Werk unter Regierungsaufsicht zu stellen (Thomas
gal, und die Parlamente einiger Bundesstaaten verabschiedeten Brooks, 195; Green, 9; Keeran, 334-336). Als 20 000 1.1T1 »Congress
Gesetze, die bestimmte Streikformen und sekundäre Boykotts* of Industrial Organizations« organisierte Arbeiter der holzverar-
beitenden Industrie im Nordwesten der USA in den Streik traten
Heute sind ,,secondery boycotts«, d. h. Boykottaufrufe. die sich gegen -unbeteiligte
Dritte« richten, in den USA generell verboten. (Anm. d. Übers.) und beschlossen, die Arbeit unter den von der Regierung diktierten
191
190
Bedingungen nicht wieder aufzunehmen, drückte die Presse dem trag hätten. Roosevelt stellte die Bergwerke unter Regierungsauf-
Ausstand den Stempel »kommunistisch« auf (De Caux, 396 397). - sicht, doch die Bergarbeiter streikten weiter. Der Präsident ver-
Als 12 ooc UAW-Arbeiter die North American Aviation in Los langte daraufhin nach einem Gesetz, das es der Bundesregierung
Angeles bestreikten, gab Roosevelt rund 3 000 Soldaten den Befehl, ermöglichen sollte, Streikende zum Militär einzuziehen, während
das Werk zu besetzen: der Streik brach zusammen (Green, to; der Kongreß den »Smith-Connally Act« verabschiedete, der das
De Caux, 398 399). Im Herbst 1941 rief John L. Lewis, der Roose-
-
Streikrecht einschränkte.' Als die Bergleute schließlich an die
velt voller Bitterkeit verurteilt hatte, weil dieser Truppen eingesetzt Arbeit zurückkehrten, hatten sie die meisten ihrer Forderungen
und damit »den Arbeitern einen Dolch in den Rücken gestoßen« durchgesetzt. Doch was sie durchgesetzt hatten, das hatten sie
hatte, zum Streik in den Kohlebergwerken der großen Stahlkon- durch ihre Kampfbereitschaft in den Minen, nicht durch ihren Ein-
zerne auf. Ein Schlichtungsausschuß des Bundes entschied gegen fluß im Weißen Haus oder in den Lobbies des Kongresses durchge-
die Arbeiter, woraufhin Lewis 250 000 Bergleute aus anderen setzt. Von den 219 Demokratischen Abgeordneten, die für den
Minen in den Streik treten ließ und damit den Arbeitskampf für »Smith-Connally Act« stimmten, waren 19i von PAC unterstützt
sich entschied. worden.
Nach dem Angriff auf Pearl Harbor begegnete Roosevelt der Zur gleichen Zeit, als versucht wurde, den Gewerkschaften wäh-
gewachsenen Militanz der Arbeiterschaft, indem er sich die aufwal- rend des Krieges die Streikwaffe aus der Hand zu schlagen, wurden
lenden patriotischen Gefühle zunutze machte, um sich von CIO ihre führenden Funktionäre von Regierung und Privatwirtschaft
und AFL den Verzicht auf Streiks versprechen zu lassen. Arbeits- weiter umworben. Auch schützte die Bundesregierung weiterhin
konflikte sollten fortan von einem »War Labor Board« beigelegt, die Fähigkeit der Gewerkschaften, ihre Mitgliedschaft zu erhalten
und die Löhne nach dem Vorbild der »Little-Steel«-Formel im und zu vergrößern. Das konnte nicht überraschen, leisteten die
Rahmen eines Programms festgesetzt werden, das von Unterneh- Gewerkschaften doch einen wertvollen Dienst. Ein Mitglied des
mern, Verbrauchern und Arbeitern »gleichwertige Opfer« for- »War Labor Board« meinte dazu: »Im großen und ganzen gewähr-
derte. Tatsächlich aber schossen die Profite in die Höhe und stiegen leisten eine stabile Mitgliedschaft und eine verantwortungsbe-
die Preise; nur die Löhne blieben zurück." 1943 war die Unruhe in wußte Gewerkschaftsdisziplin die gewissenhafte Erfüllung der Ver-
der Arbeiterschaft nur noch mühsam unter Kontrolle zu halten, tragsbestimmungen, und sie bilden eine solide Grundlage für die
und die Zahl der wilden Streiks nahm rasch zu." Dennoch beharr- Zusammenarbeit von Kapital und Arbeit im Dienste höherer und
ten die Gewerkschaftsführer im großen und ganzen auch weiterhin effizienter Produktion.« (zitiert bei Thomas Brooks, 203) Infolge
auf dem Streikverzicht, und der Vorsitzende des »War Labor der Politik des »War Labor Board« zur Sicherung der Mitglied-
Board« nannte die Regelung einen außergewöhnlichen Erfolg. Das schaft nahm die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder weiter zu" 2 :
war sie auch, denn nun verurteilten und unterdrückten die Gewerk- Nach eigenen Angaben kletterte die Mitgliedschaft des CIO bis
schaftsführer selbst die wilden Streiks.' 1945 auf sechs Millionen, die der AFL auf fast sieben Millionen.
Lewis und seine Bergarbeiter stemmten sich gegen den Trend. Sollte überhaupt jemals die Zeit reif dafür sein, die Macht organi-
Nach einer Reihe von Spontanstreiks verlangte Lewis 1943 eine sierter Wähler im politischen Prozeß zu demonstrieren, so war sie
Lohnerhöhung von zwei Dollar pro Tag, ohne Arbeitsintensivie- nach Kriegsende gekommen — jetzt, da die Gewerkschaften über so
rung oder Erhöhung des Arbeitstempos, und die Bezahlung von viele Stimmen verfügten wie noch nie, da weder die Sachzwänge
Anfahrtszeiten unter Tage. Die Bergwerksbesitzer lehnten jedeVer- der Kriegszeit noch patriotischer Überschwang ihre Macht mehr
handlung ab, die Presse schrie >Verräter«, Roosevelt drohte mit einschränkten. Und doch sollte sich ihr Einfluß als zu gering erwei-
dem Einsatz von Truppen, die Bergarbeiter aber traten trotzdem in sen, um selbst den »Taft-Hartlev Act« abzuwehren.
den Streik. Auf den Streikverzicht hingewiesen, sagte Lewis, es Das Kriegsende im Sommer 1945 bedeutete die Stornierung von
handele sich nicht um einen Streik, die Bergleute wollten nur nicht Kriegsaufträgen und Demobilisierung von Soldaten; es bedeutete
unbefugt das Werksgelände betreten, solange sie keinen Tarifver- steigende Arbeitslosenzahlen und fallende Löhne, da die Über-
192 193
stunden gestrichen wurden. Die Preise aber stiegen weiter, und so eines Streiks für 8o Tage anzuordnen, wenn er die »nationale Wohl-
sanken die Reallöhne unter das Vorkriegsniveau. Es folgte eine bei- fahrt oder Sicherheit« für gefährdet hielt (Pelling, 189-191). Tru-
spiellose Streikwelle, die diesmal unter offizieller Gewerkschafts- man legte sein Veto gegen das Gesetz ein, da die Wahlen von 1948
führung stand. In so gut wie jeder wichtigen Industrie standen vor der,Tür standen.' Der Kongreß wies das Veto mit einer Mehr-
irgendwann im Jahre 1946 die Räder still. Präsident Truman rea- heit von 331 zu 83 im Repräsentantenhaus und 68 zu 25 im Senat
gierte mit der Anwendung von Kriegsrecht — Monate nach dem zurück. So hatte Truman freie Hand, das Gesetz im ersten Jahr
Ende des Krieges —, das ihm erlaubte, Öl-Raffinerien, Eisenbah- nach seiner Verabschiedung zwölfmal zu benutzen, um Streiks zu
nen, Bergwerke und Schlachthöfe unter Regierungskontrolle zu unterdrücken (Green, 34). 106 Während über den »Taft-Hartley Act«
stellen. Als Eisenbahner trotzdem streikten, drohte der Präsident, im Kongreß debattiert wurde, erklärte das Weiße Haus den Kalten
sie zur Armee einzuziehen, und die Eisenbahnen vom Militär Krieg, gab damit die Hexenjagd auf die Linke frei und schuf die
betreiben zu lassen.' Als die Bergarbeiter streikten, erwirkte die Grundlage für die Säuberungen, die den CIO in der Nachkriegs-
Regierung eine gerichtliche Verfügung; da die UMW sie ignorierte, zeit noch tiefer spalten und weiter schwächen sollten.
wurde ihr eine Strafe in Höhe von 3,5 Millionen Dollar auferlegt. Taft-Hartley war um einiges weitreichender als die Maßnahmen
»Wir benutzten die Waffen, die uns zur Verfügung standen«, sagte der Regierung während des Krieges. Es entschärfte nicht allein die
Truman später, »um eine Rebellion gegen die Regierung niederzu- Streikwaffe, es schränkte zudem die Fähigkeit der Gewerkschaf-
schlagen ...« (zitiert bei Brecher, 2o3).Truman hatte Gesetze vorge- ten, neue Mitglieder zu organisieren, ein. In den Jahren unmittel-
schlagen, die es erlaubt hätten, Streikende zum Militär einzuzie- bar nach Verabschiedung des Gesetzes nahm die Mitgliedschaft ab
hen, doch der Kongreß anwortete mit seinem eigenen Plan: dem und stieg in den folgenden Jahren nur langsam wieder an — bis auf
»Taft-Hartley Act«, der den »Wagner Act« erheblich modifizierte, 18,9 Millionen im Jahre 1968. Der Organisierungsgrad jedoch—der
indem er die Rechte des Kapitals bei Arbeitskonflikten spezifi- Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an der gesamten arbeitenden
zierte und die Rechte der Gewerkschaften einschränkte. Nach Bevölkerung—war 1968 niedriger als 1947. In den 19 Bundesstaaten
detaillierten Vorschriften mußten die Gewerkschaften fortan mit »right-to-work«-Gesetzen, wo jede Zwangsmitgliedschaft ver-
Rechenschaft über innere Angelegenheiten ablegen; Gewerk- boten ist, liegt der durchschnittliche Organisierungsgrad nur etwa
schaftsfunktionären wurde die eidesstattliche Erklärung abver- halb so hoch wie in den übrigen Bundesstaaten. Gegen all diese
langt, daß sie keiner kommunistischen Partei angehörten, wollten Restriktionen haben die Gewerkschaften damals erbittert ge-
sie nicht den Schutz des NLRB verlieren 104 ; der »closed shop« kämpft, und sie haben diesen Kampf seitdem nicht aufgegeben.
wurde verboten, ebenso der »union shop« (der den Zwangseintritt Allein: der Erfolg blieb aus.
in die Gewerkschaft innerhalb einer bestimmten Frist nach Einstel- Unsere Diskussion kreiste bisher um die Niederlagen, die den
lung vorschreibt — d. es sei denn, eine Mehrheit der Arbeiter Gewerkschaften auf dem Gebiet staatlicher Arbeitspolitik beige-
befürwortete in einer besonderen Abstimmung die Aufnahme einer bracht wurden. In anderen Bereichen der Innenpolitik, die die
entsprechenden Klausel in den Tarifvertrag — soweit nicht auch die- Lebensbedingungen der Arbeiterschaft berühren, erging es ihnen
ses Verfahren durch einzelstaatliche Gesetzgebung (die sogenann- allerdings nicht besser: es gelang den Gewerkschaften nicht, die der
ten »right-to-work«-Gesetze) untersagt war. Die automatische Regierung in den dreißiger Jahren abgerungenen Gewinne auszu-
Einziehung der Gewerkschaftsbeiträge durfte fortan nur noch bauen, zum Teil gelang es ihnen nicht einmal, die Gewinne zu
erfolgen, wenn eine schriftliche Erlaubnis der betroffenen Beschäf- behaupten. Die Liste der Niederlagen ist lang, und ohne Zweifel
tigten vorlag; und verschiedene Formen des sekundären Boykotts stehen darauf: eine zunehmend regressive Steuerpolitik, die
wurden verboten. Schließlich wurde noch die Möglichkeit einer Gewinne am Verhandlungstisch teilweise wieder zunichte macht;
6ctägigen »Abkühlungsphase« bei bestimmten Streiks geschaffen; die Wohnungsbaupolitik des Bundes, die den Arbeitern Mietsteige-
Streiks gegen die Bundesregierung wurden überhaupt verboten; rungen und der Bauindustrie saftige Profite eingebracht hat; die
und dem Präsidenten wurde das Recht eingeräumt, die Aussetzung durch den Bund festgesetzten Mindestlohnstandards, die mit der

1 94 195
Entwicklung der Reallöhne nicht Schritt halten; die negative wählenden Mitglieder auch einzusetzen, um von den Regierenden
Bilanz auf dem Gebiet der Sicherheit am Arbeitsplatz; und ein massive Zugeständnisse zu erzwingen. Die Gewerkschaftsfunktio-
Sozialversicherungssystem, das aufgrund der extrem regressiven näre wurden weitaus abhängiger von der Demokratischen Partei
Art der Finanzierung zu einer immer schwereren Last auf dem (weil sie ihnen Prominenz verlieh, nicht weil sie ihnen Zugeständ-
Rücken der Arbeiter wird. nisse machte), als die Partei von ihnen. Entsprechend handelten sie
Diese betrübliche Gesamtbilanz auf der politisch-parlamentari- auch, förderten die parteipolitische Loyalität und legten damit der
schen Bühne geht auf das Konto der größten organisierten Interes- wahlpolitischen Stoßkraft, die in den Arbeiterunruhen lag, Fesseln
sengruppe im Land, die zudem über den größten Wählerblock an. Die Gewerkschaften avancierten zum anerkannten politischen
verfügte. In dem Jahrzehnt zwischen dem »Wagner Act«, der die Sprachrohr der Industriearbeiter, und dieses Sprachrohr wandte
politische Stärke der Arbeiter ausdrückte, und dem Jaft-Hartley sich wiederholt gegen streikende Arbeiter und unterstützte die
Act«, der nur noch ihre Schwäche aufzeigte, waren die Reihen der Demokratischen Parteiführer.
Gewerkschaft so dicht geworden, daß schließlich ein Drittel der So wurde die Unzufriedenheit in der Arbeiterschaft während der
Bevölkerung von ihr erfaßt wurde. Auch der organisatorische Kriegsjahre nicht geringer. Die Streikwelle in der Hochkonjunktur
Apparat der Gewerkschaften war in diesen Jahren umfangreicher von 1941 wurde noch von den wilden Streiks des Jahres 1943 über-
und versierter geworden und hatte sich immer mehr dem politi- troffen, und beide waren größer als die Streikwelle von 1937. Doch
schen Prozeß in seiner ganzen Komplexität verschrieben. Aber die aufgebrachten Arbeiter übten nur geringen politischen Einfluß
weder der gewaltige Wählerblock noch der ausgeklügelte organisa- aus, um so weniger, als ihre eigenen Führer sich hinter die Politik
torische Apparat hatten auch nur genügend Einfluß aufbieten kön- der Regierung stellten. Als 1941 die Arbeiter der Holzindustrie
nen, um wenigstens die Gewinne aus den Tagen vor der großen streikten, verurteilte Philip Murray, der Nachfolger von John
Organisierungswelle zu verteidigen. Lewis als CIO-Vorsitzender, die Streikführer, wiederholte Presse-
Warum? Die Antwort hat zwei Aspekte. ZumTeil lag es daran, daß vorwürfe, wonach es sich um Kommunisten handle, und verlangte
die Gewerkschaften in Ermangelung einer Bevvregung faktisch gar die Einstellung des Streiks (De Caux, 397). Als im selben Jahr die
nicht in der Lage waren, den Wählerblock, den sie zu repräsentie- UAW-Arbeiter von North American Aviation die Arbeit niederleg-
ren vorgaben, auch zu kontrollieren. Die Streikbewegung der drei- ten, nannte der für den Flugzeugbau zuständige UAW-Direktor,
ßiger Jahre hatte demgegenüber gedroht, Arbeiter in einerWeise als Richard Frankensteen, den Streik in einer im ganzen Land ausge-
Wähler zu mobilisieren, die ihre bisherigen Bezugspunkte wie Par- strahlten Radiosendung »kommunistisch inspiriert«, und als er
teizugehörigkeit, regionale Herkunft und Ethnizität in den Hinter- später vor den Streikenden sprach, befahl er ihnen, an die Arbeit
grund drängte. Zwar war die Arbeiterschaft bei der Wahl von 1932 zurückzukehren. Nachdem die Arbeiter Frankensteen ausgebuht
vom Republikanischen ins Demokratische Lager umgeschwenkt, und seinen Befehl ignoriert hatten, ließ Roosevelt offenbar mit
sicher waren den Demokraten diese Stimmen jedoch nicht, und die Zustimmung Sidney Hillmans (Keeran, 34o) Truppen einsetzen
Arbeitskämpfe erhöhten diese Unsicherheit noch, indem sie wahl- (Green, to).1°8 Als Roosevelt 1943 die Bergwerke besetzen ließ, um
politische Erschütterungen auszulösen drohten. Nachdem die den Streik der UMW gegen die »Little Steel«-Formel zu zerschla-
Bewegung einmal -verebbt war, gewann jedoch die Demokratische gen, verstieß der Exekutivausschuß des CIO Lewis und die UMW
Partei — und nicht die Gewerkschaften — die Loyalität der proletari- und beglückwünschte Roosevelt zu seinem Veto des »Smith-Con-
schen Wähler, und die Partei bestimmte die politischen Themen, die nally Act«, ungeachtet der Tatsache, daß der Gesetzentwurf sich an
sie im Gegenzug anbot. Ohne die Leidenschaft der Massenbewe- Roosevelts eigene öffentlichen Vorschläge anlehnte. Mit anderen
gung spielten die Gewerkschaften bestenfalls eine untergeordnete Worten: wenn auch die Gewerkschaften wirtschaftliche Erschütte-
Rolle bei der Disziplinierung des proletarischen Wählerblocks.1' rungen durch streikende Arbeiter nicht abwenden konnten, gelang
Darüber hinaus weist vieles darauf hin, daß die Gewerkschaften es ihnen doch, die politischen Auswirkungen dieser Erschütterun-
nicht einmal ernstlich versucht haben, das Druckpotential ihrer gen erheblich abzuschwächen.

196 197
Schlußfolgerung Kraft zur Erschütterung der politischen Arena gewinnen konnte.
Solche Zeiten sind selten, und können auf keinen Fall bewußt pro-
Die Bedingungsfaktoren, die zu den Erhebungen der 1ndustriear- duziert werden. Zudem ist eine Strategie des politischen Aufruhrs,
beiter führten und ihnen Kraft gaben, entsprangen den ökonomi- selbst in den seltenen Perioden, in denen sie möglich vvird, unbere-
schen und sozialen Verschiebungen der Depression. Katastrophale chenbar und kostspielig. Die Arbeiter der dreißiger Jahre hatten
Arbeitslosigkeit und übermäßige Lohnkürzungen führten zu den keine Richtlinien, denen sie hätten folgen und die ihnen hätten
ersten Anzeichen von Unruhe in der Arbeiterschaft; die anfängli- Schutz gewähren können: Ihre Kämpfe trotzten den Konventio-
chen Maßnahmen der politischen Eliten zur Überwindung der nen des politischen Spiels um Einfluß und Macht und verschmäh-
Wirtschaftskrise und der von ihr hervorgerufenen politischen Insta- ten daher auch den Schutz, den diese Konventionen zu bieten
bilität verliehen der Unzufriedenheit der Arbeiter nur Legitimität haben. Die Arbeiter zahlten einen hohen Preis für ihren Wider-
und trugen zur Eskalation der Kämpfe bei. Noch versuchte die stand: Tausende wurden festgenommen, Hunderte verletzt und
Regierung sich durchzulavieren und sowohl die Privatwirtschaft viele getötet. Und doch haben sie auch Erfolge erzielt.
als auch die Arbeiterschaft zu beschwichtigen. Doch die vom Elan Daß die Industriearbeiter tatsächlich in den dreißiger Jahren
der Bewegung erfaßten Industriearbeiter ließen sich nicht Erfolge erreicht und diese nur durch massive Kämpfe errungen
beschwichtigen und stürzten die Industrie in immer größeres haben, -wird in einigen radikalen Interpretationen heruntergespielt.
Chaos; damit war die Politik der Bundesregierung gescheitert. Die Diese Interpretationen betonen die Vorteile, die das Management
verärgerte Geschäftswelt kehrte der Demokratischen Partei den letztlich aus der gewerkschaftlichen Organisierung zog, und schei-
Rücken und ebnete damit denWeg für staatliche Zugeständnisse an nen damit zu implizieren, das System der Tarifverhandlungen sei
die Arbeiterschaft. Dann, als die Arbeiterbewegung ungebrochen das Produkt einer Verschwörung der Unternehmer. Ohne Zweifel
blieb und die Unternehmer ihr immer offenere Gewalt entgegen- fanden Manager mit der Zeit Gewerkschaften nützlich, vielleicht
setzten, schlugen sich die verunsicherten politischen Fi_ihrer weil diese halfen, die Arbeiter zu disziplinieren und die Produktion
schließlich auf die Seite der Beschäftigten und unterstützten ihre aufrechtzuerhalten, ganz sicher aber, weil sie dazu beitrugen, das
Forderungen. Die Rebellion der Arbeiterbewegung hatte ihnen Aufmurren der Arbeiter zu entpolitisieren, wenn es einmal laut
keine andere Wahl gelassen. Erschütterungen solchen Ausmaßes, wurde. In einigen Branchen — wie beispielsweise in der Elektroin-
die nicht nur den ökonomischen Wiederaufschwung, sondern auch dustrie — versprach die gewerkschaftliche Organisierung, daß
die politische Stabilität bedrohten, konnten sie nicht ignorieren. Löhne stabilisiert und damit die unsicheren Folgen unternehmeri-
Auch konnten sie die Arbeitskämpfe nicht einfach unterdrücken, scher Konkurrenz vermindert würden (Schatz, 18 8 189).11° Doch

denn zwar wurden die Streikenden nicht von der Mehrheit, aber crrößtenteils erkannten die Unternehmer selbst diese Vorteile nur
b
doch von einem wesentlichen Anteil der Wähler unterstützt, und langsam und unter extremem Druck. Sie erkannten die Gewerk-
die Reaktion vieler anderer auf das Blutbad, das bei einer Repres- schaften erst nach erbittertem Widerstand an und gaben erst nach,
sion unausweichlich gewesen wäre, war unberechenbar. So gab die als sie sich mit Massenstreiks konfrontiert und von der Regierung
Regierung der Hauptforderung der Streikenden nach — der Forde- dazu genötigt sahen. Die Gewerkschaften zu benutzen, lernten sie
rung nach dem Recht auf Organisierung. erst, nachdem die Arbeiter für sie gekämpft und sie durchgesetzt
Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß die Arbeiterunruhen der hatten. Die Organisierung der Industriearbeiter war nicht eine
dreißiger Jahre auch unter stabileren ökonomischen Bedingungen Strategie des Managements — es war ein Sieg der Arbeiter.
ausgebrochen wären, und es ist ebensowenig wahrscheinlich, daß Und der Sieg war es wert, errungen zu werden. Die unmittelbaren
sie unter stabileren politischen Bedingungen dieselbe Durch- Konzessionen, die Lohnerhöhungen, kürzeren Arbeitszeiten und
schlagskraft gehabt hätten. Es erforderte, mit anderen Worten, die staatlichen Sozialleistungen, die auf dem Höhepunkt der Rebellion
weitreichenden sozialen Verschiebungen einer schweren Wirt- in den dreißiger Jahren gewährt wurden, waren den Kampf wert.
schaftskrise, damit die Arbeiterbewegung hervorbrechen und die Nicht so eindeutig war die Erringung des Koalitionsrechtes selbst,
198 P99
doch muß alles in allem auch die gewerkschaftliche Organisierung um den Glauben an die Effektivität von Organisationen mit Mas-
als ein Gewinn für die Industriearbeiter angesehen werden — aus senbasis in der wahlpolitischen Arena zu überprüfen. Durch die
dem einfachen Grund, daß sie mit der Organisation besser fahren Organisierung verfügen die Gewerkschaften über beträchtliche
als ohne sie. In den siebziger Jahren geht es ihnen ohne Zweifel bes- Mittel zur politischen Einflußnahme: über Millionen organisierter
ser als in den zwanziger Jahren. Es geht ihnen besser, weil die Wähler, ständig fließende Mitgliedsbeiträge und finanzielle Rückla-
Gewerkschaften noch immer Streiks führen, noch immer die gen in Millionenhöhe. Und doch haben ihnen diese Mittel im poli-
Regeln brechen. Weil sie dies tun, haben die meisten Arbeiter in den tischen Prozeß nur wenig eingebracht. Wie aber steht es dann um
Massenindustrien ihre Stellung auf wirtschaftlichem Gebiet die Möglichkeiten politischer Einflußnahme der typischeren
behaupten können. Die Löhne haben mit steigender Produktivität Unterschichtsorganisationen, die vielleicht über ein paar hundert
und Profiten mitgehalten."' Darüber hinaus haben die Arbeiter oder ein paar tausend Mitglieder verfügen und meist am Rande des
aufgrund ihrer gewerkschaftlichen Organisierung eine gewisse finanziellen Zusammenbruchs stehen?
Arbeitsplatzsicherung gewonnen. Insbesondere sind sie heute vor Die politische Lehre aus der Erfahrung der Gewerkschaften
Repressalien der Betriebsleitung bei gewerkschaftlich geführten scheint uns auf der Hand zu liegen, obwohl sie sich erheblich von
Streiks geschützt. der Lehre, die »organizers« gewöhnlich aus ihr ziehen, unterschei-
Andererseits ritualisiert und isoliert die gewerkschaftliche Orga- det. Sie ist einfach zu formulieren: die Erschütterungen durch die
nisierung das Kampfinstrument des Streiks und schränkt dadurch unorganisierten Industriearbeiter in den dreißiger Jahren brachten
seine Fähigkeit zur Störung der Produktion ebenso wie deren politische Erfolge — die organisierten wahlpolitischen Aktivitäten
potentielle Auswirkungen im politischen System weitgehend ein. der Gewerkschaften konnten sie jedoch nicht verteidigen. Neue
Die Gewerkschaften selbst haben zu keiner Zeit in der politischen Erfolge bedürfen einer neuen Protestbewegung, eines erneuten
Arena einen unmittelbaren Einfluß ausüben können, der mit dem Ausbruchs massenhafter Auflehnung — der Auflehnung gegen
wahlpolitischen Druck der Arbeiterbewegung in den dreißiger Jah- Herrschaft und Kontrolle am Arbeitsplatz und in der Politik, der
ren vergleichbar gewesen wäre. Auflehnung aber auch gegen Herrschaft und Kontrolle des
Die Industriearbeiter sind in jeder Hinsicht das exemplarische Gewerkschaftssystems.
Beispiel für eine dauerhafte Massenorganisation. Kein anderer Teil
der Unterschicht verfügt über vergleichbare Möglichkeiten groß
angelegter Organisation. Der Hauptgrund dafür ist, daß keine
andere Gruppe über eine vergleichbare Fähigkeit zur Erschütte-
rung verfügt. Eben weil diese Fähigkeit des Streiks, soziale
Erschütterungen gewaltigen Ausmaßes hervorzurufen, einge-
dämmt werden mußte, konnte die Gewerkschaft den Eliten die
Ressourcen abringen, die für die Aufrechterhaltung von Massenor-
ganisierung unabdingbar sind. Mit dem Koalitionsrecht ausgestat-
tet — einschließlich der gesetzlichen Möglichkeit, Arbeiter zur Mit-
gliedschaft zu zwingen — konnten die Gewerkschaften ihr Problem
einer dauerhaft organisierten Massenbasis erfolgreich lösen. Aber
welche andere Gruppierung der Unterschicht hat schon die Fähig-
keit zur sozialen Erschütterung, die sie in die Lage versetzen
könnte, vergleichbare Ressourcen zur Erhaltung ihrer Organisa-
tion zu gewinnen?
Die Industriearbeiter sind außerdem das exemplarische Beispiel,
200
IV Die Bürgerrechtsbewegung des Terrors als Mittel sozialer Kontrolle wesentlich geschvvächt
worden ist.' Der Abbau von Terror im Alltag eines Volkes ist schon
für sich ein wichtiger Fortschritt. Myrdal hat betont, daß »Dro-
hungen, Auspeitschungen und selbst schwerwiegendere Gewalt-
Der Zweite Weltkrieg brachte die Große Depression zu einem formen ... gebräuchliche Repressionsmittel waren, um strikte Dis-
schnellen Ende. Der florierenden Kriegsproduktion folgte in den ziplin unter den Negerarbeitern zu erhalten« (229). Doch seit der
Nachkriegsjahren eine rasche ökonomische Expansion, die zusam- Erringung formeller politischer Rechte hat der Terror — Polizeibru-
men mit einer keynesianisch orientierten Wirtschaftspolitik vielen talität, Lynchmorde, willkürliche Verhaftungen — als Methode zur
amerikanischen Arbeitern zu Stabilität und Wohlstand verhalf. Ihre Kontrolle der Schwarzen weitgehend an Bedeutung verloren.
verbesserte wirtschaftliche Lage, im Verein mit dem wachsenden Warum diese historische Veränderung stattgefunden und welche
Einfluß der Gewerkschaften, dämpfte die Unzufriedenheit unter Rolle die Bürgerrechtsbewegung dabei gespielt hat, ist Gegenstand
der Industriearbeiterschaft. Die nächsten großen gesellschaftlichen dieses Kapitels.
Konflikte sollten von den Schwarzen ausgefochten werden, von Die ökonomischen Fortschritte waren demgegenüber gering.
denen viele sich außerhalb der Industriearbeiterklasse oder allen- Zwar stiegen viele Schwarze in die Mittelschicht auf und profitier-
falls in ihrer untersten Schicht befanden. ten von den liberalen Einstellungspraktiken im öffentlichen Sektor
Die Bewegung der Schwarzen hatte zwei Ziele: zum einen, for- wie auch in der Privatwirtschaft, die ein Produkt der politischen
melle politische Rechte im Süden zu gewinnen, vor allem das Wahl- Turbulenzen waren. Für die meisten armen Schwarzen aber haben
recht; zum anderen, die eigene ökonomische Lage zu verbessern. sich die Beschäftigungsbedingungen kaum verbessert. Der größte
Rückblickend betrachtet ist eindeutig, daß ihr hauptsächlicher Fortschritt für sie bestand darin, daß eine liberalereWohlfahrtspoli-
Erfolg in der Ausdehnung der politischen Rechte auf die schwarze tik ihr Überleben fortan sicherstellte, obwohl Arbeitslosigkeit und
Bevölkerung der Südstaaten lag (zusammen mit einem höheren Unterbeschäftigung weiterhin grassierten. Dieser Erfolg und die
Grad politischer Repräsentation in den nördlichen Großstädten). Bewegung, die ihn ermöglichte, werden Gegenstand des nächsten
Seit den vierziger Jahren hatten die Bundesgerichte historisch Kapitels sein.
begründete Rechtsdoktrinen umgestoßen und begonnen, die Lega- Im weitesten Sinne folgte die politische Modernisierung im Süden
lität des südstaatlichen Kastenwesens zu untergraben — eine Ent- aus der vorhergehenden ökonomischen Modernisierung. Während
wicklung, die 1954 schließlich in der Entscheidung des Obersten des gesamten 20. Jahrhunderts war in den sogenannten Südstaaten
Gerichtshofs gipfelte, die Rassentrennung im Schulwesen für ver- und in einigen Städten des tiefen Südens' die Industrialisierung vor-
fassungswidrig zu erklären, weil die Aufspaltung in weiße und angeschritten. Zur selben Zeit hielten die Mechanisierung und
schwarze Schulen keine Chancengleichheit bot. Zwischen 1957 neue landwirtschaftliche Technologien ihren Einzug in den Agrar-
und 1 965 traten dann vier Bürgerrechtsgesetze in Kraft, die den
- gebieten des tiefen Südens und überrollten, vor allem in der Zeit
Schwarzen endlich ein breites Spektrum politischer Rechte zusi- nach dem Zweiten Weltkrieg, das traditionelle Plantagensystem.
cherten und die Mechanismen schufen, um diese Rechte auch Durch diese ökonomischen Umwälzungen wurde die noch immer
durchzusetzen. In der Folge wurde die Rassentrennung in öffentli- in großen Teilen des Südens vorherrschende, halbfeudale politische
chen Einrichtungen aufgehoben, fanden Schwarze Zugang zu den Ordnung zu einem Anachronismus, zum Überbleibsel eines
Geschworenengerichten, die den weißen Südstaatlern so lange arbeitsintensiven Plantagensvstems, dessen Stunde geschlagen
Immunität bei ihren Terrorakten gegen Schwarze verliehen hatten, hatte.
und wurde auch das Wahlrecht endlich gewährt. Historisch be- Die ökonomischen Veränderungen, die traditionelle Herrschafts-
trachtet, war ein großer Sprung nach vorn gemacht worden. muster obsolet machten, brachten aber auch die Kräfte hervor, die
Im Süden findet die Erringung demokratischer politischer Rechte neuen politischen Verhältnissen zum Durchbruch verhelfen soll-
ihre größte Bedeutung in der Tatsache, daß das historische Primat ten. Die veränderten wirtschaftlichen Verhältnisse sowie ihre de-
202 203
mographischen und sozialen Folgen, die nicht lange auf sich warten polarisierte, versuchte die Parteiführung der Demokraten, den
ließen, lösten wachsende Unruhe unter den schwarzen Massen aus, Wählersch-wund dadurch in Grenzen zu halten, daß sie dem Süden
die letztlich in einen Kampf gegen das südstaatliche Kastensystem politische Reformen aufzwang. Zu dieser Zeit gab es keinen ande-
mündete. Mitte der sechziger Jahre reagierte schließlich auch die ren Weg mehr, die grundlegenden Konflikte, die den nördlichen
nationale politische Führung auf die Woge des schwarzen Protests und südlichen Flügel der Partei trennten, zu entschärfen. Auch gab
und zwang dem Süden die politische Modernisierung auf. Daß sie es nur einen Weg für die Demokraten, wie sie ihre Stärke im Süden
dies tun konnte, ist ein Anzeichen sowohl für das Ausmaß der öko- zurückgewinnen konnten: den Schwarzen das Wahlrecht zu geben
nomischen Umwälzungen, die sich vollzogen hatten, als auch für und sie in die Südstaatenorganisation der Partei zu integrieren.'
die Kraft der schwarzen Rebellion. Wir wollen nun beginnen, diese Punkte im einzelnen anzuführen.
In der nun folgenden Analyse haben wir uns auf das Verhältnis
zwischen ökonomischem Wandel, Massenunruhen und dem politi-
schen Wahlsystem konzentriert. Wenn auch die politischen Refor- Die Schwarzen in der politischen Ökonomie des Südens
men im Süden durch ökonomischen Wandel ermöglicht wurden,
und wenn auch dieser ökonomische Wandel, indem er Massenunru- Keine andere Gruppe in der amerikanischen Gesellschaft ist den
hen erzeugte, Reformen unumgänglich machte, so war es doch das Extremen wirtschaftlicher Ausbeutung in demselben Maße unter-
politische Wahlsystem, das den Druck registrierte und vermittelte, worfen worden wie die Schwarzen. Jede Änderung ihrer Stellung
und das die Reformen zugestand. Die Schwarzen im Süden trotz- im ökonomischen System bedeutete in der Regel nur die Ablösung
ten ihre politische Gleichberechtigung einer nationalen Demokra- einer Form äußerster Unterdrückung durch eine andere: vom Skla-
tischen Partei ab, die sich jahrzehntelang eisern geweigert hatte, ven zum Pachtbauern; vom Pächter zur untersten Schicht einer
sich in die Kastenverhältnisse des Südens einzumischen. In einer sich herausbildenden »freien« Landarbeiterklasse; und schließlich
Serie von Maßnahmen, die Mitte der sechziger Jahre ihren Höhe- zum städtischen Proletarier, dessen Status von niedrigen Löhnen
punkt fand, zwangen dann Demokratische Präsidenten und ein und hoher Arbeitslosigkeit gekennzeichnet war. Kurzum: der
von den Demokraten beherrschter Kongreß dem Südstaaten-Flü- »Fortschritt« führte die schwarzen Armen von der Sklavenarbeit
gel ihrer eigenen Partei politische Reformen auf. zu niedrigbezahlter Lohnarbeit und (für viele) zu Arbeitslosigkeit.
Wir sind der Ansicht, daß die Bürgerrechtsbewegung aufgrund In allen Perioden der amerikanischen Geschichte hat es Konflikte
der Auswirkungen, die ihre explosiven Taktiken auf das politische zwischen den herrschenden Weißen um die Kontrolle der sich ver-
Wahlsystem hatten, eine entscheidende Kraft in diesem Prozeß dar- ändernden Formen ökonomischer Ausbeutung der Schwarzen
stellte. Indem sie sich gegen die Vorherrschaft einer Kaste auflehnte gegeben : angefangen bei der Debatte der Väter der Verfassung, ob
und damit Südstaaten-Weiße zur Anwendung terroristischer Schwarze als Menschen oder Eigentum anzusehen seien; über den
Methoden provozierte, die ihre Legitimation verloren hatten, Streit um die territoriale Ausdehnung der Sklaverei (»free soil«),
gelang es der Bürgerrechtsbewegung, die politische Instabilität, die aus dem der Bürgerkrieg entstand; die unentschiedene Präsident-
die ökonomische Modernisierung im Süden hervorgerufen hatte, schaftswahl zwischen Hayes und Tilden und den »Kompromiß von
noch weiter zu verschärfen. Die nationale Demokratische Partei 1877«, der die Hegemonie der Weißen und der Demokratischen
war der Leidtragende dieser politischen Konflikte und abnehmen- Partei im Süden wiederherstellte; bis zu den Jahren des »massiven
den Parteiloyalität. In den Nachkriegsjahren waren ihre Wähler- Widerstandes«, den die südstaatlichen Eliten nach dem Zweiten
mehrheiten in dem Maße geschrumpft, wie die Polarisierung zwi- Weltkrieg der Bundesregierung entgegensetzten.
schen den weißen Südstaatlern einerseits und den Schwarzen sowie In jeder dieser Epochen benutzten aufsteigende Eliten die natio-
liberalen Weißen aus dem Norden andererseits zunahm. Als dann nalen wie lokalen Staatsapparate, um die Unterdrückung der
in den fünfziger Jahren der schwarze Angriff auf das Kastensystem Schwarzen sicherzustellen. Der gesamte Staatsapparat — Legisla-
Gestalt annahm und die Gefühle in Nord und Süd noch weiter tive, Judikative wie Exekutive — wurde mobilisiert, um die Kasten-
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ordnung des Südens und die Segregation und Diskriminierung im unterschieden. Legale Sklaverei war zwar nicht mehr möglich, ein
Norden zu erhalten. Parlamente verabschiedeten Gesetze, die den relativ ähnlicher Status ökonomischer Leibeigenschaft aber war
Schwarzen politische Rechte vorenthielten, und weigerten sich, es sehr wohl. Im letzten Drittel des 19. und in den ersten Jahren
private Institutionen daran zu hindern, den Schwarzen ökono- des 20. Jahrhunderts schufen die südstaatlichen Eliten bei still-
mische und soziale Rechte zu versagen; die Gerichte knüpften ein schweigender Billigung durch ihre nördlichen Partner das politi-
feines Netz von Entscheidungen, die das Vorgehen der beiden sche Herrschaftssystem, mit dessen Hilfe sie die Schwarzen in fak-
anderen staatlichen Gewalten und der privaten Institutionen legiti- tische Leibeigenschaft zwingen konnten. Diese Bestimmung der
mierte; die staatliche Exekutive schließlich bediente sich ihrer ökonomischen Rolle der Schwarzen war auch entscheidend für den
Machtmittel, vor allem ihres Gewaltapparates, um die Interessen Platz, den die armen Weißen in der Südstaatenökonomie zugewie-
privater Eliten an der Ausbeutung der schwarzen Arbeitskraft zu sen bekamen.
schützen. Der Rückzug der Bundestruppen im Jahre 1877 erlaubte dem
Die speziellen Arrangements, mit denen der Staatsapparat wäh- Süden, die alten Kastenverhältnisse zwischen Schwarzen und Wei-
rend der vergangenen hundert Jahre die ökonomische Unterjo- ßen weitgehend wiederherzustellen. Diese gesellschaftliche Trans-
chung der Schwarzen stützte, hatten ihren Ursprung in der Zeit formation wurde auf einzelstaatlicher wie lokaler Ebene durch die
nach der Rekonstruktionsperiode (»Reconstruction« wird die Zeit Gewalt des Mobs und der Polizei, durch legislative Maßnahmen
der politischen Reorganisierung der Südstaaten nach dem Bürger- und Gerichtsentscheidungen vollzogen — ein Vorgang, der im
krieg genannt; sie dauerte von 1867 bis 1877 - d. Ü.). Die Erfolge gesamten Norden und auch von der Bundesregierung stillschwei-
des Bürgerkrieges und der Rekonstruktionsphase waren im Prin- gend oder sogar ausdrücklich gebilligt wurde.
zip erheblich gewesen. Die Schwarzen waren mit der Verkündung Zum Symbol weißer Gewalt gegen die Schwarzen wurde der
der Emanzipation aus der Sklaverei befreit worden; zudem war Lvnchmob. Die Gewalt des Mobs war das elementarste Mittel, mit
1868 der vierzehnte Verfassungszusatz verabschiedet worden, der dem die Schwarzen nach der Rekonstruktionsphase wieder zur
den Anspruch auf rechtsstaatliche Behandlung und gleichen Leibeigenschaft gezwungen wurden. »... es gibt eine Unzahl von
Schutz durch das Gesetz gewährleistete. Zwei Jahre später garan- Belegen für die Rassenkonflikte dieser Zeit, für die Gewalt, die
tierte der fünfzehnte Verfassungszusatz allen Bürgern das Wahl- Brutalität, die Ausbeutung. In den achtziger und neunziger Jahren
recht, ungeachtet ihrer Rasse oder anderer Merkmale. Im Jahre erreichten die Lynchmorde das größte Ausmaß in der Geschich-
1875 wurde das Bürgerrechtsgesetz verabschiedet, das den »glei- te dieses Verbrechens.« (Woodward, 1974, 43) (In den folgenden
chen Genuß« öffentlicher Einrichtungen gewährleistete. Um die 7o Jahren registrierte die »National Association for the Advance-
Jahrhundertwende waren die meisten dieser Gewinne jedoch wie- ment of Colored People« [NAACP] nahezu 5000 bekanntgewordene
der verloren, und nach dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Fälle von Lynchmord.) Die Mobs setzten sich natürlich hauptsäch-
waren sie vollständig vom Tisch. lich aus armen Weißen zusammen, was Cox zu der Schlußfolge-
»Der Rassismus«, hat Arnold Rose gesagt, »entstand als amerika- rung führte, »die armen Weißen selbst können als das Hauptin-
nische Ideologie teilweise in Reaktion auf die Notwendigkeit, ein strument der herrschenden Klasse zur Unterdrückung der Neger
verläßliches und dauerhaftes Arbeitskräftereservoir für das schwie- angesehen werden« (536). 4 Aber auch die Polizei der Südstaaten
rige Geschäft des Baumwollanbaus zu unterhalten ...« (xviii) Diese erwarb sich landesweite Berühmtheit durch ihre Terrorakte gegen
wirtschaftliche Notwendigkeit bestand auch nach der Sklaven- die Schwarzen. Zuweilen standen sie an der Spitze der Lynchmobs.
emanzipation unvermindert fort. Die Ökonomie der Südstaaten Noch häufiger gaben sie einfach deutlich zu erkennen, daß sie Aus-
lag in Scherben; die Restauration des Plantagensystems hing davon schreitungen weißer Mobs nicht unterbinden würden. (Und der
ab, ob wieder ein verläßliches und dauerhaftes Arbeitskräftereser- Kongreß lehnte es bis nach dem Zweiten Weltkrieg ab, Lynchmord
voir gesichert werden konnte: Arbeiter, die unter Bedingungen zu einem Verbrechen zu erklären, das gegen Bundesgesetze ver-
arbeiten würden, welche sich von denen der Sklaverei nur wenig stößt.)

206 207
Ende des r9. Jahrhunderts waren in vielen Bundesstaaten Gesetze »Obwohl die Pflanzer im Bürgerkrieg viel verloren, erhielten sie doch
erlassen worden, die die Schwarzen isolierten, stigmatisierten und gewisse Kompensationen. ... Das neue Ausbeutungssystem, das auf der
damit ihre ökonomische Ausbeutung rechtfertigten.5 Schon bald >freien< Lohnarbeit aufbaute, ließ sich auch auf die armen Weißen ausdeh-
überzog die Rassentrennung jeden einzelnen Lebensbereich, von nen. Mit der zunehmenden Konzentration in der Landwirtschaft der Süd-
staaten verloren Hunderttausende kleiner, weißer Farmer ihr Land. Viele
den Schulen bis zu den Friedhöfen. Die Gesetzgebung fand die zogen in die Stadt, um dort Arbeit zu finden; doch viele andere wurden zu
Unterstützung des Obersten Gerichtshofs, der 1883 das Bürger- Lohnarbeitern oder Landpächtern auf den Plantagen. Sie wurden dort der-
rechtsgesetz von 1875 für verfassungswidrig erklärte; im Jahre 1896 selben extremen Ausbeutung unterworfen wie die farbige Landbevölke-
schuf er dann mit einer Entscheidung, die die Rassentrennung für rung.« (71)
ein halbes Jahrhundert festschreiben sollte, die rechtliche Fiktion,
daß Rassentrennung nicht in Widerspruch zum vierzehnten Verfas- Der »Kompromiß von 1877« markierte den Beginn nördlicher
sungszusatz stehe, solange die Einrichtungen für die Schwarzen Tolerierung der politischen Praxis der Südstaaten; eine Toleranz,
denen der Weißen gleichwertig seien. Schließlich wurde auch noch die auch durch die erneute Unterdrückung der Schwarzen gegen
das Wahlrecht der Schwarzen durch eine Reihe von Maßnahmen Ende des r9. Jahrhunderts nicht erschüttert wurde. Dies lag zum
Teil daran, daß der US-Kapitalismus in eine neue Phase eingetreten
zunehmend eingeschränkt, z. B. durch Überprüfung von Bildungs-
stand und Eigentumsverhältnissen, durchWahlsteuern und »Groß- war — den Imperialismus —, und die Ideologie des Rassismus jetzt
auch im Norden wichtiger wurde:
vater-Klauseln« (die nur denjenigen erlaubten zu wählen, deren
Vorfahren auch schon gewählt hatten). All diese Maßnahmen wur- »... im Jahre 1898 stürzten sich die Vereinigten Staaten unter der Führung
den vom Obersten Gericht ermuntert, das 1898 eine Verordnung der Republikanischen Partei in imperialistische Abenteuer in Übersee.
des Staates Mississippi, die den Schwarzen das Wahlrecht entzog, Diese Abenteuer im Pazifik und in der Karibik brachten plötzlich etwa acht
für verfassungskonform erklärte. Millionen Menschen farbiger Rassen unter die Hoheit der USA.... Nun, da
Um 1910 hatte die Bewegung zur Wiederherstellung der alten Amerika sich >des weißen Mannes Last< auf die Schultern lud, eignete es sich
Kastenordnung auf der ganzen Linie gesiegt. Die Bewegung hatte auch viele der südstaatlichen Einstellungen in der Rassenfrage an. ... Als
das neue Jahrhundert am Horizont aufzog, wurde der Rassismus des
in praktisch jedem Bereich des öffentlichen Lebens Unterstützung
Südens von einer wachsenden Woge nationalistischer Stimmung getragen,
gefunden: von den desillusionierten agrarischen Radikalen bis hin und er war nicht zuletzt selbst Teil dieser Stimmung.« (Woodward, 1974,
zu den konservativsten Vertretern der Plantagenbesitzer. Doch am 72-74)
wichtigsten war, daß die Bewegung auch die Masse der armen Wei-
ßen für sich gewinnen konnte, die sich von ihren verschiedenen Ohne Land, ohne Bildung und ohne Schutz durch Gesetz oder
Führern dazu verleiten ließen, Maßnahmen gegen das Wahlrecht Politik fanden sich die Schwarzen zu Beginn des Jahrhunderts wie-
der Schwarzen — wie Wahlsteuern und Bildungstests — zu unterstüt- der zur Knechtschaft verurteilt. Ermöglicht worden war all dies
zen, obwohl viele von ihnen selbst davon betroffen waren. Ermög- durch die stillschweigende nationale Billigung des gesamten Spek-
licht wurde dies durch den großen Erfolg, mit dem die herrschende trums von Mechanismen, die das Kastensystem des Südens aus-
Klasse des Südens die ökonomische Konkurrenz zsvischen Schwar- machten. Die Bundesregierung intervenierte weder, um die harsche
zen und Weißen für sich ausnutzte. Denn: »Die Südstaaten->Aristo- Ausbeutung der schwarzen Arbeitskraft zu mildern, noch um die
kratie< ... könnte ohne den Haß, den sie zwischen den weißen und sozialen und politischen Strukturen, die die Ausbeutung ermög-
schwarzen Massen schürt, nicht existieren, und sie [ist] sich dieser lichten, zu verändern. Das Resultat war die Konsolidierung einer
Tatsache durchaus bewußt.« (Cox, 577) Die armen Weißen mußten herrschenden Klasse im Süden, die die Lebensverhältnisse der
ihren Haß teuer bezahlen, denn viele von ihnen verloren nicht nur Bevölkerung fest im Griff hatte und sich bis in die Zeit nach dem
mancherlei politische Rechte, sondern gerieten außerdem in einen Zweiten Weltkrieg nur schwacher Opposition ausgesetzt sah. »Das
Zustand ökonomischer Leibeigenschaft, der sich nicht sehr von der Einparteiensystem des Südens ... und die nur geringe politische
Lage der Schwarzen unterschied. So schreibt Perlo: Partizipation sogar der weißen Bürger begünstigen ein de facto olig-
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archisches Regime«, betont Mydral. »Diese Oligarchie besteht Die ökonomische Modernisierung des Südens
aus den Großgrundbesitzern, den Industriellen, Bankiers und
Kaufleuten. Konzerne aus dem Norden, die in der Region investie- Als sich zu Beginn des zo. Jahrhunderts die Kastenordnung im
ren, haben Anteil an der von dieser Gruppe ausgeübten politischen Süden konsolidierte, waren schon weitreichende ökonomische
Kontrolle.« (453) Kräfte am Werk, die diese Ordnung mit der Zeit zerstören sollten.
Unter den totalitären Bedingungen im Süden, die bis zum Zwei- Für unsere Analyse besteht die wichtigste Auswirkung dieser öko-
ten Weltkrieg herrschten, konnte eine Widerstandsbewegung nomischen Entwicklung in einer dramatischen Veränderung
weder entstehen noch gar Konzessionen erzwingen. Die ökonomi- schwarzer Erwerbstätigkeit in Verbindung mit ihrer massenhaften
schen Interessengruppen konnten willkürlich Arbeitskräfte entlas- Abwanderung aus dem Süden in die Städte des Nordens. Was den
sen, Familien auf die Straße setzen und Kredite vorenthalten; weiße ersten Punkt betrifft: »Während der Sklaverei waren praktisch alle
Mobs konnten willkürlich lynchen und niederbrennen; die Polizei Schwarzen in der Landwirtschaft oder als Domestiken beschäftigt.
konnte prügeln, verstümmeln und töten; Politiker konnten die Das galt auch 19oo noch für 87% und 19to für 80% der Schwarzen.
Miliz in Marsch setzen und die Gerichte willkürliche Gefängnis- Iin Jahre 196o aber waren nur noch re/0 in der Landwirtschaft und
strafen verhängen. Alle den öffentlichen und privaten Eliten zur 15% im Haushalt tätig.« (Ross, 31) Was die Migrationsbewegung
Verfügung stehenden Zwangsmaßnahmen wurden in ihren ungezü- betrifft, lebten zu Beginn des zo. Jahrhunderts mehr als 9o% der
geltsten und offensten Formen durchgeführt, um die Schwarzen Schwarzen im Süden; 196o lebte die Hälfte von ihnen im Norden.
gefügig zu machen. Die »Welt der Farbigen war«, wie Lomax es for- Im Verlauf von etwa mehr als einem halben Jahrhundert hatte sich
mulierte, »ein Getto der Angst« (55). Dabei waren Anlässe, da die Beschäftigungssituation der Schwarzen grundlegend verändert,
Gewalt angewendet werden mußte, nicht einmal häufig. Offene waren große Teile der schwarzen Bevölkerung vom agrarischen
Auflehnung wurde schon von vornherein durch die Sozialisations- Süden in den industriellen Norden abgewandert.
mechanismen der Südstaatengesellschaft unterbunden — durch das Diese Verschiebungen wurden in groben Umrissen durch die fol-
Bildungssystem, die religiösen Institutionen, die Medien und eine genden Faktoren verursacht: durch die industrielle Expansion des
Kultur, die von den Symbolen weißer Vorherrschaft geprägt war. Nordens zu Beginn des 20. Jahrhunderts; durch den Verfall der
Alles war darauf abgerichtet, den Schwarzen die Überzeugung zu Agrarmärkte nach dem Ersten Weltkrieg, in Verbindung mit einer
vermitteln, ihr Schicksal sei das einzig rechtmäßige oder zumindest seit den dreißiger Jahren verfolgten Landwirtschaftspolitik des
das einzig mögliche. Die Unterdrückungs- und Sozialisationsme- Bundes, die eine starke Einschränkung der Anbaufläche zur Folge
chanismen waren so perfekt, daß Auflehnung einfach unvorstellbar hatte; und durch das schnelle Tempo landwirtschaftlicher und
schien. industrieller Modernisierung der Südstaaten während und nach
Selbst wenn die Schwarzen sich in irgendeiner Form erhoben hät- dem Zweiten Weltkrieg. Die industrielle Expansion des Nordens
ten, wären sie blutig niedergeschlagen worden, solange die Bundes- begann der Landwirtschaft und dem gesamte Süden zu Beginn des
regierung diese regionalen Verhältnisse deckte. Gegen die Allianz Jahrhunderts viele Schwarze zu entziehen. »Nach der Jahrhundert-
zwischen Bundesregierung und südlichen Länderregierungen und wende«, schreibt Ross, »blühte die amerikanische Industrie voll
Lokalverwaltungen war nicht anzukommen. Um diese Komplizen- auf. Von durchschnittlich 13 Milliarden Dollar pro Jahr im letzten
schaft zu zerstören, bedurfte es grundlegender Veränderungen, Jahrzehnt des r9. Jahrhunderts stieg das Bruttosozialprodukt ...
einer großen Transformation. Die ökonomische Modernisierung auf 4o Milliarden in der Periode zwischen r9o9 und 1918. Die
im Süden war schließlich diese umwälzende Kraft, eine Kraft, die Gesamtbeschäftigung stieg von einem Jahresdurchschnitt von 27
allmählichen Einfluß auf die nationale Politik gewann und damit Millionen zwischen 1889 und r898 auf 39 Millionen zwischen 19°8
den Boden für eine schwarze Widerstandsbewegung bereitete. und 1918.« (II) Mit dem Ausbruch des Krieges in Europa ging die
Einwanderung, die als Hauptlieferant der Arbeitskräfte für die
expandierende Industrie gedient hatte, stark zurück. Die nördliche
210 21I
Industrie wandte sich bei ihrer Suche nach Arbeitskräften nun nach tar auf 88 Hektar.' Gemeinsam bewirkten die Mechanisierung, die
Süden. Die erste große Abwanderungswelle von Schwarzen aus neuen Agrartechnologien, die Maßnahmen der Bundesregierung
dem Süden der USA setzte ein: zwischen 19 to und I92o zogen rund zur Verknappung der Anbaufläche und die Konzentration des
eine halbe Million Schwarze in nördliche und westliche Bundes- Grundbesitzes eine dramatische Veränderung der landwirtschaftli-
chen Beschäftigung in den Südstaaten.
staaten.'
Unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ging die Nachfrage nach Das Heer der traditionellen Kleinpächter des Südens wurde
zunehmend obsolet und sah sich gezwungen, seinen Lebensunter-
landwirtschaftlichen Produkten aufgrund der gekürzten Kriegsex-
porte und Einwanderungsbeschränkungen stark zurück. Für die halt woanders zu verdienen. Die freigesetzte weiße Landbevölke-
Landarbeiter brachen damit extrem harte Zeiten an. Die Not rung fand in der sich entwickelnden Textilindustrie und verwand-
erreichte während der Großen Depression katastrophale Ausmaße. ten Branchen Beschäftigung. Die Schwarzen aber blieben von der
Der Zusammenbruch des Agrarmarktes sowie die Politik des New Fabrikarbeit weiterhin ausgeschlossen. Diese diskriminierenden
Deal, landwirtschaftliche Überschüsse durch Produktionsein- Beschäftigungspraktiken leisteten den Unternehmern im Süden
schränkungen abzubauen, vertrieben überall in den USAMillionen (wie im Norden) gute Dienste. Die schwarze industrielle Reserve-
Menschen vom Land. Im Süden, wo noch immer die überwälti- armee diente als beständige Drohung, mit der Forderungen weißer
gende Mehrheit der Schwarzen lebte, ging »die tatsächlich kulti- Arbeiter nach höheren Löhnen und gewerkschaftlicher Organisie-
vierte Anbaufläche für Baumwolle ... von 17,4 Millionen Hektar im rung leicht abgewiesen werden konnten. Indem sie die Schwarzen
ausschlossen, ließen die Industrieunternehmer »die unterbezahl-
Jahre 1929 auf 9,3 Millionen Hektar im Jahre 1939 zurück. Neger
aller Schichten — Landbesitzer, Pächter und Landarbeiter — wurden ten weißen Arbeiter mit ihrem >überlegenen< Status zufrieden«
in großer Zahl entwurzelt ...« (Ross, 14) Unter den herrschenden sein, und »drohten implizit damit, die Weißen durch Neger zu
Bedingungen war Abwanderung für viele die einzige Wahl. 194o ersetzen, sollten sie >Schwierigkeiten< machen« (Perlo, 99). Nied-
lebte dann schon fast ein Viertel (nämlich 23%) der Schwarzen rige Löhne und eine gefügige Arbeiterschaft wiederum förderten
die industrielle Expansion, denn die verfügbare billige Arbeitskraft
außerhalb des Südens.
Der Zweite Weltkrieg setzte dem Niedergang der Landwirtschaft im Süden veranlaßte Kapital aus dem Norden, zunehmend in gro-
zwar ein Ende, gab aber gleichzeitig den Anstoß zu Modernisie- ßem Stil, in der Region zu investieren.
Für unsere Analyse hatte der relative Ausschluß der Schwarzen
rung in großem Stil:
von der Beschäftigung in der Südstaatenindustrie eine weitere Kon-
»Der Boom durch die Kriegsvorbereitungen im Zweiten Weltkrieg gab den sequenz von großer Bedeutung: vielen Schwarzen blieb kaum eine
südstaatlichen Gutsherren noch einmal neue Lebenskraft — die Baumwoll- andere Wahl, als nach Norden zu wandern. Es darf allerdings nicht
preise stiegen, ebenso die Profite, die sich mit der Arbeit der Pächter und
übersehen werden, daß eine ganze Reihe von Schwarzen auch in die
Lohnarbeiter erzielen ließen. Gleichzeitig beschleunigte die Hochkonjunk-
tur die Technisierung der südlichen Landwirtschaft. Mit der Ausdehnung
Städte des Südens zog, was dazu führte, daß 196o nur noch ca. 4o%
rein kapitalistischer Produktionsmethoden in der Landwirtschaft, die sich der Schwarzen im Süden in ländlichen Gebieten lebten. Ihr Leben
mit einem im Süden bislang unbekannten Tempo vollzog, ... wurde um so in den Städten war jedoch von großem wirtschaftlichen Elend
deutlicher, welch Anachronismus die Quasi-Sklavenarbeit der Landpächter geprägt: sie bildeten die unterste Schicht des urbanen Proletariats
war, die die Felder noch immer in harter Handarbeit und mit Mauleseln und fanden Arbeit meist nur in Bereichen, die als für Weiße »nicht
beackerten.« (Perlo, 13) geeignet« galten (wie beispielsweise Hausarbeit und andere unge-
Die Modernisierung der südstaatlichen Agrarwirtschaft leitete lernte Dienstleistungsarbeiten). So übten die Lebensverhältnisse
außerdem einen verstärkten Konzentrationsprozeß ein. Obwohl auf dem Land wie in der Stadt unerbittlichen Druck auf die Schwar-
die landwirtschaftlich genutzte Fläche zwichen 194o und 1960 nur zen aus, nach Norden zu entfliehen. Die Folge war der größte
wenig schrumpfte, verringerte sich die Zahl der Farmen fast um die Exodus schwarzer Landarbeiter in der amerikanischen
Hälfte; die durchschnittliche Farmgröße stieg von knapp 5o Hek- Geschichte: »In den zehn Jahren zwischen 194o und 1950 verließen
213
212
über 1,5 Millionen Neger den Süden, und weitere eineinhalb Mil- Bedarf an Arbeitskräften zu befriedigen. Das bedeutet nicht, daß
lionen folgten im nächsten Jahrzehnt ... Die Netto-Abwanderung der untergeordnete Status der Schwarzen nicht auch weiterhin als
der Weißen betrug dagegen in den vierziger Jahren nur o,i'Vo und in nützliches Instrument zur Sicherung maximaler Profite diente. Die
den fünfziger Jahren 47°/0.« (Henderson, 83) 9 Dieser Trend hielt gezielte Verschärfung der Konkurrenz der Rassen auf dem Arbeits-
weiter unvermindert an, und so stieg der Anteil der Schwarzen markt war aber eine Strategie, die schon seit langem von Arbeitge-
außerhalb des Südens von 23% im Jahre 194o auf fast 5o% Mitte bern im Süden wie im Norden benutzt wurde, um die Arbeiter
der sechziger Jahre. Der Süden hatte jetzt einen großen Teil seines unter Kontrolle zu halten, und keineswegs mit einem Kastensy-
überschüssigen Arbeitskräftereservoirs auf andere Regionen des stem gleichzusetzen. Kurzum: die Kastenordnung des Südens
Landes verteilt. wurde mit der Zeit als ein System zur Beschaffung und Kontrolle
All diese Veränderungen produzierten ein erstaunliches Resultat: von Arbeitskräften obsolet.
» 191c lebten 75% der schwarzen Bevölkerung Amerikas auf dem Zudem hatte der weiße Südstaatler, ungeachtet seiner Klassenlage,
Lande und 9o% lebten im Süden. [Mitte der sechziger Jahre] lebten in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg weniger Grund, die
dann drei Viertel in Städten und die Hälfte außerhalb der Südstaa- Ausweitung der politischen Rechte, einschließlich des Wahlrechts,
ten.« (Foner, 3z5) Im Laufe weniger Jahrzehnte war eine unter- auf die Schwarzen zu fürchten, nahm doch deren Anteil an der Ge-
drückte südstaatliche Landbevölkerung in ein verelendetes städti- samtbevölkerung des Südens aufgrund der schwarzen Migrations-
sches Proletariat verwandelt worden. bewegung nach Norden kontinuierlich ab. Wie groß die wahlpoliti-
Im Zuge der massiven Veränderungen in Landwirtschaft und In- sche Bedrohung durch die Schwarzen auch immer gewesen sein
dustrie verlor auch das auf Terror und politischer Entmündigung mag, durch die Umsiedlung wurde sie erheblich verringert.
aufgebaute Herrschaftssystem des Südens an Bedeutung: es war Während im Süden die ökonomische Modernisierung voran-
für die profitable Deckung des Arbeitskräftebedarfs der herrschen- schritt, fanden im Norden andere Veränderungen statt, die eben-
den Klasse nicht mehr wesentlich. Die ökonomische Modernisie- falls zu einer Schwächung der Opposition gegen die Ausweitung
rung hatte den Süden, mit anderen Worten, für die politische formeller Rechte auf die Schwarzen führten. Wie wir schon an-
Modernisierung zugänglich gemacht. In der großflächig mechani- gemerkt haben, waren die imperialistischen Abenteuer des ameri-
sierten Landwirtschaft, die sich im Süden entwickelte, wurde das kanischen Kapitalismus zu Anfang des zo. Jahrhunderts zum Teil
tradierte System faktischer Leibeigenschaft langsam von Marktan- durch eine rassistische Ideologie gerechtfertigt worden, die weit-
reizen abgelöst. Die Nachfrage nach Lohnarbeitern stieg, vor allem gehend aus dem Süden geborgt worden war. Der Aufstieg des
nach qualifizierten Arbeitskräften, die mit Maschinen umzugehen Kommunismus drängte die USA jedoch in eine heftige Konkur-
wußten. Der Übergang zur Lohnarbeit wurde zum großen Teil renz um die Vorherrschaft in der Welt; um diesen Kampf erfolg-
vom Mechanisierungsprozeß in der Landwirtschaft selbst begün- reich bestehen zu können, bedurfte es einer Ideologie von »Demo-
stigt, da er beständig für die Freisetzung neuer Arbeitskräfte kratie« und »Freiheit Als in der Nachkriegszeit der »Kalte Krieg«
sorgte. Die ständig drohende Arbeitslosigkeit war zugleich ein ausbrach, kam diese Ideologie in den internationalen Beziehungen
zwingendes Argument für die Landarbeiter, Lohnarbeit auf der zu voller Blüte. Die Zustände in den Südstaaten waren dabei für
von den Pflanzern diktierten Basis zu akzeptieren. die Nation als ganze zunehmend peinlich, und so schwand die
In den sich entwickelnden Industriegebieten des Südens bildete Unterstützung der ökonomischen Eliten für diese Ordnung lang-
sich, besonders während und nach dem Zweiten Weltkrieg, eine sam dahin. Die Erfordernisse des Imperialismus, die einst bei
neue kapitalistische Klasse heraus. Sie war mit den Großkonzernen der erneuten Knechtung der Schwarzen mitgewirkt hatten, tru-
des Nordens eng verbunden, denn ein erheblicher Teil der Indu- gen in einer anderen Epoche zu ihrer Befreiung aus der Knecht-
strieunternehmen des Südens wurde von nördlichem Kapital initi- schaft bei.
iert und kontrolliert. Diese neue, städtische industrielle Klasse ver- Außerdem sank nach dem Zweiten Weltkrieg die Bedeutung des
ließ sich hauptsächlich auf die Mechanismen des Marktes, um ihren heimischen Rassismus für den Kapitalismus der Nordstaaten. Als
214 215
Anfang des Jahrhunderts die Zahl der Schwarzen in den Industrie- »nur noch Ausdruck traditioneller psychologischer Strukturen«
zentren wuchs, hatten die Unternehmer beständig Schwarze gegen gewesen, dennoch hatte die Bemerkung einen großenWahrheitsge-
Weiße ausgespielt und die Rassenprobleme verschärft, um die Soli- halt (xxvi).
darität der Arbeiterklasse zu schwächen. Wie erfolgreich diese Stra-
tegie war, läßt sich am Ausbruch von Gewaltaktionen weißer Mobs
gegen Schwarze nach dem Ersten Weltkrieg ablesen: »In den letz- Ökonomische Modernisierung und parteipolitische
ten sechs Monaten des Jahres 1919 brachen in amerikanischen Städ- Instabilität
ten rund 25 Rassenunruhen aus« — Folge der Arbeitslosigkeit nach
Drosselung der Kriegsproduktion und der Rückkehr der Soldaten. Indem der ökonomische Wandel das Interesse der Eliten aus Indu-
»Mobs kontrollierten tagelang die Städte, prügelten, legten strie und Landwirtschaft an der Erhaltung der Kastenordnung
Brände, schossen und folterten, soviel sie wollten. ... Im ersten schwächte, erlaubte er der nationalen politischen Führung, gegen
Jahr nach Kriegsende wurden mehr als siebzig Neger gelyncht, diese Ordnung vorzugehen. In den vierziger und fünfziger Jahren
einige von ihnen waren heimkehrende Soldaten, die noch ihre Uni- des zo. Jahrhunderts war die Fortdauer der Kastenordnung nur
form trugen.« (Woodward, 1974, 14) Allmählich wurden die noch eine Frage der öffentlichen Meinung. In Abwesenheit signifi-
Schwarzen wieder aus vielen Industriezweigen, in denen sie wäh- kanter Opposition von ökonomischen Machtgruppen ging es nur
rend des Krieges Beschäftigung gefunden hatten, herausgedrängt darum, ob Loyalitätsverschiebungen großer Teile der Wählerschaft
und überdies von den Gewerkschaften ausgeschlossen. Um überle- genügend Druck erzeugen würden, um fi_ihrende Politiker auf
ben zu können, waren die Schwarzen um so stärker darauf ange- Bundesebene zum Handeln zu zwingen. Die Arena, in der dieses
wiesen, mit gewerkschaftsfeindlichen Arbeitgebern gegen weiße Drama allmählich zunehmender wahlpolitischer Konflikte und
Arbeiter zu kooperieren. Das Problem nahm solche Ausmaße an, Loyalitätsverschiebungen ausgetragen wurde, war die Demokrati-
daß die »National Urban League« sich 1919 genötigt sah, politische sche Partei.
Leitlinien zu erlassen, die vage genug waren, »um ihren autonomen Seit den Jahren nach der Rekonstruktionsphase war der Süden mit
Ortsgruppen zu erlauben, nach eigener Beurteilung der Lage zu seinem Einparteiensystem das regionale Fundament der nationalen
handeln — entweder Gewerkschaften zu unterstützen und mit Demokratischen Partei. Wiederholte Versuche der Republikaner,
ihnen zusammenzuarbeiten, oder Neger als Streikbrecher abzu- ihre politischen Chancen zu verbessern, indem sie eine »südliche
stellen oder aber neutral zu bleiben«, wenn es zu Auseinanderset- Strategie« entwickelten — die entweder eine Koalition von weißen
zungen kam (Meier, 1967, 175). und schwarzen Südstaatlern schmieden, oder nur die Stimmen der
Als der Zweite Weltkrieg hereinbrach, hatten sich die Kapitalisten konservativen Weißen auf sich ziehen wollte —, zerschellten regel-
des Nordens jedoch weitgehend mit der gewerkschaftlichen Orga- mäßig an dem haßerfüllten Rassismus, den die Demokratischen
nisierung der Industriearbeiter abgefunden; dementsprechend Politiker des Südens und die ökonomischen Eliten, denen sie dien-
hatte die Ausbeutung von Rassenkonflikten ihre alte Nützlichkeit ten, verbreiteten. Die armenWeißen im Süden wurden — ungeachtet
verloren. Dieser Wandel — zusammen mit der Notwendigkeit, der ihrer populistischen Neigungen — auch im zo. Jahrhundert von
kommunistischen Herausforderung auf internationaler Bühne mit einer tiefverwurzelten Angst vor den Schwarzen geleitet und
einer liberaleren Rassenideologie zu begegnen — untergrub die ortientierten sich nach wie vor an den geringen ökonomischen Vor-
Unterstützung, die das südstaatliche Kastenwesen bei den herr- teilen und dem höheren sozialen Status, die sie aufgrund der Ka-
schenden ökonomischen Gruppen des Nordens genossen hatte. Zu stenordnung genossen. Folglich schlugen sich die armen Weißen
Beginn der fünfziger Jahre hatte das Kapital in Nord und Süd dann auch weiterhin auf die Seite der herrschenden Klasse im Süden und
keine entscheidenden Gründe mehr, dem Trend zur politischen ordneten ihre eigenen Klasseninteressen dem übergreifenden
Modernisierung der Südstaaten entgegenzuwirken. Arnold Rose Bündnis gegen die Schwarzen unter.
ging sicherlich zu weit, als er bemerkte, die Kastenordnung sei Die politische Neuordnung der Demokratischen Partei im Jahre
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r932 hatte keinerlei Einfluß auf die südstaatliche Politik, denn in Deal als eine Bedrohung ihrer umfassenden Kontrolle über die
der nationalen Koalition fanden sich die Industriearbeiter des Nor- Lebensverhältnisse in den Dörfern und Kleinstädten:
dens und der Einparteien-Süden zusammen. Doch schon früh ent- »Für diese Leute bedrohte der New Deal eine Machtposition, die auf der
wickelten sich zwei Spannungsherde in dieser Allianz. Kontrolle des Eigentums, der Arbeitskraft, des Kreditwesens und der
Zum einen schlossen sich 1936 die städtischen Schwarzen aus dem Lokalverwaltungen beruhte. Sozialffirsorge verminderte die Abhängigkeit
Norden der Koalition an. Durch diese Entwicklung wurde das [vom Arbeitgeber]; staatlich festgesetzte Arbeitsnormen erhöhten die
»amerikanische Dilemma« zu einem Dilemma der Demokraten, Löhne; Agrarprogramme brachten das Pflanzer-Pächter-Verhältnis durch-
nachdem es für mehr als ein halbes Jahrhundert ein Republikani- einander; Regierungskredite umgingen die Bankiers; Bundesprogramme
sches Dilemma gewesen war. So wie die Rassenfrage die Partei Lin- entzogen sich dem Einfluß der Bezirksämter und manchmal sogar der Län-
derbehörden.« (Tindall, 31)
colns geplagt hatte (vor allem die Präsidentschaftsanwärter der Par-
tei, die sich auf den Nominierungskonventen mit Delegationen Die ökonomischen Interessengruppen des Südens verschmähten
nördlicher und südlicher Schwarzer herumzuschlagen hatten), natürlich nicht diejenigen New Deal-Programme, von denen sie
sollte sie nun die Partei des New Deal heimsuchen — und schließlich direkt profitierten; sie opponierten nur gegen solche Programme,
entlang regionaler Grenzen spalten. deren Auswirkungen ihre Macht schmälern würden. So wurden die
Doch bevor es soweit war, vergingen mehrere Jahrzehnte. In der Plantagenbesitzer zum Beispiel im Rahmen der Landwirtschafts-
Zwischenzeit erhielten die Schwarzen als politische Interessen- programme des New Deal fürstlich dafür belohnt, daß sie ihre
gruppe für ihre Partizipation in der Demokratischen Partei nur Anbauflächen verringerten. Für diese Subventionen waren die
geringen Lohn: ein paar Brocken aus dem Patronagetopf der kom- Grundbesitzer dankbar, lehnten aber gleichzeitig besondere Für-
munalen Parteiorganisationen,, ein paar symbolische Gesten von sorgeleistungen des Bundes für die aufgrund der reduzierten
Demokratischen Präsidenten. 1936 hob die Demokratische Partei Anbauflächen freigesetzten Arbeitskräfte ab:
die Regel auf, daß Nominierungen mit einer Zwei-Drittel-Mehr- »Die kleinen Pächter befinden sich in einer unglaublichen Zwickmühle:
heit zu erfolgen hatten, was bedeutete, daß der Süden sein Veto bei einerseits werden sie durch die Unzulänglichkeiten des gegenwärtigen
der Bestimmung der Demokratischen Kandidaten verlor. In den Systems gezwungen, öffentliche Unterstützung zu suchen, um überhaupt
zu überleben; andererseits aber müssen sie erfahren, daß die Plantagenbe-
frühen vierziger Jahren erklärte das Roosevelt nahestehende Ober-
sitzer gegen diese Unterstützung opponieren, weil sie dadurch als Pächter
ste Gericht rein weiße Vorwahlen für verfassungswidrig, und Roo- verdorben sein könnten, falls und wenn sie wieder einmal gebraucht wer-
sevelt berief eine »Fair Employment Practices Commission« den sollten. Hinter der Haltung der Gutsbesitzer stehen noch andere Äng-
(FEPC) zur Bekämpfung diskriminierender Beschäftigungsprakti- ste: die Angst, der Pächter könnte ihrem Einfluß entzogen werden und
ken (nachdem von A. Phillip Randolph geführte Schwarze gedroht womöglich lernen, daß er nicht mit Haut und Haaren von ihnen abhängig
hatten, einen Marsch auf Washington durchzuführen). Selbst diese ist; und die Angst, die Sozialfürsorge könnte den Lebensstandard so weit
kleinen Zugeständnisse deuteten auf eine veränderte Haltung der erhöhen, daß das Aushandeln von Arbeit und Lohn schwieriger werden
Demokratischen Parteiführung in der Rassenfrage hin, was würde. Es ist unschwer zu erkennen, daß vom Standpunkt des Grundbesit-
schwere Spannungen zwischen dem Nordstaaten- und dem Süd- zers staatliche Sozialfürsorge einen demoralisierenden Einfluß hat.« (John-
son, Embree und Alexander, 52)
staatenflügel der Partei hervorrief.
Der zweite Spannungsherd entwickelte sich aus den sozial- und Infolge dieser beiden Konfliktpunkte erschienen in mehreren Süd-
wirtschaftspolitischen /vlaßnahmen des New Deal. Die New Deal- staaten bei den Wahlen von 1936 unabhängige Kandidaten auf den
Programme zur Wiederbelebung der Industrie und Erhaltung der Stimmzetteln. Obwohl noch ein Jahrzehnt vergehen sollte, bevor
Massenloyalität provozierten einen offenen Konflikt mit den tradi- die Praxis um sich griff, parteiunabhängige oder nicht auf einen
tionellen Eliten des Südens, deren Macht auf der Plantagenwirt- Präsidentschaftsbewerber festgelegte Wahlmänner zu nominieren,
schaft fußte. Diese aus Bankiers, Kaufleuten, Farmern, Anwälten, war clide Wahl von 1936 ein Vorbote für die schweren Konflikte, die
Ärzten und Politikern bestehende Klasse betrachtete den New später über die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten in

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der Demokratischen Partei ausbrechen und sie schließlich spalten lichen Parteiflügels der Erkenntnis, daß Konzessionen an die
sollten. schwarze Bevölkerung unumgänglich würden.
Aber bei aller Opposition gegen einige der New Deal-Programme 1948 wurde die Rassenfrage zum Wahlkampfthema. Sie wäre ver-
besaßen die südstaatlichen Parteiführer nicht die Fähigkeit zur mutlich nicht schon zu diesem Zeitpunkt zum Thema eines Präsi-
Spaltung der Partei, bestanden doch kaum Aussichten, daß die Par- dentschaftswahlkampfes geworden, hätte nicht Henry Wallace mit
teibasis ihnen gefolgt wäre. Roosevelts Politik des wirtschaftlichen seiner neugegründeten »Progressive Party« einen Wahlkampf
Aufschwungs und der sozialen Reformen entsprach einer langen geführt, der vor allem auf die Stimmen der Liberalen aus dem Nor-
Tradition des ökonomischen Populismus unter der weißen Südstaa- den und der Schwarzen abzielte. Trumans Wahlkampfberater Clark
tenbevölkerung und festigte somit seinen Wählerstamm in der Clifford sorgte sich um den Rückhalt des Präsidenten in der
gesamten Region. Die in der New Deal-Periode entstandenen schwarzen Wählerschaft, allerdings nicht allein wegen Wallace.
Spannungen veranlaßten jedoch viele Kongreßabgeordnete aus Auch die Republikaner machten den schwarzen Wählern symboli-
dem Süden, Bündnisse mit den Republikanern einzugehen; dafür, sche Angebote. So warnte Clifford den Präsidenten, daß
daß Südstaaten-Demokraten progressiven Wirtschaftsmaßnahmen »die Republikaner alles nur mögliche unternehmen, um diese Wähler
und Sozialprogrammen der Demokratischen Führung Widerstand zurückzugewinnen. Er sagte voraus, die Republikaner würden in der näch-
entgegenbrachten (Maßnahmen, denen die konservativen Südstaat- sten Legislaturperiode >einen Anti-Diskriminierungsausschuß, ein Gesetz
ler allerdings ohnehin nichts hatten abgewinnen können), versag- gegen die Wahlsteuer und ein Anti-Lynch-Gesetz einbringen<. Um dem
ten die Republikaner als Gegenleistung den Bürgerrechtsvorschlä- etwas entgegenzusetzen, müsse sich der Präsident für jede von ihm für not-
wendig befundene Maßnahme >zum Schutz der Minderheitenrechte< stark
gen, die für den Süden so unannehmbar waren, ihre Unterstützung. machen. Auch wenn der Süden das nicht gern sehe, sei es doch das
Um mit diesen Spannungen in der Partei fertig zu werden, ver- >geringere von zwei Übeln<.« (Yarnell, 44) 10
mied Roosevelt frontale Konfrontationen mit dem Süden in der
Rassenfrage (zum Beispiel durch die Weigerung, Anti-Lynch- Zur selben Zeit erklärte Clifford Truman, daß »der Süden wie
Gesetzgebung zu unterstützen). Statt dessen argumentierte er, den immer als sicheres Demokratisches Territorium angesehen werden
Schwarzen sei am meisten damit gedient, sich dem New Deal kann. Bei der Formulierung nationaler Politik kann er daher ohne
gegenüber loyal zu verhalten und so in den Genuß des ganzen Arse- Gefahr ignoriert werden.« (Cochran, 1973, 230)
nals der Sozial- und Wirtschaftsgesetzgebung des New Deal zu Also hängte Truman sich den Mantel eines Kämpfers für die Bür-
kommen. Ohne Zweifel profitierten die Schwarzen von vielen die- gerrechte um. »Obwohl er viel weiter ging als alle Präsidenten vor
ser Programme (obwohl einige Maßnahmen, besonders im Rah- ihm ... reichten seine konkreten Bemühungen nie an seine Rheto-
men der Agrarpolitik, ihnen auch schwer schadeten). Doch in ihrer rik heran.« (Hartmann, 150— 151) So forderte Truman in einer Bot-
Eigenschaft als ausgeschlossene und ausgebeutete rassische Min- schaft an den Kongreß vom 7. Januar 1948 ein breites Spektrum von
derheit bekamen sie so gut wie gar nichts. Faktisch wurde das Bür- Bürgerrechtsmaßnahmen und richtete am 2. Februar eine spezielle
gerrechtsproblem unterdrückt, um die Einheit der Partei zu wah- Bürgerrechts-Botschaft an den Kongreß, in der er ein io-Punkte-
ren. Programm entwickelte, das die Abschaffung der Wahlsteuern, die
Um 194o begannen die Schwarzen, den Süden in großer Zahl zu Einrichtung eines permanenten FEPC und die Verfolgung von
verlassen. Die Auswirkungen dieser demographischen Umwäl- Lynchmorden durch die Bundesgerichte einschloß. Obwohl er
zung auf die politischen Verhältnisse im Norden waren immens, jedoch versprochen hatte, Exekutivverordnungen zu erlassen, um
denn die Schwarzen konzentrierten sich in den Städten der bevölke- die Rassentrennung in den Streitkräften aufzuheben und diskrimi-
rungsreichsten und am stärksten industrialisierten Bundesstaaten. nierende Beschäftigungspraktiken durch Bundesbehörden zu
Sie konzentrierten sich, mit anderen Worten, in den Hochburgen beseitigen — beides Dinge, die in seiner unmittelbaren Macht stan-
der Demokratischen Partei. Und je größer die Zahl der schwarzen den —, unternahm er nichts dergleichen (jedenfalls nicht vor dem
Wählerstimmen wurde, um so näher kamen die Führer des nörd- unerwartet turbulenten Nominierungskonvent im Sommer).
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Der Wahlparteitag ließ Trumans im wesentlichen rhetorische Bür- Lubell nennt dies »eine doppelte Erhebung: eine ökonomische
gerrechtsstrategie auflaufen. Die Führer des liberalen Flügels Revolte, die darauf abzielte, die Staatsausgaben und die Macht der
erhielten bei ihrem Versuch, gegen Trumans Widerstand die Forde- Gewerkschaften einzuschränken, und Widerstand in der Rassen-
rung nach umfassender Bürgerrechtsgesetzgebung im Wahlpro- frage als Gegengewicht zum vvachsenden schwarzen Wählerpoten-
gramm der Partei zu verankern, die Unterstützung einflußreicher tial im Norden« (1966, 186).1i
Vertreter des Parteiapparates im Norden, die glaubten, Truman wer- So kann nicht behauptet werden, daß der Sache der Bürgerrechte
den die Wahl verlieren. Sie durch diese Ereignisse unmittelbar gedient wurde. Die Verluste im
”waren nicht so sehr besorgt, irgendwelche Querköpfe aus dem Süden Süden bei der Wahl von 1948 waren Vorboten eines möglichen Zer-
könnten die Partei spalten; ihnen ging es vielmehr darum, die schwarze falls dieser regionalen Basis; damit wurden Konzessionen an den
Wählerschaft hinter ihre lokalen und bundesstaatlichen Kandidaten zu brin- Süden — nämlich die Aufrechterhaltung des Status quo in der Ras-
gen. Henry Wallace war für diese Wähler in einigen wichtigen Städten sehr senfrage — zum Gebot des Tages. Stevensons Haltung bei seiner
attraktiv geworden. So war jede spektakuläre Vorführung der Demokraten Kampagne für die Nominierung zum Demokratischen Präsident-
als resolute Verteidiger der farbigen Interessen willkommen, wenn dadurch schaftskandidaten im Jahre 1952 machte das ganz deutlich; so
nur die Wallace-Kandidatur abgewehrt werden könnte.« (Cochran, 1973, erklärte er in einer Rede noch vor dem Wahlparteitag: »Ich weise
z3o) die rücksichtslose Behauptung, der Süden sei ein Gefängnis, in
Somit wurde auf dem Parteikongreß ein umfangreiches Bürger- dem die eine Hälfte der Menschen Gefangene und die andere
rechtsprogramm verabschiedet, was die Delegationen aus Alabama Hälfte Wärter sind, als verachtungswürdig zurück.« (Cochran,
und Mississippi zum Auszug veranlaßte. Die Dixiecrats (zusam- '969, 222) Während des Parteitags verlieh er seiner großen Sorge
mengesetzt aus »Dixie«, wie der Süden genannt wird, und »Demo- Ausdruck, der Kampf um die Bürgerrechte »könnte den Süden aus
crats« — d. Ü.), die Dissidentengruppen aus dem ganzen Süden um der Partei treiben — die Partei brauchte die Einheit« (Martin, 1976,
sich scharten, versammelten sich zwei Tage später in Birmingham, 589). Mit seiner stillschweigenden Billigung stimmte die Delega-
um eine »States' Rights Party« zu gründen und Senator Strom tion aus Illinois dafür, die Dixiecrat-Delegationen ohne »Loyali-
Thurmond aus South Carolina zu ihrem Präsidentschaftskandida- tätseid« zuzulassen — eine Position, die viele Bürgerrechtsverfech-
ten zu küren. Durch diese Ereignisse wurde Truman in der Rassen- ter aus dem Norden auf die Barrikaden brachte. Aufgrund seiner
frage immer weiter nach links gedrängt, und erließ nun umgehend persönlichen Überzeugung und Sorge, daß der Süden im Schoße
die Exekutivverordnungen, die er schon Monate zuvor verspro- der Demokratischen Partei verbleiben müsse, ging Stevenson nach
chen hatte. »So fand sich ein Grenzstaat-Politiker, der bemüht mehreren Wahlgängen, in denen er Kefauver und Harriman aus
gewesen war, eine möglichst vieldeutige Rassenpolitik zu verfol- dem Feld schlug, als Kompromißkandidat aus dem Parteitag her-
gen, unvermutet als Fackelträger der Bürgerrechte wieder.« vor. Daraufhin wählte er Senator John Sparkman aus Alabanla zu
(Cochran, 1973, 23 i)Truman gewann die darauffolgenden Wahlen seinem Vizepräsidentschafts-Kandidaten.
(mit Hilfe der schwarzen Stimmen), obwohl er vier Staaten des tie- Während des gesamtenWahlkampfes bemühte sich Stevenson, den
fen Südens — Louisiana, South Carolina, Alabama und Mississippi Süden zu beschwichtigen, und schenkte den schwarzen Wählern in
— an die »States' Rights Party« verlor. den nördlichen Industriestädten relativ geringe Aufmerksamkeit
Das militante Vorgehen der Südstaatenpolitiker im Jahre 1948 (Cochran, 1969, 221-222). »Er deutete -wiederholt seine Sorge an,
widerspiegelte das fortdauernde, wenn auch rasch abnehmende er könne den Süden verlieren« (Martin, 1976, 597), und versicherte
politische und ökonomische Interesse an der Ausbeutung der immer wieder, die Lösung des Rassenproblems falle allein in den
Schwarzen, besonders im tiefen Süden. Darüber hinaus bot ihnen Zuständigkeitsbereich der einzelnen Bundesstaaten:
das Aufziehen des States'-Rights-Banners eine Gelegenheit, die »Er griff auf einen alten Vorschlag zurück, daß der Anti-Diskriminierungs-
Opposition gegen die verhaßten sozial- und wirtschaftspolitischen ausschuß (FEPC) des Bundes seine Vollmachten an die Staaten abtreten
Programme des New Deal und des Fair Deal zu mobilisieren. solle, die über eigene FEPC's verfügten. Was hielt er vom Filibuster (ein

