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Harald Weinrich

Linguistik der Lüge

Im Jahre 1964 schrieb die Deutsche Akademie für Spra-


che und Dichtung in Darmstadt die Preisfrage aus „Kann
Sprache die Gedanken verbergen?". Harald Weinrichs
Antwort, der der erste Preis zuerkannt worden war, er-
schien 1966 unter dem Titel „Linguistik der Lüge". Die
„ungewöhnliche und glänzende Studie", so das Urteil
der Jury, erscheint hier, um ein „Nachwort nach 35 Jah-
ren" erweitert, in der 6. Auflage.

Harald Weinrich, geb. 1927, ist nach Professuren in Kiel,


Köln, Bielefeld und München jetzt Professor für Roma-
nistik am College de France, Paris. Er war als Gastpro-
fessor an den Universitäten von Michigan und Princeton
sowie am Wissenschaftskolleg Berlin tätig. An der Scuola
Normale von Pisa hatte er den Galilei-Lehrstuhl inne. Er
ist Ehrendoktor der Universitäten Bielefeld, Heidelberg
und Augsburg. Im In- und Ausland erhielt er zahlreiche
Preise und Auszeichnungen und ist Mitglied mehrerer
Akademien sowie des PEN-Clubs. Veröffentlichungen
u.a.: Das Ingenium Don Quijotes (1956); Tempus - Be-
sprochene und erzählte Welt (1964); Literatur für Leser
(1971); Wege der Sprachkultur (1985); Textgrammatik
der deutschen Sprache (1993; Lethe (1997). Verlag C.H.Beck
Das Buch erschien in erster bis fünfter Auflage von
1966 bis 1974 im Verlag Lambert Schneider, Heidelberg

Inhalt

„Magna quaestio est de mendacio . . . " 7

Wort und Text 14

Wort und Begriff 25

Können Wörter lügen? 34

Denken 39

Wider die Bilderstürmer 43

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ja und Nein 50


Weinrich, Harald:
Ironie 62
Linguistik der Lüge / Harald Weinrich - 6., durch ein Nachw.
erw. Aufl. - München : Beck, 2000
(Beck'sche Reihe ; 1372) „Viel lügen die Sänger" 70
ISBN 3 406 45912 9
Nachwort nach 35 Jahren 79

Anmerkungen 87
ISBN 3 406 45912 9

Sechste, durch ein Nachwort erweiterte Auflage. 2000


Umschlaggestaltung: +malsy, Bremen
Umschlagabbildung: Rene Magritte: 'La Clef des songes'.
Gouache, 1952.
(Mit freundlicher Genehmigung der Sammlung Timothy Baum,
New York)
Copyright © Charly Herscovici, Brussels
© C.H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung (Oscar Beck), München 2000
Gesamtherstellung: C. H. Beck'sche Buchdruckerei, Nördlingen
Printed in Germany
„Magna quaestio est de mendacio ..."

Die Lüge ist in der Welt. Sie ist in uns und um uns. Man
kann die Augen nicht vor ihr verschließen. „Omnis homo
mendax", sagt ein Psalmvers (115, 11). Wir können über-
setzen: Der Mensch ist ein Lebewesen, das der Lüge fähig
ist. Das ist eine Definition, die ebenso richtig ist wie jene
Definitionen, die den Menschen ein Lebewesen nennen,
das zu denken, zu sprechen oder zu lachen versteht. Es.
mag wohl eine misanthropische Definition sein, aber sie
ist nicht widerlegbar. Molières Misanthrop nimmt sich
aus ihr das Recht, das ganze Menschengeschlecht zu
hassen.
Die Linguistik kann die Lüge nicht aus der Welt schaf-
fen, und sie kann nicht verhindern, daß die „Lügenfah-
nen" (Goethe) so oft entrollt werden. Zwar lügen die
Menschen - meistens - mit der Sprache; sie sagen die Un-
wahrheit, und sie reden doppelzüngig. Aber es ist sehr
fraglich, ob ihnen die Sprache beim Lügen hilft. Wenn sie
es tut, wird sich die Linguistik dem „großen Problem der
Lüge" (Augustin) nicht entziehen können. Hilft die Spra-
che jedoch beim Lügen nicht oder setzt sie dem Lügen
sogar Widerstand entgegen, so kann dennoch die Lin-
guistik beschreiben, was sprachlich geschieht, wenn die
Wahrheit zur Lüge verdreht wird. Die Lüge geht die Lin-
guistik allemal an.
Augustin, der als erster die Lüge zum Gegenstand der
philosophischen und theologischen Reflexion gemacht

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hat, hat auch als erster den linguistischen Aspekt der Lüge soll. Es lautet: La parole a été donnée a l'homme pour
gesehen. Er erinnert daran, daß den Menschen die Sprache déguiser sa pensée. (Die Sprache ist dem Menschen gege-
nicht gegeben ist, damit sie sich gegenseitig täuschen, ben, damit er seine Gedanken verkleiden kann). Es ist ge-
sondern damit sie einander ihre Gedanken mitteilen. Wer flügeltes Wort geworden. Man schreibt es auch Fouché
also die Sprache zur Täuschung gebraucht, mißbraucht oder Metternich zu. Das bedeutet: Wenn schon nicht alle
die Sprache, und das ist Sünde. 1 Thomas von Aquin und Menschen mit der Sprache ihre Gedanken verbergen, bei
Bonaventura nehmen diesen Gedanken auf: Die Wörter Politikern und Diplomaten gehört die Lüge zum Beruf.
der Sprache sind Zeichen des Geistes; es ist wider ihre Sie ist eine Kunst. Hermann Kesten nimmt den Gedanken
Natur und wider den Geist, sie in den Dienst der Lüge zu auf und entfaltet ihn wie einen Fächer: „Es gibt ganze Be-
stellen.2 Die Sprache soll die Gedanken offenbaren, nicht rufe, von denen das Volk von vornherein annimmt, sie
verbergen. Die Zeichenfunktion der Sprache steht auf zwängen ihre Vertreter zur Lüge, zum Beispiel Theolo-
dem Spiel. Sie ist die elementarste, aber ebendarum die gen, Politiker, Huren, Diplomaten, Dichter, Journalisten,
fundamentalste Leistung der Sprache. Die Lüge ist ihre Advokaten, Künstler, Schauspieler, Banknotenfälscher,
Pervertierung. Börsenmakler, Lebensmittelfabrikanten, Richter, Ärzte,
Die Menschen sind aber so beschaffen, daß sie die Zei- Gigolos, Generäle, Köche, Weinhändler." 4 Spricht hier ein
chen der Sprache zugleich zum Guten und zum Bösen Dichter?
gebrauchen. So sagen die Moralisten. Ein Hexameter des Es sind nun immer wieder Stimmen laut geworden, die
Dionysius Cato lautet: Sermo hominum mores et celat et der Sprache eine Mitschuld zugesprochen haben, wenn
indicat idem. (Die Sprache verbirgt und offenbart zu- die Menschen sie zur Lüge mißbrauchen. In Shakespeares
gleich die Sitten der Menschen.) Das skeptische Wort hat Heinrich V. steht, französisch geschrieben: O hon Dieu!
Schule gemacht. Voltaire schreibt einen Dialog Der Ka- Les langues des hommes sont pleines de tromperies. (Mein
paun und das Masthuhn und legt seinen geflügelten Gott! Die Sprachen der Menschen sind voller Betrüge-
Wortführern auch dieses harte Urteil über die Menschen reien!) 5 Vielleicht sogar die eine Sprache mehr, die andere
in den Schnabel: Ils ne se servent de la pensée que pour weniger. In Wilhelm Meisters Lehrjahren unterhält sich
autoriser leurs injustices, et n'emploient les paroles que die Gesellschaft einmal über das Für und Wider des fran-
pour déguiser leurs pensées. (Sie bedienen sich des Den- zösischen Theaters. Man bemerkt, daß Aurelie dem Ge-
kens nur, um ihre Ungerechtigkeiten zu rechtfertigen, sprächskreis bei diesem Thema fernbleibt. Auf sanftes
und benutzen ihre Worte nur, um ihre Gedanken zu ver- Drängen gibt sie den Grund bekannt: sie haßt die franzö-
kleiden.) Wer dem Kapaun nicht glaubt, wird vielleicht sische Sprache. Ihr treuloser Freund hat ihr die Freude
dem Politiker Talleyrand mehr Gehör schenken. Von ihm daran geraubt. Solange er ihr nämlich verbunden war,
wird ein Wort überliefert, das in einer Unterredung mit schrieb er ihr seine Briefe auf deutsch - „und welch ein
dem spanischen Gesandten Izquierdo 1807 gefallen sein herzliches, wahres, kräftiges Deutsch!" Als er aber seine

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Liebe von ihr abwandte, ging er in seinen Briefen, was zwingen. Sprachliche Lügen aber sind, wenn man die
vorher nur zum Scherz geschehen war, zur französischen Dinge genau nimmt, die meisten rhetorischen Figuren wie
Sprache über. Aurelie verstand den Wechsel nur zu gut. Euphemismen, Hyperbeln, Ellipsen, Amphibolien, die
„Zu Reservationen, Halbheiten und Lügen ist es eine Formen und Formeln der Höflichkeit, Emphase, Ironie,
treffliche Sprache; sie ist eine perfide Sprache. (...) Fran- Tabuwörter, Anthropomorphismen usw. Der Wahrheit
zösisch ist recht die Sprache der Welt, wert, die allgemeine bleibt in der Sprache nur noch eine schmale Gasse. Das
Sprache zu sein, damit sie sich nur alle untereinander ist, wie man vermuten darf, der blanke Aussagesatz, den
recht betrügen und belügen können." 6 So wäre, wenn die Logik liebt.
Aurelie mit ihren „launischen Äußerungen" recht hatte, Arme Sprachkritik, die von der Sprache alle Blüten und
die deutsche Sprache der Wahrheit, die französische Spra- Blätter abstreift, bis sie nur noch einen dürftigen Stengel
che der Lüge zugetan. in der Hand hält! Augustin war da ein besserer Sprach-
Nun, dergleichen sind nur Anekdoten und von Shake- wissenschaftler. Er hat sich nämlich bereits mit dieser
speare und Goethe gar nicht anders gemeint. Aber es Frage auseinandergesetzt. In seiner Schrift Wider die Lü-
könnte ja sein, daß die Sprache überhaupt, wie Wittgen- ge (Kap. 24) sieht sich Augustin vor der Schwierigkeit, die
stein einmal erwogen hat, nicht Kleid, sondern Verklei- schlimme Täuschung Isaaks durch Jakob, der sich das
dung des Gedankens ist.7 Solchem Zweifel begegnet man Erstgeburtsrecht erschleicht (Gen. 27), zu rechtfertigen
oft. Als sich vor Jahren Wissenschaftler aller Disziplinen und mit seiner uneingeschränkten Verurteilung der Lüge
zu einer gemeinschaftlichen Untersuchung des Phäno- zu harmonisieren. Seine Lösung: non est mendacium, sed
mens Lüge zusammentaten, wurde auch der Sprach- mysterium. Die biblische Begebenheit ist ein Geheimnis,
wissenschaftler Friedrich Kainz zu einem Beitrag über insofern sie allegorisch verstanden werden muß. Jakob
Lügenerscheinungen im Sprachleben aufgefordert. 8 Au- bedeckt seine Hand mit einem Bocksfell, nicht um seinen
gustin folgend, stellt Kainz eingangs fest, daß alle Lügen Vater zu betrügen, sondern als Typos des erwarteten Erlö-
sprachliche Aussagen sind und folglich zum großen Be- sers, der fremde Sünden auf sich nimmt. Die Allegorien
reich der Sprache gehören. Er mustert dann die Sprache und Typologien der Bibel sind nicht Lüge. Wollte man sie
auf Lügenhaftes hin durch und findet davon so viel, daß Lüge nennen, wäre man gezwungen, auch alle anderen
dem Leser angst und bange werden muß. Mit dem glei- Formen uneigentlicher Rede, alle Tropen, Bilder und
chen Recht, wie man von der Sprache sagt, sie denke und Metaphern für Lüge zu nehmen. U n d das wäre barer U n -
dichte für uns, darf man nach der Meinung von Friedrich sinn: quod absit omnino.
Kainz auch sagen, daß sie für uns lüge. Er prägt dafür den Man kommt also, so fährt Augustin fort, nicht mit der
Ausdruck „Sprachverführung". Er besagt, daß unser Definition aus, Lüge sei, etwas anders zu sagen, als man es
Denken sich in sprachlichen Bahnen bewegt und daß die weiß oder meint. Mit einer solchen Definition kann man
Lügen der Sprache folglich auch unser Denken zur Lüge noch nicht die schwere, böse Lüge von den Spielformen

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(ioci) kultivierter Rede unterscheiden; denn diese lassen Sprachwissenschaft nicht vor. Die Überlegungen dieses
sich alle als Allegorien auffassen, und das heißt „Anders- Buches sind nun ein Versuch, die Lüge als linguistisches
reden". Das moralische Bewußtsein aber gibt uns andere Thema zu entdecken und der Lüge zudem, so verdam-
Auskunft. Lüge ist erst da, wo das Andersreden von einer menswert sie ist, dennoch wenigstens die eine gute Seite
bewußten Täuschungsabsicht begleitet ist. Daher Au- abzugewinnen, daß sie über die Sprache Auskünfte gibt,
gustins berühmte Definition der Lüge: mendacium est die von anderen Aspekten her nicht zu gewinnen sind. Sie
enuntiatio cum voluntate falsum enuntiandi. (Die Lüge kann vielleicht auch darüber Auskunft geben, ob Sprache
ist eine Aussage mit dem Willen, Falsches auszusagen.) 9 die Gedanken verbergen kann und wie das geschieht. Es
Die Scholastik hat sich diese Definition zu eigen gemacht wird dabei allerdings unerläßlich sein, einige Grundtat-
und sie der europäischen Philosophie vererbt. Die Dis- sachen der Linguistik ins Gedächtnis zu rufen. Wir ent-
kussion der Moralphilosophie betrifft nun nur noch fernen uns daher für eine kurze Wegstrecke von dem
Grenzfragen der Lügendefinition. Sind Notlügen er- Phänomen, um ihm dann desto besser gerüstet wieder
laubt? Gibt es einen „frommen Betrug"? Heiligt der entgegentreten zu können.
Zweck die Mittel? Es geht also um die Frage, ob die (böse)
Täuschungsabsicht, die seit Augustin zum Wesen der Lü-
ge gehört, durch irgendeine gute Absicht, die sich mit der
Lüge vielleicht verbinden mag, wettgemacht werden
kann. Das mögen die Moralphilosophen entscheiden; die
Linguisten haben hier kein Votum.
Die Frage ist jedoch, ob die Linguisten nach Augustins
Definition überhaupt noch ein Votum in bezug auf die
magna quaestio der Lüge haben. Die Lüge scheint sich
der Zuständigkeit des Linguisten zu entziehen. Denn ob
eine Aussage richtig oder falsch ist, muß man am Sach-
verhalt prüfen. Und ob eine Täuschungsabsicht vorliegt
oder nicht, entscheidet sich in der Seele und ist, wenn
überhaupt, nur psychologischer Betrachtung zugänglich.
Man versteht, daß die Linguisten in Augustins Definition
der Lüge nicht gerade eine Einladung gesehen haben, sich
ihrerseits mit diesem Phänomen zu beschäftigen. Von
Aperçus einiger Außenseiter abgesehen, kommt daher die
Lüge in den Grammatiken und anderen Büchern zur