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parlamentarischer Geschäftsordnungstrick, mit dem damals vor allem industrielle Modernisierung schufen einen immer tieferen Riß.
Abgeordneten aus den Südstaaten Abstimmungen über unliebsame Geset- Jede dieser ökonomischen Kräfte unterhöhlte die Demokratische
zesentwürfe verhinderten — d. Ü.). >Ich denke, der Präsident sollte die Basis im Süden auf andere Weise. Einige politische Beobachter
Geschäftsordnung des Senats beachten.... Ich würde sie ganz sicher studie- kamen damals sogar zu dem Schluß, die Demokratische Partei
ren wollen. ... Man sagt mir, sie habe Vorzüge, aber auch Nachteile. Be-
werde womöglich nicht überleben. Zu ihnen gehörte Lubell:
züglich der ungehinderten und freien Debatte sind auch andere Überlegun-
gen von Bedeutung, die wir in unserem Eifer, auf einem einzigen Gebiet »Die Bezirke mit den größten Demokratischen Mehrheiten im Norden ...
Fortschritte erzielen zu wollen, nicht übersehen dürfen.«< (Martin, 1976, werden jene, die wirtschaftlich am schwächsten sind und den größten
611) 12 schwarzen Bevölkerungsanteil haben — zwei Charakteristika, die die politi-
Wie es sich herausstellte, konnte diese Beschwichtigungspolitik die schen Repräsentanten dieser Gebiete auf die alten Positionen des New Deal
zurückfallen lassen. Sollte dieser Trend anhalten, was wahrscheinlich ist,
Flut der Abtrünnigen bei den Wahlen von 19 5 2 nicht eindämmen,
werden die Kongreßabgeordneten dieser Bezirke in wachsende Auseinan-
denn es war außerdem noch eine völlig andere Kraft am Werk. Zwar dersetzungen mit den südstaatlichen Wahlkreisen verwickelt werden:
kehrten die »Dixiecrat«-Staaten wieder in den Schoß der Demokra- sowohl mit denen, die vom Rassenantagonismus des ländlichen Südens
tischen Partei zurück, wenn auch im Fall von South Carolina und geprägt, als auch mit denen, die vom ökonomischen Konservativismus der
Louisiana mit nur sehr knappen Mehrheiten. In den äußeren Süd- aufstrebenden Mittelschichtsangehörigen in den südlichen Städten gekenn-
staaten jedoch konnten die Republikaner große Gewinne erzielen: zeichnet sind. ... Die grundlegenden Spannungen zwischen diesen beiden
Virginia, Florida, Tennessee und Texas ließen ihre Stimmen Eisen- Flügeln «sicherer« Demokratischer Wahlkreise sind von ausreichender
hower zugute kommen. Die Republikaner gewannen hier insbe- Intensität, um das Auseinanderbrechen der Demokratischen Partei als
sondere in der wachsenden weißen Mittelschicht der Großstädte Möglichkeit einzustufen.« (1956, 215-216)
dazu, während die Stärke der Demokraten vor allem bei den Wei- Mit dieser Vorhersage hatte Lubell natürlich unrecht. Sein Fehler
ßen in den an Bedeutung verlierenden Kleinstädten und ländlichen lag zum Teil darin, daß er nicht berücksichtigte, welch großes In-
Gebieten des tiefen Südens lag (Lubell, 1956, 179 ff.). teresse die politische Führung des Südens, einschließlich seiner
Die Wahlen von 1952 offenbarten also die politischen Auswirkun- parlamentarischen Vertreter in Washington, am Erhalt der Demo-
gen einer zweiten Form des ökonomischen Wandels, der sich im kratischen Partei hatten. Schon als sich 1948 die ersten Gruppen ab-
Süden vollzog: der industriellen Modernisierung. Dieser Moderni- spalteten, hielten sich die südstaatlichen Kongreßabgeordneten von
sierungstrend schuf eine neue weiße Mittelschicht in den Städten jedem Abenteuer mit einer dritten Partei fern. »Die fortdauernde
und Vororten (besonders in den Grenzstaaten), deren politische Agitation für eine unabhängige politische Bewegung kam überwie-
Sympathien sich den Republikanern zuneigten. Die Veränderun- gend von den >Citizens' Councils< und alternden >Dixiecrat<-Kräf-
gen in der Klassenstruktur wurden bei den Wahlen von 19 5 2 offen- ten« auf einzelstaatlicher und kommunaler Ebene (Bartley, 29o).
sichtlich und Aufgrund ihrer langjährigen Zugehörigkeit zum Kongreß genossen
»markierten einen Wendepunkt im Schicksal der Republikaner, den Beginn die Parlamentarier aus dem Süden ungeheuren Einfluß auf die Bun-
einer südstaatlichen Basis der Republikanischen Partei, die fortan bei despolitik; sie beanspruchten einen gutenTeil des staatlichen Patro-
Wahlen eine Rolle spielen sollte — zunächst auf der Ebene der Präsident- nagesystems und besaßen ein gewichtiges Mitspracherecht bei der
schaftswahlen, später auf einzelstaatlicher und kommunaler Ebene. Lang- Vergabe von Mitteln aus dem Verteidigungsetat für den Bau von
sam entwickelten sich die Republikaner überall zu einer ernstzunehmen- Rüstungsbetrieben und militärischen Anlagen, von denen viele im
den Oppositionspartei, außer vielleicht im Kern des tiefen Südens, und
Süden angesiedelt wurden. Zudem war ein Wechsel der Parteizuge-
sporadisch sogar dort.« (Tindall, 49)
hörigkeit nicht ohne Risiko für die Amtsinhaber. Denn trotz aller
Der Bruch zwischen dem nördlichen und südlichen Flügel der Spannungen wegen der Rassenfrage hatte die Demokratische Partei
Demokratischen Partei, der sich 1948 vollzogen hatte, war, mit südlich der Mason-Dixon-Linie ihre geradezu mystische Anzie-
anderen Worten, kein vorübergehendes Phänomen. Agrarische wie hungskraft nicht verloren. Folglich beschränkten sich die Südstaa-
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tenpolitiker darauf, Republikanische Präsidentschaftsambitionen tion und Isolation ... eher dazu in der Lage waren, Widerstand
zu ermutigen, ungebundene Wahlmänner zu unterstützen und die gegen ihre Unterdrückung aufzubauen« (Rose, xviii).
Bundespartei mit ähnlichen Manövern unter Druck zu setzen, aber Der historische Prozeß der Mobilisierung von Widerstand gegen
sie spalteten sich nicht ab. Ihre Politik lief faktisch darauf hinaus, rassische Unterdrückung hatte seinen Ausgangspunkt im Norden,
daß sie der weißen Widerstandsbewegung des Südens Grenzen wo es keine alteingesessene Kastenordnung und keine gesellschaft-
setzten und sie damit schwächten. Innerhalb dieser Grenzen lich sanktionierte Tradition des Terrors gegen Schwarze gab. Da die
jedoch taten sie das Ihre, um den Nord-Süd-Konflikt 7U verschär- Industriellen die Binnenwanderung gefördert hatten, um der
fen. Arbeitskräfteknappheit zu begegnen und Arbeiterrebellionen zu
Aufgrund dieser Tatsache profitierten die Schwarzen in diesem unterdrücken, standen sie gewissermaßen in einer Allianz mit den
Stadium nur wenig von ihrer wachsenden Wählerstärke itn Norden. Schwarzen, die diesen bis zu einem bestimmten Grad Schutz bieten
Die Loyalität der Schwarzen zur Demokratischen Partei stand konnte. Auch wurden Politiker durch den beginnenden wahlpoliti-
außer Frage; sie war sogar noch stärker geworden. Zum Wahlver- schen F,influß der Schwarzen von den extremeren Formen rassisti-
halten der Schwarzen im Kontext ihrer anhaltenden Nordwande- scher Demagogie abgehalten. Die städtische Umwelt des Nordens
rung stellte Lubell fest, daß »ihre Loyalität zur Demokratischen war rauh, zweifellos, schloß aber Proteste nicht aus.
Partei ... um so mehr zugenommen hat, je größer ihre Zahl gewor- Parallel zur Massenzuwanderung brachen die ersten Proteste her-
den ist. ... Truman erhielt einen größeren Anteil der schwarzen vor. Befreit von der feudalen Kontrolle, begannen die Schwarzen
Stimmen als Roosevelt, während Stevenson [bei derWahl von 1952] gegen die Unterdrückung, der sie schon immer ausgesetzt waren,
sogar noch mehr Stimmen aus der Negerbevölkerung erhielt als zu protestieren. Darüber hinaus gewährte die Segregation in den
Truman« (1956, 2 4). DieTreue der schwarzenWähler ermutigte die nördlichen Gettos eine gewisse Sicherheit, und die räumliche
Strategen der Demokratischen Partei zu der Entscheidung, die Zusammenballung verlieh den Anwohnern ein Gefühl der Stärke.
Wählerverluste im Süden als das Hauptproblem der Partei zu defi- So konnte Marcus Garvey während der ersten großen Migrations-
nieren. So wurde die Bürgerrechtsfrage auch weiterhin dem Ziel welle im Ersten Weltkrieg mit seinen Appellen, die »die stigmati-
der Parteieinheit geopfert. Zunächst vv-ar es also der Süden, der von sierte Identität amerikanischer Schwarzer in eine Quelle persönli-
der wahlpolitischen Instabilität profitierte. Das aber sollte sich chen Selbstwertgefühls« (Michael Lewis, 158)13 verwandelten, eine
ändern, denn nicht nur die weißen Südstaatler wurden durch die Million Schwarzer aus dem Norden für seine »Universal Negro Im-
Rassenfrage aufgewühlt und auf die Barrikaden getrieben — es provement Association« gewinnen. Er konnte dies tun, weil ein
rumorte auch in der schwarzen Bevölkerung. Volk, das gerade erst dem Joch erzwungener Minderwertigkeit ent-
flohen war, eine Bestätigung seines Selbstwertgefühls benötigte.
Zur selben Zeit und in denselben Gettos zeigten »Schwarze ... eine
Ökonomische Modernisierung und schwarzer Aufruhr neue Kampf- und Verteidigungsbereitschaft« gegen die weißen
Mobs, die bei Kriegsende in mehreren Dutzend amerikanischer
Als die ökonomische Modernisierung die Schwarzen aus einem Städte die Schwarzen terrorisierten (Woodward, 1974, 114). Zur
sozio-ökonomischen Systen-i in ein anderes schleuderte, wurde Rolle des Streikbrechers verdammt, kämpften die Schwarzen wie-
ihre Fähigkeit, sich den Kontrollen der Kastengesellschaft zu ent- derholt gegen weiße Arbeiter für das Recht auf Arbeit. Während
ziehen, erheblich vergrößert. Die Kontrollmechanismen, die in der der Depression schlugen sie sich mit der Polizei bei Wohnungsräu-
ländlichen Gesellschaft mit ihrer geringen Bevölkerungsdichte und mungen und schlossen sich dem Kampf der Arbeitslosen gegen das
den unmittelbaren zwischenmenschlichen Beziehungen so vorzüg- Fürsorgesvstem an. In den Massenstreiks, die zur Gründung des
lich griffen, verloren in der Großstadt, wo Gettoisierung zu räumli- »Congress of Industrial Organizations« führten, standen sie Seite
cher Trennung und Konzentration führte, ihre alte Effektivität. an Seite mit den weißen Arbeitern gegen die Konzerne der Massen-
Daraus folgte, daß die Schwarzen »hinter den Mauern von Segrega- industrie, zu denen sie Zugang als Arbeiter gefunden hatten. Im
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Zweiten Weltkrieg schlossen sie sich zusammen, um Roosevelts den Städten des Nordostens und mittleren Westens, wo ihre Züge
Kriegsregiment mit einer massenhaften »Marsch-auf-Washington- Station machten, organisierten die Schlafwagenschaffner, jeder
Bewegung«, die sich gegen die Diskriminierung in der Rüstungsin- auch ein Kurier und »organizer«, Protestversammlungen und
dustrie und die Segregation in den Streitkräften richtete, herauszu- Demonstrationen, um Roosevelt zu zwingen, durch die Bildung
fordern. In den Militärlagern des Südens und den umliegenden einer »Fair Employment Practices Commission« (FEPC) den
Gemeinden griffen sie zu den Waffen, um sich gegen Angriffe von Schwarzen Zugang zur Rüstungsindustrie zu verschaffen. Ent-
Weißen zu verteidigen. Mit anderen Worten: Sobald die Möglich- scheidende Bedeutung kam auch der schwarzen Presse zu, die fast
keit gegeben war, sprengten die Schwarzen mit ihren Protesten »die einhellig hinter Randolph stand und ununterbrochen über die
Grenzen institutionalisierter Politik« (Michael Lewis, 151), Aktivitäten der Bewegung berichtete. Die zunehmende Mobilisie-
Die räumliche Trennung und Konzentration in den großen Städ- rung ließ die Solidarität schließlich Klassengrenzen überspringen:
ten schufen darüber hinaus eine schwarze wirtschaftliche Basis, »[Die schwarzen Mittelschichten] waren außerstande, sich der militanten
trotz der Armut, in der die meisten schwarzen Lohnarbeiter lebten. Stimmung der aufbegehrenden Menge, die sie anführen wollten, zu entzie-
Besonders hervorzuheben ist die allmähliche Herausbildung einer hen. Mit einiger Verzögerung wurde die Organisierung der schwarzen Mas-
schwarzen Berufsgruppe, die sich von der Macht der Weißen relativ sen [durch Randolph] für eine bundesweite Protestdemonstration allge-
unabhängig machte, einer Gruppe von Priestern, Kleinunterneh- mein als notwendig anerkannt. Man betrachtete dies als letzten Ausweg, als
mern, Ärzten, Anwälten und Gewerkschaftsführern. Früher, und dramatische Geste, um die weiße Mehrheit zu zwingen, von der bitteren
vor allem in den ländlichen Regionen des Südens, gehörten—wenn Not ihrer schwarzen Brüder Kenntnis zu nehmen.« (Garfinkel, 42)
überhaupt — nur sehr wenige Schwarze diesen Berufsgruppen an, Fassen wir zusammen: Die ökonomische Modernisierung, in Ver-
und diese waren meist von Weißen abhängig. Die Herausbildung bindung mit der Isolation und Konzentration in den großen Städ-
einer unabhängigen Führungsschicht wurde von einer Expansion ten, befreite die Schwarzen einerseits von ihren feudalen Fesseln
und Diversifizierung schwarzer Institutionen sowie von größerer und ermöglichte ihnen andererseits, das berufliche und institutio-
institutioneller Unabhängigkeit von der weißen Gesellschaft nelle Fundament zu errichten, von dem aus sie den Widerstand
begleitet. Auch diese Entwicklung wurde durch die ökonomische gegen die weiße Unterdrückung aufnehmen konnten.
Basis, die aus der Konzentration und Segregation resultierte, Die Urbanisierung hatte einen weiteren wichtigen Effekt: die auf
ermöglicht. Die Kirchen hatten massenhaften Zulauf, Brüderschaf- der untersten Stufe der städtischen Sozialordnung stehenden
ten und andere Vereinigungen schossen aus dem Boden, kleine Schwarzen waren nicht nur der rassistischen Kontrolle weitgehend
Unternehmen konnten existieren, schwarze Gewerkschaftsver- entzogen, auch die mehr allgemeinen sozialen Kontrollmechanis-
bände wurden gegründet und die schwarze Presse florierte. Diese men hatten an Wirkung eingebüßt. Eine rasche Modernisierung der
Institutionen dienten als Vehikel zur Erzeugung von Solidarität, Landwirtschaft geht gewöhnlich mit sozialen Auflösungserschei-
zur Formulierung gemeinsamer Ziele und Mobilisierung kollekti- nungen einher; die Modernisierung im Süden machte da keine Aus-
ver Aktion. nahme. Die grundlegende Ursache dafür waren Arbeitslosigkeit
In der Geschichte schwarzer Proteste sollten diese beruflichen und Unterbeschäftigung. Im ländlichen Süden mögen die Men-
und institutionellen Ressourcen entscheidende Bedeutung gewin- schen zwar nahe am Existenzminimum gelebt haben, sie waren
nen. Die »Marsch-auf-Washington-Bewegung« unter A. Phillip aber doch fest in ein ökonomisches System eingebunden. Ebenso
Randolph, dem Präsidenten der Gewerkschaft der schwarzen fest waren sie in ein semifeudales System sozialer Beziehungen ver-
Schlafwagenschaffner, ist dafür ein herausragendes Beispiel. Als strickt. Die Modernisierung aber brachte Arbeitslosigkeit mit sich,
Führer eines segregierten Gewerkschaftsverbands genoß Ran- die die Menschen in die Städte trieb, wo Arbeitslosigkeit und
dolph bei seinen Aktionen weitgehende Immunität gegen weiße Unterbeschäftigung für viele ein mehr oder weniger chronischer
Sanktionen; zudem verfügte die Gewerkschaft über die notwendi- Zustand wurde.' Die dauerhafte Arbeitslosigkeit wiederum zer-
gen finanziellen Mittel und beträchtliches Organisationstalent. In setzte das soziale Gefüge. Mit welcher Gewalt dies geschah, läßt
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sich anhand des wachsenden Anteils von Familien mit weiblichem Im Präsidentschaftswahlkampf von 1948 stieß die Frage der
Haushaltsvorstand ermessen, denn Männer, die keine Arbeit hat- Gewährung grundlegender Rechte für die Schwarzen mit Macht
ten, waren nicht imstande, Familien zu gründen und zu erhalten. ins Zentrum der Bundespolitik. Mit Truman und Wallace, die Ras-
Die Männer selbst verloren durch die Arbeitslosigkeit jede Vorstel- sentrennung und Diskriminierung einhellig ablehnten, auf der
lung von der Bedeutung der Arbeit und damit auch ihre Arbeitsdis- einen, und den das Kastensystem verteidigenden Südstaatenpoliti-
ziplin. Auf diese Weise produzierte die Modernisierung der Land- kern auf der anderen Seite, erhielt die Diskussion über die Rassen-
wirtschaft eine entmutigte, zerrüttete und daher unberechenbare frage eine Schärfe, wie seit dem Bürgerkrieg nicht mehr.
Klasse, aus deren Reihen jederzeit Revolten hervorbrechen konn- In dieser Periode reagierten auch andere Gruppen der nationalen
ten. Eine der Formen, die sie annahmen, waren Gettounruhen: politischen Führungsschicht. Nirgendwo schlug sich dies exernpla-
schon 1935 kam es in Harlein zu schweren Unruhen, die sich wäh- rischer nieder als in den Entscheidungen des Obersten Gerichts der
rend des Zweiten Weltkrieges wiederholten. USA. Nach 19.4.0 bestätigte das Gericht das Recht der Schwarzen,
Als die Zahl der Schwarzen in den Städten zunahm, gelang es in Zügen, die über Bundesstaatsgrenzen hinaus verkehrten, in ras-
ihnen, durch Proteste Konzessionen der politischen Führung zu sisch integrierten Speisewagen zu essen; zudem garantierte es
erzwingen. Jedes dieser Zugeständnisse, waren sie auch noch so ihnen das Recht, sich bei weißen Vorwahlen im Süden in die Wäh-
symbolisch, verlieh den Forderungen ein weiteres Stück Legiti- lerlisten eintragen zu lassen und zu wählen, und sich in staatlich
mität und gab Anlaß zu der Hoffnung, daß die Ziele erreicht wer- finanzierten höheren Bildungseinrichtungen immatrikulieren zu
den konnten — mit dem Resultat, daß die Proteste noch weiter können. Diesem Angriff auf den Rassismus waren jahrelange
zunahmen. Die Zugeständnisse kamen von Politikern der nördli- Bemühungen der NAACP vorangegangen; nun, in einem Klima
chen Bundesstaaten, insbesondere aus der Demokratischen Partei, wachsender schwarzer Proteste, machten die Gerichte endlich
und von den Bundesgerichten. Wahrscheinlich markierte die Zugeständnisse. Anfang der fünfziger Jahre hatte
Große Depression den Anfang dieser neuen Politik. Obwohl »der Rechtsausschuß der >National Association for the Advancement
Roosevelt nach Möglichkeit das Bürgerrechtsproblem vermied, of Colored People< ... einen nahezu lückenlosen Argumentationsstrang
weil er befürchtete, den Süden zu verprellen, gab er den Schwarzen gegen das Prinzip des >getrennt, aber gleichwertig< entwickelt und zu-
doch »ein gewisses Gefühl der nationalen Anerkennung — wenn sätzlich einen Stab von qualifizierten und gewitzten Anwälten aufgebaut,
auch eher im Hinblick auf ihr Interesse an wirtschaftlicher und um ihre Sache zu vertreten. In den Fällen Sipuel, Sweatt und McLaurin,
sozialer Gerechtigkeit als auf ihren Anspruch auf Gleichberechti- die in den ersten fünf Jahren nach dem Kriege entschieden wurden, hat-
gung. Immerhin stieß er das Tor der Hoffnung auf.« (Schlesinger, ten sie den Obersten Gerichtshof dazu bewegt, die Definition der Gleich-
wertigkeit enger zu fassen, so daß allein das Prinzip, die Trennung der
806) Die Zahl der Schwarzen im Norden stieg immerfort an, und Rassen sei verfassungsgemäß, solange es echte Gleichheit gebe, Bestand
der Protest wurde intensiver. Während des Zweiten Weltkrieges hatte. Jetzt war die NAACP bereit, auch dieses Prinzip anzugreifen.« (Kil-
waren Konzessionen unausweichlich geworden. Zwar war Roose- lian, 39)
velt besorgt wegen der Auswirkungen, die ein FEPC auf die
Rüstungsproduktion im Süden haben würde, und auch wegen der Der gerichtliche Angriff auf den Rassismus der Südstaaten
Gefahr, die Kongreßmitglieder aus dem Süden gegen sich aufzu- erreichte 1954 seinen Höhepunkt, als (durch das Urteil im Fall
bringen; auf der anderen Seite aber war er mit der Drohung eines »Brown v. Board of Education«) die »getrennt aber gleichwertig«-
Marsches auf Washington konfrontiert, der ein Land, das gerade Doktrin für den öffentlichen Ausbildungssektor vom Tisch gefegt
antrat, für »die Freiheit in Übersee« zu kämpfen, in erhebliche wurde. Es war ein rauschender Sieg, der jedoch im ganzen Süden
nationale wie internationale Verlegenheit gestürzt hätte. Als der die Kräfte der Reaktion entfesseln und eine von Südstaatenpoliti-
geplante Beginn des Marsches nur noch wenige Tage entfernt war, kern getragene massive Widerstandskampagne gegen die Bundes-
lenkte Roosevelt ein und unterschrieb am 2 5 Ju n i 1941 eine Exeku- prärogative auslösen sollte. Doch sollte er auch unter den Schwar-
tivverordnung über die Einrichtung eines FEPC. zen selbst bedeutende Auswirkungen haben, war doch das höchste

230 2 3 I
Gericht des Landes dazu gezwungen worden, dem Kampf gegen unter dem Einfluß der Vorsitzenden des »Women's Political Coun-
den Rassismus neue Legitimität zu verleihen. 15 cil« und von E. D. Nixon, einem bekannten Aktivisten aus Mont-
Die den Politikern und Gerichten im Norden abgerungenen gomery, der auch einflußreiches Mitglied der Gewerkschaft der
Zugeständnisse schlugen Wellen auch in den Gettos des Südens. Schlafwagenschaffner war, zu einer äußerst raschen Mobilisierung
Um 195o quollen auch dort die Gettos von der freigesetzten ländli- der schwarzen Führung. Die schwarzen Pfarrer der Stadt schlossen
chen Armutsbevölkerung über. Protest und Erfolg hatten sich als sich an, und die Vorbereitungen machten schnelle Fortschritte. Am
möglich erwiesen. Abgesehen von der fortdauernden Kastenord- Freitagnachmittag wurden in der schwarzen Gemeinde, die 50000
nung waren alle strukturellen Voraussetzungen für das Entstehen Köpfe zählte, 40 000 Flugblätter verteilt, auf denen für den folgen-
einer Protestbewegung, die in den nördlichen Gettos existierten, den Montag zum Boykott aufgerufen wurde. Ein Großteil der
auch im Süden gegeben: eine von Lohnarbeitern gebildete ökono- Flugblätter wurde von den Fahrern eines schwarzen Taxiunterneh-
mische Basis; die daraus folgende berufliche und institutionelle mens verteilt, das sich außerdem bereit erklärte, Passagiere zum
Expansion und Diversifizierung; die unberechenbare Unterschicht Bustarif zu befördern. Ein Zeitungsreporter, der mit den Schwar-
der Arbeitslosen und Unterbeschäftigten. Zusammengeballt, abge- zen sympathisierte, brachte es fertig, eine Geschichte über den
sondert, von weißer Beeinflussung unabhängiger als jemals zuvor geplanten Boykott auf der Titelseite der Sonntagsausgabe einer
und mit den größten Hoffnungen ausgestattet, brach unter den lokalen weißen Zeitung zu plazieren; und schwarze Pfarrer for-
schwarzen Bewohnern der südlichen Großstädte ein Sturm des derten überall von der Kanzel dazu auf, sich dem Boykott anzu-
Protestes hervor.' schließen.
Der dramatischste der ersten Proteste erschütterte Montgomery Am Montagmorgen, nur vier Tage nach der Festnahme, die alles
im Bundesstaat Alabama.' Am Donnerstag, den I. Dezember 1935 ausgelöst hatte, war der Boykott ein fast hundertprozentiger
weigerte sich Rosa Parks, eine Näherin in einem örtlichen Kauf- Erfolg. Am Nachmittag wurde Martin Luther King, der neu nach
haus, in dem für Schwarze vorgeschriebenen Teil eines Busses zu Montgomery gezogen und daher von etwaigen Fraktionskämpfen
sitzen, und wurde aufgrund der lokalen Rassentrennungs-Verord- noch unverbraucht war, zum Führer eines ständigen Boykottkomi-
nung festgenommen. Sie war in jenem Jahr die fünfte Person, die tees, der »Montgomery Improvement Association« (MIA),
wegen Verletzung der Sitzordnung in den Bussen von Montgomery gewählt. Am Montagabend versammelten sich 4 000 Schwarze —
verhaftet wurde. Allgemein war der Haß auf die Segregation 8`)/0 der schwarzen Bevölkerung von Montgomery, in einer Kirche,
gewachsen, und die Busgesellschaft zum speziellen Ziel der Empö- um zu bestaunen und zu feiern, was sie getan hatten.
rung geworden. Nicht allein hatten die Schwarzen die Demütigung Der Kampf von Montgomery hatte begonnen. In dem Jahr, das er
einer nach Rassen getrennten Sitzordnung zu erleiden — die bewaff- andauerte, wurden alle Elemente der großen Umwälzung deutlich,
neten Fahrer waren außerdem wegen der Mißhandlung schwarzer die den Süden in den folgenden zehn Jahren verändern sollten. Die
Fahrgäste berüchtigt, von denen sie sogar mehrere getötet hatten. Busgesellschaft und die Stadtverwaltung verweigerten starrköpfig
Es war schon seit einer Weile über einen Boykott geredet worden; jedes Zugeständnis, und die schwarze Bevölkerung stellte sich auf
der »Women's Political Council«, eine Organisation schwarzer einen langen Kampf ein. Eine Mitfahreraktion mit 48 Ausstiegs-
Frauen aus der Mittelschicht (die gegründet worden war, nachdem und 42 Einstiegsstellen wurde organisiert, die ein Jahr lang mit
die lokale »League of Woman Voters« sich geweigert hatte, bemerkenswertem Erfolg operierte. Mitglieder der Stadtverwal-
Schwarze aufzunehmen), hatte sogar schon — nach dem Beispiel tung und Gruppen weißer Bürger versuchten, so gut es ging, die
einer erfolgreichen Boykottaktion in Baton Rouge ein Jahr zuvor— Boykotteilnehmer einzuschüchtern: Fahrgäste, die an den Halte-
konkrete Schritte geplant. Eine Reihe von Treffen mit Vertretern stellen warteten, wurden wegen Stadtstreicherei, wegen Trampens
der Busgesellschaft, in denen sie die Klagen der Schwarzen vor- oder irgendwelcher anderer »Vergehen« verhaftet; Kraftfahrzeug-
brachten, waren ergebnislos geblieben. versicherungen wurden gekündigt; die Führer der Bovkottbewe-
Als sich die Nachricht von der Verhaftung herumsprach, kam es gung waren ständigen telefonischen Morddrohungen ausgesetzt.
232 233
Das Bombenattentat auf das Wohnhaus von Martin Luther King Der Kampf zog sich so lange hin, bis im November ein örtliches
Ende Januar führte fast zu schxveren Rassenunruhen. Als King Gericht die Mitfahreraktion untersagte. Wäre es früher zu dieser
dann wegen zu schnellen Fahrens verhaftet wurde, ließ man ihn Maßnahme gekommen, wäre der Boykott vielleicht zusammenge-
so lange nicht auf Kaution frei, bis sich eine Menge von mehreren brochen (die Boykottführer waren der Auffassung, sie dürften
hundert Personen vor dem Gefängnis versammelte. Die Stadtver- Gerichtsentscheidungen nicht zuwiderhandeln, um vor der
waltung versuchte die 11/11A daran zu hindern, ein Büro zur Koordi- Öffentlichkeit nicht ihren Anspruch auf moralische Legitimität zu
nation des Boykotts einzurichten. Mit ständigen Verweisen auf mindern). Doch mitten im Prozeß — die MIA-Führer waren auf den
örtliche Bau- und Feuervorschriften der einen oder anderen Art unvermeidbar negativen Ausgang gefaßt — kam die Nachricht, der
zwangen sie die MIA wiederholt umzuziehen, bis sie endlich Oberste Gerichtshof habe die Gesetze des Staates Alabama sowie
Zuflucht in einem Gebäude fand, das einem lokalen Gewerk- entsprechende lokale Verordnungen über die Rassentrennung in
schaftsverband schwarzer Maurer gehörte. Bussen für verfassungswidrig erklärt.
Gemäßigte Kräfte in Montgomery wurden während dieser Ereig- Angesichts dieses Erfolges kam es zu grausamen Vergeltungsmaß-
nisse erfolgreich mundtot gemacht. Sogar die Kaufleute in der nahmen: vier Kirchen und mehrere Häuser wurden zerbombt,
Innenstadt, die -wegen des Boykotts schwere finanzielle Einbußen viele Schwarze zusammengeschlagen und beschossen. Das Klima
hinnehmen mußten, übten nur halbherzigen Druck für eine Beile- der Gewalt alarmierte die Geschäftsleute, deren Umsatzverluste
gung aus, weil sie durch den offen zur Schau getragenen Haß der bis dahin ein erhebliches Ausmaß erreicht hatten, nun doch so sehr,
weißen Bevölkerung in ihrer Handlungsfreiheit eingeschränkt daß sie schließlich erheblichen Druck auf die Stadtverwaltung aus-
vvaren. Als das »White Citizens' Council« Mitte Februar Senator übten, woraufhin sieben Weiße wegen der Terrorakte verhaftet -wur-
Eastland einlud, in Montgomery zu sprechen, kamen 12 ooc Men- den. Die Flut der Gewalt ebbte ab. Die schwarze Bewegung der
schen, um ihn zu hören. Auch waren die führenden weißen Nachkriegszeit hatte ihre erste große Schlacht geschlagen — und
Geschäftsleute gewarnt worden, daß sie jede Geste der Verständi- ihren ersten bedeutenden Sieg errungen.
gung an die schwarze Bewegung mit einem Boykott ihrer
Geschäfte durch die Weißen würden bezahlen müssen. Die Mobilisierung weißen Widerstands
Wenn aber die Fronten in Montgomery derart verhärtet waren, so
bewegte sich außerhalb Montgomerys doch allerhand. Im ganzen Der Extremismus und Terror der Weißen, der fi_ir die Geschichte
Land und um die ganze Welt erregte der Konflikt große Aufmerk- des Südens so charakteristisch war und bei dem Montgomery-Bus-
samkeit. Spenden begannen zu fließen: von der NAACP, von den boykott und anderen Protesten jener Zeit wieder so offensichtlich
»United AutomobileWorkers« (die eine erhebliche Zahl schwarzer wurde, bedurfte kaum der Ermunterung durch die Eliten. Sie
Mitglieder hatte) und von Tausenden von Einzelpersonen, vor wurde dennoch gewährt, denn als die Kastenordnung unter
allem aus dem Norden. Die öffentliche IVIeinung geriet um so stär- Beschuß geriet, erhoben sich die alteingesessenen Südstaatenpoliti-
ker in Wallung, als die Führer der Boykottbewegung Ende Februar ker voller Wut zu ihrer Verteidigung, Respektierte und einflußrei-
wegen einer Verschwörung zur Störung des Geschäftslebens ange- che Persönlichkeiten verurteilten die Gerichte, die Bundesregie-
klagt wurden. Der Prozeß selbst zog die weltweite Aufmerksam- rung und die Bürgerrechtsaktivisten wegen ihrer Einmischung in
keit der Presse auf sich und bot Dutzenden von schwarzen Zeugen Rechte der Bundesstaaten. Sie gingen noch weiter: Senator Harry
die Gelegenheit, die Kastenordnung der Südstaaten vor einer inter- Flood Byrd vonVirginia rief die Südstaatenregierungen und Lokal-
nationalen Zuhörerschaft anzuklagen. In Alabama wurden die verwaltungen zum »tnassiven Widerstand« auf, um die Macht der
Angeklagten — natürlich — für schuldig befunden, doch das Urteil Gerichte zu brechen. Am dramatischsten wurde diese Elitenreak-
brachte ihnen Einladungen zu Vorträgen in vielen nördlichen Städ- tion durch die »Deklaration der Verfassungsprinzipien« — das so-
ten ein, und damit die Möglichkeit, im Norden weitere Unterstüt- genannte »Manifest des Südens« — symbolisiert, die auf Senator
zung zu sammeln. Strom Thurmond von South Carolina zurückging. Als sie 19 5 6 ver-

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kündet wurde, trug sie die Unterschrift von 82 Mitgliedern des Auf der lokalen Ebene produzierten die »Citizens' Councils« rie-
Repräsentantenhauses und von 19 US-Senatoren — das waren tot sige Mengen von Propagandamaterial gegen die Rassenintegration.
der insgesamt 128 nationalen parlamentarischen Vertreter derjeni- Sie verunglimpften und bedrohten Weiße, die sich dafür ausspra-
gen Staaten, die während des Bürgerkriegs die Konföderation chen, die Gerichtsentscheidungen zu befolgen, und zettelten syste-
gebildet hatten. Die Erklärung nannte das Brown-Urteil des Ober- matische Vergeltungsaktionen gegen schwarze Aktivisten an. Auf
sten Gerichts von 1954 eine »eindeutige Überschreitung der Befug- den Boykott von Montgomery war im Juni 19 56 eine ähnlich
nisse des Gerichts«, die von »auswärtigen Agitatoren« ausge- erfolgreiche Kampagne in Tallahassee gefolgt, und Boykotts weißer
schlachtet werde. Die Obersten Richter, so hieß es, »haben sich Geschäfte verbreiteten sich auch auf andere Teile des Südens. Die
angemaßt, nackte juristische Macht auszuüben und an die Stelle »Citizens' Councils« reagierten mit der Organisierung oder Unter-
der rechtmäßigen Gesetze dieses Landes ihre persönlichen politi- stützung ökonomischer Sanktionen gegen Schwarze. Unliebsame
schen und sozialen Vorstellungen zu setzen«. Das Dokument Schwarze und Sympathisanten der Bürgerrechtsbewegung wurden
schloß mit der Selbstverpflichtung, »alle gesetzlichen Mittel anzu- aus ihren Farmhäusern geworfen, verloren ihre Arbeitsplätze, und
wenden, um die Zurücknahme dieser Entscheidung, die im Gegen- mußten zusehen, wie ihnen Kredite verweigert und Hypotheken
satz zur Verfassung steht, herbeizuführen«. Diese und andere vorzeitig gekündigt wurden. Für die zweite Hälfte der fünfziger
Erklärungen weißer Südstaatenpolitiker (Gouverneur HermanTal- Jahre, als die schwarze Boykottbewegung um sich griff und die
madge von Georgia verkündete, die Entscheidung des Obersten ökonomischen Vergeltungsmaßnahmen der Weißen sich verschärf-
Gerichts sei »nationaler Selbstmord«) blieben nicht ohne Wirkung: ten, läßt sich im Süden durchaus von einem Wirtschaftskrieg spre-
so gut wie jeder Staat der ehemaligen Konföderation verabschie- chen.
dete zum Beispiel Gesetze und Verordnungen gegen eine wirksame Im Präsidentschaftswahlkampf von 1956 versuchten die führen-
Implementation des Brown-Urteils, bis hin zur Schließung und den Politiker des Landes, das explosive Rassenproblem herunter-
Absperrung öffentlicher Schulen. zuspielen; vor allem vermieden sie klare Äußerungen zur brisanten
Die Legitimität, die die Führer des Südens damit der Mißachtung Brown-Entscheidung des Obersten Gerichts. Das Republikani-
von Bundesgerichtsurteilen verliehen, ermutigte die Entstehung sche Wahlprogramm verkündete, die Partei »akzeptiert die
einer massiven weißen Widerstandsbewegung. Im gesamten Süden [Brown-]Entscheidung« ; die Demokraten führten aus, die Ent-
schossen neue Organisationen, die sich dem Erhalt der Rassentren- scheidung habe zu »Konsequenzen von ungeheurem Ausmaß
nung zum Ziel setzten, wie Pilze aus dem Boden (nach einigen geführt«. 19 Während des Wahlkampfes erklärte Eisenhower: »Ich
Schätzungen waren es bis zu fünfzig). Ihre Mitgliedschaft rekru- glaube nicht, daß man die Herzen der Menschen durch Gesetze
tierte sich hauptsächlich aus den Kleinstädten und ländlichen oder Gerichtsentscheidungen verändern kann«, und Stevenson
Gebieten des »black belt«. Die meisten dieser Gruppen gingen meinte auf die Frage, ob er Bundestruppen einsetzen würde, um
irgendwann in den besser organisierten und finanzierten »White- die Entscheidungen des Gerichts durchzusetzen: »Ich hielte das
Citizens'-Councils« auf, die auf ihrem Höhepunkt im Jahre 1956 für einen großen Fehler. Genau dadurch ist ja schon der Bürger-
über 25o 000 Mitglieder verfügte. Doch diese krieg ausgelöst worden. So etwas schafft man nicht mit Soldaten
oder Bajonetten. Wir müssen Schritt für Schritt vorgehen, ohne
»organisierten Rassentrennungsfanatiker übten einen noch viel weitgehen- dabei Gebräuche und Traditionen zu verletzen, die älter sind als
deren Einfluß aus, als ihre Mitgliederzahlen vermuten ließen. Zu ihren Rei- unsere Republik.« (Anthony Lewis, 1964, to8) Die Position, die
hen zählten die ... Kader des m assiven Widerstands. Effektive Führung und die Demokraten 1956 in der Bürgerrechtsfrage einnahmen, zielte,
Organisation [ermöglichten es] ... den Vertretern der >Citizens' Councils<,
mit anderen Worten, darauf ab, den rebellischen Süden wieder
als Sprecher der weißen Bevölkerung aufzutreten. Eine etwas gespannte,
aber funktionsfähige Allianz mit mächtigen politischen Persönlichkeiten
zurückzugewinnen.
verlieh ihren Anführern Einfluß auf den höchsten politischen Ebenen.<‹ Obwohl beide Parteien die Frage der Schulintegration mieden,
(Bartley, 84) 18 sahen die Republikaner Chancen für ihre Partei in den Schwierig-
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keiten, die die Demokraten mit der Rassenfrage hatten. Es bot sich Nord-Süd-Koalition wurde ständig schwächer. Auf der einen Seite
damit eine gute Gelegenheit, das Thema zu nutzen, um entweder verließen immer mehr Südstaatler die Partei. Als die Stimmen aus-
weitere Gewinne bei den weißen Südstaatlern zu erzielen 20 , oder gezählt waren, stand fest, daß Stevenson etwas schlechter als bei
ebenso bedeutsame Gewinne in den schwarzen Gettos des Nor- den Wahlen von 1952 abgeschnitten hatte. Vier Staaten des äußeren
dens zu verbuchen. Zu einem gewissen Grad waren die Strategen Südens — Florida, Virginia, Tennessee und Texas — blieben in Repu-
der Republikanischen Partei darüber uneins, welcher Kurs der blikanischer Hand, was deutlich machte, daß sich infolge der indu-
richtige wäre: striellen Modernisierung teilweise ein Zweiparteiensystem entwik-
<Wie die Demokraten, waren auch die Republikaner zwischen zwei konträ-
kelt hatte. Im tiefen Süden ging zudem Louisiana verloren.
ren Strategien hin- und hergerissen. Einige Vertreter der >Grand Old Party< Obwohl die Demokraten eine Beschwichtigungspolitik in der Ras-
blickten sehnsüchtig auf die Stimmen der Schwarzen in den Nordstaaten senfrage verfolgt hatten, mußten sie damit gegenüber den Wahlen
und empfahlen eine entschlossene Bürgerrechtspolitik. Andere Parteistra- von 1952 den Verlust eines weiteren Südstaates hinnehmen. In der
tegen, die den Einfluß der Demokratischen Parteiführung im Süden beob- Folge begannen politische Beobachter Spekulationen anzustellen,
achteten, stellten sich weitere Republikanische Stimmengewinne unter den daß das Zweiparteiensystem im Süden eine Wiedergeburt erleben
weißen Wählern südlich des Potomac vor und rieten zu einer vorsichtigen könnte.
Behandlung des Problems der Desegregation.« (Anthony Lewis, 1964, 62) Auf der anderen Seite offenbarte die Wahl von 1956, daß auch die
Schließlich entschieden sich die Republikaner, auf die potentiellen schwarze Loyalität zur Demokratischen Partei schwächer gewor-
Stimmengewinne bei den Schwarzen im Norden zu setzen, kamen den war.
doch die Republikanischen Kongreßmitglieder alle aus Nordstaa- »Parteigebundene wie überparteiliche Sprecher der Schwarzen hatten [vor
ten mit hohem schwarzen Bevölkerungsanteil. Auf Drängen von der Wahl] davor gewarnt, daß das Wiederaufleben der rassistischen Bigotte-
Justizminister Herbert Brownell und anderen Republikanern, rie im Süden das bisherige Bündnis gefährdete. Umfragen deuteten an,
übermittelte Eisenhower dem Kongreß 19 56 eine Bürgerrechtsvor- daß die Demokraten nicht mit den überwältigenden Mehrheiten in den
lage, für die sich die Abgeordneten der Partei besonders stark ein- Bezirken der Schwarzen rechnen konnten, wie sie sie regelmäßig in den vor-
angegangenen zwanzig Jahren erzielt hatten.« (Moon, 1957, 219)
setzten; der Präsident forderte von ihnen »die Unterstützung der
Partei für ein Bürgerrechtsgesetz, von dem man annehmen konnte, Als die Stimmen ausgezählt waren, stellte eine Gallup-Untersu-
daß es die Politik der Schwarzen revolutionieren und ihre Stimmen chung fest, daß »von allen größeren Bevölkerungsgruppen ... die
wieder der Partei Lincolns zuführen würde« (Evans und Novak, Schwarzen ... den größten Umschwung zu Eisenhower und Nixon
II 5). 21 Die Nordstaaten-Demokraten gerieten durch diesen Vor- verzeichneten«. 1952 hatte Stevenson rund 8o% der schwarzen
stoß der Republikaner in ein erhebliches Dilemma, zumal in einem Wählerstimmen gewonnen, 1956 nur noch rund 6o°/0 . Der Trend
Wahljahr. Viele waren der Meinung, man müsse unbedingt ent- zunehmender Unterstützung der Schwarzen für die Demokrati-
schlossen für die Bürgerrechte eintreten; andere fürchteten die sche Partei, der mit der Wahl von 1936 eingesetzt hatte, war jäh
Auswirkungen, die ein solches Vorgehen auf die Wählerschaft der gebrochen.
Südstaaten haben könnte. Es endete damit, daß Lyndon B. John- Beobachter der Wahl von 1956 schreiben den Rückgang der
son, der Vorsitzende der Demokratischen Mehrheitsfraktion im schwarzen Stimmen für die Demokraten übereinstimmend Steven-
Senat, mit anderen Abgeordneten aus dem Süden konspirierte, um sons Bemühungen zu, auf Kosten der Bürgerrechtsfrage die Ein-
den Entwurf scheitern zu lassen; bevor über das Gesetz abge- heit der Partei zu erhalten. Matthews und Prothro stellen fest:
stimmt werden konnte, war die Sitzungsperiode des Kongreß vor- »Der erhebliche Umschwung zu Eisenhower im Jahre 1956 wurde
über. durch die Überzeugung verursacht, daß vom Standpunkt der
Die Wahlen von 195 6 ließen erkennen, daß die Demokratische Schwarzen aus weder Stevenson noch die Demokratische Partei in
Strategie, die Bürgerrechtsfrage nach Möglichkeit zu umgehen, der Rassenfrage vertrauenswürdig waren.« (391-392) Diese These
alles andere als erfolgreich war. Die Basis der Demokratischen wird vor allem durch die Analyse der regionalen Verteilung der
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Stimmenverluste gestützt: »Bezeichnenderweise war die Abwande- tischer Hand waren und die Partei auf schwarze Stimmen nicht
rung der schwarzen Wähler um so stärker, je enger sie mit dem wie- angewiesen war, so daß sich nur wenige Demokratische Parteipoli-
derauflebenden Terror in Berührung kamen.« (Moon, 1957, 226) In tiker veranlaßt sahen, etwa Kampagnen zur Wählerregistrierung in
vielen südlichen Wahlkreisen war der Rückgang der schwarzen den Gettos durchzuführen, Schwarze in Parteigremien aufzuneh-
Stimmen für die Demokraten bestürzend. Zum Beispiel hatte »im men oder ihre politische Partizipation durch Patronage zu ermuti-
Jahre 1952 . . . der Gouverneur von Illinois (Stevenson) die farbigen gen bzw. zu belohnen.' So lockerte sich, als die Zahl der Schwar-
Wahlkreise von Atlanta mit einer Mehrheit von über zwei zu eins zen im Norden anschwoll, die Kontrolle der Demokratischen
gewonnen. Vier Jahre später erhielt er in denselben Wahlkreisen Kommunalpolitiker über die bisher ausschließlich auf ihre Partei
weniger als 15°/0 der Stimmen.« (Moon, 221)22 ausgerichtete Gettobevölkerung.
Zwar waren die größten Verluste unter den schwarzen Wähler- Die Abwanderung schwarzer Wähler im Jahr 1956 war ein Alarm-
stimmen im Süden zu verzeichnen, aber auch im Norden signali- zeichen für die nationale politische Führung der Demokraten. Bis
sierten viele Schwarze ihre Unzufriedenheit mit der Demokrati- zur Mitte der fünfziger Jahre hatte dieWanderbewegung eine große
schen Partei, wenn auch auf andere Weise : Zahl von Schwarzen in den Norden gebracht; zudem ließen sich
9o% von ihnen in den Innenstädten der zehn am stärksten bevöl-
»In vielen schwarzen Distrikten im ganzen Land ging die Wahlbeteiligung kerten Industriestaaten nieder, in Bundesstaaten also, die bei Präsi-
stark zurück, besonders aber in den Industriezentren des Nordens, in
dentschaftswahlen von entscheidender Bedeutung waren. In einer
denen die Demokraten in den vorhergehenden Jahren große Mehrheiten
errungen hatten. Und das trotz einer Zunahme der farbigen Bevölkerung in
Reihe dieser Städte waren die Schwarzen zum größten »ethni-
den meisten dieser Städte.... schen« Block geworden. Von ihrer potentiellen Bedeutung für den
In Philadelphia wurden 27 oco Stimmen weniger abgegeben als 19 56, ein Ausgang von Präsidentschaftswahlen her gesehen, waren sie strate-
Rückgang um 14,7%. In den farbigen Stadtteilen von Kansas City im Bun- gisch ausgezeichnet konzentriert. Darüber hinaus vvurde die
desstaat Missouri ging die Wahlbeteiligung um ein Fünftel zurück: 5 9oc Demokratische Partei von den Stimmen im Norden um so abhängi-
weniger Wähler gaben dort ihre Stimme ab. Der prozentuale Rückgang war ger, je deutlicher die Verluste im Süden bei den Wahlen von 1948
in Boston mit 28,5% sogar noch höher. In Atlantic City ging die Stimmen- und 1952 wurden.
zahl der Schwarzen um 19% zurück, inToledo um 5,6%, in Pittsburgh um Trotz der wachsenden Bedeutung schwarzer Wähler lehnten es die
5,4'V°, in Chicago um 12%, in Brooklyn um 9,3%, in Youngstown (Ohio)
Demokratischen Parteiführer auch weiterhin ab, in der Frage der
um 9,1 `)/0, in Cleveland um 6,4% und in Harlem um 5,9% .« (Moon, 19 57,
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Bürgerrechte Konzessionen zu machen. »Die Demokratischen Par-
teiführer im Norden gaben zwar zu, daß historische Ungerechtig-
Zusätzlich zur Unzufriedenheit mit der Bürgerrechtspolitik der keiten abgestellt werden müßten«, meint Schlesinger, »glaubten
Demokratischen Partei gingen die Stimmenverluste und vermin- aber, daß stetige und solide Fortschritte über eine Reihe von Jahren
derte Wahlbeteiligung wahrscheinlich noch auf eine weitere Tatsa- hin ausreichen würden, um die Opfer der Ungerechtigkeit zufrie-
che zurück, daß nämlich die Demokratischen Parteiapparate in den denzustellen und ihre beginnende Revolution einzudämmen.«
nördlichen Großstädten nur wenig taten, um die Loyalität der (807) Wahrscheinlicher ist, daß die Demokratische Parteiführung
Schwarzen zu erhalten. Die Schwarzen fanden in diesen Städten die Loyalität der Südstaatenwähler einfach nicht noch weiter aufs
nur langsam Zugang zu den politischen Apparaten, die sich haupt- Spiel setzen wollte, zumal sie damit bis 1956 nicht einmal ein Risiko
sächlich auf weiße Arbeiter und Mittelschichtsgruppen stützten einging, da doch die Loyalität der Schwarzen ungebrochen schien.
und kaum darauf vorbereitet waren, ihrer wachsenden schwarzen Sobald aber die schwarzen Wähler genauso unberechenbar wurden
Anhängerschaft in größerem Umfang entgegenzukommen. Das lag wie die weißen Südstaatler, konnte die Demokratische Strategie —
zum Teil daran, daß sich die feindselige Haltung vieler Weißer sich vorsichtig vorwärts zu tasten, um nicht den Süden gegen sich auf-
gegenüber den Schwarzen intensivierte, als deren Zahl zunahm. zubringen — nicht länger von Erfolg sein. DerWeg zu Konzessionen
Zum Teil lag es auch daran, daß viele große Städte fest in Demokra- in der Bürgerrechtsfrage ist mit anderen Worten nicht, wie einige
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Beobachter glauben, durch die Entstehung eines größeren schwar- Johnson geriet durch den Bedeutungszuwachs der Bürgerrechts-
zen Wählerblocks in den Nordstaaten, sondern erst durch den frage, sowie durch die Republikanischen Versuche, daraus Vorteile
zunehmenden Verlust schwarzer Wählerstimmen geebnet worden. zu erzielen, in ein qualvolles Dilemma. Obwohl seine Macht im
Eine dieser Konzessionen wurde bereits in dem unmittelbar auf Senat auf der Gruppe der Südstaaten-Senatoren basierte, hatte er
die Präsidentschaftsvvahl folgenden Jahr gemacht, als der Kongreß starke Präsidentschaftsambitionen. Um diese befriedigen zu kön-
das erste Bürgerrechtsgesetz seit 1875 verabschiedete. Das unbe- nen, mußte er sich entscheiden, ob er, der Texaner, »als Mann aus
ständige Wählerverhalten spielte bei der Bildung der Kongreßkoali- dem Westen und nationaler Demokrat« oder »als Südstaatler und
tion, die das Gesetz durchbrachte, eine bedeutende Rolle. Die regionaler Demokrat« gelten wollte (Evans und Novak, 'to). Den
Demokraten hatten kaum eine andere Wahl, als die Maßnahme zu Oppositionskurs gegen die Bürgerrechte fortzusetzen, hätte
unterstützen: die Partei hätte vielleicht den Verlust weißer Süd- bedeutet, alle Hoffnung auf eine größere Karriere in der Bundespo-
staatler verkraften können, vielleicht auch die Abwanderung litik aufgeben zu müssen.
schwarzer Wähler, den Verlust beider Lager jedoch nicht. Die
»Die Entwicklung Johnsons zum scheinbaren Vorkämpfer für die Bürger-
Republikaner fühlten sich durch das schwarze Wählerverhalten in rechte begann nach der Zerstörung seiner Hoffnungen im Jahre 1956 [als er
ihrer bisher verfolgten gemäßigten Bürgerrechtspolitik bestätigt. die Nominierung zum Vizepräsidentschafts-Kandidaten hauptsächlich auf-
Folglich waren es auch wieder die Republikaner, die die Initiative grund der Opposition aus dem Norden verlor]. Er hatte verstanden: der
ergriffen und das zuvor gescheiterte Bürgerrechtsgesetz erneut vor- Sieg wurde in den Städten errungen, durch die Unterstützung der Gewerk-
legten. Damit überwarfen sie sich aufs neue mit den Südstaaten- schaften, der Großstadtbosse, der Schwarzen, Einwanderer, unabhängigen
Demokraten. Die Auflösung dieser Allianz, die bisher jegliche Bür- Wähler und wenn möglich auch der Farmer, obwohl man sich um die erst
gerrechtsgesetzgebung verhindert hatte, war eine direkte Folge des ganz zum Schluß zu kümmern brauchte. Johnson erkannte, daß wer den
veränderten schwarzen Wählerverhaltens in den nördlichen Indu- Süden gewinnt, nichts gewinnt.... LBJ erkannte, daß er sich seine Magno-
lienblüte aus dem Knopfloch pflücken mußte, also tat er es. Also würde er
striestaaten. ein Bürgerrechtsgesetz verabschieden. Und wenn nötig, auch zwei.« (Sher-
Da nun dem Kongreß erneut ein Bürgerrechtsgesetz vorlag, riß rill, 193)
Johnson rasch die Kontrolle an sich und setzte die notwendigen
Kompromisse durch, um einen Filibuster der Südstaaten-Sena- Das Hauptproblem, dem Johnson sich gegenüber sah, war die Aus-
toren zu verhindern. Johnsons eigene politische Evolution in der sicht auf einen Filibuster der Südstaatenabgeordneten — dem mußte
Bürgerrechtsfrage spiegelte die Auswirkungen der erschütterten vorgebeugt werden. Der Entwurf enthielt Klauseln (und einen
Wählerbasis der Demokratischen Partei wider — bis zur Mitte der Zusatz), die dem Süden nicht gefielen; auf der anderen Seite waren
fünfziger Jahre noch hatte sich Johnson regelmäßig geweigert, Bür- die Republikaner und Demokraten aus dem Norden bereit, auf
gerrechtsgesetzgebung zu unterstützen: eine Änderung der Geschäftsordnung des Senats zu drängen, um
das Instrument des Filibuster zu schwächen, falls der Süden dieVer-
»Seit 1937 als er zuerst in das Repräsentantenhaus kam, hatte Johnson in abschiedung des Gesetzes blockieren wollte. Da jedes der beiden
der Bürgerrechtsfrage stets mit Nein gestimmt: Nein zu einem Anti-Lynch- Lager die Stärke der anderen Seite fürchtete, war Johnson in der
Gesetz im Jahre 194c, Nein zu einer Vorlage gegen die Rassentrennung Lage, Unterstützung für einen Kompromißentvvurf zu sammeln,
beint Militär im Jahre 195o, Nein zu Gesetzen gegen die Wahlsteuer in den der im wesentlichen symbolischer Natur war und ohne Filibuster
Jahren 1942, 943 und 1945, Nein zu einem Anti-Diskriminierungs-Zusatz
mit überwältigender Mehrheit (72 zu 18, wobei Johnson und vier
zu dem bundesstaatlichen Schulspeisungsprogramm, den der Abgeordnete
Adam Clayton Powell von Harlem 1946 einbrachte. Ja zu einem von Sena- weitere Südstaatler mit der Mehrheit stimmten) verabschiedet
tor James Eastland von Mississippi 1949 eingebrachten, gegen die Schwar- wurde.
zen gerichteten Zusatz zu dem ewigen Gesetzesvorschlag über die Selbst- Die Demokratische Partei hatte wieder einmal die tiefe Kluft in
verwaltung des District of Columbia. Die Liste war lang und lückenlos.« ihren Reihen umschifft. Doch es gab einen Unterschied: das Manö-
(Evans und Novak, 109) ver war nur gelungen, weil man ein Bürgerrechtsgesetz verabschie-

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det hatte, so schwach es auch gewesen sein mag. Aus diesem Grund handelt. Noch am selben Tag untersagte das Gericht Gouverneur
war der »Civil Rights Act« von 1957 von großer Bedeutung, läutete Faubus und der Nationalgarde, die Aufhebung der Rassentrennung
er doch das Ende der althergebrachten Strategie ein, regionale weiterhin zu verhindern, woraufhin der Gouverneur die National-
Gegensätze durch Vermeidung des Bürgerrechtsthemas zu über- garde umgehend abrücken ließ. Die Stadtverwaltung von Little
brücken. Die wachsende Zahl und Unberechenbarkeit der schwar- Rock sah mit Entsetzen den Gewaltaktionen des Mob, die mit
zen Wähler hatten es erforderlich gemacht, diesen Gegensätzen auf Sicherheit folgen würden, entgegen und bat die Bundesregierung
neue Art zu begegnen — auf eine Art, die Zugeständnisse an die um Polizeitruppen, doch wieder weigerte sich Eisenhower einzu-
Schwarzen einschloß. Fortan würde der Kampf über das Wesen die- greifen. Als während der folgenden Tage die Ausschreitungen eska-
ser Konzessionen geführt werden. lierten, mußte Eisenhower aber schließlich doch die Nationalgarde
Als das Bürgerrechtsgesetz von 1957 noch diskutiert und verab- von Arkansas unter seinen Befehl stellen und Fallschirmtruppen
schiedet wurde, intensivierten die weißen Südstaatler ihren Wider- entsenden, um die Ruhe wiederherzustellen.
stand. Es war eindeutig die Absicht der »politischen Führung des Die Episode von Little Rock trug erheblich zur weiteren Polari-
tiefen Südens ... alle zögernden Kommunen in unüberbrückbare sierung des Landes in der Rassenfrage bei. Wahrscheinlich fühlten
Opposition zum Obersten Gerichtshof [zu] zwingen« (Lubell, sich beide Seiten des Konflikts durch die Ereignisse bestärkt. In
1956, 196). Angesichts der ungeschminkten Mißachtung der Bun- den Augen der Schwarzen und ihrer Verbündeten war die Interven-
desgerichte, die aus dieser Haltung folgte, war eine schwere Krise tion der Bundesregierung ein Triumph zentralstaatlicher Macht
unvermeidlich. Little Rock im Bundesstaat Arkansas gehörte zu über regionalen Rassismus. Andererseits konnte den Südstaaten-
diesen zögernden Kommunen und wurde ein wichtiger Schauplatz politikern nicht entgangen sein, mit welcher Abneigung sich die
der bevorstehenden Krise. Bundesregierung erst unter äußerst extremen Bedingungen in die
Als die Ideologie massiven Widerstandes vom Süden Besitz Kontroverse hatte hineinziehen lassen, was darauf hindeutete, daß
ergriff, verlor Gouverneur Faubus, selbst in der Rassenfrage eher weitere Versuche zur Umgehung der Gerichte in Zukunft durchaus
gemäßigt, nach und nach die Kontrolle über die weiße Bevölkerung erfolgreich sein könnten.
von Arkansas. Angesichts überdeutlicher Hinweise, daß es zu Ein solcher Widerstand konnte viele Formen annehmen. 1 95 8
Gewaltaktionen von Weißen kommen würde, falls die Schulbe- erichtzumBsplnkordietAgfausObrte
hörde von Little Rock einer gerichtlichen Anordnung zur Integra- Gericht »seinen Höhepunkt ... als das Repräsentantenhaus fünf
tion der öffentlichen Schulen folgen sollte, bat Faubus Eisenhower Gesetze verabschiedete, die die Autorität des Gerichtes einschrän-
um Unterstützung durch die Bundesregierung.' Als seine Bitte ken sollten. Sie scheiterten zwar im Senat, doch die Allianz gegen
zurückgewiesen wurde, mobilisierte er am 2. September 1957 die das Verfassungsgericht bewies auch in der oberen Kammer eine
Nationalgarde, um die Desegregation zu verhindern. Die belagerte beachtliche Stärke.« (Bartley, 291) Der militante Widerstand der
Schulbehörde wandte sich an die Bundesgerichte und bat um Südstaaten gegen die Aufhebung der Rassentrennung, die Verab-
Instruktionen; sie wurde umgehend angewiesen, den Plan zur schiedung von Anti-Integrationsgesetzen in einer wachsenden
Schulintegration durchzuführen. Daraufhin traten neun schwarze Reihe von Bundesstaaten (die die Schließung öffentlicher Schulen
Schüler mutig dem gewalttätigen weißen Mob entgegen, um in die einschlossen) und die Initiativen im Kongreß brachten zusammen
»Central High School« zu gelangen, wurden jedoch von den Natio- »den Obersten Gerichtshof unter den schwersten Beschuß seit
nalgardisten zurückgewiesen. Noch einmal baten Vertreter der [Roosevelts Reformversuchen] 1937« (Bartley, 291). Ein Resultat
Schulbehörde die Bundesgerichte um eine zeitweise Aussetzung war, daß das Gericht seine Ansichten mäßigte: zwar unterstrich es
des Integrationsprogramms, doch wieder wurden sie abgewiesen. auch weiterhin das allgemeine Prinzip der Gleichheit vor dem
Außerdem wies das Gericht das US-Justizministerium an, eine Ver- Gesetz, wie es in der Brown-Entscheidung niedergelegt war, doch
fügung gegen Gouverneur Faubus und die Befehlshaber der Natio- bestätigte es das Recht der Schulbehörden, Schüler nach ihrem
nalgarde zu beantragen. Am 20. September wurde der Antrag ver- Ermessen auf die Schulen zu verteilen, was den südstaatlichen
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Behörden erlaube, eher symbolische Maßnahmen zur Schulinte- Das Wiederaufleben schwarzen und weißen Widerstands
gration zu treffen. Kurzum: der massive Widerstand war noch
lange nicht gebrochen. Gerade als die Demokraten sich anschickten, 196o die Präsident-
Nichtsdestoweniger begannen sich die zunehmenden regionalen schaft zurückzuerobern, flammte der schwarze Protest wieder auf
Spannungen, einschließlich der zögernden und tapsigen Versuche und nahm immer massivere Formen an. Jetzt provozierten nicht
der Republikaner, sie zu ihrem Vorteil zu nutzen, für die Schwarzen mehr hauptsächlich weiße Südstaatenpolitiker Konfrontationen
auszuzahlen. Ein, wenn auch bescheidener Erfolg wurde 196c, mit mit der Bundesregierung — in dieser Phase begannen Bürgerrechts-
der Verabschiedung eines zweiten Bürgerrechtsgesetzes erzielt: aktivisten »eine Strategie des zivilen Ungehorsams [einzuschla-
gen], um Lokalverwaltungen in Konflikte mit den Bundesautoritä-
»Johnson war sich von Beginn des 86. Kongresses an darüber klar, daß die ten hinein zu zwingen« (Killian, 63). Die Weißen reagierten mit
1958 gewählten massiven demokratischen Mehrheiten ein zweites Bürger-
zunehmender Gewalt, die von Südstaatenpolitikern, insbesondere
rechtsgesetz verlangen würden, um die bei der Sicherung des Negerwahl-
den Gouverneuren, angestachelt wurde und sich in Form von Poli-
rechts verbliebenen Lücken zu schließen. Er hoffte, so schnell wie möglich
noch 1959 und jedenfalls lange vor den Wahlen von 196o, wiederum ohne
zeiterror und Ausschreitungen weißer Mobs äußerte.
südstaatlichen Filibuster, ein Mindestgesetz verabschieden zu können. Am Am i. Februar 196c betraten vier Studenten des »Negro Agricul-
zo. Januar 1959 legte er seinen ersten Entwurf vor. Er enthielt in vier Teilen tural and Technical College« in Greensboro (North Carolina) ein
Bestimmungen über die Einrichtung eines Rassenschlichtungsamtes, die er kleines Warenhaus, wo sie sich — unter Verletzung der Kastenord-
schon 1957 erwogen, aber dann aufgegeben hatte. Der Entwurf wurde von nung — demonstrativ an die Imbißbar setzten. Bedient wurden sie
Freunden und Feinden der Bürgerrechtsgesetzgebung gleichermaßen nicht. Von der »Diskrepanz zwischen den Versprechungen auf Inte-
ungünstig aufgenommen. Statt dessen bildete ein von Präsident Eisen- gration und der scheinheiligen Wirklichkeit« (Killian, 59) beflügelt,
hower geförderter, viel umfassender angelegter Gesetzentwurf die Grund-
breitete sich die Sit-in-Bewegung wie ein Steppenbrand von einem
lage der Debatte.« (Evans und Novak, 204)
Schauplatz zum andern aus. In der zweiten und dritten Woche im
Eisenhowers Gesetzentwurf wurde Anfang 196o debattiert. Es war Februar fanden überall im Staat schon ähnliche Aktionen statt, die
ausgeschlossen, daß es Johnson gelingen würde, die Südstaatenab- von Studenten der Duke University und des North Carolina Col-
geordneten zu einer Annahme des Gesetzes zu überreden; ebenso lege organisiert wurden. Trotz Verhaftungen und gewalttätiger
ausgeschlossen, daß er die liberalen Senatoren zu Änderungen Repressalien übernahmen Studenten der Fisk University inTennes-
hätte veranlassen können. Im Ergebnis kam es zu einem Filibuster, see die Taktik, ebenso Studenten verschiedener Hochschulen in
der sich monatelang hinzog und nicht gebrochen werden konnte. Atlanta. Innerhalb weniger Wochen »dehnten sich die sit-ins auf
»Um den triumphierenden Südstaatlern entgegenzukommen, fünfzehn Städte in fünf Südstaaten aus« (Zinn, 6). 25
erklärten sich Johnson und Eisenhowers Justizminister William Das Übergreifen der Sit-in-Bewegung auf Atlanta war von beson-
Rogers [schließlich] bereit, die beiden schärfsten Abschnitte des derer Bedeutung, hatte doch Martin Luther King nach einer Reihe
Entwurfs (die sich auf die Desegregation in Schulen und Berufen von Vorbereitungstreffen im Anschluß an den Montgomery-Bus-
bezogen) zu streichen.« (Evans und Novak, 20 5 ) Damit war die Ver- Boykott die »Southern Christian Leadership Conference« (SCLC)
abschiedung des Gesetzes gesichert. Übrig blieben Strafvorschrif- gegründet und die Büros der Organisation in Atlanta, wo er selbst
ten gegen Bombenattentate, Attentatsdrohungen und die Verhinde- ein neues Pfarramt übernommen hatte, eröffnet. Die SCLC-Füh-
rung gerichtlicher Anordnungen, besonders Anordnungen zur rung erkannte rasch die Bedeutung der von den Studenten initiier-
Desegregierung von Schulen, sowie eine ineffektive Bestimmung ten Sit-in-Bewegung und bot moralische und finanzielle Unterstüt-
über von Gerichten zu ernennende Wahlbeobachter. Die Republi- zung an (allerdings, wie anzumerken ist, gegen den Widerstand von
kanischen Senatoren stimmten geschlossen für das Gesetz, das Funktionären mehrerer etablierter Bürgerrechtsorganisationen).
Eisenhower am 6. Mai unterzeichnete. Im April versammelten sich dann, unterstützt von der SCLC, stu-
dentische Delegationen von Dutzenden von Universitäten an der
246 247
Shaw University in Raleigh (North Carolina), um das »Student aktive Mitgliedschaft nie 3 000 bis 5 Go° Personen, die sich auf über
Nonviolent Coordinating Committee« (SNCC) zu gründen. einhundert Ortsgruppen verteilten (Rich, 124; Meier und Rud-
Die Studenten im SNCC waren inspiriert von dem Glauben an die wick, 227). Der wichtigste Punkt dabei ist, daß die »direkte Aktion
Wirksamkeit zivilen Ungehorsams. Zinn beschrieb sie so: »[Sie hat- ... nur kleine Gruppen von Leuten erfordert, die allerdings so hoch
ten] ungeheure Hochachtung vor der Durchschlagskraft von motiviert sein müssen, daß sie bereit sind, das große Risiko, das bei
Demonstrationen, sie waren entschlossen, aus dem Labyrinth des direkten Aktionen unvermeidbar ist, zu tragen. ... CORE in den
Parlamentarismus auszubrechen und die Politiker mit einer Kraft Südstaaten war ein typisches Beispiel dafür.« (Bell, 9o) Kurz gesagt,
zu konfrontieren, die den Rahmen orthodoxer Politik sprengte — die Organisationen der direkten Aktion, die sich im Verlauf der
mit der Kraft großer Menschenmengen auf den Straßen und bei Bürgerrechtsbewegung herausbildeten, waren Kaderorganisatio-
Protestdemonstrationen.« (13) Und Kenneth Clark meinte: »Das nen."
SNCC scheint die Nase voll zu haben von den langwierigen Ver- Die Kader — ob im SNCC, CORE oder in der SCLC — führten
handlungen und Überzeugungsversuchen, wie die >Urban League< zunächst exemplarische Aktionen durch. »Das entscheidende
sie praktiziert, und geht davon aus, daß der legislative und juristi- Merkmal der SNCC-Führung scheint diese Bereitschaft zu sein,
sche Ansatz der NAACP« an seine Grenzen gestoßen war (2 59). ein persönliches Risiko einzugehen, sich selbst dem Gefängnis und
Im Sommer und Herbst 196° kam es überall zu militanten Aktio- der Brutalität auszusetzen. Seine Mitglieder spielen die wichtige
nen des SNCC. Keiner wußte genau, was eigentlich geschah oder Rolle von Stoßtrupps an der vordersten und gefährlichsten Front
wer beteiligt war. Es gab keine Organisation, die die Protestaktio- des Rassenkampfes.« (Clark, 26o) Häufig in Gruppen von nur zwei
nen koordinierte', und einer der Teilnehmer sagte, warum: »Weil oder drei, oder einem halben Dutzend agierend, waren die Kader
die Studenten viel zu beschäftigt waren mit Protestieren ... >Orga- die aktivsten Demonstranten. Zum Beispiel waren »die ersten Sit-
nisation< brauchte eigentlich keiner, denn damals hatten wir eine in-Studenten, die in den sechziger Jahren tatsächlich ihre volle
Bewegung.« (Zinn, 36) Nach der Gründungsversammlung trafen Gefängnisstrafe absitzen mußten, ... Mitglieder der CORE-
sich im Oktober mehrere Hundert Delegierte in Atlanta, offen- Gruppe von Tallahassee. Die ersten ‚freedom riders<, die ihre Stra-
sichtlich um der Bewegung, die sie geschaffen hatten, so etwas wie fen voll verbüßten, anstatt in die Berufung zu gehen, waren Mitglie-
eine Struktur zu geben. Doch sogar jetzt gab es kaum Ansätze zu der der CORE-Gruppe von New Orleans.« (Rich, 116) Die
einer festgefügten Organisationsstruktur. Das SNCC »war keine SNCC-Aktivisten nannten diese Taktik »Jail-no-bail« (etwa:
... Mitgliederorganisation. So blieb die Bindung der einzelnen »Knast-statt-Kaution«):
Individuen an die Gruppe fließend und funktional, der Zusammen- »Nachdem in Rock Hill (South Carolina) im Februar 1961 zehn Studenten
halt ergab sich aus den Aktivitäten. ... Bog man den Zweig in eine verhaftet worden svaren, fällte der Leitungsausschuß des SNCC auf einer
Richtung, dann wuchs der Baum eben so.« (Zinn, 37-38) Sitzung in Atlanta seine bis dahin kühnste Entscheidung. Vier Leute, so
Ähnlich bemerkte Clark: »Anstelle eines einzigen Vorsitzenden einigte man sich, sollten nach Rock Hill fahren und dort ein sit-in veranstal-
hat SNCC viele >Sprecher<.« (2 59-26o) (Die bekanntesten dieser ten, sich verhaften lassen und sich dann weigern, die Kaution zu stellen, wie
Sprecher waren vielleicht Bob Moses, Jim Forman, Stokely Carmi- es bereits die ersten zehn Studenten getan hatten, alles um der Öffentlich-
keit die Ungerechtigkeit vor Augen zu halten. ... >Jail-no-bail< breitete sich
chael und John Lewis.)
aus. Im Februar 1961 gingen in Atlanta achtzig Studenten der schwarzen
In der Tat kannten all die Organisationen der Bürgerrechtsbewe- Colleges ins Gefängnis und weigerten sich, auf Kaution freizukommen.«
gung, die sich an direkten Aktionen beteiligten, weder eine beson- (Zinn, 38-39)
ders entwickelte Organisationsstruktur, noch waren sie sehr
erpicht darauf, eine formelle Mitgliedschaft aufzubauen. Das traf Derartige exemplarische Aktionen inspirierten wiederum die
ebenfalls auf den »Congress of Racial Equality« (CORE) zu. Mobilisierung der Massen. »Überall schnellte die Zahl der Teilneh-
Obwohl seine beitragszahlenden Mitglieder von wenigen Tausend mer an [CORE-]Demonstrationen in die Höhe«, doch nur wenige
im Jahre 1959 auf 8o 000 im Jahre 1964 anstiegen, überstieg die von ihnen waren auch CORE-Mitglieder (Meier und Rudwick,

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227). Und obwohl die SCLC 65 Ortsgruppen im ganzen Süden einem Straflager im ländlichen Georgia. Über Nacht wurde das
hatte, war ihre formelle Struktur »amorph und symbolisch«, waren Weiße Haus mit Telegrammen und Briefen von Gouverneuren,
die Menschen, die in großer Zahl an ihren Demonstrationen teil- Kongreßabgeordneten, einfachen Bürgern und ausländischen
nahmen, keine Mitglieder (Clark, 25 5 —2 56). Die Mobilisierung Würdenträgern überschwemmt, die alle um Kings Sicherheit in den
erfolgte hauptsächlich über die segregierten Institutionen, in denen Händen südstaatlicher Gefängniswärter aus der tiefen Provinz
die Menschen bereits »organisiert« waren: die schwarzen Colleges, fürchteten.
Kirchen und Gettoviertel. In den Jahren 196o und 1961 mobilisier- Präsident Eisenhower und Präsidentschaftskandidat Richard
ten die Aktivisten von SNCC, CORE und SCLC mit großem Nixon wogen die potentiellen Stimmenverluste und -gewinne im
Erfolg schwarze Collegestudenten im ganzen Süden. Matthews Fall einer Intervention gegeneinander ab und entschieden dagegen.
und Prothro geben an, daß während des ersten Jahres 25% der Kennedy entschied sich anders, und einige Beobachter behaupten
schwarzen Studenten an überwiegend schwarzen Hochschulen in seitdem, daß diese Entscheidung ihm letztlich den knappen Sieg
den elf südlichen Bundesstaaten an der Sit-in-Bewegung teilnah- eingebracht habe (Schlesinger, 810-8 1). Sein Anruf bei Kings Frau
men. Sie taten dies trotz permanenter Repressalien. Von diesen und der Anruf Robert Kennedys bei dem Richter, der King verur-
aktiven Studenten wurde »jeder sechste ... festgenommen, jeder teilt hatte, lösten unter den Schwarzen im ganzen Land unbe-
zwanzigste ins Gefängnis geworfen. Ungefähr jeder zehnte schreibliche Begeisterung aus. Binnen weniger Tage nach Kings
berichtete, er sei gestoßen, angerempelt oder bespuckt worden, prompter Entlassung aus dem Gefängnis kursierten in den Gettos
etwa derselbe Prozentsatz kam mit Prügel, Schlagstockeinsatz, zwei Millionen Exemplare einer Broschüre, in der die Inaktivität
Tränengas oder Brandstiftung in Berührung; weitere 8% wurden der Republikanischen Partei verurteilt und Kennedys Vorgehen
aus der Stadt gejagt. Nur IC/. der Demonstranten berichteten, gepriesen wurde.
daß ihnen nichts zugestoßen sei.« (412-415) Den Aktivisten ge- Im allgemeinen war die Demokratische Wahlkampagne jedoch
lang es außerdem, die schwarze Unter- und Mittelschicht in großer von einer eher ambivalenten Haltung in der Rassenfrage gekenn-
Zahl für Aktionen zivilen Ungehorsams zu mobilisieren. Im ersten zeichnet. In Kennedys bisheriger Karriere hatte nichts darauf hin-
Jahr der sit-ins nahmen insgesamt »über 5o 000 Menschen — die gedeutet, daß seine Überzeugungen in der Rassenfrage besonders
meisten von ihnen Schwarze, aber auch einige Weiße — ... an der ausgeprägt gewesen wären:
einen oder anderen Demonstration in einhundert Städten teil,
»Da die Bürgerrechte eine so wichtige und dramatische Rolle während sei-
und über 3 600 Deinonstranten waren eine Zeitlang im Gefängnis«
ner Präsidentschaft spielten, werden Historiker immer an Kennedys frühe-
(Zinn, 16). rem Standpunkt in der Bürgerrechtsfrage interessiert sein. Bis zum Präsi-
dentschaftswahlkampf von 196o setzte sich Kennedy nicht besonders stark
Versuche zur Überwindung der politischen Instabilität für die Schwarzen ein. Während seiner Bewerbung um die Vizepräsident-
schaftskandidatur von 1956 umwarb er die Delegation aus dem Süden und
Durch die Verhaftungen, gewalttätigen Ausschreitungen und Bru- betonte seine gemäßigte Haltung. Nach 1956 bemühte er sich, das Wohl-
talität der Polizei geriet die nationale politische Führung rasch in wollen, das ihm aus dem Süden entgegenschlug, am Leben zu erhalten, und
ein größeres Dilemma. Zum Beispiel wurde King am 25. Oktober seine dortigen Reden — in die er wenig schmeichelhafte Bemerkungen über
— nur ein paar Tage vor der Präsidentschaftswahl von i96o — verhaf- >Carpetbaggers< wie Gouverneur Alcorn aus Mississippi und Lob für L. Q.
C. Lamar und andere Verfechter südstaatlicher Interessen nach dem Bürger-
tet und verurteilt, weil er seine Bewährungsauflagen innerhalb der
krieg einflocht — klangen ein wenig nach Claude Bowers' Tragic Era. 1957
vom Gericht festgesetzten zwölfmonatigen Frist verletzt habe. Ver- schlug er sich während der Debatte über das Bürgerrechtsgesetz auf die
urteilt worden war er -wegen eines unbedeutenden Verkehrsdelik- Seite der Befürworter des O'Mahoney-Zusatzes, der vorsah, Geschwore-
tes, der Verstoß gegen die Bewährungsfrist bestand in der Teil- nengerichte über die Mißachtung von Gerichtsentscheidungen urteilen zu
nahme an einem studentischen sit-in; das Urteil dafür lautete auf lassen. Militante Bürgerrechtler betrachteten den Zusatz als eine Kastration
vier Monate Zwangsarbeit im Staatsgefängnis von Reidsville, des Gesetzes, da Angeklagte, die Schwarze an der Ausübung ihres Wahl-

250 25 I
rechts behindert hätten, vor Geschworenenjuries im Süden eher Gnade fin- Industriezentren hätte Kennedy die Wahl nicht gewinnen kön-
den würden als vor Bundesrichtern.« (Carleton, 279)28 nen.' Dennoch sollten »fast zwei Jahre vergehen, bevor Kennedy
Auf dem Nominierungsparteitag wurde eine größere Auseinander- wieder zum Telefon griff« (David Lewis, 197o, t3o). Er war nur mit
setzung mit den Südstaatenextremisten vorsichtig vermieden. »Die knapper Mehrheit ins Amt gekommen und hätte aufgrund der wei-
Kennedy-Leute taten alles, um die Südstaatler nicht durch irgend- ßen Stimmenverluste im Süden die Wahl fast verloren. Noch immer
welche Aktionen, die über eine klare Bürgerrechtsaussage im Wahl- schien daher eine Beschwichtigungspolitik gegenüber dem Süden
programm hinausgingen, gegen sich aufzubringen.« (Tindall, 42) 29 ratsam.
DerWahlkmpfdRubinerwavoählcAmbienz Darüber hinaus fürchtete Kennedy (wie schon andere Demokra-
gekennzeichnet. Obwohl Nixon einem Abschnitt im Parteipro- tische Präsidenten vor ihm), durch eine Konfrontation mit dem
gramm, in dem mit starken Worten nach Bürgerrechten verlangt Kongreß in der Bürgerrechtsfrage Unterstützung für andere innen-
wurde, zugestimmt hatte, führte er eine heftige Wahlkampagne in politische Gesetzesvorhaben zu verlieren. »Der Grund lag in politi-
der weißen Südstaatenbevölkerung, vermutlich in der Hoffnung, scher Arithmetik. ...« (Sorenson 1965, 47 5 ) »Eine Zementierung
aufgrund der Kontroverse um Kennedys Katholizismus weitere der konservativen Koalition — indem man eine Streitfrage anschnitt,
Stimmenzuwächse erzielen zu können, und warb unterschwellig bei der die Südstaatler schon immer die Unterstützung der Repu-
um die Stimmen der Segregationisten. 3° In dieser unklaren Situa- blikaner im Austausch für die Opposition der Südstaatler gegen
tion liefen Florida, Tennessee und Virginia zu den Republikanern andere Vorlagen gesucht hatten — konnte sein ganzes Programm
über, während aus den Wahlen in Alabama und Mississippi unge- scheitern lassen.« (Sorenson 19 67, 444 ; vgl. auch Schlesinger, 81 1)
bundene Wahlmänner hervorgingen. Die Schwarzen aber kehrten So entschied sich der Präsident, anstelle gesetzlicher Änderungen
zur Demokratischen Partei zurück. Kennedy erhielt 68% ihrer die Möglichkeiten der Exekutive voll auszuschöpfen:
Stimmen, das waren 8% mehr als Stevenson 1956. »Kennedys Aufgabe bestand darin, auf dem Wege von Exekutivmaßnah-
Darüber hinaus muß betont werden, daß die Rückkehr der men soviel zu erreichen, daß Forderungen nach neuen Gesetzen unter Kon-
schwarzen Wählerstimmen exakt an den richtigen Stellen erfolgte. trolle gehalten werden konnten. Die Macht zur Durchsetzung der beste-
Überwältigende Mehrheiten in einigen der größten Gettos verhal- henden Bürgerrechtsgesetze lag beim Justizministerium; die Handhabung
fen Kennedy zum Gewinn wahlentscheidender Bundesstaten, und der Macht oblag dem Justizminister. In dieser Lage konnte Kennedy nicht
das mit hauchdünnen Mehrheiten: nur vermitteln, auf welcher Seite sich die präsidiale Autorität befand, son-
dern auch seine persönliche moralische Position deutlich machen. ... Wenn
«Kennedys Stärke in den großen Städten des Nordens, wohin die Schwar- es dem Justizminister Kennedys gelang, das Vertrauen derjenigen, deren
zen aus dem Süden gezogen waren, war entscheidend für den hauchdünnen Hauptsorge die Bürgerrechte waren, zu gewinnen und den Eindruck zu ver-
Sieg der Demokraten in den acht Bundesstaaten, die von Experten bei knap- mitteln, daß sich auf diesem Gebiet etwas bewege, konnte der Präsident
pem Wahlausgang für ausschlaggebend über Sieg oder Niederlage gehalten seine Unterstützung für neue Bürgerrechtsgesetze so lange hinauszögern,
werden: New York, Illinois, Pennsylvania, Michigan, Maryland, Missouri, bis der Kongreß bewilligt hatte, wozu es der Stimmen aus dem Süden
Minnesota und New Jersey. Alle von ihnen — bis auf Missouri — waren 1956 bedurfte.« (Fuller, 112, 116) 32
an Eisenhower gefallen; 196o gingen alle acht an Kennedy aufgrund seiner
Überlegenheit in den großen Städten. Am Beispiel Philadelphias ließ das So wurde das Justizministerium zum Hauptinstrument der Admi-
>Republican National Committee< Wahlkreis für Wahlkreis untersuchen, nistration in der Bürgerrechtspolitik. Bürgerrechtsklagen erhielten
welches die Gründe dafür waren. Die Studie zeigte unter anderem, daß ihr im Ministerium eine höhere Priorität, und es wurden mehr
Kandidat nur IX% der schwarzen Stimmen hatte gewinnen können, Ken- Gerichtsverfahren als vorher, insbesondere auf den Gebieten Schul-
nedy dagegen 82.« (Fuller, 113) integration und Wahlrecht eingeleitet. Gleichzeitig berief Kennedy
Wenn nach den Wahlen von 1960 eine Gruppe Grund hatte, Maß- jedoch Südstaatler ins Verfassungsgericht, die bei den Schwarzen
nahmen des Präsidenten zu ihrem Vorteil zu erwarten, waren es die großes Mißfallen hervorriefen. James Farmer gibt die Gefühle der
Schwarzen. Ohne ihre massive Unterstützung in den wichtigsten Aktivisten wieder:
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»Sicherlich leitete das Justizministerium mehr Verfahren wegen Verletzung um die Integration des Erziehungswesens, die von mehreren Süd-
der Vorschriften zur Wählerregistrierung ein als unter Eisenhower, doch staaten-Gouverneuren heraufbeschworen wurden.
hatte Kennedy, vermutlich mit der Zustimmung des Justizministeriums, Zu den herausragendsten Symbolen der Kastenordnung des
drei bekannte Rassisten ins Oberste Gericht berufen: William Harold Cox Südens gehörte die Rassentrennung in Busstationen und Bahnhö-
aus Mississippi [der zweihundert Antragsteller auf Wahlzulassung >einen fen — von Warteräumen über Bahnhofsrestaurants bis hin zu den
Haufen Nigger ... Schimpansen, die eher in einen Film gehören als auf die
Toiletten. Da diese öffentlichen Einrichtungen zum Zuständig-
Wählerlisten< genannt hatte], J. Robert Elliott aus Georgia [>Ich will nicht,
daß diese Kommunistenfreunde, Radikalen und Schwarzen mehr Stimmen
keitsbereich einer Bundesbehörde — der »Interstate Commerce
zusammenbringen als diejenigen Wähler, die unsere Segregationsgesetze Commission« (ICC) — gehörten, waren sie ein logischer Schauplatz
und Traditionen bewahren wollen<] und E. GordonWest aus Louisiana [der für Konfrontationen über die Rassentrennung. Im Frühjahr 1961
die Schulintegrationsentscheidung von 1954 >eine der wahrlich bedauerns- beschloß der »Congress of Racial Equality« unter seinem neuen
werten Entscheidungen in der Geschichte< nannte]. Rassistische Bundes- Vorsitzenden James Farmer', »freedom riders« in den Süden zu
richter bilden heute vielleicht das größte Hindernis bei der Durchsetzung schicken.' Die »freedorn rides« (denen sich später auch die SCLC,
der Gleichberechtigung im Süden.« (4e) das SNCC und das »Nashville Student Movement« anschlossen)
Im Beschäftigungsbereich erließ Kennedy eine Exekutivverord- riefen einige der schlimmsten Gewalttaten weißer Mobs in dieser
nung gegen diskriminierende Beschäftigungspraktiken bei Bundes- Zeit hervor. Insgesamt gab es ungefähr ein Dutzend verschiedener
behörden und stellte mehr Schwarze ein als alle vorherigen Regie- »freedom rides«, an denen sich rund oco Personen beteiligten
rungen; unter anderem verhalf er einer Reihe von Schwarzen zu (Lomax, 161; Schlesinger, 8 r 5). Nach jeder der gewalttätigen Kon-
führenden Regierungspositionen. Ferner instruierte er alle Mini- frontationen und Massenverhaftungen stand die Bundesregierung
sterien, Schwarze systematisch in höhere Posten aufzunehmen. So vor der Frage, ob sie in den Konflikt eingreifen sollte. Eins stand
stieg die Zahl der Schwarzen in mittleren Beamtenpositionen von jedenfalls fest: die Bürgerrechtsaktivisten würden auf keinen Fall
Juni 1961 bis Juni 1963 um 36,6°/0 und im höheren Dienst um aufgeben. James Farmer drückte den Geist der »freedom rides«
8 8,2"Yo (Schlesinger, 813). Ebenso versuchte der Präsident, über das aus, als er erklärte: »Für die Beteiligten waren die Gefängnisse
von Vizepräsident Johnson geführte »President's Committee on nichts Neues, aber für die Gefängnisse von Mississippi waren die
Equal Employment Opportunity« die Diskriminierung im priva- >freedom riders< bestimmt etwas Neues.« (Zinn, 57) Viele der Teil-
ten Sektor einzuschränken, wenn auch im Zuge der Aktivitäten des nehmer an den verschiedenen Fahrten hatten in der- Tat schon
Komitees keine Bundesaufträge an private Arbeitgeber gekündigt Erfahrungen mit Südstaatengefängnissen gemacht; sie waren Vete-
wurden. ranen der sit-ins und der »jail-no-bail«-Proteste. Die Gefängnisse
waren zu der Feuerprobe geworden, aus der die Kader des zivilen
Der Widerstand verstärkt sich Ungehorsams hervorgingen.
Die Kennedy-Administration wurde fortwährend in den Konflikt
Allein: die Aktivitäten der Kennedv-Administration an der Bürger- der beiden aufeinanderprallenden Seiten hineingezogen. Mit ihren
rechtsfront gingen den Südstaatenpolitikern zu weit, den Bürger- Reaktionen schüttete sie nur Öl ins Feuer: wenn die Bundesregie-
rechtsaktivisten jedoch bei weitem nicht genug. Folglich eskalier- rung sich hinter die Ziele der Bewegung stellte — entweder symbo-
ten beide Seiten ihren Widerstand— die einen, um die Bemühungen lisch oder durch verschiedene administrative Maßnahmen —, fühl-
der Bundesregierung um Gleichberechtigung zu schwächen, die ten sich die Beteiligten ermutigt, wie frustriert sie auch sonst wegen
anderen, um sie zu verstärken. Zu den dramatischsten Aktionen in der Verzögerung und Kompromisse aus Washington gewesen sein
diesem Zeitraum gehörten die »freedom rides« (»Freiheitsfahr- mögen. Als der Präsident beispielsweise bei einer Pressekonferenz
ten«, d. h. organisierte Bus- oder Zugfahrten in den amerikani- nach den »freedom rides« gefragt wurde, antwortete er: »Der
schen Süden zur Aufhebung der Rassentrennung im Transportwe- Justizminister hat unsere Auffassung klar und deutlich herausge-
sen — d.Ü.) von Bürgerrechtsaktivisten und die Konfrontationen stellt, daß jeder, der reist — ganz gleich aus welchem Grund (sic)
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den vollen Schutz der Gesetze und der Verfassung genießen muß.« zur Geltung zu verhelfen, oder sollte sie nicht? Jegliche Interven-
(Schlesinger, 815 /816) Schließlich griff der Justizminister ein, um tion würde die eine Seite im Kampf um die Bürgerrechte empören,
die »freedom rides« in Montgomery zu beschützen, da dort die passive Zurückhaltung die andere — so oder so mußte sich die Kluft
Gewalt ein Ausmaß erreichte, das sich nicht länger ignorieren ließ: in der Demokratischen Wählerschaft vertiefen.
»Die Gewalt nahm solche Ausmaße an und geschah so offen, daß Justizmi- Folglich unternahm die Regierung Schritte, um das Ausmaß des
nister Robert Kennedy 40o Mann der Bundespolizei nach Montgomery Konfliktes zu reduzieren, indem sie versuchte, die Bürgerrechtler
beorderte, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Am Abend des zt. Mai von der offenen Konfrontation über die Aufhebung der Rassen-
hielt Dr. King eine Massenversammlung in Montgomerys First Baptist trennung in Schulen, Wartesälen,Toiletten, Parks und Schwimmbä-
Church ab. Während die Veranstaltung ablief, rottete sich draußen vor der dern, die die weißen Südstaatler so aufbrachte, abzubringen. Statt
Kirche ein weißer Mob zusammen. Zwischen den tausend Schwarzen in der dessen schlug sie vor, die Bürgerrechtler sollten sich auf die Regi-
Kirche und dem Mob stand ein Trupp Bundespolizisten und Stadtpolizei strierung schwarzer Wähler konzentrieren, weil in den Worten von
von Montgomery. Irgend jemand aus der Menge rief: 'Wir wollen auch
Schlesinger
Integration. Laßt uns zu ihnen rein.< Danach hagelte es Flaschen und Pfla-
stersteine auf die Kirche. Die Bundessheriffs schlugen mit Tränengas »das Stimmrecht der Schwarzen ... keine sozialen oder sexuellen Ängste
zurück. Die Schlacht wütete fast die ganze Nacht. aus[löste], und die Weißen im Süden kaum mit dem gleichen moralischen
In der Kirche hakten sich die Schwarzen gegenseitig ein und sangen die Eifer gegen das Wahlrecht ihrer farbigen Mitbürger argumentieren [konn-
Hymne der Bürgerrechtsbewegung: 3,Ve Shall Overcome<. ten] wie gegen die Rassenmischung in den Schulen. Kurz, die Konzentra-
We are not afraid We are not afraid We are not afraid today Oh, tion auf das Wahlrecht schien das beste verfügbare Mittel, um den weißen
deep in my heart, I do believe We shall overcome somedav. Süden zu überzeugen.« (814)
(Wir fürchten uns nicht ... Wir fürchten uns nicht ... Auch heute fürchten (Diese Meinung ignorierte unerklärlicherweise das tiefverwurzelte
wir uns nicht ... Oh, tief in meinem Herzen, da glaube ich ... Eines Tages
Interesse weißer Südstaatenpolitiker an der weiteren Verweigerung
werden wir siegen.)« (Bleiweiss, 84-85)
des Wahlrechts für die Schwarzen; noch berücksichtigte sie das —
Innerhalb nur weniger Monate nach diesem Ereignis ordneten die zwar abnehmende, aber noch immer wichtige — Interesse der Plan-
Bundesgerichte und die ICC die Desegregation aller Bahnhofsein- tagenbesitzer im »black belt« an der Unterdrückung der Schwar-
richtungen an, sowohl für die Passagiere der Busse und Züge, die zen.)
die Grenzen einzelner Bundesstaaten überquerten, als auch der Außerdem erkannte die Kennedy-Administration — wie sowohl
innerstaatlichen Transportmittel. Sorenson als auch Schlesinger verdeutlichen — allmählich, daß eine
Ausdehnung des Wahlrechts auf die Schwarzen die Möglichkeit
Versuche zur Kanalisierung der Bürgerrechtsbewegung bot, verlorenes Terrain der Demokratischen Partei im Süden
zurückzugewinnen. Die Schwarzen im Süden repräsentierten ein
Nach dem Beginn der studentischen sit-ins und »freedom rides« gewaltiges, noch gänzlich unberührtes Reservoir Demokratischer'
versuchte die Kennedy-Administration, die Bürgerrechtsbewe- Wähler: ihre Zahl konnte die Verluste weißer Südstaatenwähler wie-
gung von ihrer Konfrontationstaktik abzubringen und sie statt des- der wettmachen. Diese Erkenntnis machte es erforderlich, der
sen zum Aufbau einer starken schwarzen Wählerschaft im Süden zu Durchsetzung des Wahlrechts größere Aufmerksamkeit zu schen-
bewegen. Die Haltung der Regierung in dieser Frage ist nicht ken. Auf diese Weise
schwer zu verstehen. Die Taktik der Konfrontation führte — zusam-
»passierte die Abschaffung der Wahlsteuern bei Bundeswahlen, die schon
men mit den Gewalttaten der Polizei und weißer Zivilisten, die sie seit zwanzig Jahren angestrebt wurde ... schließlich beide Häuser des Kon-
provozierte — überall zu einer Polarisierung der öffentlichen Mei- gresses, wurde vom Präsidenten und vom Nationalen Demokratischen
nung. Die Gewaltexzesse stürzten die Kennedy-Administration Komitee durch die Parlamente der Bundesstaaten gepeitscht und wurde
immer wieder in ein qualvolles politisches Dilemma: Sollte sie damit zum vierundzwanzigsten Zusatz zur Verfassung. Der Präsident
intervenieren, um die Bürgerrechtler zu schützen und dem Gesetz glaubte, daß allein die Zahl der Schwarzen und weniger begüterten Weißen,

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denen durch diese Maßnahme dieWahl ermöglicht wurde, beim Rennen um nur mögliche Unterstützung und Kooperation gewähren würden.«
die Wiederwahl im Jahre 1964 in Texas und West Virginia ihm einen Stim- (Meier und Rudwick, 173 ; Zinn, 58)35
menzuwachs bringen könnte.« (Sorenson, 444) Innerhalb der Bürgerrechtsbewegung riefen diese Kanalisierungs-
In demselben Sinne schrieb Kennedy, als er die Berichte seines versuche sowohl Bestürzung als auch Enthusiasmus hervor.
Justizministers über den Fortschritt in der Wahlrechtsfrage nach >Während viele CORE-, SNCC- und SCLC-Aktivisten Kennedys Vor-
zwei Jahren durchsah: >Treib die Sache weiter voran.« Schlesinger schlägen skeptisch gegenüberstanden und sie als einen bewußten Versuch,
glaubte in diesen Ereignissen einer Parallele zu den frühen Jahren sie von direkten Aktionen abzubringen, ansahen, waren andere ohnehin
des New Deal zu erkennen: »Eine Generation zuvor hatte Roose- schon z.0 dem Schluß gekommen, daß direkte Aktionen kein Allheilmittel
velt die Energien und Hoffnungen der Gewerkschaftsbewegung im seien und daß die Wählerregistrierung die notwendige Basis für weiteren
New Deal aufgefangen. [Ebenso] versuchte Kennedy 1963, die Fortschritt bilden würde.« (Meier und Rudwick, 172)
Negerrevolution in die demokratische Koalition einzubeziehen Wieder andere, unter ihnen King, meinten, beide Herangehenswei-
und sie so für die Zukunft Amerikas in Freiheit nutzbar zu sen seien notwendig:
machen.« Lassen wir die Frage, ob der Zukunft amerikanischer Ammer wieder stimmten wir zu, daß zwar das Recht, an Wahlen teilneh-
Freiheit gedient worden ist, einmal beiseite, kann jedoch nur wenig men zu können, sehr wichtig sei, aber wir erklärten auch immer wieder mit
Zweifel darüber bestehen, daß die Einbeziehung der schwarzen Geduld, daß die Neger nicht alle anderen Rechte vernachlässigen wollten,
Südstaatenbevölkerung in die New-Deal-Koalition der Zukunft um sich nur auf das eine zu beschränken, das besonders ins Scheinwerfer-
der Demokratischen Partei dienen würde. licht gestellt wurde.« (1965, 19)
In Übereinstimmung mit dieser politischen Strategie argumen- Über dieser Frage brach SNCC fast auseinander. Die eine Fraktion,
tierte die Kennedy-Administration bei ihren Verhandlungen mit die die Bedeutung direkter Aktionen hervorhob, war davon über-
Bürgerrechtsgruppen auch, das Wahlrecht sei das »Sesam-öffne- zeugt, das Interesse der Kennedy-Administration an der Wähler-
dich für alle anderen Rechte« (Navasky, 169; vgl. ebenfalls Soren- registrierung sei ein getarnter Versuch, »die Militanz der Studen-
son, 447; Schlesinger, 814). Dementsprechend sei es die Aufgabe tenbewegung zu dämpfen«, während die andere Fraktion davon
der Bundesregierung, das Wahlrecht auf dem Rechtsweg durchzu- ausging, daß Wählerregistrierung den Schlüssel zum Sturz des süd-
setzen, und die Aufgabe der Bürgerrechtsbewegung, für die Regi- lichen Kastensystems darstellte (Zinn, 59). Die Spaltung -wurde
strierung der Schwarzen als Wähler zu sorgen. Bei diesen Verhand- schließlich dadurch vermieden, daß für jede der beiden Strategien
lungen mit den Führern der Bürgerrechtsbewegung leistete die eine eigene Abteilung innerhalb der Organisation geschaffen
Kennedy-Administration jedoch mehr als reine Überzeugungs- wurde: eine Fraktion verfolgte auch weiterhin eine Konfronta-
arbeit. tionsstrategie (die sich vor allem gegen die Rassentrennung in
Sie operierte darüber hinaus in einer, wie Schlesinger es nennt, Hotels und Gaststätten richtete), die andere führte Kampagnen zur
»Aktion hinter den Kulissen«, die in ihrer Dringlichkeit »an die Wählerregistrierung durch. Da alle Bürgerrechtsorganisationen auf
Anstrengungen zur Befreiung der Schweinebucht-Gefangenen die eine oder andereWeise derVerlockung des Urnenganges erlagen
erinnerte« (814), mit umfangreichen finanziellen Anreizen. Im Juni und die Bundesregierung ihre finanzielle Unterstützung und ihren
1961 »trafen Vertreter des SNCC, der SCLC, der >National Student Schutz zugesichert hatte, kam es zwangsläufig zu einer Kampagne
Association< und des CORE [auf dessen Einladung] mit dem zur Registrierung schwarzer Wähler in den Südstaaten. Zum Früh-
Justizminister zusamrnen. Kennedy erklärte, daß seiner Meinung jahr 1962
nach Projekte zur Wählerregistrierung weitaus konstruktiver dief das Voter Education Project schließlich an. ... Es war für einen Zeit-
wären als >freedom rides< und andere Demonstrationen. Er versi- raum von zweieinhalb Jahren geplant und kostete 870000 Dollar, die fast
cherte den Konferenzteilnehmern, daß die notwendigen Geldmit- vollständig von der Taconic und der Field Foundation soxvie vom Stern
tel über private Stiftungen zur Verfügung gestellt werden und Family Fund aufgebracht wurden. Da bei Beginn des Projekts nur 25% der
Beamte des Justizministeriums, einschließlich FBI-Agenten, jede Schwarzen im Süden registriert waren, wurde erwartet, daß die Kampagne

25 8 259
noch rechtzeitig zur Präsidentschaftswahl von 1964 wesentliche Verände- lion weißer Südstaatler (besonders im Kongreß) gegen die natio-
rungen hervorbringen werde.< (Meier und Rudwick, 175) nale Demokratische Partei. Vor diese Alternative gestellt, wurden
die Bürgerrechtler geopfert. Trotz extensiver Dokumentierung von
Obwohl es der Kennedy-Administration gelang, viele Mitglieder
Wahlrechtsverletzungen und trotz extensiver Dokumentierung von
des SNCC und anderer Bürgerrechtsorganisationen in die Kam-
pagnen zur Wählerregistrierung einzubeziehen, sollte sich bald her- Gewalttaten gegen Bürgerrechtsaktivisten, weigerte sich die Ken-
nedy-Regierung immer wieder einzugreifen.
ausstellen, daß ihr Versuch, sie von ihrer Konfrontationsstrategie
Zur Rechtfertigung ihrer fortgesetzten Beschwichtigungspolitik
abzubringen, keinen Erfolg hatte. Mochte ihre Auffassung vom
gegenüber dem Süden argumentierte die Kennedy-Administra-
politischen Wahlsystem auch noch so traditionell sein, ließen sich
tion, es mangele der Bundesregierung an Autorität, um gegen Gou-
die Aktivisten, die nun ausschwärmten, um die schwarze Armuts-
verneure, Polizeichefs und andere Südstaatenpolitiker vorzugehen
bevölkerung zu registrieren, dennoch vorn Elan der sit-ins, »free-
(Navasky, 220. Am Ende blieben sogar die juristischen Vorstöße
dom rides« und der übrigen Konfrontationstaktiken mitreißen. Da
der Kennedy-Administration stecken, denn die zuständigen Bun-
sie beabsichtigte, Macht durch den Stimmzettel zu gewinnen, war
desrichter im Süden (und nicht zuletzt die von Kennedy selbst
es darüber hinaus nur natürlich, daß sie sich auf die Wahlbezirke im
berufenen) gehörten oft zu den kompromißlosesten Rassisten:
»black belt«, wo es potentielle schwarze Mehrheiten gab, konzen-
trierten. Aus eben diesem Grund aber standen sie auch den erbit- »Der nachweisbare Schaden, den diese Richter anrichteten, war dreifacher
tertsten und sich am stärksten bedroht fühlenden Lokalpolitikern Natur: Erstens schoben sie die Gerechtigkeit gnadenlos auf die lange Bank
gegenüber, denen eine Polizei zur Seite stand, die wie nirgendwo — womit sie die Durchsetzung der verfassungsmäßigen Rechte, die schon
sonst in den USA zu zügellosem Terror fähig war. Zudem griffen seit über hundert Jahren überfällig gewesen war, weiter verzögerten. Zwei-
diese Politiker zu allen möglichen Formen ökonomischen Drucks tens versetzten sie der Bürgerrechtsbewegung schwere Nackenschläge, so
daß diese zusehends frustrierter, fragmentierter und radikalisierter wurde —
auf die schwarze Armutsbevölkerung, um deren Wählerregistrie-
eine direkte Folge der offen ungerechten Entscheidungen, der Bundesge-
rung zu verhindern. So wurden Schwarze entlassen, zwangsge- richtsbarkeit. ... Drittens unterminierten sie durch Täuschung, Verschlep-
räumt oder von der Lebensmittelhilfe des Bundes abgeschnitten: pung und unmittelbare Angriffe auf die Bundesgewalt die Strategie des
»Als die Flut der Wähleranträge in Greenwood [Mississippi] anschwoll Justizministeriums, Fortschritte durch Rechtssprechung anstelle von Ge-
[obwohl während der ersten sechs Monate der SNCC-Aktivitäten dort nur setzesgebung zu erzielen.» (Navasky, 247-248)
ganze fünf Schwarze offiziell den Test, den das Wahlamt ihnen vorlegte,
Als Resultat genoß die massive weiße Widerstandsbewegung im
bestanden hatten], wurde die ökonomische Schraube gegen die farbige
Bevölkerung angezogen. Die Winter waren in den Landgemeinden von Süden auch weiterhin großen Handlungsspielraum bei ihrer
Mississippi schon immer karg gewesen, und die Leute waren auf die Bekämpfung der Bürgerrechte.
Lebensmittellieferungen der Regierung angewiesen. Im Oktober 1962 Wie es sich herausstellte, hatte sich auch die Bürgerrechtsbewe-
stoppte das >Board of Supervisors< von Leflore County die Verteilung der gung verkalkuliert. Die Aktivitäten zur Wählerregistrierung waren
Lebensmittellieferungen, wovon 22 oco Menschen • — hauptsächlich geographisch weit gestreut, und häufig mußten Bürgerrechtler in
Schwarze —, die von ihnen abhängig waren, betroffen wurden.» (Zinn, 86) kleinen Gruppen von nur zwei oder drei Personen in relativ isolier-
Es kam vor, daß Bürgerrechtler in ländlichen Wahlkreisen nach ten ländlichen Gebieten arbeiten. Daraus resultierten zahlreiche
einem Jahr Arbeit zwar auf zahllose Verhaftungen, Prügel und kleinere Konfrontationen, die jedoch gewöhnlich nicht publiziert
sogar einige Todesopfer zurückblicken konnten, nicht aber auf wurden und somit vom Weißen Haus ignoriert werden konnten.
registrierte schwarze Wähler. Auf diese unerwartete Weise waren die Kanalisierungsversuche der
Angesichts dieser Fehlkalkulation wollte die Regierung von ihren Kennedy-Administration doch noch erfolgreich.
Versprechungen, die Wahlrechtsaktivisten zu schützen, nichts mehr So blieb der Bürgerrechtsbewegung nur, auch weiterhin massen-
wissen. Die Regierung hatte zwar gehofft, im Süden Stimmen hafte Unruhe zu provozieren, denn nur wenn massenhafte Unruhe
dazuzugewinnen, aber nicht zum Preis einer verschärften Rebel- in ihren extremsten Formen ausbrach (und manchmal nicht einmal

26o 26 r
dann), tat die Bundesregierung das, wozu sie angeblich nicht Massenumzüge statt, denen sich größere Polizeikontingente entge-
befugt war. »Wir erzeugen Druck und schaffen eine Krise«, sagte genstellten. Mehr als coo Demonstranten wurden in der Folge
James Farmer, »und schon reagieren sie.« Zu einer wichtigen Krise verhaftet und ins Gefängnis gesperrt, unter ihnen King, der sich
kam es in Albany, Georgia, obwohl auch sie die Bundesregierung weigerte, auf Kaution entlassen zu werden. Anschließend appel-
nicht zum Eingreifen veranlaßte. lierte er an die Geistlichen im ganzen Land, nach Albany zu kom-
men und gemeinsame Nachtwachen abzuhalten, während er über
Der Widerstand eskaliert Weihnachten im Gefängnis bleiben wollte. Aufgrund eines offen-
sichtlichen Mißverständnisses akzeptierte King jedoch ein paar
Die Vorfälle von Albany wurden durch eine Anordnung der »Inter- Tage später seine Freilassung, nur um zu erfahren, daß die Konzes-
state Commerce Commission« ausgelöst. Angesichts der Unruhe, sionen örtlicher Geschäftsleute und Politiker, die er als sicher ange-
die von den »freedom rides« ausgelöst worden waren, hatte Robert nommen hatte, inWahrheit nicht zugestanden worden waren. Trotz
Kennedy bei der ICC beantragt, rassisch getrennte Bahnhofsein- der Bitterkeit diese Niederlage und trotz des peinlichen Presse-
richtungen im zwischenstaatlichen Reiseverkehr zu verbieten. Am echos ging der Kampf in Albany im gesamten Frühjahr und Som-
22. September 1961 hatte das ICC die notwendige Anordnung mer 1962 weiter. Die Auseinandersetzung schloß alle Formen
erlassen, die am t. November in Kraft treten sollte. Doch viele Süd- direkter Aktion ein: von Boykotts über sit-ins bis hin zu Märschen
staatenkommunen ignorierten die Anordnung oder hoben zwar und Massendemonstrationen. In einerWoche im August 1962 wur-
die Rassentrennung im zwischenstaatlichen, nicht aber im inner- den allein 000 Demonstranten ins Gefängnis geworfen. Viele
staatlichen Reiseverkehr auf. In dem Monat, in dem die Anord- wurden von der Polizei verletzt; andere erlitten wirtschaftliche Re-
nung hatte in Kraft treten sollen, bestiegen SNCC-Aktivisten aus pressalien unterschiedlicher Art. Und doch war alles umsonst,
Albany, die in der schwarzen Bevölkerung der Stadt weitreichende zumindest in dem Sinne, daß die Massendemonstrationen und
Verbindungen angeknüpft hatten, in Atlanta einen Bus nach Massenverhaftungen nicht zu Zugeständnissen der Stadtverwal-
Albany, um dort das Verbot der separaten Bahnhofseinrichtungen tung führten. »Die Schwarzen gewannen nichts in Albany. ... Erst
zu testen und zu erkunden, wie groß die Bereitschaft der schwar- das Bürgerrechtsgesetz von 1964 brachte einen Hauch von Integra-
zen Bevölkerung zu direkter Aktion war.' Wie sie erwartet hatten, tion nach Albany in Georgia.« (Bleiweiss, 86)
wurden sie verhaftet. Es folgte eine Reihe weiterer Tests, wobei das Zwei Erklärungen fiir dieses Scheitern sind vorgebracht worden.
Justizministerium in jedem einzelnen Fall unterrichtet wurde. Zum einen »herrscht unter führenden Vertretern der Bürgerrechts-
Doch in Washington regte sich nichts. Am to. Dezember reisten bewegung die allgemeine Übereinstimmung, daß es ein Fehler war,
wiederum SNCC-Mitglieder nach Albany, diesmal mit dem Zug, alle Bollwerke der Rassentrennung in der Stadt gleichzeitig anzu-
und Hunderte von Schwarzen versammelten sich zu ihrer Begrü- greifen, anstatt sich auf ein oder zwei Ziele zu konzentrieren, etwa
ßung. Acht der neun »freedom riders« wurden umgehend ver- auf den Beschäftigungssektor oder die segregierten Busse, auf die
haftet, was unter der schwarzen Bevölkerung große Empörung Integration der Polizei oder den freien Zugang zu Freizeiteinrich-
auslöste. In den nächsten Tagen zogen Hunderte von Schwarzen tungen« (David Lewis, I97o, 169). Zum anderen waren einige
mehrmals durch die Stadt, um gegen die Verhaftungen der Vorwo- Beobachter und Teilnehmer dcr Meinung, daß die Planung der
chen zu protestieren. »Ant 15. Dezember waren schon fast fünf- Kampagne, zum Teil wegen geradezu selbstmörderischer Frak-
hundert Leute im Gefängnis.« (David Lewis, 146) tionskämpfe, weitgehend dem Zufall überlassen wurde. King
Nachdem Verhandlungen mit der Stadtverwaltung gescheitert schien persönlich beide Erklärungsmomente für zutreffend zu hal-
waren, wandten sich die Führer der »Albany Movement« (einerVer- ten: am Ende der Kampagne sagte er, die Bewegung sei »zu weit, zu
einigung schwarzer Organisationen, die im Laufe der Bürger- schnell und ohne ausreichende Vorbereitung gesprungen« (Blei-
rechtserhebung entstanden war) hilfesuchend an die SCLC. Zwei weiss, 86).
Tage später fanden unter Leitung von Martin Luther King erneut Doch gleichgültig aus welchen Gründen die »Albany Move-
262 263
ment« der lokalen weißen Führung keine Zugeständnisse hatte hatten. So setzte Kennedy, als Gouverneur Barnett im September
abringen können, es gibt noch einen anderen Blickwinkel, von dem 1962 James Meredith entgegen dem Urteil des Obersten Gerichts
aus die Erfahrung von Albany einen außergewöhnlichen Erfolg daran hinderte, sich an der Universität von Mississippi zu immatri-
darstellte. Albany hatte erwiesen, daß große Massen schwarzer kulieren, Bundespolizei ein und stellte die Nationalgarde von Mis-
Südstaatler für Märsche und Demonstrationen mobilisiert werden sissippi unter Bundesaufsicht, hauptsächlich um die öffentliche
konnten; Albany »repräsentierte eine endgültige Abkehr von den Ordnung aufrechtzuerhalten:
Imbißbars und Busbahnhöfen und die Hinwendung zur Straße,
An der an Schlachten reichen Geschichte der Negerrevolte seit der Ent-
von den kleinen, überfallartigen (>hit-and-run<)Aktionen von Stu-
scheidung des Obersten Gerichts von 1954 war Oxford ein Alptraum. Zwei
denten und professionellen Bürgerrechtsaktivisten zu einer breiten entsetzliche Tage lang — Sonntag, den 3o. September und Montag, den t.
Rebellion der schwarzen Unterschicht ... [und wurde so] zum Pro- Oktober 1962 — wogte die Schlacht, in der mehr als 2 50o fanatisierte Weiße
totyp für die Demonstrationen, die später Birmingham und andere wiederholt auf die Bundespolizei, die unter Regierungsaufsicht stehende
Städte überall im Land erschütterten« (Zinn, 123). Nationalgarde von Mississippi und reguläre Armeesoldaten, die den bro-
Die Vorgehensweise in Albany unterschied sich auch erheblich delnden Campus schützten, losstürmten. ... Der Campus erzitterte jetzt
von den Taktiken, die in den späten fünfziger Jahren in Montgo- unter den Explosionen der Tränengasbomben und den Schreien der Wei-
mery und bei ähnlichen Boykotts an anderen Orten angewandt ßen: >Gebt uns den Nigger!< Zwei Männer, ein französischer Journalist und
worden waren. Ein Boykott erforderte es, daß Menschen auf die ein Einwohner von Oxford, ließen in dem Holocaust ihr Leben und minde-
stens 375 wurden verletzt. Am Ende gab der rebellische Gouverneur Ross
Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder auf den Einkauf in
Barnett jedoch nach, und James Meredith wurde immatrikuliert.« (Brink
weißen Geschäften verzichteten, was sicherlich zu Unbequemlich- und Harris, (964, 4o)
keiten und einigen Härten führte. Darüber hinaus mußten sich die
Beteiligten auf Repressalien gefaßt machen — wie den Verlust des Ähnlich reagierte die Kennedy-Administration, als sich Gouver-
Arbeitsplatzes —, die von solchen Boykotts provoziert wurden. neur Wallace »auf den Treppenstufen der Universität« mit großer,
Dagegen müssen sie gewöhnlich nicht auf übermäßige Polizeibru- theatralischer Geste weigerte, die Universität von Alabama für
talität und auf die Möglichkeit, verletzt oder gar getötet zu werden Schwarze zu öffnen. (Es war Wallace, der erklärte: »Ich ziehe die
vorbereitet sein. Albany bewies, daß die Bewegung große Mengen Grenze hier in den Sand, werfe den Fehdehandschuh vor die Füße
von Schwarzen dazu bringen konnte, sich der Polizei entgegenzu- der Tyrannei, und ich sage: Rassentrennung heute, Rassentrennung
stellen und die Südstaatengefängnisse zu füllen. Das war die morgen, Rassentrennung für immer!«) Eine derartige Herausfor-
Hauptbedeutung der Ereignisse in Albany, so will es uns jedenfalls derung der Bundesautorität durch einen Südstaatengouverneur
scheinen. ließ sich nicht ignorieren und wurde auch nicht ignoriert.
Die Kampagne von Albany bewies außerdem, daß weiße Südstaat-
ler weitaus widerspenstiger waren, als allgemein angenommen, und
daß gemäßigte Weiße — vorausgesetzt es gab sie — von der sich ver- Die Erlangung politischer Rechte
schärfenden extremistischen Stimmung eingeschüchtert und zum
Schweigen gebracht wurden. Der weiße Extremismus lebte unver- In den Jahren von 1963 bis 1965 verschob sich das wahlpolitische
mindert fort. Gewicht entscheidend zugunsten der Bürgerrechte. In dieser Pe-
Erst als sie von diesem Extremismus ausreichend provoziert wor- riode bewies die Bürgerrechtsbewegung wie nie zuvor ihre Fähig-
den war, entschloß sich die Regierung schließlich zum Eingreifen. keit, die Schwarzen im Süden in großer Zahl zu mobilisieren; ihre
Einige der meistgefeierten Regierungsmaßnahmen in dieser Peri- Aktionen zogen überall im Land die öffentliche Meinung auf ihre
ode fanden im Bereich der höheren Bildung statt. Sie wurden auf- Seite.
grund derselben Art von Gewalttaten weißer Mobs durchgeführt, Die entscheidenden Faktoren bei der Verschiebung der politi-
die schon Eisenhower zum Eingreifen in Little Rock gezwungen schen Gewichte waren folgende: Erstens ließ die Bürgerrechtsbe-
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wegung die Wut in den Gettos zunehmen, was für die Kennedy- »In Charlotte ebenso wie in Memphis, Dallas, Atlanta und einem Dutzend
Administration ein akutes Problem darstellte. Die Präsident- anderer Kommunen im ganzen Süden erkannte die weiße Führungsschicht,
schaftswahlen waren nur noch weniger als zwei Jahre entfernt, und daß die Revolution auf ihren Straßen voller Gefahren war. Sie fürchteten,
die potentielle Instabilität des schwarzen Wählerblocks bot Grund Geld zu verlieren. Sie fürchteten, die Unternehmen aus dem Norden wür-
den ihre Regionalbüros nicht in ihren Städten errichten. Auf einem Stück
zur Sorge. Ja, die potentielle Instabilität der Gettos selbst war
Papier konnten sie sich ausrechnen, wieviel Geld sie verlieren könnten,
besorgniserregend. Regierungsvertreter fürchteten, daß »die Stra-
wenn keine Kongresse mehr bei ihnen stattfänden. Vielleicht gab es sogar
tegie des gewaltlosen Widerstandes ... in den Traditionen der Neger Momente, in denen ihnen die moralischen Aspekte der Frage zu Bewußt-
nicht fest verwurzelt war, und es gab Anzeichen dafür, daß sie sein kamen, wenn dies auch in ihren Handlungen nicht deutlich -wurde.
schon bald einer gewalttätigeren, für die verantwortungsbewußten Letztlich lief alles darauf hinaus, daß diejenigen unter ihnen, die einigerma-
Führer nicht kontrollierbaren Strategie würde weichen müssen« ßen intelligent waren, die sich nicht von tyrannischen Gouverneuren und
(Sorenson 1965, 493 f.). Abgeordneten unter Druck setzen ließen und sich nicht vor weißen >vigilan-
Die Vorgänge im Süden verhalfen den Forderungen der Bürger- ten< Gruppen fürchteten, beschlossen, Abkommen zu erreichen, die der
rechtler zudem zu breiter Unterstützung unter den Weißen in den Stadt Frieden und ihnen Geld in die Taschen bringen würden.« (Powledge,
t7)
nördlichen Bundesstaaten. Zwar verschärfte sich in den nördlichen
Großstädten der Konflikt zwischen den Schwarzen und Teilen der Diese Gegensätze zwischen den verschiedenen Führungsschichten
weißen Arbeiterschaft, doch war die mit größtem Nachdruck — vor allem auch zwischen Bundesstaaten des inneren und des äuße-
gestellte schwarze Forderung nach politischen Rechten im Süden ren Südens — hatten entscheidenden Anteil an der Schwächung der
keine Bedrohung für die weiße Arbeiterklasse des Nordens. Die Fähigkeit des Südens, Angriffe auf seine traditionelle Sozialstruk-
große weiße Mittelschicht, die in den wohlhabenden Nachkriegs- tur abzuwehren.
jahren entstanden war, gewährte ihre Unterstützung bereitwilliger, Der tiefe Süden war, kurz gesagt, von wichtigen Bestandteilen sei-
war sie doch aufgrund ihrer Abwanderung in die Vororte und ihrer ner Unterstützung abgeschnitten und, dermaßen isoliert, ver-
privilegierten beruflichen Stellung weitgehend von den Schwarzen wundbar geworden. Aber noch immer konnten die Südstaatenpoli-
isoliert. tiker keiner Veränderung der Rassenverhältnisse zustimmen, ohne
Zur selben Zeit brach der Widerstand in großen Teilen des Südens ihre Posten zu riskieren. Innerhalb weniger Jahre würde eine gemä-
zusammen. Dies war vor allem in den Staaten des äußeren Südens ßigtere Führungsschicht auf der Bildfläche erscheinen; in der Zwi-
der Fall. Neben den schon genannten Entwicklungen, die das öko- schenzeit aber beharrte die alte Führung auf einer aussichtslosen
nomische Interesse an der Kastenordnung geschwächt hatten, Obstruktionspolitik. Gegen diese Politik richtete sich eine erneute
begann die Aufrechterhaltung dieser Ordnung zusätzliche Kosten Mobilisierung der schvvarzen Massen: die Bürgerrechtsbewegung
zu verursachen. So bemühten sich zum Beispiel viele Gemeinden brachte zu ihren Demonstrationen immer größere Mengen auf die
im Süden um die Ansiedlung von Industrieunternehmen aus dem Beine, und sie beflügelte die Demonstraten zu immer größerer
Norden, doch die großen Konzerne scheuten vor Gebieten zurück, Militanz und immer mutigerem Vorgehen.
in denen weiße Kompromißlosigkeit und rassischer Unfriede
herrschten. Die Unternehmensleitungen aus dem Norden erklär- Die Massenmobilisierung der Schwarzen
ten, ihre Angestellten wünschten nicht in Kommunen zu ziehen,
wo die Schulen geschlossen werden könnten oder fortwährender Nach der Niederlage von Albany wandten sich die Führer der
Aufruhr wahrscheinlich sei. Auf viele weiße Kommunalpolitiker SCLC Birmingham zu. In der darauffolgenden Kampagne stellten
machte diese Botschaft Eindruck. So übten denn führende sich die Schwarzen zu Hunderten der Polizei entgegen und ließen
Geschäftsleute Druck auf Südstaatenpolitiker aus, damit diese sich verhaften. Ob die Koordination und Zielrichtung der Kam-
Konzessionen machten, die entweder Unruhen verhinderten oder pagne von Birmingham gegenüber der in Albany nun besser war
die Ordnung wiederherstellten. oder nicht, ihr herausragendes Merkmal und die Quelle ihres Ein-
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flusses auf die Bundesregierung lag in der Konfrontation zwischen Weiße Haus wurde mit einer Flut von Briefen und Telegrammen,
den Demonstranten und der Polizei. die gegen die Ereignisse von Birmingham protestierten, über-
Vom Gesichtspunkt der SCLC-Führung war Birmingham ein schwemmt. Aus dem Gefängnis sandte King seinen inzwischen
idealer Schauplatz, um die Fronten mit der Kennedy-Administra- berühmten »Brief aus einem Gefängnis in Birmingham«, den er vor
tion zu klären, denn Birmingham gehörte zweifellos zu den in der allem an die Geistlichen aus dem Süden adressierte, die ihn, die
Rassenfrage rückschrittlichsten Großstädten im Süden. Polizei- SCLC und die Strategie der direkten Aktion angegriffen hatten. Es
chef Eugene »Bull« Connor war bereits als Bollwerk des Südstaa- war ein Dokument, das die moralische und theologische Rechtfer-
ten-Rassismus bekannt. Die Stadtverwaltung hatte auf die Heraus- tigung für gewaltlosen Protest gegen ungerechte Gesetze und Prak-
forderung der Bürgerrechtsbewegung mit Maßnahmen wie der tiken lieferte, und große Auswirkungen auf Geistliche und die
Schließung öffentlicher Parks geantwortet, und die Stadt hatte eine öffentliche Meinung der nördlichen Bundesstaaten hatte.
wahre Epidemie von Bombenattentaten auf schwarze Kirchen Am Donnerstag, dem 2. Mai, verschärfte sich die Auseinanderset-
erlebt — ein Omen für die Gewalt, die mit Sicherheit ausbrechen zung, als »959 von rund 6 000 Kindern ... im Alter von sechs bis
würde, wenn Birmingham zum Schlachtfeld für die Durchsetzung sechzehn Jahren verhaftet wurden, als sie in Blöcken, singend von
der Bürgerrechte werden sollte. Gerade aus diesem Grund glaubte der Baptistenkirche in der 16. Straße in die Innenstadt marschier-
die SCLC-Führung, daß eine Kampagne in Birmingham wie keine ten. ... Hätte die Polizei mehr Wagen zur Verfügung gehabt, hätte
zuvor den Rassismus und Extremismus der Südstaaten provozieren sie noch mehr Kinder abtransportiert.« (David Lewis, 197o, 192)
und bloßstellen würde. Am nächsten Tag ließ die Polizei auch die letzte Zurückhaltung fal-
Das »Project C« für (confrontation) wurde mit äußerster Akribie len. Während sich in einer Kirche t 000 Demonstranten auf einen
geplant, wie noch keine Kampagne bisher: Hunderte von freiwilli- Demonstrationszug vorbereiteten, versperrte die Polizei die Aus-
gen Kadern schulten große Mengen von Schwarzen in Philosophie gänge, mit dem Erfolg, daß nur die Hälfte der Demonstranten nach
und Taktik der gewaltlosen Offensive. 37 Unter den Geschäften wur- draußen gelangten, wo sie von losgelassenen Polizeihunden, Gum-
den geeignete Zielobjekte für sit-ins, Demonstrationen und selek- miknüppeln und dem harten Strahl der Wasserwerfer empfangen
tive Boykotts ausgewählt; einflußreiche Persönlichkeiten aus dem wurden. Nur eine Handvoll von ihnen erreichte ihr ursprüngliches
Norden wurden informiert, vor allem solche, die in der Lage Ziel, das Rathaus. Fernsehkameras hielten alles fest, und so stand
waren, Geld für Kautionen zur Verfügung zu stellen. die erhoffte Krise endlich vor der Tür.
Am Dienstag, den 2. April 1963 begann die Kampagne mit sit-ins Am Samstag erschien der stellvertretende Justizminister, Burke
an Imbißbars, selektiven Boykotts und anderen begrenzten Marshall, in Birmingham, um die Ruhe wiederherzustellen, doch
Demonstrationen. Die Polizei, die eine gerichtliche Verfügung beide Seiten waren zu keinem Kompromiß bereit. Mehrere Tage
erwartete, nahm auf friedliche Weise Verhaftungen vor. Bis Freitag lang gab es weitere Demonstrationszüge, denen die Polizei mit
stieg die Zahl der Verhafteten auf 35 an. Nach einem Schweige- Brutalität begegnete; jüngere Schwarze hörten auf zu singen und
marsch zum Rathaus kamen am Samstag weitere 45 dazu. Die zu beten und griffen statt dessen zu Pflastersteinen und Flaschen.
erwartete Gerichtsverfügung erging am Mittwoch, den to. April, Mehr als 2 000 Menschen waren verhaftet worden; reguläre wie im-
woraufhin So Freiwillige bestimmt wurden, die am Freitag unter provisierte Gefängnisse waren überfüllt. Und doch waren mehrere
Verletzung der Verfügung demonstrieren sollten. Sie wurden sämt- tausend Menschen bereit, weiterzumarschieren. Die Kennedy-
lich verhaftet, unter ihnen King, der in Einzelhaft kam. Die SCLC- Administration bemühte sich verzweifelt, eine offene Intervention
Führer entschieden, »ein historischer Telefonanruf verdiene es, mit all ihren politischen Folgen zu vermeiden, und arbeitete er-
nicht allein zu bleiben«, und so rief Coretta King am Sonntag den folglos hinter den Kulissen, um Bürgerrechtler und Lokalpolitiker
Präsidenten an (David Lewis, 197o, 186). Am Abend rief der Justiz- von Birmingham zum Einlenken zu überreden und zu zwingen.
minister zurück und versicherte, für ihren Mann bestehe keine Neben direktem Druck auf die Stadtverwaltung benutzte sie auch
Gefahr. Am Montag traf das erste Geld für die Kaution ein, und das indirekte Kanäle, indem sie führende Persönlichkeiten des Nor-

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dens aus Finanzwelt und Industrie, aus Kirchen, Wohltätigkeits- Einsatz von Bundestruppen und zwang Gouverneur Wallace zum
organisationen, der Justiz und anderen Bereichen des öffentlichen Einlenken, indem er drohte, die Nationalgarde von Alabama un-
Lebens drängte, ihre Partner bzw. entsprechende Persönlichkei- ter Bundesbefehl zu stellen. In öffentlichen Erklärungen lobte
ten in Birmingham anzurufen und sie zum Eingreifen zu veran- er die Bewegung wegen ihres Mutes und ihrer Zurückhaltung und
lassen. 3/ersicherte, die Bundesregierung stehe voll hinter der Vereinba-
Die Demonstrationen von Montag, dem 6. Mai, waren aufs neue rung zwischen den Bürgerrechtlern und der Stadtverwaltung von
von Polizeigewalt gekennzeichnet, und als am Dienstagmorgen die Birmingham. (Ein paar Tage später verwies die Schulbehörde to°
Märsche fortgeführt wurden, wurden einer Reihe von Demon- Schüler wegen ihrer Beteiligung an den Demonstrationen von der
stranten von dem harten Strahl der Wasserwerfer die Beine gebro- Schule; sie wurden allerdings später auf Anordnung der Bundes-
chen und Brustkörbe eingedrückt. Am Nachmitag, als sich Massen gerichte wieder aufgenommen.) Nach diesen Ereignissen verbrei-
von Demonstranten im Geschäftsviertel verteilt hatten und vor den teten sich die Proteste über das ganze Land: »In der Woche des
verlassenen Geschäften sangen und beteten, begannen jüngere Teil- 18. Mai registrierte das Justizministerium 43 größere und kleinere
nehmer, Steine und Flaschen zu werfen. Die Fähigkeit der schwar- Demonstrationen, davon zehn in Städten im Norden.« (Franklin,
zen Gemeinde zu gewaltloser Disziplin war langsam erschöpft. Als 631)
die Ausschreitungen sich ausweiteten, boten führende Geschäfts-
leute einen Waffenstillstand an, den die SCLC akzeptierte. Die Bundesregierung handelt
Polizeichef Connor war außer sich, daß man ihm in den Rücken
gefallen war; er forderte von Gouverneur Wallace 5oo Staatspolizi- Der endgültige Sieg der Birmingham-Kampagne kam am it.juni,
sten an und ließ King festnehmen. Die SCLC rief umgehend zu als Präsident Kennedy in einer Fernsehansprache an die Nation ver-
Demonstrationen auf, wohl wissend, daß die Polizei sie erwartete. kündete, er werde den Kongreß auffordern, so schnell wie möglich
Ein beispielloses Blutbad lag in der Luft. Um es zu verhindern, rief ein umfassendes Bürgerrechtsgesetz zu verabschieden. Im Februar
der Justizminister die Verantwortlichen vor Ort an, erklärte ihnen, hatte er ein verhältnismäßig schwaches Gesetz vorgelegt und auch
dieToleranz der Bundesregierung sei erschöpft, und drohte mit ein- nur wenig getan, um dessen Verabschiedung sicherzustellen. James
schneidenden Maßnahmen, falls es nicht zu einer schnellen Lösung Farmer sagte zutreffend: »Es ist klar, daß ... der Präsident beab-
komme. Am to. Mai wurde eine Einigung erzielt: Schnellrestau- sichtigt hatte, die Bürgerrechtsgesetzgebung von der Liste der drin-
rants, Toiletten und Trinkwasserfontänen sollten fortan jedermann genden Tagesordnungspunkte zu streichen, um andere Teile seines
gleichermaßen zugänglich sein, diskriminierende Beschäftigungs- Gesetzgebungsprogramms durchzusetzen. Doch hatte er seine
und Beförderungspraktiken eingeschränkt und 3 000 verhaftete Rechnung ohne Birmingham gemacht.« (40 —41) Im Juni mußte er
Demonstranten umgehend freigelassen werden. Führern der Bürgerrechtsbewegung in Privatgesprächen gestehen,
Dann begannen die Bombenattentate: zunächst auf das Haus von »daß die Straßendemonstrationen zu Erfolgen geführt hätten; sie
Kings Bruder, dann auf das Hotel, in dem die SCLC ihr Haupt- hätten die Exekutive zu schnellerem Handeln veranlaßt und zwän-
quartier aufgeschlagen hatte. Es hatte zwar keine Todesopfer gege- gen den Kongreß, Maßnahmen zu erörtern, die noch vor ein paar
ben, aber die schwarzen Viertel explodierten jetzt förmlich, und am Wochen keinerlei Aussicht gehabt hätten« (Schlesinger, 84r). Mas-
I. Mai kam es zu schweren Ausschreitungen. Fünf Stunden lang senproteste hatten den Bund zum Handeln gezwungen. Auch der
»tobten die Schwarzen auf den Straßen, schwangen Messer, stürz- Justizminister gab das zu: »Der Bürgerrechtsentwurf der Regie-
ten Autos um und schleuderten Steine und Ziegel nach allem, was rung ... zielt darauf ab, einige der Hauptursachen für die schwer-
sich bewegte, sogar nach anderen Schwarzen. Ein verletzter wiegenden und beunruhigenden Rassenunruhen, die jetzt in vielen
Schwarzer stöhnte: >Sie waren wahnsinnig.<« (Brink und Harris, Bundesstaaten herrschen, zu beseitigen.« (Navasky, 20 5 )
1964, 44) In seiner im ganzen Land übertragenen Fernsehansprache bezog
Jetzt konnte auch der Präsident nicht länger zögern; er befahl den sich der Präsident auf »die -wachsende Unzufriedenheit, die die

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öffentliche Sicherheit gefährdet«, und meinte: »Sie läßt sich nicht gab es guten Grund zu der Annahme, daß es auf unabsehbare Zeit
durch repressive Polizeiaktionen zum Schweigen bringen. ... Sie durch einen Filibuster verhindert werden würde. Angesichts der
läßt sich auch nicht durch symbolische Handlungen und Rhetorik aggressiven Stimmung in der schwarzen Bevölkerung hatten die
abstellen. Die Zeit ist gekommen, daß im Kongreß gehandelt wird.« Bürgerrechtsführer bereits entschieden, daß eine nationale
Laut einer Umfrage von Newsweek hatte »fast nichts, was den Demonstration zur Unterstützung der Bürgerrechtsgesetzgebung
Schwarzen in den letzten zehn Jahren widerfahren war, ... sie so sowohl möglich als auch nötig war. Schon früher, im November
sehr ermutigt wie die Rede des Präsidenten. ... Endlich und unwi- 1962, hatte A. Philip Randolph vorgeschlagen, einen »Marsch auf
derruflich hatte der Führer ihres Landes der Nation erklärt, daß Washington für Arbeitsplätze und Freiheit« durchzuführen. Viele
ihre Sache gerecht war und ihre Forderungen erfüllt werden soll- Bürgerrechtler aus dem Norden waren von dem Vorschlag
ten.« (Brink und Harris, r964, 46) zunächst wenig begeistert, und die »National Urban League« war
Nur wenige Stunden, nachdem Kennedy gesprochen hatte, wurde schlichtweg dagegen. Zum Teil blockierten sich die schwarzen
Medgar Evers, der Sekretär der NAACP von Mississippi, vor sei- Sprecher durch ihren chronischen Konkurrenzkampf um die Füh-
ner Garage erschossen. Seine Beerdigung am rs. Juni in Jackson rung der schwarzen Bewegung gegenseitig; einige hatten mit
mündete in Ausschreitungen. Die New York Times berichtete: Demonstrationen ohnehin nicht viel im Sinn, weil sie fürchteten,
»Nachdem der letzte Teilnehmer des vier Häuserblocks langen Trauermar-
diese könnten ihre Verbindungen zu hohen Regierungsbeamten
sches das Beerdigungsinstitut erreicht hatte ... beschlossen die jüngeren und privaten Eliten gefährden. Im späten Frühjahr 1963 änderten
Schwarzen offensichtlich, den Versuch zu unternehmen, im weißen sie jedoch ihre Haltung aufgrund der veränderten Stimmung in der
Geschäftsviertel zu demonstrieren. ... Vier Polizisten auf Motorrädern lie- schwarzen Bevölkerung, des Erfolges von Birmingham sowie der
ßen sie über eine Kreuzung hinwegziehen; als sie jedoch die Hauptver- Hinweise, daß die Kennedy-Administration endlich doch bereit
kehrsstraße erreichten, [trafen sie auf] zo Polizeibeamte. ... [Ihre Zahl war war, auf dem Gebiet der Bürgerrechte entschiedener vorzugehen.
jetzt auf ungefähr eintausend angewachsen, und sie riefen:] >Wir wollen den Für Anfang Juli wurde eine Planungskonferenz angesetzt, die in
Killer! Wir wollen den Killer! Wir wollen Gleichheit! Wir wollen Freiheit!< vielen Lagern Unterstützung fand. Der Präsident war natürlich
Polizisten mit Hunden rückten an. ... Ein Demonstrant nach dem ande-
gegen einen Marsch auf Washington, weil er negative Auswirkun-
ren wurde ergriffen und in die wartenden Polizeitransporter geschleppt....
Sie fingen an, mit Steinen, Flaschen und anderen Wurfgeschossen nach den
gen auf den Kongreß befürchtete, falls der Marsch in Gewalt enden
Polizisten zu werfen. ... Die Menge schrie.... Das Knurren und Bellen der oder die Beteiligung gering sein sollte. Andererseits hatten »die
Polizeihunde, das Zersplittern der Flaschen auf dem Asphalt und die Flü- Schwarzen ... entdeckt, daß sie mit Demonstrationen erreichen
che der Polizisten verstärkten den Lärm noch. ... konnten, was sie mit anderen Methoden nicht erreicht hatten«
[Als alles vorbei war,] war die Stimmung der Schwarzen ... noch immer (Franklin, 63o). Die Vorsitzenden einiger großer Gewerkschaften
von Bitterkeit und Wut bestimmt. >Die einzige Möglichkeit, das Übel hier sicherten ihre Unterstützung zu, und auch einige der bedeutend-
auszurotten, ist eine Revolution<, murrte ein junger Mann in einer Einfahrt. sten Kirchenführer aus dem Norden boten ihre Hilfe an. Es sollte
<Irgend jemand muß sterben.<« (Anthony Lewis, 1964, 227-228) die größte Demonstration in der Geschichte der Bürgerrechtsbe-
Im ganzen Land vervielfachte sich die Zahl der Demonstrationen: wegung werden und die größte Demonstration überhaupt, die bis
»In einem Zeitraum von drei Monaten im Sommer 1963 zählte das US- zu jener Zeit in Washington stattgefunden hatte. Als am 23. August
Justizministerium t4iz Demonstrationen. Die Zeitungsphotos, auf denen die Sonne über dem Horizont aufzog, füllten sich schon die Stra-
zu sehen war, wie Polizisten die schlaffen Körper der Schwarzen zu den ßen von Washington; bis zum Nachmittag waren 25o 000 zusam-
Polizeiwagen schleppten, sie wurden die großen, historischen Wandteppi- mengeströmt, um sowohl die Verabschiedung neuer Bürgerrechts-
che dieser Zeit. Überall erklang das Echo der schwarzen Hymne: >We Shall gesetze als auch wirtschaftliche Maßnahmen gegen die Armut der
Ovcrcome<.« (Brink und Harris, 1964, 46) Schwarzen zu fordern.
Trotz Kennedys Ankündigung, er werde den Kongreß drängen, ein Am 15. September, nur drei Wochen nach dem Marsch, wurde ein
wesentlich erweitertes Bürgerrechtsprogramm zu verabschieden, Bombenattentat auf eine Kirche in Birmingham verübt, bei dem
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vier kleine Mädchen ums Leben kamen. Es war ein Akt des Süd- >>Von den sechs Südstaaten, die von den Demokraten gewonnen wurden,
staatenterrors, der die ganze Welt empörte und am folgenden Tag wären vier (Arkansas, Florida, Tennessee und Virginia) ohne die Stimmen
vom Präsidenten in einer bundesweit übertragenen Fernsehanspra- der Schwarzen eindeutig an die Republikaner gefallen. Von allen elf Süd-
staaten konnte die Demokratische Partei nur in Präsident Johnsons Hei-
che verurteilt wurde. Nur zwei Monate später wurde Kennedy
matstadt Texas die Mehrheit der weißen Stimmen für sich verbuchen.‹‹38
ermordet.
Lyndon Johnson hatte keine andere Wahl, als seine Regierung auf Mit anderen Worten: es gab keinen Grund mehr, die Kompromiß-
die Sache der Bürgerrechte zu verpflichten. Am 27. November 1963 losigkeit des tiefen Südens noch länger zu erdulden.
erklärte er dem Kongreß: »Wir haben in diesem Land lange genug Das Bürgerrechtsgesetz von 1964 garantierte den Schwarzen
über Bürgerrechte nur geredet. Die Zeit ist gekommen, ein neues nachdrücklich das Wahlrecht und verdeutlichte ebenso nachdrück-
Kapitel zu schreiben — und es in dem Buch des Gesetzes zu schrei- lich den Willen der Bundesregierung, dieses Recht auch durchzu-
ben.« Das Hauptproblem bestand darin, genügend Stimmen zu setzen. Doch schon vor Verabschiedung des Gesetzes waren einige
sammeln, um ein Ende der Debatte im Senat erzwingen zu können, Bürgerrechtler skeptisch gewesen, ob die Verantwortlichen im
da ein Filibuster (der 83 Tage dauerte) den Kongreß lahmlegte.Wie- Süden das Gesetz auch befolgen -würden, und ob die Bundesregie-
der gaben Republikaner aus den Nordstaaten den Ausschlag. Der rung bei Nichtbeachtung mit der notwendigen Entschiedenheit
Führer der Republikanischen Minderheitsfraktion im Senat, Eve- intervenieren würde. Wählerregistrierungskampagnen von CORE
rett Dirksen aus Illinois, ergriff das Wort und verkündete: »Dies ist und SNCC hatten bereits einige Veranlassung für dieses Skepsis
eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Sie wird nicht aufgehalten wer- geliefert. Darüber hinaus war die »Mississippi Freedom Demo-
den. Sie wird nicht abgewiesen werden.« Wie schon 1957 und 196o cratic Party«, die 1963 gebildet worden war, um die reguläre Demo-
reagierten die Nordstaaten-Republikaner auch diesmal wieder auf kratische Parteiorganisation von Mississippi herauszufordern, er-
die Forderungen der erregten Massen schwarzer und weißer Nord- folglos geblieben; im Frühjahr 1964 wurden die Schwarzen von
staatler. Als die Debatte endlich für beendet erklärt wurde und über Vorwahlen ausgeschlossen, man verweigerte ihnen den Zutritt zu
das Gesetz abgestimmt werden konnte, stimmten 27 der 3 r Repu- Parteiversammlungen und verhinderte ihre Aufnahme in Partei-
blikanischen Senatoren dafür, und der Präsident unterzeichnete am ämter.' Aus diesem Grund wurden im Frühjahr eine Reihe direk-
2. Juli das Bürgerrechtsgesetz von 1964. ter Aktionen geplant, um Druck hinter die Wahlrechtsfrage zu set-
Im Herbst siegte Lyndon Johnson über seinen Herausforderer zen, obwohl die Verabschiedung des Bürgerrechtsgesetzes kurz
Barry Goldwater mit überwältigender Mehrheit; die Wahl offen- bevorstand.
barte, wie sehr der tiefe Süden in die Isolation geraten war. Johnson Unter einer gemeinsamen Dachorganisation, dem »Council of
erhielt 6i °/0' der Stimmen. Abgesehen von Arizona verlor er nur die Confederated Organizations« (die bereits Wählerregistrierungs-
fünf Bundesstaaten des tiefen Südens, wo auch weiterhin der kampagnen durchgeführt hatte), bereiteten das SNCC, CORE
unbeugsamste und heftigste Widerstand gegen das schwarze Wahl- und die NAACP von Mississippi Hunderte von weißen Studenten
recht andauerte. In den schwarzen Gettos des Nordens errangen die aus dem Norden darauf vor, bei der Organisation von Demonstra-
Demokraten bis zu 95% der Stimmen. »Hinter der Wahlstatistik tionen vor Wahlämtern zu helfen, wo man erwartete, daß die Poli-
verbarg sich eine Revolution in der amerikanischen Politik. Der zei den Schwarzen den Zutritt verweigern werde. Noch bevor die
erste Präsident aus den Südstaaten seit dem Bürgerkrieg erhielt meisten der Studenten im Süden ankamen, verschwanden drei und
9o% der Negerstimmen und verlor den tiefen Süden mit großem wurden erst zwei Monate später ermordet und unter einem Erd-
Rückstand.« (Evans und Novak, 4o4) In den elf Bundesstaaten der vv-all vergraben aufgefunden.' Außerdem fand man die Leichen
alten Konföderation, in denen die Zahl der registrierten schwarzen von zwei ermordeten Schwarzen in Mississippi. Zwischen Juni und
Wähler zwischen 1962 und 1964 von 1,4 Millionen auf 2,2 Millionen Oktober wurden allein in Mississippi auf 24 schwarze Kirchen
gestiegen war, begannen sich die schwarzen Stimmen auf die Chan- Bomben geworfen.
cen der Demokraten auszuwirken: Zur selben Zeit, als im Süden gemordet und gebombt wurde, bra-

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chen in den Gettos des Nordens Unruhen aus. Im Juni 1964, kurz 268) In den ersten vier Februartagen wurden über 3 000 Demon-
vor der Unterzeichnung des Bürgerrechtsgesetzes, kam es in Cam- stranten festgenommen. »Jim Clark ist ein zweiter Bull Connor«,
bridge (Marytand) zu Rassenunruhen. Mitte Juli folgten Unruhen meinte ein Mitglied des SCLC-Stabes. »Wir sollten ihn auf unsere
in Harlem und Bedford-Stuyvesant; im Laufe des Sommers breite- Gehaltsliste setzen.« (Bleiweiss, 125) Am 4. Februar erklärte ein
ten sich die Unruhen auf Rochester, Jersey City, Paterson, Eliza- Bundesgericht die Bildungstests und andere Methoden, mit denen
beth, einen Vorort von Chicago, und Philadelphia aus. Das war der Antragstellern die Wahlberechtigung abgesprochen wurde, für
Anfang einer Serie von »heißen Sommern«, die in der amerikani- gesetzwidrig und bekräftigte damit noch einmal die Legitimität des
schen Geschichte ohne Beispiel war. Die schwarzen Massen schlos- Kampfes um das Wahlrecht. Die Südstaatenbeamten in den Wahl-
sen sich dem Protest auf ihre Weise an, so, wie es ihr institutionelles ämtern zur Einhaltung der Gesetze zu zwingen, war allerdings eine
Umfeld zuließ. Wie King treffend bemerkte: »Unruhen sind die andere Sache.
Sprache der Ungehörten.« (Killian, io9) Teilweise waren den Unru- Am 9. Februar traf King in Washington mit Vizepräsident Hum-
hen Bürgerrechtsdemonstrationen vorausgegangen, denn die Bür- phrey und dem zukünftigen Justizminister Nicholas Katzenbach
gerrechtler hatten ihren Kampf auch in die Städte des Nordens zusammen und »erhielt die feste Zusicherung, daß >in naher
getragen. 41 Zukunft< ein starkes Wahlrechtsgesetz an den Kongreß gesandt
Die Wählerregistrierungskampagne im Süden lieferte also weiter- werden würde« (David Lewis, 1970, 269). Die Demonstrationen in
hin den Beweis für südstaatliche Unnachgiebigkeit, selbst als der Selma dauerten an. Kongreßabgeordnete und andere Würdenträger
schwarze Protest in den nördlichen Gettos schon um sich griff. kamen, um sich vor Ort über die Verweigerung des Wahlrechts zu
Folglich schien jetzt eine Lösung — die Registrierung von Bundes- informieren; einige beteiligten sich an den Demonstrationen. Am
beamten vornehmen zu lassen —, die ein Jahrzehnt lang von Präsi- 18. Februar protestierten 40o Schwarze aus einem benachbarten
denten und vom Kongreß erwogen und immer wieder verworfen Bezirk gegen die Verhaftung eines Bürgerrechtlers; dabei wurde
worden war, das einzige Mittel zu sein, mit dem das Wahlrecht einer von ihnen — ein Junge namens Jimmie Lee Jackson — in den
sichergestellt werden konnte. Diese Lösung erforderte jedoch neue Bauch geschossen. Er starb eine Woche später, woraufhin King zu
Gesetzgebung. Um den nötigen Druck auf den Präsidenten und einem Marsch von Selma nach Montgomery aufrief.
Kongreß entwickeln zu können, beschlossen die Bürgerrechtsor- Gouverneur Wallace gab eine Erklärung heraus, in der er den
ganisationen, neue Demonstrationen im Stile von Albany und Bir- Marsch untersagte. Der Justizminister der Vereinigten Staaten
mingham durchzuführen. appellierte an die Führer der SCLC, den Marsch abzublasen. Doch
Selma im Bundesstaat Alabama wurde zum Schauplatz der neuen am 7. März, einem Sonntag, machten sich 7 000 Demonstranten auf
Auseinandersetzung bestimmt. Eine Wählerregistrierungskam- den Weg nach Montgomery. An der Pettus-Brücke in den Außenbe-
pagne des SNCC hatte hier bereits zu Gewalttätigkeiten von Wei- zirken von Selma trafen sie auf »eine blaue Reihe von Soldaten des
ßen geführt, die zum großen Teil auf das Konto der örtlichen Poli- Staates Alabama« :
zei unter Leitung von Sheriff James Clark gingen.
Die Kampagne begann Anfang Januar 1965 mit mehreren Demon- »Erst flogen Gasbomben, dann galoppierte ein Trupp Berittener in den
strationszügen zur Stadtverwaltung. Im Laufe der nächsten Schwarm fliehender Schwarzer hinein und schlug mit Viehknüppeln und
Wochen nahm die Zahl der Demonstrationsteilnehmer weiter zu, Schlagstöcken auf die Demonstranten ein. Die Bürgerrechtler wurden über
ebenso wie die Anzahl der Verhafteten. Am i. Februar führte King die Brücke zurückgetrieben, zurück in ihre Häuser oder zu Freunden, die
es wagten, ihre Türen zu öffnen, um den Gejagten Schutz zu bieten.... Ein-
eine Demonstration an, auf der über 70o Personen verhaftet wur- mal schlugen einige Schwarze zurück, warfen Steine und Ziegelsteine auf
den; am 2. Februar kam es zu weiteren 5 5o Festnahmen: »... die die Polizei, für einen Moment konnten sie Clark und seine Männer sogar
große Mehrheit waren, wie schon am Tag zuvor, Schulkinder. Trot- zum Rückzug zwingen. Doch es es war ein ungleicher Kampf. Während die
zig sangen sie: >Ain't Gonna Let Jim Clark Turn Me Around< (Ich weißen Zuschauer über die wilde Flucht in Jubel ausbrachen und den schril-
laß mich von Jim Clark nicht kleinkriegen).« (David Lewis, 197o, len Schrei der Rebellenarmee (aus der Zeit des Bürgerkrieges — d. Ü.) aus-
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stießen, brüllte Sheriff Clark: >Schnappt diese gottverdammten Nigger!< Ordnung auch ohne Intervention von Bundestruppen wiederher-
Geschützt durch Gasmasken schleuderten Polizisten und Staatssoldaten stellen. Für den Augenblick akzeptierte Johnson diese Zusicherun-
Tränengaskannister in die in Panik geratene Menge ... ein Oberschüler erin- gen. Am Montag erschien er zu einer außerordentlichen Sitzung
nert sich, daß >das Gas ... so dick war, daß man es fast anfassen konnte ...‹. des Kongresses und forderte die Verabschiedung eines Wahlrechts-
Ein Zeitungsreporter aus dem Süden beobachtete, wie Clark wiederholt auf gesetzes: »Ihre Sache muß auch unsere Sache sein. Denn es geht
Demonstranten losstürzte, die sich zu einer Kirche zurückgezogen hatten,
nicht nur um die Schwarzen, wir alle müssen das schreckliche Erbe
obwohl er von einem Stein getroffen worden war und blutete. Jetzt, da ihre
Wut immer größer wurde und da sie sich in diesem Stadtviertel sicherer der Bigotterie und der Ungerechtigkeit überwinden. Und wir wer-
fühlten, wurden viele der Demonstranten kampfentschlossen und griffen den es überwinden.«
nach jedem Gegenstand, der sich irgendwie als Waffe gebrauchen ließ.« Der Präsident wurde mehrmals durch stehende Ovationen und
(David Lewis, 1973, 274-275) über dreißigmal durch Beifall unterbrochen — ein unfehlbares Zei-
chen dafür, daß die Zustimmung des Parlaments zu einem Wahl-
Nach diesen Ereignissen wuchs die Unterstützung durch die rechtsgesetz schnell erfolgen würde. Am Donnerstag, den 18. März
öffentliche Meinung im Norden enorm an; -wahrscheinlich war sie versuchte Gouverneur Wallace dem Weißen Haus die Last, mit dem
jetzt größer als zu jeder anderen Zeit. In einer Stadt nach der ande- Konflikt fertig zu werden, aufzubürden: er schickte ein Tele-
ren wurden Demonstrationen organisiert. Persönlichkeiten des gramm, in dem er mitteilte, er könne nicht für den Schutz der Teil-
öffentlichen Lebens — und wenn nicht sie selbst, so doch ihre nehmer des Marsches von Selma garantieren, und in dem er die
Frauen, Söhne und Töchter — machten sich zu Hunderten auf den Bundesregierung um »ausreichende und adäquate behördliche
Weg nach Selma. Die Liste ihrer Namen glich einem Who's Who der Unterstützung« ersuchte.
nördlichen Bundesstaaten. ;Mitglieder der Bundesregierung ver- »Das war alles, was Johnson brauchte. Er begann seine Aktion mit einer
handelten mit dem Gouverneur von Alabama, dem zuständigen Erklärung, in der er die Notwendigkeit einer Bundes-Intervention bedau-
Bundesgericht, der Polizeibehörde und Stadtverwaltung von Selma erte. >Es ist keine erfreuliche Pflicht für die Bundesregierung, die Verant-
sowie mit den Bürgerrechtlern, und schließlich schien ein Kompro- wortung der Regierung eines US-Staates zum Schutz der Bürger bei der
miß erreicht, der es den Demonstranten erlauben würde, noch ein- Ausübung ihrer verfassungsmäßigen Rechte zu übernehmen<, betonte er.
mal bis zur Brücke zu marschieren, wo sie dann umkehren sollten. Zugleich unterstellte er die Nationalgarde von Alabama sofort den Bundes-
Wer genau an dieserVereinbarung beteiligt war, ist bis zum heutigen behörden. 1862 Nationalgardisten sowie reguläre Soldaten und Bundesshe-
riffs erhielten Order, die Niarschstrecke von Selma nach Montgomery zu
Tag nicht geklärt, und die Berichte sind widersprüchlich. Wie auch
bewachen. Johnson war hocherfreut, daß Wallaces Fehler ihm die Möglich-
immer, viele der 5 oo Menschen, die am Dienstag, dem 9. März, keit gegeben hatte, zu intervenieren und damit die Bürgerrechtskämpfer
zusammenkamen, glaubten, sie würden geradewegs nach Montgo- zufriedenzustellen, und zugleich die Verantwortung unzweideutig dem
mery marschieren, und King unternahm offensichtlich nichts, um Alabama-Gouverneur angelastet hatte, dem Vorkämpfer der unentwegten
sie aufzuklären. An der Brücke, an deren anderem Ende massierte Rassenfanatiker >bis zum bitteren Ende<.« (Evans und Novak, 416)
Polizeikräfte aufgezogen waren, forderte er die Leute auf weiterzu-
marschieren, um sich nur Sekunden später anders zu entscheiden, Am 21. März begann der Marsch. Rund 8 000 Menschen, mit mäch-
sehr zur Enttäuschung und Empörung junger Aktivisten, vor allem tigen und geachteten Persönlichkeiten in ihrer Mitte, zogen sin-
von SNCC und CORE. Am Abend desselben Tages wurden drei gend zur Pettus-Brücke, von wo eine kleinere Schar weiter nach
weiße Geistliche aus dem Norden in Selma auf der Straße von einer Montgomery marschierte. »Es war ein Marsch-auf-Washington in
weißen Gang überfallen; einer von ihnen, Reverend James Reeb, Miniatur.« (David Lewis, 197o, 29o) Als die Demonstranten fünf
starb am Donnerstag an den Folgen seiner Verletzungen. Tage später die Außenbezirke von Montgomery erreichten, schlos-
Im ganzen Land herrschte Empörung, und jetzt bat Wallace um sen sich ihnen 3o 000 Sympathisanten an, und gemeinsam zogen sie
eine Unterredung mit dem Präsidenten. Am Samstag, dem 13. in einem Triumphzug vor George Wallaces Amtssitz. In derselben
März, versicherte er dem Präsidenten, der Staat Alabama könne die Nacht wurde Viola Liuzzo, eine Hausfrau aus Detroit, die an dem
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Marsch teilgenommen hatte, von Mitgliedern des Ku Klux Klan stein für eine neue Demokratische Mehrheit im Süden — bestehend
erschossen, als sie mit dem Wagen zurück nach Selma fuhr. aus gemäßigten Weißen, vielen armen Weißen, die trotz ihrer Ras-
Im April, als der Kongreß über die Forderung des Präsidenten senvorurteile entsprechend ihrer ökonomischen Lage wählen wür-
nach einem Wahlrechtsgesetz beriet, begannen in etwa 120 Wahl- den, und den frisch mit dem Wahlrecht ausgestatteten Schwarzen —
kreisen zwischen Virginia und Louisiana, in denen bis dahin nur war damit gelegt. Indem sie schließlich Bürgerrechtsmaßnahmen
wenige Schwarze zu Wahlen zugelassen worden waren, verstärkte doch noch unterstützte und entschieden vorantrieb, schuf, mit
Wählerregistrierungskampagnen. Sie lösten erhebliche Gewalt aus, anderen Worten, die nationale Demokratische Parteiführung das
wodurch die Notwendigkeit der bevorstehenden Gesetzesmaßnah- Mittel, um die Risse in der Partei zu kitten. Daß sie dies leisten
men noch weiter unterstrichen wurde. Der Kongreß handelte konnte, zeigt, wie sehr die Bedeutung der Kastenordnung,
außergewöhnlich schnell: das Gesetz wurde am 17. März vorgelegt zunächst für die gesamte Wirtschaftsordnung und später auch für
und am 6. August vom Präsidenten unterzeichnet. Alle Republika- die Südstaatenökonomie, gesunken war.
nischen Senatoren außer Strom Thurmond von South Carolina Die Bürgerrechtsbewegung war also nicht die grundlegende Ursa-
stimmten für das Gesetz, das in seinem Kern den Justizminister che dieser politischen Transformation; die grundlegende Ursache
dazu ermächtigte, die Registrierungsbüros von Wahlkreisen, in waren der ökonomische Wandel und die politischen Kräfte, die
denen Schwarzen nachweislich das Wahlrecht verweigert worden durch ökonomischen Wandel in Bewegung gesetzt wurden. Den-
war, mit Bundesbeamten zu besetzen. Unter diese Bestimmung fie- noch bedurfte es eines langen, ausdauernden und mutigen Kamp-
len Bundesstaaten und Landkreise, wenn es dort noch »nach dem fes, um die politische Transformation zu erzwingen, die von den
i. November 1964 Tests oder andere Vorbedingungen für die Regi- ökonomischen Bedingungen ermöglicht worden war.
strierung oder Stimmenabgabe gab und wenn weniger als 50`)/0 der
Bevölkerung im wahlberechtigten Alter bei der Präsidentschafts-
wahl von 1964 registriert waren oder tatsächlich gewählt hatten«. Vom Aufruhr zur Organisation
Dieses Kriterium traf zu auf die Bundesstaaten Alabama, Alaska,
Georgia, Louisiana, Mississippi, South Carolina, Virginia und auf Als diese Transformation im Gange war, begann die Koalition der
ungefähr 26 Wahlkreise in North Carolina. Gruppen, die gemeinsam die Bürgerrechtsbewegung des Südens
Mit dieser Gesetzgebung zerschlug die Führung der Demokrati- ausmachten, auseinanderzufallen. In den meisten Darstellungen
schen Partei endlich den feudalen Apparat, den die Südstaaten nach dieser Periode wird der Zerfall den Gegensätzen innerhalb der
Beendigung der Rekonstruktionsphase aufgebaut hatten. Als sie Bewegung zugeschrieben, vor allem der wachsenden Frustration
schließlich handelte, versprach sie sich davon spezifische politische und Militanz jüngerer SNCC- und CORE-Mitglieder. Ein Vorfall,
Vorteile. Die Konzessionen in der Bürgerrechtsfrage banden nicht dem als auslösendem Moment vielfach besondere Bedeutung zuge-
nur die bereits wahlberechtigten Schwarzen fester an die Demokra- sprochen wird, ereignete sich am 6. Juni t966: An diesem Tag
tische Partei; die Bestimmungen, die das Wahlrecht auf fünf Mil- wurde James Meredith, der sich auf einem Ein-Personen-Marsch
lionen potentieller schwarzer Südstaatenwähler (mehr als zwei durch den tiefen Süden befand, von einem Heckenschützen auf
Millionen waren schon bei der Wahl von 1964 registriert gewesen) einer Landstraße in Mississippi nahe der Staatsgrenze niederge-
ausdehnten, schufen ein weiteres ausgedehntes Wählerpotential, schossen. Eine kleine Gruppe führender Bürgerrechtler versam-
mit dessen Loyalität zur Demokratischen Partei gerechnet werden melte sich daraufhin an dem Punkt des Attentats, um für Meredith
konnte. Dieser Block würde wiederum dazu beitragen, die dauer- den Marsch zu beenden; dabei schmähten die jüngeren, militanten
haften Stimmenverluste der in der Rassenfrage unbelehrbaren, -wei- Schwarzen (vor allem vom SNCC) die Gewaltlosigkeit und Koope-
ßen Südstaatler aus dem tiefen Süden aufzufangen und überdies ration der Rassen und erhoben die geballten Fäuste zum »Black
den Trend zur Republikanischen Partei in den stärker industriell Power«-Gruß. Für sie war ein Schuß zuviel gefallen, hatte es einen
geprägten Staaten des äußeren Südens auszugleichen. Der Grund- Verrat der Bundesregierung zuviel gegeben.
28c 28 I
Gegensätze kommen in allen Bewegungen vor und haben immer wahlpolitische Aktivitäten bereitstellten. Darüber hinaus war für
einen schwächenden Effekt. Doch als Erklärung für den Nieder- viele führende Bürgerrechtler die Versuchung, ein öffentliches Amt
gang der schwarzen Bewegung erscheinen sie uns mehr als unbe- zu bekleiden, unwiderstehlich, und so wandten sie sich vom Pro-
friedigend. Die allmähliche Auflösung der Bewegung war unver- test ab, verurteilten ihn sogar. Ein Ereignis, das mit der wachsenden
meidbar, berücksichtigt man die integrative Kraft der gewonnenen »Black Power«-Kontroverse in Zusammenhang steht, illustriert
Konzessionen. Wenn überhaupt, dann trug die »Black Power«- diesen Punkt. Nachdem einige Führer der Bürgerrechtsbewegung
Ideologie nur zu der Transformation bei, indem sie der Führungs- nach Mississippi gekommen waren, um den »Meredith-Marsch«
schicht (und, allgemeiner, einer wachsenden schwarzen Mittel- zu Ende zu führen, wandte sich Charles Evers, der Direktor der
schicht) die Rechtfertigung bot, um von den nun dargebotenen NAACP von Mississippi, entschieden gegen diese Absicht und
Chancen aggressiv Gebrauch zu machen. Zwar war »Black Power« erklärte, er könne nicht verstehen, inwiefern »es helfen soll, wenn
zunächst mit schwarzem Nationalismus, »Extremismus« und poli- man eine heiße Landstraße rauf und runter rennt; ich bin dafür, von
tischem »Radikalismus« identifiziert worden, doch schon bald Tür zu Tür und von Zaun zu Zaun zu laufen, um Schwarze davon
bekam der Begriff für die meisten Beteiligten eine weit gemäßigtere zu überzeugen, sich registrieren zu lassen« (David Lewis, 197o,
und konventionellere Bedeutung, wie bei Carmichael und Hamil- 32.1). Die Anführer des Marsches stimmten zu und legten fortan
ton nachzulesen ist: »Das Programm von >Black Power< geht von besonderen Wert darauf, wo immer sie vorbeikamen, zur Registrie-
einer grundlegenden Voraussetzung aus: Ehe eine Gruppe in die rung aufzurufen. Evers wurde später zum Bürgermeister von
offene Gesellschaft eintreten kann, muß sie >die Reihen aufschlie- Fayette, Mississippi, gewählt.
ßen,... ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppe [ist notwen- Entscheidend ist, daß schon zu dem Zeitpunkt, als die Kontro-
dig], damit sie von einer starken Verhandlungsbasis aus wirksam in verse über »Black Power« ausbrach, der Widerstand gegen die poli-
einer pluralistischen Gesellschaft operieren kann.« (45, Hervorhe- tische Modernisierung im Süden zusammengebrochen war. Am 6.
bung im Orig.) So definiert, war das Konzept wie geschaffen, um Juli 1967 — nur zwei Jahre nach derVerabschiedung des Wahlrechts-
die ideologischen Bedürfnisse einer schwarzen Führungsschicht zu gcsetzes — meldete das Justizministerium, daß in den fünf Bundes-
befriedigen, die es darauf abgesehen hatte, die neuen Möglichkei- staaten des tiefen Südens mehr als 5o°,10 aller wahlberechtigten
ten, politischen und bürokratischen Einfluß zu gewinnen, intensiv Schwarzen registriert seien. Die Veränderung der politischen Lage
zu nutzen. im Süden schritt also immer schneller voran, obwohl sich die Frak-
Von den verschiedenen Zugeständnissen, die der Bewegung tionskämpfe in der schwarzen Bewegung verschärften. Beim Par-
gemacht worden waren, hatte das Wahlrecht die größte Integra- teikongreß der Demokraten von 1964 hatten nur die Delegationen
tionskraft: es führte die Aktivisten rasch auf die traditionellen Bah- aus drei Südstaaten — Tennessee, Georgia und North Carolina —
nen parlamentarischer Politik. Die Gewährung des Wahlrechts und schwarze Mitglieder; 1968 waren Schwarze in allen Südstaatendele-
die Garantien der Regierung zu seinem Schutz bargen die Verhei- gationen vertreten. Jetzt, da immer mehr Schwarze an die Urnen
ßung, durch Teilnahme an politischen Wahlen wesentlichen Fort- gingen, wurden auch häufiger in der Rassenfrage gemäßigte Demo-
schritt auf dem Weg zur vollen Gleichberechtigung zu erzielen. kraten zu Südstaatengouverneuren gewählt; die Republikanischen
Daraus folgte, daß Protest an Legitimität verlor und von der Kraft Gouverneure waren im allgemeinen ähnlich gemäßigt. 1972 waren
der amerikanischen politischen Überzeugungen und Traditionen im Süden schon über 9oo Schvvarze in politische Ämter gewählt
allmählich untergraben wurde. Die Abkehr vom Protest wurde fer- worden; 1976, als bereits 3 , 5 Millionen Schwarze im Süden als Wäh-
ner von liberalen Kräften aus dem Norden unterstützt, die den ler registriert waren, gaben die schwarzen Stimmen den Ausschlag
intelligenten Gebrauch des Stimmrechts zum wahren Mittel zur für den Sieg Jimmy Carters bei den Präsidentschaftswahlen: Carter
Erlösung der Schwarzen erklärten und (über private Stiftungen, gewann die Südstaaten (ohne die er nicht hätte gewinnen können),
religiöse Institutionen und die Demokratische Partei) die notwen- obwohl 5 5 % der weißen Südstaatler für Ford stimmten. Die Reor-
digen Nlittel für weitere Registrierungskampagnen und andere ganisation des südlichen Parteiflügels der Demokraten war erfolg-
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reich abgeschlossen. Gewissermaßen über Nacht war die Bürger- und materiellen Vorteile, die zur Befriedung der schwarzen Massen
rechtsbewegung in das politische Wahlsystem integriert worden. beitrugen).
Ihre Führer kandidierten überall im Süden für politische Ämter, Die Bewegung wurde jedoch nicht allein durch das politische
und ihre Anhängerschaft bemühte sich nach Kräfen, diesen Kandi- Wahlsystem und damit zusammenhängende Regierungsinstitutio-
daturen im Namen von »Black Power« zum Erfolg zu verhelfen. nen absorbiert. Auch viele andere Institutionen in der Gesellschaft
Auch die sozio-ökonomischen Programme der Kennedy-John- begannen nun, Schwarze zu integrieren: Geschäftswelt und Indu-
son-Ära trugen dazu bei, die Bürgerrechtsbewegung zu absorbie- strie reagierten auf die Unruhen, indem sie Schwarze einstellten;
ren und zu kanalisieren. Im nächsten Kapitel werden wir genauer Universitäten und Colleges, die ja selbst von den Kämpfen erschüt-
auf diese Programme eingehen. An diesem Punkt soll nur ange- tert worden waren, revidierten ihre Zulassungspraktiken, um mehr
merkt werden, daß die Kennedy-Administration versuchte, Forde- Studenten aus Minderheitengruppen, von denen einige in den vor-
rungen nach neuen Bürgerrechtsgesetzen dadurch abzuwehren, dersten Reihen der Bürgerrechtsbewegung gestanden hatten, zuzu-
daß sie die Notwendigkeit sozio-ökonomischer Reformen heraus- lassen. Nachdem sie Zugang zu diesen Institutionen gewonnen hat-
strich, um dem Problem der schwarzen Armut zu begegnen. Die ten, bildeten viele Schwarze ihre eigenen politischen Fraktionen
»Great Society«-Programme, vor allem das Programm gegen die (»caucuses«) oder gründeten andere schwarze Suborganisationen,
Armut, waren die Folge, und Bürgerrechtsaktivisten besetzten in um »black power« auszuüben. Kurzum: die Gesellschaft schluckte
großer Zahl die neugeschaffenen, durch die Bundesregierung die Bewegung, saugte ihr das Mark aus den Knochen, indem sie die
finanzierten Stellen, offenbar in der Absicht, dadurch »schwarze Kader der Bewegung integrierte und die Schwarzen in die bürokra-
Macht« auszuüben. In ihrem Bericht über den Niedergang von tische und parlamentarische Politik einband.
CORE zeigen zum Beispiel Meier und Rudwick mit besonderer
Sorgfalt, wie das Programm gegen die Armut Bürgerrechtler von
direkten Aktionen abzog und die zerbrechliche Einheit von Wahlpolitische Organisation und ökonomischer Fortschritt
CORE-Ortsgruppen unterminierte:
Die Schwächung der Kastenordnung im Süden hat einige wichtige
»CORE-Mitglieder, die gutbezahlte Positionen im Rahmen der >Commu-
nity Action<-Programme [CAP] angenommen hatten, hatten Schwierigkei- Fortschritte mit sich gebracht. Am bedeutendsten ist dabei die
ten, aktiven Kontakt zu ihren Ortsgruppen zu halten, und da sie meistens Reduzierung des Terrors als Hauptinstrument sozialer Kontrolle.
die erfahrensten Mitglieder waren, war der Verlust erheblich.... Mitglieder Zumindest in diesem Punkt stellt der erfolgreiche Kampf um die
[des >National Action Committee< von CORE] begannen sogar zu klagen, politische Modernisierung des Südens einen großen Sieg für die
das Programm gegen die Armut sei 'dazu benutzt worden, militante Bürger- Masse der Schwarzen dar. (So beteiligten sich z. B. am 4. Mai 1966
rechtsführer zu kaufen<. Von gleicher Bedeutung war die Tatsache, daß mehr als 8c% der registrierten schwarzen Wähler in Alabama an
COREs Aktivitäten in den CAP-Projekten einen großen Teil der Energie den Vorwahlen der Demokratischen Partei und verhinderten mit
absorbierte und so die Aktivität bei CORE-Projekten verringerte.... Beide
ihren Stimmen, daß die Sheriffs James Clark [Selma] und Al Lingo
Sachverhalte erwiesen sich als wesentlicher Faktor beim Rückgang der
[Birmingham] wieder nominiert wurden.)
Gruppenaktivitäten.« (363 364)

Doch viele Schwarze im Süden leiden auch weiterhin unter öko-


Das Programm gegen die Armut war nur eines von mehreren nomischer Ausbeutung und den vielfältigen Formen sozialer
»Great Society« -Programmen, in denen Schwarzen eine Rolle spie- Unterdrückung, die sie der Ausbeutung ausliefern. Die entschei-
len sollten. Der »Elementary und Secondary Education Act« dende Frage bleibt, ob die Erringung formeller politischer Rechte
(Gesetz über die Grund- und Sekundar-Schulbildung) war ein die Schwarzen nun in die Lage versetzen wird, auch ökonomische
anderes, wie auch das »Model Cities«-Programm. Jedes einzelne trug Fortschritte zu machen. Diese Frage stellte schon John Lewis, der
dazu bei, die Führungsschicht der schwarzen Bewegung zu inte- Vorsitzende des SNCC, als er zu den Zehntausenden von Demon-
grieren (zudem bot jedes einzelne Programm die Dienstleistungen stranten sprach, die sich 1963 beim Marsch auf Washington versam-
2 84 28 5
melt hatten: »Was finden wir in [Kennedys Bürgerrechtsgesetz], ten Vertreter abzustellen. Aber es liegt nicht in der Macht dieser politischen
das die obdachlosen und hungernden Menschen dieses Landes Repräsentanten, das Los der Schwarzen entscheidend zu verändern: mit
dem Wahlrecht ... kann ... die Entfernung von Rassisten und erklärten
beschützen wird? Was finden wir in diesem Gesetz, das die Gleich-
Segregationisten aus ihren Ämtern erzwungen werden. [Aber] es kann Ein-
berechtigung einer Hausangestellten sicherstellt, die fünf Dollar in kommen, Wohnungssituation, berufliche Stellung oder Lebenschancen der
der Woche im Haus einer Familie mit einem Jahreseinkommen von Schwarzen nur marginal beeinflussen.<, (456, Hervorhebung von uns)
wo °ob Dollar verdient?« Anders formuliert lautet die Frage, ob
die Ausübung des Wahlrechts und die jetzt fast ausschließliche Neben einer generellen Bejahung des traditionellen amerikani-
Betonung wahlpolitischer Strategien durch schwarze Südstaaten- schen Glaubens an die Effektivität politischer Wahlen führen die
politiker zu einer entscheidenden Verbesserung der Lebensbedin- Verfechter einer wahlpolitischen schwarzen Strategie das Argu-
gungen der schwarzen Armutsbevölkerung im Süden führen wird. ment ins Feld, die Schwarzen könnten jetzt erfolgreiche »Pendel-
Wir meinen nicht. Politik« betreiben, da sie einerseits in den Schlüsselstaaten im
Die Wahl einer bescheidenen Anzahl schwarzer Südstaatenpoliti- Norden konzentriert seien und andererseits im Süden über einen
ker in öffentliche Ämter wird mit Sicherheit wieder die politische ständig wachsenden Anteil der Stimmen verfügten. Dieses Macht-
Macht schaffen, die notwendig wäre, um eine Vollbeschäftigungs- potential ist unseres Erachtens jedoch weit weniger real als es den
politik der Bundesregierung sicherzustellen, noch wird sie eine Anschein hat. Der Erfolg eines Pendelns zwischen den Parteien
substantielle Änderung der Beschäftigungs-, Entlohnungs- und erfordert sowohl außergewöhnliche Einheit als auch außerge-
Beförderungspraxis in der Privatwirtschaft erreichen. Sie wird wöhnliche Unabhängigkeit des betreffenden Wählerblocks. Die
weder die Wohnungsbauprogramme durchsetzen, die nötig wären, Wahlen seit 1936 (mit Ausnahme der Wahlen von 1956 und in gerin-
um den verelendeten Minderheiten in den Städten des Südens men- gem Maße von 1960) haben zwar demonstriert, daß die Einheit der
schenwürdige Unterkunft zu bieten, noch Maßnahmen — wie etwa Schwarzen sehr wohl möglich ist. Die Loyalität zur Demokrati-
eine von Regierungshilfen begleitete Landreform — durchführen, schen Partei hat seit dem New Deal kontinuierlich zugenommen
die es einigen der schwarzen (und weißen) Armen auf dem Lande und ist heute größer als zu irgendeiner Zeit in den letzten 3 cp Jahren.
gestatten würde, in der Ära des Agribusiness als unabhängige Far- Bei den Wahlen von 1968 und 1972 stimtnten die Schwarzen zu 87
mer zu existieren. Weder wird es ihr gelingen, das Wohlfahrtssy- bzw. 86% für die Demokratische Partei und bei der Wahl von 1976
stem so zu reformieren, daß alle Arbeitslosen und Arbeitsunfähi- entschieden sich von den rund 6,6 Millionen schwarzen Wählern
gen ein angemessenes Mindesteinkommen beziehen, noch all die sogar 9.4°/0 für diese Partei.
anderen Reformen und Programme durchzuführen, die die Doch diese Daten über die politische Geschlossenheit der Schwar-
Lebensbedingungen der schwarzen Armutsbevölkerung verbes- zen deuten keineswegs an, daß der schwarze Wählerblock auch
sern könnten. unabhängig ist — ganz im Gegenteil. Zwar hatte die Loyalität zu den
Andere haben ähnlich argumentiert: So schrieb Sindler genau zu Demokraten bei den Wahlen -von 1956 und 196o Rückschläge erlit-
der Zeit, als der >Voting Rights Act« verabschiedet wurde: »Die ten, die Konzessionen der Bürgerrechts-Ära aber haben sie mehr
Fähigkeit und Bereitschaft der \Weißen, den politischen Prozeß als wieder aufgefangen. Die Schwarzen bilden heute unter jedem
dazu zu nutzen, den politischen Einfluß der Schwarzen abzuweh- Gesichtspunkt den stabilsten Block in der Demokratischen Wäh-
ren und zu begrenzen, werden aus diesem Einfluß alles andere als lerschaft. Wie schwarze Politiker es bewerkstelligen wollen, diese
den entscheidenden Hebel für den Fortschritt der Farbigen Wähler regelmäßig zum Pendeln zwischen den Parteien zu bewe-
machen, der er angeblich sein soll.« (1965, 5 3) Selbst James Q. Wil- gen, ist alles andere als einleuchtend.
son hat geschrieben: Zudem ist keineswegs klar, ob die meisten Minderheitenpolitiker
»Die politischen Aktivitäten der Schwarzen müssen als eine Strategie mit ein Pendeln schwarzer Wähler überhaupt fördern würden, selbst
begrenzten Zielen beurteilt werden. Wo sie wählen können und dies auch wenn sie die Gelegenheit dazu hätten. Schwarze Politiker sind
tun, liegt es in ihrer Macht, die Indifferenz und Feindseligkeit ihrer gewähl- selbst nicht unabhängig. Viele von ihnen verdanken ihre Stellung

286 287
weniger dem Rückhalt, den die schwarze Bevölkerung ihnen gibt, V. Die Protestbewegung der Wohlfahrtsempfänger
als weißen Parteiführern. Darüber hinaus hängen die Mandate der
meisten schwarzen Politiker von der Stärke der Demokratischen
Partei ab, von ihrer Fähigkeit, die Mehrheit der Wählerstimmen auf
sich zu vereinigen. In demselben Maße, in dem eine unberechen- In Einschätzungen der schwarzen Bewegung nach dem Zweiten
bare schwarze Wählerschaft die Machtposition der Demokrati- Weltkrieg wird häufig hervorgehoben, daß Mittelschichtsangehö-
schen Partei in Gefahr bringen würde, müßten auch die schwarzen rige (oder diejenigen, die aufgrund ihrer Ausbildung in die Mittel-
Amtsinhaber um ihre Posten fürchten. schicht aufrücken konnten) aus ihr den größten ökonomischen
Wir wollen nicht behaupten, daß schwarze Wähler nicht in Nutzen gezogen hätten. Die schwarze Armutsbevölkerung hat
Zukunft flexibler werden könnten, doch vermuten wir, daß eine jedoch auch ökonomische Fortschritte gemacht, nur geschah dies
solche Entwicklung dann nicht auf Drängen politischer Führer nicht innerhalb des Beschäftigungssystems. Ein wichtiges Merk-
erfolgen wird, sondern aufgrund neuer sozialer und ökonomischer mal der schwarzen Nachkriegsbewegung bestand in zunehmenden
Veränderungen und des Anbruchs einer neuen Periode massenhaf- Forderungen nach Sozialfürsorge, die vor allem nach 196° und spe-
ter Auflehnung. ziell in den nördlichen Großstädten auftraten. Ein großer Teil der
verarmten Schwarzen aus dem Süden, die in den vierziger und fünf-
ziger Jahren ihre Existenzgrundlage in der Landwirtschaft verloren
hatten, fanden in den Städten des Nordens keine Arbeit; extremes
Elend wurde rasch zu einem Dauerzustand. Später wurde die Not
allerdings durch zunehmende Wohlfahrtsleistungen, die der Auf-
ruhr der sechziger Jahre produzierte, gemildert. Der Aufruhr der
sechziger Jahre bescherte auch den armen Weißen in größerer Zahl
öffentliche Unterstützung, so daß die amerikanische Unterschicht
insgesamt von den schwarzen Protesten dieser Periode profitierte.
Die Größe des Erfolgs läßt sich an der Anzahl zusätzlicher Fami-
lien, die Unterstützung erhielten, und an den zusätzlichen Milliar-
den Dollar, die für Sozialfürsorge aufgewandt wurden, ablesen:
196o erhielten nur 745 000 Familien Unterstützung im Rahmen des
AFDC-Programms (»Aid to Families with Dependent Children« —
Unterstützung von Familien mit abhängigen Kindern); die Höhe
der Leistungen betrug insgesamt weniger als eine Milliarde Dollar.
1972 waren es dagegen drei Millionen Familien, und die Beihilfen
beliefen sich auf insgesamt sechs Milliarden Dollar.
In diesem Punkt erweisen sich Darstellungen der Bürgerrechts-Ära
als merkwürdig kurzsichtig — der Sachverhalt wird nicht einmal
erwähnt. Hätte es nicht die Rassenunruhen gegeben, die eine Stadt
nach der anderen erschütterten, man müßte aufgrund der vorlie-
genden Berichte zu dem Schluß kommen, die städtische schwarze
Armutsbevölkerung sei untätig gewesen. Dies ist um so merkwür-
diger, als viele Beobachter dahin tendieren, die Rassenunruhen als
eine Form der Rebellion zu definieren. Mit gleichem Recht läßt
2 89
sich aber auch die Erhebung der Wohlfahrtsempfänger als Rebel- inspiriert worden, sahen jedoch ihre Aufgabe primär darin, dauer-
lion der Armen gegen die Umstände, die ihnen sowohl Arbeit als hafte Massenorganisationen der städtischen Armutsbevölkerung
auch Einkommen versagten, verstehen. Mehr noch, die Bewegung aufzubauen. Neben ihr gab es noch eine Reihe weiterer Organisa-
der Wohlfahrtsempfänger war in gewissem Sinne die authentischste tionsversuche in dieser Periode, von denen jedoch keiner die natio-
Form der schwarzen Bewegung in der Nachkriegszeit. Ihre vielen nale Bedeutung der »National Welfare Rights Organization«
hunderttausend Teilnehmer kamen aus der untersten Schicht der erlangte.' Eine Analyse der Erfahrungen der NWRO stellt daher
schwarzen Bevölkerung. Sie waren weder Integrationisten noch eine wichtige Grundlage für die Einschätzung der Tauglichkeit die-
Nationalisten; sie kannten weder Sprecher noch Organisation. ser politischen Strategie dar.
Diese Bewegung brach aus dem Innersten der nördlichen Gettos Es ist so gut wie nichts über die NWRO geschrieben worden.
hervor, wo auf engstem Raum die Opfer der agrarischen Umwäl- Während ihrer kurzen Existenz erhielt sie relativ geringe Unterstüt-
zung und städtischen Arbeitslosigkeit lebten. Es war, kurz gesagt, zung von Bürgerrechtsgruppen, und seitdem haben Historiker und
ein Kampf der schwarzen Massen ums Überleben. Sozialwissenschaftler ihr kaum Beachtung geschenkt. 2 Die Ana-
Als sich die weitverzweigte Bewegung der Fürsorgebedürftigen in lyse, die wir in diesem Kapitel leisten werden, basiert daher fast
den frühen sechziger Jahren entfaltete, schlossen sich einige ausschließlich auf unseren eigenen Beobachtungen, die wir wäh-
Schwarze (und ein paar Weiße) zu einer Organisation zusammen, rend unseres Engagements bei der NWRO sammeln konnten, als
die sich zum Ziel setzte, das System der öffentlichen Wohlfahrt zu wir an Strategiediskussionen, Spendenkampagnen und Demon-
verändern. Wie schon während der Großen Depression Arbeitslo- strationen teilnahmen. 3 Wir waren entschiedene Verfechter einer
sengruppen aus dem Boden schossen und schließlich die »Workers' bestimmten politischen Strategie, deren Hauptgewicht auf militan-
Alliance of America« bildeten, begannen auch Mitte der sechziger ten Protesten anstelle von »community organization« lag, und die
Jahre Gruppen aufzutauchen, die das Recht auf Wohlfahrt auf ihr eine Quelle ständiger Auseinandersetzung unter der NWRO-Füh-
Banner geschrieben hatten und sich später zur »National Welfare rung darstellte, wie wir im weiteren Verlauf des Kapitels darlegen
Rights Organization« (NWRO) zusammenschlossen. Im folgen- werden. Es muß dem Leser überlassen bleiben zu beurteilen, inwie-
den Kapitel wollen wir untersuchen, wie bedeutend der Beitrag weit unser eigenes Engagement und unsere Parteilichkeit die fol-
war, den die NWRO zur Wohlfahrtsbewegung leistete — welchen gende Analyse verzerrt haben mögen.
Anteil sie an der ungeheuren Zunahme der Forderungen nach
Unterstützung und an der darauffolgenden explosiven Ausweitung
der Empfängerlisten hatte. Die Entstehung einer Bewegung der Wohlfahrtsempfänger
Die NWRO ist noch aus einem weiteren Punkt von Interesse. Sie
wurde zu einem Zeitpunkt gegründet, als die Bürgerrechtsbewe- Das AFDC-Unterstützungsprogramm wurde im Rahmen des
gung im Süden so gut wie verebbt war und sich viele Aktivisten »Social Security Act« von 1935 geschaffen.' Bis 194o hatten alle
nach Norden wandten, angezogen von der wachsenden Unruhe Bundesstaaten die notwendigen Durchführungsgesetze verab-
der schwarzen städtischen Massen. Zusammen mit der Konzentra- schiedet, und immer mehr Menschen wurden auf die Fürsorgeli-
tion schwarzer Wähler im Norden bestärkte diese Unruhe die sten gesetzt. Es ist allerdings entscheidend, darauf hinzuweisen,
Überzeugung, politische Macht könne durch Massenorganisation daß nur wenige der Armen von dieser allseits gepriesenen Reform
gewonnen werden. Protestdemonstrationen und direkte Aktionen, profitierten. Wohlfahrtsstatuten und -praktiken sollten vor allem
die für die Bewegung im Süden charakteristisch gewesen waren, dazu dienen, Arbeitsnormen durchzusetzen und durch die Ver-
wurden daher rasch in den Hintergrund gedrängt; statt dessen knappung von Sozialfürsorge ein Reservoir billiger Arbeitskräfte
betonte man die Notwendigkeit von »community organization« in verfügbar zu halten. Gesunde Erwachsene ohne Kinder wurden,
den Gettos des Nordens. Die NWRO war ein Ausdruck dieser Ver- ebenso wie alle Familien mit zwei Elternteilen, durch das Bundes-
änderung. Ihre Protagonisten waren zwar vom Geist des Protestes gesetz einfach von der Fürsorge ausgeschlossen; Bestimmungen
290, 291
und Praktiken einzelner Bundesstaaten und Landkreise verweiger- der Fürsorgeempfänger nur unbedeutend an: von 635 000 Familien
ten auch vielen der übrigen Bedürftigen noch die Unterstützung. im Jahre 195o auf 745 000 im Jahre 196o - ein Anstieg von nur
Ein weiterer Grund für die Begrenzung der Fürsorgeleistungen 'to 000 Familien (oder 17°,/0) in einem Jahrzehnt, das von der
waren die Kosten. Einen Teil der Wohlfahrtsausgaben finanzierte Abwanderung von Millionen entwurzelter Menschen vom Land in
der Bund; Bundesstaaten und Gemeinden brachten den Rest auf. die Städte gekennzeichnet war. Diese Menschen nahmen ihr elen-
Die lokalen Fürsorgeverwaltungen hatten folglich allen Grund, es des Dasein einfach hin.
so schwierig wie möglich zu machen, Unterstützung zu bekom- Das allerdings sollte sich bald ändern. Dies war zum Teil darauf
men. zurückzuführen, daß Armut zu einem öffentlich debattierten
In den sechziger und siebziger Jahren schwoll dann die Zahl der Thema vvurde. Die Rezessionen der späten fünfziger Jahre spielten
Fürsorgeempfänger vor allem im Norden erheblich an.5 Zurückzu- im Präsidentschaftswahlkampf von 196o eine prominente Rolle.
führen ist diese Expansion auf die Entstehung einer Bewegung der Kennedy forderte wiederholt »einen wirtschaftlichen Feldzug
Fürsorgebedürftigen. gegen die Armut« (Schlesinger, 873), und als die Stimmen gezählt
waren, machte ein verbitterter Nixon für seine Niederlage nicht
Die Legitimität der Armut wird in Frage gestellt zuletzt Eisenhowers Wirtschaftspolitik verantwortlich, der es nicht
gelungen war, Rezessionen, besonders im Wahljahr selbst, zu ver-
Wie wir schon in Kapitel 4 gezeigt haben, nahm nach dem Zweiten hindern.' Nur wenige Tage nach seiner Amtsübernahme leitete
Weltkrieg das Elend großer Teile der Armutsbevölkerung weiter zu. Kennedy Gesetzesvorlagen an den Kongreß, in denen er vorschlug,
In der Landwirtschaft, vor allem im Süden, griff die Arbeitslosig- »dem Gesetz zur Arbeitslosenunterstützung eine zeitlich
keit um sich und auch in den Städten lag sie auf hohem Niveau. Die begrenzte Ergänzung über eine dreizehnwöchige Zahlung hinzu-
Beschäftigungssituation verbesserte sich während des Koreakrie- zufügen ... die Unterstützung für Kinder von Arbeitslosen auszu-
ges vorübergehend, doch dann stieg die Zahl der Erwerbslosen dehnen ... die Zahlungen der Sozialversicherung zu verbessern
wieder abrupt an. Schwarze wurden besonders hart betroffen. und frühzeitige Pensionierung zu fördern ... [und] die Mindest-
Während des letzten Kriegsjahres lag die offizielle Arbeitslosen- löhne auf breiter Basis zu erhöhen« (Sorensen, 387).
quote in der nicht-weißen Bevölkerung bei 4,5`)/0; sie stieg in der Kennedys Interesse an ökonomischen Problemen war zwar pri-
Rezession von 1958 auf 13% und blieb bis zur Eskalation des Viet- mär seiner breiten Gefolgschaft in der Arbeiterklasse geschuldet,
nam-Krieges ständig über to%. In den Gettos der nördlichen war aber zu einem gewissen Grad auch eine Reaktion auf die
Großstädte erreichte die Arbeitslosigkeit teilweise das Ausmaß der Ansprüche seiner schwarzen Wähler. Vom Augenblick seiner Amts-
Depressionsj ah re. übernahme an mußte er sich gegen die Kritik von Bürgerrechtlern
verteidigen, die meinten, er wolle sich vor der Einlösung des Ver-
»Zum Beispiel waren 19-0 4 41'k der männlichen Schwarzen in einem Zen- sprechens drücken, ein Bürgerrechtsgesetz vorzulegen:
sus-Bezirk von Detroit, der aussehliefslich von Schwarzen bewohnt wurde,
arbeitslos; in bestimmten Zensus-Bezirken von Chicago, Los Angeles und »Als ihm [Kennedy] die Führer der Bürgerrechtsbewegung 1961 Vorwürfe
Baltimore — in denen 9(2°,4, oder mehr der Bewohner Schwarze waren — machten, weil er sich nicht für die Gesetzgebung einsetzte, erklärte er
bewegten sich die Arbeitslosenquoten zwischen 24 und 36%.«6 ihnen, daß ein erhöhter Mindestlohn, Unterstützung des Bildungswesens
durch den Bund und andere Sozial- und Wirtschaftsmaßnahmen auch Bür-
Doch trotz des Elends beantragte nur ein kleiner Teil der Armen gerrechte seien.« (846-847)
öffentliche Unterstützung. Das Ethos der Eigenverantwortlichkeit
und die Verachtung des Almosenempfängers sind fürwahr macht- Zu Anfang dienten die Aktivitäten der Kennedy-Administration
volle Kontrollmechanismen. Zudem reagierte die Regierung nicht im Kampf gegen die Armut also dazu, Bürgerrechtsforderungen zu
auf die ökonomische Notlage: von den Familien, die Beihilfe bean- umgehen, ohne die Unterstützung der Schwarzen zu verlieren.
tragten, wurde etwa die Hälfte abgewiesen. Folglich stieg die Zahl Doch in dem Maße, wie sich die Auseinandersetzungen um die