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gering. Immerhin weiß er etwas. Aus der sehr großen
Zahl der Wörter, die in diesem Kommunikationsvorgang
möglich waren, ist eines herausgegriffen, und damit sind
Wort und Text bereits viele Gegenstände als mögliche Themen des Ge-
sprächs unwahrscheinlich geworden. Aber der Hörer
weiß noch nicht, um was für ein Feuer es sich handelt. Es
Lügt man mit Wörtern? Lügt man mit Sätzen? Soll sich kann ein Herdfeuer sein oder ein Strohfeuer, eine Feuers-
die Semantik oder soll sich die Syntax für das Phänomen brunst oder ein Kerzenlicht, ein loderndes oder ein glim-
Lüge interessieren? Wir versuchen es zuerst mit der mendes, wirkliches oder gedachtes Feuer. Er weiß nicht
Semantik und haben zu sagen, was eigentlich Bedeutung einmal ganz sicher, ob die Rede überhaupt von einem
ist. Feuer ist. Es kann ja das Feuer des Weins, das Feuer der
Wenn eine Sprache ein Zeichensystem ist, dann darf Liebe oder ein Gewehrschuß sein. Der Hörer hat die
man sich vielleicht folgenden Vorgang vorstellen. Da ist Bedeutung des Wortes „Feuer", aber die Bedeutung ist
ein Sprecher, und da ist ein Hörer. Zwischen beiden, so ihrem Umfang („Extension") nach weitgespannt. Der
wollen wir annehmen, wird eine sprachliche Kommuni- Artikel „Feuer" im Wörterbuch, der ja einen gewissen
kation hergestellt, indem der Sprecher das Wortzeichen Umfang hat, spiegelt die Weite der Wortbedeutung
„Feuer" dem Hörer übermittelt. Ein Kontext, so wollen graphisch.
wir weiter annehmen, ist nicht vorhanden. Desgleichen Erster Hauptsatz der Semantik: Jede Bedeutung ist
denken wir uns um die Kommunikation herum jede Le- weitgespannt.
benssituation fort. Darf ich gleich sagen, daß die be- Kann man sich nun überhaupt klar verständigen, wenn
schriebene Kommunikation rein fiktiver Natur ist und grundsätzlich jede Bedeutung weitgespannt ist? Der
nur den Wert eines Modells hat? Denn wir reden nor- Sprecher möchte vielleicht von einer Feuersbrunst erzäh-
malerweise nicht in vereinzelten Wörtern, sondern in Sät- len, und der Hörer denkt an ein Herdfeuer oder etwas
zen und Texten, und unsere Rede ist eingebettet in eine ganz anderes. Genauer gesagt, er weiß noch gar nicht, an
Situation. Darf ich aber auch gleich sagen, daß die Seman- was er denken soll. Sein Verstehen bleibt suspendiert in
tik in dem knappen Jahrhundert ihrer Geschichte als Wis- einem Zustand der Erwartung auf weitere Information.
senschaft immer mit dieser Fiktion gearbeitet und fast nur Solange diese nicht eintrifft, und so war ja die Annahme
das isolierte Wort vor Augen gehabt hat? Wir wollen das unserer Modellsituation, ist die (weitgespannte) Bedeu-
hier auch tun, aber nur für einen Augenblick. tung des Wortzeichens „Feuer" dem Inhalt („Intension")
Der Hörer, der nach dem beschriebenen Kommuni- nach für den Hörer vage.
kationsmodell das Wortzeichen „Feuer" empfangen hat, Zweiter Hauptsatz der Semantik: Jede Bedeutung ist
kann nicht viel damit anfangen. Der Informationswert ist vage.

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Es ist dennoch nicht ganz unnütz, wenn der Sprecher des nennen wir Bedeutung. Dieser Prozeß nun, die Merk-
das Wortzeichen „Feuer" den Schallwellen anvertraut, male eines Gegenstandes unter Relevanzgesichtspunkten
sofern er mit ihnen Hörer seiner Sprachgemeinschaft zu sichten, ist ein Abstraktionsverfahren. Die Bedeutung
erreicht. Denn „Feuer" hat die gleiche (weitgespannte, eines Wortes, die man auf diese Weise erhält, ist ein Ab-
vage) Bedeutung für sie alle, die einer Sprachgemeinschaft straktum. Das gilt für alle Bedeutungen, nicht nur für die
angehören. Sie haben nur wenig, wenn sie die Wortbedeu- solcher Wörter wie „Wahrheit", „Demokratie", die man
tung haben, aber dieses Wenige ist gemeinsamer Besitz ei- abstrakt nennt.
ner großen Gruppe. Das bedeutet: die ganze Gruppe hegt Vierter Hauptsatz der Semantik: Jede Bedeutung ist
in bezug auf weitere Information die gleichen Erwartun- abstrakt.
gen. Das macht die Wortbedeutung zu einem sozialen
Die vier Hauptsätze der Semantik hängen natürlich
Gebilde.
zusammen, sind nur vier Aspekte einer Sache. Weil die
Dritter Hauptsatz der Semantik: Jede Bedeutung ist Bedeutungen der Wörter weitgespannt sind, sind sie nur
sozial. vage. (Umfang und Inhalt der Bedeutungen entsprechen
Jetzt mag für einen Augenblick die Annahme gestattet einander in der Umkehrung.) Aber weil die Bedeutungen
sein, wir hätten als unbeteiligte Zuschauer aus irgend- vage sind, sind sie in einer sozialen Gruppe verwendbar.
welchen Anzeichen erschlossen, daß es dem Sprecher um Sie sind jedoch nur verwendbar, insofern sie abstrakt sind.
eine Feuersbrunst geht, deren Zeuge er geworden ist. So ist die Wortbedeutung zugleich arm und reich. Welche
Diese Feuersbrunst ist in ihrer Besonderheit als einmali- Armut an Information in dem Wort „Blume", welcher
ges Ereignis genau beschreibbar. Von all diesen Merk- Reichtum an Merkmalen in jeder einzelnen Blume! Aber
malen erfährt der Hörer, dem bloß das Wort „Feuer" und umgekehrt auch: Welche Begrenztheit im einzelnen Ding,
seine Bedeutung gegeben ist, fast nichts. Gegeben ist ihm welche Evokationskraft im Wort! Mallarmé hat das ge-
mit der (weitgespannten, vagen, sozialen) Bedeutung nur wußt: Je dis: une fleur! et, hors de l'oubli où ma voix
eine karge Information, die sich grob umschreiben läßt
relègue aucun contour, en tant que quelque cbose d'autre
nach den Merkmalen „heiß", „brennend". Alle anderen
que les calices sus, musicalement se lève, idée même et sua-
Merkmale gerade dieses Feuers erfährt er nicht. Mit dem
ve, l'absente de tous les bouquets. (Ich sage: eine Blume!
Wortzeichen „Feuer" wird also eine Relevanzgrenze
Und aus dem Vergessen, wohin meine Stimme jeglichen
durch die Merkmale dieses einen Feuers gezogen; einige
Umriß verweist, steigt sie musikalisch auf, sie, die etwas
Merkmale (sehr wenige) werden als relevant gesetzt, die
anderes ist als alle bekannten Kelche, sie, die Idee selbst
anderen (sehr viele, ad libitum) werden als irrelevant
und lieblich, sie, die in allen Sträußen abwesend ist.)10 Die
gesetzt und nicht in die Bedeutung des Wortes hineinge-
Blume als Wort, die man in keinem Strauß finden kann, ist
nommen. Das Insgesamt der von einer Sprachgemein-
jeder wirklichen Blume überlegen. Sie enthält mehr Ge-
schaft als relevant gesetzten Merkmale eines Gegenstan-
heimnis.

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In Mallarmés Bekenntnis steht jedoch auch ein be- These und Antithese die Synthese bilden und die vorauf-
unruhigendes Wort. Es ist das Wort „Idee". Für jeden gehenden Überlegungen zu den Grundzügen einer dia-
Semantiker ist es ein Warnzeichen, daß er sich in die lektischen Semantik weiterentwickeln. Wir lösen nämlich
Nähe der platonischen Ideenlehre begeben hat. Die Be- - es ist schon höchste Zeit - die eingangs eingeführte
deutungen als weitgespannte, vage, soziale und abstrakte Modellsituation wieder auf. Wir befreien also das Wort
Gebilde ähneln tatsächlich bedenklich den Ideen Platons, aus seiner Isolierung und stellen es in den Zusammenhang
mit dem Unterschied freilich, daß man sich zu jeder seines Kontextes und mit diesem zusammen in eine Le-
Sprachgemeinschaft ein Reich der Ideen oder Bedeu- benssituation. So nämlich begegnen uns normalerweise
tungen, einen „Begriffshimmel" (Nietzsche) oder eine Wörter. Das Wörterbuch, in dem das nicht der Fall ist,
„sprachliche Zwischenwelt" (Weisgerber) denken muß. stellt die Ausnahme, nicht die Regel dar. Und ein gutes
Aber damit ist weder Platon noch der Semantik gedient. Wörterbuch, wenn es schon die Situation nicht mitbe-
Sollen wir also nun, um der - leider - kompromittieren- zeichnen kann, gibt den Wörtern doch wenigstens den
den Nähe Platons zu entgehen, einem skeptischen Hang bescheidenen Kontext der Beispielsätze mit.
der modernen Semantik und Sprachphilosophie folgend, Wörter gehören also in Sätze, Texte und Situationen.
den Bedeutungsbegriff ganz aufgeben? Paul Valéry, der in Wenn man verstehen will, was ein Wort ist und wie es sich
der Nachfolge Mallarmés viel über Fragen der Semantik mit seiner Bedeutung verhält, muß man das berücksichti-
nachgedacht hat, erwägt diese Möglichkeit in seinen gen, sonst gerät man von einer Denkschwierigkeit in die
Cahiers und notiert um 1900/1901: Le sens d'un mot andere. Die vier Hauptsätze der Semantik, die hier aufge-
n'existe que dans chaque emploi particulier. (Die Bedeu- schrieben worden sind, bezeichnen daher erst die Hälfte
tung eines Wortes besteht nur im jeweiligen besonderen der Semantik. Sie gelten nur für das kaum mehr als fiktive
Gebrauch.) 11 Bekannter geworden ist die Bemerkung, die Modell einer Kommunikation mittels isolierter Wörter
Ludwig Wittgenstein in seinen Philosophischen Unter- ohne Kontext und Situation. Sie gelten nicht für Wörter
suchungen niedergeschrieben hat (ich zitiere ausführlich, schlechthin, und sie gelten vor allem nicht für die Wörter,
weil die wichtige Einschränkung meistens übersehen so wie wir sie meistens gebrauchen, nämlich im Text (ge-
wird): „Man kann für eine große Klasse von Fällen der sprochen oder geschrieben). Die Semantik der Wörter im
Benützung des Wortes Bedeutung - wenn auch nicht Text ist grundverschieden von der Semantik isolierter
für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erläutern: Einzelwörter, und die Wortsemantik ist zu ergänzen
Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der
durch eine Textsemantik. Die alte Semantik war weitge-
Sprache." 12
hend Wortsemantik; sie verwies alles, was die Wortgrenze
Wir werden hier weder Valéry und Wittgenstein zu- zum Satz hin überschreitet, in die Syntax. Aber Syntax ist
stimmen noch auch die Semantik in der Nähe der plato- etwas ganz anderes. Sie beginnt erst jenseits der Text-
nischen Ideenlehre belassen. Vielmehr werden wir aus der semantik.

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Die Textsemantik kennt nun zu den vier Hauptsätzen, Semantik. Wir sind in der bisherigen Darstellung vom
die bereits genannt worden sind, vier Korollarsätze, die Bedeutungspol ausgegangen und haben von ihm aus den
ebenso wichtig sind wie jene. Man kann sie sich klar- Meinungspol anvisiert. In einer mehr sprachgenetisch
machen, wenn man sich in eine beliebige lebendige Situa- orientierten Darstellung würde man umgekehrt vorge-
tion versetzt. Da ist der Sprecher scheinbar in einem hen. Man erwirbt Sprache durch Sätze und Texte. Man hat
Dilemma. Er will dem Hörer von einem bestimmten, un- also am Anfang nur Meinungen, zuerst wenige Meinun-
verwechselbaren Feuer berichten, das für ihn wichtig und gen, dann mit zunehmender Sprachpraxis viele Meinun-
mitteilenswert geworden ist, und er hat doch nur Wörter gen, die aus den gehörten und erinnerten Sätzen stammen.
mit ihren weitgespannten, vagen, sozialen und abstrakten Aber man hat nicht nur Meinungen, sondern bildet aus
Bedeutungen zu seiner Verfügung. Was sonst noch in der ihnen - das ist eine richtige Hypothesenbildung - die Be-
Bedeutung „Feuer" stecken mag, interessiert ihn gar deutung. Damit hat man den zweiten semantischen Pol
nicht, das meint er nicht. Er hat also, während er sich der erworben, und das Wort ist erlernt. Man kann es nun sel-
Bedeutung bedient, eine Meinung, die nicht mit dieser ber gebrauchen. Im Wortgebrauch in eigenen Sätzen wird
identisch ist. Diese Meinung ist nicht weitgespannt, son- dann die Bedeutungshypothese ständig korrigiert. Es ist
dern engumgrenzt. Sie geht ja auf diesen einen Gegen- interessant, daß wir als Sprecher einer Sprache alltäglich
stand, jene Feuersbrunst, von der er berichten will. Die das Spiel der Hypothesenbildung und ihrer Verifikation
Meinung ist auch nicht vage, sondern sehr präzise. Sie ist oder Falsifikation spielen, das gleiche Spiel, auf dessen
ferner nicht sozial, sondern individuell als das, was er per- Regeln sich die Wissenschaft verpflichtet hat. Die Sprache
sönlich hic et nunc sagen will. Und sie ist schließlich nicht ist eben ihrer Struktur nach eine vorwissenschaftliche
abstrakt, sondern konkret. Denn keines der vielen Merk- Wissenschaft.13
male dieser Feuersbrunst ist in der Meinung des Spre- Ich komme zurück auf das Dilemma des Sprechenden,
chenden unterdrückt zugunsten irgendeines Relevanz- der eine Meinung (im angegebenen Sinne) hat, sich aber
gesichtspunktes. Jede Meinung, so können wir die vier der Wörter mit ihren Wortbedeutungen bedienen muß.
Korollarsätze der Semantik zusammenfassen, ist also eng- Für Voltaire stellt sich das Dilemma folgendermaßen dar.
umgrenzt, präzise, individuell und konkret. Es versteht Man hat zu seiner Verfügung, so schreibt er in seinem
sich, daß die vier Korollarsätze der Semantik ebenso zu- Dictionnaire philosophique, die Wörter „Liebe" und
sammengehören und aufeinander bezogen sind wie die „Haß". Aber Liebe und Haß sind im Leben tausendfach
vier Hauptsätze der Semantik. verschieden. Wie soll man allen Nuancen gerecht werden!
Bedeutung und Meinung sind die beiden Grundbe- Voltaire zieht daraus einen pessimistischen Schluß: Alle
griffe der Semantik. Alles, was zur Semantik zu sagen ist, Sprachen sind unvollkommen wie wir Menschen. Natha-
gruppiert sich um diese beiden Pole. Und nur, was sich lie Sarraute hat die gleichen Skrupel. Sie, oder genauer, der
zugleich auf beide Pole bezieht, verdient den Namen Erzähler des Romans Portrait d'un inconnu kommt auf