292 293
Bürgerrechte verschärften, wuchs auch die Empörung der Schwar- waren Experten der zuständigen Regierungsbehörden — des >Council of
zen über ihre Lebensbedingungen — nicht allein als unterdrückte Economic Advisors<, des Bureau of the Budget, des Arbeits- und des
rassische Minderheit in einer weißen Gesellschaft, sondern auch als Gesundheitsministeriums ... emsig dabei, eine wahre Flut von Referenten-
verarmter Bevölkerungsteil umgeben von Wohlstand. Von den studien zu produzieren. Im November informierte Präsident Kennedy
[seine Berater] ... daß er beabsichtige, die Bekämpfung der Armut zu einem
Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung im Süden profitierten nun
der Hauptziele seines Gesetzgebungsprogramms für 1964 zu machen.«
einmal am stärksten und unmittelbarsten die schwarzen Südstaat-
(Donavan, 23)
ler, vor allem jene, die schon zur Mittelschicht gehörten oder sich
anschickten, in die Mittelschicht aufzusteigen. Als Anfang der Hatte Kennedy die rhetorische Welle über das Armutsproblem nur
sechziger Jahre clie Schwarzen in Dutzenden von I,andkreisen end- in Gang gesetzt, ließ Johnson nach dem Attentat die Welle zu einer
lich das Recht erhielten, zu wählen oder sich auf jeden beliebigen Sturmflut anschwellen. In seinem Bericht zur Lage der Nation vom
Platz im Bus zu setzen, da lebten in diesen Gebieten gar nicht mehr 8.1anuar 1964 begann er mit der Erklärung eines »bedingungslosen
so viele Schwarze, die die neuen Rechte in Anspruch nehmen konn- Kriegs gegen die Armut in Amerika. [Wir] werden nicht eher
ten. Die Arbeitslosigkeit in der Landwirtschaft, zusammen mit ruhen, bevor dieser Krieg gewonnen ist.« Später im Januar unter-
einer repressiven Fürsorgepraxis der Südstaaten, die arbeitslosen breitete er dem Kongreß die »Economic Opportunity Bill« von
Landarbeitern Unterstützung versagte, hatten eine Abwanderung 1964 (das Programm gegen die Armut)9, und setzte sich in den fol-
erzwungen, die zwangsläufig die Reihen der schwarzen Landbe- genden Monaten bei verschiedenen Interessengruppen — Gewerk-
wohner lichtete. In den Städten schufen Arbeitslosigkeit, Unterbe- schaftsvorsitzenden, Wirtschaftsvertretern, Kirchenführern und
schäftigung, niedrige Löhne und Wohlfahrtsrestriktionen neue Bürgerrechtlern — mit großem Nachdruck für das Programm ein.
Härten. Eine Bürgerrechtsrevolution war im Gange, nur: die Mit Reden und Pressemitteilungen mobilisierte Johnson die öffent-
schwarze, städtische Armutsbevölkerung hatte kaum etwas davon. liche Meinung für den Feldzug gegen die Armut. Das Ergebnis die-
In den Jahren 1962 und 1963 hatten viele Bürgerrechtsaktivisten ser Aktivitäten war durchschlagend: »Wenn die Öffentlichkeit sich
begonnen, sich ökonomischen Problemen zuzuwenden. Sie orga- der Armut in denVereinigten Staaten vor einem Jahr praktisch über-
nisierten Boykotts, Arbeitskämpfe und Protestdemonstrationen, haupt noch nicht bewußt geworden war, so war dieses Bewußtsein
um diskriminierende Beschäftigungspraktiken anzugreifen; sie jetzt allgemein. Vor allem aber hatte Johnson den Krieg gegen die
organisierten Mietstreiks, um gegen unzumutbare Wohnbedingun- Armut zu einem Teil des nationalen Konsensus gemacht.« (Evans
gen und Mietwucher zu protestieren, und wandten sich mit Mas- und Novak, 368) Der Kongreß reagierte außergewöhnlich schnell.
sendemonstrationen gegen Häuserabriß und Stadtsanierung. Auf Schon im August, nur einige Wochen vor den Präsidentschaftswah-
diese Weise gerieten wirtschaftliche Probleme in den Mittelpunkt len, konnte der Präsident das Gesetz unterzeichnen.
der Proteste, und der Marsch auf Washington für Arbeit und Frei-
heit im August 1963 bot diesen Protesten eine nationale Bühne. Programme gegen die Armut
Während der Marsch auf Washington noch geplant wurde, starte-
ten Regierungsvertreter eine rhetorische Kampagne über ökonomi- Was das Programm gegen die Armut tatsächlich leistete, war, eine
sche Ungerechtigkeit, die sie mitVerlautbarungen über dieWichtig- Reihe i:on Maßnahmen, die schon während der Kennedy-Jahre
keit neuer Programme zur Bekämpfung der Armut verbanden. Der initiiert worden waren, erheblich auszuweiten. Dazu gehörte bei-
Planungsprozeß begann in einer Kabinettssitzung im Juni, kurz spielsweise der »Juvenile Delinquency andYouth Offenses Control
nach der Bürgerrechtskrise in Birmingham und kurz vor dem Act« von 1961 (Gesetz zur Bekämpfung der Jugendkriminalität),
Marsch auf Washington: unter dem in 2o Städten »communitv action«-Programme einge-
,>Kennedy widmete einen großen Teil [dieser Sitzung] ... einer Diskussion richtet worden waren. Zusätzlich war 1962 der »Manpower Devel-
über das Problem schwarzer Arbeitslosigkeit, und gab eine Reihe von opment and Training Act« verabschiedet worden, dem 1963 der
Stabsanalysen zu dem Thema in Auftrag. Den gesamten Sommer 1963 über »Communitv Mental Health Centers Act« gefolgt war. 1966 trat
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noch der »Demonstration Cities and Metropolitan Development Praktiken und Regelungen, die den Kreis der Fürsorgeempfänger
Acta hinzu. einschränken sollten.' Infolge dieser Gerichtsentscheidungen
Eine Zeitlang gelang es diesen Programmen weniger, die Unruhe wurden völlig neue Personengruppen antragsberechtigt, so daß
zu dämpfen; statt dessen dienten sie als Vehikel für die Mobilisie- vielen, die zuvor abgewiesen worden waren, jetzt Beihilfe gewährt
rung der schwarzen Gettobevölkerung, um weitere Regierungshil- werden mußte. Als nun die Sozialarbeiter feststellten, daßTausende
fen zu fordern. 10 Sie schufen eine neue Führungsstruktur in den potentieller Fürsorgeempfänger die Slums und Gettos bevölker-
Gettos und brachten zudem die Massen der schwarzen Armutsbe- ten, begannen sie, Handbücher über das »Recht auf Wohlfahrt«
völkerung in Bewegung. Dies wurde möglich, weil ein Teil der Mit- zu erstellen und in Zehntausenden von Exemplaren zu verteilen,
tel aus diesen Programmen direkt in einzelne Gettoviertel floß — als wodurch immer mehr Menschen von ihrem Anspruch auf öffent-
eine Art direkter Zuwendung aus dem Patronagetopf des Bundes liche Unterstützung erfuhren. Kurzum : ab 1965 waren die Armen
an Minderheitengruppen. Auch wurden die Schwarzen durch über ihr »Recht« auf Wohlfahrt informiert, wurden sie ermutigt,
Regierungspolitiker dazu ermuntert, diese Mittel zur Gründung Fürsorge zu beantragen, und wurde ihnen geholfen, diese auch
eigener Organisationen zu benutzen, um so gezielt ihre eigenen zu bekommen. Eine vielfältige Kampagne gegen restriktive Wohl-
Interessen, vor allem in den Bereichen der Kommunalpolitik und fahrtspraktiken war in Gang gekommen, und die Bundesregierung
städtischen Dienstleistungen vertreten zu können. stellte nicht nur den Hauptteil der finanziellen Mittel zur Ver-
Die neuen Hilfsprogramme gaben entscheidenden Anstoß zu der fügung, sondern verlieh der Kampagne außerdem noch Legitimi-
Flut von Anträgen auf öffentliche Unterstützung, die nach 1965 tät."
einsetzte. Als Tausende von Sozialarbeitern und Nachbarschafts-
helfern, die im ganzen Land von den »community action«-Büros Die Bedeutung der Unruhen
angeheuert wurden, mit Bedürftigen in Kontakt kamen, waren sie
gezwungen, sich mit den Fürsorgerichtlinien vertraut zu machen Die Massenunruhen, die zwischen 1964 und 1968 das Land überzo-
und zu lernen, wie sie am besten Unterstützung für ihre Klienten gen, waren für die neuen Unterstützungsprogramme von erhebli-
durchsetzen konnten. Hätten sie etwas anderes getan, hätten sie cher Bedeutung. Im Jahre 1966 gabe es 2r größere Bürgerunruhen,
sich schnell als nutzlos erwiesen für die Menschen, deren Interes- 1967 waren es 83. Der Juli 1967 war ein Monat des Aufruhrs. In Mil-
senvertreter sie ja sein sollten. Es war ganz einfach: die Armen waukee starben vier Menschen; in Detroit 43. Überall im Land bra-
brauchten Geld; Geldmangel war die Ursache der meisten Pro- chen Unruhen aus: in Cambridge (Maryland); in Lansing, Kalama-
bleme, wegen derer Familien sich an die Sozialarbeiter in den zoo, Saginaw und Grand Rapids (Michigan); in Philadelphia; Pro-
Ladenbüros oder anderen »community action«-Büros im ganzen vidence; Phoenix; Portland; Wichita ; South Bend und Memphis; in
Land wandten. Wilmington (Delaware); San Francisco, San Bernardino, Long
Nach kurzer Zeit wurden auch Anwälte, die sich für die Rechte Beach, Fresno und Marin City im Bundesstaat Kalifornien; in
der Wohlfahrtsempfänger einsetzten, aktiv. Wenn einzelne Betreuer Rochester, Mt. Vernon, Poughkeepsie, Peekskill und Nyack im
nicht in der Lage waren, die Ansprüche der von ihnen vertretenen Staat New York; in Hartford (Connecticut); in Englewood, Pater-
Familien auf Unterstützung durchzusetzen, strengten die Anwälte son, Elizabeth, New Brunswick, Jersey City, Palmyra und Passaic
Musterprozesse an und errangen zunächst in den Gerichten der in New Jersey. Als der Monat zu Ende ging, richtete das Pentagon
Einzelstaaten, später auch in den Bundesgerichten, bis hinauf zum eine »Task Force« und der Präsident eine Untersuchungskommi-
Obersten Gericht, verblüffende Erfolge. So wurden nach und nach sion zu den Bürgerunruhen ein. Nur knapp sieben Monate später
eine Reihe von Restriktionen beseitigt: »Mann-im-Haus«-Klau- (im Februar 1968) forderte die Kommission eine »massive und dau-
seln; Wohnsitzbestimmungen; Vorschriften, nach denen beschäfti- erhafte Verpflichtung«, um die Armut und Rassendiskriminierung
gungsfähigen Müttern Unterstützung versagt werden konnte aus der Welt zu schaffen. Nur ein paar Tage vorher hatte der Präsi-
(employable mother); und ein Haufen anderer Bestimmungen, dent in seinem Bericht zur Lage der Nation Gesetzesvorschläge
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über die Ausbildung und Beschäftigung langjähriger Arbeitsloser von da an lag sie jedes Jahr über einer Million.' Es war unverkenn-
sowie Stadterneuerungsvorhaben angekündigt. bar: eine Millionenbewegung der Wohlfahrtsempfänger war ent-
Angesichts dieser Situation — Massenproteste auf der einen, eine standen.
entgegenkommende Regierung auf der anderen Seite — blieb den
Sozialarbeitern der »Great Societv«-Programme kaum eine andere Staatliche Reaktionen auf die Bewegung der Fürsorgeempfänger
Wahl, als die Interessen ihrer Mandanten militant zu vertreten. Also
verhandelten sie nicht länger mit ihrem jeweiligen Gegenüber in Ebenso steil wie die Kurve der Antragstellungen verlief die der
den Lokalverwaltungen (der Schulbehörde, der Stadtsanierungs- Antragsbewilligungen. Je mehr Familien Anträge stellten, um so
verwaltung, dem Fürsorgeamt) — jetzt forderten sie positive höher wurde auch die Bewilligungsquote. Im Jahre 196o erhielten
Bescheide auf die Anträge ihrer Klienten. Auch scheuten sie nicht 5 Yo der Antragsteller Unterstützung. Der Anteil stieg 1963 auf
mehr vor Prozessen zurück, selbst wenn es Lokalpolitikern und 57%, 1966 auf 64% und 1968 auf 70°/0. In manchen Städten im
Behördenleitern besonders gegen den Strich ging: sie klagten und Norden lag die Bewilligungsquote sogar noch höher. Es ist kaum
gewann auch häufig. Schließlich zögerten sie nicht länger, Proteste übertrieben zu sagen, daß praktisch jede Familie mit niedrigem
der Armen gegen Politik und Praxis lokaler Wohlfahrtsempfänger Einkommen, die gegen Ende der sechziger Jahre ein Wohlfahrts-
zu organisieren. Dies war eine Ursache der Wohlfahrtsexplosion in büro aufsuchte, auch Unterstützung bekam.
den sechziger Jahren. Die Liberalisierung der Fürsorgepraxis läßt sich auf ein Zusam-
menwirken mehrerer Faktoren zurückführen. Die Wohlfahrtsbe-
Eine Bewegung der Fürsorgeempfänger-entsteht amten der Bundesstaaten und Gemeinden wurden von der öffentli-
chen Diskussion über Armut und soziale Ungerechtigkeit beein-
Alle genannten Faktoren stiegen gleichzeitig an: die rhetorischen flußt und offen von dem Personal der neuen Bundesprogramme
Kraftakte gegen die Armut, die Bewilligung neuer Mittel für die unter Druck gesetzt, die Vergaberichtlinien großzügiger zu hand-
Anti-Armuts-Programme, die Gettounruhen ebenso wie die haben. Darüber hinaus fürchteten die Beamten (und die Politiker,
Anträge auf öffentliche Unterstützung. Offensichtlich waren viele denen sie verantwortlich waren) den Ausbruch von Unruhen.
Bedürftige zu der Überzeugung gelangt, daß eine Gesellschaft, die Einige dieser Unruhen standen in der Tat in direkter Beziehung zu
ihnen Arbeitsplätze und angemessene Löhne verweigerte, ihnen Fürsorgedemonstrationen oder wurden von Ungerechtigkeiten im
zumindest ein zum Überleben ausreichendes Einkommen schul- Wohlfahrtssystem ausgelöst. Den schweren Unruhen von 1966 im
dete. Die Zeit begann der Großen Depression zu ähneln: in beiden Hough-Bezirk von Cleveland war die herabwürdigende Behand-
Perioden kam eine große Anzahl von Menschen zu dem Schluß, lung eines Fürsorgeempfängers durch die Polizei vorangegangen.
daß das »System« und nicht sie selbst die Verantwortung für ihr Dieser hatte Geld beantragt, um einem anderen, gerade verstorbe-
Schicksal trage — und so wandten sie sich in immer größerer Zahl an nen Fürsorgeempfänger die letzte Erniedrigung eines Armenbe-
die Fürsorgeämter. gräbnisses zu ersparen (Stein, 3 —4). Im Frühjahr 1967 veranstaltete
Im Jahre 196o beantragten 588 000 Familien AFDC-Beihilfe; in Boston eine Gruppe von Wohlfahrtsempfängern ein sit-in auf
1963, in dem Jahr, als führende Politiker den Kampf gegen die dem Sozialamt. Als die Polizei mit Schlagstöcken gegen die
Armut erstmals zu einer öffentlichen Aufgabe erklärten, stellten Demonstranten vorging, schrien diese aus den Fenstern auf die
788 000 Familien Anträge — ein Anstieg von einem Drittel. Im Jahr Straße hinaus und lösten drei Tage anhaltende Unruhen aus — die
1966, dem ersten Jahr, in dem die Programme gegen die Armut in ersten in diesem besonderes gewalttätigen Sommer.' Im allgemei-
vollem Umfang wirksam waren, erreichte die Zahl der Anträge nen operierten in diesen Jahren die Verwaltungen der nördlichen
903 000 — ein Zuwachs von mehr als 5o% gegenüber 196o. Als 1968 Großstädte aber äußerst vorsichtig: die Polizei wurde geschult,
die Gettounruhen ihren Höhepunkt erreichten, hatte sich die Zahl provozierendes Verhalten zu vermeiden; Stadtsanierungsbehörden
der Anträge gegenüber 196o verdoppelt und r o88 ooc erreicht — waren vorsichtiger beim Einreißen von Slums und Gettovierteln;
298 299
und Fürsorgeverwaltungen verteilten Sozialunterstützung großzü- Ein Vorschlag zur Entfesselung
gi ger. einer institutionellen Krise
Das Verhalten der Antragsteller in den Warteräumen der Fürsorge-
ämter hatte sich ebenfalls verändert. Sie waren nicht mehr so Wir hatten 1965 eine Untersuchung abgeschlossen, die aufzeigte,
bescheiden, so untertänig, so flehend; sie waren empörter, wüten- daß auf jede Familie, die AFDC-Unterstützung erhielt, mindestens
der, fordernder. Die Wohlfahrtsbeamten blieben davon nicht unbe- eine andere kam, die zwar den gesetzlichen Anforderungen ent-
einflußt; vor allem die Sachbearbeiter, die die Anträge entgegen- sprach, aber trotzdem nicht unterstützt wurde. Infolge der Migra-
nahmen — gewissermaßen die Türsteher des Systems — nutzten tionsbewegung und Arbeitslosigkeit war in den Städten ein riesiges
ihren Ermessensspielraum jetzt viel freizügiger aus. Die traditio- Heer von Familien entstanden, deren Einkommen unter den
nellen Mittel, mit denen die Berechtigung von Ansprüchen über- Sozialfürsorgesätzen lag. Sollte es gelingen, Hunderttausende von
prüft wurde, verschwanden langsam: Hausbesuche wurden selte- Familien zu bewegen, Unterstützung zu fordern, so versprachen
ner, Vorschriften, nach denen Formulare verschiedener Behörden wir uns davon zweierlei: Erstens: Wenn diese in großer Zahl Für-
einzuholen waren, um nachzuweisen, daß eine Familie nicht andere sorge erhielten, wäre ein großer Teil der Armut in Amerika besei-
Beihilfen (wie Kriegsrenten etc.) erhielt oder beanspruchen tigt. Zweitens : Aus Gründen, die noch zu erklären sind, glaubten
konnte, wurden zusehends vernachlässigt. In der Praxis verloren wir, daß eine gewaltige Zunahme der Wohlfahrtsausgaben so-wohl
Durchführungsvorschriften fast völlig an Bedeutung; um die Hun- fiskalische als auch politische Krisen in den Städten auslösen wür-
derttausende von Familien, die die Warteräume der Wohlfahrtsäm- den, deren Auswirkungen die Regierung dazu veranlassen könn-
ter überfüllten, überhaupt abfertigen zu können, wurden die ten, das Wohlfahrtssystem in die Verantwortung des Bundes zu
Bestimmungen einfach ignoriert. nehmen und ein nationales Mindesteinkommen einzuführen. Es
Auch mit den einmal anerkannten Unterstützungsempfängern war eine Strategie, die einerseits darauf abzielte, eine kurzfristige
gingen die Fürsorgeämter weniger hart um. Die Zahl der Streichun- Besserung der ökonomischen Lage der Armen zu erreichen, und
gen ging zurück, vor allem derjenigen, die mit »Verstoß gegen die andererseits die Möglichkeit barg, langfristig ein nationales Ein-
Bestimmungen der Behörde« begründet wurden — einem Gummi- kommensminimum durchzusetzen .
paragraphen, der von der Weigerung, einen »verantwortlichen« Diese Ideen stellten wir in einem hektographierten Papier mit
Vater ausfindig zu machen, bis zur Nichtwahrnehmung von Ge- dem Titel »A Strategy to End Poverty«15 vor, das wir Ende des Jah-
sprächsterminen so ziemlich alles umfaßte. res 1965 unter »organizers« und Aktivisten zirkulieren ließen. Wir
Aufgrund dieser Veränderungen wurden die Listen der Unterstüt- arcrumentierten darin, daß in einer Situation, die von wachsendem
zungsempfänger immer länger. 196o bekamen 745 000 Familien Aufruhr in den Städten und von einer immer geringeren Scheu vor
Sozialbeihilfen, 1968 erreichte ihre Zahl 1,5 Millionen. Zwischen öffentlicher Unterstützung gekennzeichnet war, und in der die
1968 und 1972 schraubte sich die Zahl dann auf drei Millionen hoch Mittel der Programme gegen die Armut zur Verfügung standen,
— eine Steigerung von 3co% gegenüber 1960. 1972 wurden insge- Aktivisten aller Couleur sich in einer massiven Kampagne zusam-
samt sechs Milliarden Dollar ausgezahlt; 1960 war es weniger als menschließen und die Bedürftigen dazu ermuntern sollten, durch
eine Milliarde gewesen. Ohne organisatorische Führung und ohne Anträge auf öffentliche Unterstützung das Wohlfahrtssystem noch
in der Öffentlichkeit überhaupt zur Kenntnis genommen zu wer- mehr zu erschüttern.
den, war eine Bewegung der Fürsorgeempfänger entstanden, die Zu den Personen, die sich der Idee aufgeschlossen zeigten, im
erhebliche Einkommensverbesserungen für ihre Mitglieder erzie- Bereich der Sozialfürsorge politisch zu arbeiten, gehörte George
len konnte. A. Wiley, den wir von CORE her kannten. Er stand damals kurz da-
vor, vom Posten des stellvertretenden nationalen Direktors von
CORE zurückzutreten, hauptsächlich, weil er sich nicht mit dem zu-
nehmenden schwarzen Nationalismus, der sich Anfang 1966 in der
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Organisation auszubreiten begann, identifizieren konnte. George prüfen zu lassen, indem er prominente Sozialexperten konsultierte,
hatte bereits über die Möglichkeit nachgedacht, eine breitange- erklärten ihm einige von ihnen, unsere Zahlen seien nicht korrekt,
legte, programmatisch offene Organisation unter der städtischen und es ginge uns nur darum, einen Propagandafeldzug gegen das
Armutsbevölkerung aufzubauen, aber noch keine konkreten Pläne Wohlfahrtssystem zu führen. (Einige behaupteten sogar, die Daten
gefaßt. Zusammen mit der Tatsache, daß bereits eine Reihe von seien gefälscht.) Es existierten auch keine Zahlen aus anderen Stu-
»welfare rights«-Gruppen (vor allem im Rahmen lokaler Projekte dien, die unsere Behauptungen gestützt hätten. Die herrschenden
gegen die Armut und hauptsächlich in der Stadt New York) entstan- kulturellen \Torurteile über die schädlichen Konsequenzen der
den waren, bot unser Vorschlag eine Möglichkeit zu handeln.' Gewährung von Sozialhilfe waren so festverwurzelt, daß Wissen-
Gerade zu dieser Zeit lenkten eine Reihe von Bürgerrechtlern vor schaftler dieser Frage einfach noch nicht nachgegangen waren. Um
allem in den nördlichen Bundesstaaten ihre Aufmerksamkeit von die Ungewißheit aus derWelt zu schaffen, bat George seinen Mitar-
den Problemen der Kastenordnung auf ökonomische Themen. Da beiter Edwin Day, unsere Untersuchung zu wiederholen. Day kam
gleichzeitig die Rassenunruhen auf das wachsende Aufstandspo- schließlich zu dem Schluß, daß unsere Schätzungen insofern fehler-
tential der schwarzen Stadtbevölkerung hindeuteten, bot sich die haft gewesen seien, als sie die Zahl bedürftiger, aber unversorgter
Chance, eine machtvolle Bewegung gegen das ökonomische Elend Familien noch viel zu niedrig angesetzt hätten. Daraufhin wurde
einzuleiten. Auch die Zugeständnisse der Bundesregierung in die- Übereinstimmung erzielt, daß der Versuch, die Zahl der Fürsorge-
ser Zeit deuteten darauf hin, daß Erfolge und Veränderungen mög- empfänger zu erhöhen und eine Krise des Wohlfahrtssystems her-
lich waren. Nur war nicht recht klar, wie Aktivisten auf der Ebene beizuführen, durchaus der Mühe wert war. In einer öffentlichen
tagtäglicher politischer Arbeit die Armut bekämpfen konnten, -wie Debatte machte George dies im späten Frühjahr 1966 deutlich:
sie vor allem deren Hauptursachen — Unterbeschäftigung und ',Nun, ich muß sagen, daß das Erscheinen der von Cloward und Piven ent-
Arbeitslosigkeit — abstellen sollten. Deshalb schlugen wir mit unse- wickelten Strategie für viele Bürgerrechtsaktivisten im ganzen Land eine
rem Plan vor, statt dessen den Mangel an Einkommen, der aus der wahre Aufmunterungsspritze bedeutet hat. Vielen von uns, die aus der Bür-
Arbeitslosigkeit resultierte, anzugreifen. Aus diesem Grund war er gerrechtsbewegung hervorgegangen sind, v,rar seit jeher daran gelegen, daß
für einige »organizers« attraktiv sich in den Gettos im Norden eine signifikante Bewegung entwickelte, und
eine Menge Leute, die in den Großstadtgettos politische Arbeit leisten,
Für George war die nächstliegende Frage, ob tatsächlich das
haben ja verzweifelt versucht, relevante Ansatzpunkte zu finden, um eine
Wohlfahrtssystem einen vielversprechenden Ansatzpunkt für eine
wesentliche Änderung der Lebensbedingungen der Ivlenschen dort herbei-
Organisierungskampagne darstellte, und nicht etwa die Wohnver- zuführen.
hältnisse, das Erziehungswesen oder die Gesundheitsfürsorge. Um Die Idee, erheblichen ökonomischen Druck zu entfesseln, indem die Men-
diese Frage zu diskutieren, rief er uns und ein paar Freunde aus der schen ermutigt werden, ihre Rechte im Wohlfahrtssystem geltend zu
Bürgerrechtsbewegung zu einer Reihe kleinerer Treffen zusam- machen, diese Idee ist auf sofortiges Interesse gestoßen und ist gerade für
inen, die im Frühjahr 1966 in NewYork stattfanden. Die Diskussio- Aktivisten in Stadtgebieten ungeheuer attraktiv. Ich kann sagen, daß viele
nen drehten sich zum großen Teil um die Praxis des Wohlfahrtssy- von uns aufgrund unserer Herkunft aus der Mittelschicht nicht sofort in
stems selbst und um die Schätzungen, die wir über die Zahl der der Lage waren, dieses Potential richtig zu erkennen — und schließlich kom-
bedürftigen und anspruchsberechtigten Familien in verschiedenen men, so glaube ich, die meisten Aktivisten wohl aus der Mittelschicht —,
weil v,Tir eben immer davon ausgegangen sind, daß die Leute Arbeit finden
nördlichen Großstädten vorgelegt hatten. Wir hatten außerdem und so wenig wie möglich von öffentlicher Unterstützung abhängig sein
noch Daten gesammelt, die zeigten, daß nur eine geringe Zahl von sollten. Nun, ich glaube, die Idee, Millionen von Menschen — vor allem
Unterstützungsempfängern in den vollen Genuß der ihnen zuste- natürlich die Arbeitsunfähigen, Älteren und weiblichen Haushaltsvor-
henden Leistungen kamen. stände — dazu zu ermutigen, ihre Rechte geltend zu machen, ist sehr attrak-
Zunächst bestand einige Skepsis über unsere Behauptung, daß ein tiv. Ich glaube, diese Strategie wird sich durchsetzen und in der kommenden
gewaltiges Reservoir anspruchsberechtigter, aber unversorgter Zeit sehr wichtig sein. Was mich in der Geschichte der Bürgerrechtsbewe-
Familien existiere. Als George versuchte, unsere Ergebnisse über- gung am meisten angezogen hat, ist die Tatsache, daß die wesentlichen Vele-

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änderungen, die sich vollzogen haben, wie der »Civil Rights Act< von 1964 nördliche Industriestaaten — erhielten proportional geringere Bun-
und der >Voting Rights Act< von 1965, vor allem das Ergebnis von Kampa- deszuschüsse als Staaten mit niedrigem Fürsorgebudget) am ehe-
gnen in einer oder in mehreren Städten waren, wo es zu erheblichen Zusam- sten in fiskalische Schwierigkeiten geraten würden, wenn Forde-
menstößen gekommen ist, die die Nation in eine akute Krise gestürzt rungen nach Unterstützung radikal anstiegen. Schließlich waren
haben. Und ich glaube, daß nur die Krisenstrategie wirklich zu größeren die nördlichen Industriestaaten für die Demokratische Partei von
Erfolgen in der Bürgerrechtsfrage geführt hat» (aus: Strategy, of Crisis: A
entscheidender Bedeutung; Störungen in diesen Bundesstaaten
Dialogue, nachgedruckt in: Cloward und Piven, 1974).
konnten also erhebliche Auswirkungen auf die Bundespolitik
haben:
Kontroverse Strategien politischer Einflußnahme
', Eine Serie von Fürsorgekampagnen in großen Städten würde, so glauben
wir, die Bundesregierung zwingen, eine neue Politik zur Verteilung von
Trotz dieser ersten Begeisterung tauchten im Laufe der Diskussio- Einkommen in Angriff zu nehmen.... Breit angelegte Kampagnen mit dem
nen einige Differenzen bezüglich der einzuschlagenden Strategie Ziel, die Bedürftigen zur Stellung von Anträgen auf Unterstützung zu
auf, die alle mehr oder weniger direkt auf die grundlegende Frage- bewegen ... würden dic Wohlfahrtsbürokratien in ihren Grundfesten
stellung zurückführten, wie die Armen politischen Einfluß auszu- erschüttern und die Finanzplanungen kommunaler und einzelstaatlicher
üben vermögen. In »A Strategy to End Poverty« waren wir von Verwaltungen völlig über den Haufen werfen. In der Folge würden erhebli-
che politische Spannungen entstehen und bestehende Gegensätze zwischen
einem Ansatz ausgegangen, der der herkömmlichen Interpretation
einzelnen Gruppen der Demokratischen Koalition in den Großstädten ver-
des amerikanischen politischen Systems offen widersprach; auch schärft werden: zwischen den verbliebenen weißen Mittelschichtsangehöri-
unsere Ansichten über »organizing« standen im Gegensatz zur tra- gen, den weißen ethnischen Gruppen aus der Arbeiterklasse und den wach-
ditionellen Lehre. Es stellte sich heraus, daß die Meinungsverschie- senden armen Minoritätengruppen. Um eine weitere Schwächung dieser
denheiten sich auf drei Gebiete konzentrierten. historischen Koalition zu verhindern, wäre eine Demokratische Bundesre-
Zum einen hinterfragten wir den traditionellen Organisierungs- gierung gezwungen, eine nationale Lösung für das Problem der Armut zu
ansatz, daß die Armen zu einer effektiven politischen Kraft werden verfolgen und dadurch den Kommunen aus ihrem fiskalischen Dilemma
können, indem sie sich in Massenorganisationen zusammenschlie- herauszuhelfen. Mit Hilfe der internen Erschütterung lokaler Fürsorgebü-
ßen. Wir bezweifelten, daß das politische System auf solche Orga- rokratien, der öffentlichen Diskussion über staatliche Wohlfahrtspolitik
und des Zusammenbruchs der bestehenden Finanzstruktur können bedeu-
nisationen positiv reagieren würde, selbst wenn es möglich wäre,
tende Antriebskräfte für größere ökonomische Reformen auf nationaler
die Armen in großer Zahl und auf Dauer in die Arbeit der Organi- Ebene entfesselt werden.«
sation einzubeziehen. Wir hatten frühere Bemühungen — die »Wor-
kers' Alliance of America«, die Bürgerrechtsbewegung im Süden, Um das Störpotential solcher Kampagnen zu maximieren, meinten
die Mieterstreiks im Norden Anfang der sechziger Jahre — unter- wir, daß alle zur Verfügung stehenden Kräfte und Mittel auf die
sucht und gefunden, daß organisierte politische Einflußnahme Organisierung von Antragstellern in nur wenigen Großstädten und
nicht allzu viel bewirkte, während militante Proteste zumindest in solchen Bundesstaaten (d. h. New York, Michigan, Illinois,
gelegentlich Erfolg hatten. Ohio, Kalifornien, Pennsylvania etc.) konzentriert werden sollten,
Wir meinten, daß das Wohlfahrtssystem aufgrund der starken die zentrale Bedeutung bei Bundeswahlen hatten. Damit wären die
Konzentration antragsberechtigter Familien in den nördlichen Chancen erhöht, daß eine politische Krise von ausreichendem
Industriestaaten besonders leicht durch Proteste der Armen zu Gewicht hervorgerufen werden könnte, um die Intervention der
erschüttern war. In diesen Bundesstaaten und ihren Kommunen Bundesregierung zu garantieren.
herrschte zudem die größte Unruhe und Unzufriedenheit unter Was die Armen selbst anging, hatten wir allen Grund zu der
der Gettobevölkerung. Dazu kam, daß eben diese Bundesstaaten Annahme, daß sie sich einer solchen Kampagne anschließen wür-
aufgrund des Finanzierungsmodus für öffentliche Unterstützung den, denn die Statistiken über steigende Antragsquoten bewiesen,
(Staaten mit hohen Wohlfahrtsausgaben — das waren vor allem daß sie bereits — getrennt, doch mit gemeinsamer Stoßrichtung —

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das Szenario einer institutionellen Erschütterung befolgten. Für den, Bürgermeister, Kreisverwaltungen und Gouverneure sollten
Aktivisten, so argumentierten wir, blieb allein die Aufgabe, das den Kreis der Fürsorgeempfänger begrenzen und das Unterstüt-
militante Verhalten, das von den Armen in großer Zahl bereits an zungsniveau verringern. Wir glaubten dagegen nicht, daß Amtsin-
den Tag gelegt wurde, zu verstärken und zu unterstützen. haber solchen Forderungen nachgeben würden, solange sich die
Doch die »organizers« jener Zeit waren anderer Meinung. Sie hat- Gettos in Aufruhr befanden, denn betont repressive Wohlfahrts-
ten die politische Landschaft der USA inspiziert und festgestellt, praktiken bargen die Gefahr, daß die Unruhen sich verschärften.
daß andere Gruppen recht gut von Organisiationen vertreten wur- Zudem stellten die Schwarzen in den nördlichen Städten ein nicht
den, die ihre Spezialinteressen vorbrachten. Hausbesitzer hatten unbeachtliches Wählerpotential dar; sowohl eine Verringerung der
Vereinigungen gegründet, um Maßnahmen der Regierung zu ver- Empfängerzahlen als auch des Leistungsniveaus hätte wahrschein-
hindern, die zu einer Wertminderung ihres Grundbesitzes hätten lich erheblichen Unwillen unter diesen Wählern erzeugt.
führen können; Arbeiter organisierten sich in Gewerkschaften, um Im wesentlichen aber argumentierten wir, daß sogar in dem Fall,
bessere Arbeitsgesetze zu erreichen; die Industriellen hatten ihre daß der Kreis der Fürsorgeempfänger eingeschränkt würde, die
Verbände, die sich für die wohlwollende Behandlung der Konzerne Armen als Kollektiv nicht schlechter gestellt wären als zu dem Zeit-
durch eine ganze Reihe von Regierungsbehörden stark machten. punkt, bevor die Empfängerzahlen anstiegen, als noch vielen Fami-
Zwar waren die Hausbesitzer lange nicht so einflußreich, wie das lien ohnehin jede Unterstützung versagt worden war. Wenn jetzt
»American Petroleum Institute«, doch das schien damals weniger viele mit Erfolg Sozialfürsorge beantragten, dann hätten sie zumin-
wichtig zu sein als die Tatsache, daß andere Interessengruppen sich dest einen zeitweiligen Vorteil gehabt, auch wenn ihnen die Unter-
organisiert hatten, die Armen dagegen nicht. Folglich wurde argu- stützung später wieder entzogen würde.
mentiert, daß auch die Armen ihren Interessen besser dienen könn- In diesen anfänglichen Diskussionen stimmten »organizers« zwar
ten, wenn sie sich organisierten. unserer These zu, daß repressive Tendenzen vermutlich nicht voll
Natürlich erkannte jeder, daß Organisationen der Armen nicht durchschlagen würden, und ein zeitweiser Vorteil immer noch bes-
über die wesentlichen Mittel verfügten, die andere Organisationen ser sei als gar keiner. Sie meinten aber auch, es sei ihre Pflicht, die
einsetzen konnten, um politischen Druck auszuüben: Reichtum, Armen vor jeder möglichen Form der Repression zu schützen.
wirtschaftliche Schlüsselpositionen, Medieneinsatz, etc. Dennoch Das, glaubten sie, könne am besten durch den Aufbau einer festge-
wurde argumentiert, dieses Ressourcendefizit ließe sich durch die fügten Organisation der Wohlfahrtsempfänger erreicht werden.
bloße Zahl der Armen kompensieren. Wenn es gelänge, einen Mit Hilfe einer solchen Organisation könne direkter Druck auf die
hohen Anteil der Armutsbevölkerung zu organisieren, könne sie Politiker ausgeübt werden, um dem Druck derjenigen, die eine
auch politischen Einfluß ausüben. Eine solche Betrachtungsweise restriktive Wohlfahrtspolitik befürworteten, entgegenzuwirken.
beherrschte anfangs die Diskussionen. Die Verfechter einer Massenorganisation glaubten auch, daß dem
Kongreß ohne eine solche Organisation keine gesetzlichen Rege-
Staatliche Reaktionen auf eine Krise des Wohlfahrtssystems lungen über ein Mindesteinkommen abgerungen werden könnten.
Das führt uns zum zweiten kontroversen Punkt bei der Frage nach
Eine zweite, mit der Organisationsfrage zusammenhängende Kon- möglichen Reaktionsformen der Regierung. Wir legten dar, der
troverse drehte sich um das Problem, wie die Reaktion der Regie- beste Weg, Druck auf die Regierung auszuüben, sei die Erschütte-
rung auf eine Krise des Fürsorgesystems zu kontrollieren war. rung des Wohlfahrtssystems selbst, der aller Wahrscheinlichkeit
Dazu gab es zwei Meinungsverschiedenheiten. Die eine betraf die nach eine wahlpolitische Krise folgen werde. Wir meinten, daß die
Möglichkeit, daß die Regierung mit repressiven Maßnahmen ant- Funktion der Krise als politisches Druckmittel der Armutsbevöl-
worten würde. Alle Beteiligten sahen die Möglichkeit voraus, daß kerung weder von Politikwissenschaftlern noch von »organizers«
steigende Ausgaben für öffentliche Wohlfahrt große Teile der begriffen wurde. Unter politischer Krise verstanden wir Dissens in
Öffentlichkeit alarmieren und zu der Forderung veranlassen wür- der Wählerschaft — die extreme Polarisierung bedeutender Wähler-
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blocke. Immer wenn akute Konflikte dieser Art ausbrechen, wer- Wohlfahrtsempfänger in die Höhe treibt) zu erwarten, daß sie bei den Bun-
despolitikern eine Reaktion hervorruft. Sollte diese Krisenstrategie die
den Politiker Maßnahmen treffen, um die Polarisierung zu über-
Gegensätze zwischen den Gruppen intensivieren, könnte die bundesweite
winden und damit ihre Mehrheiten zu erhalten. Einführung eines garantierten Mindesteinkommens eine weitere Verschär-
Da wir alle eine reine Repressionsstrategie für unwahrscheinlich fung verhindern.«
hielten, was würden Bürgermeister und Gouverneure dann tun,
um mit den von der Krise des Wohlfahrtssystems hervorgerufenen Doch diese Perspektive bereitete den »organizers« ernste Schwie-
politischen Gegensätzen fertig zu werden? Wir glaubten, sie wür- rigkeiten. Sagten wir nicht, die Armen könnten zwar Krisen her-
den dem Problem dadurch begegnen, daß sie mit zunehmender vorrufen, die Reaktionen darauf jedoch nicht kontrollieren? Die
Eindringlichkeit die Bundesregierung zur Übernahme der Fürsor- Armen konnten also nur hoffen, daß das politische Wechselspiel
geleistungen aufforderten, wodurch ihre fiskalischen und politi- der Kräfte, das durch die Krisensituation in Gang gesetzt würde,
schen Probleme gelöst wären. Mit anderen Worten, wir meinten, letztlich zu Konzessionen und nicht zu Repression führte. In den
eine Erschütterung des Wohlfahrtssystems würde andere, weit Augen der »organizers« lief das darauf hinaus, die Armen aufzufor-
mächtigere Interessengruppen auf den Plan rufen, die mit ihrem dern, »eine Krise zu schaffen und zu beten«. Es erschien spekulativ
ganzen Einfluß ein Ziel verfolgen würden, das für eine Lobby der und äußerst riskant. Sie waren deshalb der Meinung, die Strategie
Armen selbst unerreichbar wäre. (Diese Einschätzung entsprach müsse modifiziert werden, um den Armen größere Kontrolle über
ziemlich genau den tatsächlichen Ereignissen, als sich gegen Ende den Ausgang einer Fürsorgekrise zu garantieren. Dies könne nur
der sechziger Jahre führende Politiker aus wichtigen Nordstaaten durch den Aufbau einer nationalen Massenorganisation erreicht
zu engagierten Befürwortern von Bundesmaßnahmen im Wohl- werden. Denn dann müßten sich die Politiker, wenn sie die Alterna-
fahrtsbereich entwickelten.17) tiven zur Überwindung der Krise abw-ögen, mit einer mächtigen
Welche Maßnahmen aber vv-ürde die Demokratische Parteifüh- pressure group auseinandersetzen, die eigene Lösungsvorschläge
rung im einzelnen treffen? Das konnte nicht exakt vorausgesagt vorzubringen hätte.
werden, doch gab es einige Anhaltspunkte für Spekulationen. Da Wir mußten zugeben, daß unsere Vorschläge Risiken enthielten.
sie sich ohnehin schon wachsenden Gegensätzen zwischen bedeu- Doch glaubten wir auch, daß es für die Armen ohne Risiken nichts
tenden städtischen Wählergruppen in den Hochburgen der Partei zu gewinnen gäbe. In diesem Zusammenhang trug der Fall, den wir
gegenübersahen — Gegensätze, die sich durch eine Fürsorgekrise als Beleg für die Vorteile unserer Krisenstrategie anführten — die
rasch verschärfen würden —, war es möglich, daß sich Demokrati- Bürgerrechtsbewegung —, tatsächlich zur Schwächung unseres
sche Politiker für ein staatlich garantiertes Mindesteinkommen ein- Arguments bei. Einige Teilnehmer an diesen anfänglichen Diskus-
setzen würden, um die Konflikte in den Städten beizulegen (und sionen waren an der Bürgerrechtsbewegung im Süden beteiligt
die Migrationsbewegung, die die Konflikte nährte, zu verlangsa- gewesen, und für sie hatten Taktiken der Massenmobilisierung und
men): Konfrontation erheblich an Attraktivität verloren. Sie glaubten,
dieseTaktiken — Massenauflehnung gegen die Regeln der Kastenge-
»Zwischen den Gruppen, die die politische Koalition in den großen Städten sellschaft, die Verhaftungen und Polizeibrutalität nach sich zog —
— den historischen Hochburgen der Demokratischen Partei — bilden, haben seien falsch gewesen, weil es nicht gelungen sei, mit ihrer Hilfe
sich schwere Spannungen entwickelt. Die Konsequenz daraus ist, daß die lokale schwarze Organisationen in den Südstaatengemeinden auf-
Stadtpolitiker nicht mehr mit unfehlbarer Regelmäßigkeit den Kandidaten zubauen. Wenn zum Beispiel die SCLC nach Beendigung einer
der Demokratischen Partei die Wählerstimmen garantieren können. Die
Kampagne einen Ort verließ, um an anderer Stelle weitere Kon-
erheblichen Stimmenverluste, die bei den Wahlen in den fünfziger Jahren
zutage getreten sind und erst 1964 beim Erdrutschsieg Johnsons gestoppt
frontationen zu organisieren, blieb die lokale schwarze Bevölke-
werden konnten, sind für die Parteiführung eine äußerst ernste Angelegen- rung unorganisiert zurück und war Repressalien der Weißen
heit. Gerade aus diesem Grund ist von einer Strategie, die die Gegensätze schutzlos ausgeliefert. Wie groß der Einfluß dieser Kritik an der
innerhalb der Parteikoalition weiter verschärft (indem sie die Zahl der Bürgerrechtsbewegung auf das Denken jener Aktivisten war, die
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später die Wohlfahrtsempfänger organisierten, ist von Whitaker Mobilisierung contra Organisierung
angemerkt worden:
Anschließend argumentierten wir, politischer Einfluß der Armen
'In ihrem Bestreben, den Fehler, den sie für den schwersten der Bürger- entstehe durch Mobilisierung und nicht durch Organisierung. Eine
rechtsbewegung hielten — nämlich keine starke, organisierte Basis geschaf- Krisenstrategie erfordert nicht, daß die Beteiligten sich einer Orga-
fen und keine internen finanziellen Quellen entwickelt zu haben —, zu ver-
nisation anschließen und regelmäßig an Sitzungen teilnehmen. Sie
meiden, konzentrierten sich die (NWRO-)Gründer erst einmal drei Jahre
lang darauf, eine nationale Organisationsstruktur zu entwickeln und einen
erfordert, daß große Menschenmassen für Aktionen mobilisiert
Mitgliederstamm aufzubauen.« (12o— 21) werden, die bestehende Institutionen in ihren Grundfesten zu
erschüttern vermögen. Für eine Erschütterung des Wohlfahrtssy-
Es ließ sich nicht bestreiten, daß die Strategie der SCLC von einem stems zu mobilisieren, hieße dementsprechend, bedürftige Fami-
traditionellen politischen Ansatz her manipulativ gewesen war. Die lien aufzufordern, Unterstützung zu beantragen. Nur mit diesem
SCLC baute keine lokalen Organisationen auf, um örtlich Akt der Auflehnung können sie dazu beitragen, eine fiskalische und
begrenzte Erfolge zu erringen; sie versuchte dagegen, ganz offen- politische Krise herbeizuführen. Wenn man sie jedoch aufforderte,
sichtlich, eine Serie von Erschütterungen hervorzurufen, um die einen kontinuierlichen Beitrag in einer Organisation zu leisten,
Bundesregierung zu einer Reaktion zu zwingen. Und ihre Strategie würden sie nach unserer Auffassung einer solchen Aufforderung
war erfolgreich gewesen. Wir waren überzeugt, daß lokale Organi- nur in geringer Zahl nachkommen, da die Organisation ihnen keine
sationen der schwarzen Armutsbevölkerung (selbst wenn es mög- dauerhaften Anreize bieten könnte.
lich gewesen wäre, sie in großem Maßstab zu entwickeln) niemals Um auf eine Krise hin zu mobilisieren, hielten wir es für notwendig,
den politischen Einfluß gewonnen hätten, der nötig gewesen war, ein umfassendes Netz von Kaderorganisationen zu entwickeln,
um das Bürgerrechtsgesetz von 1964 oder das Wahlrechtsgesetz anstatt eine nationale Föderation von Fürsorgeempfängergruppen
von 1965 durchzusetzen — wahrscheinlich hätten sie nicht einmal aufzubauen. Eine solche Organisation der »organizers« — zusam-
auf lokaler Ebene wesentliche Erfolge errungen. Es hatte einer grö- mengesetzt aus Studenten, Geistlichen, Bürgerrechtsaktivisten,
ßeren politischen Krise bedurft — der buchstäblichen Fragmentie- Sozialarbeitern und militanten AFDC-Empfängern — sollte dann
rung der regionalen Basis der nationalen Demokratischen Partei —, eine breite, nur lose koordinierte Bewegung verschiedenster Grup-
um die legislativen Zugeständnisse an die Schwarzen im Süden pen aktivieren, mit deren Hilfe Hunderttausende von Bedürftigen
schließlich zu erzwingen. Entsprechend dieser Erkenntnis argu- Sozialfürsorge beantragen würden. Anstelle langer Listen von
mentierten wir, daß ein dichtes Netz lokaler »welfare rights«- Organisationsmitgliedern sollten lieber lange Listen von Wohl-
Gruppen zwar einige Erfolge in Auseinandersetzungen mit ört- fahrtsempfängem geschrieben werden. Verschiedene Maßnahmen
lichen Fürsorgeverwaltungen herbeiführen könne, daß diese sollten helfen, das Ziel zu erreichen: großangelegte Informations-
Gruppen aber keinesfalls in der Lage sein würden, den notwendi- kampagnen über »das Recht auf Wohlfahrt« ; die Aktivierung ein-
gen politischen Druck zu erzeugen, um ein staatlich garantiertes flußreicher Persönlichkeiten in den Slums und Gettos, vor allem
Mindesteinkommen für alle Bedürftigen durchzusetzen. Ein solch von Geistlichen, die potentiellen Fürsorgeempfängern zuraten
bedeutendes Ergebnis sei nur zu erhoffen, wenn eine große politi- sollten, ihre rechtmäßigen Ansprüche geltend zu machen; und die
sche Krise erzeugt werde — wenn eine so einschneidende Fürsorge- Durchführung von Demonstrationen und Protestaktionen, um
explosion ausgelöst werde, daß sie die Demokratische Koalition in Empörung und Militanz unter den Armen zu fördern.
den nördlichen Großstädten zu sprengen drohe. Unsere Ansichten Unsere Betonung auf Massenmobilisierung mit Hilfe von Kader-
konnten jedoch nicht überzeugen. organisationen erschien den Aktivisten der Bewegung als extrem
manipulativ. Ihre Auffassung von Organisierung war durchsetzt
mit Wertvorstellungen, die sie für demokratisch hielten. Die Armen
hätten ein Recht, ihre Organisationen selbst zu leiten, ein Recht,
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ihre politischen Strategien selbst zu bestimmen. Aus dieser Per- dender Bedeutung. Wie konnten die Armen dazu veranlaßt werden,
spektive sahen »organizers« für sich als Außenseiter in einer Orga- sich einer Organisation von Fürsorgebedürftigen anzuschließen
nisation der Armen zwei Funktionen: Erstens komme ihnen die und regelmäßig in ihr mitzuarbeiten? Welche Anreize konnten
Funktion von Personal zu, das sich den Führungsgremien der ihnen geboten werden? Trotz aller erwähnten Meinungsverschie-
Armen, die ausschließlich von diesen selbst zu bilden seien, unter- denheiten war das von uns verbreitete Strategiepapier für die Teil-
ordnet. Als Personal würden sie ihre besonderen technischen nehmer des anfänglichen Diskussionskreises und später für Aktivi-
Fähigkeiten in die Arbeit der Organisation einbringen. So würden sten im Feld, die sich an der Bewegung der Wohlfahrtsempfänger
sie zum Beispiel Informationen über bestimmte bürokratische Pro- beteiligten, von enormem Interesse, da es eine Antwort auf diese
bleme, die sich der Organisation stellen, anbieten, in diesem Fall Frage zu bieten schien. Die Antwort befand sich in den Daten, die
also über die komplizierten Regeln und Vorschriften des Wohl- wir über die Situation im Fürsorgebereich vorgelegt hatten. Unser
fahrtssystems. Ferner würden sie Schulungsprogramme durchfüh- primäres Interesse hatte darin bestanden, aufzuzeigen, daß nur
ren, um den Bedürftigen beizubringen, wie mit der Wohlfahrts- etwa die Hälfte der anspruchsberechtigten Personen auch tatsäch-
bürokratie umzugehen sei: wie man mit den Wohlfahrtsbeamten lich Unterstützung erhielten. Doch hatten wir auch nachgewiesen,
verhandelt oder Demonstrationen organisiert. Ihre zweite Funk- daß die meisten Fürsorgeempfänger nicht alle ihnen nach den gülti-
tion bestehe darin, potentielle Funktionsträger zu fördern, ihnen gen Bestimmungen zustehenden Leistungen erhielten. Über diesen
Führungstechniken zu vermitteln, um sich selbst als »organizers« zweiten Aspekt hatten wir geschrieben:
überflüssig zu machen. Dies war das Modell, das später von der »Die Empfänger öffentlicher Beihilfen in New York [und in vielen anderen
NWRO und von den meisten lokalen »welfare rights«-Gruppen Staaten] haben außerdem ein Anrecht auf einmalige Zuwendungen für
propagiert wurde. (Die Unterordnung der »organizers« ging so Bekleidung, Haushaltsgegenstände und Möbel; dazu gehören Waschma-
weit, daß sie auf Bundeskongressen von den Sitzungen der gewähl- schinen, Kühlschränke, Betten und Zubehör, Tische und Stühle. Es muß
ten Vertreter von Empfängergruppen aus den einzelnen Bundes- wohl kaum erwähnt werden, daß die meisten verarmten Familien nur über
staaten, auf denen die politischen Richtlinien der Organisation äußerst unzureichende Bekleidung und Wohnungseinrichtungen verfü-
festgelegt wurden, ausgeschlossen blieben.) gen... [doch] liegen die Ausgaben für diese Sonderzuwendungen in New
York fast hei null. Im Oktober 1965, einem typischen Monat, gab das
Sozialamt pro Empfänger nur 2,5o Dollar für Oberbekleidung und 1,3o
Das Problem der Anreize Dollar für Haushalts- und Einrichtungsgegenstände aus. ... Zieht man die
wahren Bedürfnisse der Familien in Betracht, könnten erfolgreiche Anträge
Unser Ansatz kollidierte also an mehreren Punkten mit dem der auf Gewährung der vollen Leistungen die Ausgaben um das Zehnfache oder
»organizers«. Sie waren zuversichtlicher als wir, daß es den Armen mehr erhöhen — und das würde in der Tat einen Etat von vielen Millionen
möglich wäre, über die regulären Kanäle des politischen Systems Dollar erfordern.«
Einfluß auszuüben: sie meinten, die Armen könnten zu einem Hier lagen nach Auffassung der »organizers« die konkreten
Machtfaktor werden, wenn sie sich nur zu einer nationalen Massen- Anreize, die die Armen zur Bildung von Gruppen und zum Beitritt
organisation zusammenschlössen. Darüber hinaus vertraten sie die in eine nationale Organisation veranlassen könnten. Wenn die Für-
Ansicht, daß eine Mobilisierungsperspektive im Gegensatz zur sorgeämter unter dem Druck militanter Aktionen von Empfänger-
Organisationsstrategie den Armen nur ungenügende Kontrolle gruppen gezwungen werden könnten, einer großen Zahl von Men-
über die Lösung einer — von der Bewegung der Wohlfahrtsempfän- schen diese »Sonderzuwendungen« zu bewilligen, dann schien das
ger herbeigeführten — Krise geben würde. Und schließlich lehnten Problem, wie die Armen zum Beitritt in eine nationale Organisa-
sie die Idee, eine »Organisation der >organizers<« aufzubauen, ab, tion animiert werden könnten, gelöst.
weil das eine manipulative Herangehensweise an die Armutsbevöl- Wir müssen zugeben, daß diese Schlußfolgerung durch aktuelle
kerung darstelle. Ereignisse eindeutig unterstützt wurde. Wie schon erwähnt, waren
Ihr eigener Ansatz beinhaltete jedoch ein Problem von entschei- bereits Mitte der sechziger Jahre ein paar Gruppen von Wohlfahrts-
3 12 3 13
empfängern entstanden, und zwar hauptsächlich im Rahmen von Organisation in Angriff zu nehmen. Den Anreiz zum Beitritt soll-
Programmen gegen die Armut. Diese Gruppen bestanden aus Per- ten Kampagnen schaffen, die auf die Verbesserung der Leistungen
sonen, die bereits Unterstützung erhielten. Sie schienen sich gebil- für bereits anerkannte Fürsorgeempfänger abzielten. Es war eine
det zu haben, weil Sonderzuwendungen zur Verfügung standen schicksalsschwere Entscheidung. Zulagenkampagnen für aner-
und weil Proteste in den Wohlfahrtsämtern dazu führten, daß die kannte Wohlfahrtsempfänger wurden zum einzigen Kampfmittel
Demonstranten die Beihilfen in bar erhielten. Die Summen belie- der NWRO. Schon bald sollte sich jedoch zeigen, daß die Strategie,
fen sich zuweilen auf bis zu Dm Dollar pro Familie; einige Fami- Wohlfahrtsempfänger mit Hilfe von Anreizen wie Sonderzuschüs-
lien hatten schon seit Jahren von der Wohlfahrt gelebt, ohne jemals sen in ein nationales Netzwerk zu integrieren, nicht aufrechtzuer-
Sonderzuwendungen erhalten zu haben, so daß relativ hohe Sum- halten war. Zwar breiteten sich ein paar Jahre lang die Zulagenkam-
men nötig waren, um sie »auf das bestehende Niveau« zu heben. pagnen wie ein Steppenbrand im ganzen Land aus — Hunderte von
Der Erfolg dieser Proteste um die Sonderzuwendungen trug ganz Gruppen wurden gebildet und den lokalen Wohlfahrtsämtern viele
entscheidend dazu bei, die Frage nach der Strategie, die die Bewe- Millionen Dollar abgerungen —, doch genauso schnell, wie sie ent-
gung schließlich verfolgte, zu klären. Es war eine Strategie, die auf standen waren, verschwanden die Gruppen auch -wieder von der
die Formierung lokaler Gruppen abzielte, die wiederum das Fun- Bildfläche: zuerst schrumpfte ihr Umfang, dann ihre Zahl, und
dament einer nationalen Organisation bilden sollten. schließlich waren sie ganz verschwunden. Warum das so war, liegt
George Wiley stand außerdem vor dem unmittelbar praktischen auf der Hand. Zum einen sahen die Leute keinen Grund mehr, in
Problem, wie mit den Gruppen von Wohlfahrtsempfängern, die der Organisation zu bleiben, nachdem sie ihre Sonderzuschüsse
sich schon gebildet hatten, umgegangen werden sollte. Wenn er kassiert hatten. Zum anderen schafften eine Reihe von Bundesstaa-
eine Bewegung anführen wollte, so meinte er, müsse er auch das ten die Sonderzuwendungsprogramme auch noch ab und untermi-
Recht haben, sich um die Führung bereits bestehender Gruppen zu nierten so die Organisationsstrategie, indem sie die Anreize zum
bemühen. Dieses pragmatische Problem half, den Kurs zukünfti- Beitritt beseitigen. Mit anderen Worten: das zentrale Dilemma der
ger Agitation unter den Wohlfahrtsempfängern zu bestimmen, Theorie dauerhafter Massenorganisation — nämlich, wie kontinu-
bestanden die Gruppen doch aus bereits anerkannten Fürsorge- ierliche Partizipation trotz fehlender Anreize über einen längeren
empfängern, die ihr Hauptaugenmerk auf die Sonderzuwendun- Zeitraum gewährleistet werden kann — war bestehen geblieben. Er
gen gerichtet hatten. hatte ja auch eine lange Tradition.
Wie sich zeigen sollte, wurde die Strategie der NWRO, nachdem Doch das sollte alles erst später so deutlich zutage treten. Damals
sie einmal die politische Bühne betreten hatte, von dem Glauben schienen unsere Meinungsverschiedenheiten gar nicht so groß.
der »organizers« an die politische Durchschlagskraft einer Organi- George und andere waren zwar darauf orientiert, einen nationalen
sation der Armutsbevölkerung diktiert. Dieser Glaube stützte sich Verband der Wohlfahrtsempfänger zu entwickeln, doch lehnte
auf die Tatsache, daß sich bereits eine Reihe von Wohlfahrtsempfän- George die »Krisen-Strategie« nicht rundweg ab : Mobilisierungs-
gergruppen gebildet hatten, um ihrem Anspruch auf Sonderzuwen- kampagnen zur Verdoppelung und Verdreifachung der Empfänger-
dungen Nachdruck zu verleihen, und auf die Hoffnung, daß sich zahlen könnten durchgeführt werden, erklärte er, sobald eine orga-
weitere Gruppen auf ähnlicher Grundlage formieren würden. nisatorische Basis aus bereits anerkannten Wohlfahrtsempfängern
Wenn diese Gruppen zu einer »nationalen Union von Wohlfahrts- geschaffen worden sei.
empfängern« zusammengeschweißt würden, dann könnte diese Wir stimmten zu, daß Kampagnen, dieWohlfahrtsempfängern alle
Organisation der Armen, so meinten George und andere, auch aus- ihnen rechtmäßig zustehenden Leistungen auch verschafften, ihre
reichenden Einfluß geltend machen, um dem Kongreß die Zusage Berechtigung hatten. Zu der Zeit, als diese Diskussionen geführt
eines garantierten Mindesteinkommens für alle Bedürftigen abzu- wurden, waren wir in der Tat schon an der Organisierung solcher
ringen. Kampagnen in New York beteiligt. Nur daß wir dabei unser
So wurde denn der Entschluß gefaßt, den Aufbau einer nationalen Hauptaugenmerk auf die Millionen von Dollar richteten, die durch

4 31 5
31
diese Aktivitäten aus dem Wohlfahrtssystem herausgeholt werden Der Aufbau der »National Welfare Rights Organization«
konnten und damit zur Schaffung einer Krise des Systems beitru-
gen, während andere Mitarbeiter die Zulagenkampagnen als Von allen Problemen beim Aufbau der NWRO erwies sich als das
Anreiz zur Bildung von Gruppen ansahen. Aber unabhängig von schwierigste, Unterstützung zu gewinnen und Mittel aufzutreiben.
unseren Motiven konnten wir uns doch alle auf diese spezielle Tak- Um Geld für Mitarbeiter und Büroräume beschaffen zu können,
tik als Ausgangspunkt einigen. Und was am wichtigsten war: mußte der Idee einer Organisation der Fürsorgebedürftigen in den
unsere Diskussionen wurden durch die Überzeugung belebt, daß Augen potentieller Geldgeber und prominenter Persönlichkeiten,
eine Agitation unter den Armen über Probleme öffentlicher Unter- die auf Zuwendungsgeber einwirken konnten, erst zu einem
stützung äußerst erfolgversprechend war, so daß Differenzen über bestimmten Grad an Legitimität verholfen werden.
Strategiefragen weniger wichtig erschienen als das Gebot zu han- Zunächst beabsichtigte George, die »Citizens' Crusade against
deln selbst. Die Zeichen standen günstig, und jeder von uns wollte Poverty« (CCAP) als Geldgeber zu gewinnen. Die CCAP ging auf
sie nutzen. eine Initiative Walter Reuthers von der Automobilarbeitergewerk-
So unternahmen wir die ersten Schritte in Richtung auf die Grün- schaft zurück. Sie umfaßte einflußreiche Persönlichkeiten aus dem
dung einer nationalen Organisation. Wie sagte George doch Norden — hauptsächlich Gewerkschaftsfunktionäre und Kirchen-
immer: »Erst machst du einen Plan, und dann machst du ihn führer — und war als Gegengewicht zu konservativen Gruppen
wahr. « gedacht, die versuchten, Bundesprogramme zur Linderung der
Armut sowohl an Umfang als auch an Wirksamkeit einzuschrän-
ken. Als George seinen Posten als stellvertretender Direktor von
Eine Organisation der Armen entsteht CORE im Februar 1966 aufgab, nahm er eine Stelle bei der CCAP
an. Seine erste Aufgabe bestand darin, eine Koalition zur Unter-
Der Plan bestand im wesentlichen aus drei Stufen: Geld aufzutrei- stützung von Mindestlohnregelungen im Kongreß zu schmieden.
ben, um einen Stab mit mehreren Mitarbeitern einstellen und ein Als er im Laufe der nächsten Monate mit einer Reihe verschiedener
Büro in Washington einrichten zu können; die Bildung einer Gruppen im ganzen Land Kontakt aufnahm, stellte er fest, daß
»National Welfare Rights Organization« bekanntzugeben; und in den nördlichen Gettos Gruppen auftauchten, die sich mit Pro-
eine organisatorische Struktur auf lokaler, einzelstaatlicher und blemen der Gesundheitsfürsorge, des Erziehungswesen, der Anti-
Bundesebene aufzubauen. Armuts-Programme und — natürlich — mit dem System der öf-
In Anbetracht aller Umstände muß festgestellt werden, daß diese fentlichen Wohlfahrt befaßten. Da es ihm schien, als seien diese
drei Stufen mit bemerkenswerter Leichtigkeit und Schnelligkeit Basisgruppen weit verstreut und unkoordiniert und als mangele es
erklommen wurden. Am 23. Mai 1966 eröffneten George und ein ihnen an Kommunikationsmöglichkeiten, schlug er vor, die CCAP
Stab von vier festen Mitarbeitern ein Büro in Washington: das solle eine Zentralstelle errichten und finanzieren, die diese Aufga-
»Poverty/Rights Action Center«. Rund 15 Monate später, im ben übernehmen könne und dabei ihr besonderes Gewicht auf die
August 1967, fand der Gründungskongreß statt, auf dem die Organisierung von Wohlfahrtsempfängern legen solle.
NWRO offiziell aus derTaufe gehoben und GeorgeWiley zu ihrem Nachdem dieser Vorschlag abgelehnt worden war, entschloß sich
ersten Vorsitzenden bestimmt wurde. In Wirklichkeit hatte die George, ein unabhängiges Büro einzurichten, um seine Vorstellun-
NWRO allerdings schon von dem Tag an existiert, an dem George gen zu realisieren und sich dabei zunächst auf die Rechte der Wohl-
ihre bevorstehende Gründung angekündigt hatte, d. h. vom Juni fahrtsempfänger zu konzentrieren.' Ende Mai waren ungefähr
1966 an. Die Monate zwischen diesem Tag und dem Gründungs- 15 000 Dollar zusammen. 5 000 Dollar hatten wir von einer kleinen
kongreß im August 1967 waren von einer Vielzahl von Aktivitäten Familienstiftung erhalten, weitere 5 000 Dollar erhielt George von
ausgefüllt, die der Schaffung und Finanzierung eines komplexen einem reichen Förderer der Bürgerrechtsbewegung, den er von sei-
nationalen Apparates dienten. ner Zeit bei CORE her kannte, und die letzten 5 000 Dollar waren
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eigene Ersparnisse. Mit diesem Geld in der Tasche zogen George Wohlfahrt« von Cleveland bis zum Regierunsgebäude in Colum-
Wiley und Edwin Day mit ihren Familien nach Washington um und bus, der Hauptstadt des Bundesstaates, durchzuführen. Sie hoff-
eröffneten das P/RAC. An die Presse gaben sie folgende Mittei- ten, auf diese Weise Unterstützung für die Erhöhung der Fürsorge-
lung: sätze in Ohio zu gewinnen. George und ein paar andere arbeiteten
in den Wochen vor dem Marsch fieberhaft, um die übrigen »wel-
Viele Aktivisten haben die großen Organisationen verlassen und arbeiten
im ganzen Land verstreut im Rahmen unzähliger lokaler Programme. Die
fare-rights«-Gruppen im Land von dem Vorhaben zu informieren
feinen Kommunikationslinien, die sie einst miteinander verbanden, sind und sie zur Durchführung von Solidaritätsdemonstrationen zu
zerrissen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, ihnen nach besten Kräften beim ermuntern. Für den 21. Mai wurde in Chicago ein Treffen von
Aufbau einer Bewegung der Armen zu dienen und zu helfen.» (Bailis, 15) »organizers«, die bekanntermaßen mit Fürsorgeempfängern zu-
sammenarbeiteten, einberufen. Die meisten dieser Leute kamen
Zu Anfang beabsichtigte George noch, das P/RAC zu einer natio- aus Detroit, Ann Arbor, Columbus, Cleveland, Syracuse und vor
nalen Koordinierungsstelle für ein breites Spektrum von Organisa- allem New York (wo bereits eine die ganze Stadt umfassende WRO
tionen der Armen zu machen, die versuchten, Bundesbehörden gegründet worden war). Das Ergebnis des Treffens war ermuti-
und Kongreßabgeordnete zu beeinflussen. Folgende Ziele wurden gend, und George konnte der Presse mitteilen, daß am 3o. Juni,
formuliert: dem letzten Tag des Marsches, im ganzen Land Demonstrationen
»Erstens: Bundes weite Unterstützung für den Kampf gegen die Armut und stattfinden würden.
Bürgerrechtsmaßnahmen zu mobilisieren (z. B. auf >größtmögliche Beteili- Am 20. Juni führten Reverend Paul Younger und Edith Doering,
gung< der Armen bei der Durchführung des Programms gegen die Armut die beide beim »Cleveland Council of Churches« angestellt waren,
zu dringen und Unterstützung für ein garantiertes Mindesteinkommen zu um im Wohlfahrtsbereich politisch zu arbeiten, rund 4o Fürsorge-
gewinnen).
empfänger und Sympathisanten von Cleveland aus auf die erste
Zweitens: Bundesweite Unterstützung für lokale Initiativen gegen die
Armut und Bürgerrechtsbewegungen zu mobilisieren.
Etappe des i55-Meilen-Marsches nach Columbus, wo Gouverneur
Drittens: Die Administration von Programmen zur Unterstützung der Rhodes ein Liste von Beschwerden über die öffentliche Wohlfahrt
Armen durch Bundesbehörden zu überwachen und Druck auf die betref- übergeben werden sollte. Auf der Strecke schlossen sich in vielen
fenden Behörden auszuüben (z. B. die Aktivitäten des >Office of Economic Städten und Gemeinden örtliche Fürsorgeempfänger, Geistliche,
Opportunity< und der Ministerien für Landwirtschaft, Arbeit, Wohnungs- Sozialarbeiter und andere sympathisierende Bürger, manchmal zu
bau, Gesundheit etc. zu beachten). Hunderten, für einen kurzenTeil des Weges an. Am Morgen des 3o.
Viertens: Lokalen Gruppen, die nach Washington kommen, um bei Bun- Juni wurden die 4o Protestmarschierer bei ihrem Einzug in Colum-
desbehörden um Unterstützung ihrer Programme zu werben, mit Rat und bus schließlich von ganzen Busladungen voller Fürsorgeempfänger
Tat zur Seite zu stehen.‹ , (Jackson und Johnson, 57)
aus ganz Ohio begleitet. Rund 2 000 Demonstranten zogen mit
Dies waren weitgesteckte Ziele, doch schon bald konzentrierte sich George an der Spitze die Broad Street hinunter zum Regierungsge-
das P/RAC auf die Rechte der Wohlfahrtsempfänger, zum Teil bäude, um dort ihre Beschwerden über das Wohlfahrtssystem im
infolge der Serie unserer Diskussionen, zum wichtigeren Teil aber, Staat Ohio vorzubringen.
weil im Sommer 1966 Fürsorgeempfängergruppen wie Pilze aus An anderen Orten fanden gleichzeitig Solidaritätsdemonstratio-
dem Boden schossen und George deshalb die Idee entwickelte, sie nen statt. In New York marschierten 2 000 Personen, die meisten
zu einer bundesweiten Organisation zusammenzufügen. von ihnen Wohlfahrtsempfänger, in der glühenden Sommerhitze
Eine Reihe von Gruppen aus Ohio, die sich zum »Ohio Commit- um den City Hall Park, in dem unterdessen ihre Kinder spielten.
tee for Adequate Welfare« zusammengeschlossen hatten, schufen Und in 15 anderen Städten — darunter Baltimore, Washington, Los
die erste größere Gelegenheit, die Bildung einer nationalen Organi- Angeles, Boston, Louisville, Chicago, Trenton und San Francisco—
sation voranzutreiben. Im Februar 1966 hatten »organizers« aus demonstrierten ca. 250o Menschen in Gruppen von 25 bis 25o Teil-
Ohio beschlossen, einen i55 Meilen weiten »Marsch für adäquate nehmern gegen »die Wohlfahrt«.
318 319
Die Presse berichtete umfassend über die Demonstrationen und schuß aus Vertretern lokaler Gruppen zu bilden, wurde von Reprä-
druckte auch ein von George herausgegebenes Statement ab, das sentaten der unterschiedlichsten Empfängergruppen und Akti-
»die Geburt einer Bewegung« verkündete. Kurz darauf rief George visten enthusiastisch akzeptiert, und die lokalen Organisationen
zu einem bundesweiten Treffen von Aktivisten und Vertretern von willigten ein, sich an bundesweiten Aktionen zu beteiligen. Eine
Empfängergruppen auf, auf dem die Grundlage für eine nationale nationale Organisation der Armen schickte sich an, die politische
Organisation gelegt werden sollte. Das Treffen fand am 6. und 7. Bühne zu betreten.
August in Chicago statt; etwa wo Personen, Wohlfahrtsempfänger Dieses erste Treffen war, wie so viele in den folgenden drei Jahren,
wie »organizers«, nahmen teil. Die Wohlfahrtsempfänger kamen von Schwung, Militanz, Wut und Hoffnung gekennzeichnet und
aus bereits bestehenden Gruppen, die von den »Mothers for Ade- nahm einen recht chaotischen Verlauf. Arbeitsgruppenleiter konn-
quate Welfare« aus Boston bis zu den »Mothers ofWatts«, von einer ten nur selten die Tagesordnung einhalten und für einen geordneten
Gruppe der »West Side Organization« aus Chicago, die sich aus Ablauf der Diskussionen sorgen. Delegierte sprangen einfach von
arbeitslosen schwarzen Männern zusammensetzte, bis zum »Com- ihren Stühlen auf und bildeten — »organizers« ebenso wie Wohl-
mittee to Save the Unemployed Fathers« aus dem östlichen Ken- fahrtsempfänger — lange Schlangen an den Mikrophonen, die
tucky reichten. Die »organizers« waren Mitglieder der »Students manchmal von zo oder 3o Leuten umlagert wurden. Einer nach
for a Democratic Society« (SDS), Kirchenleute und insbesondere dem anderen klagten sie »die Wohlfahrt« wegen ihrer Mißstände
Mitarbeiter von VISTA* und anderer Anti-Armutsprojekte. Die an: Fürsorgeleistungen, die so niedrig waren, daß nach der Miet-
Konferenzteilnehmer beschlossen, einen Nationalen Koordinie- zahlung nichts mehr übrig blieb; willkürliche Bestrafung durch
rungsausschuß einzusetzen, dem jeweils ein Wohlfahrtsempfänger Streichung der Sozialhilfe und Ablehnung von Anträgen; Eindrin-
aus den elf Bundesstatten angehörte, in denen bereits Gruppen gen in Wohnungen von Empfängern; Verletzungen der Menschen-
gegründet worden waren. Der Ausschuß wurde beauftragt, Richtli- würde. Die ersten Treffen ähnelten mehr Protestveranstaltungen,
nien der Politik zu entwerfen, Empfehlungen für die weitere Ent- waren voller Empörung und voller Jubel darüber, daß endlich die
wicklung einer nationalen Organisationsstruktur auszuarbeiten Gelegenheit gekommen war, sich gegen die Quelle der Mißstände
und eine Serie von bundesweiten Fürsorgekampagnen im Herbst zu erheben.
1966 zu initiieren und zu koordinieren. Diese Kampagnen sollten Rasch bildeten sich neue Gruppen, vor allem in den dicht bevöl-
kerten Großstadtgettos im mittleren Westen und Nordosten. In
»den Anspruch [der >welfare rights,Gruppen] demonstrieren, Wohlfahrts-
allen nördlichen Landesteilen hatte die Bürgerrechtsbewegung ein
empfänger gegenüber Sozialämtern und bei öffentlichen Anhörungen zu
vertreten, Empfänger zu organisieren und für sie Verhandlungen zu führen, Umfeld geschaffen, das, wie der folgende persönliche Bericht
und ... Beihilfen fordern, die Empfängern bisher gesetzwidrig verweigert offenbart, zur Gruppenbildung ermunterte:
werden. Die Kampagne wird kleinere Demonstrationen, sit-ins und Schul- »Als ich zuerst von der Wohlfahrt lebte, schämte ich mich, weil die Gesell-
boykotts einschließen sowie Anhörungen und gerichtliche Verfügungen schaft uns gelehrt hat, uns zu schämen ... das wird einem von Kindheit an
fordern. Sie wird Gesetzesverstöße vonWohlfahrtsbehörden wie die Ableh- beigebracht. Wir hörten immer nur, Wohlfahrt ist Bettelei, Wohltätigkeit ...
nung von berechtigten Ansprüchen, Eingriffe in die Privatsphäre von Emp- also habe ich es verschwiegen. Durch eine Kusine von mir erfuhr ich von
fängern und die Verweigerung fairer Anhörungen aufdecken.« (Jackson und der >Milwaukee Welfare Rights Organization‹. Sie hat andauernd versucht,
Johnson, 59) mich mit zu den Sitzungen zu schleppen, aber ich sagte: >Nein, zu so etwas
würde ich niemals gehen. ... < Zur selben Zeit waren die Bürgerrechts-
Unter dem Gesichtspunkt des Organisationsaufbaus war das Tref- demonstrationen in Milwaukee ... und meine Kinder wurden langsam
fen ein gewaltiger Erfolg. George Wileys Führungsposition wurde erwachsen ... also erzählten sie mir, daß sie zu diesen Märschen für die Bür-
anerkannt, sein Vorschlag, einen nationalen Koordinierungsaus- gerrechte hingehen wollten. Also, ich hatte vor solchen Sachen Angst ...
Wolunteers in Service to America,<; eine Organisation, deren Mitglieder gegen eine
aber als die Kinder beschlossen, dahin zu gehen ... mußte ich mit ihnen mit-
geringe Entlohnung im Gesundheits-, Sozial- und Wohlfahrtssektor arbeiten. gehen ... Mir fiel auf, daß wir cs waren, die während der Demonstration
(Anm. d. ü.) mit Steinen und Ziegelsteinen und Knüppeln beworfen wurden, daß es