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die große Liebe des Fürsten Bolkonski in Tolstois Krieg der Kontext der anderen Wörter reduziert seine Bedeu-
und Frieden zu sprechen und verzagt sogleich, die Ge- tung zu der Meinung des Märchens. Wir sehen leicht, wie
fühle des Fürsten mit dem Wort „Liebe" zu bezeichnen: das geschieht. Die Bestimmung „in der Hölle" schließt
toujours ces mots brutaux qui assomment comme des coups alle Feuer aus, die nicht Höllenfeuer sind; das Beiwort
de matraque. (... immer diese brutalen Wörter, die einen „gewaltig" schließt alle Höllenfeuer aus, die nicht gewal-
niederschlagen wie Keulenschläge.) 14 tig sind, und so tragen auch die anderen Wörter des Satzes
Nein, das ist keine Semantik. Gewiß, nichts ist vielge- dazu bei, daß die Bedeutung des Wortes „Feuer" aufs
staltiger als die Liebe; jeder weiß es. Gewiß auch, es gibt genaueste determiniert wird.
nur das eine Wort „Liebe" (im Französischen hat es noch Was bleibt, ist engumgrenzt, präzise, individuell und
wenigstens einen Plural). Aber das ist noch kein Grund, konkret: die Meinung der Brüder Grimm an dieser
die Sprachen unvollkommen zu schelten. Denn gegen- unverwechselbaren Textstelle des Märchens Des Teufels
über der tausendförmigen Liebe gibt es nicht nur das eine rußiger Bruder. Es verschlägt nichts, daß die Präzision
Wort „Liebe", sondern auch tausend Sätze um die Liebe. der Rede nicht noch weiter getrieben ist, so daß wir nicht
Und während die Bedeutung des Wortes „Liebe" immer noch mehr Einzelheiten von jenem Feuer wissen. Die
gleich ist, sind die Meinungen des Wortes „Liebe" in allen Präzision hat offenbar das wünschenswerte Maß für die
Sätzen verschieden. Nicht in zweien sind sie gleich. Der Vorstellungskraft der kleinen und großen Märchenleser
Satz ist die Brücke zwischen Bedeutung und Meinung. erreicht. Man darf nicht vergessen, daß der Text des gan-
Der Satz, mitsamt dem weiteren Kontext und der umge- zen Märchens weiterhin zur Determination beiträgt.
benden Situation, grenzt die (weitgespannte, vage, soziale, Man sieht jedenfalls, wie der Kontext aus der Bedeu-
abstrakte) Bedeutung auf die (engumgrenzte, präzise, tung eines Wortes seine Meinung macht. Er schneidet
individuelle, konkrete) Meinung ein. Wenn man ein iso- gleichsam aus der weiten Bedeutung Teile heraus, die mit
liertes Wort hört, kann der Geist im ganzen Umkreis der den Nachbarbedeutungen des Satzes nicht vereinbar sind.
Bedeutung schweifen. Hört man das Wort im Text, geht Was nach allen Schnitten übrigbleibt, ist die Meinung.
das nicht mehr. Der Kontext stellt fest. Er stellt nämlich Wir bezeichnen diesen Vorgang als Determination und
die Bedeutung fest. Die Wörter des Textes begrenzen sich erinnern an den alten Lehrsatz Spinozas: Determinatio
gegenseitig und schränken sich ein, und zwar um so wirk- negatio est (50. Brief). Es versteht sich, daß auch die
samer, je vollständiger der Text ist. Ein Beispielsatz aus Nachbarwörter ihrerseits determiniert werden. „Kessel"
einem Grimmschen Märchen, als Kontext zu dem Wort determiniert „Feuer", und „Feuer" determiniert „Kes-
„Feuer" aufzufassen: „Der Soldat schaute sich nun einmal sel". Es bedarf dazu keiner besonderen logischen Kon-
recht um; da standen die Kessel ringsherum in der Hölle, struktionen. Allein dadurch, daß zwei Wörter neben-
und war ein gewaltiges Feuer darunter, und es kochte und einanderstehen, determinieren sie sich gegenseitig. Wir
brutzelte darin." Unser Wort steht hier in einem Satz, und verwenden jedoch in den meisten Sätzen zusätzlich

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Funktionswörter (Präpositionen, Konjunktionen usw.)
für die Aufgaben der Determination. Ein Text ist also
mehr als eine Reihung von Wörtern und vermittelt mehr
als einen Haufen von Bedeutungen (wie das Wörterbuch). Wort und Begriff
Er gibt zur Summe der Wörter die Determination hinzu,
oder genauer gesagt: Er nimmt von der Summe der Be-
deutungen einiges - das meiste - weg und setzt damit Die Sprachkritik ist so alt wie das Nachdenken über die
einen Sinn. Der Sinn ist das Resultat aus dem Plus der Sprache überhaupt. Sie besagt, daß die Sprache immer und
Bedeutungen und dem Minus der Determinationen. mit Notwendigkeit hinter dem Denken zurückbleibt.
Es erübrigt sich damit die alte Streitfrage, ob das Wort Denn das Denken zielt auf die eine Wahrheit ab, die
oder der Text (Satz) eher ist. Zuerst und allezeit ist da: das Wörter aber gehören den vielen Einzelsprachen an und
Wort im Text. Und wenn es je eine Primärinterpretation führen uns bestenfalls zu einer deutschen, englischen,
der Welt durch die Wörter der Einzelsprachen gibt, im französischen Wahrheit, niemals zu der Wahrheit. Rem
Text ist sie immer schon überwunden. Wir sind nicht tene, verba sequentur, riet schon der alte Cato (Die Sache
Sklaven der Wörter, denn wir sind Herren der Texte. halte fest, dann werden die Wörter schon folgen),15 und
Es erübrigt sich weiterhin die alte Klage, Sprachen seien so haben nach ihm noch viele geraten, mehr auf die
im Grunde unübersetzbar. „Gemüt" entziehe sich als Sachen als auf die Wörter zu achten. Seine Empfehlung
deutsches Wort ebenso der Übersetzung wie „esprit" als aufs genaueste zu beherzigen, hat sich in unserem
französisches Wort, „business" als amerikanisches Wort. Jahrhundert sogar die Sprachwissenschaft angeschickt.
Dilettantische Argumente dieser Art sind ebenso wertlos „Wörter und Sachen" heißt die Formel einer sprach-
wie ärgerlich. Die Wörter „Feuer", „rue", „car" sind auch wissenschaftlichen Methode, die sich besonders bei
nicht übersetzbar. Kein Wort ist übersetzbar. Aber wir der Mundartbeschreibung anzubieten schien. „Weniger
brauchen auch gar keine Wörter zu übersetzen. Wir sollen Wörter, mehr Sachen", so ist diese Formel zu lesen. Der
Sätze und Texte übersetzen. Es macht nichts, daß sich die Mundartforscher glaubte sich der Sache des Pfluges ge-
Wortbedeutungen von einer zur andern Sprache für ge- wisser als der verschiedenen Wörter, mit denen diese
wöhnlich nicht decken. Im Text kommt es sowieso nur Sache in den einzelnen Mundarten bezeichnet wird.
auf die Meinungen an; und die kann man passend machen, Daraus entwickelte sich ein eigener Zweig der Sprach-
man braucht nur den Kontext entsprechend einzustellen. wissenschaft, die sogenannte Bezeichnungslehre (Ono-
Texte sind daher prinzipiell übersetzbar. Sind Überset- masiologie). Ihr methodisches Prinzip: von den Sachen
zungen also Lügen? Man mag sich an diese Regel halten: her nach den Wörtern fragen. Die Sachen sind das erste,
Übersetzte Wörter lügen immer, übersetzte Texte nur, die Wörter das zweite. In der Bezeichnungslehre ist die
wenn sie schlecht übersetzt sind. Sprachwissenschaft an sich selber irre geworden.

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Die Bezeichnungslehre holte aber nur auf dem Gebiet gelhafte Einkleidungen der Gedanken sind, veraltete
der konkreten Gegenstände nach, was in der Welt des Nationaltrachten. Man legt sie besser ab, sie hindern nur.
Geistes schon lange offenbar war, nämlich ein Minder- Die Sache festhalten, damit sich dann die Wörter von sel-
wertigkeitskomplex der Sprachwissenschaft gegenüber ber einstellen: diese Maxime gilt auch, wo die Sache ein
den anderen Wissenschaften des Geistes und der Natur, Begriff ist. Wenn die Sprachwissenschaft hier und dort
vor allem aber gegenüber der Logik und Mathematik. Es bekundet, es sei nun an der Zeit, begriffliche Wör-
schickte sich eigentlich nicht, mehr auf Wörter als auf terbücher zu schaffen, in denen die Wörter nur in die
Gedanken zu achten, und man mußte schon den Logos vorgegebenen Fächer eines allgemeinen Begriffssystems
aufbieten und die anstößigen „Wörter" hinter den besser eingeordnet werden, so ist das nur die methodische
vorzeigbaren „Worten" verstecken, wenn man als Ge- Konsequenz aus einer unvordenklichen Kleingläubigkeit
sprächspartner angenommen werden wollte. Was sind der Sprachwissenschaft.
schon Wörter! Nietzsche schrieb: „Die verschiedenen Die natürlichen Sprachen brauchen sich aber ihrer
Sprachen nebeneinandergestellt zeigen, daß es bei den Natur nicht zu schämen. In ihnen ist nicht weniger Wahr-
Worten nie auf die Wahrheit, nie auf einen adäquaten heit als in der Sprache der Logik und Mathematik. Man
Ausdruck ankommt: denn sonst gäbe es nicht so viele sieht das sogleich, wenn man die Sprachen mit ihrem
Sprachen." 16 Was sind also schon die Sprachen! Natürli- eigenen Maß mißt, nicht mit einem Maß, das den Sonder-
che Sprachen nennt man sie, und sie sind natürlich, wie sprachen anderer Wissenschaften entnommen ist. Wörter
natürliche Töchter natürlich sind. Illegitim kann man verstellen den Gedanken nicht, und zwar allein deshalb
auch dafür sagen. Will man der Lüge der natürlichen nicht, weil wir gar nicht in isolierten Wörtern reden, son-
Sprachen entgehen, muß man auf sie verzichten und dern in Sätzen und Texten. Wenn also Wörter mit Begrif-
künstliche Sprachen bilden. So verfährt die Logik, und so fen verglichen werden sollen, muß man verlangen, daß sie
verfährt die Mathematik. Condillac sagt deutlich, was er unter adäquaten Bedingungen verglichen werden, näm-
sich davon erhofft: L'algèbre est une langue bien faite, et lich in Texten. Dann löst sich allerdings die Mystik der
c'est la seule: rien n'y paraît arbitraire. (Die Algebra ist ei- Begriffe in Rauch auf.
ne wohlgeordnete Sprache, und zwar die einzige; nichts
Was sind eigentlich Begriffe? Begriffe sind vor allen
erscheint in ihr willkürlich.) 17 Die Verwendung einer
Dingen - nichts Besonderes. Wir begegnen ihnen alle
Kunstsprache ist der Logik und Mathematik so selbst-
Tage, und wir verwenden sie alle Tage. Wer krank ist, be-
verständlich geworden, daß es größtes Aufsehen erregt,
gegnet dem Begriff „Fieber", wer vor Gericht steht, hat
wenn ein „popularisierender" Logiker oder Mathemati-
mit dem Begriff „Eid" zu tun; und wer Chemie treibt,
ker auf sie verzichtet.
geht mit dem Begriff „Katalysator" um. Ort der Begriffe
Hinter all dem steht deutlich die in der Wissenschaft ist vornehmlich die Sprache der Wissenschaften. Es ist, so
weitverbreitete Überzeugung, daß die Wörter nur man- hört man nun sagen, für die Begriffe ganz unerheblich,

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daß sie hier zufällig mit den drei deutschen Wörtern senschaft etwas Besonderes zu sehen, dem die Wörter der
„Fieber", „Eid", „Katalysator" bezeichnet sind, ebenso- Einzelsprachen wie einem unerreichbaren Idol nach-
gut kann man sie mit den englischen Wörtern „fever", streben, ohne es je zu erreichen. Es gibt keine Begriffe,
„oath", „catalyst" oder mit den französischen Wörtern die den Einzelsprachen vorgelagert wären. Begriffe sind
„fièvre", „serment", „catalyseur" bezeichnen. Ebenso wie vielmehr nichts anderes als Wörter, und das heißt immer:
die Mundartforscher auf den Pflug zeigen und damit Wörter einer Einzelsprache. Aber sie sind Wörter, deren
verschiedene Wörter hervorlocken, können die Wissen- Bedeutungen besonders präpariert sind. Wie das ge-
schaftler auf ihre Begriffe zeigen und mit ihnen deren Be- schieht, wird nun genauer zu beobachten sein. Als Bei-
zeichnungen in den verschiedenen Sprachen hervorlok- spiel diene Wort und Begriff „Fieber".
ken. Daß es überhaupt verschiedene Bezeichnungen für Dieses Wort der deutschen Sprache ist, wie alle Wörter,
den jeweils einen Begriff gibt, gilt als Übel und Quelle nicht dafür gemacht, daß es allein für sich verwendet
möglicher Mißverständnisse. Es ist darüber hinaus prin- wird. Es hat seinen normalen Ort in Texten. Das mag ein
zipiell Fehlerquelle der Wissenschaft. Die Wissenschaft Satz sein, in dem von „fieberhafter Suche" die Rede ist. In
hat daher ein Interesse daran, die Bezeichnungen ihrer diesem Text, wie in allen Texten, wird die Bedeutung des
Begriffe in den Einzelsprachen möglichst zu normieren. Wortes „Fieber" durch den Kontext auf eine bestimmte
Sie tut das, indem sie Wörter der griechischen oder la- Meinung hin determiniert. Der Arzt wird nun sagen: Was
teinischen Sprache in den Rang neutraler Normwörter hat das mit Fieber zu tun! Das ist nicht der medizinische
erhebt und den Einzelsprachen für die Bezeichnung Begriff „Fieber", wie man ihn am Krankenbett gebraucht.
wissenschaftlicher Begriffe empfiehlt. So kommt es Fragt man den Arzt nun weiter, wodurch der Begriff
beispielsweise, daß sich die Wörter „Fieber", „fever", „Fieber" gekennzeichnet ist, so daß die fieberhafte Suche
„fièvre" wie die Wörter „Katalysator", „catalyst", „cata- auf keinen Fall dazuzurechnen ist, so wird er sagen: Man
lyseur" in ihrer Lautgestalt ähneln. Besser wäre natürlich, spricht von Fieber dann und nur dann, wenn die Körper-
so hören wir weiter sagen, die Bezeichnungen glichen sich temperatur über 37 °C steigt. Diese Antwort wird auch
ganz, so wie das Zeichen x der mathematischen Sprache den Semantiker befriedigen. Sie bestätigt ihm nämlich,
überall gleich ist. Aber seit Babel sind die Sprachen ver- was er ja für alle Wörter bestätigt wissen will, daß sie
schieden, und man muß sehen, wie man mit der Unzu- nämlich normalerweise in Sätzen vorkommen. Auch
länglichkeit der natürlichen Sprachen als einer conditio Definitionen sind Sätze. Da nun die Begriffe der Wissen-
humana fertig wird. Normierungsausschüsse sind überall schaft durch Definitionen und nur durch Definitionen
am Werk, ihre störenden Auswirkungen zu vermindern.
gebildet werden, hört der Semantiker hier vor allem her-
Alle diese Argumente, sooft sie auch wiederholt wer- aus, daß Begriffe durch Sätze und nur durch Sätze entste-
den, sind keine Einwände gegen die Wahrheit der Spra- hen. Begriffe gehören damit in die Zuständigkeit der Text-
chen. Das alles ist kein Grund, in den Begriffen der Wis- semantik, nicht der Wortsemantik. Die Definition ist

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Kontext für den Begriff. Begriffe haben nicht den seman- lich exaktesten, weit zurück. Begriffe sind Wörter, die nur
tischen Status isolierter Wörter, sondern von Wörtern unvollständig determiniert sind. Eine Determination der
im Text. Wortbedeutung auf Meinung hin findet auch statt, aber
Wörter im Text aber haben nicht mehr die (weitge- nur in beschränktem Maße. Denn der determinierende
spannte, vage, soziale, abstrakte) Bedeutung, sondern die Kontext ist relativ klein, und eine determinierende Situa-
(engumgrenzte, präzise, individuelle, konkrete) Meinung. tion ist „per definitionem" ausgeschlossen. Der Begriff ist
Auch für Begriffe gilt das. Aber mit einer wesentlichen demnach ein Wort, das zwischen dem Bedeutungspol und
Einschränkung, die sich aus der Natur der Definition er- dem Meinungspol in der Schwebe bleibt. Sein Begriffs-
gibt. Es gibt viele Formen der Definition - das soll uns wert ist weder ganz scharf noch ganz unscharf, sondern er
hier nicht beschäftigen. 18 Aber alle Definitionen haben - hat genau jenen Grad von Schärfe bzw. Unschärfe, der für
semantisch gesehen - gemeinsam, daß es sich um einen den wissenschaftlichen Gebrauch zweckmäßig ist.
verhältnismäßig kurzen Text handelt. Meistens ist es ein Es gibt nämlich zwischen den Polen Bedeutung und
Satz, wie z. B.: „Fieber ist eine Körpertemperatur über Meinung eine gleitende Skala, die sich zwischen den
37°C." N u r dieser eine Satz ist für den Status des deut- Werten weitgespannt und engumgrenzt, vage und präzise,
schen Wortes „Fieber" als eines Begriffes der medizini- sozial und individuell, abstrakt und konkret erstreckt.
schen Wissenschaft erheblich. Alle anderen Kontexte und Kontext und Situation sind die Regulative, mit denen wir
Situationen, in denen der Begriff verwendet werden mag, auf dieser Skala jeden beliebigen Wert einstellen können.
sind demgegenüber unerheblich. Bei den Wörtern der Alltägliche Rede, bei der meistens eine starke Beteiligung
Alltagssprache ist hingegen der ganze Kontext wichtig, von Situationsdeterminanten zu verzeichnen ist, hält sich
und die Situation dazu. Man will sich ja klar ausdrücken gewöhnlich am Meinungspol oder doch sehr nahe bei
und dem Gesprächspartner genau zu verstehen geben, ihm. Eigennamen befinden sich ebenfalls schon als Wör-
was er hier und jetzt wissen soll. Ich brauche das Wort ter sehr nahe am Meinungspol und haben daher auch eine
„Feuer" ja nur in ein Gespräch und dieses in eine eindeu- starke Determinationskraft. Wörter im Buchtitel, die kei-
tige Situation zu versetzen, so erreiche ich mit Kontext ne Situationsdeterminanten kennen und oft gar keinen
und Situation eine Determination der Wortbedeutung oder nur einen spärlichen Kontext bei sich haben, halten
„Feuer" auf eine Meinung hin, die an Präzision nicht zu sich demgegenüber am Bedeutungspol oder doch nahe bei
überbieten ist. Es ist, so wollen wir uns vorstellen, jene ihm. (Erst die Lektüre des Buches gibt die fehlende Kon-
Feuersbrunst gemeint, auf die gerade der Blick des Hörers textdetermination hinzu und löst die Spannung des Ti-
fällt. tels.) Begriffe sind nun, je nach der Art und dem Geschick
Hinter dieser Präzision eines durch Kontext und Situa- der Definition, irgendwo in der Mitte jener semantischen
tion vollständig determinierten Wortes bleibt die Prä- Skala eingestellt, meistens näher am Bedeutungspol als am
zision eines jeden Begriffes, auch des naturwissenschaft- Meinungspol. Sie sollen ja nicht nur einen individuellen,

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konkreten, präzisen, engumgrenzten Fall decken, son- Aber sie reden in Sätzen, und vermittels ihrer Kontexte
dern auf den Gesamtbereich der Wissenschaft anwendbar haben sie glücklicherweise die Möglichkeit, die ver-
sein. Das kranke Kind also, das dem konsultierten Arzt schiedenen Bedeutungen der Wörter „Fieber" „fever",
sagt: „Ich habe ganz schlimmes Fieber", gibt diesem Wort „fièvre" auf einer normierten semantischen Skala so
mittels Kontext und Situation eine so präzise Meinung, einzustellen, daß der eingestellte Wert in allen Sprachen
wie sie der Begriff „Fieber" in einer wissenschaftlichen vollkommen gleich ist. Dergleichen geschieht durch die
Abhandlung niemals haben kann und vor allem auch Definition, die man semantisch auffassen kann als einen
nicht haben darf, wenn er ein Terminus der allgemeinen normierten und normierenden Kontext für ein Wort.
Wissenschaft bleiben soll. Mag sein, daß dieser Begriff Mögen die deutschen, englischen, französischen Wörter
dann, angewandt auf den Einzelfall unseres kranken Kin- ruhig verschieden sein: als Begriffe, d. h. teildeterminiert
des, weiter determiniert wird, etwa durch den Text der durch die kurzen Kontexte der Definitionen, sind sie
Krankengeschichte, und damit auch weiter an den Mei- identisch. Sie hören dabei nicht auf, Wörter ihrer jeweili-
nungspol herangleitet, aber für den Begriffscharakter des gen Sprache zu sein, aber sie sind auf bestimmte Kontexte
Wortes „Fieber" gilt das als unerheblich. verpflichtet und haben insofern denselben Begriffswert.
Begriffe liegen also nicht vor der Sprache in einem ich Das meine ich, wenn ich eingangs gesagt habe, Begriffe
weiß nicht wie gearteten sprachfreien Denken, sondern in seien nichts Besonderes. Sie sind nicht näher an der
der Sprache, genauer: in der jeweiligen Einzelsprache, Wahrheit als andere Wörter. Sie offenbaren Gedanken
noch genauer: in Sätzen dieser Sprache. Sie sind schärfer nicht besser als andere Wörter. Anderen Wörtern haben
als isolierte Wörter, unschärfer als - meistens - die sie nichts voraus als ihre Zweckmäßigkeit für den Ge-
Alltagswörter in Texten und Situationen. Ihre mittlere brauch in der internationalen Diskussion der Wissen-
Schärfe hat sich in den Wissenschaften bewährt. schaft.
Aber haben Begriffe nicht einen Kurswert, der über die Sie stehen ihnen jedoch auch in nichts nach. Spenglers
Grenzen der Einzelsprachen hinausreicht? Wie verträgt Behauptung „Begriffe töten das Dasein 19 " ist genauso
sich das damit, daß sie selber einzelsprachliche Wörter falsch wie die komplementäre Behauptung „Wörter ver-
sind? Es verträgt sich ausgezeichnet, wenn man vor lauter kleiden das Denken".
Wörtern den Text nicht vergißt. Das deutsche Wort
„Fieber" hat eine Bedeutung. Das englische Wort „fever"
hat eine andere Bedeutung und das französische Wort
„fièvre" wieder eine andere. Für den Gedankenaustausch
der Wissenschaft, die ja prinzipiell übernational ist, wäre
das eine hoffnungslose Schwierigkeit, wenn sich Wissen-
schaftler in isolierten Wörtern zu verständigen hätten.

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aus der „faulen Mystik" der Wörter erwächst. An dieser
Stelle steht der unvergeßliche Satz: „Wer in unserer Zeit
statt Volk Bevölkerung und statt Boden Landbesitz sagt,
Können Wörter lügen? unterstützt schon viele Lügen nicht." 20 Die Beispiele sind
natürlich auswechselbar, wenn unsere Zeit nicht mehr
Brechts Zeit ist. In der an Brecht anknüpfenden Umfrage
„Ihr Mann ist tot und läßt Sie grüßen." Diese Botschaft Schwierigkeiten, heute die Wahrheit zu schreiben (1964),
Mephistos an Frau Marthe Schwerdtlein ist eine Lüge. führt Stefan Andres den Gedanken Brechts, allerdings
Mephisto weiß nichts davon, ob Herr Schwerdtlein tot verflachend, weiter fort und schreibt: „Übrigens: auch das
ist, und jedenfalls hat er keine Grüße von ihm auszurich- Wort Wahrheit segelt heute genauso wie Freiheit, Ge-
ten. Die meisten Lügen sind von dieser Art. Sie sind Sätze. rechtigkeit, Toleranz, Treue, Ehre und viele andere unter
Es besteht kein Zweifel, daß man mit Sätzen lügen kann. der Quarantäneflagge, diese Begriffe sind samt und
Aber kann man auch mit Wörtern lügen? Ich meine sonders verseucht - von Ideologie, Pragmatismus und
jetzt natürlich nicht eine gedachte Situation, in der Zwecklügen aller Art". 21 Reinhard Baumgart, der auf die-
Mephisto beispielsweise auf eine Frage oder einen fragen- selbe Umfrage antwortet, hegt die gleichen Befürchtun-
den Blick der Frau Marthe nur sagte: „Tot." In solcher gen bei dem Wort „Wahrheit". „Das Wort selbst, fürchte
Situation und determiniert durch den Kontext des Dia- ich, steht schon schief, neigt sich zum Gegenteil dessen,
logs, ist die Bedeutung des Wortes „tot" mit aller Deut- was es bedeuten möchte: zur Lüge." 22 Bei Eugen Rosen-
lichkeit eingeschränkt. Es kann gar kein Zweifel auf- stock-Huessy findet man dann das Stichwort, das in
kommen, daß aus dem weiten Bedeutungsumkreis des diesem Zusammenhang zu erwarten ist. Er klagt den
Wortes „tot" hier nur die eine Meinung gültig sein soll, Zeitgeist als den Vater der Lüge an, daß er uns mit seinen
die sich auf das Hinscheiden des fernen Herrn Schwerdt- „verlogenen Schlagworten" knechtet. 23 Nie haben Schlag-
lein bezieht. Die Bedeutung ist ebenso zur Meinung worte hemmungsloser die Szene beherrscht als in der
determiniert wie in dem Satz, den Goethe tatsächlich als Hitlerzeit. Ist die deutsche Sprache dadurch eine Sprache
Vers seines Faust niedergeschrieben hat. der Lügen geworden? Sind ihre Wörter entmenschlicht?
Gemeint ist vielmehr die Frage, ob Wörter, rein für sich Oder sind sie nur mitgelaufen? Oder sind sie vielleicht
genommen, lügen können, ob eine Lüge der Wort- überhaupt nicht betroffen?
bedeutung als solcher anhaften kann. Das nämlich wird Es besteht kein Zweifel, daß Wörter, mit denen viel ge-
oft behauptet. Ich führe drei Zeugnisse an. Unter den fünf logen worden ist, selber verlogen werden. Man versuche
Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, die Bertolt nur, solche Wörter wie „Weltanschauung", „Lebens-
Brecht 1934 „zur Verbreitung in Hitlerdeutschland" be- raum", „Endlösung" in den Mund zu nehmen: die Zunge
schrieben hat, befindet sich auch die Schwierigkeit, die selber sträubt sich und spuckt sie aus. Wer sie dennoch

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gebraucht, ist ein Lügner oder Opfer einer Lüge. Lügen nung hin, und ebenso wird die Bedeutung des Wortes
verderben mehr als den Stil, sie verderben die Sprache. „Boden" durch den Kontext „Blut und" im nazistischen
Und es gibt keine Therapie für die verdorbenen Wörter; Sinne determiniert. Der Sprecher befindet sich nicht mehr
man muß sie aus der Sprache ausstoßen. Je schneller am Bedeutungspol, sondern hat durch den Kontext einen
und vollständiger das geschieht, um so besser für unsere Wert auf der semantischen Skala gewählt, der zwischen
Sprache. dem Bedeutungspol und dem Meinungspol liegt. Etwa
Aber wie ist es eigentlich möglich, daß Wörter lügen dort, wo auch der Wert der Begriffe liegt.
können. Lügen auch die Wörter „Tisch" „Feuer" und Dies nun gilt allgemein. Wörter, die man sich ohne jede
„Stein"? Es ist doch gewiß, daß die Tyrannen, die uns Kontextdetermination denkt, können nicht lügen. Aber
Jahr um Jahr belogen haben, auch diese Wörter in den es genügt schon ein kleiner Kontext, eine „und"-Fügung
Mund genommen haben. Es geht auch wohl bei dieser etwa, daß die Wörter lügen können. Begriffe sind nun von
Frage nicht ohne eine verläßliche Semantik.24 Nicht jedes der Art, daß sie überhaupt erst durch einen Kontext
Wort kann nämlich lügen. Und es ist auch nicht so, wie zustande kommen. Ohne Definition kein Begriff. Und sie
eine oberflächliche Betrachtung suggeriert, daß etwa die bestehen nur, solange dieser Kontext, diese Definition
abstrakten Wörter lügen könnten, die konkreten nicht. gewußt wird. Es verschlägt nichts, wenn der Definitions-
Die semantische Grenze zwischen Wörtern, die lügen kontext nicht jedesmal mitgenannt wird, sooft der Begriff
können, und solchen, die es nicht können, verläuft wo- lautbar wird. Das ist oft überflüssig, zumal wenn der
anders. Begriff im Rahmen anerkannter wissenschaftlicher Aus-
Wir werfen einen Blick auf zwei Wörter der deutschen drucksformen verwendet wird. Durch diesen Rahmen
Sprache, mit denen viel gelogen worden ist. Ich meine das wird als Spielregel vorausgesetzt, daß die Definitionen
Wort „Blut" und das Wort „Boden". Beide Wörter kön- gewußt und anerkannt werden. Man braucht sie dann
nen heute so unbekümmert gebraucht werden wie eh und nicht mehr jedesmal auszusprechen; die Determination
je. Man lügt nicht mit ihnen und wird nicht mit ihnen be- der Wortbedeutung, d. h. ihre Einschränkung auf den Be-
logen. Aber es ist keinem Deutschen mehr möglich, die griffswert hin, bleibt dennoch bestehen.
beiden Wörter zu verbinden. Mit „Blut und Boden" kann Begriffe können folglich lügen, auch wenn sie für sich
man nur noch lügen, so wie man eh und je mit dieser Fü- allein stehen. Sie stehen nämlich nur scheinbar allein. Un-
gung gelogen hat. Liegt das vielleicht an dem Wörtchen ausgesprochen steht ein Kontext hinter ihnen: die Defi-
„und"? Nein, dieses Wörtchen ist ganz unschuldig. Es nition. Lügende Wörter sind fast ausnahmslos lügende
liegt daran, daß die beiden Wörter „Blut" und „Boden", Begriffe. Sie gehören zu einem Begriffssystem und haben
wenn sie zusammengestellt werden, sich gegenseitig einen Stellenwert in einer Ideologie. Sie nehmen Ver-
Kontext geben. Der Kontext „und Boden" determiniert logenheit an, wenn die Ideologie und ihre Lehrsätze ver-
die Bedeutung des Wortes „Blut" auf die nazistische Mei- logen sind.