320 321
in den Nachrichten aber immer so hingestellt wurde, als ob wir mit den weiten Kampagnen fiel Tim Simpson zu, der später stellvertreten-
Provokationen angefangen hätten. Und darum habe ich begonnen, die der Direktor der NWRO wurde.
schwarzen Zeitungen zu lesen. Langsam fing ich an, die Dinge mit ande- Unterdessen war im April der Nationale Koordinierungsaus-
ren Augen zu lesen. ... Dann habe ich mich dieser [>welfare rights<-]Or-
schuß wieder zusammengetreten, um Regelungen über Mitglied-
ganisation angeschlossen. ...« (Milwaukee Welfare Rights Organization,
25-26)
schaft und die Entsendung von Delegationen zu Bundeskongres-
sen zu beschließen. Damit sollte die Grundlage für eine formelle
Die NWRO trieb diese Entwicklung voran, indem sie Tausende Organisationsstruktur geschaffen werden. (Man beschloß, daß
von Broschüren mit dem Titel »Baut eine Organisation!« druckte jede Gruppe mit wenigstens 25 Mitgliedern, die pro Person minde-
und verteilte. Die Sozialarbeiter aus den Anti-Armutsprojekten stens einen Dollar Jahresbeitrag an die NWRO-Zentrale abführte,
hatten besonders offene Ohren für diese Aufforderung. Vielleicht berechtigt sein sollte, einen Delegierten zu zukünftigen Bundes-
drei Viertel aller »welfare rights«-Aktivisten kamen aus solchen kongressen zu entsenden.)' Die offizielle Gründungsversamm-
Projekten, viele von ihnen waren VISTA-Leute. lung fand dann im August 1967 in Washington statt. Wie weit
Je mehr sich die Erhebung der Fürsorgebedürftigen ausweitete, sich die lokalen Gruppen bereits den Mitgliedschafts-, Beitrags-
um so entschlossener ging man daran, die nationale Organisations- und Delegiertenregeln angepaßt hatten, läßt sich an der Tatsache
struktur zu festigen. Im Dezember 1966 trat der Nationale Koor- ablesen, daß 178 Delegierte und Nachrücker von rund 75 WROs
dinierungsausschuß in Chicago zusammen und bestimmte das aus 45 Städten in 21 Staaten an dem Kongreß teilnahmen, eine
P/RAC zum Hauptquartier der »National Welfare Rights Organi- Satzung verabschiedeten, einen Vorstand wählten und einen Ziel-
zation«. Damit wurde George Wileys Führungsanspruch über die katalog beschlossen: alles, um die »National Welfare Rights
immer stärker werdende Bewegung noch einmal bekräftigt. Ferner Organization« aus der Taufe zu heben — die erste nationale Orga-
wurde für den folgenden Februar zu einer Konferenz nach Wa- nisation von Fürsorgeempfängern seit der Großen Depression. Es
shington geladen. Mehr als 3 5 0 Fürsorgeempfänger und Aktivisten existierten damals noch viele andere »welfare rights«-Gruppen,
kamen, die rund 20o WROs aus 7o Städten in 26 Bundesstaaten und einige von ihnen entsandten ebenfalls Delegierte zu der Konfe-
repräsentierten. Die Konferenz entwickelte ein nationales Gesetz- renz. Doch hatten sie sich noch nicht an die vom Koordinations-
gebungsprogramm, das dem Ministerium für Gesundheit, Bildung komitee erarbeiteten Bestimmungen angepaßt (offizielle Vertreter
und Wohlfahrt und dem Kongreß vorgelegt werden sollte. Zu ver- zu wählen, Beiträge zu zahlen etc.) und wurden deshalb von der
schiedenen Themen wurden Arbeitsgruppen durchgeführt: »Wie offiziellen Teilnahme ausgeschlossen. Mit der Zeit paßten sich
man eine Gruppe gründet« ; »Die Organisierung einer Demonstra- aber die meisten von ihnen an und wurden in den Verband auf-
tion« ; »Woher das Geld nehmen ?«; »Technik des Lobbying« und genommen.
ähnliches. Man schmiedete Pläne für eine bundesweite Serie von Die Struktur der Organisation sah zunächst einen Bundeskon-
»Sonderzuwendungskampagnen« (um Mittel für Bekleidung und greß vor, der alle zwei Jahre zusammentreffen sollte; er bestimmte
Haushaltsgegenstände bewilligt zu bekommen), die im Frühjahr in die allgemeinen Richtlinien der Politik und wählte neun Funktio-
allen Landesteilen durchgeführt werden und am 3o. Juni 1967 in näre für ein Exekutivkomitee. In den Jahren zwischen den Kon-
gleichzeitig stattfindenden lokalen Demonstrationen kulminieren gressen war eine Bundeskonferenz abzuhalten, um die Politik der
sollten. Organisation festzulegen. Zwischen den Sitzungen dieser Gremien
Mit Hilfe der Sonderzuwendungskampagnen konnten Fürsorge- sollte die Politik vom Nationalen Koordinierungsausschuß be-
empfänger in den folgenden Monaten Zuschüsse in Höhe von meh- stimmt werden, der sich aus einem Delegierten und einem Nach-
reren Millionen Dollar durchsetzen. Wie geplant, fanden am 3o. rücker jedes in der NWRO vertretenen Bundesstaates sowie den
Juni überall wie im Vorjahr Demonstrationen statt; jetzt ließ sich Mitgliedern des Exekutivkomitees zusammensetzte. Im allgemei-
zu Recht davon sprechen, daß eine nationale Organisation entstan- nen waren pro Jahr acht Sitzungen des Exekutivkomitees und vier
den war. Die wichtigste Rolle bei der Durchführung dieser bundes- des Koordinierungsausschusses vorgesehen. Die Satzung der
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NWRO verlangte, daß alle lokalen Gruppen eines Bundesstaates das Problem in New York offenkundig geworden war, erfaßte es
zusammentrafen, um eine im Prinzip ähnliche Organisationsstruk- auch die Organisation des Staates Massachusetts, die bis 197o eben-
tur auf der Ebene des Bundesstaates zu schaffen und den Delegier- falls zusammengebrochen war. Da New York und Boston (die
ten und Nachrücker für den Nationalen Koordinierungsausschuß Hauptstadt von Massachusetts) die bei weitem wichtigsten städti-
zu bestimmen. In großen Städten wie New York wurden ähnliche schen Hochburgen der Bewegung waren und ihre Organisations-
Koordinierungs- und Delegiertengremien gebildet. Die NWRO strategie im ganzen Land als Vorbild diente, werden wir uns im fol-
hatte also in sehr kurzer Zeit Organisationsstrukturen auf der genden der Frage zuwenden, warum diese Organisationen nicht
Ebene des Bundes, der Länder und einiger Gemeinden geschaf- überlebten (und warum Dutzende anderer WROs, die eine ähnli-
fen. che Strategie eingeschlagen hatten, im Laufe der Zeit ebenfalls
Wie die Mitgliederzahlen in der Tabelle auf S. 325 offenbaren, war scheiterten).
diese komplexe nationale Struktur geschaffen -worden, bevor sich
Ungefähre Mitgliedschaft der »National Welfare Rights Organization«
eine entsprechende Massenbasis herausgebildet hatte. Im Jahr 1967,
(Zahl der beitragszahlenden Familienvorstände)
als die Struktur in allen Einzelheiten fertiggestellt war, hatte die
NWRO 5 occ beitragszahlende Familien als Mitglieder. 1969 Ort 1967 1968 196921
erreichte der Mitgliederstand seinen Höhepunkt, als etwa 22000
Personen Beiträge entrichteten: USA 5000 IC 00 0 22 500
NewYork City 2 550 5870 4 °3°
»Die Bundesstaaten mit den größten Mitgliederzahlen waren, in dieser Rei- Brooklyn t3so 3370 2 44°
henfolge: New York, Kalifornien, Pennsylvania, Michigan, Virginia, Massa- Queens to° 38o 33°
chusetts, Ohio, New Jersey und Illinois. Von den Städten hatte New York Manhattan o7o 500
1400
bei weitem die meisten Mitglieder zu vermelden; allein im Stadtteil Brook- Bronx 72o 760
30
lyn gab es mehr Mitglieder als in jeder anderen Stadt im Land. Die Gruppen
in Boston hatten die zweitgrößte Gesamtmitgliedschaft, und Detroit, Los
Angeles und Chicago machten die Liste der fünf führenden Städte kom-
plett.« (Bailis, II) Das Problem dauerhafter Mitgliedschaft
Doch lassen wir die Verteilung der Mitgliedschaft einmal beiseite;
entscheidend ist, daß die beitragszahlende Mitgliedschaft der Unsere Analyse des Niedergangs der NWRO erfolgt in vier Schrit-
NWRO zu keinem Zeitpunkt mehr als 22000 ausmachte; nach ten. In dem zunächst folgenden Abschnitt wollen wir uns dem Pro-
1969 nahm die Zahl der Mitglieder dann rasch ab. blem widmen, wie eine Massenmitgliedschaft auf Dauer erhalten
Zuallererst, und am dramatischsten, offenbarte sich die Unfähig- werden kann. Anschließend wenden wir uns den Problemen zu, die
keit der NWRO, ihre bescheidene Basis auszubauen oder auch nur sich aus der komplexen Führungsstruktur ergaben, auf die sich die
zu erhalten, in New York. 1967 kamen 51 `1/0' der bundesweiten Mit- Organisation zunehmend verließ; als drittes analysieren wir die
gliedschaft aus New- York; als sich die Zahl der NWRO-Mitglieder Probleme, die aus externen Anreizen für die NWRO-Führung
im Laufe des folgenden Jahres verdoppelte, fiel der Anteil der New resultierten; und abschließend gehen wir auf die Implikationen des
Yorker auf 17°./e, was bedeutete, daß dort auch die absolute Mitglie- Niedergangs der Protestbewegungen in der amerikanischen
derzahl zurückgegangen war. Im Frühjahr 1969 war die Organisa- Gesellschaft gegen Ende der sechziger Jahre ein. Zusammen haben
tion in New York schließlich völlig zusammengebrochen. Das war, diese Probleme die Organisation schließlich zerstört. Bevor es
milde formuliert, ein bedrohliches Omen. Die Entwicklung in soweit war, hatte sich die Organisation jedoch selbst allmählich ver-
NewYork machte nur allzu deutlich, daß die Organisierungsstrate- wandelt: die politischen Überzeugungen waren konventioneller
gie der NWRO nicht in der Lage war, das Problem der langfristigen geworden, die Militanz -war zurückgegangen und die Mitgliederba-
Konsolidierung ihrer Mitgliedschaft zu meistern. Kurz nachdem sis geschwunden.
325
324
Die Lösung individueller Probleme als Organisierungsstrategie und waren sich der Gefahr bewußt geworden, die darin lag, einzeln
in hinteren Büroräumen, weit weg vom Tumult in den Wartesälen,
Die Organisierung der Fürsorgebedürftigen konzentrierte sich vor abgefertigt zu werden. Aktionsleiter und Aktivisten versuchten
allem darauf, Beschwerden bereits anerkannter Wohlfahrtsempfän- gewöhnlich, dieses Gespür zu verfestigen, indem sie vor Beginn
ger anzuhören und abzustellen. Dieser Ansatz bei der Organisie- der Aktionen mit den Teilnehmern vereinbarten, daß keiner gehen
rung von Empfängergruppen war gewöhnlich erfolgreich, denn an dürfe, bevor nicht alle Probleme gelöst seien. Bei der Aktion war
Beschwerden mangelte es wahrlich nicht. Häufig wurden Familien der Zusammenhalt meist so stark, daß dieseVereinbarung auch ein-
bestimmte Leistungen willkürlich verweigert, sie erhielten ihre gehalten wurde. Dadurch verstärkte sich die Solidarität zwischen
Schecks nicht, bekamen weniger ausgezahlt, als ihnen zustand, den Gruppenmitgliedern, und es entstand das Gefühl, daß das
oder wurden von Bürokraten in den Fürsorgeämtern abgekanzelt Wohlergehen des einzelnen von derWohlfahrt aller abhänge. Dieses
und gedemütigt. Das Versprechen, daß derartige Mißstände abge- Gefühl ermunterte die Beteiligten dazu, altruistisch und notfalls
stellt werden könnten, brachte die Wohlfahrtsempfänger in die auch auf Kosten unmittelbarer persönlicher Interessen zu handeln.
Gruppen. Natürlich verstärkte die Betonung gemeinsamer Gruppenaktionen
Man nahm sich der Mißstände auf mehrfache Art an. Zu Anfang auch den Glauben an die Wirksamkeit dieses Vorgehens. Die
wurden Beschwerden häufig von Organisationsvertretern selbst genannten Beobachtungen werden durch Einzelstudien aus ver-
eingereicht, um zu demonstrieren, daß auch die komplizierten Für- schiedenen Regionen erhärtet, wie in dem folgenden Bericht aus
sorgevorschriften nicht unentwirrbar waren und die Verwaltungen Massachusetts:
zum Nachgeben gezwungen werden konnten.' Nach und nach
»Wenn Mitarbeiter der Massachusett WRO, die sich mit Beschwerden
wurden einige der Wohlfahrtsempfänger in die Geheimnisse der befaßten, auf Fälle stießen, die nur geringe Aussicht auf Erfolg hatten, for-
Vorschriften eingeweiht und darin geschult, wie sie die Interessen derten sie die Mitglieder auf, sie zu ihrer nächsten Demonstration auf dem
anderer Wohlfahrtsempfänger vertreten konnten. Einige Gruppen Sozialamt zu begleiten. In der Hitze der Konfrontationen auf den Ämtern
brachten in den Warteräumen der Ämter oder auf der Straße Pla- halfen viele Mitglieder ihren Leidensgenossen bereitwilliger, als vorher
kate an, auf denen sie allen Antragstellern, die Schwierigkeiten mit angenommen werden konnte. ... Vielleicht erkannten sie, daß auch sie in
der Behörde hatten, ihre Hilfe anboten. Einige der besser organi- Zukunft einmal in eine ähnliche Situaton geraten könnten und dann für die
sierten Gruppen richteten »Beschwerde-Komitees« ein, an die sie Hilfe anderer dankbar sein würden. Zum größten Teil aber schien die Ent-
besondere Problemfälle überwiesen. scheidung, noch zu bleiben und für andere zu kämpfen, auch xvenn die eige-
nen Probleme gelöst waren, ein Gefühl der >Gemeinschaft< auszudrücken,
Als effektivste Methode, um Beschwerden Nachdruck zu verlei-
das durch die Aktionen entstand. In der Hitze der Konfrontation schien ein
hen, erwiesen sich kollektive Aktionen. Eine Gruppe von Fürsor- hoher Anteil der Fürsorgeempfänger aus ihrer Bezeugung der Solidarität
geempfängern erschienen dann auf dem Sozialamt, hielt dort eine mit anderen Bedürftigen, die mit dem >gemeinsamen Feind< aneinander-
Protestdemonstration ab und verlangte, daß alle Beschwerden geraten waren, ebenso wie aus der Erfahrung, daß sie Sachbearbeiter zum
abgestellt werden müßten, bevor sie wieder abzögen. Sollte sich die Nachgeben zwingen konnten, Befriedigung zu ziehen, ganz gleich, ob
Behörde weigern, drohten sie mit einem sit-in. Gewöhnlich waren sie nun persönlich einen direkten Nutzen davon hatten oder nicht.«
diese Aktionen erfolgreich, denn angesichts der brodelnden Gettos (Bailis, 64)
fürchteten die Wohlfahrtsbearnten offene Konfrontationen. Aktivi- Für die meisten lokalen Aktivisten und Vertreter von Empfänger-
sten und einfache Empfänger erkannten diese Schwäche und zogen gruppen — ebenso wie für die Mitarbeiter im Hauptquartier der
daraus Nutzen. Wenn die Beamten versuchten, der Lage Herr zu Organisation — lag das Hauptziel dieser Aktivitäten darin, die Mit-
werden, indem sie erklärten, einige der Beschwerden könnten gliederbasis zu erweitern. Daher wurde darauf bestanden, daß
sofort, andere aber erst später behandelt werden, dann weigerten Wohlfahrtsempfänger einer Gruppe beitraten, Beiträge zahlten und
sich die Demonstranten häufig wieder abzuziehen. Sie hatten ein eine Mitgliedskarte in Empfang nahmen, bevor man sich ihren Pro-
Gespür für die Notwendigkeit entwickelt, zusammenzuhalten, blemen zuwendete. Hinter dieser Praxis stand die Überlegung, daß
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durch die Verknüpfung von Hilfe und Mitgliedschaft stabile Grup- Gesetz vom Dezember 1969 gehört habe, wonach niemandem ohne vorhe-
pen geschaffen werden könnten. Zum größten Teil folgten lokale rige Benachrichtigung die Unterstützung gestrichen werden könne. Es han-
Aktivisten dem folgenden Beispiel: delte sich um die Gollidav-Entscheidung. Die Sachbearbeiterin sagte, sie
wolle mit ihrem Abteilungsleiter sprechen. Ich ging zu der Wohlfahrtsemp-
»Wer in die Büros der DMWRO (<Detroit Metropolitan Welfare Rights fängerin nach Haus, und wir gingen zusammen zum Fürsorgeamt, um offi-
Organization<) kommt und um Hilfe bittet, wird zunächst aufgefordert, ziell Einspruch einzulegen und mit der Sachbearbeiterin zu sprechen. Die
der Organisation beizutreten. Neuzugänge werden bestehenden Gruppen Sachbearbeiterin sagte, es tue ihr leid, aber sie könne nichts machen. Sie
je nach ihrer Wohngegend zugeteilt. Aber erst einmal müssen sie zwei Dol- erklärte, sie habe die Unterstützung streichen müssen, weil die Mietquit-
lar auf den Tisch legen, und dann wird ihr Name an die zuständige Orts- tungen der Frau unterschiedliche Unterschriften trügen. Am nächsten Tag
gruppe weitergeleitet. Ein Dollar geht in die Beitragskasse der zuständigen veranlaßte ich einen VISTA-Anwalt, die Sachbearbeiterin über das neue
Ortsgruppe, der andere Dollar geht an die DMWRO. Ferner wird ihnen Gesetz aufzuklären, aber die rührte sich noch immer nicht, woraufhin der
mitgeteilt, wann und wo das nächste Treffen stattfinden wird. Und dann Anwalt ihr mitteilte, daß er Klage einreichen werde. Jetzt bat die Sachbear-
sehen wir, was wir tun können, um ihrem Problem abzuhelfen, falls sie eins beiterin ihn, mit dem Leiter des Distriktbüros zu sprechen, was der Anwalt
haben.« (Martin, 15 8) auch tat. Der Amtsleiter gab den Scheck der Frau frei.« (Martin, 156)
Dennoch hatten die WROs auf Dauer keinen Bestand. Auch gibt es Solche Arbeit war zudem noch extrem eintönig. Es gab Erfolgser-
keine Belege dafür, daß Gruppen, die strikt nach der Maxime lebnisse, zweifelsohne, und es war befriedigend zu wissen, daß
»ohne Beitritt keine Hilfe« verfuhren, länger bestanden als Grup- man anderen Menschen einen Dienst erwies; auch einige Wohl-
pen, die das nicht taten. Die meisten bestanden ein Jahr, bestenfalls fahrtsempfänger konnten aus ihren Bemühungen große Genug-
zwei Jahre, unabhängig von den angewandten Organisierungstech- tuung schöpfen. Doch im großen und ganzen war die Zahl der
niken. Für diese Entwicklung gibt es eine Reihe von Gründen. Empfänger, die Spaß an dieser Arbeit hatten, nicht allzu groß, und
Zum einen verließen die meisten Familien, die von einer Be- je länger sich die Monate und Jahre hinschleppten, um so schwieri-
schwerdeaktion profitiert hatten, die Gruppe danach wieder, weil ger wurde es, die Beschwerdeaktivitäten aufrechtzuerhalten. Nur
sie ja nun keine Hilfe mehr brauchten. Zwar kehrten manche von durch kontinuierliche Schulung neuer Kader, die an die Stelle aus-
Zeit zu Zeit in die Gruppe zurück, wenn sich neue Schwierigkeiten gelaugter Mitarbeiter traten, konnte der schnellen Ausblutung Ein-
ergeben hatten, doch die meisten nahmen nicht auf kontinuierli-
halt geboten werden.
cher Basis am Gruppenleben teil. »Das grundlegende Problem der Die Beschwerdeaktivitäten waren möglicherweise weniger eintö-
Beschwerdearbeit bestand darin, daß ein gelöstes Problem, wie nig, wenn die ganze Gruppe beteiligt war. Doch diese Methode
andere erfüllte Bedürfnisse auch, keinen weiteren Anreiz bot, etwas absorbierte buchstäblich die gesamte Energie und die gesamten
zur Arbeit der Gruppe beizutragen.« (Bailis, 65) Dazu kam, daß — Mittel der Gruppe. Wie nützlich diese Strategie auch gewesen sein
nachdem die »welfare rights«-Organisationen eine größere Zahl mag, um die Solidarität unter den Gruppenmitgliedern zu erhalten
von Fürsorgeempfängern hervorgebracht hatten, die mit dem und positive Reaktionen des Wohlfahrtssystems zu erzwingen,
Wohlfahrtssystem umzugehen wußten — viele dieser Leute mein- hatte sie doch einen erheblichen Nachteil: sie schränkte den
ten, keine Gruppe mehr zu benötigen, um ihre individuellen Pro- Umfang der Beschwerdearbeit und damit auch den Erfolg von
bleme, oder auch die ihrer Freunde und Nachbarn, zu bewältigen. Rekrutierungskampagnen erheblich ein. Folglich expandierten die
Sie handelten fortan einfach allein, ein Umstand, der mit der Zeit Gruppen kaum noch, hatten sie erst einmal einen Mitgliederstand
die Reihen der organisierten Gruppen zunehmend lichtete.
von fünfzig bis hundert erreicht.
Zweitens erforderte die Beschwerdearbeit einen ungeheuren Auf- Es sollte noch angemerkt werden, daß die Betreuung individueller
wand an Zeit und Energie von Betreuern und Empfängern: Beschwerden eine natürliche Möglichkeit bot, in Führungspositio-
»Eine Frau rief im Büro (in Chicago) an und erzählte, ihre Sachbearbeiterin nen zu gelangen, denn indem man anderen half, konnte man sich
habe ihr die Unterstützung gestrichen. Ich rief die Sachbearbeiterin an, eine Hausmacht aufbauen. Doch sobald der Betreuer in ein Amt
erklärte ihr, daß ihr Vorgehen illegal sei, und fragte sie, ob sie schon von dem gewählt worden war, ging er gewöhnlich ganz in seinen neuen
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Pflichten und Erfolgserlebnissen auf. Da aber die Führungsgrup- offensichtlich ein großer Teil der Fürsorgeempfänger Anspruch
pen dieser Organisationen in der Regel ziemlich stabil waren, blieb hatte, bot sich die Möglichkeit, durch kollektive Aktionen Hunder-
neuen Betreuern kaum die Hoffnung, selbst einmal durch ihren ten und vielleicht Tausenden von Anspruchsberechtigten gleichzei-
Dienst am Mitmenschen in ein Amt zu gelangen — was die Plackerei tig zu ihrem Recht zu verhelfen und damit eine große Zahl von
der Beschwerdearbeit um so unattraktiver machte. Familien mit einem Minimum von organisatorischem Aufwand in
Schließlich hatte die Beschwerdestrategie zur Folge, daß sich mit die lokalen WROs zu integrieren.
der Zeit formelle Übereinkünfte mit den Wohlfahrtsbehörden zur Die ersten Experimente mit dieser Form kollektiver Beschwerde-
Lösung anstehender Probleme herausbildeten. \Vie genau diese aktivität wurden 1965 von einigen Aktivisten in der Lower East
Entwicklung verlief, soll in einem folgenden Abschnitt behandelt Side von New York unternommen, die für »Mobilization for
werden. An dieser Stelle genügt es zu sagen, daß, je ausgeprägter Youth« tätig waren.' Sie waren äußerst erfolgreich: als sich die
diese Übereinkünfte wurden, Empfängergruppen immer seltener Sozialämter in New York Gruppen von 5o oder wo Wohlfahrts-
auf kollektive Aktionen zurückgreifen mußten, um Zugeständnisse empfängern, die Sonderzuwendungen forderten, gegenübersahen,
des Wohlfahrtssystems zu erreichen. kapitulierten die Behörden und gaben die Schecks heraus. Bis zum
Als Resultat ging die Militanz zurück und bildete sich in den Emp- Frühjahr 1967 hatte die Taktik die meisten Mitarbeiter des Anti-
fängergruppen eine neue Führungsschicht heraus, die großes In- Armutsprograrnms sowie einige private Sozialhilfeeinrichtungen
teresse an der Erhaltung ihres privilegierten Verhältnisses zum und Kirchen in der Stadt erfaßt. Es waren buchstäblich Tausende
Wohlfahrtssystem hatte, und daher weniger Energien für die Re- von Menschen, die sich an den Demonstrationen für Sonderzuwen-
krutierung neuer Mitglieder aufwandte. dungen beteiligten. Als die Aktionen immer zahlreicher wurden,
Zusammenfassend können wir sagen, daß sich zwischen 1966 und wurde ein zentrales Büro eingerichtet, um die Bewegung weiter
197o »welfare rights«-Gruppen dank der Strategie, individuelle voranzutreiben, und ein ganz New York umfassendes Koordinie-
Beschwerden zum Ansatzpunkt für die Organisierung von Fürsor- rungskomitee der Wohlfahrtsgruppen gebildet.25
gebedürftigen zu machen, rasch im ganzen Land verbreiteten, daß Die Aktivisten sahen derartige Kampagnen vor allem als Instru-
diese Gruppen aber selten mehr als to() Mitglieder zählten. Zudem ment an, um eine dauerhafte Organisation der Wohlfahrtsempfän-
gab es in den Gruppen eine hohe Mitgliederfluktuation. DieVerfol- ger aufzubauen. Die Kampagnen zielten folglich darauf ab, »lokale
gung individueller Beschwerden erwies sich daher nicht als taugli- Gruppen in die Lage zu versetzen, ihre Existenzberechtigung in
ches Mittel, um eine Massenmitgliedschaft aufzubauen. den Augen von Fürsorgeempfängern nachzuweisen und ihre Rolle
als Vertreter individueller Klienten gegenüber den lokalen Wohl-
Die Lösung kollektiver Probleme als Organisierungsstrategie fahrtsverwaltungen zu festigen ...« (Birnbaum und Gilman, ).
Diese Überlegungen reflektierten zu einem gewissen Grad die
Wenn die Lösung individueller Probleme nicht zum angestrebten Sorge, ob die Auswirkungen einer Krise des Wohlfahrtssystems
Ziel führte, so schienen Aktionen zur Lösung kollektiver Probleme auch zu beeinflussen waren. Ein »organizer« formulierte es so: »Ist
in die richtige Richtung zu weisen— zumindest eine Zeitlang. Diese das System einmal bankrott, wären wir ohne Verankerung in den
Aktionen bauten auf den Bestimmungen einiger Sozialämter auf, Klienten allein von den Machthabern abhängig, wenn ein neues
wonach zusätzlich zu den regulären Beihilfen in Form von Lebens- System geschaffen werden muß.« (zitiert bei Sardell, 47)
mittel- und Mietzuschüssen Sonderzuwendungen für Bekleidung Die Sonderzuwendungskampagnen und die Gründung der New
und Haushaltsgegenstände gewährt werden konnten, wenn ent- Yorker Koordinierungskomitees wurden von Aktivisten und
sprechender Bedarf bestand. Nur wenige Fürsorgeempfänger wuß- AFDC-Empfängern mit Enthusiasmus begrüßt. Die wöchentli-
ten von dieser Möglichkeit, noch weniger stellten entsprechende chen Treffen des Komitees zogen immer größere Zahlen von Emp-
Anträge, und selbst von diesen wurden nicht einmal alle bewilligt. fängern, Betreuern und Anwälten aus den Rechtshilfebüros an. Auf
Da es sich dabei um eine Art der Unterstützung handelte, auf die diesen Versammlungen zeigte sich der Elan einer beginnenden poli-
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tischen Bewegung; Schulungskurse über die detaillierte Planung sierten Bewegung der Fürsorgeklienten. Die Anträge wurden fast alle in der
von Sonderzuwendungskampagnen wurden durchgeführt und Stadt New York gestellt. ... Dieser Antragszuwachs führte zur Ernennung
Pläne für Demonstrationen — entweder gleichzeitig auf Dutzenden von vier zusätzlichen Anhörungsbeamten und im Dezember 1967 dann zur
von Distriktämtern oder konzentriert bei der zentralen Behörde — Einrichtung des >New York City Office of Fair Hearings«. Die Klienten
aufeinander abgestimmt. Außerdem wurden Zehntausende von wurden bei den >hearings< von Anwälten, Jurastudenten und einigen
Informationsmappen über die Sonderzuschüsse verteilt, deren geschulten Laien vertreten.... In der Zeit von September bis Januar wurden
über 3 000 >hearings< angesetzt. 90% davon fanden allerdings nie statt. Oft-
wichtigster Bestandteil eine hektographierte Liste der Kleidungs- mals kontaktierten die lokalen Zentren die Antragsteller vor den festgesetz-
stücke und Haushaltsgegenstände war, die allen Personen (laut Für- ten Anhörungsterminen und bewilligten die Anträge auf Sonderzuwendun-
sorgebestimmungen) zustanden. Dieses Listen wurden von loka- gen. In der Hälfte der Fälle, in denen tatsächlich eine Anhörung stattfand,
len Aktivisten verteilt; die Leute kreuzten an, was ihnen fehlte, und wurden den Klienten so gut wie alle Forderungen erfüllt; auch in den mei-
gaben die Listen dann zurück. Die ausgefüllten Blätter wurden sten der übrigen Fälle wurde zumindest ein Teil der Ansprüche gewährt.«
gebündelt und später bei einer der zahllosen Demonstrationen auf (Jackson und Johnson, 114)
den Wohlfahrtsämtern den Behördenleitern übergeben. Bis zum Spätherbst 1967 hatte dieses Organisierungsrezept schließ-
Wenn Individuen oder Empfängergruppen von den Kampagnen lich eine Massenbewegung der Wohlfahrtsempfänger in den Gettos
erfuhren und sich nach dem (»City-wide« genannten) Koordinie- und Barrios von New York hervorgebracht.
rungskomitee erkundigten, wurde ihnen gewöhnlich geraten, auf Die Auseinandersetzungen in dieser Zeit waren von hoher Mili-
dieselbe Weise vorzugehen: tanz gekennzeichnet. AFDC-Empfängerinnen (häufig mit ihren
»Die Strategen von >City-wide< entwickelten ein Rezept, das lokale Grup- Kindern an den Rockschößen) führten Hunderte von sit-ins in den
pen bei ihrer politischen Arbeit anwenden sollten. Gruppenmitglieder soll- regionalen Fürsorgeämtern von Brooklyn, Manhattan, Queens
ten vor den Wohlfahrtszentren Flugblätter verteilen und mit den Klienten und der Bronx durch und provozierten offene Konfrontationen.
über die ihnen zustehenden Wohlfahrtsleistungen sprechen. Fürsorgeemp- An diesen lokalen Protesten beteiligten sich zwischen 25 und soo
fänger sollten aufgefordert werden, sich lokalen Gruppen anzuschließen Personen. Wenn zu Demonstrationen in den zentralen Wohlf ahrts-
und an Versammlungen teilzunehmen, auf denen über >welfare rights< und ämtern aufgerufen war, erschienen zwischen 5oo und 2 000 Men-
Sonderzuwendungen diskutiert wurde. Antragsformulare für Sonderzu-
schüsse sollten dann ausgefüllt werden, und die Gruppe würde mit den For-
schen. Manchmal schlossen sich auch Sozialarbeiter und andere
mularen zum Wohlfahrtszentrum zurückkehren, wo sie in einer Demon- Sympathisanten den Protestaktionen an. Sit-ins, die häufig die Pro-
stration die unmittelbare Bewilligung der Sonderzuschüsse verlangte.« teste begleiteten, dauerten zuweilen mehrere Tage. Obwohl die
(Sardell, 5 5) Behörden in diesen turbulenten Zeiten gewöhnlich nicht dazu
neigten, Fürsorgeempfänger festnehmen zu lassen, wurden doch
In dieser Periode wurden Fürsorgeempfänger außerdem dazu
Dutzende von Demonstranten verhaftet. Meist jedoch begegnete
ermutigt, zusammen mit ihren Anträgen auf Sonderzuwendungen
man den Protesten, indem man Schecks ausstellte. Als im Frühjahr
auch Anträge auf Anhörung (»fair hearings«) einzureichen. Damit
und Sommer 1968 die Sonderzuwendungskampagnen ihren Höhe-
wurde der Wohlfahrtsbehörde erklärt, daß sie im Falle einer Ableh-
punkt erreichten, hatte es die Wohlfahrtsbehörde für nötig befun-
nung des Antrages ihre Entscheidung bei einer Anhörung vor Ver-
den, in ihrer Zentrale einen mit unzähligen Telefonen angefüllten
tretern des Bundesstaates würde rechtfertigen müssen. 1964 hatten
»Kriegsraum« einzurichten, wo Fürsorgebeamte versuchten, sich
im ganzen Staat New York nur vierzehn »fair hearings« stattgefun-
über die ständigen Demonstrationen in den Dutzenden von
den; 1965 waren es sechzehn und 1966 zwanzig gewesen. Im Jahre
Bezirksämtern der Stadt auf dem laufenden zu halten.
1967 jedoch wurden infolge der Aktivitäten von »City-wide« 4 233
George war so beeindruckt vom Organisierungspotential dieser
Anträge auf Anhörung gestellt:
Kampagnen, daß die nationale Organisation die Strategie über-
»1967 gab es eine buchstäbliche Explosion von Anträgen auf >fair hearings<. nahm und im ganzen Land propagierte. Im Frühjahr 1967 stellte
Diese Explosion hatte ihre Ursache vor allem in den Aktivitäten der organi- die NWRO-Zentrale spezielle Informationsmappen mit farbig
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gedruckten Materialien (»VERTEIDIGE DEINE FAMILIE!«; stration zu schweren Ausschreitungen. Wieder zitiert Fiske den
»MEHR GELD JETZT!«) für die Ortsgruppen zusammen und Bericht eines Aktivisten:
arbeitete mit großem Eifer an der Planung neuer Kampagnen. »Als der Direktor ankündigte, daß die Leute verhaftet würden, wenn sie das
Schon bald, im Spätsommer, waren nationale Kampagnen für Zentrum nicht verließen, forderten die protestierenden Fürsorgeempfänger
Schulkleidung im Gange, im Herbst dann für Winterbekleidung die Studenten auf, nach draußen zu gehen. Sie gingen auf die Straße, aber es
und im Frühjahr für Oster- oder Schulabgangskleidung. Auch waren keine Megaphone da, und keiner sagte ihnen, was sie tun sollten. Als
Kampagnen für Haushaltsgegenstände — zum Teil auf der Grund- der Polizeitransporter eintraf, dachten die Demonstranten auf der Straße,
lage, daß nur wenige Wohlfahrtsempfänger adäquates Bettzeug die Leute drinnen sollten verhaftet werden und fingen an, den Wagen hin
und ähnliche Dinge besaßen — wurden überall in Angriff genom- und her zu schaukeln. Die Polizei stieß einige von ihnen in den Wagen hin-
ein und fuhr dann mit einem irrsinnigen Tempo durch die Menge. Jetzt
men.
wurde die Menge richtig wütend und schmiß Steine und Flaschen nach dem
Dennoch blieb Massachusetts neben New York der einzige Bun-
Wagen.« (89)
desstaat, in dem die Kampagnen wirklich große Ausmaße annah-
men.' Die Aktivitäten in Massachusetts, die im Sommer 1968 auf- In diesem Moment begannen die Unruhen von Springfield — und
genommen wurden, erbrachten Zuschüsse in Millionenhöhe. Bill Pastreich, der »chief organizer« der MWRO, wurde zum
»Nach Angaben der Wohlfahrtsverwaltung wurden allein in der zwölftenmal in Haft genommen; seine Kaution wurde auf 3 000
Gegend um Boston im Juli z o 000 Dollar ausgehändigt, im August Dollar festgesetzt.
600 occ Dollar und im September 3 000 000 Dollar.« (Fiske, 37, 96)
Als der Behördenleiter Mitte August vor einen Parlamentsausschuß Die Abschaffung der Sonderzuwendungen
zitiert wurde, um den enormen Zuwachs an Fürsorgeleistungen zu
rechtfertigen, antwortete er: »Wenn jemand im Juni 1967 in Rox- Als die Sonderzuwendungskampagnen sich im Lande verbreiteten,
bury Crossing gewesen wäre, als dort die Unruhen ausbrachen, reagierten Lokalverwaltungen und staatliche Behörden immer häu-
hätte er einige derselben Elemente am 3o. Juli 1968 hier im Wohl- figer mit der Einführung der »Pauschalzulage« (»flat grant«). Es
fahrtsamt wiedergesehen.« (zitiert bei Fiske, 34) Dennoch bestan- war eine unvermeidbare Entwicklung. Mit diesem simplen Kniff
den erhebliche Schwierigkeiten, Schecks ausgestellt zu bekommen. konnten die Ausgaben für Sonderzuwendungen gestoppt und die
Ein Büro tat dies zwar, ließ die Schecks jedoch sofort wieder sper- »welfare rights«-Organisationen entscheidend getroffen werden.
ren; ein anderes ließ den Hauseingang durch Polizei blockieren New York war der erste Bundesstaat, der diese »Reform« durch-
und nur jeweils zehn Empfänger zur selben Zeit eintreten; andere führte, denn dort gab es noch immer ein riesiges Reservoir poten-
Büros machten wegen der Tumulte einfach dicht. Auch die Demon- tieller Antragsteller, das — sollte es je erschlossen werden — eine
stranten wurden immer militanter: »Bedrohung für den Etat« der Stadt New York darstellte, wie die
»So wurden ... als [im November] 5c Fürsorgeempfänger aufs Sozialamt in New YorkTimes in einem Leitartikel bemerkte. Um dieWohlfahrts-
Roxbury Crossing kamen, ... zwölf Telefone aus der Wand gerissen, acht ausgaben unter Kontrolle zu halten, schickte sich die Fürsorgever-
Büroräume >auf den Kopf gestellt<, Sozialarbeiter >übel beschimpft< und waltung in New York an, das Sonderzuwendungssystem umzuge-
einer gegen die Wand geschubst. Die Gewerkschaft forderte das Personal stalten. Sie schlug vor, es dadurch zu »reformieren«, daß man es
auf, das Amt unter Polizeischutz zu verlassen; 4o Sozialarbeiter machtcn durch »automatische Zulagen« von to° Dollar im Jahr ersetzte, die
sich umgehend auf den Weg zum Hauptquartier der Wohlfahrtsverwaltung, jedem Fürsorgeempfänger in vierteljährlichen Raten von jeweils 2 5
um gegen die Belästigungen zu protestieren; und die Polizei eskortierte den Dollar auszuzahlen waren. Im Juni 1968 billigte das »State Board of
Direktor um 12.3o Uhr aus dem Sozialamt. Und so schloß ein weiteres
Social Welfare« den Plan, der dann am I. September in Kraft trat.
Büro an diesem Tag vorzeitig seine Tore.« (Fiske, 56)
Hugh R. Jones, der Vorsitzende des »Board«, machte aus den
Von allen Demonstrationen im Land waren die von Massachusetts Gründen gar keinen Hehl, als er verkündete, die Fürsorgereform
am durchgängigsten militant. In Springfield führte eine Demon- werde sowohl »den Ausgabenfluß stabilisieren« als auch die Orga-

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nisationen der Wohlfahrtsempfänger »ganz entscheidend behin- arbeiter, Mitarbeiter der Programme gegen die Armut, Studenten
dern«. Den ganzen Sommer und Herbst über diskutierten Spre- und andere Sympathisanten — versammelten sich zu einer Protest-
cher und Berater des New Yorker Koordinierungskomitees, wie veranstaltung im Central Park und marschierten anschließend die
diesen Entwicklungen begegnet werden konnte. Drei verschiedene Fifth Avenue hinunter. Auf der 42. Straße, zwischen der Fifth Ave-
Strategien wurden erwogen: Eine Strategie bestand darin, auch nue und der Madison Avenue, setzten sie sich nieder und sorgten
weiterhin militante Demonstrationen in den lokalen Zentren für ein mehrstündiges Verkehrschaos. Hulbert James, der führende
durchzuführen, um das Wohlfahrtssystem nicht zur Ruhe kommen »welfare rights«-Aktivist in der Stadt, wurde von einem Laternen-
zu lassen, und damit zu drohen, das Chaos auch in die Gettos zu pfahl, von dem aus er eine Ansprache hielt, heruntergezogen und
tragen, falls der Plan in Kraft treten sollte. Diese Strategie wurde wegen Anstiftung zum Aufruhr unter Anklage gestellt. Diese
jedoch nur halbherzig verfolgt. Die zweite Möglichkeit — die von Demonstration setzte den Schlußpunkt unter dieWiderstandskam-
uns vorgeschlagen wurde — war, eine »spend-the-rent«-Kampagne pagne in New York. Damals waren die lokalen WROs bereits
(»verbraucht das Geld für die Miete«) einzuleiten. Hinter unserem geschwächt und Aktionen in den Fürsorgezentren weitgehend auf-
Vorschlag stand folgende Überlegung: Wenn die Fürsorgeempfän- gegeben worden. Nicht anders verliefen die Ereignisse in Massa-
ger ihr Mietgeld für andere Dinge ausgäben, könnten sie die Redu- chusetts:
zierung ihrer Einkommen — und auf eine Reduzierung liefen die
automatischen Zulagen hinaus — wieder ausgleichen. Was die Stadt »In welcher Beziehung die Einführung der Pauschalzulage zu den Aktivitä-
und der Bundesstaat sparten, hätten sich die Bedürftigen auf diese ten der >welfare rights<-Gruppen stand, wurde in Massachusetts ziemlich
offen zugegeben. Den Aktionen der MWRO wurde in den Zeitungen, im
Weise mehr als zurückgenommen. In der aufgeladenen Stimmung, Radio und im Fernsehen ziemlicher Platz eingeräumt. ... Viele Leute in
die damals herrschte, wurde diese Strategie beschlossen, doch ließ Massachusetts assoziierten >welfare rights<-Demonstrationen offensicht-
die Organisation dem Beschluß keine Taten folgen. Der drohende lich mit steigenden Wohlfahrtsausgaben und nahmen an, erstere hätten letz-
Mietstreik diente zwar noch ein paar Wochen lang als verbales tere verursacht. All dies führte dazu, daß die Wohlfahrt zu einem zuneh-
Druckmittel, das war aber auch alles. mend kontroversen Thema der öffentlichen Diskussion wurde. Einige
Statt dessen entschied sich die Führung des Koordinierungskomi- Abgeordnete des Bundesstaates verschafften sich öffentliche Aufmerksam-
tees, Druck auf Parlament und Regierung in Albany, der Haupt- keit, indem sie angebliche Wohlfahrtsschwindel untersuchten und Gesetze
stadt des Staates New York, auszuüben. Diese Entscheidung war einbrachten, um die Wohlfahrtsausgaben zu kürzen. Der Gouverneur
zum großen Teil darauf zurückzuführen, daß verschiedene Mittel- machte seine Opposition gegen demonstrierende Wohlfahrtsempfänger
und die von ihm veranlaßte Einführung der Pauschalzulage 1970 zu einem
schichtsorganisationen der Stadt ihre Unterstützung zugesichert Hauptthema im Kampf um seine Wiederwahl. Drei seiner Werbesendungen
hatten: einige Kirchenverbände, mehrere Frauengruppen aus der im Rundfunk erwähnten demonstrierende Wohlfahrtsempfänger; eine von
oberen Mittelschicht, Frauen-Friedensgruppen, eine Vereinigung ihnen war ausschließlich der Erläuterung der Pauschalzulage gewidmet.«
privater Wohltätigkeitsorganisationen und ähnliche Gruppen. Den (Bailis, 42)
ganzen Herbst 1968 über mobilisierte »City-wide« für die Kam-
pagne, die ihren Höhepunkt in einer »Bus-Karawane« nach Albany Wie in New York vereinigten sich auch die »welfare rights«-Grup-
fand, wo Politiker es jedoch weitgehend vermieden, mit Delegatio- pen von Massachusetts mit ihnen nahestehenden liberalen Grup-
nen von Fürsorgeempfängern zusammenzutreffen. Die Vorberei- pierungen zur »Massachusetts Welfare Coalition«. Sie setzte sich
tung und Durchführung der Kampagne kostete viel Zeit und Geld hauptsächlich aus Kirchenverbänden und Wohltätigkeitsorganisa-
und brauchte die Ressourcen des Komitees vollständig auf. Das tionen zusammen und besaß nicht genügend Einfluß, um die Ein-
Parlament antwortete auf seine Weise: es kürzte die Fürsorgesätze führung der Pauschalzulage rückgängig machen zu können. Schon
um to% . bald danach begann die Organisation in Massachusetts auseinan-
Die letzte bedeutende Protestdemonstration fand am 15. April derzufallen. In dieser Zeit gingen auch andere Bundesstaaten zur
1969 statt. Ungefähr 5 wo Personen — die meisten von ihnen Sozial- Pauschalzulage über — sie waren ein einfaches, doch wirksames
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Mittel, um gleichzeitig die Organisierung der Armen zu untermi- Gruppen entwickelten. Oft überlebten sie nicht einmal den Zeit-
nieren und die Wohlfahrtsausgaben zu senken. raum zwischen zwei Sonderzuwendungskampagnen:
»Die Organisierungskampagnen nach dem Bostoner Modell brachten
Mobilisierung contra Organisierung anfangs fast immer erfolgreiche Treffen und Konfrontationen hervor. Doch
nur wenige der dadurch entstandenen Gruppen waren in der Lage, ihren
In New York und Massachusetts wurden zwei verschiedene Schwung — oder ihre Mitgliedschaft — über längere Zeit zu konservieren.
Ansätze für den Aufbau von »welfare rights,Gruppen verfolgt — Die Geburt dieser Gruppen war immer spektakulär; sie durchlebten dann
ein Unterschied, dem damals von »organizers« im ganzen Land eine aktive Jugendzeit voller gut besuchter Versammlungen und militanter
große Bedeutung beigemessen wurde. In New York legte man nur Demonstrationen; dafür war das Erwachsenendasein der typischen
wenig Wert darauf, Gruppen mit beitragszahlenden Mitgliedern MWRO-Gruppe um so trister und endete mit einem langsamen Tod. Die
Lebensspanne war doch insgesamt recht kurz. ... Den größten Teil ihrer
aufzubauen (mit Ausnahme der Gruppen in Brooklyn unter Lei-
Existenz über gelang es der MWRO, ihre Unfähigkeit, starke lokale Grup-
tung von Rhoda Linton); in Massachusetts war es umgekehrt. pen am Leben 7 u erhalten, zu verbergen, indem sie immer neue Organisie-
George war entschieden für die letztere Methode. Das Thema rungskampagnen nach dem Bostoner Modell in Angriff nahm und so stän-
kam 1967 zum erstenmal auf, nachdem die NWRO offiziell dig neue Gruppen bildete, die die dahingeschiedenen alten ersetzten. Diese
aus der Taufe gehoben und das Programm der bundesweiten Gruppen sorgten dafür, daß die MWRO ihre Mitgliedcrzahl stabil halten
Sonderzuwendungskampagnen verkündet worden war. George konnte; sie stellten die Masse der Demonstrationsteilnehmer und sicherten
vertrat die Ansicht, Wohlfahrtsempfänger sollten nur dann In- der Bewegung der Wohlfahrtsempfänger regelmäßig einen Platz auf der
formationen, Formulare und Beistand zu den Anträgen auf Titelseite.« (55)
Sonderzuschüsse erhalten, wenn sie sich vorher einer Gruppe Bailis behauptet darüber hinaus: »Die meisten MWRO-Gruppen
angeschlossen und ihren Obolus entrichtet hätten. Einige von uns waren schon dem Tod geweiht, als die Einführung der Pauschalzu-
in New York waren gegen diese Bedingung, weil wir glaubten, lage (in Massachusetts) noch in weiter Ferne lag.« (6o)
daß die Auswirkungen auf das Wohlfahrtssystem sehr viel größer Das »Bostoner Modell« erforderte weit größere organisatorische
sein würden, wenn Informationen über die Verfügbarkeit von Ressourcen als das »Mobilisierungsmodell«, nach dem in New
Sonderzuschüssen so weit wie möglich — über Büros der Anti- York verfahren wurde. Die MWRO zog eine große Zahl von Stu-
Armuts-Programme, Wohltätigkeitseinrichtungen, Kirchen und denten an, denen sie organisatorische Aufgaben übertrug; außer-
Bürgerrechtsgruppen — verbreitet würden. In New York setzte dem hatte sie einen Vertrag mit VISTA und schulte deren Mitarbei-
sich unsere Auffassung durch, und so hatten die dortigen Kampa- ter in der Organisierung von Fürsorgebedürftigen. In New York
gnen einen weit lockereren Charakter als an den meisten anderen verfügten wir über eine geringere Zahl von »organizers«. Doch wie
Orten. auch immer: die WROs überlebten in keinem der beiden Staaten,
In Massachusetts entwickelte sich jedoch ein anderes Organisie- und das ist der entscheidende Punkt.
rungsmodell. Unter »welfare rights«-Aktivisten wurde es unter
dem Namen »Bostoner Modell« bekannt und überall im Land viel-
fach kopiert. Das Modell setzte die formelle Gruppenmitglied- Die Auswirkungen interner Führungsstrukturen
schaft als Voraussetzung für jede Form von Beistand. Manchmal
wurden Antragsformulare für Sonderzuschüsse zum Beispiel erst Der Zusammenbruch der »welfare rights«-Organisationen in New
dann an die Wohlfahrtsempfänger verteilt, wenn sie sich an einer York und Massachusetts war ein kaum zu verdauender Schlag, und
Demonstration auf dem Fürsorgeamt beteiligten. Man nahm an, dies aus zwei Gründen: zum einen waren in beiden Bundesstaaten
daß auf diese Weise stabile, dauerhafte Gruppen entstehen würden. einige der liberalsten Politiker des Landes tätig, zum anderen war
Detaillierte Untersuchungen von Bailis über die Ereignisse in Mas- angesichts der großen Zahl organisierter Wohlfahrtsempfänger die
sachusetts ergaben jedoch, daß sich in Wahrheit keine stabilen Basis der NWRO nirgendwo so breit wie in New York und Massa-

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chusetts. Wenn also die Strategie, auf dem Wege von Sonderzuwen- und sobald offizielle Vertreter gewählt worden waren, entwickelten
dungskampagnen eine Massenmitgliedschaft aufzubauen, unter sich diese Führungspositionen zu einer ständigen Quelle von Aus-
diesen Bedingungen fehlgeschlagen war, welches Schicksal würde einandersetzungen und Konkurrenzverhalten. Bedenkt man, wie
Organisierungsversuche erst an Orten erwarten, an denen die Poli- hart und freudlos das Leben dieser Wohlfahrtsempfänger bis dahin
tiker konservativer und die Empfängerzahlen geringer waren?' war, dann läßt sich die enorme Bedeutung von Prestige und organi-
Die noch verbliebenen Gruppen waren überall in den USA ver- satorischem Einfluß, die Funktionsträgern plötzlich zufielen,
streut; nur wenige hatten fünfzig oder gar mehr Mitglieder. In der ermessen. Die natürliche Folge davon war ein wachsender Stellen-
Tat war 197o auch bei diesen Gruppen schon ein Ende abzusehen. wert führungsorientierter Politik. Dieser Umstand behinderte aber
Einer der Gründe dafür lag in der Entwicklung einer ausgeprägten eine Ausweitung der Mitgliedschaft, denn die Funktionäre entwik-
Organisatonsstruktur und in dem einengenden Einfluß, den diese kelten ein Interesse daran, die Mitgliederzahlen stagnieren zu las-
Struktur auf die NWRO-Führung ausübte. sen.
Die Entwicklung einer festen Organisationsstruktur hatte für die Vertreter der Fürsorgeempfänger mußten sich auf allen Ebenen
»welfare rights,Gruppen unmittelbare Konsequenzen. Die Leich- regelmäßig zur Wiederwahl stellen; neue Mitglieder bedeuteten da
tigkeit und das Tempo, mit dem die Organisation entstand, eine Gefahr. Kämpfe um Führungspositionen könnten ausbrechen,
bestärkte den Glauben an die Doktrin der Massenorganisation und etablierte Führungskader ihre Posten verlieren. Hatte sich in einer
an die Möglichkeit, politischen Einfluß durch Organisierung zu Gruppe einmal eine anerkannte Führungsgruppe herausgebildet,
gewinnen. Zwar hatten die meisten WROs nur wenige beitragszah- legte diese häufig ihr Hauptaugentnerk auf die Kultivierung und
lende Mitglieder — zwischen 25 und 75 —, doch gab es Ende der Festigung ihrer Position. Funktionäre der städtischen und einzel-
sechziger Jahre immerhin mehr als 5oo einzelne Gruppen im Land, staatlichen Organisationen verhielten sich da nicht viel anders:
von denen jede wenigstens einen Delegierten und einen Nachrük- ihr primäres Interesse galt der Kultivierung und Festigung ihrer
ker zu den Bundeskongressen und -konferenzen entsenden durfte. Beziehungen zu den örtlichen Führungskadern ihrer jeweiligen
Folglich kamen bei diesen Zusammenkünften Hunderte von Ver- Stadt oder ihres Bundesstaates. Folglich wehrten sich Funktionäre
tretern der Wohlfahrtsempfänger zusammen, zu denen sich noch gegen neue Rekrutierungskampagnen, wie das folgende Beispiel
»organizers« in ebenso großer Zahl gesellten. All das vermittelte zeigt:
den Eindruck, als beteiligten sich an der Basis große Massen von »Die Führung der >Welfare Rights Organization< in Massachusetts bean-
Bedürftigen an dem Kampf zur Durchsetzung des Anspruchs auf tragte, eine Klausel in die Satzung aufzunehmen, wonach sich die Zahl der
öffentliche Wohlfahrt. (Außerdem wurde relativ ausführlich in der stimmberechtigten Delegierten einer lokalen Gruppe auf dem Jahreskon-
Presse über Demonstrationen von Fürsorgeempfängern berichtet, greß nach der Zahl der beitragszahlenden Mitglieder richten sollte; sie
was den Glauben an die Wirksamkeit von Massenorganisation hoffte, eine solche Regelung würde Ortsgruppenleitern, die nach höheren
noch weiter bestärkte.) Daher wurde allgemein angenommen, der Positionen strebten, einen Anreiz geben, ihre Mitgliederbasis zu verbrei-
Kampf der Fürsorgebedürftigen dehne sich aus und mache Fort- tern. Unglücklicherweise gab es jedoch für die meisten Funktionäre —
schritte — trotz der versickernden Zulagenkampagnen. Doch in zumindest bis kurz vor dem nächsten Jahreskongreß — wenig Grund, sich
der Erhaltung oderVergrößerung der Mitgliedschaft ihrer Gruppen zu wid-
Wahrheit wirkte der Aufbau einer komplexen Organisationsstruk- men, nachem sie einmal in das angestrebte Amt gelangt waren. Einige Ver-
tur, die vom Stadtteil über die Stadt und den Bundesstaat bis zum treter aus dem Kreis der Wohlfahrtsempfänger wandten sich gerade deshalb
Bund reichte, von Beginn an hemmend. Insbesondere behinderte gegen Versuche des Stabes, ihre Gruppen zu reaktivieren, weil sie fürchte-
sie die Verbreiterung der Mitgliederbasis. ten, daß sich unter den neuen Mitgliedern potentielle Herausforderer um
Je komplexer die Organisationsstruktur wurde, desto ausgepräg- die eigene Führungsposition befinden könnten. Manchmal stimmten die
ter wurden auch die Führungspositionen, in den Stadtteilgruppen Führer dahinsiechender Gruppen zwar neuen Rekrutierungskampagnen
ebenso wie auf der Ebene der Städte und Bundesstaaten. Sobald zu, bestanden aber darauf, daß keine neuen Wahlen in der Gruppe abgehal-
eine Gruppe sich gebildet und der NWRO angeschlossen hatte ten werden würden. In solchen Fällen passierte dann gar nichts, denn der

34 0 3 41
MWRO-Stab weigerte sich, unter diesen Bedingungen bei der Anwerbung Allerdings nahm George die Idee, auch die Bezieher anderer Für-
neuer Mitglieder zu helfen. sorgekategorien — wie bedürftige Arbeiterfamilien und Rentner —
Pläne des Stabes für großangelegte Rekrutierungskampagnen in Teilen des
zu organisieren, begeistert auf. Er war allmählich zu der Überzeu-
schwarzen Gettos von Boston, die noch nicht organisiert waren, trafen auf
die Opposition der überwiegend schwarzen MWRO-Führung, die zum
gung gekommen, daß die Mitgliederbasis der NWRO zu eng sei
Teil die Entstehung neuer Machtzentren in der Organisation fürchteten. und daß eine Organisation, die sich ausschließlich aus AFDC-
Eine dieser Kampagnen fand nur deshalb statt, weil sich die Vorstandsmit- Empfängerinnen zusammensetzte, mit Sicherheit nicht genügend
glieder der MWRO sicher fühlten, daß die zu wählenden Führer der neuen Unterstützung bei gesellschaftlichen Gruppen finden würde, die
Gruppe ihre Seniorität respektieren würden. Eine andere Kampagne ließ über Einfluß, Geld und andere Ressourcen verfügten. Mit Sicher-
die schlimmsten Befürchtungen des Vorstands wahr werden, als der Vertre- heit würde auch der politische Einfluß einer solchen OrganiSation
ter einer neueren Gruppe aus Roxbury auf dem MWRO-Kongreß von i97o von dem Stigma, das den AFDC-Müttern anhaftete, behindert wer-
gegen den amtierenden Vorsitzenden antrat und ihn besiegte.« (Bailis, 72—
den. George schwebte eine breitere Basis vor, die nicht allein die
73) Empfänger anderer Wohlfahrtsleistungen, sondern auch die
Sorge um die eigenen Führungspositionen war auch der Haupt- Arbeitslosen umfaßte. Außerdem wollte er das Betätigungsfeld der
grund für den Widerstand unter WROs gegen die Organisierung Organisation über den engen Bereich der Sozialfürsorge hinaus auf
von Beziehern anderer Fürsorgekategorien — wie z. B. von Alters- andere, für die Armen relevante Regierungsprogramme ausweiten
versorgung und Einkommenszulagen für bedürftige Erwerbstä- (wie beispielsweise öffentliche Gesundheitsfürsorge). Zudem hatte
tige. Im Jahre 1968 hatten wir einen Aufsatz mit dem Titel Workers George ein dichtes Netz von Kontakten und Sympathisanten
and Welfare' veröffentlicht, in dem wir schätzten, daß mehrere geknüpft, das den Eindruck erweckte, viele verschiedene Gruppen
hunderttausend bedürftige Arbeiterfamilien mit einem Einkom- (z. B. Organisationen von Rentnern, Mietern und Arbeitslosen)
men unterhalb der Armutsgrenze zu Beihilfen aus der »general könnten unter seiner Leitung in einer einzigen, nationalen Dachor-
assistance«-Kategorie der Sozialfürsorge in den nördlichen Bun- ganisation zusammengeführt werden. Es -war die Vision einer dau-
desstaaten berechtigt waren. In einigen dieser Bundesstaaten, zum erhaften Massenorganisation, die eine Vielzahl verschiedener
Beispiel in New York, hatte eine große Familie mit einem Einkom- Gruppen umfaßte und sich einer Vielzahl von Fragen widmete.
men unterhalb des gesetzlichen Mindestlohnes Anrecht auf eine Doch das ist nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, daß
Beihilfe, die ihr Einkommen verdoppelte. Wir schlugen deshalb er Vorstand und Mitarbeiterstab der NWRO davon überzeugen
vor, Kampagnen durchzuführen, um die Zahl der »general as- wollte, die Aufnahme neuer Gruppen in die Organisation zu unter-
sistance«-Empfänger zu vergrößern. In den Gesprächen mit stützen.
George und anderen NWRO-Vertretern wurde jedoch deutlich, Primär aufgrund seines Drängens stimmten die Delegierten auf
daß sie kein Interesse an einer nachhaltigen Erschütterung des dem NWRO-Kongreß von 1969 einem Antrag zu, den Mitglieder-
Wohlfahrtssystems mehr hatten. Die alte Idee, daß eine Organisa- kreis auf alle Personen auszudehnen, deren Einkommen unter dem
tion der Wohlfahrtsempfänger auch als Vehikel zur Mobilisierung von der NWRO propagierten angemessenen Einkommensstan-
und Rekrutierung potentieller Empfänger dienen sollte, war so gut dard lag — damals 5 5oo Dollar im Jahr für eine vierköpfige Familie.
wie vergessen. Statt dessen hatte jetzt der Ausbau der bestehenden Bis dahin hatten nur AFDC-Empfänger Mitglied werden können.
Organisation allererste Priorität, denn George und seine Mitarbei- George frohlockte: »Das Großartige ist ... daß von jetzt an die Mit-
ter waren zu der überzeugung gelangt, daß ein Nationalverband gliedschaft von der Höhe des Einkommens abhängen wird. Jede
der Wohlfahrtsempfänger tatsächlich im Entstehen begriffen war. Familie, die weniger als 5 5oo Dollar im Jahr hat, kann beitreten.
George hatte sich deshalb entschieden, »aggressive und aufsässige Und ich glaube, sie werden beitreten. Wir wollen alle armen Leute
Taktiken, zumindest in der gegenwärtigen Situation, zurückzustel- erreichen; wir müssen wachsen. ...« (Martin, 129) Ein Jahr später
len und alle Kraft auf den Aufbau einer Organisation beitragszah- wiederholte er diese Gedanken in seiner Eröffnungsrede auf dem
lender Mitglieder« zu konzentrieren (Steiner, z9o).29 Kongreß in Pittsburgh:
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»Unsere politische Stärke ist bisher nicht richtig zur Geltung gekommen. für die Armen wohl sogar in besonderem Maße, denn das hier ist ja
Wir haben für das Ziel eines adäquaten Einkommens für alle Amerikaner— das einzige bißchen Macht, das sie haben — und viel ist es sowieso
ob sie von der Wohlfahrt leben oder nicht — organisiert, aufgebaut und nicht.« (Martin, 32)
demonstriert, und wir tun hiermit kund, daß wir unsere Bemühungen noch
verstärken werden. Wir werden in Zukunft noch mehr Leute in unsere Eine Möglichkeit, diesem Dilemma zu entkommen, bestand darin,
Bewegung integrieren und noch mehr der wirklichen Probleme in diesem Aktivisten ohne die Unterstützung von Vertretern der Empfänger-
Land anpacken, wie das Fehlen einer adäquaten Gesundheitsfürsorge. Wir gruppen die Bildung neuer Gruppen in Angriff nehmen zu lassen,
müssen uns von jetzt ab um Gesundheitsprobleme kümmern, um Erwerbs- um auf dieser Basis Konflikte um Führungspositionen auszutra-
tätige, die keine Sozialfürsorge bekommen, obwohl ihr Einkommen nicht
gen. George bezog sich in demselben Interview auch auf diese
ausreicht, um die Alten und Behinderten — um alle diejenigen, die ihre
Rechte noch nicht kennen.« (Martin, i3o) Möglichkeit:
Die Vertreter der Empfängergruppen und ein großer Teil des Mitar- ,>f hemenschwerpunkte entwickeln sich, weil es Gruppen mit entsprechen-
den Problemen gibt. So entwickelte sich die Diskussion über Fürsorgepro-
beiterstabes nahmen die Satzungsänderungen und die neuen Töne, bleme, weil es Fürsorgeempfänger gibt. Wir werden Kategorien wie die
die jetzt angeschlagen wurden, zwar ohne Widerstand hin — so- Älteren und Erwerbstätige mit niedrigem Einkommen organisieren und in
viel ist richtig —, machten aber keine Anstalten, nach ihnen zu die Bewegung bringen müssen, damit sie Anforderungen an die Organisa-
handeln. Es bedurfte keines besonderen Scharfsinns, um vorher- tion stellen, so wie die ADC-Mütter es heute tun. Wir müssen das wirklich
zusehen, daß eine diversifizierte Mitgliedschaft unweigerlich zu selbst fördern. Unsere Mitarbeiter müssen Gruppen wie die erwerbstätigen
Führungskämpfen führen würde. Bezieher anderer Empfänger- Armen ohne große Hilfe von den Müttern organisieren und sie dann in die
kategorien unterscheiden sich zum Beispiel im Alter oder durch NWRO hineinbringen, damit sie die Mütter herausfordern. Durch einen
das Geschlecht von AFDC-Empfängern, und ihr Interesse galt solchen Angriff wird man dann zu irgendeiner Art von Regelung kom-
anderen Problemen aus verschiedenen Fürsorgeprogrammen. men.« (Martin, 132)
Wären sie in die Organisation integriert worden, hätten sie sicher- Doch George ergriff damals keine so drastischen Maßnahmen, son-
lich auf die Ernennung von Funktionären gedrungen, deren dern beschränkte sich darauf, seine Beziehungen zu anderen Orga-
Merkmale und Interessen den ihren ähnlich waren. Rekrutierungs- nisationen zu pflegen. 1972 unternahm er dann einen Versuch,
kampagnen unter diesen Gruppen hätten zwar durchaus zu diese Beziehungen zu nutzen, indem er einen »Kindermarsch ums
einer Erweiterung und Diversifizierung der Mitgliederbasis Überleben« (»Children's March for Survival«) ankündigte. Daran
geführt, doch die bloße Existenz einer ausgeprägten, formellen sollte sich eine breite Koalition von Gruppen, die sich Problemen
Führungsstruktur 'schlossen diese Möglichkeit von vornherein aus. von Kindern widmeten, beteiligen und in Washington als Lobby
Folglich trafen Vorschläge für neue Rekrutierungskampagnen auf auftreten, wie aus dem Aufruf zur Unterstützung des Marsches her-
allen Ebenen der Organisation auf Widerstand; ein Umstand, auf vorging:
den George während eines Interviews im Jahre 1970 zu sprechen
kam: »Kinder leiden unter Armut, und aufgrund der Armut leiden sie an Hun-
ger. Kinder leiden unter Rassismus. Kinder leiden durch Krieg, durch die
»Wir versuchen, auch über den Bereich der ADC[ ,Aid to Dependent Child- Ausbeutung der Umwelt, unter schlechten Schulen und Gesundheits-
renl-Empfängerinnen hinaus tätig zu werden, aber bisher ohne viel Erfolg. schäden. Wir kommen zusammen, um Politik und Programme der Nixon-
... Die ADC-Mütter sind — und das ist ja auch ganz natürlich — an ADC- Administration und des Kongresses, die zur Verewigung dieser Zustände,
Problemen interessiert, und sie kontrollieren die Organisation im Moment. ja selbst auf vielfache Art zu ihrer Verschlechterung beitragen, zu ver-
Sie werden keine ernsthaften Anstrengungen unternehmen, um Erwerbstä- urteilen.
tige mit niedrigem Einkommen zu organisieren. Das läge ja nicht in ihrem Wir verurteilen:
unmittelbaren Interesse, obwohl es sicherlich ihr langfristiges Interesse —das Veto gegen das >Child Care,Gesetz
wäre. Kein Mensch, und das gilt für die Armen genauso, gibt freiwillig —Kürzungen und Einschränkungen der Lebensmittelspeisungen für Kin-
Macht auf, die er sich erarbeitet hat und über die er noch verfügt. Das gilt der

344 345
—Verzögerungen in den Gesundheits-, Wohnungs- und Ausbildungspro- auch die aktive Teilhabe am Leben der Organisation — zum
grammen Beispiel an Demonstrationen. Offensichtlich dient Massenparti-
—und vor allem: den sogenannten Tamiliy Assistance Plan<, der an die zipation als funktionales Äquivalent der politischen Ressourcen
Stelle einer echten Wohlfahrtsreform treten soll.
(wie Reichtum), über die Interessengruppen von höherem sozia-
Wir rufen heute zu einem Kindermarsch ums Überleben auf, um die Auf-
merksamkeit der Öffentlichkeit auf die Probleme der Kinder zu lenken und
len Status verfügen. Wie »organizers« es manchmal formulieren:
einen Aktionsplan zur Rettung der Kinder unseres Landes einzuleiten.« kleine Leute haben große Zahlen. Kurz gesagt, Mitgliedschaft
bedeutet die regelmäßige Partizipation einer großen Zahl von
Der Marsch fand am 25. März statt; ungefähr 4o 000 Personen ver- Menschen.
sammelten sich am Washington-Monument. Die Zusammenset- Die Geschichte der NWRO zeigt jedoch, daß Mitgliedschaft im
zung der Teilnehmer an dem Marsch spiegelte die inneren Ausein- Laufe der Zeit kaum mehr bedeutete als formelle Zugehörigkeit
andersetzungen der NWRO wider. Rund So°/0 der Demonstranten durch Zahlung von Beiträgen; am Ende wurde nicht einmal mehr
waren Kinder aus den Schulen in Washington. Sie waren von mili- viel Gewicht auf die Aufrechterhaltung des Beitragssystems gelegt.
tanten schwarzen Mitgliedern der Schulbehörde von Washington, Was allein noch zählte, war, ein Amt zu gewinnen und zu bekleiden.
die auf der Woge der Gettounruhen der späten sechziger Jahre ins Ein Beispiel kann diesen Punkt verdeutlichen: Im Sommer 197o
Amt getragen worden waren, zur Teilnahme ermuntert worden. unternahm der Leiter einer Empfängergruppe aus New York, der
Weitere to% der Kinder kamen von Kindertagesstätten aus umlie- damals auch in der nationalen Organisation ein Amt bekleidete,
genden Bundesstaaten und waren mit Bussen nach Washington eine »Schulbekleidungskampagne«. Es war in jeder Hinsicht eine
gebracht worden. Der Rest waren Sympathisanten aus der Mittel- traurige Angelegenheit. Das New Yorker Koordinierungskomitee
schicht, die in Gruppen mitarbeiteten, die sich mit Hunger und der »welfare rights«-Gruppen war schon seit einiger Zeit nichts als
anderen Problemen von Kindern sowie mit Friedensfragen befaß- eine leere Hülle und bestand im wesentlichen nur noch aus einem
ten. Es ist sehr zweifelhaft, ob Kinder von Fürsorgeempfängern Exekutivkomitee, das sich aus Vertretern einzelner Empfänger-
auch nur i')/0 der Menge ausmachten. DieVertreter der Empfänger- gruppen aus den verschiedenen Stadtteilen zusammensetzte. Diese
gruppen sahen, mit anderen Worten, diese Demonstration nicht als Funktionäre klammerten sich nur noch verbissen an die Positio-
ihre eigene an; das gleiche galt für einenTeil des Organisationsstabs nen, in die sie einst gewählt worden waren, obwohl die meisten der
—somit erhielt die Demonstration von den noch funktionstüchti- Gruppenmitglieder, die ihnen ursprünglich ihre Ämter übertragen
gen WROs nur geringe Unterstützung. hatten, längst nicht mehr mitarbeiteten. Das Komitee trat in unre-
Letztlich mußte George seine Absicht, die Mitgliedsbasis durch gelmäßigen Abständen zusammen, und die Sitzungen bestanden
Diversifizierung zu erweitern, aufgeben, nachdem er zu dem meist aus endlosem Streit um die Verteilung der wenigen Mittel, die
Schluß gekommen war, daß der Kampf nicht zu gewinnen war, die Organisation noch auftreiben konnte.
ohne die NWRO selbst in Fraktionskämpfen aufzureiben. Statt Im Herbst 197o wurde in New York über die nur noch dürftige
dessen zog er sich im Dezember 1972 offiziell aus der NWRO Infrastruktur der Bewegung die Information verbreitet, Fürsorge-
zurück und kündigte mit seinem langjährigen Mitarbeiter Bert bedürftige könnten aus Mitteln, die der Schulbehörde über den
DeLeeuw die Gründung einer Organisation mit dem Namen »Elementary and Secondary Education Act« von 1965 zur Verfü-
»Movement for Economic Justice« an, die eine Vielzahl verschiede- gung stünden, Sonderzulagen für Schulkleidung erhalten. Etwa
ner Gruppen umfassen sollte. Sein Rücktritt war eine direkte Folge 000 Personen unterschrieben die Antragsformulare, nachdem sie
des Konfliktes mit der etablierten NWRO-Führung.' zuvor der NWRO hatten beitreten und ihren Jahresbeitrag von
Allerdings hatte Anfang der siebziger Jahre das Konzept der Mit- einem Dollar entrichten müssen. Danach wurden jedoch kaum
gliedschaft selbst einen Bedeutungswandel durchgemacht. Für Anstrengungen unternommen, diese Tausende von Menschen in
»organizers« bedeutet Mitgliedschaft mehr als nur die formel- die wenigen übriggebliebenen Empfängergruppen zu integrieren
le Zugehörigkeit durch Zahlung von Beiträgen. Sie beinhaltet oder neue Gruppen aufzubauen. Der genannte Funktionär aber,
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der die Kampagne eingeleitet hatte, konnte auf die 14 wo Beitritts- Doch dieser anschwellende Zustrom von Ressourcen führte nicht
erklärungen verweisen, und aufgrund dieses enormen Mitglieder- zur Organisierung immer größerer Menschenmengen, er untermi-
zuwachses beim nächsten Bundeskongreß der NWRO im Sommer nierte sie sogar. Im Zuge ihrer allmählichen Verstrickung in ein
1971 in der Führungshierarchie weiter aufsteigen, da die bei der Netz von Beziehungen zu Regierungsvertretern und privaten Inter-
Wahl von Funktionsträgern der Bundesorganisation abgegebenen essengruppen wurde die NWRO von einer Protestorganisation in
Stimmen entsprechend der Zahl beitragzahlender Mitglieder in den eine Verhandlungs- und Lobby-Organisation verwandelt. Die
jeweiligen Bundesstaaten gewichtet wurden. Dies war nur ein Bei- Transformation war total: sie vollzog sich auf nationaler wie lokaler
spiel dafür, in welchem Maße das Ziel der Massenmitgliedschaft Ebene und brachte letztlich eine Führung hervor, die mit viel Ein-
dem Machtstreben von Individuen untergeordnet worden war. Auf satz Verhandlungen führte und in den Parlamenten für die Sache
diese Art also beschränkte die Vermehrung der Führungsstruktur der Armen warb; die Armen selbst aber hatten damit nichts mehr
die Expansion der Mitgliedschaft. Oder einfach gesagt: die Organi- zu tun.
sation verhinderte die Organisierung.
Quellen und Formen der Unterstützung

Die Auswirkungen externer Anreize Die NWRO verdankte den Erfolg, mit dem sie Beziehungen zu
einer Vielzahl verschiedener Gruppen anknüpfte, hauptsächlich
Gegen Ende der sechziger Jahre war endgültig klar, daß die zwei Faktoren. Der wichtigere war die schwarze Protestbewegung
NWRO in ernsten Schwierigkeiten steckte. Großangelegte Fürsor- als ganze und die Zugeständnisse, die ihr gewährt wurden. Die
gekampagnen brachen in sich zusammen; Führungsstrukturen NWRO konnte sich diesen Umstand leicht zunutze machen. Sie
machten eine Expansion der Mitgliedschaft unmöglich. So war der war eine nationale Organisation, an deren Bundeskongressen eine
nationale Mitarbeiterstab weitgehend paralysiert: keiner wußte, Vielzahl von Delegierten lokaler Gruppen teilnahmen, so daß sich
was zu tun war, um die Bewegung wieder in Schwung zu bringen. die NWRO als Vertreter der Fürsorgebedürftigen präsentieren
Der einzige Plan, der noch Aussichten bot, war die Ausdehnung konnte. Zudem war die überwältigende Mehrheit der NWRO-
der Organisation auf andere Gruppen wie bedürftige Erwerbstä- Mitglieder schwarz; dies trug dazu bei, daß die NWRO als eine
tige und Ältere, doch schilderten wir bereits, mit welcher Intensität Ausdrucksform der schwarzen Bewegung identifiziert wurde, und
sich die etablierte Führung gegen diesen Kurs stemmte. Die erleichterte es ihren Vertretern, dieselben Leute um Hilfe anzuge-
NWRO war im Grunde genommen bereits erlahmt.' hen, die die schwarze Protestbewegung unterstützten.'
Dennoch expandierte der Organisationsapparat der NWRO zwi- Die wachsende Unterstützung für die NWRO wurde ferner
schen 3969 und 1972 weiter. Der Bundesetat wuchs, der zentrale durch das Auftauchen einer sich gegen Ende der sechziger Jahre
Mitarbeiterstab wurde vergrößert, und die nationale Reputation abzeichnenden »Wohlfahrtskrise« gefördert. Das Entgegenkom-
der NWRO nahm zu. Ermöglicht wurde diese Entwicklung durch men der Regierung gegenüber der schwarzen Protestbewegung
eine Welle der Unterstützung von außerhalb der Organisation. drückte sich u. a. in der Bereitschaft aus, die Sozialfürsorge auf
Innerhalb von einem oder zwei Jahren nach Gründung der NWRO immer mehr Menschen auszudehnen, was vor allem nach 1965 der
im Jahre 1967 begannen verschiedene Gruppen — Geistliche, Politi- Fall war. In unseren Begriffen bedeutete das, daß sich die Scheu vor
ker, Wohltätigkeitsorganisationen, Gewerkschaften, Bürgerrechts- der öffentlichen Wohlfahrt, zum Teil infolge der Aktivitäten des
gruppen, Stiftungen, Vertreter der Medien — entweder von sich aus, Anti-Armutsprogramms, zunehmend abbaute. In Zehntausenden
Beziehungen zur NWRO aufzunehmen, oder auf Kontaktange- von Broschüren wurden die Bedürftigen über ihre Rechte infor-
bote zu reagieren. Auf diese Weise kam die Organisation in den miert; Tausende von VISTA-Freiwilligen und Mitarbeiter anderer
Besitz der notwendigen organisatorischen Ressourcen: zu öffentli- Anti-Armutsprojekte unterstützten die Leute bei der Antragstel-
cher Anerkennung, Geld und offensichtlichem Einfluß. lung. Dutzende von Anwälten aus den Rechtshilfebüros setzten die
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Ansprüche der Bedürftigen vor Gericht durch. Es ist durchaus können. (Nachdem der Kongreß das Einfrieren der AFDC-Zu-
anzunehmen, daß Familien, deren Anträge auf Sozialfürsorge schüsse beschlossen hatte, protestierten die Fürsorgebehörden von
erfolgreich waren, andere dazu ermutigten, es ebenfalls zu versu- Ländern und Gemeinden jedoch heftig gegen die Regelung, was
chen. Allein die Dichte der fürsorgebedürftigen Bevölkerung, die dazu führte, daß die Johnson-Administration das Datum des In-
sich zu diesem Zeitpunkt in den Städten herausgebildet hatte, legt krafttretens verschob. Das gleiche tat anschließend auch die
die Wahrscheinlichkeit eines solchen kumulativen Effekts nahe. Nixon-Administration — bis die Maßnahme in Vergessenheit gera-
Eine Ende 1966 durchgeführte Untersuchung über Familien aus ten war.)
zehn innerstädtischen Slumgebieten zeigte, daß fast die Hälfte — Zur gleichen Zeit wurden noch mehrere umfassendere Vor-
47% — der befragten Familien ein Einkommen aus Fürsorgemitteln schläge, wie der Fürsorgekrise beizukommen sei, vorgebracht. In
und anderen Quellen bezogen, die nicht an ein Beschäftigungsver- seiner Botschaft zur Wirtschaftslage vom Januar 1967 versprach
hältnis gebunden waren.' Ein Bericht der »Urban Coalition« aus Präsident Johnson, eine »Commission on Income Maintenance
dem Jahre 1969 faßte den Sachverhalt in folgende Worte: »Das Programs« einzurichten (was er später auch tat. In ihrem Abschluß-
Wohlfahrtssystem bleibt in den Slums und Gettos auch weiterhin bericht vom Herbst t969 forderte die Kommission ein garantiertes
die Industrie mit den größten Zuwachsraten. ...« Mindesteinkommen von 2400 Dollar im Jahr für eine vierköpfige
Gegen Ende des Jahres 1967 verabschiedete der Kongreß eine Familie). Im März 1967 lud Gouverneur Rockefeller anläßlich des
Reihe von Zusätzen zum »Social Security Act«, die den Anstieg der hundertjährigen Bestehens der Wohlfahrtsbehörde des Staates
Empfängerzahlen abbremsen sollten. Die Bundesstaaten wurden New York die Spitzen der Privatwirtschaft zu einer Konferenz im
darin verpflichtet, für die als beschäftigungsfähig geltenden Fürsor- Arden House, um über eine mögliche Lösung der Fürsorgekrise zu
geempfänger Fortbildungs- und Umschulungsprogramme einzu- beraten. DieTeilnehmer diskutierten verschiedene Einkommensre-
richten. Die Teilnahme an diesen Programmen wurde zur Vor- formen — wie Kindergeld, die bundesweite Vereinheitlichung der
aussetzung für die weitere Beziehung von Beihilfen gemacht. AFDC-Leistungen und eine negative Einkommenssteuer — und
(Die lokalen Fürsorgeverwaltungen führten diese neuen Maßnah- fanden Vorteile in allen.
men jedoch nicht durch; sie hatten Angst vor den politischen Auch in akademisch ausgebildeten Berufsgruppen wurden Forde-
Auswirkungen, die jeglicher Versuch, Müttern und Kindern in rungen nach einer Reform des Einkommenssystems immer lauter
größerem Umfang die Unterstützung zu streichen, in den Gettos und mit größerem Nachdruck vorgetragen. Als der Kongreß 1967
gehabt hätte.) Um sicherzustellen, daß die einzelnen Bundesstaa- eine Reihe von restriktiven Maßnahmen diskutierte und teilweise
ten auch tatsächlich äußerste Anstrengungen zur Senkung der verabschiedete, finanzierte das »Office of Economic Opportunity«
Wohlfahrtsausgaben unternehmen würden, verfügte der Kongreß (0E0: eine 1964 gegründete, dem Präsidenten unterstehende
außerdem die »Einfrierung« der AFDC-Zuschüsse aus dem Bun- Behörde, die zur Unterstützung der Minderheiten, insbesondere
deshaushalt. Die neue Regelung sah vor, daß für jeden Bundesstaat der Schwarzen, geschaffen wurde — d.11) die experimentelle
das Verhältnis zwischen der Zahl von AFDC-unterstützten Kin- Erprobung der negativen Einkommenssteuer unter einer repräsen-
dern zur Gesamtzahl der Kinder vom Januar 1967 zur Berech- tativen Auswahl von Bedürftigen in New Jersey, und nur wenige
nungsgrundlage des Bundeszuschusses gemacht werden sollte. Ein Monate später stellte der »Social and Rehabilitation Service« des
Bundesstaat mit einem wachsenden Anteil von Kindern in be- HEW-Ministeriums Mittel für ähnliche Experimente bereit. Im
dürftigen Familien mit weiblichem Haushaltsvorstand — unabhän- Frühjahr 1968 unterzeichneten rund zoo prominente Ökonomen
gig von den jeweiligen Ursachen — würde, mit anderen Worten, einen Aufruf an den Kongreß, »noch in diesem Jahr ein bundeswei-
in der Zukunft gezwungen sein, entweder neue Anträge abzuleh- tes System von Einkommensgarantien und Beihilfen zu schaffen«.
nen, die Leistungen einzuschränken und dieselbe Menge Geld auf Auch der Bericht der offiziellen Untersuchungskommission zu den
eine größere Zahl von Fällen zu verteilen oder aber neue Einnahme- Gettounruhen (»National Advisory Commission on Civil Disor-
quellen zu erschließen, um die wachsenden Kosten tragen zu ders«), der im März 1968 erschien, verlangte nach einem »Nationa-

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len System der Einkommensergänzung«, das allen fürsorgebedürf- der Regierung, für den Lebensunterhalt der Armen zu sorgen.
tigen Familien ebenso wie allen Erwerbstätigen mit Einkommen Diese veränderte politische Einstellung schloß zunehmend die
unterhalb der Armutsgrenze ein Mindesteinkommen garantieren Auffassung ein, daß Menschen ein »Recht« auf Sozialfürsorge
sollte. besitzen. In dem Maße, wie die NWRO in der Öffentlichkeit als
Zudem wurde die Einkommensgarantie 1968 zum Thema im Prä- führende Verfechterin dieses Rechtes angesehen wurde, wurde sie
sidentschaftswahlkampf. Im Wahlprogramm der Demokraten hieß von diesen Gruppen zunehmend unterstützt. Zu ihnen gehörten
es: »In letzter Zeit sind eine Reihe von neuen Vorschlägen vorgelegt kleinere Stiftungen, die die Bürgerrechtsbewegung seit jeher unter-
worden, die auf die Erhöhung der Einkommen der erwerbstätigen stützten; verschiedene Kirchenführer; Sozialarbeiter und Pädago-
Armen abzielen. Die gründliche Einschätzung der jeweiligen Vor- gen; führende Vertreter der Bürgerrechtsbewegung; Politiker, die
teile solcher Maßnahmenkataloge verdient die höchste Aufmerk- sich dem »Kampf gegen den Hunger« verschrieben hatten; und
samkeit der nächsten Regierung. Dies verpflichten wir uns zu tun.« eine kleine Gruppe reicher Individuen.
Eugene McCarthy argumentierte im Verlauf des Vorwahlkampfes, Doch wenn man feststellt, daß der Kampf um die Rechte der Für-
die Bundesregierung habe die Verpflichtung, »ein Mindesteinkom- sorgebedürftigen einige Legitimität genoß, heißt das noch nicht,
men fest(zu)setzen, das sie allen Amerikanern garantieren« müsse. daß er besonders viel davon genoß. Das Recht auf Wohlfahrt wurde
Und nurTage vor seiner Wahl sprach sich Richard Nixon unter Ver- nie zu einer besonders ehrenwerten Angelegenheit. Von wenigen
weis auf die erheblichen Unterschiede in den Wohlfahrtsleistsun- Ausnahmen abgesehen, nahmen mächtige und angesehene Persön-
gen der einzelnen Bundesstaaten, die offensichtlich die Abwande- lichkeiten — weiße wie schwarze — weder an Demonstrationen teil
rung aus dem Süden in den Norden förderten, für die Schaffung (wie sie es bei den Bürgerrechtsdemonstrationen im Süden getan
eines »nationalen Standards« aus. Kurzum: die wachsende Zahl der hatten), noch spendeten sie Geld zur Finanzierung der politischen
Wohlfahrtsempfänger brachte die Reform der Sozialfürsorge Arbeit, noch setzten sie ihren Einfluß ein, um dem Recht auf Wohl-
unweigerlich auf die politische Tagesordnung. fahrt zum Durchbruch zu verhelfen. Es blieb eine Bewegung der
Die NWRO konnte sich diese Entwicklung zunutze machen, Bedürftigen, einer Klasse von Parias. Die Bürgerrechtsbewegung
weil viele Menschen — von Journalisten bis zu Politikern — zu dem war von vielen Seiten als eine Kraft gepriesen worden, die US-ame-
falschen Schluß gekommen waren, »die NWRO [sei] größtenteils rikanische Traditionen und Wertvorstellungen gestärkt und die
für das Anwachsen der Zahl der Wohlfahrtsempfänger [von weni- höchsten demokratischen Ideale gefördert habe; die Bewegung der
ger als einer Million Familien auf über drei Millionen] innerhalb Wohlfahrtsempfänger wurde dagegen von vielen Seiten als eine
von sechs Jahren und für die Vervierfachung der Ausgaben für die Kraft denunziert, die den amerikanischen Charakter schwäche und
Unterstützung von Familien mit abhängigen Kindern verantwort- das hochgehaltene Ideal der Eigenverantwortlichkeit unterminiere.
lich. Ihre Freunde ebenso wie ihre Feinde schrieben der NWRO Die bestenfalls dürftige Legitimität, die sie tatsächlich genoß, war
eine bedeutende Rolle bei dieser Explosion der Wohlfahrtsausga- weniger auf eine Anerkennung der Ungerechtigkeiten des ökono-
ben zu.« (Meier und Rudwick, x) Folglich erhielt die NWRO aus mischen Systems oder der Fürsorgepraxis zurückzuführen, als viel-
drei verschiedenen Quellen Unterstützung. mehr auf die verbreitete Sympathie, die »der schwarzen Sache«
Erstens wurde dem Kampf um die Rechte der Wohlfahrtsempfän- ganz allgemein seit den sechziger Jahren in der amerikanischen
ger selbst Legitimität verliehen. Das Aufkommen einer schwarzen Gesellschaft entgegenschlug. Wie dem auch sei, als die Krise des
Protestbewegung (vor allem die schweren Rassenunruhen) im Nor- Fürsorgesystems sich verschärfte, erfuhr die NWRO ein gewisses
den hatte dazu beigetragen, daß sich die Aufmerksamkeit auf die Maß an Anerkennung, und das war wichtig, um die Organisation
ökonomische Notlage der schwarzen Massen richtete. Unter den zumindest für eine kurze Zeit am Leben zu erhalten.'
gegebenen Umständen — bei fortdauernder schwarzer Arbeitslosig- Die zweite Form der Unterstützung war finanzieller Art. In dieser
keit und Unterbeschäftigung—kamen eine Reihe von einigermaßen späten Periode begannen Bürgerrechtsgruppen, kirchliche Institu-
einflußreichen Interessengruppen zu dem Schluß, es sei Aufgabe tionen'', Wohltätigkeitsorganisationen und eine Reihe von Stif tun-
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gen, der NWRO größere Spenden zukommen zu lassen. Während »Wenn die Regierung die Unterstützung und Basisarbeit der Organisation
der Wohlfahrtsempfänger für eine halbe Million Dollar kaufen kann, dann
der ersten beiden Jahre ihres Bestehens hatte die NWRO nur mit
ist das ein großartiges Geschäft. Wenn Wiley seine Organisation mit einem
Mühe die Mittel zur Fortführung ihrer Arbeit auftreiben können: großen Batzen Geld aus dem Bundeshaushalt am Leben erhalten kann,
die Defizite waren fünfstellig geworden, die festangestellten Mitar- dann wird es ihm möglich sein, noch weitere Kämpfe auszufechten. ... Es
beiter in der Bundeshauptstadt mußten zum Teil monatelang auf gibt keinen Grund, warum Wiley das Gold der Bundesregierung zurückge-
ihre Gehälter warten. Doch 1968 begannen die Spenden zu fließen, wiesen haben sollte. Die Behauptung der Ortsgruppe in Philadelphia, das
und 1969 betrug das Budget der Organisation dann über 2 so 000 Abkommen bedeute den Ausverkauf an das Establishment, appelliert mehr
Dollar. Diese Gelder ermöglichten häufige regionale und bundes- an Emotionen als an den Verstand ... Das Geld bedeutet für [Wiley] mehr
weite Treffen von Vertretern der Empfängergruppen und anderen als für das Arbeitsministerium, und die Anerkennung der NWRO auf
Aktivisten, sowie eine erhebliche Ausweitung der festangestellten höchster Ebene erleichtert die politische Arbeit.« (294)
Mitarbeiter. Der dritte Faktor, der der NWRO den Rücken stärkte, war der
Wir sollten hinzufügen, daß ein Teil des Geldes direkt von der politische Status, den verschiedene Gruppen ihr verschafften: der
Regierung kam. Der größte finanzielle Beitrag wurde durch die Anschein, konventionellen politischen Einfluß zu besitzen. Als
Verabschiedung der Zusätze zum »Social Security' Act« im Jahre sich die Krise der Sozialfürsorge zuspitzte, kamen Organisationen
1967 ermöglicht. Diese Bestimmungen legten den Bundesstaa- der unterschiedlichsten Art auf die NWRO zu, was dazu führte,
ten Berufsausbildungs- und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für daß die NWRO-Führung sich in ihrer Zuversicht bestärkt sah,
AFDC-Empfängerinnen auf, in der Hoffnung, damit die Fürsorge- Konzessionen für die Fürsorgebedürftigen mit Hilfe von Lobby-
kosten senken zu können. Da der Kongreß denVerdacht hegte, daß Aktivitäten erzielen zu können. Es gab in der Tat Hinweise für die
HEW dieses Programm nicht mit dem Eifer realisieren würde, den Richtigkeit dieser Annahme. Die Fürsorgekrise führte zu einer
die Abgeordneten sich erhofften, wurde die Aufgabe dem Arbeits- erheblichen Zunahme von Hearings, Diskussionsrunden und Kon-
ministerium übertragen. Dieses befürchtete wiederum, daß in den ferenzen über Probleme öffentlicher Unterstützung. Einige dieser
Gettos erheblicher Aufruhr entstehen könnte, wenn Arbeitsämter Veranstaltungen wurden von privaten Gruppen durchgeführt,
der Einzelstaaten damit begannen, Frauen von der Sozialfürsorge andere von Politikern und anderen Persönlichkeiten des öffentli-
auszuschließen und in großer Zahl auf den Arbeitsmarkt zu zwin- chen Lebens, doch alle befaßten sich mit der Notwendigkeit einer
gen. Als die NWRO vorschlug, daß es selbst dazu bevollmächtigt Reform des Fürsorgesystems. Jedes der Treffen bot auch eine Gele-
werde, einen Stab von Leuten einzustellen, um die lokalen Arbeits- genheit, den Standpunkt der Wohlfahrtsempfänger darzulegen.
vermittlungsprogramme zu überwachen, stimmte das Arbeitsmini- Obwohl die NWRO häufig Versammlungen sprengte, zu denen sie
sterium bereitwillig zu, bot der Vorschlag doch die Möglichkeit, nicht förmlich eingeladen worden war, erhielt die Führung in den
die freiwillige Teilnahme der Fürsorgeempfängerinnen sicherzu- späten sechziger Jahren doch in zunehmendem Maße förmliche
stellen. In der Öffentlichkeit rechtfertigte die NWRO-Führung Einladungen zur Teilnahme an Veranstaltungen. Stadtpolitiker
das Arrangement als einen Weg, um sicherzustellen, daß die Rechte mußten sich zwar häufig gegen zornige Steuerzahler wehren,
der AFDC-Frauen respektiert würden, privat jedoch betrachtete bemühten sich aber dennoch, auch der NWRO Gehör zu schen-
sie es als eine Möglichkeit, ihren festen Mitarbeiterstab erheblich ken, da sie vor dem Problem standen, die öffentliche Ordnung in
auszudehnen. Ein vergrößerter Stab, so meinte sie, würde — ob- den Städten wiederherstellen zu müssen. Folglich nahmen sie auch
wohl an Bundesbehörden gebunden — das Wachstum der lokalen mit den Fürsorgeempfängergruppen Kontakt auf und bemühten
Gruppen unterstützen und stimulieren. Und so akzeptierte man sich um einen Dialog. In der Tat wurden Vertreter der Empfänger-
einen finanziellen Beitrag von über 400 000 Dollar von der aus dem gruppen jetzt sogar zu internationalen Konferenzen eingeladen:
Amt scheidenden Johnson-Administration. Robert Michels hätte
Gilbert Steiners Verteidigung dieses Arrangements sicher recht »Sprecher der Organisation sind als Teilnehmer von Konferenzen und Mee-
naiv gefunden: tings so gefragt, daß die Termine manchmal sogar miteinander in Konflikt

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geraten. Mrs. Tillmon, die Bundesvorsitzende, konnte zum Beispiel nicht Ebene beschreiben, denn beide wurden durch externe Anreize in
zur Bundeskonferenz der NWRO von 1968 in Lake Forest (Illinois) ihrer politischen Ausrichtung auf unterschiedliche Weise beein-
erscheinen, weil sie als Delegierte der Armen an der 'International Confe- flußt.
rence of Social Welfare< in Helsinki, die zur selben Zeit zusammentrat, teil-
nahm. In einer >Mitteilung an alle angeschlossenen Gruppen< die bürokra-
Die Wirkung externer Anreize auf die nationale Organisation
tisch genug klang, um für eine Verlautbarung des HEW-Ministeriums
gehalten zu werden, delegierte Mrs. Tillmon ihre Autorität und ernannte die
Diskussions- und Arbeitsgruppenleiter der Konferenz.« (Steiner, 289) Unter dem Einfluß ihrer Beziehungen mit Politikern und einfluß-
reichen Interessengruppen veränderte sich die NWRO rasch. Ver-
Die Teilnahme an solchen internationalen Konferenzen wurde der suche zur Beeinflussung von Behördenleitern, Abgeordneten, Politi-
Mitgliedschaft gegenüber sogar damit begründet, eine »neue inter- kern und privaten Gruppen überdeckten schon bald die Aktivitäten
nationale >welfare rights<-Organisation« sei in der Diskussion: auf allen anderen Gebieten. Im Grunde genommen wurde die
»Ich bin dreimal im Ausland gewesen [um an Friedenskonferenzen teilzu- NWRO zu einer reinen Lobby-Organisation.
nehmen]: 1967 in Paris, 1968 in Stockholm und 197o in Bogota. Ich bin Das Gewicht, das auf Lobby-Aktivitäten gelegt wurde, nahm stu-
gerade aus Bogota zurückgekehrt. ... Diese Veranstaltungen, an denen ich fenweise zu. Zunächst betrat die NWRO die parlamentarische
teilnehme, sind wichtig, und sie sind wichtig für die NWRO —für Euch, für Bühne in Bund und Einzelstaaten; danach begann sie, aus einer
alle von Euch, nicht für mich. In Bogota wurde darüber gesprochen, eine Reihe nationaler Organisationen, die zur Wohlfahrtsreform ähnli-
neue, internationale >welfare rights,Organisation zu gründen. Das würde che Auffassungen vertraten, eine »Wohlfahrts-Koalition« zusam-
bedeuten, daß die NWRO in allen möglichen verschiedenen Ländern ver- menzufügen; und schließlich betrat sie die Bühne Demokratischer
treten wäre und eine Menge mehr Macht hätte. Das sind die Dinge, die ich
tue; ich arbeite für Euch und versuche, aus Eurer Organisation etwas zu
Parteipolitik. Dieser Prozeß setzte 1967 ein, als die NWRO sich
machen.« (Martin, io9) gegen veränderte Fürsorgebestimmungen, mit denen sich der Kon-
greß damals befaßte, aussprach. Im September wurde eine kleinere
Oberflächlich deuteten diese Anzeichen weltweiter Anerkennung Demonstration in Washington abgehalten, während führende Spre-
darauf hin, daß sich die NWRO zu einer politischen Kraft gemau- cher der NWRO vor dem Kongreß Stellung bezogen und im Sit-
sert hatte. Gilbert Steiner zum Beispiel interpretierte die Zeichen zungsraum eines Kongreßausschusses ein sit-in veranstalteten (das
so: erste in der Geschichte, wird behauptet). Dies war die in der Presse
»Man kann objektiv feststellen, daß die Organisation der Wohlfahrtsklien- vielbeachtete Aktion, in deren Verlauf der Demokratische Abge-
ten ihre theoretischen und praktischen Probleme bis zu dem Punkt bewäl- ordnete aus Louisiana, Senator Long, der auch Vorsitzender des
tigt hat, daß ihr Direktor jetzt überall bekannt und angesehen ist und vom mächtigen Finanzausschusses des Senats war, AFDC-Empfänge-
Minister für Gesundheit, Bildung und Wohlfahrt konsultiert, von anderen rinnen als »Zuchtstuten« bezeichnete.
hohen Beamten des Ministeriums dagegen abgelehnt wird; ihre Vorsit- Seit dieser Aktion bemühte sich die NWRO um Beziehungen zu
zende, eine einfache AFDC-Empfängerin, sitzt mit Bürokraten, Wissen- einer Reihe verschiedener Organisationen, weil sie hoffte, auf die-
schaftlern und Lobbyisten in ganztägigen Konferenzen, um Veränderungen
sem Wege Unterstützung für ihre Gesetzesvorschläge zu gewin-
des Wohlfahrtssystems zu planen. ...« (z 8 5)
nen. Die »Poor People's Campaign« der SCLC bot im Frühjahr
Die Wahrheit sah allerdings anders aus. Je enger die Verbindung der und Sommer 1968 die Gelegenheit für eine der ersten gemeinsamen
NWRO mit anderen Gruppen wurde, um so konventioneller wur- Aktionen. Die NWRO führte die einleitende Demonstration
den die politischen Ansichten der Mitglieder der Führungsschicht, durch — einen Marsch der Mütter am 12. Mai, dem Muttertag.
um so stärker ging die Militanz der von ihnen propagierten Takti- George Wiley und Coretta King marschierten an der Spitze eines
ken zurück und um so mehr rückte das proklamierte Ziel, die Mit- fünftausendköpfigen Zuges durch die noch immer rußgeschwärz-
gliedschaft auszuweiten, in den Hintergrund. Wir wollen diese ten Ruinen des Stadtteils von Washington, in dem nach der Ermor-
Erscheinungen zunächst auf der Bundes- und dann auf der lokalen dung Martin Luther Kings schwere Unruhen getobt hatten und
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viele Häuser in Flammen aufgegangen waren. Während der folgen- zende der MWRO zog es vor, auf dem Podium, ganz in der Nähe des Red-
nerpultes, von dem aus der Gouverneur sprach, Platz zu nehmen, anstatt
den Monate — bis die »Poor People's Campaign« der SCLC schließ- eine Gruppe ihrer Mitglieder anzuführen, die die Rede stören wollten.«
lich im Sumpf der komplizierten Bundesbürokratien steckenblieb (Bailis, 73)
— koordinierte die NWRO ihrer eigenen Lobby-Aktivitäten mit
denen der SCLC.
Eine weitere Gelegenheit, breitere Unterstützung von außen zu Die Wirkung externer Anreize auf lokale Gruppen
finden, bot sich vor aller Öffentlichkeit im Herbst 1968, als der Prä-
sident eine Konferenz des Weißen Hauses über Hunger und Unter- Die Faktoren, die die politische Auswirkung der nationalen Füh-
ernährung einberief. Die NWRO-Führung präsentierte ihr Anlie- rung bestimmten, wirkten auch auf der lokalen Ebene. Auch die
gen den Konferenzteilnehmern mit so großem Erfolg, daß eine Ortsgruppen erhielten Ressourcen, die ihre Überzeugungen und
Resolution verabschiedet wurde, die — sehr zum Mißfallen des Prä- Taktiken beeinflußten. Der Bewegung nahestehende Individuen
sidenten — die Schaffung eines garantierten Jahreseinkommens für und Organisatonen identifizierten sich öffentlich mit dem Kampf
eine vierköpfige Familie von 5 5oc Dollar forderte. um das Recht auf Wohlfahrt und verliehen ihm so ein gewisses Maß
Die Antikriegs-Bewegung bildete ein logisches Umfeld für den an Legitimität. Lokale Dienststellen des Anti-Armutsprogramms,
Aufbau von Koalitionen. Die NWRO wurde schnell zu einem Kirchengemeinden, private Wohltätigkeitsverbände und andere
maßgeblichen Teil der Bewegung, nicht weil sie in der Lage gewe- Organisationen, einschließlich einiger Gewerkschaften36, stellten
sen wäre, viele Demonstranten für nationale oder lokale Protestver- Versammlungsräume, Personal, Druckmöglichkeiten und Geld zur
anstaltungen auf die Beine zu bringen, sondern weil die Gegenwart Verfü gung .
der NWRO es den Antikriegs-Gruppen erlaubte, Fragen von Die größte integrative Kraft hatten auf der lokalen Ebene aller-
Imperialismus und kriegerischer Intervention mit dem Versagen dings die Verbindungen zum Wohlfahrtssystem selbst. Diese Bezie-
der Regierung im Kampf gegen Armut und Ungerechtigkeit im hung stellte einen entscheidenden Faktor bei der Transformation
eigenen Land zu verknüpfen. Bei den meisten großen Protestkund- derWROs von Protest- in Lobby- und Dienstleistungsorganisatio-
gebungen gegen den Krieg standen auch einer oder mehrere Vertre- nen dar. Die Wohlfahrtsverwaltung bemühte sich um die Protestie-
ter der NWRO auf der Rednerliste; auch einige lokale WROs stell- renden, weil sie hoffte, auf diese Weise wieder geordnete Zustände
ten Delegierte ab. herstellen zu können; Vertreter der Empfängergruppen bemühten
Die Militanz der Bewegung ging, wie zu erwarten war, infolge der sich um die Verwaltung, weil sie hofften, so Reformen durchsetzen
umfangreichen Lobby- und Bündnisaktivitäten zurück. Im Jahre zu können. So kam es, daß sich Wohlfahrtsbeamte, als Gruppen
197o konnten Vertreter der Wohlfahrtsempfänger, die ihre Karriere von Fürsorgeempfängern wiederholt mit Protesten, sit-ins und
einst damit begonnen hatten, daß sie Fürsorgeämter stürmten, Demonstrationen den geregelten Verwaltungsablauf in den Ämtern
dann kaum noch mit ihren Terminkalendern Schritt halten, eilten störten, direkt an die Organisationsvertreter wandten, um einen
sie nur noch von einer Orts-, Länder- oder Bundeskonferenz zur »Dialog« mit ihnen anzuregen; genauso häufig verlangten diese
andern. Berühmte Leute waren aus ihnen geworden, und so benah- selbst den Dialog. Als Resultat wurden überall im Land regelmä-
men sie sich auch. Hier ist ein krasses, doch nicht einmal atypisches ßige Verfahren für Verhandlungen über Klagen und Beschwerden
Beispiel: festgelegt. Viele Wohlfahrtsbehörden nahmen Wohlfahrtsempfän-
ger in Beratergremien, in einigen Fällen sogar in Entscheidungsgre-
»Die >Massachusetts Conference on Social Welfare<, eine private Organisa- mien auf.
tion, die sich der Sozialarbeit widmete, machte es sich zur Gewohnheit, den
Wo Ortsgruppen diesen Arrangements mißtrauisch gegenüber-
Vorsitzenden der MWRO in ihren Vorstand zu berufen. Als der Gouver-
neur von Massachusetts beschloß, in seinem Staat das System der >Pauschal-
standen (zumindest zu Anfang) und deshalb einen gewissen
zulage< einzuführen, wählte er ein Treffen der >Massachusetts Conference Abstand zu den Verwaltungen hielten, bildeten Wohlfahrtsbeamte
on Social Welfare<, um seine Entscheidung bekanntzugeben. Die Vorsit- manchmal unabhängige Empfängerorganisationen, für die sie die