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Manchmal kann man die Wörter der Lüge überführen.
„Demokratie" ist ein Wort der deutschen Sprache, das
Begriffsrang hat. Demokratie ist nämlich nach dem
Sprachgebrauch definiert als eine Staatsform, in der die Denken
Staatsgewalt vom Volk ausgeht und nach bestimmten
politischen Regeln an frei gewählte Repräsentanten dele-
giert wird. (Die bloße Etymologie des Wortes Demo- In Bertolt Brechts Kaukasischem Kreidekreis sagt die
kratie ist nicht ausreichend.) Wer eine Staatsform will, in Gouverneursfrau (die schlechte Mutter) einmal: „Ich lie-
der die Gewalt nicht vom Volk ausgeht und nicht nach be das Volk mit seinem schlichten, geraden Sinn." Das ist
bestimmten politischen Regeln an frei gewählte Reprä- eine Lüge. Wir erschließen es aus den Widersprüchen im
sentanten delegiert wird und wer dennoch das Wort weiteren Kontext. Die Gouverneursfrau wird nämlich in
„Demokratie" für diese Staatsform verwendet, der lügt. den Gerichtssaal geführt und prallt vor dem Armeleute-
Wer zudem noch, um seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen, geruch zurück. Nach dem erwähnten Bekenntnis fährt sie
„Volksdemokratie" sagt, lügt noch mehr. Aber er verrät fort: „... es ist nur der Geruch, der mir Migräne macht."
sich auch noch mehr. Immer haben sich die Lügner durch Ihr Blick fällt dann auf Grusche, die sich später am Krei-
Beteuerungen verraten. dekreis als die gute Mutter erweisen wird. „Ist das die
Person?" fragt sie. So fragt man nicht, wenn man das Volk
und seinen schlichten, geraden Sinn liebt.
Wir wollen die Lüge an Augustins Definition prüfen.
Es handelt sich offensichtlich um eine falsche Aussage
(enuntiatio falsa). Wie steht es nun mit der Täüschungs-
absicht (voluntas fallendi)} Könnte es nicht sein, daß sich
die Gouverneursfrau über sich selber getäuscht hat und
wirklich meint, sie liebe das Volk? Woher können wir
denn überhaupt etwas über eine Täuschungsabsicht
wissen! Wie sollen wir ins Herz dieser Frau schauen?
Wir können tatsächlich nicht in ihr Herz schauen, und
die Möglichkeit einer Selbsttäuschung ist niemals mit
letzter Sicherheit auszuschließen, außer wenn der Lügner
unter dem Druck der Beweise gesteht: „Ich habe ge-
logen." Die Gouverneursfrau legt dieses Geständnis nicht
ab, und es bleibt dem Richter sowie uns als den Zu-

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schauern dieser Szene auferlegt, die Indizien und Beweise denkt auch das Wahre mit Hilfe der Sprache. Beides ge-
zu einem Urteil zusammenzuziehen, das lautet: „Sie hat schieht durch Sätze. Sätze aber bestehen aus Wörtern, de-
gelogen." Dieses Urteil wischt aber die Worte der Gou- ren Bedeutungen sich gegenseitig zu Meinungen deter-
verneursfrau nicht einfach weg, so als wenn sie nie etwas minieren und auf diese Weise einen Sinn bilden. Sätze ge-
gesagt hätte. Es ist ja nicht so, daß nun wieder völlig offen horchen den Grundgesetzen der Semantik und Syntax.
wäre, ob sie das Volk liebt oder nicht. Wir wissen vielmehr Sätze gehören in die Zuständigkeit der Linguistik.
definitiv: Sie liebt das Volk nicht. Sie hätte nämlich, wenn Die augustinische Definition der Lüge kann nun
sie die Wahrheit gesagt und nicht gelogen hätte, genau eine Korrektur erfahren. Augustin sah eine Lüge als gege-
diese Worte sagen müssen: „Ich liebe das Volk (mit seinem ben an, wenn eine Täuschungsabsicht hinter dem Lügen-
schlichten, geraden Sinn) nicht." Dieser Satz ist ungesagt satz steht. Die Linguistik sieht demgegenüber eine Lüge
geblieben. Unser Urteil, daß der gesagte Satz Lüge und als als gegeben an, wenn hinter dem (gesagten) Lügensatz
Lüge zu verwerfen ist, hängt aber an der Annahme, daß es ein (ungesagter) Wahrheitssatz steht, der von jenem
im Herzen der Gouverneursfrau diesen ungesagten Satz, kontradiktorisch, d.h. um das Assertionsmorphem ja/-
genau diesen Satz und keinen anderen, gegeben hat. Ohne nein, abweicht. Nicht duplex cogitatio, wie Augustin
diese Annahme kann von Lüge überhaupt nicht die Rede sagt,25 sondern duplex oratio ist dann das Signum der
sein, und kein Gericht der Welt kann die Wahrheit von Lüge.
der Lüge unterscheiden. Die Folgerungen aus dieser Feststellung betreffen zu-
Es lohnt sich, an dieser Stelle einen Augenblick zu ver- nächst das, was man das Denken nennt. Denn jener un-
weilen und das Staunen auszukosten. Denn, nicht wahr, es gesagte Satz, der Träger der Wahrheit ist, kann genausogut
ist behauptet worden, es gebe bei dieser Lüge nicht einen ein Gedanke genannt werden. N u n , ich habe nichts dage-
Satz, sondern zwei Sätze. Einen hören wir, und dieser Satz gen, daß man auch weiterhin ungesagte Sätze Gedanken
ist als solcher nicht weiter auffällig. Er ist aber unwahr. nennt, wie man sie immer genannt hat. Aber ich lege
Den zweiten Satz hören wir nicht, denn er bleibt in der größten Wert auf die Feststellung, daß diese Gedanken
Brust verschlossen. Dieser Satz ist wahr. Er besagt nicht oder ungesagten Sätze aus dem Stoff sind, aus dem unsere
einfach etwas anderes als der gelogene Satz, sondern das Sprachen gemacht sind. Die natürlichen Sprachen, wohl-
gerade Gegenteil. Das bedeutet sprachlich: Der wahre verstanden, nicht die künstlichen. Oder jedenfalls die
Satz gleicht dem gelogenen Satz peinlich genau - bis auf natürlichen Sprachen nicht minder als die künstlichen.
das kleine Wörtchen „nicht". Dann gehorcht das Denken vor allen logischen Gesetzen,
Hier zeigt sich nun, daß die Lüge in einer viel grund- die es geben mag, linguistischen Gesetzen. Es gehorcht
sätzlicheren Weise eine sprachliche Angelegenheit ist, als insbesondere den semantischen Grundgesetzen von dem
wir es am Anfang unserer Überlegungen angenommen Spiel der Determination zwischen den Polen der Bedeu-
hatten. Man lügt nicht nur mit Hilfe der Sprache, man tung und Meinung.

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Es ist natürlich grundsätzlich nicht von der Hand zu
weisen, daß das Denken dennoch im Grunde von ganz
anderer Natur ist als das Sprechen. Aber das ist unbeweis-
bar und „undenkbar". Was hier festgestellt werden soll, Wider die Bilderstürmer
ist dies: Wir können überhaupt nur von Lüge reden und
sie dem Lügner als moralische Verfehlung zurechnen,
wenn wir Gedachtes als Gesagtes und das heißt als aus Quod absit omnino, hatte Augustin gesagt, als er den
Wörtern und Sätzen bestehend behandeln. Nur dann sind Gedanken erwog, auch die bildhafte Rede in allen ihren
Gedachtes und Gesagtes überhaupt auf mögliche Wider- Formen könnte vielleicht dem Bereich der Lüge zuge-
sprüche hin vergleichbar. Man mag das eine Hypothese schlagen werden. Wir hatten ihm zugestimmt, obgleich
nennen. Aber auf dieser Hypothese beruht die moralische er diese Entscheidung gar nicht begründet hatte. Wir
Ordnung und ein Gutteil der rechtlichen Ordnung. Es ist müssen jetzt ein Wort mehr dazu sagen und können
eine Hypothese, die tagtäglich hundertfach verifiziert es, nachdem die semantischen Voraussetzungen geklärt
wird. Ihre Richtigkeit ist eine moralische Gewißheit. Ihre sind.
Konsequenzen aber reichen weit über den Bereich der Es sind zwar nicht viele, die der Metapher - wie wir im
Lüge hinaus und decken das ganze Problem Sprache und folgenden für alle Arten sprachlicher Bilder sagen wollen
Denken ab. - mit ausdrücklichen Worten Lügenhaftigkeit vorge-
worfen haben. Aber implizit vernimmt man den Vorwurf
oft. Besonders der Wissenschaft scheint ein tiefes Miß-
trauen gegen die Metapher eingepflanzt zu sein, und von
Zeit zu Zeit treten Bilderstürmer auf, die vorgeben, sie
wollten jetzt die Sprache der Wissenschaft von allen Me-
taphern reinigen, und es würde alles gut werden, und die
Wahrheit käme endlich ans Licht. „ Comparaison n'est pas
raison ": Vergleichen muß der Vernunft weichen, so sagen
sie, und die Wissenschaft hat das Eigentliche in eigent-
licher Sprache zu sagen. Die Gedanken der Wissenschaft
können durch Metaphern nur verhüllt oder gar verun-
staltet werden. Ein seriöser Wissenschaftler schreibt ohne
Metaphern. Je weiter seine Sprache von jener Sprache
entfernt ist, die den Musen lieb ist, um so „wissen-
schaftlicher" ist sein Beitrag zur Erkenntnis.

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Wir kennen sie alle, diese Bilderstürmer und amusi- immer geartete Erscheinungsweise der Leidenschaft. Was
schen Grämlinge. Wenn sie wenigstens noch gute Wis- hat sich nun eigentlich geändert? Hat das Wort „Feuer"
senschaftler wären! Aber die Metaphern verbannen, heißt als Metapher eine andere Bedeutung angenommen?
nicht nur die Blumen am Wege zur Wahrheit ausreißen, Nein, so wollen wir nicht sagen. Die Bedeutung eines
sondern heißt auch sich selber der Vehikel berauben, die Wortes ist ein und dieselbe, ob das Wort als Metapher
den Weg zur Wahrheit beschleunigen helfen. Nicht nur, verwendet wird oder nicht. Aber wenn die Metapher
daß man ohne Metaphern nicht schreiben kann, man kann überhaupt den Kontext als Bedingung ihres Entstehens
auch ohne Metaphern nicht denken. Und überhaupt, daß hat, dann gilt auch für sie nicht die Semantik des Einzel-
Metaphern weniger präzise sein sollen als andere Wörter, wortes, sondern die Semantik des Wortes im Text mit dem
ist ein Gerede, das jeder Grundlage entbehrt. Die Seman- Spiel der Determination zwischen den Polen Bedeutung
tik hat dazu ein Wort zu sagen. und Meinung. Die Determination schafft ja die Bedeu-
Ich komme zurück auf die Unterscheidung von Bedeu- tung nicht ab, sondern schränkt sie ein. Grundsätzlich das
tung und Meinung. Die Bedeutung, die ein Wort als ein- gleiche geschieht in solchem Kontext, der ein Wort zur
zelnes hätte, wird durch den Kontext auf die Meinung des Metapher macht. Auch er determiniert das Wort, wie je-
Sprechers hin determiniert und fügt sich zum Ganzen des der Kontext tut. Aber er determiniert es in einer besonde-
Sinnes. Das gilt auch grundsätzlich für die Metapher, also ren Weise. Während der gewöhnliche Kontext ein Wort
für jegliche Form des sprachlichen Bildes. Metaphern innerhalb seiner Bedeutung determiniert, verläuft bei
werden aus Wörtern gemacht. Sie gehorchen daher auch metaphorischem Kontext die Determination außerhalb
den Grundgesetzen der Semantik. An Metaphern kann der Bedeutung. Auf diese Weise entsteht eine Spannung
man sogar noch besser als an anderen Wörtern ablesen, zwischen der Bedeutung und der nun nicht innerhalb,
daß eine bloße Wortsemantik ohne die Ergänzung durch sondern außerhalb ihrer selbst liegenden Meinung. Diese
eine Textsemantik bestenfalls die halbe Wahrheit dieser Spannung macht den Reiz der Metapher aus.
Wissenschaft abgibt. Denn ein Wort für sich allein kann Das Gesagte kann noch etwas verdeutlicht werden,
niemals Metapher sein. „Feuer", ganz ohne Kontext und wenn man an die Grundbegriffe der Informationstheorie
Situation gedacht, ist immer das Normalwort, dessen Be- denkt. Information heißt Reduktion von Möglichkeiten.
deutung man kennt. Erst durch einen Kontext kann aus Jede Bedeutung ist Information, insofern sie von den vor-
diesem Wort eine Metapher werden. (Natürlich kann der her gegebenen Möglichkeiten einige ausschließt. Auch die
Kontext, wie überall, auch durch eine Situation ersetzt Determination durch den Kontext ist Information, da sie
werden.) „Feuer der Leidenschaft", das wäre etwa eine aus den Möglichkeiten der Bedeutung einige ausschließt.
Metapher, wenn wir bei dem Beispielwort bleiben wollen. Vom Einzelwort her gesehen, hat aber der Informations-
Offenbar handelt es sich nicht mehr um ein Feuer im begriff zwei Dimensionen. Er bezieht sich einerseits auf
physikalischen Sinne des Wortes, sondern um eine wie die Welt, die - das ist die totale Möglichkeit - Sprache