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Führung der WROs zu interessieren suchten. Der ausgeklügeltste b. Ein Münztelefon in der Empfangshalle oder dem Warteraum, das für
Versuch dieser Art wurde in New York City unternommen. Die Antragsteller auf öffentliche Unterstützung und Mitglieder der >Welfare
dortige Wohlfahrtsbehörde richtete eine Abteilung für »Bürgerbe- Rights Organization< bequem zu benutzen und durch ein Hinweisschild
ziehungen« (»Community Relations«) ein und besetzte sie mit deutlich als für diesen Zweck vorgesehen gekennzeichnet ist.
c. Eine vollständige Ausgabe des momentan gültigen Handbuches für
»community-coordinators« oder »community organizers« (die in
öffentliche Unterstützung des Staates Pennsylvania für den speziellen
der Regel junge schwarze oder lateinamerikanische Absolventen Gebrauch durch Antragsteller und Empfänger öffentlicher Unterstützung
von Sozialarbeiterschulen waren). Diese bauten in den Slums, Get- sowie Mitglieder der >Welfare Rights Organization<.
tos und Barrios »Beraterkomitees der Klienten« auf, die einmal im d. Die Mitglieder der >Welfare Rights Organization< des Kreises sind
Monat zusammenkamen, um über Beschwerden und Mißstände zu berechtigt, in angemessener Zahl das Bezirksamt zu betreten, einen Tisch
diskutieren und den Wohlfahrtsverwaltungen Änderungen vorzu- zu besetzen, Schilder auf oder in der Nähe des Tisches aufzustellen, die sie
schlagen. Zudem versuchten sie emsig, die Leiter bestehender identifizieren und die darauf hinweisen, daß sie Antragstellern und Emp-
Empfängergruppen in der Stadt zur Mitarbeit zu bewegen, was fängern für Hilfestellung zur Verfügung stehen; sie sind ferner berechtigt,
ihnen mit der Zeit in einigen Fällen auch gelang. Die folgenden im Empfangs- und Warteraum Flugblätter und Literatur zu verteilen, die
ihre Funktion und Verfügbarkeit darlegen, und jeden Antragsteller und
Bemerkungen eines Mitgliedes eines solchen Beraterkomitees, die
Empfänger, der um Unterstützung für Gespräche mit dem Amtspersonal
in einem monatlich erscheinenden Informationsblatt abgedruckt bittet, zu begleiten.
wurden, werfen ein Licht auf die im Laufe dieses Prozesses erwor- e. Kein Angestellter des Fürsorgeamts wird Gespräche verweigern oder
benen oder verstärkten politischen Einstellungen. verzögern oder auf andere Weise einen Antragsteller oder Empfänger, der
»Ich meine, daß es ganz offensichtlich zwei Möglichkeiten gibt vorzuge- sich von Mitgliedern der >Welfare Rights Organization< begleiten läßt,
hen : entweder man ist kompromißlos fordernd, stellt Ultimaten, gebraucht unterschiedlich behandeln; vielmehr werden alle Angestellten des Fürsor-
Opportunismus und vielleicht Übertreibung, um eine Sache durchzudrük- geamts mit den Mitgliedern der >Welfare Rights Organization< zusammen-
ken, oder man wählt den — zugegeben — langsameren, auf längere Sicht aber arbeiten und sie als Vertreter eines Klienten anerkennen, sofern der Klient
vielleicht effektiveren Weg, sich zusammenzusetzen, offen miteinander zu dies wünscht.«
reden, Fragen zu stellen, zu kritisieren, zu diskutieren, zu lernen, einander
zu vertrauen und aneinander zu glauben und in unsern Herzen die Hoff-
Derartige Vereinbarungen, ob schriftlich fixiert oder nicht, wurden
nung zu hegen, daß wir fair angehört werden — und daß unsere Empfehlun- fast überall getroffen.
gen und Vorschläge, wenn man sie für vernünftig erachtet, auch realisiert Die Entwicklung dieser Beschwerdeverfahren hatte einen erheb-
werden.« lichen Einfluß auf die in den Ortsgruppen vorherrschenden po-
Der Anbruch dieser neuen, von Vertrauen und Kompromiß gepräg- litischen Auffassungen, bestärkte sie doch Funktionäre und Ak-
ten Ära wurde durch Aufsätze in führenden Fachzeitschriften, die tivisten in ihrer Überzeugung, eine einflußreiche und mächtige
die Aufnahme freier und offener Kommunikation zwischen Geber Organisation zu vertreten. Es konnte keineswegs überraschen, daß
und Empfänger priesen, angekündigt. Und genauso wie in den Fürsorgebeamte den Protestierenden, die mit militanten Aktionen
dreißiger Jahren handelte das »Commonwealth of Pennsylvania« den reibungslosen Verwaltungsablauf störten, eine symbolische
auch diesmal wieder ein Modellabkommen mit Wohlfahrts empfän- Funktion im Rahmen des Systems einräumten, war dies doch eine
gern aus. Die Vereinbarung, die aus einem Hearing im Oktober lang erprobte Methode, Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.
1968 hervorging, legte fest: 37 Bemerkenswert war allerdings, mit welcher Leichtigkeit diese
»Der Exekutiv-Direktor einer jeden Kreisbehörde wird die Leiter aller
Methode funktionierte. Nach jedem einzelnen dieser »Erfolge«
Bezirksämter anweisen, auf Anfrage der >Welfare Rights Organization< des klopften sich die gewählten Vertreter der Empfängergruppen auf
Kreises folgendes zur Verfügung zu stellen: die Schultern; immer wenn sie in der Presse von ihrer Aufnahme
a. Sofern vorhanden, Platz in der Empfangshalle oder dem Warteraum in Beraterkomitees lasen, wenn sie schriftliche Einladungen zu
sowie einen Tisch und mehrere Stühle für eine angemessene Zahl von Mit- Verhandlungsrunden erhielten oder aufgefordert wurden, vor par-
gliedern der >Welfare Rights Organization<. lamentarischen Untersuchungsausschüssen zu erscheinen, ver-
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stärkte sich ihre Vision einer neuen Ära der Gerechtigkeit für alle ins, von denen ihre Aktivitäten in der Anfangsphase bestimmt wor-
Fürsorgebedürftigen. Von den Mächtigen angehört zu werden — den waren, fallen. Sogar in ihrer Rhetorik wurden die Gruppen
das vermittelte ihnen das Gefühl, daß sie endlich Einfluß ausüben zunehmend weniger militant. Die enge Beziehung zu mit ihnen
könnten, daß Fortschritte gemacht würden und Reformen vor der »sympathisierenden« und »vernünftigen« Behördenvertretern, die
Tür stünden. »den Problemen der Wohlfahrtsempfänger positiv gegenüberstan-
Eine weitere Folge dieser Vereinbarungen war ein Rückgang der den«, bestärkte eine große Zahl von Funktionären und Aktivisten
Militanz. Wenn Regierungsvertreter sich auf die Zusammenarbeit in ihrem Glauben an die Wirksamkeit von Verhandlung und Über-
mit Empfängergruppen einließen, forderte das seinen Preis. Gele- zeugung. Im Frühjahr 197o zum Beispiel beschloß eine Gruppe
gentlich war dieser Preis so subtil, daß es scheinen wollte, als würde von Funktionären und Aktivisten, die direkte Aktion in New
gar keiner verlangt. Er lag dann vielleicht nur in dem stillschwei- York wieder aufleben zu lassen. Den Anfang machten sie eines Mor-
genden und von den Funktionären nur allzu bereitwillig akzep- gens im überfüllten Warteraum eines Wohlfahrtszentrums in Har-
tierten Einvernehmen, daß der richtige Weg zu einer Reform des lem. Die bekannteste Person in der Gruppe war eine Fürsorge-
Wohlfahrtssystems in Verhandlungen auf Spitzenebene und nicht empfängerin, die eine Position in der Bundesorganisation der
in Protesten eines aufgebrachten Mobs liege. Manchmal lagen die NWRO bekleidete. Als der Amtsleiter von ihrer Anwesenheit
Bedingungen offener zutage und schlossen das Einverständnis ein, erfuhr, bot er ihr an, sie persönlich in der gesamten Dienststelle her-
daß die »welfare rights«-Organisation auf militante Aktionen ver- umzuführen. Daß sie das Angebot annahm und für mehrere Stun-
zichte. Die weiter oben erwähnte Vereinbarung aus Pennsylvania den verschwunden blieb, ist ein Maßstab dafür, wie weitgehend die
ist dafür ein gutes Beispiel. Den Gruppen wurde dort nicht einfach Funktionäre inzwischen durch derartige Gesten kontrolliert wer-
freier Zugang zu Wohlfahrtsämtern und deren Mitarbeitern den konnten.
gewährt; ihnen wurde im Gegenzug die Versicherung abverlangt, Integrative Beziehungen dieser Art untergruben nicht allein die
die normalen Arbeitsabläufe nicht zu stören und das »Recht« der Militanz der Fürsorgeempfänger, sie behinderten außerdem die
Klienten, in Ruhe gelassen zu werden, nicht zu beschneiden: Expansion der Mitgliedschaft und schwächten sogar die Bindun-
»Höflichkeit und Benehmen. Es wird vorgeschlagen, daß Vereinbarungen gen der Mitglieder an die Gruppe. Die ständigen Verhandlungen
mit den »welfare rights,Organisationen eine Verpflichtung auf bestimmte absorbierten Zeit und Energie von Funktionären und Aktivisten. Je
Verhaltensweisen beinhalten, die Angestellten der Fürsorgeämter und Ver- mehr Energien in die formalisierten Verfahren flossen, desto gerin-
tretern der >welfare rights<-Organisationen angemessen sind. Von Organi- ger war der Einsatz für Anwerbung neuer Mitglieder. Darüber hin-
sationsvertretern wird erwartet, daß sie keinerlei Schritte unternehmen, die aus hatten die formellen Beziehungen mit der Behörde den Effekt,
geeignet sind, das Amtspersonal einzuschüchtern, zu belästigen, bloßzu- daß Mitgliedschaft überflüssig wurde. Vor der Etablierung dieser
stellen oder zu bedrohen.... Als Repräsentanten der Klienten genießen sie
Beziehungen war es nicht ungewöhnlich, daß 5o oder wo Fürsor-
gewisse Vorrechte, doch sind diese nicht unbegrenzt.
Anwerbung von Antragstellern und Empfängern. Es ist zweckmäßig, daß
geempfänger in ein Amt stürmten und verlangten, einen Mißstand
die Kreisbehörde Vereinbarungen über die Grenzen treffen, innerhalb derer auf der Stelle aus der Welt zu schaffen. Diese Taktik war häufig
Organisationsverteter an Antragsteller oder Klienten herantreten, sie stö- erfolgreich, und wenn sie erfolgreich war, dann war es die Gruppe
ren oder bedrängen dürfen. gewesen, die ihre Stärke unter Beweis gestellt hatte; jeder war auf
Beilegung von Konflikten. Es wird nahegelegt, daß Behördenleiter und den anderen angewiesen. Doch sobald Beschwerden zum Gegen-
Organisationsvertreter eine Vereinbarung über die unmittelbare Beilegung stand von Verhandlungen zwischen Funktionären und Fürsorgebe-
von Konflikten erzielen, die die Arbeit bis z,u dem Punkt zu stören drohen amten wurden, schienen Gruppenaktionen nicht länger notwendig
oder bereits stören, an dem das Personal nicht sinnvoll weiterarbeiten zu sein, und so verflüchtigte sich das Gruppenbewußtsein. Das
kann.«"
Gefühl, an etwas teilzuhaben, das größer war als sie selbst, das
je weiter die WROs in derartige Abkommen einbezogen wurden, Gefühl, Teil einer Bewegung zu sein, ging langsam verloren.
um so mehr ließen sie Demonstrationen, Protestaktionen und sit- Nun zu einem letzten, aber entscheidenden Punkt. Je weiter die
36 2 36 3
NWRO und ihre Ortsgruppen in den Bannkreis der parlamentari- gleichzeitig war die Protestideologie verworfen und die Effektivi-
schen und bürokratischen Politik hineingezogen wurden, um so tät parlamentarischer Politik herausgestellt worden. In der Folge
mehr wurde ihre Unfähigkeit, die gewonnene Basis in der Armuts- lichteten sich die Reihen der Führungskader aufgrund der gewon-
bevölkerung zu erhalten, geschweige denn zu erweitern, verschlei- nenen Konzessionen.
ert. Denn während zwar die Mitgliedschaft schrumpfte und an Obwohl es nicht möglich ist, den Zeitpunkt, an dem die Unruhe
Militanz verlor, nahmen die der Organisation zufließenden Res- sich zu legen begann, exakt zu bestimmen, könnte man das Jahr
sourcen weiterhin zu. Die NWRO war jetzt praktisch in der Lage, 1968 als Wendepunkt ansehen. 1968 war das Jahr der letzten großen
auch ohne Massenbasis, ohne breite Gefolgschaft zu operieren. Rassenunruhen in den Städten (aus Anlaß der Ermordung Martin
Aufgrund der Sympathien und Ängste, die von der schwarzen Luther Kings); es war außerdem das Jahr, in dem die Präsident-
Bewegung wachgerufen worden waren, sowie der fortschreitenden schaft von den Liberalen auf die Konservativen überging. Mit der
Krise des Wohlfahrtssystems konnte die NWRO sich den Eliten als Machtübernahme durch Richard Nixon mußten Rhetorik und
Vertreter eines großen Teils der schwarzen Armutsbevölkerung prä- Politik früherer Administrationen, die die Anerkennung klassen-
sentieren und somit die Legitimation und finanziellen Mittel erwer- und rassenbedingter Ungerechtigkeiten so sehr in den Vordergrund
ben, die zur Aufrechterhaltung der Organisationsstruktur notwen- gerückt und die schwarze Armutsbevölkerung zum Protest ermu-
dig waren. Es war in der Tat so, daß die externen Ressourcen zum tigt hatten, einer Rhetorik und Politik weichen, die von »law and
Ersatz für eine Massenbasis wurden." order« und individueller Eigenverantwortung geprägt waren und
Doch die Verfügbarkeit externer Ressourcen, von denen das Über- bewirkten, daß sich unter den Schwarzen erneut Scham und Angst
leben der Organisation abhing, war nicht das Resultat von Organi- breitmachten. Eine Gegenreaktion der Weißen zu den Gewinnen
sierung; sie war das Resultat der Unruhe, die unter der schwarzen der Schwarzen hatte sich herausgebildet, und konservative Politi-
Bevölkerung herrschte. Sobald die Unruhe nachzulassen begann, ker heizten diese Entwicklung weiter an, um ihre eigene politische
wurden der NWRO auch die externen Ressourcen wieder entzo- Basis zu erweitern. Während des Wahlkampfes von 1972 erreichte
gen. Die Folge war der organisatorische Zusammenbruch, wie wir diese Rhetorik einen Höhepunkt. Ihr spezielles Ziel war das letzte
gleich sehen werden. sichtbare Merkmal schwarzer Auflehnung: die weiterhin steigende
Zahl der Wohlfahrtsempfänger. Während der Wahlkampagne warn-
ten Republikanische Fernsehspots das amerikanische Volk, daß
Der Niedergang der schwarzen Protestbewegung McGovern im Falle seines Sieges der Hälfte der amerikanischen
Bevölkerung Sozialfürsorge zukommen lassen würde. In seiner
Hätten die bereits geschilderten Entwicklungen nicht den Abstieg Rede zur Amtseinführung forderte Nixon die Amerikaner auf,
der NWRO verursacht, dann hätte das Versiegen der schwarzen nicht zu fragen, was die Regierung für sie tun könne, sondern was
Unruhe dafür gesorgt. So wie die Dinge standen, gab der Nieder- sie selbst für sich tun könnten; später förderte er die rasche Verbrei-
gang der schwarzen Protestbewegung nur einer Organisation den tung des Slogans »Workfare« statt »Welfare«. Das Land machte
Fangschuß, die ohnehin schon weitgehend geschwächt war. gegen die schwarzen Armen mobil, und die Wohlfahrtsempfänger
Gegen Ende der sechziger Jahre löste sich die schwarze Bewe- waren das primäre Ziel.
gung, die Mitte der fünfziger Jahre im Süden entstanden war, lang-
sam auf, und mit ihr die Organisationen, die der Bewegung ihre Das Ende liberaler Wohlfahrtspolitik
Existenz verdankten (soweit sie nicht schon längst zerfallen
waren). Zum einen war (wie wir in Kapitel 4 gezeigt haben) die Doch es war nicht nur Rhetorik. Über Ministerien und andere
Führung der schwarzen Bewegung zum großen Teil in das poli- Regierungsstellen schnitt die Nixon-Administration den Gettoor-
tische Wahlsystem integriert oder von Regierungsbürokratien, ganisationen die Mittel ab und bereitete den Zugeständnissen an
Universitäten, Geschäftswelt und Industrie absorbiert worden; die Armutsbevölkerung ein Ende. Das »Office of Economic Op-
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portunity« geriet unter direkten Beschuß der Regierung. Innerhalb auf der Suche nach ungemeldeten Einkünften aus den vorhergehenden fünf
von ein oder zwei Jahren begann das Ministerium für Gesundheit, oder mehr Jahren. Die meisten Empfänger erfuhren von der Überprüfung
Bildung und Wohlfahrt, restriktivere Maßnahmen und Regelungen erst dadurch, daß ihre Unterstützung ausblieb oder gekürzt wurde. In den
darauffolgenden Mitteilungen an die Empfänger wurden zur Begründung
durchzusetzen, um formelle und materielle Rechte, dieWohlfahrts-
schlicht >falsche Berechnungen< oder >mangelnde Unterstützungsberechti-
empfänger durch ihren Protest und Anwälte der Armen auf dem gung< angegeben. Von 197o bis 1972 reduzierten auch andere Bundesstaaten,
Gerichtswege erkämpft hatten, wieder abzubauen. Eine der wich- wenn auch in geringerem Ausmaß als Nevada, ihre Unterstützungssätze
tigsten Maßnahmen, die das Ministerium im folgenden unternahm — oder führten einschränkende Kriterien für die Unterstützungsberechti-
ein gung ein.« (Piven und Cloward, 1973 409, 411f.)
',Schritt, der ohne Zweifel das Ende einer Epoche des \Wohlfahrtsliberalis-
mus ankündigte — bestand in der Einführung hoher Geldstrafen gegen die- Die Veränderung des politischen Klimas hatte für die Empfänger-
jenigen Bundesstaaten, bei denen Untersuchungen unter der Rubrik >Qua- gruppen vor Ort eine unmittelbare Konsequenz: die materielle
litätskontrolle< erwiesen, daß mehr als 3°/0 der Wohlfahrtsempfänger nicht Unterstützung — vor allem seitens der Regierung —, von der sie
unterstützungsberechtigt waren. Wie jeder weiß, der mit dem Labyrinth abhängig gewesen waren, versiegte langsam. Als die Mittel für
des Wohlfahrtssystems einigermaßen vertraut ist, läßt sich eine niedrige die »Great Society«-Programme gekürzt wurden (und im Zuge
Quote unberechtigter Wohlfahrtsempfänger nur um den Preis errechnen, einer Steuerreform (»revenue sharing«) teilweise in die Einzel-
daß ein weit größerer Anteil unterstützungsberechtigter Familien vom staaten zurückflossen), wurde die Schar der aktiven Mitarbeiter
Wohlfahrtsbezug ausgeschlossen wird.... arg dezimiert. Die verbliebenen Aktivisten der Bewegung muß-
Es überrascht nicht, daß politische Führer auf Länder- und Gemeinde-
ten erfahren, daß die lokalen Dienststellen der »Great Society«-
ebene sich der Kampagne gegen die öffentliche Unterstützung anschlossen;
entweder waren neue Politiker an die Macht gekommen, deren Sozialphi- Programme zurückhaltender geworden waren und die weitere
losophie sich im Einklang mit dem >Zeitgeist< befand, oder der Wunsch der Organisierung von Fürsorgebedürftigen nicht länger unterstützen
bisherigen Amtsinhaber, politisch zu überleben, gebot die Anpassung an wollten.
diesen >Geist<. Vielleicht hatte Gouverneur Rockefeller sie bereits alle mit Unter diesen Bedingungen verschwand die Militanz der Wohl-
seinem bizarren Vorschlag übertroffen, jedem zugewanderten Bürger des fahrtsempfänger fast vollständig. Wie wir weiter oben schon
Staates New York, der keine annehmbare Wohnung oder Gesundheitsfür- erwähnt haben, waren die meisten Ortsgruppen durch die mili-
sorge nachweisen konnte, die Wohlfahrtsunterstützung zu verweigern; die- tante Durchsetzung von Forderungen und Beschwerden entstan-
ser Ankündigung folgten weithin publizierte Untersuchungen über >Wohl-
den. Doch Anfang der siebziger Jahre stellten die wenigen übrigge-
fahrtsbetrug<, die unter der Leitung eines neuernannten Generalinspek-
teurs (eines Millionenerben voll Verachtung für die Wohlfahrtsempfänger)
bliebenen Aktivisten fest, daß die Wohlfahrtsvervvaltungen sich
angefertigt wurden. In Kalifornien erregte Gouverneur Reagan bundeswei- jetzt zunehmend den Forderungen der Empfängergruppen ver-
tes Aufsehen mit der Einleitung ähnlicher Kampagnen gegen die öffentliche schlossen. Die politische Wende in Washington verringerte ihre
Wohlfahrt. (Man beachte dabei, daß mehr als die Hälfte derWohlfahrtsemp- Konzessionsbereitschaft gegenüber der Armutsbevölkerung, und
fänger des Landes in den beiden Bundesstaaten New York und Kalifornien das Abflauen der Gettounruhen und anderer Formen des Massen-
ansässig waren.) Eine der gerühmtesten, gegen öffentliche Unterstützung protestes verminderte ihre Angst vor den Armen. War die Wohl-
gerichteten Aktionen ereignete sich damals in Nevada, wo die Wohlfahrts- fahrtsbürokratie einst von dem Aufruhr auf der Straße, direkt vor
behörde eine massive Kampagne gegen >Wohlfahrtsbetrüger< eröffnete. den Türen ihrer Ämter, beeinflußt worden, so orientierte sie sich
Zum i. Januar 1972 wurden 2r% der bisherigen Fürsorgeempfänger Neva-
nun an den restriktiven Inhalten der neuen Erlasse aus Washington
das die Unterstützung gestrichen; weiteren 28% wurden die monatlichen
Geldzuwendungen gekürzt. Dies konnte geschehen, weil die Wohlfahrts-
und den Hauptstädten der Einzelstaaten. Angesichts dieser Tatsa-
verwaltung beschloß, der >Wohlfahrtskrise< durch eine amtliche Prüfung zu chen konnten die lokalen Empfängergruppen immer weniger errei-
begegnen, in deren Verlauf praktisch das gesamte Behördenpersonal damit chen, und je seltener die Erfolge, um so schwieriger wurde es,
beschäftigt wurde, Arbeitgeber und Nachbarn der Fürsorgeempfänger zu selbst die kampfbereiten und loyalen Gruppenmitglieder bei der
befragen und die Akten der Sozialversicherungsträger durchzusehen — alles Stange zu halten. Monat für Monat wuchs die Überzeugung, daß
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der Kampf verloren sei — daß er den Einsatz vielleicht nicht einmal Kampf um die Reform der Sozialfürsorge
mehr wert war. Und so verließen immer mehr Führungskader und
einfache Gruppenmitglieder das sinkende Schiff. In einer im ganzen Land ausgestrahlten Rundfunk- und Fernsehan-
Darüber hinaus verloren viele Mitglieder der Ortsgruppen jegli- sprache verkündete Präsident Nixon am 8. August 1969 eine Reihe
che Neigung, die sie vielleicht einmal besessen hatten, anderen von Vorschlägen zur Reorganisation der Sozialfürsorge. Die
Bedürftigen zu helfen. Ihre besondere Beziehung zum Wohlfahrts- Nixon-Vorschläge — bekannt als »Familiy Assistance Plan« (FAP) —
system war ihnen zuweilen noch persönlich von Nutzen, half beinhalteten die Abschaffung des AFDC-Programms und seine
ihnen, ihre eigenen Probleme zu lösen und manchmal sogar, Son- Ersetzung durch ein gesetzliches Mindesteinkommen, das jeder
derzuwendungen zu erhalten. In dem sich schnell verschlechtern- Familie ein jährliches Einkommen von i 600 Dollar (bei vier Fami-
den politischen Klima — vor allem, da die Wohlfahrtsausgaben ins lienmitgliedern) garantiert hätte und durch den Bund finanziert
Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik gerieten — wurden die noch in werden sollte. Darüber hinaus schloß das vorgeschlagene Pro-
den Gruppen verbliebenen Mitglieder ängstlich und zogen sich auf gramm auch die erwerbstätigen Armen (d. h. Familien mit zwei
ihre eigenen Interessen zurück, um möglichst den eigenen privile- Elternteilen) mit ein, indem es die Berechnung von Lohnzuschüs-
gierten Zugang zum Fürsorgesystem nicht zu verlieren. So wurden sen nach einer Formel vorsah, die die ersten 72o Dollar des verdien-
die wenigen fragmentierten Gruppen, die überlebten, nur noch ten Einkommens außer acht ließ und vom Rest nur die Hälfte auf
vom engstmöglichen Eigeninteresse und dessen ideologischen die Unterstützung anrechnete, so lange, bis die vierköpfige Familie
Rechtfertigung geleitet. ein Gesamteinkommen von 392o Dollar aus Lohn und Sozialhilfe
Unter diesen Umständen hätte es rastloser und umfangreicher erreichte."
Anstrengungen, des Einsatzes aller Kräfte der Organisationslei- Die Vorschläge schlugen erhebliche Wellen. Die Grundzüge des
tung bedurft, um die schwindende Moral der lokalen Gruppen Programms erschienen liberal und waren es in bestimmter Hinsicht
wieder zu stärken. Doch sogar dann wäre kaum anzunehmen auch. Die Vorschläge für ein gesetzlich garantiertes Mindestein-
gewesen, daß die Anstrengungen Erfolg haben könnten. Das Feuer kommen und Lohnzuschüsse hätten die allergrößte Armut im
des Protestes war verloschen; keine Organisation hätte wohl ver- Süden gelindert. Die Vorschläge hätten außerdem den Bundesstaa-
mocht, es wieder zu entfachen. Die endlosen Diskussionen über ten und Kommunen einen Teil ihrer fiskalischen Belastung durch
die beste Strategie beim Aufbau einer dauerhaften Massenorganisa- die wachsenden Wohlfahrtsausgaben abgenommen.' Dies waren
tion waren unwichtig geworden: ob nun Organisierung auf der die Bestandteile des Gesamtprogramms, die von der Presse
Basis eines einzigen oder mehrerer Problemkreise; ob Organisie- gewöhnlich am stärksten herausgestellt wurden, und aufgrund
rung einer einzigen oder mehrerer Zielgruppen; ob mit einem derer der FAP auch im liberalen Lager Unterstützung fand.
dezentralisierten oder zentralen Mitarbeiterstab; ob Mitglieder Andere Teile des Planes waren jedoch eher regressiv, nur waren die
durch Betonung materieller Anreize geworben oder die »Bewußt- langfristigen Implikationen der regressiven Elemente für die mei-
seinsbildung« und »Radikalisierung« der Mitgliedschaft hervor- sten Beobachter weniger offensichtlich. Der Plan hätte die proze-
gehoben werden sollte. Tatsache war, daß eine Ära des Protests un- duralen Rechte der Wohlfahrtsempfänger, die in den sechziger Jah-
weigerlich zu Ende gegangen war. Doch nicht die Analyse der ren durch Proteste und Gerichtsentscheidungen gewonnen worden
Faktoren, die um 197o die Aussichten auf lokale Organisierung waren, wieder abgebaut — wie zum Beispiel das Recht auf Anhö-
weitgehend zerstört hatten, war dafür verantwortlich, daß sich die rung nach Streichung der Unterstützung. Er enthielt zudem
Organisationsleitung von der Mitgliederbasis entfernte. Es war die Bestimmungen, die Fürsorgeempfänger, welche als »arbeitsfähig«
Aussicht auf eine »Wohlfahrtsreform« und auf die zu erwartende galten, zu Arbeiten zwingen konnten, deren Bezahlung unter dem
Anerkennung für die Organisation und ihre Führung, die sich im gesetzlichen Mindestlohn lag. Mit seinen Vorschlägen für eine
Laufe der Auseinandersetzung um eine Reform einstellen würde. Reform des Wohlfahrtssystems versuchte Nixon vor allem das
überaus dringliche und einer Lösung harrende Problem aus der
368 369
Welt zu schaffen, das in den ständigen Klagen lokaler Regierungs- denen die beständig steigenden Wohlfahrtsbudgets auf dem Magen lagen,
vertreter über die fiskalischen Belastungen durch Sozialfürsorge -waren die strukturellen Reformen von H. R. relativ unwichtig. Was sie
lag. In der Tat stiegen die Fürsorgekosten in den Bundesstaaten, wollten, war Geld, und die in H. R. vorgesehenen, vom Bund zu finanzie-
renden Mindestsätze konnten es liefern.« (179)
Landkreisen und Gemeinden ständig weiter an. Die Forderung
nach Reform war eine direkte Folge der Tatsache, daß die amerika- Der FAP hätte den Bundesstaaten und den Kommunen zwar fiska-
nische Armutsbevölkerung in den sechziger Jahren über das Wohl- lische Erleichterung beschert, doch hätte dieses Ziel für sich
fahrtssystem eine bescheidene Verbesserung ihrer Einkommen genommen auch auf vielen anderen Wegen erreicht werden kön-
hatte erreichen können. Als Reaktion auf die daraus resultierenden nen. So hätte die Bundesregierung zum Beispiel einfach die Wohl-
fiskalischen Belastungen hatte sich bei Ländern und Gemeinden fahrtsausgaben zu übernehmen brauchen und das System anson-
ein enormer politischer Druck aufgestaut; so wies der Präsident in sten unverändert lassen können. Wie sich herausstellen sollte,
seiner Fernsehansprache denn auch ausdrücklich darauf hin, daß geschah dann auch so etwas Ähnliches. Als die Fürsorgereform
die steigende Zahl der FürSorgeempfänger »Staaten und Kommu- scheiterte, verabschiedete der Kongreß statt dessen ein Programm,
nen an den Rand des finanziellen Zusammenbruchs« gebracht das die Umverteilung von mehreren Milliarden Dollar an Steuergel-
habe. dern vom Bund auf die Einzelstaaten und Gemeinden vorsah. Die
Zwei größere Lager hatten sich zu diesem Problemkreis herausge- Klagen der Verantwortlichen in Ländern und Gemeinden hatte, mit
bildet: eine Seite wollte die Erfolge der Armen ganz einfach wieder anderen Worten, eindeutig eine Reaktion des Bundes auf die fiskali-
zurückschrauben, die Zahl der Fürsorgeempfänger drastisch ver- sche Krise erzwungen, hatte aber nicht die spezifischen Verände-
ringern und die gewährten Leistungen einschränken; die andere rungen des Wohlfahrtssystems, die im FAP vorgesehen waren,
Seite zog es vor, die Last derWohlfahrtsausgaben von den Schultern durchsetzen können.
der Einzelstaaten und Kommunen auf den Bund zu verlagern. Die Vorschläge des FAP waren allerdings auch nicht primär dazu
Die zweite Gruppe war weitaus mächtiger; zu ihr gehörten die gedacht, fiskalische Belastungen zu lindern. In der Hauptsache
meisten Bürgermeister, Bezirksverwaltungen und Gouverneure. ging es ihnen darum, das weitere Anschwellen des Heeres der Für-
Sie wollten vor allem der mühseligen und potentiell gefährlichen sorgeempfänger zu stoppen. Interne Gutachten für den Präsiden-
Notwendigkeit entgehen, Fürsorgeleistungen selbst einschränken ten sagten einen anhaltenden steilen Anstieg der Empfängerzahlen
zu müssen. So kam es, daß — in der Darstellung zweier Journalisten — voraus, wenn das System nicht überarbeitet würde. Anders formu-
»der explosionsartige Anstieg der Empfängerzahlen das Wohl- liert: die wachsende Abhängigkeit der amerikanischen Unter-
fahrtssystem, das gewöhnlich vom Weißen Haus links liegenge- schicht wurde als Folge des bestehenden Wohlfahrtssystems defi-
lassen wird, auf die Tagesordnung des vor seinem Amtsantritt niert. Diese Situation, so glaubte man, sei durch die geltenden
stehenden Richard Nixon plazierte. ... Republikanische Gouver- Fürsorgepraktiken auf zwei Wegen herbeigeführt worden.
neure verlangten Hilfe aus Washington und erwarteten sie vom Erstens, so wurde argumentiert, hätten die geltenden Fürsorge-
zukünftigen Präsidenten aus ihrer eigenen Partei.« (Burke und praktiken den Anreiz zur Eigenverantwortlichkeit zerstört, da
Burke, 41) erwerbstätige Wohlfahrtsempfänger verpflichtet waren, ihren Ver-
Über die darauffolgenden, intensiven parlamentarischen Ausein- dienst anzugeben, der dann in vollem Umfang von den monatli-
andersetzungen um dieVorschläge berichten dieselben Autoren: chen Zahlungen abgezogen wurde. Allgemein herrschte die Über-
zeugung vor, daß diese »ico-Prozent-Steuer« Fürsorgeempfänger
ADie einzig feste und uneingeschränkte Unterstützung für H. R. (unter
vom Einsatz ihrer Arbeitskraft abhielt und deshalb ihre Abhängig-
dieser Bezeichnung lief die Gesetzesvorlage im Repräsentantenhaus — d.
Ü.) kam von Politikern, die eine Veränderung des Wohlfahrtssystems nicht keit verfestige. Zweitens wurden wachsende Empfängerzahlen
aus weltanschaulichen Gründen wünschten, sondern weil sie sich von ihr nicht nur deshalb für problematisch gehalten, weil sie den Arbeits-
finanzielle Unterstützung durch den Bund versprachen. Zu ihnen gehörten anreiz verringerten, sondern auch, weil die leichte Verfügbarkeit
viele Gouverneure und Bezirksverwaltungen im Land. Für diese Männer, der Fürsorge angeblich das Familienleben der Armen untermi-

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nierte. Väter, so glaubte man, verließen ihre Familien, damit ihre lich nicht wahrgenommene Manifestation der Auswirkungen unseres Wohl-
Frauen und Kinder Sozialhilfe bekommen konnten. »Böswilliges fahrtsapparates.)« (Moynihan, 76; Hervorhebung von uns)
Verlassen aus finanziellen Motiven« nannten es manche, und dem Was die Behauptung angeht, diese »aufrüttelnde ... Manifestation
Präsidenten wurde erklärt, dieser Umstand produziere einen un- der Auswirkungen unseres Wohlfahrtsapparates« sei »nicht wahr-
aufhaltsamen Strom neuer Antragsteller. genommen« worden, hatte Moynihan natürlich unrecht. Jeder-
Verschiedene »Pathologien« der Armen — vor allem Kriminalität mann glaubte, öffentliche Unterstützung schade den Armen. Die
und Aufruhr — schrieb man ebenfalls dem Wohlfahrtssystem zu. Konservativen sagten es; die politische Mitte betonte es; die Libera-
Daniel Patrick Moynihan, ein Berater des Präsidenten, spielte eine len behaupteten es ebenfalls. Die Wohlhabenden sagten es, und
große Rolle bei der Verbreitung dieser Diagnose in der Öffentlich- auch die Masse der Armen hätte es gesagt, wäre sie gefragt worden.
keit und konnte offensichtlich auch den Präsidenten davon über- In diesem Punkt bestand allgemeine Übereinstimmung.
zeugen. Der »Familiy Assistance Plan«, sagte er, »wurde geschaf- Mit dieser Analyse ausgestattet, machten sich die Reformer daran,
fen... als Teil einer übergreifenden, kurzfristigen Strategie, um das die Kultur der Armen zu rehabilitieren. Der Schlüssel zur Reduzie-
Ausmaß der Gewalttätigkeit im Land zu verringern« (12). Die rung des »Parasitentums« lag in der Umgestaltung der Sozialfür-
Argumentationskette war folgende: Kriminalität, öffentlicher Auf- sorge, und zwar in einer Weise, daß Arbeit zur Pflicht gemacht
ruhr und andere abnorme soziale Verhaltensweisen der Armen würde. Mehr noch: durch Wiederherstellung der Arbeitsdisziplin
hätten ihre Ursachen in Beschäftigungslosigkeit und Familienzer- würden auch die Stabilität der Familie erneuert und verschiedene
rüttung, welche wiederum auf die allzu große Freizügigkeit des Formen sozialer Pathologie eingeschränkt werden. Dies war das
Wohlfahrtssystems zurückzuführen seien. Diese Argumentations- übergreifende Ziel des FAP, und wenn man die Analyse kennt, auf
kette wird besonders anschaulich in einer Zusammenfassung der der das Programm basierte, fällt es nicht mehr schwer zu verstehen,
Auffassungen einer Gruppe von »leitenden Beamten, Akademi- warum ein durch und durch konservativer Präsident, der, wie
kern und Intellektuellen«, mit denen Moynihan die Krise der Nixon bei seinem Amtsantritt, mit außergewöhnlichen Manifesta-
Sozialfürsorge in den großen Städten diskutierte (wobei New York tionen sozialer Zerrüttung und politischer Unruhe konfrontiert
besondere Aufmerksamkeit zuteil wurde). war, zu der Entscheidung gelangen konnte, das System der öffentli-
chen Wohlfahrt zu reformieren.
»Das soziale Gefüge von New York City ist dabei, sich aufzulösen. Es ist Im übrigen ähnelten die Ziele, die diesem Reformversuch
nicht nur >Spannungen ausgesetzt<, und es ist nicht nur >überstrapaziert< —
zugrunde lagen, auf verblüffende Weise den Zielen, die hinter frü-
es fängt an, wie ein Stück verrotteter Leinwand einzureißen, und es kann
nicht mehr lange dauern, bis schon die geringste Belastung es in Fetzen rei- heren Reformen des Fürsorgesystems gestanden hatten.
ßen wird. ... In der großen und wachsenden Unterschicht schwinden Auch die grundlegenden Bedingungen des Reformversuchs waren
Eigenverantwortlichkeit, Selbstdisziplin und Fleiß dahin; entsteht ein radi- aus der Geschichte vertraut. Die periodische Ausweitung der
kales Mißverhältnis zwischen Realität und Erwartungen bezüglich Arbeit Sozialfürsorge in westlichen Industrienationen stand häufig in
und Lebensstandard; herrscht hohe Arbeitslosigkeit, während die lebhafte Zusammenhang mit Umwälzungen in der Landwirtschaft, durch
Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften dennoch unbefriedigt bleibt; die die Landbevölkerung entwurzelt und in die Städte verpflanzt
steigt die Zahl der unehelichen Kinder; werden immer mehr Familien zer- wurde, wo viele dann ohne Arbeit dahinvegetierten. Von den
stört und von den Vätern verlassen; nehmen Kriminalität und Aufruhr radi- traditionellen Kontrollmechanismen befreit, aber noch nicht in
kal zu. Es gibt, kurz gesagt, eine fortschreitende Desorganisation der
Gesellschaft, ein zunehmendes Gefühl der Frustration und des Mißtrauens.
neue institutionelle Strukturen eingegliedert, begehrten viele von
... Dieses generelle Fehlverhalten scheint zudem nicht nur die Bezirke der ihnen auf, bis die Unruhe schließlich weite Teile der Armutsbevöl-
Schwarzen erfaßt zu haben, sondern sich auch in den puertoricanischen kerung erfaßt hatte und die Eliten zwang, Fürsorgeregelungen zu
Vierteln zu verbreiten. Ein großer Teil der Bevölkerung wird inkompetent treffen oder bestehende Maßnahmen zu erweitern. Nachdem dann
und destruktiv. Wachsendes Parasitentum — legales wie illegales — und wieder Ruhe eingekehrt war, wurden die »Sozialpathologien« der
Gewalttätigkeit sind das Ergebnis. (Das ist eine aufrüttelnde, aber gewöhn- Armen jedoch auf das allzu freizügige Wohlfahrtssystem, nicht
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etwa auf mangelhafte sozio-ökonomische Bedingungen zurückge- ohne Zweifel in der primären Absicht, die Zahl der Fürsorgeemp-
führt. fänger zu reduzieren.
Ein ums andere Mal hat diese Sozialtheorie dazu geführt, daß den Da war ferner Nixons allgemeine Wirtschaftspolitik. Eine Regie-
Armen mit der Begründung, nur so könnten sie zur Aufgabe ihres rung, der das Schicksal der Armen am Herzen lag, hätte keine Poli-
Müßiggangs gezwungen werden, die Unterstützung entzogen tik verfolgt, die den Anstieg der Arbeitslosigkeit in Kauf nahm, um
wurde. Nixon hatte offenbar anderes im Sinn. Der FAP enthielt die Inflation zu dämpfen. Gegen Ende des Jahres 1970, nachdem
eine Reihe verschiedener Maßnahmen, die auf eine Stärkung der schon ein Jahr über die Reform des Wohlfahrtssystems debattiert
Arbeitsmotivation abzielten. Auf der einen Seite gab es, wie wir worden war, sah sich das Land der schwersten Rezession seit dem
bereits erwähnten, einige Anreize: ein bescheidener Einkommens- Zweiten Weltkrieg gegenüber. Und während die ökonomische
freibetrag von 72o Dollar im Jahr, verbunden mit einer Steuer- Lage sich zuspitzte, schrieb Moynihan: »Es kann nicht oft genug
quote, die es gestattete, die Hälfte des zusätzlich verdienten Ein- wiederholt werden, daß es nicht die Kernfrage einer Reform des
kommens bis zu einem Maximum von 3 92o Dollar für eine Wohlfahrtssystems sein kann, was sie diejenigen kostet, die Für-
vierköpfige Familie zu behalten. Auf der anderen Seite gab es Sank- sorge gewähren, sondern welchen Preis diejenigen zahlen müssen,
tionen: die Verweigerung jeglicher Unterstützung für Personen, die sie erhalten.« (i8) Das war schon eine merkwürdige Feststel-
die sich zu arbeiten weigerten. Um ihre Eingliederung in die arbei- lung in einer Periode rasch zunehmender Arbeitslosigkeit; eher
tende Bevölkerung sicherzustellen, sah der Gesetzentwurf darüber hätte gefordert werden müssen, die Fürsorgerestriktionen zu lok-
hinaus vor, daß Fürsorgeempfänger auch zu Arbeiten verpflichtet kern, um den Armen zu ermöglichen, die Auswirkungen von
werden konnten, deren Bezahlung erheblich unter dem gesetzli- Nixons Anti-Inflations-Politik zu überleben. Diese mit einer
chen Mindestlohn lag. Mit diesen Maßnahmen hätte der Staat in restriktiven Wohlfahrtspolitik gekoppelte allgemeine Gleichgültig-
den sekundären Arbeitsmarkt eingegriffen, Niedriglohn-Unter- keit gegenüber der Arbeitslosigkeit legt die Vermutung nahe, daß
nehmen subventioniert und ein ständiges Angebot an disziplinier- Nixon die Reform des Wohlfahrtssystems in der Überzeugung
ten Arbeitskräften gewährleistet. betrieb, durch staatlichen Zwang die Empfängerzahlen reduzieren
Mit der Zeit hätten sich diese Regelungen durchaus zu einem Mit- zu können.
tel entvvickeln können, mit dem die Armen Arbeit zu jedem Lohn Schließlich war da noch Nixons persönliches Verhalten während
hätten annehmen müssen — ein sicherer Weg, um die prophezeiten der ausgedehnten Debatte im Kongreß über die Fürsorgereform.
Zuwachsraten im Wohlfahrtsbereich, die Nixon und seinen Ratge- Nachdem eine Weile vergangen war, gab er seinen ursprünglichen
bern soviel Sorgen bereiteten, abzuwenden. Damit sind wir zu Vorschlag zur Kostendämmung auf und machte sich statt dessen
einer entscheidenden Frage gelangt: Wie rigide wäre die Arbeitsver- eine politisch weit populärere Methode zu eigen: er heizte die
pflichtung durchgesetzt worden, nachdem die Unruhen der sechzi- Opposition gegen die Sozialfürsorge an und überließ es anderen
ger Jahre und mit ihnen die Furcht vor den Armen einmal vorüber (Gouverneuren, Bezirksverwaltungen und Bürgermeistern), auf
waren? Es gab gute Gründe, sich wegen dieser Frage Sorgen zu die öffentliche Empörung mit drastischen Kürzungen zu reagieren.
machen, insbesondere nach den ersten beiden Jahren der Amtszeit Nach diesem Positionswechsel entzog Nixon seinem eigenen Plan
Nixons. jede weitere Unterstützung, obwohl der Sieg im Kongreß inzvvi-
Da war zunächst Nixons Haltung gegenüber dem bestehenden schen greifbar nahe war.
NX/rohlfahrtssystem. Als die parlamentarische Auseinandersetzung Natürlich war der FAP im Kongreß auf erhebliche Opposition
über die Reform der Sozialfürsorge gerade erst begann, gingen gestoßen, doch wurde er nicht etwa abgelehnt, weil er zu restriktiv
Nixons Leute im HEW-Ministerium bereits ohne viel Aufhebens gewesen wäre, sondern weil er — insbesondere für die Verhältnisse
daran, ein ganzes Bündel neuer Regelungen und Vorschriften ein- im Süden — nicht restriktiv genug war. Der Vorschlag wurde vor
zuführen, die den Bezug von Fürsorgeleistungen erschweren soll- allem von Abgeordneten aus den industriellen Bundesstaaten im
ten. Mit der Zeit wurden die Regelungen zusehends restriktiver, Norden, die am stärksten unter den gestiegenen Fürsorgekosten
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gelitten hatten, unterstützt. Südstaatenabgeordnete bevorzugten H. R. t weiterhin unterstützen«, obwohl das Strategiepapier für
eher eine radikale Verringerung der Empfängerzahlen, denn noch diesen Fall nur die Unterstützung durch 20 Senatoren vorhergesagt
immer war die Südstaaten-Ökonomie auf dem billigsten Arbeits- hatte (Burke und Burke, 185). Durch ein parlamentarisches Manö-
kräftereservoir im ganzen Land aufgebaut, trotz der Abwanderung ver gelangte der Ribicoff-Kompromiß am 4. Oktober 1972 zur
großer Teile der entwurzelten schwarzen Landbevölkerung. Schon Abstimmung im Senat, doch ohne die Unterstützung des Präsiden-
der vorgeschlagene niedrige Einkommensstandard von jährlich ten wurde er mit 52 zu 34 Stimmen abgelehnt.
600 Dollar für eine vierköpfige Familie hätte die Lohnstruktur im Mittlerweile hatte nämlich der Präsident herausgefunden, daß aus
Süden unterminiert. Folglich spielten Südstaatler die Hauptrolle der Fürsorgeproblematik politisches Kapital zu schlagen war,
bei der Zurückweisung des Gesetzesvorschlags, indem sie ihre wahrscheinlich sogar mehr aus der allgemeineren Problematik als
nicht unerhebliche Macht in den Kongreßausschüssen einsetzten, aus dem von ihm selbst vorgeschlagenen Gesetz. Durch die uner-
um den FAP zu Fall zu bringen.' müdliche Betonung des »pathologisierenden« Charakters der
Dennoch hätte der Widerstand aus dem Süden gebrochen werden Sozialfürsorge hatten Nixon und Moynihan dem fürsorgefeindli-
können, wenn der Präsident standhaft geblieben wäre. Er war es chen Klima der Zeit entsprochen, wenn nicht sogar entscheidend
nicht; zwar schien Nixon in der Öffentlichkeit die Vorlage weiter- zu seiner Auslösung beigetragen. So kam Nixon, als er seine bevor-
hin zu unterstützen, bei der täglichen Zusammenarbeit zwischen stehende Wahlkampagne von 1972 überdachte, zu dem Schluß,
Regierung und Kongreß wurde jedoch mit der Zeit immer klarer, »daß es weiser wäre, ein Wahlkampfthema zu haben als einen verab-
daß sein Engagement für den Plan zurückging. An kritischen Punk- schiedeten Plan« (Burke und Burke, 185).
ten, wenn Kompromisse zwischen den Liberalen (unter Führung Der Mangel an ehrlicher Unterstützung des Weißen Hauses für
von Abraham Ribicoff, dem Demokratischen Senator von Connec- einen Kompromißentwurf zur Fürsorgereform, der mit der rheto-
ticut) und den Konservativen möglich schienen — Kompromisse, rischen Ausbeutung des Themas durch Nixon zur Gewinnung von
die das garantierte jährliche Mindesteinkommen um ein paar hun- Wählerstimmen zusammenfiel, verärgerte und entmutigte viele
dert Dollar erhöht und die Arbeitsbestimmungen abgeschwächt Liberale, die eine Reformierung des Fürsorgesystems unterstützt
hätten —, versagte der Präsident seine Zustimmung. hatten. Auch sie fingen nun an, Nixons Motiven zu mißtrauen.
Das letzte und erhellendste dieser Ereignisse trug sich im Juni Einer von ihnen war Hyman Bookbinder, der Vertreter des »Ameri-
1972 zu. Das »Office of Management and Budget«, das Arbeitsmi- can Jewish Committee« in Washington, der am 14. November 1972
nisterium und HEW sowie der Stab des »Domestic Council« hat- an Moynihan schrieb:
ten für den Präsidenten ein Papier verfaßt, das ihm die möglichen Ach wußte schon vor sechs Monaten, daß H. R. t gestorben war. Es war
Entscheidungsvarianten aufzeigte: »Drei Möglichkeiten wurden klar, daß die Regierung der Auffassung war, sie könne sich in einem Wahl-
analysiert: (A) Festhalten an H. R. i; (B) Kompromiß mit Long; jahr nicht mit einem Wohlfahrtsprogramm belasten ... doch im Verlauf mei-
und (C) Kompromiß mit Ribicoff.« (Burke und Burke, 184) Das ner weiteren Anstrengungen, den Entwurf durchzudrücken, wurde mir
Strategiepapier fuhr dann fort mit der Feststellung, daß die Mög- klar, daß das Gesetz zu keinem Zeitpunkt die entschiedene Unterstützung
lichkeit (C) »die einzig mögliche Strategie [ist], die zur Verabschie- der Pennsylvania Avenue genoß, die es benötigt hätte. Die mehreren gene-
dung des Gesetzes führen kann«. Die meisten Beobachter sind sich rellen Erklärungen des Präsidenten waren willkommen, doch wurden sie
einig, daß der Präsident an diesem Punkt hätte gewinnen können, durch die Inflexibilität und Unnachgiebigkeit der Regierung bei den
bescheidenen Verbesserungsvorschlägen mehr als unglaubwürdig gemacht.
wenn er auf den Kompromiß mit Ribicoff und den Liberalen einge-
gangen wäre. Doch der Präsident zog es vor, nicht zu gewinnen. Doch jetzt, Pat, komme ich zu dem wirklichen Grund für diesen Brief.
»Präsident Nixon verkündete seine Entscheidung am 22. Juni 1972, Obwohl ich die Anbiederung an bestehende Vorurteile gegen öffentliche
fünf Tage nach dem Watergate-Einbruch. Nixon erklärte auf einer Unterstützung, die aus politischer Opportunität erfolgt, nicht billigen
Pressekonferenz, er werde an seiner >Position der Mitte< festhalten kann, kann ich sie doch immerhin verstehen. Jeder legislative Vorstoß erfor-
und den vom Repräsentantenhaus bereits verabschiedeten Entwurf dert subtile Überlegungen über Timing und Schwerpunktsetzung. Doch
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vJas mir Sorge bereitet, ist die Tatsache, daß diese Vorurteile gegen die Unterbeschäftigten bemühen. Die Publizität, die Nixons Vor-
Sozialfürsorge so tiefe Wurzeln geschlagen haben und inzwischen so weit schlag zur Bezuschussung niedriger Einkommen erzielt hatte,
verbreitet sind, daß vielleicht kein echter Fortschritt mehr erzielt werden hätte Kampagnen zur Mobilisierung der unter der Armutsgrenze
kann. Wichtiger noch, ich bin durch meine Interpretation [der Bemerkun- lebenden Erwerbstätigen mit dem Ziel, über die »general assist-
gen des Präsidenten] zu der Überzeugung gekommen, daß er selbst das
ance«-Kategorie in den nördlichen Bundesstaaten Beihilfen zu
Opfer einiger der übelsten Vorurteile und Fehlinformationen geworden
ist.<, (Hervorhebung im Original)“ erhalten, neue Legitimität verleihen können.
Wie schon zuvor, argumentierten wir mit dem Hinweis auf die
Angesichts all dieser Tatsachen gibt es gute Gründe für die Vermu- anhaltende Auflehnung der unorganisierten Armen selbst. Wäh-
tung, daß der FAP, wäre er verabschiedet worden, auf eine Art und rend die schwarze Bewegung als Ganzes in dieser Periode zurück-
Weise in die Praxis umgesetzt -worden wäre, die sich in Einklang mit gefallen war, blieb die Zahl der Anträge auf Sozialhilfe gleichblei-
der übrigen Politik Nixons befunden hätte — und die war den bend hoch, und auch die Bewilligungsquoten blieben auf hohem
Armen gegenüber durch und durch antagonistisch. Um es ganz ein- Niveau. Obwohl die organisierten Empfängergruppen damals auf-
fach zu formulieren: es war die Wohlfahrtsexplosion der sechziger grund des veränderten politischen Klimas nach dem Wahlerfolg
Jahre gewesen, die zu offiziellen Reformbemühungen geführt Nixons auf Widerstand von den Wo hlfahrtsverwaltungen zu stoßen
hatte. Infolge jener Explosion waren Millionen von Menschen in begannen, blieb doch der Bewilligungsprozeß noch relativ offen.
den Genuß der Sozialfürsorge gekommen. Die Armut in Amerika Die Auswirkungen jahrelanger Proteste auf Fürsorgebestimmun-
war beträchtlich reduziert worden, und es wurde sogar ein Schritt gen und -praktiken würden nicht so schnell wieder rückgängig
in Richtung auf eine Art garantiertes Mindesteinkommen für alle gemacht werden können. In dieser Periode erreichten einige wich-
Amerikaner gemacht. Diese Erfolge waren es, die das Objekt der tige Fälle, in denen es um versuchte Einschränkungen der An-
»Reform« bildeteten. spruchsberechtigung ging, den Obersten Gerichtshof, und die
Urteile fielen noch immer günstig aus. HEW konnte seine neuen
restriktiven Richtlinien nicht alle auf einmal erlassen. Und durch
Widerstand der »NationalWelfare Rights Organization« die Folgen der Nixon-Rezession schwoll das Heer der Fürsorge-
gegen die Fürsorge,Reform« empfänger sogar noch rascher an als zuvor.
Doch George entschied sich anders. Sein Entscheidungsspiel-
In der Zeit zwischen der Vorlage des FAP im Jahr 197o und seiner raum war durch eine Reihe organisatorischer Probleme einge-
endgültigen Niederlage im Jahr 1972 stand die Reorganisation des schränkt. Es war ihm natürlich nicht entgangen, wie schmal die
Wohlfahrtssystems ganz oben auf der politischenTagesordnung der Mitgliederbasis geworden und wie sehr die Militanz der lokalen
Vereinigten Staaten. Trotz der hitzigen Debatten rieten wir George, Gruppen zurückgegangen war. Es war daher nur schwer abzu-
die NWRO solle sich nicht kopfüber in die parlamentarischen schätzen, ob überhaupt noch eine Infrastruktur bestand, über die
Wildwasser stürzen. Wir glaubten, daß die NWRO ihre Effektivität Rekrutierungskampagnen unter neuen gesellschaftlichen Gruppen
als Lobby ständig überschätzte. Damals war die Mitgliederbasis hätten entwickelt werden können; auch war nicht klar, ob noch
der NWRO schon so gut wie zerstört, und der parlamentarische eine genügend breite Basis unter den Wohlfahrtsempfängern exi-
Kampf um die Vorschläge des Präsidenten bot auf keinen Fall eine stierte, um einer immer restriktiveren Fürsorgepraxis Widerstand
Chance, diesen Umstand zu beheben (falls er sich überhaupt hätte entgegensetzen zu können. Derartige Kampagnen anzukündigen,
beheben lassen). Es würde ganz sicher ein langer und ermüdender nur um ihr Scheitern zu erleben, hätte einzig dazu geführt, der
Kampf werden, und ebenso sicher war, daß er alle Ressourcen der Öffentlichkeit die Schwäche der NWRO an der Basis zu demon-
NWRO von der Basis abziehen würde. Statt dessen meinten wir, strieren. Und George konnte den Verband ohnehin nicht auf die
die NWRO sollte sich wieder der Straße und den Wohlfahrtszen- Organisierung mehrerer verschiedener Gruppen der Unterschicht
tren zuwenden und sich um die Mobilisierung der Älteren und (in diesem Fall der Älteren und enverbstätigen Armen) verpflich-
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ten, ohne mörderische Auseinandersetzungen mit etablierten Füh- an der Analyse des beachtlichen Potpourris alternativer Entwürfe
rern aus den Reihen der Wohlfahrtsempfänger zu riskieren, die eine und Zusätze, die dem Kongreß vorgelegt wurden, und verbreitete
solche Kursänderung schon bei früheren Gelegenheiten verhindert diese Analysen überall durch ihre Informationsblätter und andere
hatten. Postsendungen. Sie bearbeitete unermüdlich einzelne Kongreßmit-
Andererseits war die Verlockung groß, sich in das Kampfgetüm- glieder und half dabei mit, Gruppen von Abgeordneten in Initiativ-
mel um die Reform des Fürsorgesystems zu stürzen. Die NWRO gruppen gegen den FAP zu organisieren. Schließlich versuchte sie
verfügte damals über einen großen Mitarbeiterstab in ihrem na- noch, WRO-Ortsgruppen im ganzen Land dazu zu bewegen, ihre
tionalen Büro. Der ganze Apparat war äußerst kostspielig und jeweiligen Kongreßabgeordneten zu bearbeiten und an den ver-
ließ sich in einem politischen Klima, das es zunehmend schwie- schiedenen Demonstrationen in der Bundeshauptstadt teilzuneh-
riger machte, die notwendigen Mittel aufzutreiben, nur mühsam men. Kurzum: vom Herbst 1969 an verwandte die NWRO einen
aufrechterhalten. Die parlamentarische Auseinandersetzung um erheblichen Teil ihrer Energien und Mittel auf den Versuch, die
die Fürsorge versprach der NWRO breite Publizität, was dem Wohlfahrtsgesetzgebung im Kongreß zu beeinflussen.
Spendenaufkommen nur zugute kommen konnte. Schließlich Wie effektiv war die Kampagne der NWRO gegen die Reform des
versprach das Interesse vieler gesellschaftlicher Gruppen sowie Wohlfahrtssystems? Die Antwort auf diese Frage ist offensichtlich
der Medien an dem Thema auch den Vertretern einer Organi- von zentraler Bedeutung für die These dieses Buches. Die NWRO
sation der Wohlfahrtsempfänger, die sich an den Lobby-Aktivi- selbst rühmte sich, ganz entscheidend, wenn nicht gar allein für die
täten beteiligten, einen Platz im Rampenlicht. Für die Spitzen- Niederlage des Gesetzes verantwortlich gewesen zu sein. Die Tatsa-
funktionäre der NWRO bot sich die Gelegenheit, ein großes Maß chen sprechen allerdings eine andere Sprache, denn faktisch war
nationaler Anerkennung zu erfahren — eine in der Tat mächtige der Einfluß der NWRO unbedeutend.
Verlockung. Die Entscheidung fiel daher zugunsten der Lobby- Der einzige Punkt, an dem die NWRO einen gewissen, aber
Aktivitäten. kaum entscheidenden Einfluß auf eine wichtige Entscheidung
Wie groß die Verlockung war, Anerkennung gewinnen und den hatte, war die Abstimmung im »Senate Finance Committee« im
organisatorischen Apparat wieder aufbessern zu können, läßt sich November 197o, nachdem das Gesetz erstmals das Repräsentan-
vielleicht daran erkennen, daß zu Beginn der Debatte über den tenhaus passiert hatte. Der Senatsausschuß lehnte das Gesetz mit
»Family Assistance Plan« unter den Führern der NWRO erhebli- zehn gegen sechs Stimmen ab, und zu den Nein-Sagern zählten
che Unsicherheit bestand, ob man ihn nun eigentlich unterstützen auch drei liberale Demokraten, von denen eine Unterstützung des
oder ablehnen sollte. Doch spielte das keine so wichtige Rolle, Gesetzes zu erwarten gewesen war (Eugene McCarthy von Minne-
solange sich nur die Möglichkeit bot, in der politischen Arena auf- sota, Fred Harris von Oklahoma und Albert Gore von Tennessee).
zutreten. Die NWRO war entschlossen, die Gelegenheit, sich end- Die Lobbyisten der NWRO behaupten, sie hätten sowohl die Ent-
lich wieder bemerkbar machen zu können, auch zu nutzen; in den scheidung von Harris als auch von McCarthy beeinflußt, und
Sachfragen würden sich im Laufe der Zeit schon die richtigen Posi- berücksichtigt man andere Formen der Unterstützung, die diese
tionen ergeben. beiden Senatoren im Laufe der Zeit der NWRO hatten zukommen
Zunächst gelangte man zu der etwas wackligen Entscheidung, das lassen, erscheint diese Behauptung auch glaubhaft. Gores Stimm-
Gesetz zu unterstützen. Ziel war, es zu verbessern: das Niveau der abgabe hatte jedoch nichts mit der NWRO zu tun: Er war gerade
Mindestzahlungen sollte angehoben (»UP THE NIXON nach 32 Jahren im Senat nicht wiedergewählt worden, zum Teil,
PLAN!«), der Arbeitszwang eliminiert und eine Reihe materieller weil er von den Wahlstrategen der Republikaner im Zwischenwahl-
und prozeduraler Rechte in den Entwurf eingefügt werden. Im kampf von 197o besonders stark angegriffen worden war — seine
Sommer 1970 machte die NWRO jedoch eine Kehrtwendung und Nein-Stimme war ein Akt der Vergeltung gegen die Nixon-Admini-
kämpfte fortan gegen die Verabschiedung des Gesetzes (»ZAP stration.' Ohne die Aktivitäten der NWRO hätte diese frühe und
FAP!«). 45 In der Folgezeit arbeitete die NWRO mit großem Eifer wichtige Abstimmung im Finanzausschuß durchaus acht zu acht
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ausgehen können. Allerdings hätte auch Stimmengleichheit laut Act«. Erinnern wir uns, daß der Kongreß schon einige Jahre früher
Satzung die Ablehnung des Entwurfs bedeutet; er wäre also auch damit begonnen hatte, seiner Besorgnis über steigende Empfänger-
dann nicht weitergeleitet worden - im Endeffekt spielte es folglich zahlen Ausdruck zu verleihen, wie etwa durch die Verabschiedung
keine Rolle, ob sich die NWRO nun engagiert hatte oder nicht.' von Umschulungs- und Beschäftigungsprogrammen im Jahre 1967.
Im Juni 1971 passierte das Gesetz in einer Neufassung erneut das Das ursprüngliche Programm zur Förderung von Arbeitsanreizen
Repräsentantenhaus (aber mit kleinerer Mehrheit). Und wieder (»Work Incentives Now«) sah vor, daß die Akten derWohlfahrtsäm-
wurde die entscheidende Schlacht im Senat geschlagen, wo der von ter nach Personen durchforstet wurden, die für Umschulung und
Senator Long geführte Ausschuß den Entwurf blockierte. Die Arbeit in Frage kamen, und dann als »beschäftigungsbereit« zu
Rolle der NWRO beschänkte sich im wesentlichen darauf, die registrieren waren. In den späten sechziger Jahren führten die
Unterstützung der Liberalen für das Gesetz zu schwächen, indem Sozialämter dieses Programm nur sehr zurückhaltend durch, weil
sie die Abgeordneten auseinanderdividierte und verwirrte. Wenn sie mögliche Auswirkungen in den Gettos fürchteten. Doch gegen
Schwarze das Gesetz allem Anschein nach ablehnten, dann -wurde Ende 1971 beschloß der Kongreß, dem Gesetz mehr Biß zu verlei-
es für einige weiße Liberale schwieriger, es zu unterstützen. Trotz- hen. Er verabschiedete einen Zusatz, der spezifizierte, daß jeder
dem formierte sich unter der Führung von Abraham Ribicoff, den Bundesstaat, der nicht mindestens % der im Verlauf eines Jahres
die NWRO deshalb heftig angriff, eine liberale Koalition, die zu durchschnittlich als »beschäftigungsbereit« registrierten Personen
mehreren Punkten mit konservativen Abgeordneten und Regie- Arbeit zugeteilt hatte, dadurch zu bestrafen sei, daß ihm für jeden
rungsvertretern Kompromisse zustande brachte. Doch zu dieser Prozentpunkt, den er unter dem geforderten Satz zu vermittelnder
Zeit rückte der Präsident bereits von seinem eigenen Vorschlag ab Personen blieb, 1% von den Bundeszuschüssen zu seinen Fürsor-
und verweigerte den Kompromissen seine Zustimmung. gekosten abgezogen wurden. Der Zusatz passierte den Senat ohne
Darüber hinaus waren diese Einzelabmachungen - fiir sich eine einzige Gegenstimme, obwohl die Präsenz der NWRO als
genommen von keiner großen Bedeutung. Der Ausschutzvorsit-
- Kongreßlobby in dieser Periode ihren Höhepunkt erreichte (Burke
zende Long hatte, wie andere Senatoren auch, überdeutlich klar und Burke, 164).
gemacht, daß das Gesetz durch einen Filibuster blockiert würde, Nun wollte die NWRO mit ihrer Lobby mehr, als nur in den
sollte es jemals im Plenum behandelt werden. Nach Einschätzung Gesetzgebungsprozeß einzugreifen. Im Verlauf der Auseinander-
verschiedener Experten dieses Gesetzgebungsverfahrens, wie bei- setzungen um die Reorganisation der Sozialfürsorge erreichten die
spielsweise Mitchell I. Ginsberg, wäre es unmöglich gewesen, Organisation und ihre Sprecher einen enormen Bekanntheitsgrad,
genügend Stimmen zu sammeln, um ein Ende der Debatte zu wodurch die Illusion möglicher politischer Einflußnahrne neue
erzwingen. Selbst wenn man von der äußerst unwahrscheinlichen Nahrung erhielt. Getreu dieser Illusion beschloß die Führung der
Annahme ausgeht, daß das Ende der Debatte hätte durchgesetzt NWRO, sich bei den Demokraten und Republikanern nachdrück-
werden können, wären den Gegnern des Gesetzes viele andere lich in Erinnerung zu bringen, als die beiden Parteien im Frühjahr
Möglichkeiten offengeblieben, es später zu widerrufen oder durch und Sommer 1972 ihre Wahlkampfprogramme für die anstehenden
verkrüppelnde Zusätze zu unterlaufen. Der entscheidende Punkt Präsidentschaftswahlen formulierten. Diese Tatsache weist darauf
ist, daß sich der Erfolg einer Lobby-Strategie nicht an momentanen hin, wie weit die NWRO sich schon auf die parteipolitische Ebene
Erfolgen ablesen läßt, sondern an der Fähigkeit, über Jahre, trotz begeben hatte und sich selbst als politischen Machtfaktor begriff.
anhaltender und entschlossener Opposition, einflußreich zu blei- Den Kurswechsel hatte George bereits auf dem Kongreß von 197o
ben. signalisiert, als er verkündete: »Wir müssen eine Lobby werden,
Die lneffektivität der NWRO auf der parlamentarischen Bühne eine richtige politische Organisation, und auch in Wahlkreisen und
wird noch durch einen weiteren Vorfall illustriert. Im Zuge der Stimmbezirken politisch tätig sein.« (Martin, 131) Und so rief eine
Debatte um die Reform der Sozialfürsorge verabschiedete der Organisation von Wohlfahrtsempfängern, deren zusammenge-
Kongreß einen extrem restriktiven Zusatz zum »Social Security schrumpfte Gefolgschaft nicht einmal mehr ein einzelnes Fürsor-
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geamt irgendwo im Land zu stürmen vermochte, im November rung nach einem >angemessenen Einkommen< als lebenswichtigste Frage in
1971 durch ihr Informationsblatt dazu auf, das gesamte politische allen unseren Kampagnen ganz vornean zu stellen. Die >Fürsorgereform<
Wahlsystem der Vereinigten Staaten zu stürmen. Die folgende wird 1972 ein ganz wichtiges Thema sein, doch dürfen wir uns nicht in die-
ser Falle fangen lassen, wie es so vielen liberalen Kandidaten und Organisa-
Äußerung von Beulah Sanders, die 197i zur Vorsitzenden des
tionen passiert ist, denn wir wollen mehr als nur eine >Fürsorgereform<.
Nationalen Koordinierungsausschusses gewählt wurde, verdient Uns geht es um ein >garantiertes, angemessenes Einkommen< für alle Ameri-
allein schon deshalb vollständig zitiert zu werden, weil sie das kaner — Männer wie Frauen, Kinder, Schwarze, Weiße und Rote, Beschäf-
ganze Ausmaß des Realitätsverlustes, der die Organisation befallen tigte oder Arbeitslose.«
hatte, vermittelt:
»Auf dem letzten NWRO-Kongreß gab es ein eindeutiges Mandat von der
Im Juni 1972 verkündete die Organisationsleitung ihren Mitglie-
Mitgliedschaft, daß die NWRO eine wichtige Rolle in den politischen Are- dern: »Wir werden mit derselben Taktik zum Demokratischen Par-
nen überall im Land übernehmen soll. Diesem Mandat entsprechend wil- teikonvent gehen, die wir bei allen Konfrontationen mit ungerech-
ligte eure Vorsitzende ein, sowohl in Boston als auch in New York hei den ten Systemen angewandt haben: von innen repräsentiert sein, mit
regionalen Programmdiskussionen der >New Democratic Coalition< aufzu- unserer wahren Stärke aber draußen auf der Straße.« Eine große
treten. Demonstration wurde geplant, und unter Einsatz enormer finan-
Die NWRO hat außerdem beim Aufbau des >National Women's Political zieller Mittel der Bundesorganisation und Mitgliedsgruppen nah-
Caucus< eine bedeutende Rolle gespielt, und wir helfen mit, ähnliche Grup-
men tatsächlich rund soo Funktionäre, Mitglieder und »organi-
pen in mehreren Bundesstaaten zu formieren. Das kommende Jahr wird für
zers« teil. Aufgrund der außergewöhnlichen Zusammensetzung
das ganze Land bedeutende politische Aktivitäten mit sich bringen, und es
wird von sehr großer (politischer) Bedeutung für die WROs im Land sein.
der Delegierten auf diesem Demokratischen Wahlparteitag gelang
So laßt uns alle Brüder und Schwestern unter der Parole >Brot, Gerechtig- es der NWRO, t 000 Stimmen (rund t 600 wären für einen Abstim-
keit und Menschenwürde< in dem harten Kampf, der vor uns liegt, verei- mungssieg nötig gewesen) für einen Programmpunkt zu gewinnen,
nen. der ein garantiertes Mindesteinkommen von 6 soo Dollar für eine
Denn es ist unsere Absicht, eine große >welfare rights<-Fraktion auf dem vierköpfige Familie forderte. Das stieg einigen ganz schön zu Kopf.
Demokratischen Parteikonvent zu bilden. Wir müssen vor Ort ansetzen, »Wir haben verloren«, ließ die NWRO in einem Informationsblatt
um sicherzustellen, daß unsere Mitglieder in den Wählerlisten registriert nach dem Parteitag wissen, »aber moralisch haben wir gesiegt.«
sind und daß wir so früh wie möglich anfangen, uns um die verschiedenen (Wie groß der moralische Sieg tatsächlich gewesen war, wurde im
Delegiertensitze zu bewerben, indem wir gleiche Repräsentation für unsere
November offenbar, als McGovern — zum Teil wegen seiner zumin-
Mitglieder verlangen. Wir müssen uns mit anderen Organisationen zusam-
mentun und Kandidaten für die verschiedenen politischen Ämter in Bund, dest in den ersten Monaten des Wahlkampfes vorgebrachten Forde-
Ländern und Gemeinden aufstellen. Politik ist in diesem Land in der Ver- rung eines garantierten Mindesteinkommens von 4 oco Dollar für
gangenheit ein sehr schmutziges und auf wenige Personen beschränktes eine vierköpfige Familie — von den Wählern hinweggefegt wurde.)
Geschäft gewesen. Was den Republikanischen Parteikonvent betraf: dort gab es keinen
Wir müssen das ändern. Denn in der Vergangenheit haben wir erlebt, was moralischen Sieg zu feiern — dort war, so verkündete die NWRO:
mit Kandidaten geschehen ist, die die Unterstützung der einfachen Leute »Kein Platz für die Armen«.
gewonnen haben und sich dann trotzdem den alteingesessenen Parteibon-
zen verpflichtet fühlen. So wird es also unsere Aufgabe sein, Kandidaten
auszusuchen und zu unterstützen, denen wir vertrauen können.
Es wird von großer Bedeutung für uns sein zu wissen, was in euren
Die Auflösung der »NationalWelfare Rights Organization«
Gemeinden vorgeht, damit wir von der Bundesebene aus daran arbeiten
können, die Pläne für das nächste Jahr zu entwickeln. Fangt also schon jetzt Während dieser Periode war eine ganze Reihe lokaler Aktivisten zu
an: Trefft euch mit anderen Gruppen, vor allem Frauengruppen, uni eure dem Schluß gekommen, daß auch in der Bundesorganisation der
Strategien zu diskutieren. Als Wohlfahrtsempfänger, die einen großen Teil NWRO »kein Platz für die Armen« sei. Auf dem Bundeskongreß
der Armen in diesem Land repräsentieren, ist es unsere Aufgabe, die Forde- von 1971 kam es dann zu einer Revolte, die von einigen älteren
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Aktivisten angeführt wurde. Der Aufstand richtete sich gegen die zu dieser Zeit bereits zu einer effektiven Spaltung zwischen »or-
Tatsache, daß den Mitarbeitern an der Basis kaum noch Hilfe durch ganizers« und den Sprechern der Empfängergruppen geführt.
die Bundesorganisation zuteil wurde, obwohl die politische Arbeit Letztere trafen sich separat mit einigen Mitgliedern des nationa-
vor Ort vollends zusammenzubrechen drohte. Den Aktivisten ging len Stabes in der offensichtlichen Absicht, die Richtlinien der Or-
es um eine Ausweitung der Mitgliedschaft, um vor den politischen ganisationspolitik festzulegen; »organizers« wurden dabei nicht
Gremien der Bundesstaaten und Kommunen als ernstzunehmende konsultiert. In diesem Sinne war die NWRO wahrhaftig eine Orga-
Lobby gegen die vielfältigen Kürzungen in der Sozialfürsorge auf- nisation der Armen; die »organizers« hatten mittlerweile einiges
treten zu können; sie verlangten von der Zentrale die Bereitstellung Mißfallen über ihren Ausschluß geäußert (obwohl sie selbst diese
von Mitteln, um diesen Prozeß vorantreiben zu können. In ihren Organisationsstruktur geschaffen hatten). In der Praxis fiel den
Augen war der Aufbau lokaler Gruppen für die Bundesorganisa- Delegierten der lokalen Gruppen meist nur eine rein formelle Rolle
tion — aufgrund ihrer Fixierung auf die Lobby-Aktivitäten in der im politischen Entscheidungsprozeß zu; die Macht hielten die
Bundeshauptstadt — zu einem Problem von zweitrangiger Bedeu- gewählten Vertreter der einzelnen Bundesstaaten, die den Nationa-
tung geworden. Ferner beklagten sie die negativen Auswirkungen, len Koordinierungsausschuß und das Exekutivkomitee bildeten, in
die die wiederholten Aufrufe der NWRO zu zentralen Demonstra- ihren Händen. Diese Frauen waren in der Regel für die Sprecher
tionen in Washington (und später anläßlich der Nominierungskon- der Ortsgruppen so prominent und einschüchternd geworden, daß
vente der beiden großen Parteien) auf die politische Arbeit vor Ort sie den Meinungsbildungsprozeß auf den Kongressen beliebig
hatten, Diese Demonstrationen lenkten die Empfängergruppen dominieren konnten. Den Delegierten überließ man nur noch die
von lokalen Aktivitäten ab, und die Reisekosten rissen große Ratifizierung der von der Führung vorgelegten Beschlüsse. Die
Löcher in die ohnehin nicht besonders gefüllten Kassen der Orts- Kongresse der siebziger Jahre dienten im Grunde genommen nur
gruppen. noch den Interessen der Organisationsleitung. »Organizers« und
Schon der äußere Charakter des Bundeskongresses von 1971 löste einfache Delegierte fühlten sich nicht berücksichtigt, an den Rand
Unmut unter den Aktivisten aus. Der Kongreß sollte die Rolle der gedrängt durch die großen Gesetzgebungsvorhaben der NWRO,
NWRO als einflußreiche Lobby und potentieller Bündnispartner durch die Amtsträger, die ihren Besuch abstatteten, durch die Pres-
wirksam in Szene setzen. Zum Hauptredner hatte man Senator sekonferenzen und die vorher festgelegten Tagesordnungen. Sie
George McGovern auserkoren, der sich damals zwar schon auf waren verwirrt und gelangweilt durch die endlosen Stunden, die
seine Kandidatur für die Wahl zum Demokratischen Präsident- damit verbracht wurden, Zusätze zum ausgefeilten Statut der
schaftskandidaten vorbereitete, aber noch nicht allzu häufig aufge- NWRO zu verabschieden und Resolutionen zu erörtern, die sich
fordert wurde, als Redner auf Kongressen aufzutreten. McGovern mit Gesetzesvorschlägen auseinandersetzten, die vom Alltagsleben
hatte sich bereit erklärt, einen Gesetzentwurf über ein garantiertes der Aktivisten weit entfernt schienen. Die Wut war verflogen, die
Mindesteinkommen, der von der NWRO entworfen worden war, Spontaneität, das Gefühl der Zusammengehörigkeit, Solidarität
im Kongreß einzubringen (nicht jedoch, ihn auch öffentlich zu und Militanz waren ebenfalls verschwunden. Das alles hatte dem
unterstützen), und die Führung hoffte, dem Entwurf durch McGo- Focus auf Organisationsstruktur und politischer Einflußnahme
verns Anwesenheit auf dem Bundeskongreß nationale Beachtung weichen müss en.
verschaffen zu können. Neben dem Senator verliehen noch andere Die Beschwerden der »organizers« prallten an den Mitgliedern
bekannte Persönlichkeiten, wie Shirley Chisholm und Gloria Stei- des nationalen Stabes und des Nationalen Koordinierungsaus-
nem, der Rednertribüne Glanz. Anwesende »organizers« machten schusses jedoch weitgehend ungehört ab. Aus dem fortwährenden
jedoch darauf aufmerksam, daß niemand über die Rekrutierung Streit um Ressourcen und Prioritätensetzung ging die Organisa-
neuer Mitglieder redete, was ihnen erhebliche Kopfschmerzen tionsleitung in aller Regel als Sieger hervor, hauptsächlich aufgrund
bereitete. ihrer überlegenen Fähigkeit, Spenden zu werben und die öffentli-
Zudem hatte die Struktur der NWRO und ihrer Bundeskongresse che Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, selbst wenn letztere durch
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die Aktivitäten lokaler »welfare rights«-Gruppen geweckt worden und für den Kampf um bessere politische Repräsentation der Armen auf
war. Folglich wandten sich nach dem Kongreß von 1971 viele »or- den Parteikonventen der Demokraten und Republikaner auf. Auf dem
NWRO-Kongreß haben die Leute mir ständig in den Ohren gelegen, daß
ganizers«, besonders die erfahreneren, von der NWRO ab. Bis zu
der nationale Apparat in den letzten beiden Jahren alle Mittel an sich geris-
diesem Zeitpunkt hatten sie große Loyalität bewiesen; man konnte sen hätte und daß sie da draußen gekämpft, von dem Geld aber nichts gese-
sich stets darauf verlassen, daß sie sich den Entscheidungen der hen hätten. Wenn wir in den nächsten sechs Monaten r00000 Dollar rein-
Führung beugten. Doch das war nun vorbei. Die NWRO hatte bekommen sollten, dann, denke ich, werden 8o% im Feld ausgegeben
zuerst ihre Mitgliederbasis eingebüßt; jetzt verlor sie die Treue vie- werden.«
ler ihrer ältesten Aktivisten.
In einem Informationsblatt kündigte die Organisationsleitung wei-
Wie gering man in diesen Jahren die Bedeutung der Basisarbeit tat-
sächlich schätzte, wird durch die Aufteilung des Bundeshaushalts terhin an:
der NWRO offenkundig. In den ersten Jahren war ein bescheide- ADie Kongreßdelegierten haben das nationale Büro angewiesen, unsere
ner Anteil dafür aufgewandt worden, die Gehälter und andere Aus- Prioritäten neu zu überdenken und unsere Basisaktivitäten wiederzubele-
gaben einiger lokaler »organizers« abzudecken; ein anderer Teil ben, so daß wir die lokalen Gruppen kontinuierlich bei ihren Aufbau- und
ging an den Mitarbeiterstab in der Bundeshauptstadt, dessen Organisierungsaktivitäten unterstützen können. Es ist schon seit einiger
Zeit, seit dem Ende der Auseinandersetzungen um den FAP, die Absicht des
Hauptaufgabe damals noch darin bestanden hatte, die lokalen
nationalen Büros gewesen, diesen Prozeß einzuleiten. Das nationale Büro
Gruppen mit bestimmten Dienstleistungen zu versorgen. In den hat sich nun verpflichtet, den größten Teil seiner Ressourcen in die Organi-
siebziger Jahren floß jedoch fast das gesamte Spendenaufkommen sierungsarbeit in den Gemeinden 7U stecken.«
in die Kanäle des nationalen Apparates. Die NWRO verfügte in
jenen Jahren über ein recht beachtliches Budget, in der Regel weit Doch es war schon zu spät. Die Chance, die Basis zu organisieren,
über s o 000 Dollar pro Jahr. Doch nur ein verschwindend kleiner bestand nicht mehr — nicht zuletzt, weil sich die Unruhe unter den
Teil davon fand den Weg in die lokalen Niederungen. Es war wie so Schwarzen gelegt hatte. Und nach dem Niedergang der schwarzen
oft: in Washington hatte sich eine große Bürokratie entwickelt; die Bewegung waren auch die Geldquellen versiegt, ohne die politische
Zahl der festangestellten Mitarbeiter schwankte zwischen 3o und Arbeit nicht möglich war. Wie zuvor schon die Regierung, hatten
so. Die regelmäßigen Sitzungen des Vorstands und des Nationalen auch private Eliten damit begonnen, Organisierungsbemühungen
Koordinierungsausschusses waren kostspielig. Recherchen, die unter der städtischen, schwarzen Armutsbevölkerung ihre Unter-
Herstellung von Artikeln, Broschüren usw. und das Drucken der stützung zu entziehen. Ein Geldgeber nach dem anderen ließ ver-
Veröffentlichungen — alles Aktivitäten, auf die eine effektive Lobby lauten, man lege »das Schwergewicht nicht länger auf die Armut«.
nicht verzichten kann — verschlangen eine Menge Geld. Nationale Infolge dieser Entwicklung baute die NWRO rasch einen gewalti-
Demonstrationen waren überaus teuer: die Planung und Durch- gen Schuldenberg auf. Im Herbst 1974 gab Johnnie Tillmon (der
führung des »Children's March for Survival« verschlang zum erste Bundesvorsitzende der NWRO), der nach Wileys Rücktritt
Beispiel laut Schätzungen mehr als to° ooc Dollar. Mit anderen im Dezember 1972 dessen Posten als permanenter Exekutivdirek-
Worten, die lokalen Gruppen wurden, trotz ihres weit geringeren tor übernommen hatte, einen »Gesamtplan für die Erhöhung des
Spendenaufkommens, weitgehend sich selbst überlassen. Spendenaufkommens der ›NationalWelfare Rights Organization«<
Auf dem Kongreß von 1973 ließen die übriggebliebenen lokalen bekannt. Der Plan setzte das Ziel, sechs Jahre lang jährlich eine
Aktivisten und Fürsorgeempfänger noch eine Menge mehr Dampf Million Dollar an Spenden — vor allem in Form kleiner Beträge
ab. Die damalige amtierende Vorsitzende der NWRO, Faith Evans, von den Armen — aufzubringen. Doch die Reaktion blieb aus —
berichtete einem Reporter der Washington Post nach dem Kon- weder die Armen noch sonst jemand rührte sich. Einige Monate
greß: später war die NWRO bankrott und das nationale Büro wurde
»Die NWRO wandte ihr (1972er) Budget von 3co coo Dollar für den geschlossen.
Kampf gegen Präsident Nixons Vorschlag zur Reform der Sozialfürsorge Die NWRO hat ihr selbstgestecktes Ziel nie erreicht: eine dauer-
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hafte Massenorganisation aufzubauen, durch die die Armen Ein- nach Unterstützung verlangten, wodurch sie einerseits prompte
fluß hätten ausüben können. Die NWRO hatte ein kurzes Leben— Zugeständnisse von seiten der Fürsorgeverwaltungen erhielten und
sechs oder sieben Jahre war sie erst alt, als sie unterging. Ebenso andererseits Druck erzeugten, um auch vom Bund Konzessionen
mißlang ihr Versuch, eine Massenbasis zu gewinnen: auf ihrem zu erzwingen. Wäre sie nicht mit verbreitetem Aufruhr und der sich
Höhepunkt zählte sie nicht mehr als 25 000 erwachsene Mitglieder. verschärfenden Finanzkrise der Kommunen konfrontiert gewesen,
Auch glauben wir, daß ihre Bedeutung als Lobby relativ gering war, die Roosevelt-Administration hätte sich wohl kaum zur Nothilfe
obwohl sie im Laufe der Zeit fast ihre gesamten Ressourcen in diese für die Bedürftigen bereitgefunden. Doch auch damals wandten
Aktivitäten steckte. sich »organizers« schon bald der Aufgabe zu, ausgefeilte Organisa-
Doch letztlich war die NWRO nicht aus diesen Gründen ein tionsstrukturen auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene
Fehlschlag. Wir hatten ohnehin nicht erwartet, daß die NWRO auf zu entwickeln und feste Beziehungen zu verantwortlichen Politi-
Dauer bestehen bleiben, eine Massenbasis gewinnen oder zu einer kern aufzubauen. Die Führer der Armen verwandelten sich allzu
einflußreichen Lobby heranreifen würde. Wir messen die NWRO schnell von Agitatoren zu Lobbyisten, ihre Gefolgschaft wurde
vielmehr an einem anderen Kriterium, nämlich ob sie die momen- zunehmend inaktiv, und so ging die Fähigkeit verloren, die Instabi-
tane Unruhe unter den Armen ausnutzte, um ein Maximum an lität zur Erzielung ökonomischer Zugeständnisse an die Armen zu
Konzessionen als Gegenleistung für die Wiederherstellung der nutzen. Schließlich, nachdem die Massenunruhen verebbt waren,
Ruhe zu erringen. Es ist dieses Kriterium, das die NWRO zum brach die »Workers' Alliance« zusammen. Die Fürsorgebewegung
Fehlschlag stempelt. der sechziger Jahre durchlief dieselben Prozesse und erlitt dasselbe
Die NWRO hatte einen Slogan — »Brot und Gerechtigkeit« —, und Schicksal.
sie hatte begriffen, daß für die Menschen auf der unteren Stufe der
gesellschaftlichen Hierarchie ein bißchen Brot ein bißchen Gerech-
tigkeit bedeutet. Hätte sie eine Mobilisierungsstrategie verfolgt Abschließende Bemerkungen zur Bewegung der Schwarzen
und mehr und mehr der Bedürftigen dazu ermuntert, Sozialhilfe zu nach dem Zweiten Weltkrieg
fordern, hätte die NWRO vielleicht einer weiteren Million Fami-
lien zu öffentlicher Unterstützung verholfen. Millionen anspruchs- Als die sechziger Jahre zu Ende gingen, hatte die Bewegung der
berechtigter Familien, vor allem aus dem Kreis der Älteren und Schwarzen, die in der Nachkriegszeit entstanden war, einige, wenn
der erwerbstätigen Armen, hatten noch keine Beihilfen beantragt, auch bescheidene, ökonomische Fortschritte erzielt. Ein großer
und Hunderttausenden potentieller AFDC-Empfänger wurde von Teil der arbeitslosen und verarmten Massen in den Städten erhielt
den lokalen Fürsorgeämtern noch immer die Unterstützung ver- Sozialfürsorge. Andere hatten vom wachsenden Umfang der städti-
sagt. Um diese Armen mobilisieren zu können, hätten sich die schen Angestellten profitiert, der zum Teil durch die Bundespro-
NWRO-Führer jedoch aus den Wandelhallen der Parlamentsge- gramme während der »Great Society«-Periode stimuliert worden
bäude und aus den Sitzungsräumen der Parteitage zurückziehen war. Die Hochkonjunktur der späten sechziger Jahre hatte zudem
und statt dessen in die Fürsorgeämter zurückkehren müssen; sie mehr Schwarzen das Tor zur Beschäftigung im privaten Sektor
hätten auf Stellungnahmen vor Parlamentsausschüssen und ähn- geöffnet. Insgesamt hatte die Ausdehnung der Beschäftigung im
liche Versuche politischer Einflußnahme verzichten und statt des- öffentlichen und im privaten Sektor die Arbeitslosenrate der nicht-
sen wieder vor Ort agitieren müssen. Sie taten es nicht, und so weißen Bevölkerung etwas gesenkt.
wurde die Chance, für mehr Arme »Brot und Gerechtigkeit« zu Mitte der siebziger Jahre waren all diese Fortschritte schon wieder
erlangen, vertan. erheblich durchlöchert worden. Dafür gab es mehrere Gründe.
Die Parallele zur Bewegung der Fürsorgeempfänger während der Einmal wurden Konzessionen des Bundes wieder zurückgenom-
Großen Depression ist verblüffend. Die Armen übten nur so lange men, nachdem der schwarze Protest verstummt war. Mit dem
Einfluß aus, wie sie auf Sozialämtern demonstrierten und lautstark Amtsantritt Richard Nixons wurde die Administration der Sozial-