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werden will. Das Wortzeichen, wenn es erklingt, infor- meinen Adern welches Feuer! / In meinem Herzen wel-
miert uns dann darüber, was aus dieser totalen Möglich- che Glut!" Wir hatten uns auf eine andere, freilich noch
keit nun bereits ausgeschlossen ist. Eine zweite Dimen- ungewisse Meinung eingestellt als die, die sich nun tat-
sion geht indes auf die zu erwartenden Wortzeichen der sächlich aus dem Kontext ergibt. Wir müssen unsere Er-
Kommunikationsfolge. Die theoretisch totale Möglich- wartung revidieren und werden um ein geringes in unse-
keit der Wortfolge ist tatsächlich bereits eingeschränkt, rer Wahrscheinlichkeitsrechnung gestört. Darin liegt die
wenn das erste Wort lautbar geworden ist. Viele Wörter metaphorische Spannung, die übrigens um so größer ist,
sind nun für die Kommunikationsfolge mehr oder weni- je knapper die wirkliche Determination die erwartete
ger unwahrscheinlich geworden. Man erwartet sie nicht Determination verfehlt. Eine starke Metapherntradition,
mehr. Das ist auch eine Reduktion von Möglichkeiten, wie sie gerade bei dem Bild „Liebesfeuer" besteht, mildert
allerdings nicht in der Gewißheit, sondern in der Wahr- jedoch die metaphorische Spannung. 26
scheinlichkeit. Für die Sprache ist auch diese Vorinforma- Mit der Metapher ist also notwendig eine Täuschung
tion der Determinationserwartung eine Realität. Mit dem verbunden. Aber ist diese Täuschung von der Art der
Wort „Feuer" ist also eine Determinationserwartung ver- Lüge? Sicher nicht. Denn es handelt sich ja nur um die
bunden, die sich - grob - so umschreiben läßt, daß in der Täuschung einer Erwartung, also im eigentlichen Ver-
Folge wahrscheinlich von Feuerstätten die Rede sein stande um eine Enttäuschung, nicht um eine Täuschung.
wird, von Flamme, von Licht, Ruinen, Asche oder ähn- Wir hatten die Wahrscheinlichkeit schon als Gewißheit
lichem. Wir erwarten die Determination aus einer be- genommen und werden nun aus der ruhigen Erwartung
stimmten Richtung, die sich durch ein Assoziationen- aufgeschreckt. Aber wenn dann die metaphorische Deter-
bündel andeuten läßt. (Hätten wir einen verstümmelten mination außerhalb unserer ersten Erwartungsrichtung
Text zu entziffern, in dem nur das Wort „Feuer" lesbar erfolgt ist, hat alles wieder seine Richtigkeit, und die Mei-
wäre, so würden wir unsere Entzifferungskünste zuerst in nung der Metapher ist genauso engumgrenzt, präzise, in-
der angegebenen Richtung spielen lassen.) dividuell und konkret, wie jede andere Meinung es auch
In den meisten Fällen wird unsere Determinations- ist. In diesem Punkt unterscheiden sich Metaphern über-
erwartung nicht enttäuscht. So etwa, wenn wir Erichtho haupt nicht von anderen Wörtern in Texten.
in der Klassischen Walpurgisnacht hören: „Wachfeuer Es besteht also kein Grund, Metaphern gegenüber
glühen, rote Flammen spendende ..." Wir finden, der mißtrauisch zu sein. Sie weichen nur um eine kleine Be-
Kontext paßt zu dem Wort „Feuer"; so etwas war tat- sonderheit von anderen Textwörtern ab, und diese Be-
sächlich zu erwarten. Wenn aber die Rede statt dessen um sonderheit stellt sie nicht außerhalb der allgemeinen Dia-
das Wort „Feuer" herum in eine ganz andere Sphäre lektik von Bedeutung und Meinung. Es hat daher keinen
springt, so ist das von dem Wort her nicht vorhersehbar, Sinn, zu sagen, Wörter seien eigentlich, Metaphern unei-
und unsere Determinationserwartung wird getäuscht. „In gentlich. Solange Wörter keinen Kontext um sich haben,

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sind sie weder eigentlich noch uneigentlich, sondern wörtern oder Metaphern bilden. Denn wir bilden sie al-
hauptsächlich Erwartungsinstruktionen. Robert Musil lemal als Texte, und derselbe Kontext, der die Metaphern
schreibt: „Schon Hund können Sie sich nicht vorstellen, macht, garantiert auch, daß die Metaphern die Meinung
das ist nur eine Anweisung auf bestimmte Hunde und des Sprechenden abdecken. Solange der Meinungspol er-
Hundeeigenschaften." 27 Erst wenn die Wortbedeutungen reicht ist, ist die Rede so eindeutig, wie es dem Sprechen-
durch ihren Kontext determiniert werden, stellt sich den gefällt.
überhaupt die Frage nach der Eigentlichkeit oder Unei-
gentlichkeit. Aber da ist sie auch schon fast überflüssig.
Man kann natürlich sagen, es sei von einem Wort her
„eigentlich" eine gewisse Determinationsrichtung zu er-
warten, und diese Erwartung werde dann erfüllt oder
nicht erfüllt. Aber die Bedingung eindeutiger Kommuni-
kation wird allemal erfüllt; sonst könnte sich die Sprache
Metaphern überhaupt nicht leisten. Man kann sich mit
Metaphern genauso klar und so scharf ausdrücken wie
mit allen anderen Wörtern. Es kann keine Rede davon
sein, daß die bildhafte Rede sich wie eine hübsche, aber im
ganzen entbehrliche Blumendecke über eine Schicht der
Eigentlichkeit lege. Metaphern sind so eigentlich, wie
man es sich nur wünschen mag. Man kann sie nicht durch
direkte Ausdrücke ersetzen; und selbst wenn man es ein-
mal zufällig kann, sollte man es nicht tun, weil man nur
eine Eigentlichkeit durch eine Uneigentlichkeit ersetzen
würde. Umschreibungen sind immer schwächer als das
Umschriebene. Alle Wörter dürfen uns recht sein, wenn
wir sie im Text verwenden wollen, die im erwarteten
Kontext ebenso wie die im unerwarteten Kontext, der die
Metaphern macht.
Es hängt also keine Lüge an den Metaphern. Die Spra-
che belügt uns nicht, und wir belügen niemanden, wenn
wir bildlich reden. Unsere Gedanken kommen rein und
unverfälscht zu den andern, ob wir sie aus Normal-

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Information des Verbs, aber es macht nicht mehr die Äu-
ßerung zu einem Satz.
Hier hat nun die Syntax ein Wort zu sagen. Die Syntax
Ja und Nein läßt sich auffassen als Satzlehre, insofern sie alles das zum
Gegenstand hat, was eine sprachliche Äußerung zum Satz
macht. Das ist in seiner tiefsten Schicht identisch mit dem,
Isolierte Wörter sind fiktive Wörter. N u r Wörter im Text was ein Verb finit macht. Denn das Verb zeichnet sich vor
sind reale Wörter. Das Spiel der Determination im Satz anderen Wortarten dadurch aus, daß der Bedeutungskern
und Text gehört zur Semantik. So haben wir die Semantik jeweils von einem ganzen Trupp Morpheme umgeben ist,
gesehen. Bleibt nun noch überhaupt Raum für eine Syn- die ihn in einer ganz besonderen Weise determinieren. Sie
tax? Die traditionelle Definition der Syntax besagt, sie determinieren ihn nämlich auf die Sprechsituation hin. Da
habe die Verknüpfung der Wörter im Satz zum Gegen- ist zunächst das Personmorphem, „wir" in unserem Bei-
stand. Das ist eine schlechte Definition wie alle Defini- spiel. Das Personmorphem bezieht die Bedeutung des
tionen, die bloß aus der Benennung (syn-taxis) abgezogen Verbs und damit den Sinn des ganzen Satzes auf die
sind. Die Verknüpfung der Wortbedeutungen, so daß sie Grundsituation alles Sprechens, auf das Kommunika-
sich gegenseitig begrenzen und zusammen den Sinn des tionsdreieck Ich: Du: Er. Auch die Pluralform „wir" legt
Satzes bilden, kann nicht Gegenstand eines Wissen- den Ort der Information in diesem Kommunikationsmo-
schaftszweiges neben der Semantik sein. dell fest. Es gehört ferner zum Verb ein Tempusmorphem.
Am besten geht man von der Frage aus, was ein Satz ist. In unserem Beispiel ist es ein Präsens. Es determiniert
Der Satzrang einer sprachlichen Äußerung ist nämlich gleichfalls die Bedeutung des Verbs in einer besonderen
völlig unabhängig von ihrer semantischen Information. Weise. Es gibt nämlich an, ob die Rede unmittelbar auf die
Man kann Wörter und Wörter häufen, auch in sinnvollen Sprechsituation zu beziehen ist oder nur mittelbar, als
Fügungen, man hat damit noch nicht notwendig einen Erzählung situationsfernen Geschehens etwa. (Mit der
Satz. „Schöner, grüner Jungfernkranz": Diese Äußerung Zeit hat Tempus nichts zu tun.) 28 Das ist ebenfalls eine
gibt uns Bedeutungen, und diese Bedeutungen determi- Determination auf die Sprechsituation hin und umfaßt
nieren einander durch ihr bloßes Beieinandersein auf gleichzeitig das, was die Grammatiken Modus nennen.
Meinungen hin und ergeben einen Sinn. Aber diese Äuße- Und dann ist da noch ein Morphem, das vielfach überse-
rung ist kein Satz. „Wir winden dir den Jungfernkranz" hen wird, weil es so selbstverständlich ist. Es ist in unse-
ist hingegen ein Satz. Der Unterschied ist einsichtig. Das rem Beispiel das Morphem Null und besagt: Ja. Es könnte
(finite) Verb macht den Satz. Aber nicht um seiner se- nämlich dort auch das Morphem „nicht" stehen, und
mantischen Information willen hat das Verb diese Kraft. dann wäre der Sinn des ganzen Satzes in sein Gegenteil
Das Substantiv „das Winden" bewahrt die semantische verkehrt. Das ist, wie gesagt, so selbstverständlich, daß

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man das Banale streift, wenn man es überhaupt erwähnt. Äußerung konstitutiv sind, trifft die Logik nämlich eine
Aber mir scheint durchaus nachdenkenswert, daß unsere Auswahl, die von der Sprache her gesehen willkürlich und
Sprachen so beschaffen sind, daß es keinen Satz gibt, der unmotiviert erscheint. Die Persondeterminante erfährt in
nicht durch ein Morphem, hörbar oder nicht hörbar, auf der Logik eine außerordentlich aufmerksame und, wie
Ja oder Nein hin determiniert wäre. Wir wollen dieses dem Linguisten erscheinen muß, maßlos begünstigte Be-
Morphem das Assertionsmorphem nennen. rücksichtigung. Sie wird (nach einer neutralisierenden
Man wäre vielleicht tatsächlich im Recht, das Asser- Normierung auf die 3. Person hin) als „Subjekt" noch
tionsmorphem zu übersehen oder zu übergehen, wenn über das „Prädikat" erhoben und zum Grundpfeiler, we-
nicht dieser seltsame Parallelismus der Verbdeterminan- nigstens aber zu einem der zwei Grundpfeiler der Aussa-
ten wäre. Das Assertionsmorphem gehört genauso eng ge gemacht. Ist das nicht zuviel Ehre für ein determinie-
zum Verb wie das Personmorphem und das Tempus- rendes Morphem? Man erwartet nun als Linguist, daß
morphem. Erst wenn alle drei Determinationstypen da vielleicht dem Tempusmorphem, das ja in den Sprachen
sind, wird die Äußerung zum Satz, ganz gleich, welche dem Personmorphem so deutlich parallel gesetzt ist, eine
semantische Information der Satz sonst enthält. Diese ähnliche Aufmerksamkeit zuteil wird. Aber weit gefehlt.
drei Determinationstypen müssen also ein besonderes Die Tempusdeterminante wird vielmehr ganz unterschla-
Gewicht haben, weil nur sie über den Satzrang einer Äu- gen mit der Begründung, die Logik habe es mit zeitlosen
ßerung befinden. Bei den Personmorphemen und Tem- Sätzen zu tun. In Wirklichkeit ist es aber so, daß sich die
pusmorphemen ergab sich nun das besondere Gewicht Tempusdeterminante gar nicht ganz unterdrücken läßt.
daraus, daß sie das Verb auf die Sprechsituation beziehen, Ohne sie kommt auch in der Kunstsprache der Logik gar
und zwar auf die Sprechsituation in ihrer elementaren kein Satz zustande. Aber man kann auch sie normieren
Gestalt als Kommunikationsmodell. Es drängt sich nun und damit neutralisieren. Das geschieht bei den Logikern
die Vermutung auf, daß auch das Assertionsmorphem durch die (unreflektierte) Konvention, immer das Präsens
vielleicht die Bedeutung des Verbs und damit den Sinn des zu nehmen und nicht weiter darüber nachzudenken.
Satzes auf die Sprechsituation bezieht. Die Assertionsdeterminante schließlich findet wieder, wie
An dieser Stelle ist ein heftiger Einspruch der Logik zu man weiß, ausgiebige Berücksichtigung.
erwarten. Denn für das Ja und das Nein hat die Logik ihre Es mag dem Linguisten gestattet sein, sich über die
Wahrheitstafeln gemacht, und sie läßt auch nicht die Spur Auswahlprinzipien und Akzentsetzungen der Logik ge-
einer Andeutung erkennen, daß sie so etwas wie Sprechsi- genüber den Determinanten des Verbs zu wundern. Aber
tuation in ihren Überlegungen berücksichtigen will. Aber die Logik ist natürlich frei, sich ihre Spielregeln alleine
es gibt noch mehr sprachliche Dinge, die sie nicht be- auszusuchen. Wir dürfen uns dann allerdings nicht wun-
rücksichtigt. Unter den drei Determinationstypen, die in dern, daß ihre Ergebnisse für die Linguistik nur höchst
den (natürlichen) Sprachen für den Satzcharakter einer selten relevant sind.

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Wie soll nun verstanden werden, daß sich die Asser- tionelles Philosophieren. Dann aber macht Gadamer die
tionsdeterminante des Verbs auf die Sprechsituation be- Wendung zur Dialektik. Man verfehlt nämlich die Wahr-
zieht, analog zu der Art, wie sich die Person- und die heit der Aussage, so argumentiert Gadamer, wenn man sie
Tempusdeterminante auf die Sprechsituation beziehen? bloß auf ihren Inhalt hin betrachtet. Ein Aussagesatz hat
Hier ist nun zunächst an zwei Denkversuche zu erinnern, Voraussetzungen, die er selber nicht sagt. Er ist nämlich
die - völlig unabhängig voneinander - die Sprechsituation motiviert (der Stimulus der Behavioristen!), und zwar im
entdeckt haben. Der erste Versuch ist an den - oft miß- letzten durch eine Frage. Die Frage hat den Primat vor der
verstandenen - Begriff des Verhaltens (behavior) ge- Aussage. Durch eine Frage hervorgelockt, ist die Aussage
knüpft. Ich beschreibe ihn nach Leonard Bloomfields aber selber wieder Frage und ruft eine weitere Aussage
Buch Language (1933). Ein Sprechakt, so argumentiert hervor. Und so erhalten wir eine lange Kette von Fragen
Bloomfield, geschieht nicht in einem Niemandsland, son- und Antworten, die selber Fragen, und Fragen, die wieder
dern in einer Lebenssituation, wo vor, neben und nach Antworten sind. Vor die Logik schiebt sich die Dialektik.
dem Reden auch gehandelt wird. Sprechakte und Hand- Die Übereinstimmungen zwischen dem „behaviori-
lungsakte sind grundsätzlich vertauschbar. Wenn man stischen" Denkmodell des amerikanischen Linguisten
nun das - allerdings etwas dürftige - Schema eines Spiels und dem dialektischen Denkmodell des deutschen Philo-
von Reiz (stimulus) und Reaktion (response) zugrunde sophen sind frappierend. Es bedarf kaum einer Harmoni-
legt, wo jeweils eine Reaktion wieder als neuer Reiz fun- sierung. Wir wollen aber hinzusetzen, daß Gadamer von
giert, so erhält man lange Reiz-Reaktions-Ketten, in de- dieser dialektischen Grundlage aus einen weiteren Schritt
nen Sprachliches und Nichtsprachliches gemischt ist. Auf hin zur Hermeneutik tut. Er schreibt: „Frage wie Ant-
unsern Beispielsatz angewandt, würde Bloomfield sich wort haben in ihrem gemeinsamen Aussagecharakter eine
weigern, den Satz „Wir winden dir den Jungfernkranz" hermeneutische Funktion. Sie sind beide Anrede." So
allein für sich zu interpretieren. Er würde fragen: Was hat kommt in diesem Zusammenhang auch die Person-
eigentlich diesen Satz hervorgelockt? Welches ist der determinante der Sprechsituation wieder zu ihrem Recht.
(sprachliche oder nichtsprachliche) Reiz? Und wie läuft Die Philosophie scheint die Sprache zu entdecken.
die Kette weiter? Von diesen Überlegungen her dürfte auch auf die
Der zweite Denkversuch stammt aus der neueren Assertionsdeterminante ein Licht fallen. Einerseits muß
Philosophie. Er ist an den Begriff der Dialektik geknüpft. die Assertionsdeterminante, ebenso wie die Person- und
Ich beschreibe ihn nach einem Aufsatz von Hans-Georg Tempusdeterminante, etwas sehr Wichtiges sein, da sie bei
Gadamer. 29 In diesem Aufsatz unterstreicht Gadamer zu- keinem Verb fehlen darf. Nicht nur, daß man sie nicht
nächst den besonderen Rang des Aussagesatzes oder Ur- weglassen kann, man kann sie nicht einmal wegdenken.
teils als einer Äußerung, die „die Vernunft der Dinge sel- Andererseits hatten wir Schwierigkeiten, zwischen dem Ja
ber" der Mitteilung zugänglich macht. Das ist tradi- oder Nein als Determination des Verbs und der Sprech-

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Situation eine notwendige Verbindung herzustellen. Diese tion. Sie ist Ausdruck eines Vorwissens. N u r wer etwas
Schwierigkeit hebt sich jedoch auf, wenn man die schon weiß, kann überhaupt fragen. Es fehlt dieser In-
Sprechsituation nicht als eine statische Konstellation an- formation freilich etwas (die steigende Intonation ist
sieht. Sie ist vielmehr, das kann man sowohl vom beha- häufig das prosodische Äquivalent dieses Mangels), aber
vioristischen als auch vom dialektisch-hermeneutischen es fehlt nur eine Ergänzung. Diese fehlende Ergänzung
Denkmodell lernen, eine dynamische Konstellation, in kann groß oder klein sein, darin unterscheiden sich die
der wir von Frage zu Antwort, Antwort zu Frage oder - einzelnen Fragen. Aber sie kann nie so groß sein, daß die
wenn man die andere Terminologie vorzieht - von Reiz Antwort bei dem Fragenden nichts voraussetzen dürfte.
zu Reaktion, Reaktion zu Reiz voranschreiten. Sie kann aber auch nicht so klein sein, daß die Antwort
Es ist aber doch wohl mehr als eine Differenz der Ter- nicht noch neue Information hinzufügen könnte. Das
minologie, ob man Reiz oder Frage, Reaktion oder Ant- Minimum an zu ergänzender Information ist in der soge-
wort sagt. Mir scheint, daß der Philosoph Gadamer die nannten Totalfrage erreicht. Hier fehlt nichts als die Zu-
besseren und das heißt an dieser Stelle die linguistischeren stimmung („Ja") oder die Ablehnung („Nein"). Es ist ein
Bezeichnungen hat als der Linguist Bloomfield. Wir wer- Ja oder Nein zur Vorinformation. Das gilt auch für solche
den ihm also folgen. Es bleibt nämlich noch zu sagen, was Situationen, in denen die Vorinformation gar nicht Frage-
eine Frage ist. Grammatisch gesprochen, ist das ver- charakter im Sinne der Grammatik hat. Gadamer hat
hältnismäßig leicht zu sagen. Die Grammatik unter- recht, daß er auch solche Situationen mitmeint. Es ist für
scheidet, wie man weiß, die Totalfrage („Weißt du noch?") den dialektischen Wert der Vorinformation in einer
und die Teilfrage („Was weißt du noch?"). Es ist offen- Sprechsituation nicht sehr erheblich, ob wirklich die In-
sichtlich, daß die Totalfrage auf das Ja/Nein des Asser- tonation steigt oder ein anerkanntes Fragepronomen ge-
tionsmorphems bezogen ist. Die Teilfrage ist nicht oder setzt ist. Das Wichtige ist, daß ein Satz normalerweise
wenigstens nicht direkt auf dieses Morphem bezogen. nicht Information in ein informatorisches Nichts hinein-
Aber wir wollen hier gerne den Begriff Frage in jenem schickt, sondern gegebene Vorinformation ergänzt. Das
weiten Sinne nehmen, wie Gadamer ihn verwendet, wenn ist eine linguistische, näherhin syntaktische Grundtatsa-
er sagt, daß jede Antwort gleichzeitig wieder Frage für ei- che. Ihr Ausdruck in der Sprache (in allen Sprachen!) ist
ne neue Antwort ist. Nimmt man alle Fragetypen der das Assertionsmorphem Ja/Nein. Es ist ein Morphem, das
Grammatik und auch diese Art Frage zusammen, so läßt sich die Sprache geschaffen hat, um die neue Information,
sich allemal das Folgende sagen: Eine Frage ist gegenüber die ein Sprecher gibt, zur Vorinformation des Gesprächs-
der Antwort, die auf sie erfolgt, ein Weniger an Informa- partners in Beziehung zu setzen. Es hat vor aller logischen
tion über einen Sachverhalt, nicht etwa ein Nichts an In- eine dialektische und das heißt syntaktische Funktion.
formation. Diese Feststellung kann man auch positiv Alle drei notwendigen Determinanten des Verbs gehen
wenden. Die Frage enthält bereits eine partielle Informa- also tatsächlich auf die Sprechsituation in ihrer funda-

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mentalsten Schicht. Sie lassen zugleich die drei ent- sichert, daß das deutsche Volk nichts anderes will als Frie-
scheidenden Aspekte der Sprechsituation erkennen. Wir den. (...) Ich habe ihm weiter versichert und wiederhole
können sie mit linguistischen Begriffen benennen: Person, es hier, daß es - wenn dieses Problem gelöst ist - für
Tempus, Assertion. Syntax ist - vor allen anderen Aufga- Deutschland kein territoriales Problem mehr gibt." Wir
ben, die sekundär daraus erwachsen - Untersuchung von wissen heute aus den Dokumenten und konnten damals
Person, Tempus und Assertion als der Art und Weise, wie aus tausend Indizien wissen, daß das Deutschland Hitlers
Bedeutungen auf die Sprechsituation bezogen werden. den Frieden nicht wollte. Denn es galt die geheime
Und Satz nennen wir alle sprachlichen Äußerungen, in Weisung an die Generalität vom 30. 5. 1938: „Es ist mein
denen dieser Bezug vollständig hergestellt ist. unabänderlicher Entschluß, die Tschechoslowakei in
Nach diesen Überlegungen sind wir in der Lage, der absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zer-
oben skizzierten Semantik der Lüge eine Syntax der Lüge schlagen. (...) Dementsprechend sind die Vorbereitungen
anzuschließen. „Es gibt viele Arten der Lüge", sagt Au- unverzüglich zu treffen."31 Der Gang der Geschichte hat
gustin, „und wir müssen sie alle hassen. Aber immer ist gezeigt, daß dieser Entschluß tatsächlich nicht abgeändert
die Lüge der Wahrheit entgegengesetzt wie Licht und worden ist. Die Tschechoslowakei wurde zerschlagen,
Finsternis, Frömmigkeit und Gottlosigkeit, Gerechtigkeit und dann gab es weitere „territoriale Probleme", bis das
und Ungerechtigkeit, Sünde und Rechttun, Vernunft und ganze deutsche Territorium Besatzungsgebiet war.
Torheit, Leben und Tod."30 Wie Ja und Nein, können wir Die Geschichte kennt keine schlimmeren Lügen als die
hinzusetzen. Denn im letzten ist die Lüge immer auf ein Lügen Hitlers. Daher ist es wichtig, sie genau zu studie-
Ja oder ein Nein bezogen. Wenigstens gilt das für die Lüge ren, auch linguistisch. Es genügt nämlich nicht festzustel-
in ihrer bösen Eigentlichkeit. Es ist die Lüge, die auf die len, daß die Sätze der öffentlichen Rede und die Sätze der
Totalfrage antwortet. Wir können sie daher die totale Lü- Geheimen Kommandosache unvereinbar sind und daß,
ge nennen. Sie setzt beim Gesprächspartner ein Maximum da die geheimen Sätze als wahr erwiesen sind, die öffentli-
an Vorinformation voraus, dem nur noch die Entschei- chen Sätze folglich gelogen waren. Man muß vielmehr se-
dung fehlt, ob sie zu bestätigen oder zu verwerfen ist. Be- hen, daß die Rede Hitlers nicht in einen leeren politischen
stätigung oder Verwerfung werden durch Ja oder Nein Morgen hinein gesprochen worden ist. Es ist eine Rede
gegeben. Durch das Assertionsmorphem wird hier folg- für Menschen in Deutschland und außerhalb Deutsch-
lich auch gelogen. Von dieser Art sind die großen Lügen, lands, die in gespannten Erwartungen und Befürchtungen
die den Lauf der Welt zum Bösen verkehrt haben. zuhörten. Diese Zuhörer waren schon informiert über
Hitler hat so gelogen. In der Sudetenkrise des Jahres den Mann und sein Land, richtig oder falsch. Es war
1938 und im Rückblick auf seine Verhandlungen mit schon lange die Rede von „territorialen Problemen", und
dem britischen Premier Chamberlain beteuerte Hitler am die angstvolle Frage ging schon lange um Krieg oder Frie-
26. 9. 1938 in einer öffentlichen Rede: „Ich habe ihm ver- den. Hitler macht nicht einfach eine in sich bestehende

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Mitteilung über den Frieden und die Grenzen in Europa, weil sie so schwer erkennbar sind. Es gibt schließlich die
sondern er antwortet mit diesen Sätzen, wenn auch se- tausend Arten der diplomatischen Lüge, und nicht nur bei
mantisch verschleiert, auf die messerscharfe Frage: Krieg Diplomaten gibt es sie. Aber es führt zu nichts, eine Ka-
- ja oder nein? Aggression - ja oder nein? Daß es über- suistik der Lüge zu versuchen. Damit hat sich die Moral
haupt um Krieg und Aggression geht, das war als Vorin- anderer Jahrhunderte schon blamiert. Die Linguistik
formation bereits vorhanden bei allen, die Hitler zuhör- braucht solche Fehler nicht zu wiederholen.
ten. Seine Sätze sind daher Antwort auf diese Fragen. Sie
verwerfen mit einem klaren Nein die Vorinformation:
Krieg? - Nein. Aggression? - Nein. Das ist der genaue
Ort der Lüge in jener Sprechsituation, die vielen von uns
als banges Lauschen am Volksempfänger noch deutlich
gegenwärtig ist. Welche Wörter dabei im einzelnen in
den Dienst der Lüge treten, ob also etwa an Stelle von
Aggression „territoriale Probleme" gesagt wird, ist dem-
gegenüber von zweitrangiger Bedeutung. Es handelt sich
ja nicht um eine neue Information gegenüber einem vor-
her bestehenden Nichts an Information, sondern es geht
für alle Beteiligten um die entscheidende zusätzliche In-
formation zu ihrem Vorwissen, ob der Frieden erhalten
bleibt oder nicht. Man hört wohl alle Wörter, man hört
aber nur auf das Ja oder Nein. Man hört also auf ein
Morphem. In diesem Morphem wird die Wahrheit ge-
fälscht. Die schlimme, die böse, die totale Lüge ist syn-
taktischer Natur; sie fälscht den Sinn an jener entschei-
denden Stelle, wo sich Sprache und Welt begegnen, in
der Sprechsituation.
Gewiß, nicht jede Lüge ist eine totale Lüge, und nicht
jede Lüge ist so radikal böse wie sie. Das Problem der
Lüge wäre keine magna quaestio, wenn Schwarz und
Weiß immer so eindeutig verteilt wären. Es gibt halbe
Lügen, und es gibt jene geringen Abweichungen von der
Wahrheit, die vielleicht gerade deshalb so gefährlich sind,