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fürsorge durch Bundesstaaten und Kommunen restriktiver ge- Die zugrundeliegenden Bedingungen der städtischen Finanzkrise
handhabt, was teilweise auf rhetorische Drohungen und ein- hatten mindestens schon zwei Jahrzehnte früher eingesetzt. In den
schränkende Richtlinien der Bundesregierung zurückzuführen Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verloren viele ältere Städte
war. einen Teil ihrer Industrie. Dieser Rückgang der innerstädtischen
Gleichzeitig wurden die Programme der »Great Society«, die dem Produktion hatte eine Reihe von Gründen. Zum Teil resultierte er
schwarzen Protest als materielle Unterstützung und als Rechtferti- aus der Verlegung alter Fabriken in den Süden und ins Ausland
gung gedient hatten, zurückgenommen, laufende Aktivitäten ein- sowie aus Neuinvestitionen zur Ausnutzung der dort billigeren
geschränkt und die finanziellen Mittel zugunsten von »revenue- Arbeitskraft. Zum Teil resultierte er auch aus der Verlagerung der
sharing« oder Pauschalzuwendungen an die Einzelstaaten gekürzt Produktion in die Vorstädte, wo zwar die Arbeitskräfte nicht unbe-
bzw. gestrichen. Was immer die Formeln zur Neuverteilung des dingt billiger waren, wo aber der vom Bund finanzierte Ausbau des
Steueraufkommens sonst noch bedeutet haben mögen, sie leiteten Straßennetzes, des Wohnungswesens und anderer Teile der Infra-
langsam die Geldströme von den älteren Städten zu reicheren Vor- struktur die Geschäftsunkosten auf mehrfache Art senkte. Zum
orten, Städten und Gemeinden um; gleichzeitig wurde innerhalb Teil erfolgte er aufgrund der Tatsache, daß der Bund seine Verteidi-
der einzelnen Gemeinden ein Teil des Geldes, mit dem zuvor gungs- und Raumfahrtinvestitionen vor allem in den neueren Städ-
Arbeitsplätze und Dienstleistungen in den Gettogebieten geschaf- ten des Südens und Westens und nicht in den alten Industriestädten
fen worden waren, dafür aufgewendet, den Polizeiapparat zu finan- tätigte. Diese Trends der Produktionsverlagerung gingen Hand in
zieren oder die lokalen Steuersätze zu senken. Hand mit der Flucht von Handelsunternehmen und vielen wohlha-
Während die Bundesregierung die Programme kürzte, die die Not benderen Bürgern aus den älteren Innenstadtbezirken in die vorge-
der städtischen Armutsbevölkerung gelindert hatten, verursachte lagerten Gemeinden und den Süden der Vereinigten Staaten.
die anhaltende und wachsende Inflation der siebziger Jahre einen (Inzwischen sind eine Reihe dieser Innenstädte mit Hilfe von Bun-
scharfen Rückgang des Lebensstandards bereits verelendeter desmitteln zur Stadterneuerung durch den Bau von riesigen Büro-
Bevölkerungsteile. Die Arbeitslosenrate der Schwarzen war, wie türmen und von Luxus-Appartement-Komplexen saniert worden.
üblich, bedeutend höher als die der Weißen; und die Inflation zer- Hier residieren jetzt die zunehmend komplexen Verwaltungsappa-
störte zusehends die Kaufkraft der Sozialhilfezahlungen, die — auf- rate und das Management nationaler und internationaler Kon-
grund des feindseligen politischen Klimas der siebziger Jahre — nur zerne, deren Produktionsstätten ganz woanders angesiedelt wor-
selten erhöht wurden, mit Sicherheit nicht so weit, daß sie mit der den sind.)
Inflationsrate hätten Schritt halten können. Mitte der siebziger In der gleichen Periode hatten sich aber auch in großer Zahl
Jahre war in vielen Bundesstaaten das reale Einkommen der Wohl- Schwarze und hispanische Einwanderer in den Städten niedergelas-
fahrtsempfänger schließlich um bis zu 5o% zurückgegangen. sen. Mitte der sechziger Jahre wurden diese entwurzelten und ver-
Diese Trends galten für die USA als ganze. Die Minderheiten elendeten Menschen schließlich rebellisch. Ihre Auflehnung trug
waren dagegen überwiegend in den älteren Städten des Nordens wiederum dazu bei, daß auch andere Gruppen Forderungen stell-
konzentriert, wo die Auswirkungen der ökonomischen Trends der ten, so zum Beispiel die städtischen Angestellten. Da die Bürger-
siebziger Jahre noch härter ausfielen und die Folgen von Inflation meister sich bemühten, diese aufsässigen Bevölkerungsteile durch
und Rezession durch bestimmte politische Entwicklungen ver- Schaffung von Arbeitsplätzen, Hilfsprogrammen und Dienstlei-
stärkt wurden. Die sogenannte ,Finanzkrise der Städte« in den stungen zu besänftigen, schwollen die Haushalte der Städte schlag-
siebziger Jahren signalisierte eine konzentrierte Anstrengung der artig an. Doch solange die Städte noch in Aufruhr waren, mußte der
politischen und ökonomischen Eliten, das Realeinkommen der politische Preis, den die Rebellen forderten, gezahlt werden, um
untersten Schicht der amerikanischen Arbeiterklasse durch weitge- die Ordnung wiederherzustellen. Folglich mußten die Kommunen
hende Einschränkung der Dienstleistungen, die dem öffentlichen trotz der fortwährenden Schwächung ihrer ökonomischen Basis
Sektor abgerungen worden waren, zu reduzieren. die Steuern erhöhen und die Regierungen von Bund und Ländern
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immer weitere Zuschüsse gewähren. Mit diesen Mitteln konnten gen gebracht und übernahmen willig die Rolle des passiven Beob-
sich die Städte finanziell über Wasser halten — und auch politisch achters einer Lokalpolitik, an der sie sich noch vor kurzem aktiv
überleben. Alles in allem nahm der Anteil des amerikanischen beteiligt hatten.
Sozialprodukts, der in den öffentlichen Sektor floß, in den sechzi- Mit der Begründung, einen drohenden Bankrott abwenden zu
ger Jahren beträchtlich zu; der größte Teil dieses Anstiegs war auf wollen, sind lokale Kapitalinteressen, die in den Vereinigten Staaten
wachsende Kommunal- und Staatshaushalte zurückzuführen. oft im Gewand städtischer Reformgruppen operieren, auf die
Anfang der siebziger Jahre herrschte dann wieder Ruhe in den Bühne getreten, um die Lokalpolitik grundlegend zu modifizieren.
Städten, war die politische Stabilität weitgehend wiederhergestellt Auf der einen Seite bestehen sie auf Kürzungen der Zahl der städti-
— nicht zuletzt ein Ergebnis der Zugeständnisse aus den sechziger schen Bediensteten, ihrer Löhne und Zusatzleistungen sowie des
Jahren. Zur selben Zeit aber wurde das Mißverhältnis zwischen Dienstleistungsangebots für die einzelnen Stadtviertel. Auf der
Ausgaben und Einnahmen in den älteren Städten immer dramati- anderen Seite argumentieren sie, Länder und Gemeinden müßten
scher, denn aufgrund der rezessiven Wirtschaftspolitik der Nixon- zur Aufbesserung der sinkenden städtischen Einkünfte neue und
und Ford-Regierung verschärften sich die langfristigen ökonomi- stärkere Konzessionen an die Unternehmen machen: niedrigere
schen Trends, die die industrielle Basis der Städte unterminierten. Steuern, verbesserte Dienstleistungen, mehr Subventionen und
Während die Arbeitslosenraten in den Stadtzentren weiter zunah- eine Lockerung der staatlichen Aufsicht in Bereichen wie Umwelt-
men, wurde das Steueraufkommen der Städte immer geringer, schutz. Der Fall New York, dessen Not allenthalben auf den Ti-
zumal die städtischen Haushalte zu einem großen Teil durch telseiten stand, dient dabei nur als Beispiel, als Lektion für die Ar-
Umsatz- und Einkommenssteuern gespeist wurden. Darüber hin- beiterschaft und Armutsbevölkerung in anderen Städten und als
aus schränkten Bund und Länder ihre Finanzhilfen an die Kommu- Aufforderung, ähnlichen und noch drastischeren kostensenkenden
nen wieder ein, nachdem sich der Aufruhr der sechziger Jahre Maßnahmen anderer lokaler Führungsgruppen keinen Widerstand
gelegt hatte — die Finanzlage der Städte wurde dadurch noch prekä- entgegenzusetzen.
rer. So wurde die Zeit reif für die Mobilisierung nationaler und Entgegen allem Anschein blieb die Bundesregierung von den
lokaler Wirtschaftsinteressen: immer stärker wurde der Druck, die Finanzsorgen der Städte nicht unberührt. Die städtische Finanz-
kommunalen Haushalte durch Beschneidung der Kosten für popu- krise verlieh im Gegenteil einer nationalen Wirtschaftspolitik Legi-
listische Sozialprogramme wieder auszugleichen. timität, die die Ausgaben der öffentlichen Hand in den Vereinig-
Auslösefaktor für die Kapitalintervention war der drohende Bank- ten Staaten insgesamt senken will — eine Wirtschaftspolitik, an
rott der Stadt New York im Jahre 1975. Banken, in deren Besitz sich der die großen Kapitalgruppen des Landes ein hohes Interesse
eine große Anzahl von Wertpapieren der Stadt befand, waren über haben. Die allmähliche Kürzung der Zuschüsse des Bundes an die
die rapide Zunahme der kurzfristigen Anleihen, die New York vor- älteren Stadtzentren in den letzten Jahren führte zusammen mit der
nahm, beunruhigt und weigerten sich, größere Darlehen zu gewäh- Weigerung der Bundesregierung, am Rande des Bankrotts stehende
ren, bevor die Stadt »ihr Haus in Ordnung gebracht« habe. Was die Städte zu unterstützen, zu einer Verschiebung des Gleichgewichts
Bankiers auch immer beabsichtigt haben mochten, ihr Vorgehen zwischen öffentlichem und privatem Sektor in den Vereinigten
machte die Gefahr eines spektakulären Bankrotts der Stadt New Staaten, wo die Haushalte der Länder und Gemeinden in
York deutlich. Am Ende brauchte die Stadt zwar keinen Konkurs der Tat zwei Drittel der gesamten Regierungsausgaben repräsen-
anzumelden, aber das dramatische Geschehen hat den Einwohnern tieren.
der amerikanischen Städte ganz neue Definitionen der städtischen Wie auch immer man über das Ausmaß der Kapitalkrise in denVer-
Finanzsituation vermittelt. Es hieß nun schlicht, es stehe kein Geld einigten Staaten denken mag, es besteht kein Zweifel, daß diese
zur Verfügung, und die städtischen Etats müßten ausgeglichen sein. Methode der Kapitalbildung die unteren Einkommenskategorien
Angesichts dieser Definition sind städtische Interessengruppen der Bevölkerung am stärksten belastet (d. h. gerade diejenigen
furchtsam, verwirrt und hilflos geworden; sie wurden zum Schwei- Gruppen, die aus einer Stärkung der Position des amerikanischen
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Kapitals und aus einer nachfolgenden Prosperitätsperiode den wurden diese Entscheidungen doch im Grunde jetzt allein von
geringsten Nutzen ziehen werden). Kurz gesagt, unter dem Deck- Bankiers und Geschäftsleuten getroffen.
mantel der städtischen Finanzkrise haben sich lokale und nationale Die Chancen, diese Kampagne gegen die städtischen Armen mit
Kapitalinteressen zusammengeschlossen, um ihre totale Kontrolle Hilfe des traditionellen politischen Prozesses zu stoppen, wären
über den Staatsapparat auf der kommunalen Ebene wiederherzu- unter keinen Umständen günstig gewesen. Als jetzt auch noch füh-
stellen — auf der Ebene nämlich, wo die Kämpfe von Teilen der rende Vertreter der Finanz- und Geschäftswelt die Kontrolle an
Arbeiterschaft und der Armutsbevölkerung in den sechziger Jahren sich rissen, wurden die Bemühungen einiger Gruppen, mit den
einige Konzessionen erzwungen hatten. gewählten politischen Vertretern in Ländern und Gemeinden über
Die Auswirkungen dieser politischen Entwicklungen auf die in die Erhaltung von Dienstleistungen und Arbeitsplätzen zu verhan-
den Städten wohnenden Minderheiten traten von Anfang an deut- deln, vollends illusorisch, weil die Ereignisse diesen Politikern
lich zutage. Städtische Dienstleistungen für die einzelnen Stadtvier- längst jede Autorität, die sie einmal besessen haben mochten,
tel wurden verringert, und zwar weitaus stärker in den ärmeren als genommen hatten. Länder und Gemeinden haben schon immer
in den gutsituierten Gegenden. einen entscheidenden Teil ihrer Haushalte aus dem kommunalen
Städtische Angestellte wurden in großer Zahl auf die Straße Steueraufkommen gedeckt, dessen Höhe wiederum von der Kon-
gesetzt, und am weitaus stärksten wurden von diesen Entlassungen junktur abhängig ist. Ferner sind sie zur Deckung der Defizite auf
die Minderheiten betroffen, die während und nach den Unruhen private Kreditinstitute angewiesen. In der Praxis bedeutet dies, daß
der sechziger Jahre eingestellt worden waren. In New York zum die verantwortlichen Politiker letztlich gegenüber denjenigen Kräf-
Beispiel wurden zwei Fünftel der schwarzen (und die Hälfte der ten, die die Entscheidungen über Investitionen und Kredite treffen,
hispanischen) Stadtangestellen gerade zu der Zeit gefeuert, als die sich schon immer in einer schwachen Position befunden haben.
Arbeitslosigkeit infolge der Rezession nahezu das Ausmaß der Die wachsenden fiskalischen Belastungen kommunaler und einzel-
Weltwirtschaftskrise erreichte. Vielen Arbeitslosen blieb schließlich staatlicher Haushalte ließen diese Schwäche akut und die Abhän-
nur noch der Weg zum Sozialamt — eine Tatsache, die dem zuneh- gigkeit der Volksvertreter unübersehbar werden. (In New York
mend restriktiven Charakter des Wohlfahrtssystems in dieser Pe- benutzten die Bankiers und Geschäftsleute die Krise in der Tat
riode besondere Grausamkeit verlieh. Kurzum: die Stadtkrise dazu, die politischen Strukturen in der Stadt formell zu verändern:
diente als Begründung für eine Mobilmachung gegen die städtische den gewählten Vertretern wurden sogar ihre traditionellen Rechte
Arbeiterschaft, vor allem gegen den wachsenden Teil, den die Mino- auf Kontrolle des Budgets entzogen.)
ritäten in ihr darstellten. Dennoch beharrten die neuen sch-warzen Führer — unter ihnen die
Schließlich sahen sich die Schwarzen noch einem weiteren Angriff schwarzen Stadtpolitiker, die von der Finanzkrise betroffen waren
ausgesetzt — und auch dieser Punkt stärkt die Kernthese unseres — darauf, die Auswirkungen der Kürzungen in den Gettos mit Hilfe
Buches: Die Auswirkungen der Finanzkrise beraubten sie sogar parlamentarischer Einflußnahme mildern zu können. Die Strategie
noch des begrenzten Einflusses, den sie normalerweise durch die konnte nur scheitern.
Abgabe ihrer Stimmen besitzen. Als die Finanzkrise sich ver- Damit wollen wir nicht behaupten, Niassenproteste wären in der
schärfte, und anschließend Geschäftsleute und Bankiers faktisch Mitte der siebziger Jahre eindeutig möglich gewesen. Niemand
die Kontrolle über die Finanzplanung der Städte an sich rissen, kann mit Sicherheit vorhersagen, wann das »Rumoren des sozialen
wurde die Schicht der gewählten politischen Repräsentanten in den Fundaments« massenhafte Auflehnung hevorbringen wird,
älteren Städten des Nordens entmachtet. Die politischen Fort- obwohl zu der Zeit Veränderungen großen Ausmaßes vor sich gin-
schritte, die die Schwarzen in den sechziger Jahren gemacht hatten gen. Wer hätte schließlich vorhersehen können, daß 19 55 die außer-
— vor allem ihre verbesserte Repräsentation in den gewählten Kör- gewöhnliche Mobilisierung der Schwarzen beginnen würde? Auch
perschaften von Ländern und Gemeinden — blieben weitgehend läßt sich nicht mit Sicherheit vorherbestimmen, wie die Eliten auf
folgenlos, als es darum ging, die Budgetkürzungen zu verhindern, Massenunruhen reagieren werden. Untrügliche Wegweiser, nach
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denen sich Protestbewegungen der Armen richten könnten, existie- A bkürzung sver zeichnis
ren nicht. Doch wenn »organizers« und Aktivisten dazu beitragen
wollen, daß solche Bewegungen entstehen, dann müssen sie immer ADC Aid to Dependent Children
so vorgehen, als seien Proteste möglich. Vielleicht scheitern sie. AFDC Aid to Families with Dependent Children
Vielleicht war es nicht der richtige Zeitpunkt. Aber dann: vielleicht AFL American Federation of Labor
sind sie manchmal erfolgreich. ALP American Labor Party
AWU Auto Workers Union
CAP Community Action Program
CCAP Citizen's Crusade Against Poverty
CIO Congress of Industrial Organizations
COPE Committee an Political Education
CORE Congress of Racial Equality
CPLA Conference for Progressive Labor
CWA CivilWorks Administration
DMWRO Detroit Metropolitan Welfare Rights Organization
FAP Family Assistance Plan
FBI Federal Bureau of Investigation
FEPC Federal Employment Practices Commission
FERA Federal Emergency Relief Administration
GM General Motors
HEW Health, Education andWelfare Department
IAM International Association of Machinists
ICC Interstate Commerce Commission
ILA International Longshoreman's Association
IWW IndustrialWorkers of theWorld
MIA Montgomery Improvement Association
MWIU Maritime Workers Industrial Union
MWRO Massachusetts Welfare Rights Organization
NAACP National Association for the Advancement of Colored
People
NIRA National Industrial Recovery Act
NLB National Labor Board
NLRB National Labor Relations Board
NRA National Recovery Administration
NWRO National Welf are Rights Organization
OEO Office of Economic Opportunity
PAC Political Action Committee
P/RAC Poverty/Rights Action Center
SCLC Southern Christian Leadership Conference
SDS Students for a Democratic Society
399
Student Nonviolent Coordinating Committee Anmerkungen
Supplemental Security Income
SteelWorkers Organizing Committee I.
Trade Union Unity League
United Automobile Workers In diesem Zusammenhang schreibt Max Weber: »Der Grad, in welchem
United Mine Workers aus dem ,Massenhandeln< der Klassenzugehörigen ein Gemeinschaf ts-
Volunteers in Service to America handeln< und eventuell Nergesellschaftungen< entstehen, ist an allge-
Works Progress Administration meine Kulturbedingungen, besonders intellektueller Art, und an den
Welfare Rights Organization Grad der entstandenen Kontraste, wie namentlich an die Durchsichtig-
keit des Zusammenhangs zwischen den Gründen und den Folgen der
>Klassenlage<, gebunden. Eine noch so starke Differenzierung der
Lebenschancen an sich gebiert ein ›Klassenhandeln< (Gemeinschafts-
handeln der Klassenzugehörigen) nach allen Erfahrungen keineswegs.«
(533, Hervorhebung im Orginal)
z So benutzen Zald und Ash auch den Begriff »Organisationen der sozia-
len Bewegungen«, der beide Formen sozialer Aktion subsumiert. In
ihrer späteren Arbeit unterscheidet Roberta Ash zwar zwischen Bewe-
gung und Organisationen der Bewegung, hält aber weiter daran fest,
artikulierte Ziele zum definitorischen Merkmal einer Bewegung zu
erklären.
3 Der vielleicht bekannteste Vertreter dieser verbreiteten Theorie »relati-
ver Deprivation« als Ursache sozialer Unruhen ist Ted Robert Gurr
(1968, 1972). Vgl. auch Feierabend, Feierabend und Nesvold. Eine exzel-
lente Kritik der Theoretiker, die ihre Arbeit auf diese Theorie gründen,
liefert Lupsha.
4 Sowohl de Tocqueville wie seine Schüler haben als weiteren möglichen
Nährboden für öffentliche Unruhen Phasen politischer Liberalisierung
und die sich daraus ergebenden steigenden politischen Erwartungen
angesehen. Der wahrscheinlich bekannteste heutige Vertreter der Theo-
rie »steigender Erwartungen« ist James C. Davies, der mit der soge-
nannten »J-Curve« allerdings eine spezifische Variante entwickelt hat.
Nach Davies kommt es nur dann zu Unruhen, wenn eine Verschlechte-
rung der wirtschaftlichen Lage oder politische Repressionen auf langan-
haltende Phasen des Aufschwungs folgen (1962).
5 Der Ansatz von Marx und Engels ist jedoch historisch genauer und
umfassender als dieTheorie der relativen Deprivation und ließe sich bes-
ser als nicht im Widerspruch zu jener Theorie stehend beschreiben.
Ökonomische Krisen und die damit verbundenen Härten führen
danach nicht nur wegen der extremen Verelendung und der dann statt-
findenden Aufblähung der industriellen Reservearmee zu proletari-
schen Kämpfen, sondern weil Krisenzeiten die dem Kapitalismus inne-
wohnenden Widersprüche offenlegen, insbesondere den Widerspruch
zwischen der Vergesellschaftung der Produktivkräfte und der Anarchie
des Privatbesitzes und des Tausches. Mit Engels Worten: »Die Produk-
401
tionsweise rebelliert gegen die Austauschform. Die Bourgeoisie ist über- Wachstums bestehe. Es deutet jedoch vieles darauf hin, daß diese
führt der Unfähigkeit, ihre eigenen gesellschaftlichen Produktivkräfte Zusammenhänge in den von uns untersuchten Perioden in den USA des
fernerhin zu leiten.« (MEW 19, 282) Deprivation ist, mit anderen Wor- zo. Jahrhunderts durchaus bestanden, und wir halten die Frage für kei-
ten, nur ein Symptom für einen weit tiefergreifenden Konflikt, der im neswegs geklärt. Andererseits stimmen wir, wie noch zu sehen sein
Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Ordnung nicht gelöst wer- wird, in anderem Zusammenhang mit Tillys Betonung von Ressourcen-
den kann. verschiebungen als einer Vorbedingung für kollektive Kämpfe überein.
6 Geschwender weist darauf hin, daß die Hypothesen der steigenden Tilly (1964) sowie Lodhi und Tilly (1973).
Erwartungen und relativen Deprivation (wie auch Status-Inkonsistenz- to Hobsbawm schrieb: »Der klassische Mob begann seine Tumulte nicht
Hypothesen) theoretisch durchaus miteinander zu vereinbaren sind. nur aus Protest, sondern weil er dadurch etwas zu erreichen hoffte. Er
7 Barrington Moore behauptet unverblümt, daß die wichtigen städti- nahm an, daß die Behörden seinen Schritten gegenüber empfindlich
schen revolutionären Bewegungen im 19. und zo. Jahrhundert »alle seien und ihm irgendwelche augenblicklichen Konzessionen machen
Revolutionen aus Verzweiflung und sicherlich nicht aus steigenden würden ...« (142f.) Rudes Darstellung der Lebensmittel-Unruhen
Erwartungen (waren), wie uns einige liberale Revolutionstheoretiker unter den städtischen Armen im 18. Jahrhundert unterstreicht densel-
glauben machen wollen«. Snyder und Tilly scheinen dem jedoch zu ben Sachverhalt (194).
widersprechen, wenn sie berichten, daß kollektive Gewaltaktionen im II Roberta Ash schreibt die Politisierung des Mobs in Boston während der
Frankreich des 19. und zo. Jahrhunderts zumindest nicht mit kurzfristi- revolutionären Zeit des Unabhängigkeitskrieges diesem Prozeß zu. Die
gen Schwankungen der Preise und der industriellen Produktion korre- unzufriedenen Reichen suchten damals Verbündete unter den Armen,
lierten (197z). und während dieses Prozesses wandelten sich Straßenbanden zu organi-
8 Ebenso wie Theorien der relativen Deprivation der Marxistischen Inter- sierten militanten Mitstreitern im politischen Kampf (7o-73).
pretation über den Ursprung von Protesten der Arbeiterklasse und iz Hobsbawm und Rude betonen denselben Sachverhalt, wenn sie auf die
Unterschicht nicht widersprechen, ist auch die Theorie der sozialen Proteste der englischen Landarbeiter gegen die »Enclosure« (Einhe-
Desorganisation durchaus mit der marxistischen Auffassung vereinbar gung des Gemeindelandes) hinweisen: »Sie wollten einfach nicht wahr-
(obwohl die meisten Verfechter dieser Theorie eindeutig keine Marxi- haben ..., daß die Regierung des Königs und das Parlament gegen sie
sten sind). Eine marxistische Interpretation würde also die Bedeutung waren. Denn wie konnte die Verkörperung des Rechts gegen die
sowohl der relativen Deprivation als auch der sozialen Desorganisation Gerechtigkeit sein?« (65)
akzeptieren, diese jedoch nicht als historisch generalisierbare Ursachen 13 Rosa Luxemburgs Diskussion der tiefreichenden und komplexen sozia-
von Aufruhr, sondern als Symptome spezifischer historischer Wider- len Umwälzungen, die zu Massenstreiks führen, unterstreicht diese
sprüche in der kapitalistischen Gesellschaft behandeln. Bertell 011mans Feststellung: »... [es ist] für irgendein leitendes Organ der proletari-
Arbeit über die Bedeutung von Persönlichkeitsstrukturen für die Ver- schen Bewegung äußerst schwer, vorauszusehen und zu berechnen, wel-
hinderung von Klassenbewußtsein und Klassenhandeln verdeutlicht cher Anlaß und welche Ivlomente zu Explosionen führen können und
die Verbindung zwischen sozialer Desorganisation und Massenunru- welche nicht ... weil bei jedem einzelnen Akt des Kampfes so viele
hen aus marxistischer Sicht. 011man argumentiert, »Klie Furcht vor der unübersehbare ökonomische, politische und soziale, allgemeine und
Freiheit< und die Unterwürfigkeit des Proletariats vor Autoritäten ... lokale, materielle und psychische Momente mitwirken, daß kein einzi-
bedeuten letztlich nur den Versuch, in der Zukunft zu wiederholen, was ger Akt sich wie ein Rechenexempel bestimmen und abwickeln läßt. Die
in der Vergangenheit geschehen ist« (4z). Perioden größerer gesell- Revolution ist ... nicht ein Manöver des Proletariats im freien Felde,
schaftlicher Umwälzungen vermögen aber eindeutig Veränderungen sondern sie ist ein Kampf mitten im unaufhörlichen Krachen, Zerbrök-
der Persönlichkeitsstrukturen hervorzurufen, und sei es nur dadurch, keln, Verschieben aller sozialen Fundamente.« (13z)
daß sie die Möglichkeit ausschließen, in der Zukunft zu wiederholen, 14 Die Tendenz, daß die öffentliche Unzufriedenheit gelegentlich zur Bil-
was in der Vergangenheit geschehen ist. dung dritter Parteien (neben den Republikanern und den Demokraten)
9 Hier soll angemerkt werden, daß Charles Tilly in seinem einflußreichen führt, ist natürlich auch ein Beweis für die Stärke der traditionell auf
Werk über kollektive Gewalt im Frankreich des ig. Jahrhunderts die all- Wahlen bezogenen politischen Normen. So fanden schon während der
gemein anerkannte Ansicht nicht bestätigt, daß eine Verbindung zwi- Depression von 1828 bis 1831 Arbeiterunruhen ihren Ausdruck im Auf-
schen Kriminalität und kollektiver Gewalt oder zwischen einer dieser stieg einer Unzahl von politischen Arbeiterparteien, und auch gegen
beiden Variablen und dem vermutlich zerrüttenden Einfluß städtischen Ende des lg. Jahrhunderts, als die Industriearbeiterschaft wuchs, wurde

402 4°3
ein Großteil ihrer Unzufriedenheit in sozialistische Parteien gelenkt, nen, der nicht hinterfragten Legitimität des Regimes, als dessen Vertre-
von denen einige auch bescheidene Erfolge auf der lokalen Ebene errei- ter sie gelten, und der intensiven Identifikation der Menschen mit dem
chen konnten. 1901 wurde die Sozialistische Partei als Zusammenschluß Staat zu (tot— to2).
vieler dieser Gruppen gegründet, und bis 1912 waren i 200 Parteimit- 17 Unsere Überzeugung, daß die Forderungen der Protestierenden,
glieder in 34c Städten unterschiedlicher Größe in lokale öffentliche zumindest in den von uns untersuchten Perioden, genauso stark von
Ämter gewählt worden, darunter in 73 Städten in das Amt des Bürger- ihrer Interaktion mit den Eliten bestimmt werden wie durch die struktu-
meisters (Weinstein, 7). Auch die agrarischen Bewegungen Ende des 19. rellen Tatsachen (oder Widersprüche), die die Bewegungen geschaffen
Jahrhunderts waren überwiegend wahlpolitisch ausgerichtet. Diese Ten- haben, ist ein wichtiger Unterschied zwischen der hier vorgelegten Ana-
denz ist zudem nicht nur in den USA offenkundig. In Europa z.B. ver- lyse und einigen marxistischen Interpretationen. Sieht man die
legten sich die sozialistischen Parteien infolge der enttäuschten Hoff- Ursprünge von Protest nicht im Zusammenbruch sozialer Kontrolle
nungen der Revolution von 1848 und der allmählichen Ausdehnung des oder in relativer Deprivation, sondern in den grundlegenden und
Wahlrechts auf die Arbeiterschaft zunehmend auf die parlamentarische unüberbrückbaren Widersprüchen des Kapitalismus, dann müßten die
Arbeit. Engels Vorwort zu den Klassenkämpfen in Frankreich, in dem er politischen Forderungen der Bewegungen diese grundlegenden und
von den Erfolgen der deutschen Sozialdemokratie durch die parlamen- unüberbrückbaren Widersprüche auch widerspiegeln. Daraus würde
tarische Arbeit spricht, ist zur klassischen Rechtfertigung dieser Politik dann also folgen, daß Bewegungen der Arbeiterklasse und Unterschicht
geworden: »Man fand, daß die Staatseinrichtungen, in denen die Herr- in kapitalistischen Gesellschaften demokratisch und egalitär oder, in
schaft der Bourgeoisie sich organisiert, noch weitere Handhaben bieten, älterer Terminologie, progressiv und letztlich nicht kooptierbar sind.
vermittelst deren die Arbeiterklasse diese selben Staatseinrichtungen Manuel Castells zum Beispiel, der einige der besten Arbeiten aus marxi-
bekämpfen kann. Man beteiligte sich an den Wahlen für Einzellandtage, stischer Sicht über soziale Bewegungen vorgelegt hat, definiert eine
Gemeinderäte, Gewerbegerichte, man machte der Bourgeoisie jeden Bewegung als »einen bestimmten Organisationstypus sozialer Prak-
Posten streitig, bei dessen Besetzung ein genügender Teil des Proleta- tiken, deren Entfaltung im Widerspruch zur herrschenden institutio-
riats mitsprach. Und so geschah es, daß Bourgeoisie und Regierung nellen Logik steht« (93). Mit dieser Definition minimiert Castells ein
dahin kamen, sich weit mehr zu fürchten vor der gesetzlichen als vor der ganzes Bündel von Problemen bei der Einschätzung der politischen
ungesetzlichen Aktion der Arbeiterpartei, vor den Erfolgen der Wahl als Zielrichtung sozialer Bewegungen, das sich aufgrund historischer
vor denen der Rebellion.« (MEW 22, 519) Einige Jahre später veröffent- Erfahrung leider nicht minimieren läßt. Vgl. auch Useem (1975, 27 3 5).
-

lichte Kautsky einen Brief von Engels, in dem dieser von dem Vorwort Um es noch einmal mit anderen Worten auszudrücken: wir halten es
abrückte und erklärte, er habe bei der Abfassung des Textes wegen der nicht für selbstverständlich, daß bewußte (oder subjektive) Hand-
damaligen Umstände dem »ängstlichen Legalismus« der SPD-Führer, lungsorientierungen weitgehend objektiven Klasseninteressen entspre-
welche sich der parlamentarischen Arbeit, die der Partei tatsächlich chen (vgl. Dahrendorf, 165-170, und Balbus für eine Diskussion dieser
große Gewinne bescherte, verschrieben hatten und außerdem die Verab- Unterscheidung).
schiedung angedrohter Sozialistengesetze durch den Reichstag befürch- Gamson argumentiert überzeugend, daß der Gewaltanwendung die
teten, Rechnung tragen müssen (vgl. Howard, 383; Michels, 516, Anm. rationale Abwägung von Erfolgsaussichten zugrundeliegt: »Gewaltan-
6). wendung sollte als instrumentelle Aktion zur Förderung von Gruppen-
15 Burnhams verbreitete Theorie der »kritischen Wahlen«, die aus den zielen gesehen werden, die dann Anwendung findet, wenn die betref-
kumulativen Spannungen zwischen sozio-ökonomischen Entwicklun- fende Gruppe Grund hat anzunehmen, daß sie ihrer Sache dient. ...
gen und dem politischen System resultieren, ähnelt diesem Argument (Sie) erwächst einer Ungeduld, die eher auf Selbstvertrauen und wach-
(1965, 1970). Amerikanische Politologen haben ausführliche empirische sende Durchschlagskraft als auf deren Mangel gegründet ist. Sie findet
Studien über das Verhältnis von ökonomischen Bedingungen und Wäh- statt, wenn Feindschaft gegenüber dem Opfer sie zu einer relativ siche-
lerverhalten angestellt. Diese Untersuchungen unterstützen im großen ren und kostengünstigen Strategie macht.« (8 )
und ganzen die These, daß sich verschlechternde ökonomische Bedin- 19 Dies mag der Grund dafür sein, warum die umfangreichen Daten, die
gungen zu Stimmenverlusten der Regierungspartei führen. Vgl. z. B. nach den Gettoaufständen der sechziger Jahre über Beteiligte und
Bloom und Price; Kramer; Campbell, Converse, Miller und Stokes. Nichtbeteiligte gesammelt wurden, kaum Hinweise darauf gaben, daß
16 Edelmann schreibt den meinungsbildenden Einfluß von Politikern der Anteil von erst kürzlich aus dem Süden Zugewanderten, von weni-
ihrem quasi uneingeschränkten Monopol über bestimmte Informatio- ger Gebildeten oder Arbeitslosen unter den Aufstandsbeteiligten größer

404 4°5
war als an der gesamten Getto-Bevölkerung. Es gibt zwar Daten, die seninteressen durchzusetzen, denn »ihre Produktionsweise isoliert sie
darauf hinweisen, daß die Teilnehmer nicht unter einem höheren Grad voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen« (MEW 8,
an »Entwurzelung« litten, doch ist nur wenig über die soz.ialen Netze 198). Diese Auffassung vom revolutionären Potential des Proletariats
und Strukturen bekannt, durch die der Widerstand mobilisiert wurde. sah nicht die Möglichkeiten voraus, die Arbeitgeber besitzen, um den
Tilly stellt interessante Vermutungen über das Verhältnis von Integration sozialen Kontext von Fabrikarbeit zu manipulieren, die Beschäftigten
und Deprivation an, wenn er darauf hinweist, daß die sozial eher inte- durch Schaffung von Arbeitsplatzkategorien und -hierarchien zu spal-
grierten Ladenbesitzer und Handwerker von Paris den Ausbruch der ten und somit die Arbeiterschaft insgesamt zu »balkanisieren«. Vgl.
französischen Revolution eben gerade deshalb angeführt haben, weil sie Gordon, Edwards und Reich, die die Bedeutung dieser Entwicklung
dazu in der besseren Position waren, eine Art von Führungsrolle beklei- untersuchen.
deten und daher auf die Misere der verarmten Pariser Massen reagieren 23 In seiner Studie über die Bewegung der Kriegsdienstverweigerer wäh-
konnten (1964). Hobsbawm und Rude schreiben den örtlichen Hand- rend des Vietnam-Krieges kommt Useem (1973) zu dem Schluß, daß das
werkern eine ähnliche Rolle bei den englischen Landarbeiterrevolten Fehlen eines institutionellen Rahmens, der die vom Kriegsdienst
des frühen 19. Jahrhunderts zu (1968, 63-64). bedrohten Männer vereinheitlicht hätte, die Mobilisierung der poten-
20 In einer Literaturübersicht zur Französischen Revolution macht Tilly tiellen Gefolgschaft erschwerte.
eine ähnliche Feststellung über die mächtigen Ausbrüche kollektiver 24 C. L. R. James meint vielleicht dasselbe, wenn er schreibt: »Arbeiter
Gewalt unter den sansculottes: Erhebung war eine Fortsetzung, in haben immer dann den größten Erfolg mit kollektiven Aktionen, wenn
extremer Form, ihrer alltäglichen Politik.« (1964, i4)Vgl. auch die Dar- diese im Rahmen ihrer alltäglichen Existenz oder in daraus hervorge-
stellung von Hobsbawm und Rude über die Rolle der »Dorfparla- henden Krisensituationen durchgeführt werden.« (95) Richard Flacks
mente« und Kirchen bei Aufständen der englischen Landbevölkerung argumentiert ähnlich in bezug auf die Bedeutung des von ihm so
(1968, 59-6o). genannten »alltäglichen Lebens« für die Herausbildung sozialer BeWe-
21 Bei Max Weber heißt es dazu: »Ein ganz allgemeines und daher hier zu gungen.
erwähnendes Phänomen der durch die Marktlage bedingten Klassenge- 25 Michael Lipskys Arbeit bildet in gewisser Weise eine Ausnahme, denn
gensätze ist es, daß sie am bittersten zwischen den wirklich direkt am er setzt sich ausdrücklich zum Ziel, Protest als Strategie zur Verwirkli-
Preiskampf als Gegner Beteiligten zu herrschen pflegen. Nicht der chung politischer Ziele zu bewerten (1968, 197o). Das Defizit seiner
Rentner, Aktionär, Bankier ist es, welcher vom Groll der Arbeiter Arbeit liegt nicht in seinem intellektuellen Ziel, das wichtig ist, sondern
getroffen wird — obwohl doch gerade in seine Kasse teils mehr, teils in seinem Verständnis vom eigenen Untersuchungsgegenstand. Protest-
>arbeitsloserer< Gewinn fließt als in die des Fabrikanten oder Betriebsdi- strategien bestehen nach Lipskys Auffassung überwiegend aus »effekt-
rektors —, sondern fast ausschließlich dieser selbst, als der direkte Preis- vollen Darbietungen« machtloser Gruppen, durch die sie die Aufmerk-
kampfgegner.« (534) Michael Schwartz illustriert diesen Punkt in seiner samkeit potentieller Sympathisanten oder bestimmter Bezugsgruppen
Untersuchung über die »Southern Farmers' Alliance«. Die texanischen aus der Öffentlichkeit erregen wollen. Doch mit seiner Definition
Mitglieder der »Alliance« richteten ihre Forderungen an Verpächter und schließt Lipsky die historisch wichtigsten Formen von Unterschicht-
Kaufleute und nicht etwa an die Banken, Spekulanten und Eisenbahnge- protesten, wie Streiks und öffentliche Unruhen aus. Lipskys äußerst
sellschaften, die letztlich für ihr Schicksal verantwortlich waren, denn enge Definition von Protest beruht auf der Tatsache, daß seine Analyse
ihre direkten Erfahrungen hatten die Pachtbauern mit Grundbesitzern auf dem New Yorker Mietstreik basierte, der, wie Lipsky deutlich auf-
und Kaufleuten gemacht. zeigt, hauptsächlich aus Reden und Pressemitteilungen, weniger aus
22 Marx und Engels machen eine ähnliche Feststellung über die Bedingun- echten Streikhandlungen bestand. So ist es auch kein Wunder, daß der
gen, unter denen sich ein revolutionäres Proletariat entwickelt: »Aber Ausgang des Mietstreiks von verstreuten liberalen Reformgruppen
mit der Entwicklung der Industrie vermehrt sich nicht nur das Proleta- bestimmt wurde, die wie stets durch Berichte über den skandalösen
riat; es wird in größeren Massen zusammengedrängt, seine Kraft Zustand der Slumwohnungen aufgeschreckt worden waren und sich
wächst, und es fühlt sie mehr. Die Interessen, die Lebenslagen innerhalb ebenso schnell wieder durch rein symbolische, wenn nicht sentimentale
des Proletariats gleichen sich immer mehr aus, indem die Maschinerie Gesten beruhigen ließen. Ebensowenig verwundert es, daß die Slums
mehr und mehr die Unterschiede der Arbeit verwischt und den Lohn bestehen blieben und die Verhältnisse sich weiter verschlechterten.
fast überall auf ein gleich niedriges Niveau herabdrückt.« (MEW 4, 470) Lipskv folgert aus dieser Erfahrung, daß Protest nur ein schwacher und
Im Gegensatz dazu seien Bauern kaum zu mobilisieren, um ihre Klas- instabiler Einflußfaktor sein kann, und die Reaktion der Regierung ein-

406 407
zig und allein davon abhängt, ob die Protestierenden bedeutende Ver- kein Mensch läßt sich gern auf Kämpfe ein, die nicht zu gewinnen sind.«
bündete finden. Aber obwohl die Schlußfolgerung für den speziellen, (4)
von Lipsky untersuchten Fall zutrifft, scheint sie uns als Generalisie- 29 Im Zuge ihrer Argumentation gegen die These der sozialen Desorgani-
rung über Protest unzuverlässig zu sein. Unserer Meinung nach kann sation schlagen Lodhi und Tilly vor, den Grad kollektiver Gewalt auf
Protest, der nur aus »Lärm«, wie Lipsky es nennt, besteht, kaum ein »... die vorherrschenden Machtstrukturen, die Fähigkeit benachteilig-
brauchbares Mittel sein, denn er ist im Grunde gar kein Protest. Zudem ter Gruppen, kollektiv zu handeln, die Formen staatlicher Repression
sind die Reaktionen sozialer Bezugsgruppen auf Aktionen mit reinem und die unterschiedlichen Auffassungen zwischen Schwachen und
»Show« -Charakter natürlich begrenzt und überwiegend symbolisch. Mächtigen über ihre Rechte auf kollektives Handeln und ihre Ansprü-
Die Reaktionen von Bezugsgruppen aus der Öffentlichkeit spielen che auf begehrte Ressourcen ...« zu beziehen (316). Unserer Meinung
nicht dann eine entscheidende Rolle, wenn sie nur durch »Lärm« provo- nach unterliegt jeder dieser Faktoren in Zeiten schwerwiegender und
ziert, sondern wenn sie durch ernste institutionelle Erschütterungen, weitverbreiteter Instabilität — zumindest zeitweise — der Veränderung.
die der Massenprotest hervorgerufen hat, aufgerüttelt worden sind. Vor allem wird der Handlungsspielraum des Regimes eingeschränkt.
26 In ihrer historischen Studie über die New Yorker Mieterbewegun- 3o »Um jeglichen Konflikt verstehen zu können, darf deshalb niemals das
gen führen Spencer, McLoughlin und Lawson ein interessantes Beispiel Verhältnis zwischen den streitenden Parteien und dem Publikum außer
für diese Form von Machtausübung an, allerdings nicht auf seiten der acht gelassen werden, denn es ist vermutlich das Publikum, das durch
Mieter, sondern der Banken. Als Langdon Post, Vorsteher des Woh- sein Verhalten letztlich den Ausgang des Kampfes bestimmt.._. Der
nungsamts unter Bürgermeister LaGuardia, eine Kampagne zur Durch- stärkere Kämpfer zögert unter Umständen, seine ganze Kraft einzuset-
setzung der Mietvorschriften einzuleiten versuchte, »drohten fünf zen, weil er nicht weiß, ob es ihm gelingen wird, den Gegner zu isolie-
Banken, denen 40o Gebäude in der Lower East Side gehörten, eher die ren.« (Schattschneider, 2)
Häuser räumen zu lassen als sich an die Vorschriften zu halten. Der 31 Die schnell anwachsende marxistische Literatur zur Theorie des kapita-
Präsident der New Yorker Steuerzahler-Vereinigung warnte, daß listischen Staates betont als eine der beiden Hauptfaktoren des Staates
dadurch 4o 000 Wohnungen verlorengehen würden.« Post nahm seine den Erhalt der Legitimation bzw. sozialen Kohäsion (die andere ist die
Drohung zurück (so). Aufrechterhaltung der Bedingungen kapitalistischer Akkumulation).
27 Rosa Luxemburgs Bemerkungen sind wiederum überzeugend: »Mit Unsere Interpretation der Institutionen des politischen Wahlsystems
dem Augenblick, wo eine wirkliche, ernste Massenstreikperiode deckt sich mit diesem generellen Ansatz. Wie zuvor angemerkt, halten
beginnt, verwandeln sich alle >Kostenberechnungen< in das Vorhaben, wir die weite Ausdehnung und Inanspruchnahme des Wahlrechts für
den Ozean mit einem Wasserglas auszuschöpfen. Es ist nämlich ein eine wichtige Quelle der Legitimität staatlicher Herrschaft. Wahlen ver-
Ozean furchtbarer Entbehrungen und Leiden, durch den jede Revolu- stärken die Meinung, die Regierung sei das Instrument einer breiten
tion für die Proletariermasse erkauft wird. Und die Lösung, die eine Mehrheit und nicht spezieller Interessengruppen oder einer bestimm-
revolutionäre Periode dieser scheinbar unüberwindlichen Schwierig- ten Klasse. Dieses Phänomen definierte Marx als die falsche Vorstellung
keit gibt, besteht darin, daß sie zugleich eine so gewaltige Summe von von der Universalität des Staates. (Vgl. auch die aus dieser Perspektive
Massenidealismus auslöst, bei der die Masse gegen die schärfsten Lei- geführte Diskussion des Wahlrechts und der auf dem Wahlrecht basie-
den unempfindlich wird. Mit der Psychologie eines Gewerkschaftlers, renden politischen Parteien bei Poulantzas und Bridges.) Wir behaupten
der sich auf keine Arbeitsruhe bei der Maifeier einläßt, bevor ihm eine ferner, daß das Wahlrecht von großer Bedeutung für die Verteidigung der
genau bestimmte Unterstützung für den Fall seiner Maßregelung im staatlichen Legitimität gegen periodische Herausforderungen ist. Wah-
voraus zugesichert wird, läßt sich weder Revolution noch Massenstreik len dienen als Signal oder Gradmesser für Unzufriedenheit und Ent-
machen.« (133) fremdung der Wähler, und drohende Wahlniederlagen zwingen die
28 Erschütterungen, die auf die jeweils direkt betroffenen Institutionen Amtsinhaber, Maßnahmen zu verkünden, die die Unzufriedenheit
beschränkt bleiben, haben dieselben Merkmale, die Schattschneider dämpfen und die Legitimität wiederherstellen sollen.
begrenzten Konflikten zuschreibt: »Extrem kleine Konflikte sind u. a. 32 Die neuen Staatsdiener wurden im großen und ganzen von lokalen
dadurch gekennzeichnet, daß die relative Stärke der sich gegenüberste- Behörden aufgesogen, die relativ unbedeutende Entscheidungen über
henden Gegner meistens von vornherein bekannt ist. In diesen Fällen Sozialleistungen für die aufständische Bevölkerung fällten. Die Analo-
zwingt die stärkere Seite oftmals der schwächeren ihren Willen auf, auch gie zu der Praxis der Kolonialverwaltungen, Eingeborene zu benutzen,
ohne daß es zu einer offenen Auseinandersetzung gekommen ist, denn ist nicht zu übersehen. Anderson und Friedland schreiben über solche

408 4°9
Behörden und ihre Aktivitäten, daß sie im allgemeinen »Bürgerbeteili- muß doch irgendwas nicht stimmen mit dir.« (1934, 63) Offensichtlich
gung auf lokaler Ebene, isoliert von der nationalen Politik, ermutigen konnte aber die Demoralisierung leichter in Empörung übergehen,
...« (21). Vgl. auch die Diskussion der staatlich geförderten »client- sobald den Leuten klar wurde, daß sie auch als Arbeitslose nicht anders
patron/broker links« bei Katznelson (227). waren als die Menschen um sie herum.
33 Wir glauben, daß James Q. Wilson irrt, wenn er den Niedergang des 5 »In Detroit versammelten sich trotz der Warnungen der Polizei, das
»Student Non-Violent Coordinating Committee« (SNCC) und des Gebiet zu meiden, zwischen so 000 und wo 000 Menschen auf den Stra-
»Congress of Racial Equality« (CORE) darauf zurückführt, daß ihre ßen und Bürgersteigen der Innenstadt. Der Polizeichef Harold
Politik gescheitert sei. Dies habe zu einem ungeheuren Druck geführt, Emmons mobilisierte die gesamte Detroiter Polizeitruppe von 3600
dem diese »Erlöser«-Organisationen, die einerseits die totale Verände- Mann. ... Die Straßenschlachten dauerten zwei Stunden lang an, bis die
rung der Gesellschaft und andererseits außergewöhnlichen Einsatz verzweifelte Polizei städtische Busse und Straßenbahnen anwies . , durch
ihrer Mitglieder forderten, nicht gewachsen gewesen seien. Erstens die Menschenmenge zu fahren, um so die Straßen zu räumen. ... Ein
kann unter gar keinen Umständen behauptet werden, das SNCC und mit den Detroiter Unruhen vergleichbarer Aufruhr fand in Cleveland
CORE seien gescheitert, wie wir im vierten Kapitel darlegen werden. statt, nachdem der Bürgermeister to 000 bis 2.5 000 Demonstranten
Zweitens mögen diese beiden Gruppen in der Tat »Erlösung« angestrebt erklärt hatte, daß es nicht in seiner Macht stünde, ihre Forderungen zu
haben, ihr Scheitern war jedoch die Folge von Regierungsmaßnahmen erfüllen. Dreistündige Ausschreitungen in Milwaukee führten zu sie-
sowohl gegen die Kader als auch gegen die Gefolgschaft. Die Fraktionie- benundvierzig Verhaftungen und vier Verletzten.« (Keeran, 72 73)
-

rung und Desillusionierung beider Gruppen wurden durch staatliche 6 Der Daily Worker meldete 37 Festnahmen und 13o Verletzte in New
Reaktionen hervorgerufen und nicht einfach durch »die Desillusionie- York; 45 Festnahmen und 25 Verletzte in Detroit; 6o Festnahmen und 2o
rung, die sich in Erlöser-Organisationen zwangsläufig breitmacht« Verletzte in Los Angeles; tz Festnahmen und 16 Verletzte in Seattle; II
(18o-182). Festnahmen und 6 Verletzte in Washington (Rosenzweig, 1976 a).
7 Die kommunistischen Anführer der Demonstration wurden jedoch
wegen »ungesetzlicher Versammlung« und »Erregung öffentlichen
Ärgernisses« angeklagt und zu sechs Monaten Haft im Gefängnis auf
Gutman beschreibt diese Proteste von 1873 und die Organisationen, die BlakwelPs Island verurteilt (Leab, 310). Außerdem hatten die Demon-
sie in einer Reihe von Industriestädten anführten (1965). strationen vom 6. März den Effekt, im besorgten Kongreß die Bildung
2 Als der Kongreß die Zensus-Behörde dazu verpflichtete, bei der Volks- eines Ausschusses z.0 rechtfertigen, aus dem das »House Committee on
zählung von 193c auch die Zahl der Arbeitslosen zu ermitteln, meldete Un-American Activities« werden sollte (Bernstein 197o, 427-428).
das Amt 3 Millionen dauerhaft oder vorübergehend Arbeitslose, eine 8 Es muß hier angemerkt werden — weil es oft zu sehr hochgespielt wird
Zahl, die von Experten als viel zu niedrig angesehen wurde. Hoover sah —, daß zwei von der KP geführte Hungermärsche auf Washington in den
sich veranlaßt, die Zahl noch weiter herunterzudrücken, indem er Jahren 1931 und 1932 nur wenig Menschen mobilisierten. Herbert Ben-
5oo 000 bis Million Arbeitslose als Menschen bezeichnete, die gar jamin, der die Märsche organisiert hatte, argumentierte jedoch in einer
nicht die Absicht hätten zu arbeiten, und weitere soo 000 bis Million Rede, die er im April 1976 in New York hielt, daß man es gar nicht auf
als Personen, die sich zufällig gerade zwischen zwei Jobs befunden hät- große Teilnehmerzahlen abgesehen, sondern nur Delegierte lokaler
ten (Bernstein, 197o, 268). Gruppen rekrutiert habe; die Märsche selbst seien »mit militärisch
3 Vgl. Bernstein, 197o, 327 328; Lynd und Lynd, 14.7, 544; Bakke, 194o,
-
geplanter Präzision« durchgeführt worden. Wie dem auch sei, es ist
17, 1VIehrere Studien über die Depression belegen ausführlich den unbestreitbar, daß die Kommunisten in den großen Städten große Men-
zerstörerischen Einfluß der Arbeitslosigkeit auf die familiären Bezie- schenmengen zu mobilisieren vermochten.
hungen. Vgl. Cooley; Komarovsky; Stouffer und Lazarsfeld. 9 In NewYork erhielten in den acht Monaten von November 1931 bis Juni
4 Bakke schildert lebhaft die Demoralisierung und Scham auf seiten 1932 rund 186 000 Familien Räumungsbefehle (Boyer und Morais, 26i).
arbeitsloser amerikanischer wie englischer Arbeiter während dieser Bernstein zitiert eine Studie aus Philadelphia aus dem Jahre 1933, nach
Zeit. Es war das Gefühl, anders zu sein als Arbeitsloser, das so schmach- der 63°/0 der weißen Familien und 66% der schwarzen Familien mit
voll war: »Und wenn man keine Arbeit findet, dann hat man das Gefühl, ihrer Miete im Rückstand waren (1966, 289). Eine zu etwa derselben
gar kein Mensch zu sein. Man fühlt sich fehl am Platze. Man ist dann Zeit im Gebiet von San Francisco durchgeführte Untersuchung ergab
einfach anders als die Menschen um einen herum, so daß man denkt, da ein ähnliches Bild (Huntington). Von Januar 1930 bis Juni 1932 erhielten

41 0 411
in fünf Industriestädten in Ohio fast to° 000 Familien Räumungsbe- 18 Lasswell und Blumenstock liefern einen detaillierten Bericht über diese
fehle (Boyer und Morais, 261). und andere Demonstrationen, von denen viele mit Festnahmen, Verletz-
to Der Daily Worker veröffentlichte ab Herbst 193o eine Vielzahl von ten und Toten endeten (204-2 to).
Berichten über offensichtlich erfolgreiche Widerstandsaktionen gegen 19 Der Kommunist Angelo Herndon, der die Demonstration in Atlanta
Zwangsräumungen. mitorganisiert hatte, wurde anschließend nach einem einhundert Jahre
rt Für eine Schilderung der Mieterunruhen von Chicago siehe: Abbott, alten Gesetz des Staates Georgia wegen Anzettelung eines Aufstandes
Kapitel 14; Bernstein, 197o, 428; Hofstadter und Wallace, 172-175; angeklagt und verurteilt. Das Urteil — 20 Jahre Zuchthaus — wurde dann
Lasswell und Blumenstock, 196-201. allerdings 1937 vom Obersten Gerichtshof aufgehoben.
12 Mit nur einer Ausnahme — einem Trauerzug — wurde jede von den Kom- 20 Die Verfassung des Staates Pennsylvania untersagte ausdrücklich die
munisten im Jahre 193o in Chicago geplante Demonstration unter Bewilligung von Mitteln für »wohltätige Zwecke«. Im Laufe der Zeit
freiem Himmel von der Polizei aufgelöst (Lasswell und Blumenstock, wurde der Druck allerdings so stark, daß das Parlament dennoch unter
168-169). Berufung auf eine Bestimmung über das »allgemeine Wohlergehen«
13 Die »American Civil Liberties Union« berichtete, daß bei den Protest- Gelder bereitstellte (Bernstein, 197o, 459).
aktionen der Arbeitslosen 14 Menschen ums Leben gekommen seien 21 Senator LaFollette ließ diese Antworten in den Congressional Record
(zitiert bei Rosenzweig, 1976 a). aufnehmen (1932, 3099 3 z6o). LaFollette war Vorsitzender des »Senate
-

14 Ein Beamter gibt folgenden Bericht: »[Die Ausschreitungen] erfaßten Subcommittee an Manufactures«, das Anfang 1932 Hearings über Vor-
die ganze Gemeinde. Ich habe die folgenden 48 Stunden da unten auf schläge zu Bundesfürsorgeprogrammen durchführte. Die Aussagen bei
den Straßen verbracht und versucht, die Lage zu beruhigen. Ich ging zu diesen Hearings lieferten überwältigende Beweise für die verheerenden
Ryerson und zum Komitee der führenden Geschäftsleute. ... Ich sagte, Auswirkungen der Arbeitslosigkeit. Dennoch wurde der Gesetzent-
es gäbe nur eine Möglichkeit, um das hier zu stoppen, nämlich indem wurf des Unterausschusses von einer Koalition von Republikanern und
man den zwangsgeräumten Männern wieder Arbeit gibt, und zwar konservativen Demokraten zurückgewiesen. Einige Monate später gab
sofort. Das war am Samstag. Sie sagten: >Wir haben das Geld nicht.< Ich der Kongreß dem wachsenden Druck nach und bewilligte schließlich
sagte: >Dann besorgen Sie besser welches.< Am Montag hatten sie dann Bundesdarlehen durch die »Reconstruction Finance Corporation« für
tatsächlich Geld aufgetrieben, und wir konnten an dem Tag dreihundert die Fürsorgeprogramme der Bundesstaaten. Hoover unterstützte die
Männern Arbeit im Park geben.« (Terkel, 396) Maßnahme, wenn auch nur zögernd, da sie die private und lokale Ver-
15 Bei seiner Umfrage in New Haven stellte Bakke ebenfalls fest, daß drei antwortung für die Sozialfürsorge nicht einschränkte. In gewisser Weise
Viertel der Arbeitslosen erst nachdem sie zwei oder mehr Jahre arbeits- hatte er recht: Die Kredite waren viel zu unbedeutend, um als Einmi-
los waren, Unterstützung beantragten (t94o, 363). schung bezeichnet zu werden.
16 Wie groß die Zahl der Teilnehmer an Aktionen der Arbeitslosen tatsäch- 22 In einigen Städten — Boston, New York, Milwaukee und San Francisco

lich war, bleibt Gegenstand der Spekulation. Rosenzweig, der ausgiebig — kam es damals zu dramatischen Wählerverschiebungen: die Demokra-
über die Bewegung gearbeitet hat, meint, daß »es gut und gerne zwei ten konnten ihre Stimmenanteile hier verdoppeln (Bernstein, 197°, 78—
Millionen Arbeiter waren, die zu irgendeinem Zeitpunkt in den dreißi- 79)-
ger Jahren an Aktionen der Arbeitslosen teilgenommen haben«, doch 23 Raymond Moley schreibt über die Kampagne: »Es war 1932 meine Auf-
führt er keine Belege für seine Schätzung an (1974, 43)• gabe, Wahlhelfer und Ideen für den Präsidentschaftswahlkampf von
17 Sogar in ihrer Herangehensweise an individuelle Not war der Gegensatz Gouverneur Roosevelt zu mobilisieren. Mir waren alle Standpunkte
zwischen den Arbeitslosenräten und privaten Wohltätigkeitsorganisa- willkommen. Ich lud Planer, Trustgegner und Finanzgenies ein, erwei-
tionen auffällig. Noch im Dezember 1932 beschrieb ein Vertreter der terte den sogenannten Brain Trust erheblich und unterhielt Kontakte zu
»Urban League« die Behandlung von Sozialfällen durch seine Organisa- vielen verschiedenen Persönlichkeiten, von Bernard Baruch bis Huey
tion wie folgt: »Wir haben festgestellt, daß wir etwa 75 `)/0 der Beschwer- Long. Die Aufgabe, die es zu bewältigen galt, war folgende: die Wahl bei
den, die an uns herangetragen werden, aus der Welt schaffen können, einer Wählerschaft zu gewinnen, die sich aus vielen verschiedenen Ideo-
ohne das Distriktbüro anrufen zu müssen. Wir erreichen dies, indem wir logien zusammensetzte, zum größten Teil aber gar keine hatte. Das
dem Beschwerdeführer, nachdem wir ihm zugehört haben, geduldig Hauptthema war der ökonomische Wiederaufschwung, und die Thera-
erklären, wie sich der Sachverhalt aus unserer Sicht darstellt« (zitiert bei pie, die wir vorschlugen, setzte sich aus vielen Rezepten zusammen.«
Prickett, 234). (5 59 - 5 60)

412 413
24 Am 23. Mai, dem Tag nach seinem Amtsantritt, teilte Hopkins den Bun- Unternehmer den Gewerkschaftsbund bedrängten, änderte sie ihre
desstaaten mit, die Bundesregierung werde Zuschüsse in Höhe von Haltung.
einem Drittel der Sozialausgaben des Staates im ersten Viertel des Jahres 32 Herbert Benjamin, der Führer der Arbeitslosenräte, sagte später über
gewähren. Im Laufe der Zeit wurde diese Relation allerdings verändert, die Direktiven der Parteiführung zur Überwindung dieser Mängel:
und der Bundesanteil an den Wohlfahrtsausgaben stieg in einigen Bun- »Die Leute unten waren daran nicht interessiert. ... [Sie waren] nur
desstaten auf bis zu 75"1/0 (White und White, 82). daran interessiert, mit allen Mitteln zu handeln« (zitiert bei Rosen-
25 Die Arbeitslosenräte wurden unter diesem Namen offiziell auf einer zweig, 1976 b, 40).
»Nationalen Konferenz der Arbeitslosen« am 4. Juli 1930 in Chicago 33 David Lasser, Sozialist und Anführer einer New Yorker Arbeitslosen-
aus der Taufe gehoben (Bernstein, 1970, 428). 1934 wurde der Name von gruppe, später Vorsitzender der »Workers' Alliance«, argumentierte
»Unemployed Councils« in »Unemployment Councils« umgeändert 1934, die Forderungen der Arbeitslosen hätten nationale Bedeutung
(die in der Übersetzung gewählte Bezeichnung »Arbeitslosenräte« gewonnen, und die Arbeitslosen selbst seien reifer geworden und wür-
unterschlägt diesen kleinen, unbedeutenden Unterschied — d.Ü.) den sich jetzt nicht mehr nur mit kurzfristigen Zugeständnissen zufrie-
26 Ein hoher Anteil der Parteimitglieder war während der ersten Jahre der dengeben, sondern eine Veränderung der Gesellschaft anstreben (New
Wirtschaftskrise arbeitslos, und relativ wenige von ihnen -waren in der Leader, 12. Dezember 1934, 1).
Grundindustrie beschäftigt. Aus diesem Grund legte die Partei in dieser 34 Die weit verbreitete Ansicht, die Politik der amerikanischen KP sei nur
Phase ihr Schwergewicht zum großenTeil auf die Arbeit von Straßenzel- Reaktion auf die Diktate der Internationale gewesen, ist in letzter Zeit
len unter den Arbeitslosen. Später in der Depression änderte sich das. von mehreren jungen Historikern bestritten worden. Sie behaupten, die
27 Es deutet einiges darauf hin, daß die sozialistischen Gruppen — anders Volksfront sei, zumindest teilweise, eine eigenständige — wenn auch viel-
als die Kommunisten — primär Zulauf aus der Mittelschicht hatten, was leicht falsche — Reaktion der amerikanischen Kommunisten auf die
vielleicht darauf zurückzuführen war, daß das Schwergewicht ihrer innenpolitische Entwicklung gewesen. Siehe z.B. Buhle, Keeran und
Arbeit auf der Durchführung von Bildungsprogrammen lag und daß ihr Prickett.
Vorgehen zurückhaltender war; es mag auch daran gelegen haben, daß 3 5 Earl Browder berichtete später, daß die Partei 193 5 begonnen hätte, mit
sie den Eifer der Kommunisten bei der Mobilisierung der Arbeiter- den Fürsorgebehörden des New Deal zusammenzuarbeiten (Buhle,
klasse vermissen ließen. 23 1).
28 Gosnell schildert derartige Wahlkreisaktivitäten in Chicago (1937). 36 Bis dahin hatten die Arbeitslosenräte als Teil der >Trade Union Unity
29 Clark Kerr liefert eine erschöpfende Beschreibung dieser Selbsthilfe- League« gegolten, doch hatte diese Anbindung wenig Einfluß auf den
Gruppen, deren aktive Mitgliedschaft er für 1932 auf 75 000 schätzt. örtlich begrenzten Charakter der frühen Gruppenaktivitäten (Scymour,
3o In Harlem führten sogar die Arbeitslosenräte Lebensmittelsammlun- Dezember 1937, 3).
gen durch, um die unmittelbaren Nöte der Bedürftigen zu lindern 37 Davon abgesehen kamen wegen der Präsidentschaftskampagne von
(Daily Worker; 24. April 1931). Im allgemeinen verurteilten die radikale- Norman Thomas 1932 die Aktivitäten der Sozialisten zur Organisie-
ren Arbeitslosenführer allerdings den Selbsthilfe-Ansatz. Ein Artikel rung der Arbeitslosen zum Erliegen. Man hielt die Wahlkampagne
mit der Überschrift »Organisierte durchsuchen Abfalleimer« in der offensichtlich für wichtiger (Rosenzweig, 1974, 15).
Ausgabe vom März 1933 des Detroit Hunger Fighter, eines Nachrich- 38 Kurz darauf schlossen sich die »Unemployed Leagues« der »American
tenblatts des Detroiter Arbeitslosenrates, deutet darauf hin: »Das Workers' Party« an, welche 1934 gemeinsam mit der Zfrotskyist Com-
Ganze läuft so: Man geht zu allen möglichen Betrieben der Lebensmit- munist League of America« die »Workers' Party of the United States<<
telbranche und tauscht die Arbeitskraft der Arbeitslosen gegen unver- bildete, die sich wiederum 1936 mit der »Socialist Party« zusammen-
käufliche Lebensmittel ein, oder man sammelt alte Kleidung usw., was schloß, bis die Trotzkisten 1937 ausgeschlossen wurden (Rogg, 14;
darauf hinausläuft, daß man den Bossen die Last der Versorgung der Glick). Unter der Obhut der »Workers' Party« gewannen Fragen der
Arbeitslosen erleichtert und daß man sich selbst davor drückt zu kämp- revolutionären Strategie zentrale Bedeutung, und Fraktionskämpfe
fen. ... 5 5% der Bevölkerung können nicht von dem leben, was 4 5 °/0 waren an der Tagesordnung; die »Unemployed Leagues« verloren wäh-
wegwerfen. ...« rend dieser Zeit die meisten ihrer Anhänger (Rosenzweig, 1975, 69-73).
Ganz in der Tradition ihres Voluntarismus hatte sich die AFL bis Mitte 39 Die Demonstration vom 24. November brachte nach Angaben ihrer
1932 gegen Regierungsmaßnahmen zur Unterstützung der Arbeitslo- Organisatoren 3 50000 Menschen in 22 Bundesstaaten auf die Beine
sen ausgesprochen. Erst als die eigene Mitgliedschaft und sogar einige (Rosenzweig, 1974, 24).

414 41 5
4o Wie gewöhnlich gingen die Schätzungen der Mitgliederzahlen weit aus- eigenen Schaden ignorieren konnten. (Die 'Alliance' konnte, entgegen
einander. Die Gruppen, die auf dem Kongreß vertreten waren, gaben Ihrer These, u. a. für sich verbuchen, die Wiederwahl des als unschlagbar
insgesamt 4 so 000 Mitglieder an, doch die kommunistischen Arbeitslo- geltenden Vorsitzenden des einflußreichen >Rules Committee< verhin-
senräte, die damals noch nicht dazugehörten, schätzten die aktive Mit- dert zu haben.) Nach Ihrer Auffassung war es wichtiger, lokale Fürsor-
gliedschaft auf 4o 000— so 000 (Rosenzweig, 1974, 26). geämter wegen irgendwelcher unbedeutender Einzelprobleme in Auf-
41 Laut Rosenzweig nahmen 791 Delegierte an diesem Kongreß teil (1974, ruhr zu versetzen. Wir meinten allerdings, daß es wichtiger war, durch
33); Seymour (Dezember 1937, 8) sowie Brophy und Hallowitz (9) Massenaktionen anständige Maßstäbe und Regelungen zu etablieren
schätzen, daß die »Alliance« nur ungefähr 300 000 Mitglieder gehabt und dann Routineangelegenheiten so zu handhaben, wie ein Betriebsrat
habe. Beschwerden behandelt. Unser Executive Board und die Kongresse, die
42 In Einklang mit dieser neuen Auffassung über die Beteiligung der die Meinung unserer Mitglieder repräsentierten, billigten unsere Poli-
Bevölkerung wurden im Harlemer Nothilfebüro und in der WPA tik. So entwickelten wir den (Marcantonio) 'Relief and Work Standards
schwarze Beraterkommissionen gebildet und eine ganze Reihe von Act< und kämpften für seine Verabschiedung. Ebenso halfen wir unseren
Schwarzen zu leitenden Verwaltungsbeamten befördert (Naison, 403). Ortsgruppen bei der Ausarbeitung von lokalen Statuten nach dem Vor-
43 In Chicago zum Beispiel wurde das Verbot, in den Fürsorgeämtern zu bild dieses Gesetzes. So kämpften wir für einen höheren Wohlfahrtsetat,
demonstrieren, von den Kommunisten entschieden verurteilt und eine um die Zahl der WPA-Beschäftigten zu steigern und die Löhne zu erhö-
Zeitlang auch verletzt. Herbert Benjamin nannte die Tendenz, »mehr hen. ... Ihr grundlegender Irrtum, mein guter Freund, besteht darin,
oder weniger freundliche« Verhandlungen mit den Fürsorgebeamten zu daß Sie von einer falschen Voraussetzung ausgehen. ... Der Kampf der
führen, »rechten Opportunismus« (Rosenzweig, 1976a). Arbeitslosen ist ein politischer Kampf. Er richtet sich gegen die politi-
44 Hopkins drückte vermutlich das damalige liberale Klima aus, als er 1936 schen Institutionen, die öffentlichen Verwaltungen, die die Richtlinien
schrieb, das Arbeitsbeschaffungsprogramm signalisiere die Entschlos- bestimmen und die Mittel bewilligen. Es war unsere Aufgabe, dies rück-
senheit der Vereinigten Staaten, ihre Armen nie wieder in menschenun- ständigen Arbeitern, die nicht begriffen, daß sie ein Recht besaßen und
würdigen Verhältnissen leben zu lassen, und den Kommunen nie wieder deshalb nicht bitten, sondern fordern und kämpfen sollten, klar zu
solch schäbige öffentliche Maßnahmen wie vor den WPA-Programmen machen. Es war leicht, sie dazu zu bewegen, einem Sozialarbeiter wegen
zu gestatten (69). ihrer eigenen, unmittelbaren Probleme die Hölle heiß zu machen. Wir
45 Eine Zählung des Zensus-Büros aus dem Jahr 1937 zeigte, daß alle im lehrten sie, darüber hinauszugehen und eine höhere Stufe des politi-
Rahmen der Bundesnothilfeprogramme Beschäftigten (einschließlich schen Kampfes zu erklimmen. Und das war der wichtigste Beitrag, den
der beim »Civilian Conservation Corps«, bei der »National Youth wir zur politischen Erziehung und Entwicklung des amerikanischen
Administration« und bei der WPA Beschäftigten) zusammen nur 18% Arbeiters geleistet haben.« (Unterstreichungen im Original, 8. August
der Arbeitslosen in jenem Jahr ausmachten (Howard, 5 54)• 1976) Wir sind für die Gelegenheit dankbar, Benjamins Kritik an unserer
46 Ähnliche Lagebeurteilungen wurden 1936 und 1937 von der »American Analyse mit seinen eigenen Worten wiedergeben zu können. Unseres
Association of Social Workers« abgegeben. Eine Zusammenfassung die- Erachtens machen seine Bemerkungen deutlich, daß die Führer der
ser Befunde findet sich bei Howard, 77-8 5 . »Alliance« weder schwach noch opportunistisch waren. Doch halten
47 In einem persönlichen Schreiben an einen der Verfasser erhebt Benjamin wir es für einen Fehler, daß sie unter »politischen Institutionen« aus-
entschiedene Einwände gegen unsere Beurteilung der Aktivitäten der schließlich legislative und exekutive Körperschaften verstanden; auch
»Alliance«. Wir halten seine Auffassung für wert, hier ausführlich zitiert das Wohlfahrtssystem war eine politische Institution, noch dazu, mitten
zu werden: »Es scheint Ihnen nicht bewußt zu sein, daß unsere >Lobby- in der Depression, eine sehr wichtige. Wir halten es zudem für einen
ing<-Aktivitäten sich erheblich von dem unterschieden, was allgemein Fehler, daß sie die Beziehung zwischen massiven lokalen Erschütterun-
unter dieser Bezeichnung verstanden wird. Wir betrieben einen Massen- gen und den Handlungen legislativer und exekutiver Apparate nicht
Lobbyismus; wütende Delegationen, die reaktionäre Kongreßmitglie- erkannten.
der in ihren Büros belagerten. Wir demonstrierten und protestierten 48 In St. Louis berichtete der Globe Democrat, daß eine 7 soköpfige
und wurden verhaftet. Wir erschienen nicht vor den Parlamentsaus- Menge umgehende Arbeitslosenunterstützung gefordert habe (17
schüssen, um zu bitten, sondern um zu fordern. Und unsere Aktivitäten Dezember 1937). In Grand Rapids versammelten sich 5 oo Fürsorge-
in den Wahlkämpfen bewiesen zumindest einigen Kongreßmitgliedern, empfänger und WPA-Arbeiter (Grand Rapids Herald, to. Februar
daß wir über einen politischen Einfluß verfügten, den sie nur zu ihrem 1938), und in Kalamazoo marschierte ein Zug von Arbeitslosen zur

416 4I7
Stadtverwaltung (Detroit Free Press, 22. Februar 1938). Der San Fran- Sachverhalt und den genannten organisatorischen Entwicklungen sieht
cisco Chronicle berichtete über eine Massendemonstration auf dem Sexton augenscheinlich nicht.
Ivlarshall Square, mit der gegen unzureichende Fürsorgeleistungen pro- 52 Brian Glicks Schlußfolgerungen in bezug auf die Auswirkungen der
testiert wurde (27. Februar 1938). In Spokane protestierten etwa 800 New-Deal-Programme auf die politische Orientierung der nationalen
Menschen gegen die Verringerung der Zahl der Fürsorgeempfänger Führung der »Alliance« ähneln im großen und ganzen den unsrigen.
(Spokane Review, 1. April 1938), während in Seattle 3oo Arbeitslose das
Fürsorgeamt besetzten und Unterkunft und Nahrung forderten (Seattle
Tirnes, 2. April 1938).
49 Montgomery und Schatz berichten, daß auch Ortsverbände der »Uni- Gutman betont, daß nicht alle Streiks erfolglos waren. Er zitiert Infor-
ted Electrical Workers« und des »Steel Workers Organizing Commit- mationen des New Jersey Bureau of Labor Statistics über 890 Arbeits-
tee« während der Rezession von 1937 bis 1938 gegen mangelnde Unter- kämpfe zwischen 1881 und 1887, woraus hervorgeht, daß die Streiks zu
stützung für ihre arbeitslosen Mitglieder protestierten. In Minneapolis, über 5o% erfolgreich waren (48). Doch gingen in diesen wie in den fol-
wo der von Trotzkisten geführte Ortsverband 574 der »Teamsters« eini- genden Jahren die großen Industriestreiks verloren, z.B. die bedeuten-
gen Einfluß besaß, führten gleich mehrere Gewerkschaften im Sommer den Eisenbahner-, Bergarbeiter- und Stahlarbeiterstreiks.
1939 einen gemeinsamen Streik gegen WPA-Projekte durch, um gegen / Eine der einflußreichsten dieser Interpretationen stammt von Selig
vom Kongreß verordnete Einsparungen zu protestieren. Perlman. Radikalere Theoretiker verurteilten Perlmans Verteidigung
so Benjamin ist wiederum anderer Meinung als wir und verweist auf »die der »Brot und Butter«-Forderungen US-amerikanischer Gewerkschaf-
Milliarden Dollar, die seitdem für die Arbeitslosenversicherung, für ten, doch teilen sie im wesentlichen seine Analyse der Ursachen für das
öffentliche Fürsorge, Altersversorgung und viele andere Maßnah- fehlende Klassenbewußtsein der amerikanischen Arbeiter.
men dieser Art aufgebracht worden sind«, und die er als Erfolge der 3 Boyer und Morais berichten z.B., daß von 3o Gewerkschaftsverbänden,
»Workers' Alliance« ansieht (persönliche Korrespondenz, 20. August die vor der Depression von 1873 existierten, 1877 nur noch acht oder
1976). Doch all diese von Benjamin aufgeführten Maßnahmen wur- neun bestanden (4o).
den schon 1935 durchgesetzt, vor Gründung der »Alliance«. Nach un- 4 Leon Fink schreibt, daß in den achtziger Jahren des i9. Jahrhunderts
serer Auffassung sind diese Reformen der Bewegung der Arbeitslo- die Facharbeiter den Kern der aktiven Arbeiterschaft bildeten und daß
sen zu verdanken, und nicht der Organisation, die aus ihr erwachsen sie von einem breiten Fächer von Gruppen Unterstützung erhielten.
ist. Er schreibt die generelle Ablehnung von Einwanderern und Schwar-
5 Brendan Sexton, der die New Yorker »Alliance« anführte, naacht die zen durch die Facharbeiter in der Folgezeit dem Zusammenbruch der
Aktivisten der Kommunistischen Partei für das Scheitern der Organisa- »Knights of Labor« und den Niederlagen in einer Reihe von Industrie-
tion verantwortlich, weil ihre Unterstützung für die Bürgermeister, streiks zu (67 68).
-

Gouverneure und andere Politiker des New Deal, einschließlich Roose- 5 Neuere Arbeiten radikaler Ökonomen liefern Belege dafür, daß große
velt, so weit gegangen sei, daß sie Konfrontationen mit ihnen scheuten. Unternehmen am Ende des i9. Jahrhunderts die Arbeitsplatzbezeich-
»Es war nicht möglich, die Organisation am Leben zu erhalten, wenn nungen neu definierten, um Statusunterschiede zwischen den Arbei-
wir nicht gewillt waren, gegen eben die Leute zu demonstrieren, die sich tern zu vertiefen, ihre Solidarität zu schwächen und die Löhne zu drük-
weigerten, die WPA zu erweitern und das Fürsorgesystem zu verbes- ken. Vgl. z.B. Stone sowie Gordon, Edwards und Reich. Konzept
sern.« (Persönliche Korrespondenz, 4. Februar 197o) Wir teilen zwar und Methoden für die Fragmentierung natürlicher Beschäftigtengrup-
Sextons Einschätzung der Ergebnisse der »Alliance«-Strategie, doch pen lieferten die Lehrsätze des wissenschaftlichen Management
deutet nach unserer Meinung kaum etwas darauf hin, daß die parteilo- (Davis).
sen Führer der »Alliance« andere Positionen vertreten hätten. Wir wol- 6 »Frei« war die Arbeit nur aus der Sicht der Arbeitgeber. 1864 erlaubte
len nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß Sexton auch in anderen der Kongreß den Unternehmen, ausländische Arbeitskräfte mit In-
Punkten nicht mit unserer Interpretation übereinstimmt, wenn er z.B. denturverträgen zu importieren, die sie verpflichteten, so lange für ein
argumentiert, die »Alliance« sei bei der Bürokratisierung der Sozialfür- bestimmtes Unternehmen zu arbeiten, bis sie ihre Überfahrt abgezahlt
sorge und ihrer eigenen inneren Struktur aufgeblüht und erst durch ihre hatten (Brecher, to).
mangelnde Bereitschaft, gegen leitende New-Deal-Politiker zu demon- 7 Durch die Isolierung der verschiedenen Sprachgruppen voneinander
strieren, zerstört worden. Einen Zusammenhang zwischen letzterem bildeten sich vielfach ethnische »Inseln«, auf deren Grundlage sich iso-

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lierte, militante Proteste einiger dieser Gruppen entwickeln konnten. Anarchisten, Big Bill Haywoods und Sacco und Vanzettis — um nur die
So berichtet Gutman, daß Mitte der achtziger Jahre des vorigen Jahr- bekanntesten zu nennen — deutlich wird.
hunderts eingewanderte Arbeiter in den Gewerkschaften einen über- 14 In der Zeit von 188o bis 1904 gaben die Gouverneure von Colorado
proportionalen Anteil ausmachten und führt dies auf ihre natürliche mehr als eine Million Dollar für derartige Militäraktionen gegen Arbei-
Neigung nach Schutz und der Möglichkeit, die eigene Kultur und Tra- ter aus, die sie durch die Ausgabe von »Aufstands«-Anleihen finanzier-
dition zu wahren, zurück (48-49). Ähnlich die Argumentation von ten (Boyer und Morais, 142).
Fink, der davon ausgeht, daß ethnische Solidarität eine bedeutende 15 Nirgendwo sonst war der Gebrauch von schwarzen Listen und der
Rolle bei den Arbeiteraufständen der achtziger Jahre spielte. Als Bei- Einsatz von Privatarmeen so weit verbreitet. Es gab auch nirgendwo
spiele führt er die Mobilisierung von polnischen und irischen Arbei- ein so ausgedehntes Spionagenetz der Unternehmer gegen die Arbei-
tern an, bei der ethnisches Bewußtsein und das Gefühl der Klassenzu- ter. Ende des i9. Jahrhunderts unterhielt Pinkerton mehr Agenten und
gehörigkeit sich gegenseitig zu bestärken schienen (66). Viele Jahre »Reservisten«, als die stehende Armee der USA Soldaten (Brecher,
später machte die Kommunistische Partei die Erfahrung, daß es »ver- amerikanische Ausgabe, 55).
hältnismäßig schwierig war, Wurzeln unter den in Amerika gebore- i6 Im Homestead-Streik von 1889 z.B. kämpften die Streikenden
nen, Englisch sprechenden Arbeitern zu schlagen« und erfuhr »Unter- zunächst erfolgreich gegen Pinkertons und Streikbrecher, nur um sich
stützung hauptsächlich von den fremdsprachigen Verbänden ...« dann der Nationalgarde von Pennsylvania und gerichtlichen Verfahren
(Aronowitz, 42). gegenüberzusehen, die den Streik schließlich brachen (Ash, 122).
8 Aronowitz berichtet, daß 1907 im Stahlwerk von Homestead in Penn- Gutman argumentiert überzeugend, daß dies in mittelgroßen Indu-
sylvania englischsprachige Einwanderer i6 Dollar in der Woche ver- striestädten nicht immer der Fall war — im Gegensatz zu den großen
dienten, in Amerika geborene weiße Arbeiter dagegen 22 Dollar; Metropolen. Während der schnell voranschreitenden Industrialisie-
Schwarze erhielten 17 Dollar, und slawische Arbeiter, die zusammen rung waren die Arbeiter in manchen Industriestädten in der Lage,
mit den Schwarzen 15 Jahre zuvor als Streikbrecher angeheuert wor- genügend Rückhalt in der Bevölkerung zu gewinnen, um die Stadtver-
den waren, um den berühmten Homestead-Streik zu zerschlagen, ver- waltungen bei Arbeitskonflikten zumindest zum Stillhalten zu veran-
dienten 12 Dollar (r 5o). lassen (234-26o).
9 Gutman argumentiert, daß die aufstrebenden Industrien den gelern- 18 »In keinem anderen Land«, schreibt Lewis Lorwin, »haben Unterneh-
ten Handwerkern und Mechanikern in der Anfangszeit der amerikani- mer — vielleicht abgesehen von den Metall- und Maschinenfabrikanten
schen Industrialisierung ungewöhnliche soziale Aufstiegschancen in Frankreich— die Gewerkschaften so ausdauernd, so entschlossen, so
boten (211-233). aufwendig und mit einem so ausgeprägten Glauben an die Gerech-
to Roberta Ash weist darauf hin, daß die meisten städtischen Arbeiter tigkeit ihrer Sache abgelehnt und bekämpft wie in Amerika. Und in
Ende des 19. Jahrhunderts allerdings viel zu verarmt waren, um nach keinem anderen westlichen Land sind die Unternehmer dabei von
Westen ziehen zu können (36). staatlichen Autoritäten, Regierungstruppen und Gerichten so sehr
tt Der Brauch, Gewerkschaftsführern Gehälter zu zahlen, die mit denen unterstützt worden.« (Hervorhebung von uns, 355)
von Top-Managern vergleichbar sind — eine Praxis, die in Europa bei 19 Laut Ash gab es in dieser Periode 61 Arbeiterparteien.
weitem nicht so ausgeprägt ist —, ist ein Beleg für diese Tendenzen; die 20 Nach 192o stabilisierte sich der Anteil der Fabrikarbeiter an der
Praxis, Gewerkschaftsgelder in verschiedene Unternehmen zu inve- Erwerbsbevölkerung, während die Zahl der Einzelhandels- und
stieren, ist ein weiterer. Dienstleistungsbeschäftigten, der Regierungsangestellten sowie der
12 Diese Beziehungen zwischen Gewerkschaftsfunktionären und Unter- Akademiker und freien Berufe rasch anstieg (Bernstein, 197o, 55 - 63).
nehmern liefen oft über die Vermittlung von Politikern der örtlichen 21 U. S. Bureau of the Census, 1941.

Parteiapparate. Vgl. die interessante Darstellung der Verbindungen 22 U.S. Bureau of the Census, 1941, 34o und 346.

zwischen Gewerkschaftsführern und Parteipolitikern bei Rogin. 23 Einige Gruppen von Arbeitern waren besonders stark betroffen. Bern-
13 Von 1880 bis 1930 erließen bundes- und einzelstaatliche Gerichtet 845 stein nennt Sägemühlen in Pennsylvania mit Stundenlöhnen von 5
Verfügungen gegen Gewerkschaften (Bernstein, 197o, zoo). Die Cents; Autofabriken, die Frauen 4 Cents in der Stunde zahlten, und
Gerichte wurden auch dazu mißbraucht, Arbeiterführer unter fal- sweatshops in Connecticut, die für eine 55-Stunden-Woche ganze 6o
schen Anklagen wie Mord, Rebellion oder Anarchismus zu verurtei- Cents auszahlten (197o, 319 - 32o).
len, wie am Beispiel der Molly McGuires, Joe Hills, der Haymarket- 24 Als die UMW einen Tarifvertrag aushandelte, der Lohnkürzungen vor-

420 42 I
sah, lehnten die Bergleute in Illinois ihn schlichtweg ab. Im Spätsom- einer Gruppe von Automobilarbeitern, die ihn 1932 aufgesucht hatten,
mer 1932 errichtete die Nationalgarde das Kriegsrecht in dem Gebiet um seine Unterstützung bei der Organisierung der Beschäftigten der
(Rees). »White Motors Company« in Cleveland zu erbitten: »Diesen Haufen
25 Schlesinger (1957, 182-183) und Bernstein (1971, 19-2o) schildern Idioten da draußen kann doch keiner organisieren« (Prickett, 159).
diese Entwicklungen. Einer dieser Automobilarbeiter war Wyndham Mortimer, der einer
26 Die AFL hatte schon mit ihrer traditionellen Opposition gegen staatli- der bedeutendsten »organizers« der »United Automobile Workers«
che Eingriffe in die Lohn- und Arbeitszeitpolitik — von denen sie wurde.
fürchtete, daß sie die Rolle der Gewerkschaften schmälern könnten — 34 In einigen Branchen, ganz besonders in der Textilindustrie, stellten die
gebrochen und unterstützte eine Gesetzesvorlage des Senators Hugo Statuten ein Mittel dar, mit dem die Branche dem Lohn- und Preisver-
L. Black aus Alabama, die eine 3o-Stunden-Woche vorsah. Die Black- fall infolge der harten Konkurrenz eine untere Grenze setzen konnte.
Vorlage genoß weitgehende Unterstützung im Kongreß, doch die In der Textilindustrie waren sie auch besonders wirkungsvoll: die
Regierung, die sich um Rückhalt in der Industrie bemühte, machte durchschnittlichen Wochenlöhne stiegen VOR 10,90 Dollar auf 13,03
sich für einen Alternativentwurf stark, der eine flexible Arbeitszeitre- Dollar, und die Zahl der Arbeitsstunden fiel von 46 auf 33 Stunden
gelung vorsah, die schließlich in den »National Industrial Recovery (Walsh, 145).
Act« integriert wurde (Bernstein, 1974 22-29). Bernstein weist darauf 35 Eine Umfrage des »National Industrial Conference Board« ergab, daß
hin, daß im Jahr 1929 nur 19% der Beschäftigten in der verarbeitenden von 623 »company unions«, die im November 1933 in der verarbeiten-
Industrie weniger als 48 Stunden in der Woche arbeiteten — eine Tatsa- den Industrie und im Bergbau existierten, etwa 400 nach Verabschie-
che, die den USA eine einzigartige rückständige Stellung unter den dung des NIRA gebildet worden waren. Eine Übersicht des »Bureau
industrialisierten Ländern einräumte (1971, 24). of Labor Statistics« über die gesamte Industrie stellte einen ähnlichen
27 Vgl. den Bericht über den Textilstreik im Piedmont bei Bernstein, Prozentsatz fest (Bernstein, 1971, 39-4o).
197o, 1-43; einen Bericht über einige der Bergarbeiter-Streiks liefert 36 Diese Praktiken sind in den frühen zwanziger Jahren in der Industrie
Nyden, 403-468. sehr populär gewesen und liefen unter der offiziellen Bezeichnung
28 Sie sollen, so wird erzählt, tatsächlich recht bekommen haben. Die »American Plan«. Der »Plan« schloß den systematischen Gebrauch
Arbeiter erwischten Hugh Johnson, den Chef der »National Recovery von schwarzen Listen, Spitzeln, einstweiligen Verfügungen und Pro-
Administration«, die im Rahmen des NIRA geschaffen worden war, im paganda ein. 1936 wurden diese Arbeitgebertechniken durch die
»Commerce Building«, erhielten seine schriftliche Bestätigung, und »Mohawk Valley Formula«, die von Remington Rand zur erfolgrei-
Philco gab nach. Doch diese Geschichte blieb eine Ausnahme. chen Bekämpfung von Streiks entwickelt wurde, weiter systematisiert.
29 David Dubinsky blieb eine bemerkenswerte Ausnahme unter den Zum Arsenal gehörten nun auch: die systematische Verleumdung von
AFL-Bossen, denn sein Gehalt betrug nur relativ bescheidene 75oo Gewerkschaftsführern als gefährliche Radikale, der Einsatz von Poli-
Dollar im Jahr. zei zur Auflösung von Gewerkschaftsversammlungen, massive Pro-
3o In einigen wenigen Fällen einigten sich Gewerkschaften und Manage- pagandaaktionen in der Bevölkerung und der Aufbau privater vigi-
ment auf konkrete Programme zur Hebung der Produktivität, doch lante-Gruppen zum Schutz von Streikbrechern (Bernstein, 1970, 478—
blieb die Zusammenarbeit primär auf Rhetorik beschränkt. Vgl. Nad- 479; Rayback, 343-344; Walsla, 216-228).
worny. 37 Walsh führt eine Reihe von Unternehmen auf, von denen bekannt ist,
31 Die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften beruhen zwangsläufig auf daß sie Spitzel in die Gewerkschaft eingeschleust hatten: Chrysler,
Schätzungen. Die Schwierigkeiten bei der Aufstellung dieser Zahlen General Motors, Quaker Oats, Wheeling Steel, Great Lakes Steel,
diskutiert Derber (3-7). Firestone Tire and Rubber, Post Telegraph and Cable, Radio Corpora-
32 Das Berufsgewerkschaftsprinzip der AFL hatte in Wahrheit zu einer tion of America, Bethlehem Steel, Campbell Soup, Curtis Publishing
ziemlichen Verwirrung über den betrieblichen Einflußbereich der ein- Company, Baldwin Locomotive Works, Montgomery Ward, Pennsyl-
zelnen Gewerkschaften geführt; dieser war weniger eine Folge der tat- vania Railroad, Goodrich Rubber, Aluminum Company of America,
sächlichen Berufsverteilung, als interner Machtkämpfe zwischen den Consolidated Gas, Frigidaire, Carnegie Steel, National Dairy Pro-
Mitgliedsgewerkschaften. ducts und Western Union (206-207).
33 Von ähnlicher Voreingenommenheit zeugt die Bemerkung Harry 38 Der Anteil der Streiks, bei denen es um die Anerkennung einer
McLauglins, des AFL-Generalsekretärs von Cleveland gegenüber Gewerkschaft ging, stieg von 19% im Jahre 193 2 auf 45,9°/0 1934. Die

422
423
Anerkennung der Gewerkschaft blieb auch bis 1942 die Ursache für Hearings vorsaßen, kamen zum großen Teil aus der Industrie, was den
ungefähr die Hälfte aller gemeldeten Arbeitsniederlegungen (nach Unternehmen einen weiteren Vorteil verschaffte, wenn ihre Positionen
Angaben des »Bureau of Labor Statistics«, zitiert bei Bernstein, 1950, mit denen von Arbeitern oder Gewerkschaften in Konflikt gerieten.
1 43, 144)- Einige NRA-Beamte und Gewerkschaften versuchten zwar, die paritä-
39 Anders gemessen: Die Gesamtzahl der aufgrund von Streiks verlore- tische Vertretung der Beschäftigten in den Statutenkommissionen zu
nen Arbeitstage stieg von einem monatlichen Maximum von 603 000 erreichen, doch nur in 23 Fällen wurden Gewerkschaftsvertretern Sitz
Tagen vor Inkrafttreten des NIRA im Juni 1933 auf 1375 000 im Juli und Stimme gewährt, in 28 Fällen dagegen Sitz ohne Stimmrecht.«
und auf 2378 wo im August, so daß die Gesamtzahl des Jahres 1933 die (166)
höchste seit 1921 war (Bernstein, 1971, 173). 46 Die Bemühungen im New Deal, den Arbeitsfrieden in der Autoindu-
4o Vgl. die Berichte über die Ereignisse von Toledo bei: Keeran, 164-172; strie zu bewahren, werden näher ausgeführt bei: Eine, 31; Levinson,
Bernstein, 1971, 218 - 228; Brecher (amerikanische Ausgabe), 158-161; 57-62; Bernstein, 1971, 182-185.
und Taft und Ross, 252. 47 Dies war der zweite Aufruhr in den Textilfabriken innerhalb von nur
41 Sieben Jahre später zettelte Tobin die Verfolgung von Führern der vier Jahren, und der zweite Ausverkauf durch die AFL. Als sich 1929
»Socialist Workers Party« nach dem »Smith Act« an, um die Führung ein spontaner Streik im Piedmont ausgebreitet hatte, hatte AFL-Präsi-
des Ortsverbandes der Jeamsters« in Minneapolis zerschlagen zu las- dent Green eine Vortragsreise durch das Gebiet unternommen, auf der
sen (Lens, 230-231). er an die Fabrikbesitzer appellierte, in Verhandlungen mit den
42 Diese Gruppe war ein Ableger der kleinen und militanten »Maritime Gewerkschaften einzutreten (Bernstein, 197o, 11-43).
Workers Industrial Union«, die von Kommunisten organisiert worden 48 Die Winkelzüge in der Textilindustrie während des New Deal schil-
war. Die MWIU begann 1932 mit der Organisierung von Hafenarbei- dern: Levinson, 73-76; Rayback, 331; Bernstein, 1971, 300-304.
tern in San Francisco, aber nachdem Absatz 7(a) verabschiedet worden 49 Es wird vielfach behauptet, der »Railway Labor Act« von 1926 (mit
war und der Ansturm auf die Gewerkschaften begonnen hatte, war es seiner Novellierung von 1934) habe die Maßstäbe für den »Wagner
die alte »International Longshoremen's Association«, in die die Hafen- Act« gesetzt. Fleming weist jedoch darauf hin, daß der »Wagner Act«
arbeiter eintraten — und mit ihnen die Gruppe von Radikalen aus der in seiner Unterstützung der Gewerkschaften in mancher Hinsicht viel
MWIU (Weinstein, 64-66). weiter ging: Er gestattete den »closed shop« (wonach nur Gewerk-
43 Diese Ereignisse werden geschildert in: Schlesinger, 1958, 394; Bre- schaftsmitglieder eingestellt werden dürfen — d.O.), den der »Railway
cher, 151-159; Levinson, 73-74 ; Taft und Ross, 354• Labor Act« untersagt hatte; er verbot Einschüchterungsversuche von
44 Es existierte allerdings eine von Kommunisten angeführte Gewerk- seiten des Managements, während der »Railway Labor Act« Ein-
schaft, die »Auto Workers Union«. 1918 hatte die AWU rund 23000 schüchterungsversuche von beiden Seiten untersagt hatte; schließlich
Mitglieder angegeben. Sie wurde jedoch von der AFL ausgeschlossen, wurde der »Wagner Act« gegen die heftige Opposition der Wirtschaft
weil sie sich weigerte, ihren Anspruch auf Organisierung aller Arbeiter verabschiedet, während der »Railway Labor Act« sowohl die Zustim-
in der Autoindustrie aufzugeben. Während der Anti-Gewerkschafts- mung der Gewerkschaften als auch der Unternehmer gefunden hatte
Kampagne Anfang der zwanziger Jahre wurde sie dann stark dezi- (129).
miert. Zu diesem Zeitpunkt setzten die Aktivitäten der Kommunisten 5o Laut Walsh waren unter den 14 000 Goodyear-Beschäftigten zur Zeit
in der Gewerkschaft ein. Obwohl die AWU niemals viele Mitglieder des Streiks 800 Gewerkschaftsmitglieder (139).
gewann, spielte sie doch eine wichtige agitatorische und auch sonst 51 Das Abkommen sah außerdem vor, das Management werde »mit jedem
hilfreiche Rolle bei den defensiven Streiks in den späten zwanziger Jah- oder allen Beschäftigten einzeln oder mit den von ihnen bestimmten
ren und noch einmal in der Periode 1932/1933 (Keeran, 4-17, 43-48, Vertretern zusammentreffen«. Das tat das Goodyear-Management
89-1°3). auch, ein ums andere Mal, ohne allerdings bis 1941 der Unterzeich-
45 Edelman schreibt dazu: »Die Industrie erfreute sich des großen Vor- nung eines Tarifvertrages zuzustimmen (Bernstein, 1971, 596-602).
teils, bei der Formulierung der Industriestatuten sowohl die Initiative Einige Kritiker behaupten, die Gummiarbeiter wären bereit gewesen,
ergreifen zu können als auch über die notwendige ökonomische Macht für einen besseren Tarifvertrag noch länger durchzuhalten. Sie seien
zu verfügen. Unternehmerverbände erarbeiteten gewöhnlich die aber von den CIO-Führern und auch von kommunistischen Gewerk-
ersten Entwürfe und waren äußerst einflußreich, wenn Änderungsvor- schaftern in Akron von ihrem Vorhaben abgehalten worden (Buhle,
schläge bei Hearings diskutiert wurden. Die NRA-Verteter, die den 238).

424 425
52 Das weitläufige Netz der GM-Corporation — 69 Autofabriken in 3 5 nung des Gerichts, die den Sheriff anwies, alle Sitzstreikenden, Streik-
Städten, einschließlich der »Fisher Body Corporation« — war zunächst posten und Funktionäre der UAW festzunehmen, erging zwei Tage
von der Depression schwer getroffen worden. Der Verkauf von Auto- später. Daraufhin ersuchte der Sheriff den Gouverneur, der National-
mobilen und Lastwagen war zwischen 1928 und 1932 in den USA um garde die Durchführung des Gerichtsbeschlusses zu befehlen, doch zu
74°,1. gefallen, und die Nettogewinne der Gesellschaft waren von 296 dem Zeitpunkt war GM bereits am Verhandlungstisch, und so wies der
Millionen Dollar auf weniger als 8,5 Millionen Dollar gesunken. Wäh- Gouverneur das Ersuchen zurück. Auf alle Fälle schien die National-
rend des New Deal erholte sich das Unternehmen jedoch schnell. Bis garde ohnehin nicht geneigt, einen Angriff auf die Tausende von Men-
1936 vervierfachte sich der Verkauf von Autos und Lastwagen beinahe; schen innerhalb und außerhalb der Fabriktore zu riskieren (Fine, 292—
die Zahl der Beschäftigten stieg um das doppelte (Fine, 2o-25). 294)•
53 Einige waren aber auch unabhängigen Gewerkschaften beigetreten: 61 Darstellungen des General Motors-Streiks finden sich bei: Fine, 302.—
der »Mechanics Educational Society of Arnerica«, einer unabhängigen 312; Keeran, 225-28 5 ; Thomas Brooks, 183-186; Levinson, 16o-168;
Gewerkschaft von Werkzeugmachern, die von den »Industrial Wor- Prickett, 180-202.
kers of the World« organisiert wurde; und der »Automotive Industrial 62 Laut Matles und Higgins dienten auch im General Electric-Werk in
Workers Association«, die etwas später von Richard Frankensteen auf- Schenectady (64) und in der Westinghouse-Fabrik in East Pittsburgh
gebaut wurde. (78) »company unions« als Vehikel für gewerkschaftliche Basisaktivi-
54 Vgl. Kraus für eine ähnliche Schilderung eines Sitzstreiks in Flint vom täten.
November 1936, nur wenige Wochen vor dem großen Sitzstreik. Kraus 63 Lynd zitiert einen Brief, den Thomas W. Lamont (als Vertreter des
war Kommunist und Redakteur der Flint-Streikzeitung. Hauses Morgan und von U. S. Steel) ein paar Jahre später an Präsident
5 5 Als Walt Moore, ein kommunistischer »organizcr« in Flint, William Roosevelt schrieb und in dem er die Entscheidung von U.S. Steel, Ver-
Weinstone, den KP-Vorsitzenden im Staate Michigan, davon unterrich- handlungen aufzunehmen, begründet. Offensichtlich fürchtete der
tete, daß der GM-Streik unmittelbar vor der Tür stehe, war Weinstone Unternehmensvorstand die enormen Kosten eines größeren Streiks,
schockiert: »Du hast doch Flint noch gar nicht organisiert. Worüber wie General Motors ihn gerade durchgestanden hatte. Ein Streik, so
redest du?« Moore antwortete: »Bill, wir können es nicht verhindern. fügte Lamont hinzu, könnte sich ferner »als eine solch schwere Krise
Die Stimmung ist einfach zu aufgeputscht.« (Keeran, 241 242)
- erweisen, daß er beinahe eine soziale Revolution darstellt«. Der Plan,
56 Als Mortimer im vorhergehenden Juni in Flint angekommen war, hat- wie der Streik verhindert werden konnte, war nicht schwer zu ersin-
ten die dortigen Ortsverbände nur 122 Mitglieder, von denen die mei- nen: einfach »das C/0 als den führenden Verhandlungspartner aner-
sten für GM-Spitzel gehalten wurden. Es ist anzunehmen, daß in den kennen« (Lynd, 1974, 3z).
folgenden Monaten vor dem GM-Streik die Mitgliederzahl sticg, doch 64 Diese unterschiedliche Handhabung von Gewerkschaftsproblemen
ist unklar, um wieviel. durch Industrievertreter auf der einen und die Finanzleute der Wall
57 Der Gouverneur überredete außerdem den Staatsanwalt von Genesee Street auf der anderen Seite war schon vorher in der Stahlindustrie evi-
County, 3oo Blanko-Haftbefehle gegen Streikende, die nach der dent geworden. Zum Beispiel hatten Anfang des Jahrhunderts Vertre-
»Battle of the Running Bulls« erlassen worden waren, nicht 7U voll- ter des Finanzkapitals im Aufsichtsrat von U. S. Steel gegen den Wider-
strecken und Victor Reuther, Robert Travis und Henry Kraus, die alle stand der Industrievertreter betriebliche Sozialprogramme durchge-
an der Schlacht beteiligt gewesen waren, gegen Kaution wieder auf setzt.
freien Fuß zu setzen (Keeran, 264-265). 65 Vgl. die detaillierte Schilderung des Einsatzes lokaler Polizeikräfte zur
58 Lee Pressman, ein CIO-Anwalt, hatte eine frühere Verfügung verhin- Niederschlagung des Little-Steel-Streiks, sowie der Techniken, mit
dert, indem er nachwies, daß der vorsitzende Richter ein umfangrei- denen Lokalverwaltungen dazu gebracht wurden, sich den Interessen
ches Paket von GM-Aktien besaß. der Unternehmen unterzuordnen, bei Walsh, 75 95. In Youngstown,
-

59 Die Botschaft war von »organizer« Bob Travis und von Lee Pressman Ohio, wurde zum Beispiel jeder »organizer« in der Region mindestens
formuliert und dann von den Arbeitern genehmigt v,,orden (Keeran, einmal ins Gefängnis geworfen, und manche sogar fünf- oder sechsmal
272).
(84).
6o Sowohl der Sheriff als auch Richter Gadola erklärten, daß nichts unter- 66 Aus Angst, er könne im ganzen Land Ausschreitungen auslösen,
nommen werden könne, solange GM nicht ein Ersuchen um Fest- wurde ein Wochenschaubericht über das Ereignis von der Paramount
nahme (writ of attachment) gestellt habe. Eine entsprechende Anord- unterdrückt. Der Film wurde später dem LaFollette-Komitee in einer

426 427
geheimen Vorführung gezeigt. Eine detaillierte Schilderung des Films ihre Männer unter Polizeischutz an den Streikposten vorbeiziehen las-
findet sich bei: Hofstadter und Wallace, 179-184. sen (168).
67 Republic war offensichtlich der größte Käufer von Tränengas und 74 Das LaFollette-Komitee berichtete, die Zahl der UAW-Mitglieder sei
Übelkeit erregendem Gas im Land, zusätzlich zu dem übrigen zwischen 1934 und 1936 von 26 000 auf 12o gefallen. Fine berichtet,
umfangreichen Waffenarsenal, das das Unternehmen angelegt hatte. daß die fünf Ortsverbände in Flint im Juni 1935 757 zahlende Mitglie-
68 Im Herbst 1941 wurde die Gewerkschaft schließlich von den vier der hatten, die Detroiter GM-Ortsverbände 423 Mitglieder und die
wichtigsten Unternehmen der Little Steel-Gruppe anerkannt, aller- übrigen GM-Ortsverbände in Michigan 65 Mitglieder (41, 71).
dings erst nach einem militanten Streik bei Bethlehem Steel. 75 Fine glaubt nicht, daß das die ganze Wahrheit ist. Er weist darauf hin,
69 Fine berichet, daß über so% der Sitzstreiks im Jahre 1937 mit »sub- daß das CIO im August 1936 drei »organizers« in der Autoindustrie
stantiellen Gewinnen« endeten und in über 30% Kompromisse ausge- beschäftigte, stimmt jedoch zu, daß das CIO vor den GM-Sitzstreiks
arbeitet wurden (332). dort nicht mit demselben Engagement tätig war wie in der Stahlindu-
7o Walsh schätzt, daß nur 25 von insgesamt rund r 000 Sitzstreiks von der strie (93). In der Tat habe Adolph Germer, der Vertreter Lewis' in der
Polizei gebrochen worden seien (6o). UAW, die Gründung eines GM-Komitees unter den Gewerkschaftern
71 Laut Arthur M. Ross besteht eine direkte Beziehung zwischen den in vereitelt, um die Konfrontation mit GM zu verhindern (92-93).
65 Branchen zwischen 1933 und 1945 gezahlten realen Stundenlöhnen 76 Dieser Einschätzung stimmt sogar der Trotzkist Max Shachtman zu.
und dem jeweiligen Organisierungsgrad. Zitiert bei Bernstein, 1971, Er schrieb über die dreißiger Jahre: »Es ist keine Übertreibung, daß
775. 95°/0 der Leute, die sich in jener Zeit politisch radikalisierten, Kommu-
72 Brecher weist z. B. darauf hin, daß sich die großen Eisenbahner-Streiks nisten wurden oder sich innerhalb des Einflußbereichs der [kommuni-
von 1877 zu einem Zeitpunkt ereigneten, als der Organisierungsgrad stischen] Führung bewegten ...« (zitiert bei Keeran, 187).
niedrig war; die Mitgliedschaft der nationalen Gewerkschaften war 77 Die Mitgliedschaft der Partei verringerte sich von etwa 16 000 Anfang
von 300 000 im Jahre 1870 auf ungefähr 5o 000 gefallen (22). Darüber 1925 auf 9 soo Ende der zwanziger Jahre (Weinstein, 40).
hinaus hatte die »Trainsmen Union« mit dem Ausbruch der Streiks 78 So kritisierten zum Beispiel führende Parteifunktionäre die KP-Mit-
nichts zu tun. Bei der Streikwelle von 1886 erwiesen sich die »Knights glieder in Cleveland, weil sie »mit den wichtigen Details gewerkschaft-
of Labor« als zurückhaltender Partner: die Arbeiter legten erst die licher Organisierung so beschäftigt waren, daß die Partei, was die kon-
Arbeit nieder und schlossen sich später den Knights an. Terrence Pow- krete Arbeit im Betrieb angeht, völlig vergessen wird«. Auch rügte die
derly, der Führer der Knights, klagte, »die Mehrheit der Neulinge Partei eine der Betriebszeitungen für Automobilarbeiter, weil sie poli-
genügte nicht den Qualitätsansprüchen, die der Orden (der volle tische Fragen ignoriert habe (Keeran, 162).
Name der Knights lautete: Der edle Orden der Ritter der Arbeit — 79 Prickett zitiert eine Rede von John Stachel, dem Gewerkschaftsrefe-
d.Ü.) in der Vergangenheit gestellt hatte«, und suspendierte die Orga- renten der Partei, die zeigt, daß sich die Partei bewußt war, wie nütz-
nisierung neuer Arbeitergruppen (Brecher, 48). Zu Beginn des Bergar- lich die Rhetorik des New Deal zur Beflügelung der Arbeiter war:
beiterstreiks von 1894 hatte die »United Mine Workers« nicht mehr als »Zweitens redet Roosevelt über höhere Löhne in den >sweatshops«, er
2.o oco Mitglieder, doch 150000 Männer schlossen sich dem Streik an. läßt Untersuchungen gegen Morgan & Co. durchführen, etc. Was die
Und bei dem Streik der noch jungen »American Railway Union« Arbeiter angeht, die haben große Illusionen, die glauben an all das, und
gegen die Pullman Company im selben Jahr war fast die Hälfte der genau wegen ihrer Illusionen werden sie aufgebracht und sind eher
260 000 Arbeiter, die sich dem Ausstand anschlossen, nicht in der bereit, den Kampf aufzunehmen. Roosevelt sagt, keine >sweatshops<
Gewerkschaft. Gleichzeitig ignorierten die älteren Eisenbahner-Bru- mehr. Gut, also kämpfen wir gegen sie. Roosevelt sagt, hohe Löhne.
derschaften den Streik, ermutigten sogar Streikbrecher, wie sie es auch Sehr gut, laßt uns hohe Löhne kriegen.... Das Gesetz zum Wiederauf-
während des wilden Eisenbahnerstreiks von 1919 wieder taten (Bre- schwung und das ganze Roosevelt-Programm sind ein zweischneidi-
cher, 83, 89). Während des großen Stahlarbeiterstreiks von 1919 war die ges Schwert, das wir dazu benutzen können, eben die Illusionen, die er
Unterstützung durch die AFL ähnlich zurückhaltend, und die »Amal- zu schaffen versucht, zu zerstören.« (156)
gamated Association of Iron and Steel Workers« rief ihre Mitglieder 8o Mancur Olson vertritt die interessante These, daß — ungeachtet der
sogar während des Streiks an ihre Arbeitsplätze zurück. Größe der Erfolge, die mit Hilfe von Gewerkschaften erzielt werden
73 Brecher berichtet, die AFL habe bei lokalen Arbeitskämpfen der Auto- können — eine aktive und ausgedehnte Mitgliedschaft nicht einmal
mobilarbeiter vor dem Flint-Streik als Streikbrecher fungiert. Sie habe unter den günstigsten Bedingungen gewahrt werden könne, eben weil

42 8
429
die Erfolge kollektiver Natur waren und deshalb nicht als Belohnung wurden« (73). Während aber der Sieg der Gewerkschaften den Arbei-
für Mitgliedschaft aufgeteilt oder als Sanktion für Nicht-Mitglied- tern zweifellos Mut machte, verurteilte die Gewerkschaft die Arbeits-
schaft vorenthalten werden konnten. Folglich gab es für den einzelnen niederlegungen und versprach laut Walsh, die verantwortlichen
kaum einen Anreiz, seinen Beitrag zur Gewerkschaft weiterhin zu lei- Gewerkschaftsmitglieder zur Verantwortung zu ziehen (134). Im Sep-
sten. Die von der Regierung auferlegten Zwänge schafften nach 1937 tember 1937 sandte UAW-Präsident Homer Martin einen »letter of
diese objektiven Hindernisse für den Fortbestand von Gewerkschaf- responsibility« an GM, in dem er der Gesellschaft das Recht zusi-
ten aus dem Weg. cherte, jeden Beschäftigten zu entlassen, den sie für schuldig hielt,
81 Die AFL hat eindeutig versucht, aus ihrem konservativen Image in den einen nicht von der Gewerkschaft autorisierten Streik angezettelt zu
Auseinandersetzungen mit den Unternehmern Kapital zu schlagen. So haben (Keeran, 3o2).
schickte der Vorsitzende der »International Association of Machin- 84 In diesen 14 Jahren ließen die Stahlunternehmen einfach immer zum
ists«, Arthur Wharton, im Frühjahr 1937 eine Direktive an die IAM- Ende der dreijährigen Laufzeit eines Tarifvertrags ihre Lagerbestände
Funktionäre, in der es hieß: »Der Sinn dieser Mitteilung ist es, alle anwachsen. Die Gewerkschaft wirkte an dieser Praxis mit, so daß der
Funktionäre und Repräsentanten anzuweisen, mit den Unternehmern Streikverzicht an sich keine größere Veränderung in der Politik der
an ihrem Ort Kontakt aufzunehmen, um die Organisierung der Gewerkschaft bedeutete (Bogdanich, 172).
Betriebe und Fabriken vorzubereiten. Wir haben nicht gezögert, den 85 Radikale Historiker haben in der Regel argumentiert, daß die Gewerk-
Unternehmern, mit denen wir gesprochen haben, mitzuteilen, daß der schaften in der Tat die Arbeiterschaft diszipliniert und damit Rationali-
>closed shop< die beste Grundlage für Beziehungen mit uns ist, weil wir sierungen in der Industrie gefördert hätten. Sie behaupten weiterhin,
dann in der Lage sind, von unseren Mitgliedern die Einhaltung der die Gewerkschaften hätten Rationalisierungen erleichtert, indem sie
Bestimmungen eines abgeschlossenen Tarifvertrages zu verlangen. Plänen zur Kapitalintensivierung zugestimmt hätten. Das letztere
Zusammen mit unserer bekannten Vertragstreue gibt das dem Unter- Argument erscheint uns sowohl in historischer als auch in logischer
nehmer die Vorteile, auf die er Anspruch hat, wenn er mit uns einen Hinsicht zu schwach. Die Mechanisierung der Stahlindustrie und die
Tarifvertrag abschließt. Außerdem versetzt es uns in die Lage, Sitz- Rationalisierung der Produktionsmethoden -wurden erst durchge-
streiks, sporadische Störungen, Bummelstreiks und andere kommuni- setzt, nachdem es den Unternehmen gelungen war, die Gewerkschaft
stische Störaktionen und Zersetzungsmethoden des CIO zu verhin- der Facharbeiter, die »Amalgamated Association of Iron, Tin and Steel
dern« (zitiert bei Matles und Higgins, 48). Workers«, zu zerschlagen. Die berühmte Aussperrung durch Carnegie
82 Derber nimmt folgende Schätzungen des Anstiegs gewerkschaftlicher in Homestead war die erste Schlacht einer erfolgreichen Strategie der
Organisierung von 193c bis 194o vor: für den BereichTransport, Kom- Stahlunternehmen, die Gewerkschaft zu zerstören; erst nachdem die
munikation und öffentliche Versorgung von 23 auf 48°/0; für Bergbau, Gewerkschaft dezimiert worden war, fand die Mechanisierung statt
Steinbrüche und Ölförderung von 21 auf 72')/0; und für die gesamte (Stone). Darüber hinaus erscheint es nicht einleuchtend, davon auszu-
verarbeitende Industrie von 9 auf 34% (17). Insgesamt stieg nach gehen, die Abwesenheit von — entweder kollaborierenden oder sich
Angaben des U.S.-Arbeitsministeriums der Anteil von Gewerk- widersetzenden — Gewerkschaften hätte ein Hindernis für die Kapital-
schaftsmitgliedern an den Gesamtbeschäftigten in nichtlandwirt- intensivierung nach dem Zweiten Weltkrieg sein können (als wichtige
schaftlichen Betrieben zwischen 1933 und 1-94o von II auf 27°/0 (U.S. Gewerkschaften wie die UAW, die UMWund die ILA in der Tat bei der
Department of Labor, 1972). Umsetzung solcher Pläne mitwirkten).
83 Es gab dennoch unmittelbar nach Unterzeichnung des Abkommens Das erste Argument ist für unsere Analyse jedoch von zentralerer
eine Vielzahl von Arbeitsniederlegungen. Walsh berichtet von 2co Bedeutung, und es will uns scheinen, als seien die Beweise noch immer
Arbeitsniederlegungen bis Ende Juni 1937 (134); Keeran berichtet, daß schlüssig. Es steht kaum in Frage, daß die Gewerkschaften die Verant-
es in den ersten beiden Monaten nach Unterzeichnung des Tarifvertra- wortung für den störungsfreien Ablauf der Produktion übernahmen,
ges mit GM 3o wilde Streiks von GNI-Arbeitern gegeben habe, und in doch die Streikwellen der vierziger und fünfziger Jahre lassen ernste
den zwei Jahren zwischen Juni 1937 und 1939 meldete GM 27o Zweifel am Erfolg dieser Bemühungen aufkommen. Um die Frage zu
Arbeitsniederlegungen und Bummelstreiks, Chrysler to9, Hudson klären, wäre es notwendig, sich auf einigermaßen präzise und kontinu-
über so und Packard 31 (292). Montgomery betont, für die Arbeiter ierlich erhobene Daten über Streikausfalltage in Relation zur Gesamt-
bedeutete »die Anerkennung ihrer Gewerkschaften ... zunächst ein- beschäftigung, aufgeschlüsselt nach gewerkschaftlich organisierten
mal ..., daß Konflikte am Arbeitsplatz eher entfesselt als verhindert und gewerkschaftlich nicht organisierten Bereichen, stützen zu kön-

430 43 E
nen. Die gewöhnlich präsentierten Aggregatdaten über den Anstieg Tarifvertragliche Absicherungen des Mitgliederstandes gewährleiste-
der Produktivitätsraten in der verarbeitenden Industrie nach Anerken- ten einen beständigen Beitragsstrom in die Kassen der Gewerkschaf-
nung der Gewerkschaften sind nicht voll schlüssig. Die gewerkschaft- ten, und unerfahrene Gewerkschaftsfunktionäre saßen Seite an Seite
liche Organisierung könnte durchaus mit steigender Produktivität ein- mit Vertretern von Regierung und Wirtschaft in Hearings über Be-
hergegangen sein, ohne sie verursacht zu haben. schäftigung, Gewerkschaftsfragen und Kriegsproduktion.« (Schatz,
86 Die UAW stimmte schon 1945 »company security« -Klauseln in den 194)
Tarifverträgen mit Chrysler und Ford zu. Diese Bestimmungen gaben 89 C. L. R. James fällt das vernichtendste Urteil von allen: »Seitdem [der
der Betriebsleitung das ausdrückliche Recht, Arbeiter, die in wilde CIO geschaffen wurde] ist die Geschichte der Produktion geprägt von
Streiks verwickelt waren, zu disziplinieren (Lichtenstein, 67). der Korruption der [Gewerkschafts-]Bürokratie und ihrer Transfor-
C. Wright Mills berichtet über einen späteren UAW-Vorschlag von mation in ein Instrument kapitalistischer Produktion, von der Restau-
1946, nach dem die Gewerkschaft die Bestrafung eines »jeden Vorge- ration der Vorrechte, die die Bourgeoisie 1936 verloren hatte, vor allem
setzten oder Beschäftigten, der schuldig befunden wurde, eine unauto- des Rechts zur Festsetzung des Produktionsstandards. Ohne diese ver-
risierte Arbeitsniederlegung angezettelt, geschürt oder angeführt zu mittelnde Rolle der Bürokratie würde die Produktion in den Vereinig-
haben«, übernehmen sollte. Kurz darauf unterschrieb ein Ortsver- ten Staaten so lange heftig und fortwährend gestört werden, bis eine
band der Stahlarbeitergewerkschaft einen Tarifvertrag, nach dem die Klasse der unumstrittene Herr wäre.« (23)
Gewerkschaft für die Kosten eines Streiks oder einer Arbeitsniederle- 90 Pricket, ein den Kommunisten nahestehender Historiker, weist den-
gung verantwortlich gemacht werden konnte. Ein lebendiges Bild über noch darauf hin, daß mit zunehmender Konsolidierung ihrer Positio-
die heutige Rolle der UAW bei der Disziplinierung von rebellischen nen in den CIO-Organisation die politischen Überzeugungen der
Basisgewerkschaftern zeichnen: Gamson; Georgakas und Surkin; Kommunisten undeutlich und ihre Beziehungen zur kommunisti-
Ward; und Weit-. Michels hatte schon lange zuvor erklärt, warum schen Basis und Parteiführung brüchig wurden (392).
Gewerkschaften in dieser Rolle nützlich waren: »Ihren eigenen Füh- 91 Laut DeCaux war »Lewis... entschlossen, es Roosevelt nicht zu erlau-
rern sind die Massen viel gefügiger als den Regierenden. Sie lassen sich ben, die Unterstützung der Gewerkschaften als selbstverständlich hin-
vielfach von ihnen Mißhandlungen gefallen, die sie von jenen nie ertra- zunehmen, auch wenn er selbst dabei politisch draufgehen sollte« ;
gen würden... den Druck ihrer eigenen, selbstgewählten Führer spü- auch kritisierte er andere CIO-Führer heftig, weil sie »den Einfluß des
ren sie häufig überhaupt nicht« (151). CIO durch das Angebot, FDR bedingungslos zu unterstützen«, geop-
87 Auch hier sei wieder an Michels ernste Warnungen erinnert: »Idealis- fert hätten (357). Lewis entschied sich daher 194o, den Republikani-
mus allein ist bei der Mehrzahl der Menschen zur Pflichterfüllung ein schen Kandidaten Wendell Wilkie zu unterstützen, doch war dies unter
ganz ungenügender Antrieb. Enthusiasmus ist keine Ware, die andau- den herrschenden Umständen eine nutzlose Geste.
ernd auf Lager gehalten zu werden vermag. Die gleichen Menschen, 92 Bernstein erwähnt eine Wahlanalyse aus 63 Landkreisen und 14 Städ-
die in einem Augenblick, oder sagen wir, selbst in einigen Monaten hel- ten, die zeigte, daß Roosevelt überall da besonderen Erfolg hatte, wo
ler Begeisterung bereit sind, um einer großen Idee willen sogar Leib auch der Anteil von CIO-Mitgliedern hoch war (1971, 72o). Schatt-
und Leben aufs Spiel zu setzen, sind oft zu dauernder Arbeit im Dien- schneider berichtet über weitere Umfragen aus jener Zeit, wonach 79
ste der gleichen Idee selbst dann unfähig, wenn sie nur relativ geringe, bzw. 78°4. der CIO-Mitglieder 194o bzw. 1944 für Roosevelt stimmten
aber ständige Opfer erfordert... Daher ist es auch in der Arbeiterbewe- (49).
gung notwendig, daß der Führer noch einen anderen Lohn empfange 93 Der CIO beschleunigte seine Wahlkampfaktivitäten wegen der Verab-
als etwa die Anhänglichkeit der Geführten und das Bewußtsein eines schiedung des »Smith-Connally Act«, der — neben anderen gewerk-
guten Gewissens.« (124) schaftsfeindlichen Bestimmungen — Spenden der Gewerkschaften für
Vielleicht ist es unnötig zu ergänzen, daß, wenn Regierung und Indu- Kandidaten in Bundeswahlen untersagte. Um diese Einschränkungen
strie viele dieser prosaischen Belohnungen kontrollieren, sich die Füh- zu umgehen, betrieb der CIO schon lange vor dem Wahltag »politische
rer der Arbeiterbewegung zu ihnen hin orientieren werden. Bildung«, (De Caux, 339-44o).
88 Während des Zweiten Weltkrieges hatten sich die Gewerkschaften 94 Lichtenstein führt über die Wahlen von 1944 weiter aus: »Wo Stim-
daran gewöhnt, auch ohne Streiks viele neue Mitglieder zu gewin- men für einen unabhängigen Standpunkt laut blieben und eine Allianz
nen. »Nach 1942 machten die vom NLRB durchgeführten Wahlen mit den Demokraten zu gefährden drohten, mobilisierte Hillmann
und getroffenen Entscheidungen Anerkennungsstreiks überflüssig. das PAC, um sie zum Schweigen zu bringen. In New York verknüpf-

43 2 433
te Hillman seine einstmals antikommunistische >Amalgamated Clo- sten Verfechtern des Streikverzichts; eine Haltung, die sich aus der
thing Workers< mit den kommunistischen Gewerkschaften der Stadt, gefährdeten Situation der UdSSR während des Krieges ergab.
um den Sozialdemokraten Dubinskys die Kontrolle über die >Ameri- rot Roosevelt legte sein Veto gegen das Gesetz ein, doch der Kongreß über-
can Labor Party< zu entreißen und die Parteiorganisation im Staat stimmte das-Veto noch am selben Tag. Aus Dankbarkeit für das Veto
New York zu einem unkritischen Anhängsel der Demokratischen Par- bekräftigten die CIO-Eührer den Streikverzicht.
tei dort zu machen. In Michigan, wo eine lebensfähige Parteiorganisa- to2 Infolge des Streikverzichts begann 1942 die Mitgliederzahl einiger
tion der Demokraten kaum existierte, bekämpfte das PAC erfolgreich Industriegewerkschaften zu schrumpfen; auch bekamen die Gewerk-
die Bestrebungen einiger radikaler UAW-Mitglieder, die erreichen schaften Schwierigkeiten bei der Eintreibung ihrer Beiträge. Das »War
wollten, daß das PAC in ihrem Staat nur diejenigen Demokratischen Labor Board« löste das Problem, indem es seine Haltung zum »union
Kandidaten unterstützen sollte, die sich für ein garantiertes Jahres- shop« modifizierte (Lichtenstein, 53). Mit Ausnahme der UMW (die
einkommen und andere bekannte Forderungen des CIO einsetzten.« den »union shop« durch ihren Streik von 19v gewonnen hatte) konn-
(6t) ten sich die Gewerkschaften jetzt auf »maintenance of membership«-
95 Die Beteiligung der Mitglieder an Wahlkämpfen ging jedoch deutlich Klauseln stützen, nach denen ein Beschäftigter innerhalb einer Frist
zurück. Greenstone schreibt dazu: »Zwei Jahrzehnte nach dem Zwei- von 15 Tagen nach der Einstellung seinen Austritt aus der Gewerk-
ten \Weltkrieg wurde eine zweifache >Krise< mehr als deutlich: einmal schaft erklären konnte.
der Rückgang des politischen Interesses an der Basis und zum anderen ro3 Sitkoff nennt Trumans Radioansprache, in der er damit drohte, Strei-
die schwindende Radikalität der Gewerkschaftsfunktionäre. Im kende zum Militär einzuziehen und die Züge von Armeeangehörigen
Gegensatz dazu nahmen die organisatorischen Ressourcen dramatisch fahren zu lassen, »die schneidendste gewerkschaftsfeindliche Rede
zu.« (58) eines Präsidenten seit der von Grover Cleveland« (8 5).
96 Harry Millis, ein Ökonom von der University of Chicago, der Mit- Wieder war es Lewis, der versuchte, den Trend zur Anpassung an die
glied des NLB vor dem »Wagner Act« gewesen und maßgeblich an der Regierung aufzuhalten, indem er vorschlug, alle Gewerkschaften soll-
Entwicklung des »Wagner Act« beteiligt war, schrieb später, der Aus- ten sich weigern, die Distanzierung von der Kommunistischen Partei
schuß habe Mitte der vierziger Jahre »alles getan, um den Unterneh- zu unterzeichnen, und der Bestimmung damit den Boden zu entzie-
mern entgegenzukommen«, und dann auch die Schutzbestimmungen hen. Die AFL, der sich die UMW inzwischen wieder angeschlossen
des »Wagner Act« in der Regel nicht mehr durchgesetzt (Millis und hatte, lehnte seinen Vorschlag ab (De Caux, 478). Einige der CIO-
Brown). Gewerkschaften weigerten sich, die Erklärungen zu unterzeichnen,
97 Kommunisten spielten in diesem und anderen Streiks der Vorkriegs- allerdings nur für kurze Zeit (Matles und Higgins, 167-17o).
zeit in der Tat eine wichtige Rolle. Da zudem das Wiederaufleben tos Viele Historiker stimmen darin überein, daß Trumans Strategie bei der
kommunistischer Militanz mit dem H.itler-Stalin-Pakt und der durch Behandlung des >Taft-Hartley-Act« nicht darauf abzielte, die Verab-
die Partei ausgesprochenen Mißbilligung des europäischen Kon- schiedung des Gesetzes zu verhindern, sondern sich Vorteile für die
flikts als eines imperialistischen Krieges in Zusammenhang stand, anstehende Wahl zu verschaffen. Selbst sein symbolisches Zugeständ-
gab es eine gewisse Berechtigung für die Verurteilung der Kommu- nis war vermutlich nur nötig, weil Henry Wallace mit seiner dritten
nisten. Partei auf die Unterstützung der Gewerkschaften abzielte. Trumans
98 Die realen Wochenlöhne nahmen während des Krieges zu, allerdings Strategie hatte Erfolg: die Gewerkschaften unterstützten ihn mit aller
hauptsächlich aufgrund längerer Arbeitszeit. Außerdem hatten die Kraft. A. E Whitney, der Präsident der »Brotherhood of Railway Train-
Arbeiter die Last neuer Kriegssteuern zu tragen, die die Lohnsteuer- men«, hatte zum Beispiel angedroht, sämtliche finanziellen Mittel sei-
pflicht auf Millionen von Arbeitern mit niedrigem Einkommen aus- ner Gewerkschaft einzusetzen, um Truman zu schlagen, nachdem die-
dehnte, die zuvor davon ausgenommen waren. ser vorgeschlagen hatte, die streikenden Eisenbahner zum Militär ein-
99 Die Anzahl wilder Streiks nahm zwischen 1943 und 1944 beständig zu. ziehen zu lassen. Doch das Veto, erklärte Whitney, habe Truman von
Preis berichtet, daß die Zahl der durch Streiks verlorenen Arbeitstage seiner Schuld befreit und Unterstützung für Wallace stehe »nicht zur
sich 1943 gegenüber dem Vorjahr mehr als verdreifachte, und 1944 gab Debatte« (Yarnell, 22-25). Vgl. die ähnlichen Darstellungen der Strate-
es laut Brecher mehr Streiks als jemals zuvor in einem Jahr in der ame- gie Trumans bei: Sitkoff, 92 97; Hartmann, 86-91.
-

rikanischen Geschichte (197). 106 Im Präsidentschaftswahlkampf von 1952 setzte sich der Demokrati-
to° Die Kommunisten in den Gewerkschaften gehörten zu den glühend- sche Kandidat Adlai Stevenson sogar noch von Trumans heftiger rheto-

434 43 5
rischer Opposition gegen den »Taft-Hartley-Act« ab. Vgl. Martin, 54o, IV
643, 66o, 691.
ro7 Schattschneider präsentiert in seinem 196o veröffentlichten Buch inter- Es gibt eine Tendenz in Teilen der Linken, diese Fortschritte zu ignorie-
essante Daten, die zeigen, daß die Gewerkschaften bei Präsident- ren. Ein typisches Beispiel für diese Einschätzung liefert Robert L. Al-
schaftswahlen bestenfalls 96o 000 Stimmen in die Waagschale werfen len, ein Sprecher der schwarzen Linken, wenn er sagt: »In ihren besten
können. Er gelangt zu dieser Schlußfolgerung, indem er die Zahl der Tagen umgab die Integrationsbewegung eine Aura, die fast die gesamte
Arbeiter, die wahrscheinlich auch dann Demokratisch wählen würden, schwarze Bevölkerung in ihren Bann schlug, doch der Hauptnutznie-
wenn sie keine Gewerkschaftsmitglieder wären, von der Zahl der ßer dieser Bewegung war die schwarze Bourgeoisie.« (26) Diese Aus-
gewerkschaftlich organisierten Wähler abzieht. Schattschneider fol- sage trifft sicherlich auf die ökonomischen Fortschritte während der
gert daraus, »daß es nahezu unmöglich ist, Interessenpolitik in Partei- Bürgerrechtsära zu: die alt eingesessenen und neu entstandenen Mittel-
politik zu übersetzen« (47-6r). schichten waren die Hauptnutznießer. Darüber hinaus meinen wir
Sogar in bezug auf den »Taft-Hartley Act« hatten die Gewerkschaften jedoch, daß die erhebliche Reduzierung terroristischer Methoden der
nur begrenzten Einfluß auf ihre Mitglieder. So zitiert Wilson Umfrage- sozialen Kontrolle auch für die schwarzen Massen im Süden einen
ergebnisse aus dem Wahlkampf von 1952, die besagen, daß nur 29% bedeutenden Fortschritt darstellte.
der Gewerkschaftsmitglieder die Aufhebung des Gesetzes forderten; 2 Louisiana, Georgia, Mississippi, Alabama, South Carolina.

41 % hatten keine Meinung, und der Rest war tatsächlich für die Beibe- 3 Als dieses Buch bereits in Druck ging, fiel uns eine Monographie von
haltung des Gesetzes (1973, 338-339). C. L. R. James und seinen Kollegen in die Hand, die erstmals 1958
ro8 Wyndham Mortimer (der wegen seiner führenden Rolle beim North erschien und 1974 wieder aufgelegt wurde. Sie enthält eine Passage, die
American-Streik von der UAW suspendiert wurde) sagte später, er habe die wahlpolitischen Aspekte der Analyse in diesem Kapitel vorweg-
der UAW-Führung mitgeteilt, »wäre der Streik autorisiert worden, nimmt. Die Anmerkung war zwar kurz, doch geradezu hellseherisch,
hätte die Armee nicht eingegriffen« (zitiert bei Keeran, 348). und wir möchten sie hier wiedergeben: »Die Schwarzen im Norden und
ro9 Mills berichtet, daß sogar während des Little-Steel-Streiks, in dem die Westen haben aufgrund ihrer anhaltenden Unruhe und ihrer wachsen-
öffentliche Meinung gegen die Streikenden war, 44% der Unterschicht den Stimmenzahl einen Keil zwischen die Demokraten im Norden und
und 18% der Oberschicht die Streikenden unterstützt hätten (43). Süden getrieben. Dieser Keil kann die Partei jeden Moment auseinan-
II° Gerald P. Swope, Chef von General Electric, hatte William Green von derbrechen lassen und damit eine vollständige Reorganisation amerika-
der AFL schon im Jahre 1926 gedrängt, Industriegewerkschaften zu nischer Politik erforderlich machen. Sie haben aber auch die Allianz
gründen. Es würde »den Unterschied [bedeuten] zwischen einer Orga- zwischen dem rechten Flügel der Republikanischen Partei und dem
nisation, mit der wir auf einer geschäftsmäßigen Basis zusammenarbei- Südstaatenflügel der Demokraten aufgebrochen. Mit Geduld und har-
ten könnten und einer Organisation, die nur endlose Schwierigkeiten ter Arbeit haben sie die Führung in der Bewegung übernommen, die zu
mit sich brächte« (Radosh). Bernstein liefert eine ähnliche Einschät- der Entscheidung des Obersten Gerichtshofes gegen die Rassentren-
zung der Motive des Ölmagnaten Harry Sinclair für den Abschluß nung geführt hat. Jetzt haben die Menschen von Montgomery mit
eines Tarifvertrages mit den Ölarbeitern im Mai 1934 (1971, 115). In ihrem Bus-Boykott, der ein Jahr lang mit über 99%iger Beteiligung
einigen Branchen, besonders der Bekleidungsindustrie, spielten die durchgeführt wurde, der Rassendiskriminierung überall in den Verei-
Gewerkschaften außerdem eine wichtige Rolle bei der Regulierung nigten Staaten einen schweren Schlag versetzt und ein neues Kapitel von
eines fragmentierten, in viele kleine Unternehmen zersplitterten Indu- weltweiter Bedeutung in der Geschichte des Kampfes gegen irrationale
striezweigs. Vorurteile geschrieben.« (15 o)
irr So schätzte Leonard Silk r969, daß das durchschnittliche Jahresein- 4 Myrdal, der den Stellenwert der Klassenstruktur für das Verständnis des
kommen eines Arbeiters beträchtlich über dem nationalen Durch- amerikanischen »Dilemmas« meist unterbewertet, kommt in bezug auf
schnittseinkommen lag (II). Seine Daten zeigen jedoch auch, daß die Rolle, die die armen Weißen bei der Unterdrückung der Schwarzen
andere Arbeiter, die nicht in den Massenindustrien beschäftigt waren spielten, dennoch zu einer ähnlichen Schlußfolgerung: »Plantagenbe-
und keiner Gewerkschaft angehörten, bei weitem nicht so gut gestellt sitzer und Unternehmer, die farbige Arbeiter benutzen, weil sie billiger
waren und als Konsumenten zudem die Last der aus steigenden Profi- und gefügiger sind, haben gelegentlich Aggressionen armer Weißer
ten und Löhnen in den Massenindustrien resultierenden Inflation zu gegen Schwarze toleriert oder sich an ihnen beteiligt. Es läßt sich plausi-
tragen hatten. bel argumentieren, daß sie so handeln, weil sie ein Interesse an der

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Erhaltung des Kastensystems haben, das die Schwarzen auf so effektive halb von nur fünf Jahren eingeschränkt hatten.« (Population Reference
Weise gefügig macht.« (598) Bureau, 73)
5 In dem politischen Chaos, das von Krieg und Rekonstruktion heraufbe- to Unter den Beobachtern der Wahlen von 1948 besteht erheblicher Dis-
schworen wurde, stellte das schwarzeWahlrecht zunächst ein Hindernis sens in der Frage, ob Trumans rhetorische Position in der Bürgerrechts-
für die Restauration der weißen Vorherrschaft dar. Doch als die politi- frage während des Wahlkampfes auf die Bedrohung durch Wallace oder
schen Parteien — die Republikaner, die Populisten und die Demokraten den drohenden Verlust schwarzer Stimmen an die Republikaner zurück-
— um politische Gefolgschaft kämpften, kamen alle drei zu der Einsicht, zuführen ist. Zu den Autoren, die Wallace für die Hauptursache halten,
daß die politischen Rechte der Schwarzen ihrem Erfolg sehr im Weg gehören Bernstein, Berman und Vaughan. Yarnell dagegen kommt zu
standen. Die Republikaner, die mit den Nordstaaten und mit derVertre- dem Schluß, daß die weit größere Gefahr von den Republikanern ausge-
tung schwarzer Interessen identifiziert wurden, versuchten dem mit gangen sei. (Vgl. vor allem die Seiten 35, 44 und 69.) Für unsere Analyse
einer »blütenweißen« Strategie entgegenzuwirken. Die radikalen Agra- ist diese Kontroverse nicht von entscheidender Bedeutung. Entschei-
rier in den verschiedenen Populistischen Parteien der Einzelstaaten dend für uns ist die Tatsache, daß die Bürgerrechtsfrage sich langsam zu
betonten zunächst die weitgehende Identität der Interessen von armen einem Wahlkampfthema entwickelte.
Weißen und armen Schwarzen und versuchten, eine Koalition mit den ti Zu diesem Punkt siehe auch Sindler, 1962, 141.
Schwarzen aufzubauen; doch diese Allianz hielt dem Rassismus der 12 Prinzipiell sprach sich Stevenson allerdings eindeutig für die Bürger-
Südstaaten nicht stand, und so verstießen die Populisten die Schwarzen rechte aus: »Er redete im Süden über die Notwendigkeit von Bürger-
wieder, um sich die Unterstützung der armenWeißen zu erhalten. Auch rechten für Schwarze, sogar mit größerem Nachdruck als in Harlem.«
das nutzte nichts, denn schon bald wurden die Populisten von der (Muller, toi) Entscheidend ist aber, daß er sich entschieden gegen jegli-
Demokratischen Partei, hinter der die Plantagenbesitzer standen, über- che Forderung nach Maßnahmen der Bundesregierung wandte, um dem
rollt. Die Demokraten wiesen den Schwarzen die Rolle des allgemeinen Süden dieses Prinzip aufzuzwingen.
Feindes zu, und mit dieser Strategie gelang es ihnen, breite Unterstüt- Die schwarzen Proteste waren manchmal gegen die weiße Gesellschaft
zung für die politische Hegemonie der weißen Pflanzer, Bankiers und gerichtet und führten manchmal von ihr weg, denn »die Geschichte der
Kaufleute sowohl über die armen Schwarzen als auch über die armen amerikanischen Schwarzen ist im Grunde eine Geschichte des Konflik-
Weißen im Süden zu gewinnen. tes zwischen integrationistischen und nationalistischen Strömungen in
6 Population Reference Bureau, 72. Politik, Wirtschaft und Kultur, unabhängig von den beteiligten Führern
7 Es gab viele Gründe für den langsamen Fortschritt, den die Mechanisie- und von den gerade gängigen Parolen« (Cruse, 564). Uns braucht diese
rung der Landwirtschaft des Südens vor dem Zweiten Weltkrieg Unterscheidung nicht weiter zu interessieren, die für andere Zwecke
machte. Zu den wichtigsten gehörte der Überfluß billiger Arbeitskräfte, nützlich ist; für das Verständnis der Evolution schwarzer Proteste ist
der es dem Süden erlaubte, trotz der Mechanisierung in anderen Agrar- nur wichtig, daß jede Bewegung — unabhängig von ihren spezifischen
gebieten konkurrenzfähig zu bleiben. Doch »unter dem Anreiz von Zielen — die Kapazität für kollektive Aktionen vergrößerte.
Lohnerhöhungen und einer Verknappung der Arbeitskraft« während 14 Als die Schwarzen noch in der Landwirtschaft tätig waren, war ihre
des Zweiten Weltkrieges begann die Mechanisierung den Süden zu Arbeitslosenrate niedriger als die der Weißen. Die Binnenwanderung
erobern (Hoover und Ratchford, 'to). kehrte dieses Verhältnis um. »Ende der vierziger Jahre war die schwarze
8 Bureau of the Census, 1976,46o-461. Arbeitslosenrate um 6o% höher als die weiße, und seit 1954 beträgt sie
9 Welch ungeheures Ausmaß diese Umwälzung für die Schwarzen das Doppelte der weißen Rate, die selbst gestiegen ist.« (Killingsworth,
annahm, deuten die Schätzungen des Landwirtschaftsministeriums an, 5o) Darüber hinaus gibt es gute Gründe für die Annahme, daß ein gro-
die besagen, »daß 42% der farbigen Farmbewohner von 194o, die im ßer Teil der schwarzen Arbeitslosigkeit »versteckt« ist — nicht erfaßt auf-
Jahr 1950 noch am Leben waren, ihren Hof in den vierziger Jahren ver- grund der tendenziösen offiziellen statistischen Erfassungsmethoden.
lassen hatten«. (Population Reference Bureau, 73) In den fünfziger Jah- Einige Experten glauben, daß die Arbeitslosenrate der Schwarzen in den
ren erlebte die lvligrationsbewegung ihren Höhepunkt nach dem Korea- Jahren nach dem Koreakrieg durchschnittlich dreimal so hoch war wie
krieg: »Zwischen 1954 und 1959 ging die Zahl der von Schwarzen die der Weißen (Killingsworth, 62; Ross, 22 und 26). Da in jener Rezes-
bewirtschafteten Farmen um 35% zurück — ein Maßstab dafür, in wel- sion die Arbeitslosigkeit derWeißen regelmäßig 6% erreichte, könnte es
chem Ausmaß die Anbaubeschränkungen für Baumwolle und Tabak also durchaus der Fall sein, daß die echte schwarze Arbeitslosenquote
und der Einsatz 3,-on Maschinen den Bedarf an kleinen Pächtern inner- bis zu 2o°/0 betrug. In den innerstädtischen Gettogebieten lag die Quote

4 38 439
sogar noch höher. Zusätzliche Daten über die schwarze Arbeitslosigkeit zunehmende Zahl von Schwarzen unter extremen Statuswidersprüchen
werden wir in Kapitel V präsentieren. zu leiden hatten, denn einerseits verlieh ihnen ihr verbessertes Einkom-
15 Die »National Association of Colored People« (NAACP) und die men einen Anspruch auf einen Platz in der Mittelschicht, aber anderer-
»National Urban League« wurden vor dem Ersten Weltkrieg von seits waren sie noch immer Opfer von Demütigungen durch die Kasten-
schwarzen Intellektuellen und Professoren, liberalen Weißen und füh- und Rassenverhältnisse. Von den verschiedenen Varianten der Theorie
renden Unternehmern gegründet. Die Organisationen verdeutlichen steigender Erwartungen scheint uns als Erklärungsmoment für die
eine institutionelle Entwicklung und das Auftreten einer Führungs- schwarze Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem die der Sta-
schicht in der schwarzen Bevölkerung, obwohl »keine der beiden Orga- tuswidersprüche relevant. Wir glauben jedoch, daß die von uns im Text
nisationen jemals eine Massenbasis unter den Schwarzen selbst hatte. aufgeführten Erklärungsmomente von weit größerer Bedeutung sind.
Trotz einiger bedeutender Leistungen für das Wohlergehen der Schwar- Die Angaben über die Einkommensveränderungen finden sich bei:
zen ... konnte keine der beiden Organisationen die Loyalität großer Ross, Killingsworth und Henderson.
Teile der schwarzen Bevölkerung gewinnen. Gerichtsverfahren, Ver- 17 Wie John Walton kürzlich aufgezeigt hat, verwies Floyd Hunters Arbeit
handlungen hinter den Kulissen und Verbesserungen im Erziehungswe- über Atlanta, die sich auf bereits 195o durchgeführte Untersuchungen
sen gehören nicht zu den Aktivitäten, die unter Menschen außerhalb der stützt, auf die veränderte Stimmung der Schwarzen. Hunter meinte, daß
Mittelschichtssphäre leidenschaftliche Anteilnahme hervorrufen. Für die Schwarzen zunehmend fordernder würden und daß »traditionelle
die Masse der Schwarzen repräsentieren diese Organisationen ein unbe- Methoden der Unterdrückung und Einschüchterung versagen« (149).
stimmbares Wohlwollen, das ihnen von außerhalb ihrer eigenen Welt Hunter führte diesen Wandel auf die Entstehung einer schwarzen Füh-
zuteil wird.« (Michael Lewis, 156) Das Potential an fähigen Juristen, das rungsschicht zurück, die in ökonomisch gesicherten Verhältnissen
die NAACP zu bieten hatte, war ein wichtiger Rückhalt der schwarzen lebte. Einige der vielen Schilderungen des Bus-Boykotts in Montgo-
Bewegung, wenn auch die Rolle juristischen Sachverstands bei der mery finden sich bei: King, 1964; Reddick; Lewis, 1964; und Lewis,
Durchsetzung von Gerichtsentscheidungen gegen die Rassentrennung 197o.
oft überschätzt wird. Entscheidender für die Veränderung politischer, 18 John Barlow Martin beschreibt in Deep South Says Never sehr lebendig
einschließlich juristischer Meinungen waren Faktoren wie Modernisie- die Ideologie und Aktivitäten der »White Citizen's Councils«.
rung, Binnenwanderung, Konzentration, die Zunahme der Proteste 19 Das Programm der Demokraten, sagt Muller zutreffend, »war in der
und der Kalte Krieg gegen den Kommunismus. Bürgerrechtsfrage schwankend. Zwar verkündete es, die Partei werde
16 Im Gegensatz zu den Faktoren, denen wir besondere Bedeutung für die auch weiterhin bemüht sein, jede Form der Diskriminierung aus der
zunehmende Auflehnung der Schwarzen zumessen, verweisen andere Welt zu schaffen, doch fügte es hinzu: >Wir weisen alle Vorschläge,
Autoren auf die Frustrationen, die sich aus »ansteigenden Erwartun- Gewalt anzuwenden, um eine ordnungsgemäße Regelung dieser Fragen
gen« ergaben, die wiederum eine Folge höherer Einkommen waren. Für durch die Gerichte zu beeinflussen, zurück.. (177) Während des Wahl-
die untersuchte Periode sind Daten, die eine Theorie steigender Erwar- kampfes wiederholte Stevenson zwar weiterhin seine prinzipielle Unter-
tungen belegen, in der Tat in großem Maße vorhanden. Ja, es gibt sogar stützung der Bürgerrechte, weigerte sich aber auch fortan, bestimmte
ausreichende Belege, um verschiedeneVarianten der Theorie zu stützen. Lösungsmethoden wie den Einsatz der Machtmittel des Bundes, zur
Bezüglich der allgemeinen Verbesserung ihrer ökonomischen Lage zwangsweisen Durchsetzung von Gerichtsentscheidungen zu vertre-
haben die Schwarzen zwischen 1939 und 1951 die größten Fortschritte ten.
gemacht, als sich das Einkommen männlicher schwarzer Lohn- und 20 Mehr als zwei Jahrzehnte lang war der Süden die einzige Region des
Gehaltsempfänger von 37% auf 62% des Einkommens weißer männli- Landes gewesen, in der die Republikaner Stimmengewinne zu verzeich-
cher Lohn- und Gehaltsempfänger erhöhte. Es gibt auch Belege für die nen hatten. Bei der Wahl von 1932 erhielten sie in den elf Südstaaten
These, daß rasche ökonomische Fortschritte, auf die ein abrupter Rück- 18°k der Stimmen, 194 waren es 27% (1956 sollten sie dann sogar die
schritt folgte, die Ursache der Unruhe waren. Zwischen dem Höhe- Hälfte der Stimmen im Süden für sich verbuchen können.) Vgl. Lubell,
punkt schwarzer Prosperität im Jahre 1951 und den frühen sechziger 1966, 226.
Jahren fielen die Einkommen der schwarzen männlichen Lohn- und 21 Eisenhower war über die Brown-Entscheidung äußerst verärgert gewe-
Gehaltsempfänger im Verhältnis zu denen der weißen von 62% auf sen; er erklärte gegenüber Beratern, er halte »die Entscheidung (für)
53% falsch«. Doch schien er zu glauben, daß »jeder Amerikaner einen
Und schließlich gibt es auch keinen Zweifel an der Tatsache, daß eine Anspruch auf das Wahlrecht« habe (Alexander, 118, 194).

440 441
22 Auch Lubell (1966) beschreibt diese extremen Veränderungen des stammen. Ihre Eltern gehörten zur Gruppe der ungelernten, aber
schwarzen Wählerverhaltens in einer Reihe südlicher Städte. Eine detail- festangestellten und geachteten Arbeiter. Die CORE-Mitglieder selbst
lierte Untersuchung des schwarzen Wahlverhaltens in nördlichen Städ- waren auf dem Weg nach oben auf der sozialen Stufenleiter ..., da sie ein
ten, die zeigt, daß »die Treue der Schwarzen zur Demokratischen Par- College besuchten.« (89) Für zusätzliche Daten siehe: Ladd, 218-223;
tei... ihren Höhepunkt 1952« erreichte, bietet Glantz. und Meier, 197o. Vgl. auch den Bericht über die Art und Weise, wie diese
23 Wie wenig die Schwarzen tatsächlich von der kommunalen Politik pro- Aktivisten die eher traditionelle Führungsschicht zur Aktion trieben,
fitierten, obwohl ihre Zahl in .vielen Städten beständig zunahm, offen- bei Walker.
bart eine Studie, die in den sechziger Jahren in Chicago durchgeführt 28 Andererseits schien Kennedy durchaus zu verstehen, daß sich in der
wurde, wo die Schwarzen schon seit geraumer Zeit einen umfangrei- Demokratischen Partei ein Wandel vollzog. Ende der fünfziger Jahre
chen Wählerblock bildeten: »Wir stellten fest, daß im Jahre 1965 etwa antwortete er auf die Frage, wie er als Präsident mit der Nord-Süd-Kon-
2o% der Einwohner von Cook County Schwarze waren und daß ihr frontation in der Partei fertig werden wolle: »Meiner Meinung nach
Anteil in Chicago selbst 28°/0 ausmachte ... Von insgesamt 1088 poli- werden wir aufgrund der Industrialisierung des Südens in Zukunft grö-
tisch relevanten Verwaltungsposten waren nur 58 von Schwarzen ßere Einheitlichkeit in der Demokratischen Partei finden als bisher.«
besetzt.« (Baron, 28-29) Vgl. die umfangreiche historische Untersu- (Burrms, 276)
chung über den rassistischen Charakter der Patronagesysteme in Chi- 29 Für eine Diskussion der innerparteilichen Kämpfe, die während dieser
cago und New York bei Katznclson. Periode die Demokratische Partei beschäftigten, siehe Sindler, 1962.
2.4 Eisenhowers deutlicher Unmut über die Brown-Entscheidung und 3o »Er war zwar ein cleverer Politiker, aber dennoch machte [Nixon] fatale
seine wiederholten Äußerungen, das Rassenproblem müsse innerhalb Fehler. Das beste Beispiel während des Wahlkampfes war seine Position
der Einzelstaaten und »in den Herzen der Menschen« gelöst werden, — oder vielmehr seine fehlende Position — in der Bürgerrechtsfrage.
müssen die Südstaatler in ihrem Glauben bestärkt haben, daß ihrWider- Nachdem er hart dafür gekämpft hatte, daß im Wahlprogramm der Par-
stand, selbst die offene Mißachtung der Gerichte erfolgreich sein tei eindeutig für die Bürgerrechte Stellung bezogen wurde, um die Stim-
könne. Noch im Juli 1957, als sich die Krise in Little Rock anbahnte, men der Schwarzen im Norden zu gewinnen, redete er im Süden dann
erklärte Eisenhowcr auf einer Pressekonferenz: »Ich kann mir keine ganz anders, um auch noch dort zu gewinnen ... Bei aller Unfähigkeit,
Kombination von Umständen vorstellen, die mich jemals dazu veranlas- die Gründe für die schockierende Niederlage seines Proteges gegen
sen könnte, irgendwohin Bundestruppen zu schicken, um die Anord- Kennedy zu begreifen, könnte Eisenhower doch ein wenig über die
nungen eines Bundesgerichtes durchzusetzen.« Dunbar bemerkte Gründe nachgedacht haben, warum [Nixon] sowohl den Süden als auch
dazu: »Es wäre weder einfach noch unfair, den Schaden, den die sechs die schwarzen Wähler im Norden verlor.« (Muller, 258)
Jahre dauernde politische Neutralität des Präsidenten dcm öffentlichen 31 So schreibt auch Theodore E White, daß Kennedy »der Meinung war, er
Frieden zugefügt hat ... abzuschätzen.« (2.0) müsse in den Industriestaaten im Nordosten der USA den Wahlkampf
25 Eine Vielzahl von Quellen enthalten anschauliche Darstellungen der sit- mit großem persönlichen Einsatz betreiben ... Seine Berechnungen
ins und anderer Formen direkter Aktion. So schildert Patrick die Aktio- stimmten. Von den neun großen Bundesstaaten ... gewann Kennedy sie-
nen in Winston-Salem; Proudfoot die in Knoxville; Walker behandelt ben ... Die größten Früchte trug allerdings die Strategie, die auf den
Atlanta; und Killian und Smith berichten über Tallahassee. Vgl. außer- Gewinn der farbigen Wähler abzielte ... Bei der Analyse des farbigen
dem das Southern Regional Council, 1961. Wählerverhaltens kommen alle Einzeluntersuchungen zu dem Ergeb-
26 Abgesehen natürlich vom FBI. nis, daß Kennedy sieben von zehn farbigen Stimmen erhielt ... Es ist
27 Diese Kader entstammten der neu gebildeten schwarzen Arbeiterklasse kaum vorstellbar, wie Kennedy in Illinois, New Jersey, Michigan, South
im Süden, die ein Produkt der ökonomischen Modernisierung war. Carolina oder Delaware [die zusammen 74 Wahlmänner stellten] hätte
»Sollte man den Mitarbeiterstab des SNCC im tiefen Süden knapp cha- gewinnen können, wenn die Verteilung der farbigen Stimmen auf
rakterisieren, svürde man sagen: sie sind Schwarze, sie kommen aus dem Demokraten und Republikaner sich nicht gegenüber der Eisenhower-
Süden, ihre Familien sind arm und gehören zur Arbeiterklasse, aber sie Wahl von 1956 verändert hätte.« (1961,384-386) Vgl. auch Schlesinger,
haben ein College besucht.« (Zinn, io) Auch Bell gelangt bei seiner Ana- 811.
lyse einer CORE-Gruppe im Süden zu ähnlichen Schlußfolgerungen: 32 Fuller beschreibt die Strategie Kennedys en detail, ebenso wie Schlesin-
»Es ist also eindeutig, daß diese CORE-Mitglieder aus der >oberen ger, Sorenson und Fleming. Am ausführlichsten und brauchbarsten ist
Unterschicht< innerhalb der Sozialstruktur der schwarzen Bevölkerung die Darstellung Navaskys.

442 443
33 Als Sekretär für Rassenbeziehungen der »Fellowship of Reconciliation« gration der Schwarzen in die Parteiorganisationen war der Schlüssel zu
war Farmer die Haupttriebkraft bei der Gründung von CORE im Jahre diesem Ziel, da man davon ausgehen konnte, daß die Schwarzen sich der
1942 gewesen. nationalen Partei gegenüber loyal verhalten würden.
34 CORE hatte bereits 1947 zwei »freedom rides« durch den oberen Süden 4o Die ermordeten jungen Leute waren Michael Schwerner und Andrew
organisiert. Sie werden beide von James Peck in Freedom Rute beschrie- Goodman, beides Weiße aus New York, und James Chaney, ein Schwar-
ben. In dieser wie auch in anderer Hinsicht hatte CORE die spätere zer aus Meridian, Mississippi. Diese Morde, die — wie schon andere
Strategie der direkten Aktion in der Südstaatenphase der Bürgerrechts- zuvor — große Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erregten, trugen
bewegung bereits vorweggenommen. Er hatte schon zwei Jahrzehnte erheblich dazu bei, die Unterstützung für die Bürgerrechtsgesetze von
vor den sit-ins und »freedom rides« der frühen sechziger Jahre zu diesen 1964 und 1965 zu verstärken.
Methoden gegriffen, um die Aufhebung der Rassentrennung zu erzwin- 41 Franklin schildert eine Reihe dieser Demonstrationen: »Es fanden
gen. ungefähr genauso viele Demonstrationen im Norden und Westen wie im
35 Meier und Rudwick betonen darüber hinaus, daß eine direkte Bezie- Süden statt. Der Schwerpunkt lag auf einer Verbesserung der Beschäfti-
hung zwischen diesen Kanalisierungsbemühungen und den Vorberei- gungschancen und dem Ende der de facto-Segregation im Wohnungs-
tungen der Kennedy-Administration für den Wahlkampf von 1964 und Bildungswesen. In New York und Philadelphia versuchten Demon-
bestanden habe: >Vertreter der Kennedy-Administration waren von den stranten den Bau von Schulen in rein schwarzen Wohnbezirken zu blok-
Ergebnissen einzelner Wählerregistrierungskampagnen in mehreren kieren. Sie führten sit-ins beim Bürgermeister von New York City,
nördlichen Städten, die sie vor der Wahl von 196o hatten durchführen Robert Wagner, und beim Gouverneur des Staates New York, Nelson
lassen, beeindruckt worden; sie erkannten die Möglichkeit, einen grö- Rockefeller durch. In Boston, Chicago, New York und Englewood
ßeren schwarzen Wählerblock im Süden zu schaffen, der 1964 für Ken- (New Jersey) wurden Schulen besetzt oder Schulstreiks durchgeführt,
nedy stimmen würde. In dieser Atmosphäre, die von einem gestiegenen um gegen die Unausgewogenheit der Rassen zu protestieren. In Los
Interesse an Wählerregistrierung und von einer durch die >freedom Angeles und San Francisco fanden Protestversammlungen mit mehr als
rides< hervorgerufenen Krisenstimmung bestimmt war, entstand die zo 000 Teilnehmern statt, die gegen die Ermordung von Medgar Evers
Idee einer größeren und durch Stiftungen finanzierten Wählerregistrie- und William Moore protestierten. Moore war ein Postbeamter aus Balti-
rungskampagne.« (172-173) Ivlatthews und Prothro weisen auf densel- more gewesen, der auf einem persönlichen Freiheitsmarsch durch Mis-
ben Umstand hin: »Je mehr Schwarze im Süden in Zukunft zur Wahl sissippi erschossen worden war.« (631)
gehen werden, um so mehr kann man von einem Anwachsen der Demo-
kratischen Stimmenanteile ausgehen... eine Tatsache, die der Aufmerk-
samkeit der Bürgerrechtsstrategen der Kennedy- und Johnson-Admini- V.
stration nicht entgangen ist.« (391-392)
36 Es liegen mehrere recht detaillierte Berichte über die Ereignisse in Der Bericht von Meier und Rudwick über die Aktivitäten des CORE in
Albany von 1961 und 1962 vor. Vgl. z.B. Zinn; Watters ; Anthony Lewis, nördlichen Städten enthält auch eine Menge Material über diese Hin-
1964; und David Lewis, 1970. wendung zur »community organization« Mitte der sechziger Jahre. Er
37 Die Kampagne von Birmingham wird u. a. von David Lewis, 197o, und schildert außerdem, wie jämmerlich CORE bei der Anwendung dieser
Zinn dargestellt. Die Reaktionen der Bundesregierung schildern Soren- Strategie scheiterte.
sen, Schlesinger und Navasky. z Es gibt einige Dissertationen und Seminararbeiten. Steiner ist der ein-
38 Southern Regional Council, Presse-Mitteilung vom 15. November zige bekanntere Sozialwissenschaftler, der über die NWRO geschrie-
1964. ben hat (vgl. sein 8. Kapitel).
39 Als zudem eine Delegation dieser Partei beim Demokratischen Partei- 3 Der Leser sollte wissen, daß wir ein sehr enges Verhältnis zu George
konvent im Sommer Ansprüche auf die Vertretung des Staates Missis- A. Wiley hatten, dem geschäftsführenden Direktor der NWRO.
sippi anstelle der regulären Delegation erhob, wurden sie von der natio- George starb im Sommer 1973 durch einen Unfall. Er war ein äußerst
nalen Parteiführung aus einem offensichtlichen Grund abgewiesen: talentierter Führer und ein guter Freund. Sein Tod hat uns tief be-
man wollte keinesfalls zur Gründung weiterer schwarzer Splitterpar- rührt.
teien im Süden ermuntern. Die Demokratischen Parteien in den einzel- 4 Es gab drei verschiedene Kategorien der öffentlichen Unterstützung:
nen Südstaaten mußten reorganisiert und gestärkt werden, und die Inte- Altersfürsorge, Blindenhilfe und Unterstützung für abhängige Kinder

444 445
(»Aid to Dependent Children« [ADC], später in »Aid to Families with gesellschaftlichen Gefüges« war natürlich auch ein politisches Problem,
Dependent Children« [AFDC] umgeändert). AFDC war die wichtigste ob nun in bezug auf organisierte Proteste gegen Arbeitslosigkeit und
Form der Unterstützung für arme Familien, und dieses Programm Diskriminierung oder in bezug auf die Reaktionen anderer Gruppen
erfuhr auch in den sechziger Jahren die größte Ausdehnung. Die Pro- auf wachsende Kriminalität und andere Ausdrucksformen sozialer
gramme wurden von der Bundesregierung überwacht und teilweise Desorganisation, die sich aus der mangelnden Integration der Schwar-
finanziert, doch die Bundesstaaten und Lokalverwaltungen führten sie zen in das Beschäftigungssystem ergeben. Auch war es ein zunehmend
aus. 195o wurde eine weitere Kategorie hinzugefügt: »Aid to Perma- akutes politisches Problem, denn mit dem Ausbruch der Gettounruhen
nently and Totally Disabled« (Unterstützung für unheilbar und voll- im Jahre 1964 erschreckten die Auswirkungen dieser »Belastung des
ständig Behinderte). gesellschaftlichen Gefüges« viele weiße Wähler und verhalfen so den
5 Alle Daten in diesem Abschnitt und in anderen Teilen dieses Kapitels, Republikanern 1968 wieder zur Machtübernahme.
soweit sie die Ausdehnung der Sozialfürsorge in den sechziger Jahren 9 Das Gesetz basierte auf einem Bericht der jask Force on Manpower
betreffen, sind dem statistischen Anhang von Piven und Cloward (1977) Conversation«, einem Ausschuß auf Kabinettsebene, der von Präsident
entnommen. Die Daten über Anträge und Bevvilligungen finden sich in Kennedy am 3o. September (nur wenige Wochen nach dem Marsch auf
Tabelle 5 ; über die Zahl der AFDC-Familien in Tabelle i. Die Zunahme Washington) eingesetzt worden war.
der Sozialfürsorge in den größten Städten des Landes läßt sich inTabelle to Vgl. die ausführliche Behandlung der ökonomischen Angebote und
2 ablesen. Die Daten enthalten die AFDC-UP-Fälle und beziehen sich staatlichen Hilfsprogramme der Kennedy- und Johnson-Administra-
auf die Vereinigten Staaten ohne Hawaii und Alaska. tion zur Eindämmung schwarzen Protests in Kapitel 9 von Piven und
6 U.S. Department of Labor, 1964, 48. Cloward, 1977; siehe auch verschiedene Artikel von Piven in Teil 4 von
7 Es war schon die vierte schwere Rezession seit dem Ende des Zweiten Cloward und Piven, 1974.
Weltkrieges. Nach jeder Rezession war die Langzeitarbeitslosigkeit auf II Der prominenteste Anwalt, der an dieser landesweiten juristischen Her-
ein höheres Niveau gestiegen — das Arbeitsministerium nannte es ein ausforderung des Wohlfahrtssystems teilnahm, war Edward Sparer, der
»Herausdrängen« : »Der bedeutendste Anstieg dieses Herausdrängens als Anwalt bei »Mobilization for Youth«, einem Programm gegen die
aus dem Arbeitsmarkt scheint unter Nicht:Weißen nach 1958 — dem Armut, erstmals mit Fürsorgefälien zu tun hatte. Er führte seine Arbeit
Jahr einer Rezession, die in vielen Bereichen nie ganz überwunden als Direktor des »Center on Social Welfare Policy and Law« und als
wurde — erfolgt zu sein. Die Arbeitslosigkeit hatte unter Nicht-Weißen Rechtsbeistand der »National Welfare Rights Organization« fort.
allerdings schon nach jeder einzelnen Nachkriegsrezession erheblich 12 Kapitel to von Piven und Cloward, 1977, enthält eine detaillierte
zugenommen, und war seit 1954 während der folgenden Aufschwungs- Beschreibung der Rolle, die die »Great Society«-Programme, insbeson-
phasen nicht in demselben Maße wieder zurückgegangen wie die dere die Programme gegen die Armut, bei der Wohlfahrtsexplosion in
Arbeitslosigkeit unter Weißen. Das bekannte Muster des >zuerst gefeu- den sechziger Jahren gespielt haben.
ert, zuletzt eingestellt< scheint sich geändert zu haben — jetzt heißt es : 13 Es stehen keine Daten zur Verfügung, die die Unruhen in direkte Bezie-
>zuerst gefeuert, vielleicht nie wieder eingestellt<.« (1964, 82) Als Ken- hung zum Anwachsen der AFDC-Zahlen stellen. Es gibt jedoch eine
nedy: die Regierung übernahm, hatte die letzte dieser Rezessionen der Studie über die Auswirkungen von Unruhen auf die Zahl der »General
Nation eine offizielle Arbeitslosenrate von 7310 hinterlassen — 62/0 unter Assistance«-Empfänger. So sagt Betz: »Die Angaben aus 23 Städten, in
Weißen und 12,5 °/<.,' unter Nicht-Weißen. denen es Unruhen gab, werden mit denen aus 2o Städten ähnlicher
8 Wie immer, wenn er die Handlungen von Präsidenten interpretiert, Größe, in denen es nicht zu Unruhen gekommen ist, verglichen ... Die
unterstellt Schlesinger Kennedy ausschließlich staatsm änni sehe Analyse ergab, daß in Städten, in denen es Unruhen gab, im jeweils
Motive. Arbeitslosigkeit beunruhigte den Präsidenten nicht »politisch, nachfolgenden Jahr die Ausgaben für die Sozialfürsorge überproportio-
konnte er doch sicher sein, daß die Arbeitslosen sich auf der Suche nach nal erhöht wurden.« (345)
Arbeit nie an die Republikaner wenden würden. \Vas ihm dagegen Sorge 14 Vgl. die Diskussion der Ursachen und politischen Konsequenzen dieser
machte, war die soziale Seite des Problems. Denn die Arbeitslosigkeit Unruhen bei Fiske, 21-22.
war besonders unter den Schwarzen hoch, die der amerikanischen 15 Dieser Artikel wurde am 2. Mai 1966 in der Zeitschrift The Nation veröf-
Gesellschaft ohnehin schon weitgehend entfremdet waren, und dazu fentlicht; er wurde nachgedruckt in Cloward und Piven, 1974. Soweit
noch unter den Jugendlichen, womit das gesellschaftliche Gefüge einer nicht anders angegeben, stammen alle Zitate in diesem Abschnitt aus
zunehmenden Belastung ausgesetzt war.« (873) Aber die »Belastung des dem Artikel.

446 447
16 Als George später die »National Welfare Rights Organization« grün- 27 Der Erfolg der Kampagnen in New York und in Massachusetts konnte
dete, animierte er damit eine Reihe von CORE-Veteranen, ebenfalls im an den meisten anderen Orten nicht wiederholt werden. In Detroit ver-
Wohlfahrtsbereich tätig zu werden; unter ihnen war auch Bruce Tho- anlaßten Demonstrationen für Zuschüsse zur Schulkleidung die poli-
mas. tischen Verantwortlichen zur vorübergehenden Schließung der Wohl-
17 In dieser Hinsicht bestehen auffallende Parallelen zur Großen Depres- fahrtsbehörde. In Chicago wurden die Zuständigkeitsbereiche der
sion. Wie wir in Kapitel III angemerkt haben, wude 193o die »United einzelnen Fürsorgebüros verändert, um den Bezirk, wo die »welfare
States Conference of Mayors« zu dem erklärten Zweck gegründet, sich rights«-Gruppen am aktivsten waren, einzugrenzen und zu isolieren.
im Kongreß für Bundeszuschüsse an die Gemeinden einzusetzen, um Damit wurde es leichter, den Demonstrationen zu begegnen (Martin,
sie von der Last steigender Fürsorgekosten zu befreien. 161-163).
18 Martin, 1972, 75-85, gibt einen detaillierten und zutreffenden Bericht 28 Dieser Artikel wurde auch in Cloward und Piven, 1974, aufgenom-
über diese Ereignisse im Frühjahr 1966. men.
19 Dieser Bericht über die Entwicklung einer einfachen AFDC-Empfän- 29 Die führenden Vertreter der NWRO klagten oft, der Hauptgrund dafür,
gerin zum NWRO-Mitglied durch den Einfluß von Bürgerrechtsde- daß keine Kampagnen zur Ausweitung der Zahl der Wohlfahrtsempfän-
monstrationen bezieht sich allerdings auf einen etwas späteren Zeitraum ger eingeleitet würden, liege darin, daß keiner wüßte, wie das gehen
in den sechziger Jahren. Dieser geringfügige Zeitunterschied ist jedoch sollte. Steiner wiederholt diese Kritik, wenn er schreibt: »Die wirkliche
irrelevant, denn wenn es Berichte über eine frühere Periode gäbe, wür- Schwierigkeit besteht darin, daß Cloward und Piven nicht erklären, wie
den sie ebenfalls die wichtige Rolle des Kampfes um die Bürgerrechte man denn allen Anspruchsberechtigten zu Sozialfürsorge verhelfen
bei der Gründung der NWRO offenbaren. könne ... sie lassen die entscheidende Frage unbeantwortet: nämlich
20 Bei 25 bis 49 Mitgliedern einen Delegierten und einen Nachrücker; bei wie man diese Leute finden, motivieren und bei der Stange halten soll,
so bis 99 Mitgliedern drei Delegierte und drei Nachrücker; für jeweils während ihre Anträge bearbeitet werden.« (297) Aber das Gegenteil war
weitere to() Mitglieder einen zusätzlichen Delegierten und Nachrük- richtig: »Diese Leute« mußten nicht »gefunden« oder »motiviert« wer-
ker. den, sie überfluteten die Wohlfahrtszentren mit Millionen von Anträ-
21 Ein internes NWRO-Dokument, das erstellt wurde, um die Stärke der gen, und viele von ihnen wurden ablehnend beschieden. Um diese Leute
einzelnen Delegationen zum Kongreß von 1969 zu berechnen, stellte ausfindig zu machen und ihnen bei der Durchsetzung ihrer Ansprüche
fest, daß es in den Vereinigten Staaten insgesamt 523 lokale Gruppen zu helfen, hätte man bloß in die Wohlfahrtszentren im ganzen Land zu
gab, von denen 376 über die zur Entsendung eines Delegierten notwen- gehen brauchen. Aber Steiner sagt außerdem (ohne den Widerspruch zu
digen 25 beitragszahlenden Mitglieder verfügten (Jackson und Johnson, erkennen), daß die NWRO-Vertreter wenig Zeit gehabt hätten, in die
116).Whitacker bestätigt diese Angaben ( i8o). Wohlfahrtszentren zu gehen, weil sie von ganztägigen Konferenzen mit
22 Eine interessante Betrachtung über die Versuche der »organizers«, auf- »Bürokraten, Wissenschaftlern und Lobbyisten« in Anspruch genom-
zuzeigen, daß Fürsorgeverwaltungen zum Einlenken gezwungen wer- men wurden, »um Veränderungen der Sozialfürsorge zu planen... «
den konnten, ist in den Berichten bei Kurzmann über die Bewegung in (285).
Mississippi enthalten. 3o Als George acht Monate später starb, übernahm DeLeeuw die Leitung
23 Es führte aber auch zu empörten Reaktionen von seiten der Amtsleiter, der »Movement for Economic Justice«.
oft in der Form von Pressemitteilungen oder internen Memoranden an 3t Die Bemühungen der NWRO und ihrer lokalen Gruppen, den Mitglie-
das Personal, in denen sie erklärten, daß »unsere Klienten« »einge- derstand durch die Propagierung anderer Themen zu halten, sollen
schüchtert«, »mißbraucht«, »manipuliert« oder »ausgebeutet« wer- nicht unerwähnt bleiben. So wurden Versuche unternommen, mit den
den. Warenhaus-Ketten Sears & Roebuck und Montgomery Ward sowie mit
24 Vgl. die Schilderung der Kampagnen von »Mobilization for Youth« bei lokalen Warenhäusern in einer Reihe von Städten Kreditkartenabkom-
Rabagliati und Birnbaum; sowie Birnbaum und Gilman. men zu treffen. Außerdem wandte man sich Fragen wie Kindertages-
2 5 Vgl. Jackson und Johnson; sowie Sardell. In beiden Quellen werden die stätten, Erziehungsproblemen, Gesundheitsfürsorge, Wohnungen, Le-
Sonderzuwendungskampagnen des New Yorker Koordinierungsaus- bensmittelverteilung, Schulessen usw. zu. Man hoffte, durch eine
schusses detailliert beschrieben. Erweiterung des NWRO-Programms die erlahmende Mitgliederbasis
26 Die genannten Beschreibungen der Sonderzuwendungskampagnen in wiederbeleben zu können. Diese Bemühungen blieben jedoch ohne
Massachusetts finden sich bei Fiske und Bailis. Erfolg.

44 8 449
32 Alle Beobachter gehen übereinstimmend davon aus, daß die Mitglied- gebedürftigen zu beeinflussen. Die Unterstützung der Kirche bedeutete
schaft der NWRO fast vollständig schwarz war. Martin schätzt z.B. den für die Wohlfahrtsempfänger einen erheblichen Rückhalt. Sie half den
Anteil der Schwarzen auf 85%, den der Weißen auf to% und den der Armen, ihr Schamgefühl zu überwinden, indem sie ihnen den Eindruck
Latinos auf s % (2, Fußnote 1, und Appendix C, Tabelle 44). vermittelte, daß ihre Forderung nach menschenwürdiger Unterstüt-
33 Congressional Quarterly Weekly Report, Nr. 36, 8. September 1967 zung vom moralischen wie religiösen Standpunkt aus gerechtfertigt
(Washington, D. C., Congressional Quarterly Service), 1729. war.
34 In den ersten ein bis zwei Jahren ihrer Existenz erhielt die NWRO nur 36 In New York war zum Beispiel die Unterstützung des Ortsverbands
wenig Unterstützung von etablierten schwarzen Politikern und Organi- District 37 extrem hilfreich.
sationen. Zum Teil war dies einfach Ausdruck der Konkurrenz der ver- 37 Vereinbarung zwischen dem Staate Pennsylvania, Ministerium für
schiedenen Organisationen, Gefolgschaft und Ressourcen. Doch es öffentliche Wohlfahrt, und der »Philadelphia Welfare Rights Organiza-
spiegelte auch die tiefe Ambivalenz gegenüber der öffentlichen Wohl- tion, West District«, veröffentlicht am 17. Oktober 1968 von Elias S.
fahrt wider. Ganz allgemein waren schwarze Führer der Meinung, man Cohen, Commissioner.
solle sich von der Wohlfahrt möglichst unabhängig machen, und nicht 38 Commonwealth of Pennsylvania, Department of Public Welfare, Har-
umgekehrt. Die wachsende Zahl schwarzer Wohlfahrtsempfänger risburg, Pa., Public Assistance Memorandum Nr. 968, Supplement I,
stellte für sie eine Quelle beständiger Peinlichkeit dar. Als wir einen pro- 1. März 1969.
minenten schwarzen Führer um Hilfe bei der Beschaffung von Mitteln 39 Bailis Beschreibung der »Massachusetts Welfare Rights Organization«
baten, drückte dieser in seiner Antwort vermutlich die Meinung der (MWRO) deckt sich vollkommen mit unseren Beobachtungen: »Die
meisten aus: einer schwarzen Frau einen Job als Stewardess zu verschaf- letzte Phase des sich entwickelnden Bruchs zwischen einfachen Aktivi-
fen, sagte er, sei wichtiger, als so vaterlosen Familien zu öffentlicher sten und professionellem Mitarbeiterstab begann vielleicht, als lokale
Unterstützung zu verhelfen. Als jedoch eine landesweite Debatte über Aktivisten feststellten, daß sie keine starken Gruppen brauchten, um in
Armut, Arbeitslosigkeit und die zunehmende Zahl der Fürsorgeemp- der Politik der MWRO eine wichtige Rolle zu spielen, und als der
fänger einsetzte, bezog eine Reihe schwarzer Führer eine freundlichere Exekutivausschuß der MWRO zu der parallelen Schlußfolgerung
Haltung. U. a. begannen sie, die bestehenden Wohlfahrtspraktiken zu gelangte, daß die Ehren und die Hochachtung, die sie von Politikern,
verurteilen und nach einer Form staatlicher Einkommensgarantie zu Fürsorgebeamten und Vertretern privater Wohltätigkeitsorganisationen
verlangen. erfuhren, nicht wirklich eine funktionierende Basisorganisation im gan-
35 Die Kirche war wahrscheinlich die private Institution, die der NWRO zen Staat erforderten.« (73)
die meiste Hilfe zukommen ließ. Einige Kirchenleute, die selbst mit 4o Die NWRO beschloß umgehend, an Nevada »ein Exempel zu statu-
großem Engagement an der Bürgerrechtsbewegung im Süden teilge- ieren«, in der Hoffnung, andere Bundesstaaten damit von der Durch-
nommen hatten und von ihr beeinflußt worden waren, verstanden ver- führung ähnlicher »Reformen« abzuhalten. George hoffte außerdem,
mutlich, wie tief die Rassen- und Klassenunterdrückung reichte, der die daß eine Massenmobilisierung in Nevada das zurückgehende Spenden-
Schwarzen unterworfen waren. Diese Kirchenleute erwiesen sich aufkommen der Organisation wieder festigen und die Moral der Orga-
manchmal als die entschiedensten Befürworter und Aktivisten der »wel- nisation heben würde.
fare rights«-Gruppen. Auf der lokalen Ebene drückten Kirchengemein- Innerhalb weniger Wochen lief die »Operation Nevada« , der NWRO an.
den ihre Unterstützung dadurch aus, daß sie Geld, Büroräume,Telefone Eine »Anwalts-Brigade«, die sich aus rund 4o Anwälten und 7o Jurastu-
und Gerät zur Herstellung von Literatur und Flugblättern zur Verfü- denten zusammensetzte und von Edward Sparer (dem Rechtsbeistand
gung stellten. Im ganzen Land schlossen sich viele Geistliche den der NWRO) angeführt wurde, stürmte die Gerichte von Nevada, wäh-
Demonstrationen an ; eine Reihe von ihnen organisierte »welfare rend der nationale Mitarbeiterstab der NWRO sowie »organizers« aus
rights«-Gruppen, und einige lokale Kirchenverbände stellten einen verschiedenen Teilen des Landes eingeflogen wurden, um Demonstra-
Geistlichen ab, um ganztägig für die »welfare rights«-Gruppen tätig tionen auf dem berühmten »Strip« von Las Vegas zu organisieren.
sein zu können. Auf Bundesebene ließen mehrere große Konfessionen Bekannte Leute wie Ralph Abernathy, David Dellinger, Jane Fonda und
der NWRO oder ihren angeschlossenen Gruppen im Laufe der Jahre Sammv Davis jr. nahmen ebenfalls an den Demonstrationen teil.
hunderttausende von Dollar zukommen, sie organisierten Diskussions- Die größten Erfolge wurden in den Gerichtssälen erzielt. Am zo. März
runden über Ziele und Politik der Bewegung, und Kirchenführer betei- ordnete der »Federal District Court» an, alle Streichungen von Empfän-
ligten sich an Aktionsbündnissen, um Politiker zugunsten der Fürsor- gern und alle Leistungskürzungen zurückzunehmen und die versäum-

4 5° 45
ten Zahlungen nachträglich zu leisten. Das Gericht befand, daß »infolge sie in vielen Bundesstaaten einen Fortschritt. Darüber hinaus stellten
viel mehr Personen Anträge auf diese Unterstützung, als es zuvor der
der dargestellten übereilten Aktionen der Behördenleiter und sein Stab
die verfassungsmäßigen Rechte anspruchsberechtigter wie nicht- Fall gewesen war, da SSI von den »Social Security«-Verwaltungen verge-
ben wird und deshalb in weit geringerem Maße stigmatisiert ist als die
anspruchsberechtiger Empfänger gleichermaßen mißachtet haben.«
älteren Unterstützungsprogramme. Dieser wesentliche Fortschritt
Die Wohlfahrtsbehörde hatte, kurz gesagt, zu unverhohlen und zu
dreist gehandelt. Es gab subtilere Wege, um den Zuwachs der Wohl- wurde erst durch die fiskalische Krise und deren politische Auswirkun-
gen, die beide von der Wohlfahrtsexplosion ausgelöst worden waren,
fahrtsausgaben zu stoppen und die Zahl der Empfänger wieder einzu-
ermöglicht. Die »Krisenstrategie« war doch teilweise richtig gewesen,
schränken; andere Bundesstaaten waren schon vorsichtig dabei, sie zu
beschreiten. allerdings nicht ganz auf die Weise, die wir erwartet hatten.
Die Operation Nevada endete mit einem Sieg der NWRO — es sollte ihr 44 Zitiert mit Genehmigung von Hyman Bookbinder.
letzter gewesen sein. Es war wohl sogar die letzte große nationale 45 Vgl. die Auseinandersetzung mit der sich verändernden Position der
Demonstration der Schwarzen mit Hilfe von Massenmärschen und NWRO über FAP bei Burke und Burke, '59-165.
46 Moynihan behauptet, daß noch eine andere Neinstimme — die von
Aktionen zivilen Ungehorsams in Verbindung mit gerichtlichen Schrit-
Anderson aus New Mexico — auf den Einfluß von Harris zurückging,
ten. Es war das Ende einer Ära, die zwei Jahrzehnte zuvor in Montgo-
mery, Alabama, begonnen hatte. und damit indirekt auf den Einfluß der NWRO (533). Burke und Burke
bestätigen dies nicht, ebensowenig wie Mitchell I. Ginsberg, der in New
4i Detaillierte Auseinandersetzungen mit den FAP-Vorschlägen und
York der »Human Ressources Administrator« und einer der aktivsten
anschließenden parlamentarischen Debatten finden sich bei: Moy-
nihan ; Burke und Burke; und Bowler. Bowlers Studie enthält außeror- Lobbyisten für FAP war.
47 Das Ausschußmitglied Hartke aus Indiana vvar bei dieser entscheiden-
dentlich klarsichtige Erklärungen der komplexen Details sowohl der
den Abstimmung nicht anwesend. Hartke, ein Liberaler, war bei den
gültigen als auch der vorgeschlagenen Wohlfahrtsprogramme.
Zwischenwahlen gerade noch einmal mit einem blauen Auge davonge-
42 Da die meisten Bundesstaaten Beihilfen von weit über r600 Dollar für
kommen. Burke und Burke sagen nichts darüber, wie er bei Anwesen-
eine vierköpfige Familie gewährten, hätten die Bundesstaaten trotzdem
heit gestimmt hätte. Moynihan gibt ebenfalls keinen Hinweis, und auch
noch etwas auf die Zahlungen des Bundes drauflegen müssen, und libe-
Ginsberg findet die Antwort schwierig. Auf alle Fälle gibt es keinerlei
ralere Staaten hätten höhere Kosten zu tragen gehabt als Staaten mit
Anzeichen dafür, daß er von der NWRO beeinflußt gewesen sein
restriktiver Fürsorgepraxis — eine Regelung, die sich nicht sehr von der
alten unterschieden hätte. Nichtsdestoweniger wurde allen Bundesstaa- könnte. Auch haben die Lobbyisten der NWRO nie derartiges behaup-
ten versichert, unter dem Nixon-Plan zumindest gewisse Einsparungen tet.
vornehmen zu können.
43 Als wir A Strategy to End Poverty schrieben, sahen wir nicht das volle
Ausmaß südstaatlicher Opposition gegen ein garantiertes Mindestein-
kommen voraus, die in dem Interesse begründet lag, das extrem niedrige
Lohnniveau zu erhalten, das in Teilen des Südens noch immer vor-
herrscht. Eine Lehre, die wir aus den Debatten über die Reorganisation
des Wohlfahrtssystems ziehen können, ist die, daß ein garantiertes
nationales Mindesteinkommen — sollte es je zustande kommen — aus
Rücksicht auf die unterschiedlichen Lohnniveaus in den regionalen
Wirtschaftssystemen der Vereinigten Staaten sehr niedrig sein wird.
Eine umfassende Reform resultierte aber doch aus dem erheblichen
Anstieg der Zahl der Fürsorgeempfänger: die Übernahme der soge-
nannten Erwachsenenkategorien in Bundeshoheit, also die Unterstüt-
zung der Behinderten, Blinden und Alten. Diese Gruppen wurden von
der Bundesregierung übernommen und in ein neues System — das
»Supplemental Security Income‹< (SSI) — integriert. Für diese Gruppen
gibt es daher ein nationales Mindesteinkommen, und das bedeutet für

452
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