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seiner Ethik zugeben, daß Großtun und Kleintun eigent-
lich gleich weit von der goldenen Tugendmitte der Wahr-
haftigkeit entfernt sind. Sie sind Laster. Aber dann setzt
Ironie er, was mit der Strenge seines ethischen Systems im
Grunde nicht zu vereinbaren ist, die Einschränkung hin-
zu: „Die Kleintuer machen aber einen etwas feineren Ein-
„Der Begriff der Ironie hält mit Sokrates seinen Einzug in druck als die Großtuer." Man erfährt sogleich, warum
die Welt." So lautet eine der Thesen, die Kierkegaard in Aristoteles hier so sympathisch inkonsequent ist. Es fällt
seiner Dissertation verteidigt. 32 Sokrates, der Lehrer der nämlich der Name Sokrates. Um des ironischen Philoso-
Wahrheit: sollte er uns lügen gelehrt haben? Denn bei phen willen, der nichts zu wissen vorgibt, wertet Aristote-
Wolfgang Kayser kann man den Satz lesen: „Bei der Iro- les die Ironie auf.37
nie ist das Gegenteil von dem gemeint, was mit den Wor- Die Aufwertung der Ironie setzt sich durch die Ge-
ten gesagt wird." 33 Das deckt ziemlich genau die linguisti- schichte hindurch fort. Im lateinischen Altertum und la-
sche Definition der Lüge, wie wir sie oben entwickelt teinischen Mittelalter von der Rhetorik bewahrt, in der
haben: Ein gesagter Satz verbirgt einen ungesagten Satz, Renaissance und im 18. Jahrhundert von der Epik als Er-
der von diesem um das Assertionsmorphem abweicht. zählhaltung entdeckt, wird die Ironie von den Roman-
Man wundert sich also gar nicht, wenn François Paulhan tikern als metaphysischer Habitus kanonisiert und bleibt
in einem Buch über die Moral der Ironie seine Begriffs- der modernen Literatur erhalten, auch nachdem die
bestimmung so beginnt: „Die Ironie ist eine Form der Romantik sich wieder entromantisiert hat. Die Dichter
Lüge." 34 Und dennoch hat Proudhon mehr recht, wenn er lieben sie mehr denn je als die ungleiche Schwester der
in einer hymnischen Invokation an die „Göttin" Ironie Phantasie.
diese die „maîtresse de vérite" nennt. Wahrheit und Lüge In der Ironie ist eine große Spannweite von der Alltags-
bilden keinen Gegensatz in der Ironie. ironie beim Gespräch auf der Straße bis zur „transzen-
Ironie (eironeia) war den Griechen schon vor Sokrates dentalen Buffonerie" Friedrich Schlegels38. In allen ihren
bekannt. Aber sie galt als eine mehr oder weniger schimpf- Formen aber unterscheidet sich die Ironie wesentlich von
liche Verstellung, und zwar Verstellung nach unten hin. der griechischen Ironie vor Sokrates. Diese war Kleintun,
„Kleintun", so kann man mit einem Goetheschen Wort nichts weiter. Seit Sokrates und in unserer ganzen Litera-
den griechischen Ironie-Begriff übersetzen. 36 Auch wer turtradition ist Ironie mehr. Zur Ironie gehört das Ironie-
vor der Steuer sein Eigentum niedriger als richtig angab, signal; man tut klein, und man gibt gleichzeitig zu verste-
tat klein und galt als Ironiker. Das war im Grunde ebenso- hen, daß man kleintut. Man verstellt sich, gewiß, aber man
sehr Lüge und Täuschung wie die entsprechende Ver- zeigt auch, daß man sich verstellt. Das Ironiesignal ist
stellung noch oben hin, das Großtun. Aristoteles muß in ebenso konstitutiv für die Ironie wie das Kleintun. Beide

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zusammen erst machen aus der dissimulatio, um mit Sprechakte, d.h. gesprochene oder geschriebene Texte,
Ciceros Worten zu sprechen, eine dissimulatio urbana, aktualisiert wird. Auch ironische Rede ist ein solcher
die frei von jedem moralischen Makel ist.39 Seitdem Sprechakt zwischen einem Sprecher und einem Hörer.
sich die Ironie von der eironeia abgelöst hat, gilt unserer Aber wenn der Sprecher der unwissende Sokrates ist und
Ethik bloßes Kleintun ohne Ironiesignal sogar für noch der Hörer der neunmalkluge Priester Euthyphron, wie in
schimpflicher als zu griechischer Zeit, wo dem Kleintuer Platons bekanntem Dialog, dann besteht natürlich ein
der griechische Respekt vor der List zugute kam. Ein mo- Ironiegefälle zwischen dem großtuenden Euthyphron
derner Kleintuer ist Tartuffe, und niemand respektiert und dem kleintuenden Sokrates, der zu jenem sagt: „So
mehr seine Arglist als List. wird es demnach für mich, du bewundernswürdiger
Wenn es der Linguistik gestattet ist, sich für die Lüge zu Euthyphron, wohl das beste sein, daß ich dein Schüler
interessieren, dann muß es ihr erst recht gestattet sein, werde ... (Euth. 5a)." Dieses Ironiegefälle wird mit
über die Ironie nachzudenken. Wenn nämlich der Ironie Worten ausgedrückt. Entspricht es auch den Gedanken?
unbedingt ein Ironiesignal beigegeben werden muß, wo- Wessen Gedanken, muß man zuerst fragen. Es entspricht
fern sie überhaupt Ironie sein will, dann wird man sich bei offenbar den Gedanken des Euthyphron; denn wenig
dem Ausdruck Signal sogleich der Zeichenfunktion der später, als Sokrates noch einmal ironisch daran erinnert,
Sprache erinnern. N u n gibt es Ironiesignale von vielerlei daß Euthyphron sich als den besten Kenner der gött-
Art. Das mag ein Augenzwinkern sein, ein Räuspern, eine lichen Dinge zu bezeichnen pflegt, fällt dieser ihm ins
emphatische Stimme, eine besondere Intonation, eine Wort und bekräftigt: „Woran ich auch ganz recht habe,
Häufung bombastischer Ausdrücke, gewagte Metaphern, Sokrates (Euth. 13e)!" Es entspricht aber offensichtlich
überlange Sätze, Wortwiederholungen oder - in gedruck- nicht den Gedanken des Sokrates (und auch unseren Ge-
ten Texten - Kursivdruck und Anführungszeichen. Im- danken nicht). Denn das Kleintun des Philosophen ist nur
mer sind es Signale, das heißt Zeichen. Meistens, und ein Aspekt jener philosophischen Hebammenkunst, wel-
dafür interessiert sich die Linguistik natürlich in besonde- che die Wahrheit nicht austeilen, sondern finden lassen
rem Maße, sind es sprachliche Zeichen: Wörter, Laute will. So läßt sich Sokrates zum Schein belehren, damit der
oder prosodische Besonderheiten. In geschriebenen Lehrende an den bohrenden Fragen des Belehrten selber
Texten bilden die vielfältigen Arten von Ironiesignalen ein merkt, wie schlecht es um seine Lehre steht und wie sehr
wichtiges Kapitel in der Stilistik der Ironie. er selber der Lehre bedarf. Auf die ironische Destruktion
Wir gehen für einen Moment auf das Kommunika- der falschen und süffisanten Meinung folgt dann die ge-
tionsmodell zurück. Sprache ist Kommunikation und meinsame Konstruktion klarer Begriffe und wahrer Wis-
Code zwischen einem Sprecher und einem Hörer. Und senschaft. Es erweist sich, daß das Nichtwissen des Philo-
zwar ist die jeweilige Einzelsprache (die deutsche, fran- sophen tatsächlich eine Verstellung war, ein Kleintun. In
zösische, russische Sprache) der Code, der durch einzelne Wahrheit ist Sokrates nicht nur den Sophisten und ande-

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ren Großtuern überlegen, sondern er weiß sich ihnen denkt, daß neben dem Sprecher und dem Hörer noch eine
auch überlegen, wenigstens auf Grund seines Orakels und dritte Person zugegen ist. Bei dem ironischen Dialog zwi-
seines Daimonion. Aber er verbirgt die Überlegenheit schen Sokrates und Euthyphron mag man sich Platon als
seines Geistes hinter der Unterlegenheit seiner Worte. Dritten denken. Wir sind sicher, daß Platon als Zeuge des
Musil dazu: „Sokratisch ist: Sich unwissend stellen. Dialogs das Ironiesignal aufgenommen hat. Er hat ja als
Modern: Unwissend sein." 40 Autor der sokratischen Dialoge - vielleicht sogar als Au-
Wenn mehr nicht zu sagen wäre, müßte hier jetzt das tor einer Sokrates nur zugeschriebenen Ironie, das ist
Fazit gezogen werden, und es würde lauten: Ja, die Ironie umstritten 41 - Sorge dafür getragen, daß die Ironiesignale
des Sokrates ist Lüge. Man könnte höchstens noch hinzu- mitüberliefert sind. Das ist nicht ganz einfach; denn aus
fügen, daß die sokratische Ironie als pädagogische Ironie unserer alltäglichen Erfahrung mit ironischer Rede wissen
im Dienste einer heilsamen Absicht steht und durch den wir, wie viele Ironiesignale nur in Nuancen liegen und der
guten Zweck geheiligt wird. Augustinisch gesprochen: Notierung mit den Zeichen des Alphabets nicht zugäng-
die Täuschungsabsicht wird durch eine Heilungsabsicht lich sind. Ironiesignale, die durch geschriebene und ge-
wettgemacht und neutralisiert. druckte Texte wirken sollen, müssen vielfach aus der nu-
Aber die linguistische Analyse der Ironie ist erst zur ancenreichen gesprochenen Sprache erst in ein anderes
Hälfte durchgeführt. Das Ironiesignal ist noch nicht be- Ausdrucksmedium übersetzt werden. Die Worte müssen
rücksichtigt, das ebenso zur Ironie gehört wie die Hal- so gewählt sein, daß man gar nicht anders kann, als sie mit
tung des Kleintuns. Das Ironiesignal, wenn wir es uns ei- einem gewissen ironischen Tonfall zu lesen. Das ist eine
nen Augenblick als eine emphatische Intonation vorstel- Verschlüsselung und erneute Entschlüsselung des Ironie-
len wollen, ist ein Sprachzeichen, das die gesprochene Re- signals. Als Beispiel diene ein Satz aus dem Euthyphron.
de begleitet. Es ist von solcher Art, daß es sowohl ver- Der Sprecher ist Sokrates, der sich soeben von Euthy-
nommen als auch überhört werden kann. Es gehört näm- phron hat loben lassen müssen, daß er ihm so gut gefolgt
lich einem Code zu, der nicht mit dem allgemeinen Code sei. N u n Sokrates: „Ich trage eben große Lust, mein
der Grammatik identisch ist und an dem nur diejenigen Freund, nach deiner Weisheit und richte alle Gedanken
Anteil haben, die Witz haben. Die Halbgebildeten und darauf, damit von dem, was du sagst, nur nichts zur Erde
Süffisanten überhören es, und das Ironiesignal kommt falle" (Euth. 14 d). Man muß sich vorstellen, daß Sokrates
nicht zum Ziel. Das ist aber nicht die Schuld des Spre- diese Replik mit einer zum Salbungsvoll-Bedeutsamen
chers, sondern die Schuld des Hörers. hin verstellten Stimme spricht. Dieser Tonfall ist, wenn
Man erleichtert sich die linguistische Analyse der Iro- der Dialogautor keine Regieanweisungen hinzusetzen
nie, wenn man sich das elementare Kommunikations- will, durch Schriftzeichen nicht wiederzugeben. Aber er
modell, von dem diese Überlegungen ausgegangen sind, ist im Arrangement des Textes selber aufgehoben und
dadurch zu einem elementaren Ironiemodell erweitert übersetzt in Adjektive („große Lust", „alle Gedanken"),

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in eine Metapher („die Brosamen der Weisheit") und in der Sprecher dennoch nicht verzichten, wenn er sich nicht
eine honigsüße Anrede („mein Freund"). Das alles macht, zum Heuchler degradieren will. Schlimm, daß dann nie-
daß der Leser gar nicht umhin kann, diese stilistischen mand die verlorenen Signale aufnimmt. Schlimm, aber
Ironiesignale wieder rückzuübersetzen in genau den nicht hoffnungslos. Man kann die Situation beispielsweise
gleichen Tonfall, den das Ironiesignal bei Sokrates gehabt in der Erzählung wiederaufnehmen und nun in der An-
haben muß. wesenheit eines anderen Dritten die Ironiesignale verspä-
Das Ironiesignal, so muß man dem Text des Platoni- tet zu einem Hörer gelangen lassen. Das ist im ganzen
schen Dialogs entnehmen, hat den selbstzufriedenen ziemlich unbefriedigend, weil mit der Ironie kein Risiko
Priester nicht erreicht. Er merkt zwar, daß Sokrates ihn mehr verbunden ist, aber manchmal, wenn die Ohren gar
mit seinen Fragen im Kreis herumjagt, aber er merkt zu taub sind, geht es nicht anders.
nicht, daß die Unwissenheit seines Gesprächspartners ge- Schließlich ist nicht einmal der Hörer unerläßlich, da-
spielt ist. Der Code der Ironiesignale ist ihm verschlossen. mit sich das Ironiemodell realisiert. Es gibt ja die Selbst-
Platon aber, der Dritte in der Sprechsituation, hat sie ironie, bei der der Ironisierende (der Sprecher) zugleich
aufgenommen. Und er hat sie an uns, die Leser seiner der Ironisierte (der Hörer) ist. Die Selbstironie ist ein
Dialoge, weitergegeben. Wenn wir sie ebenso vernehmen, Grenzfall der Ironie, vielleicht auch zugleich die reinste
wie er sie dem geschriebenen Dialog anvertraut hat, Verwirklichung der Ironie. Man muß dann allerdings se-
werden wir ebenfalls Zeugen des Gesprächs und stehen hen, daß bei der Selbstironie auch der Dritte immer dabei
als Dritte dabei. Die sprachlichen Mitteilungen, die von ist. Das ist man ebenfalls selber. Wer sich selbst ironisiert,
Sokrates ausgehen, gehen demnach in zwei verschiedene wird sich selber zum Schauspiel.
Richtungen. Bisweilen, in den Sternstunden der Ironie, geschieht es,
Sie spalten sich gleichsam; eine Informationskette geht daß alle Modelle der Ironie in eins zusammenfallen, so
zum angesprochenen Hörer und sagt Ja, während eine wie es Robert Musil beschreibt: „Ironie ist: einen Kleri-
zweite, begleitende Informationskette zu einem mitange- kalen so darstellen, daß neben ihm auch ein Bolschewik
sprochenen Dritten geht und Nein sagt. Diese Informa- getroffen ist. Einen Trottel so darstellen, daß der Autor
tionskette setzt sich aus den Ironiesignalen zusammen. plötzlich fühlt: Das bin ich ja zum Teil selbst." 42
Ihr Code ist ein Geheimcode der Klugen und Gutwilli-
gen. „Wer Ohren hat zu hören, der höre."
Die beschriebene Situation mit Sprecher, Hörer und
Drittem ist ein Modell. Sie besagt nicht, daß Ironie nur
möglich sei, wo eine dritte Person leibhaftig anwesend ist.
Es mag sein, daß kein Dritter da ist. Das schließt Ironie
nicht aus, wo sie notwendig ist. Auf die Ironiesignale darf

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Linguistik der Lüge ist es dennoch wesentlich, einige
Grundstrukturen der europäischen Lügendichtung zu
beschreiben. Es sind zugleich linguistische und literari-
„Viel lügen die Sänger" sche Strukturen.
Wir stellen uns vor, wir sähen auf der Bühne Goldonis
Komödie Der Lügner (Il Bugiardo, 1750). Wir sind mit
Bei Homer ist die Lüge noch unproblematisch. Odysseus, der durch den Titel geweckten Erwartung in das Theater
der Listenreiche, wird von Göttern und Menschen gelobt, gekommen, einem Lügner zu begegnen. Nun treten aller-
wenn ihm eine recht faustdicke Lüge gelungen ist. Es hand Personen auf: der Doktor Balanzoni und seine
zeugt von Ingenium, die Kunst der Lüge zu beherrschen. Töchter, Ottavio, Florindo, Brighella, Pantalone, Lelio,
Die Götter selber verschmähen Lug und Trug nicht und Arlecchino und manche andere bis hin zu den Gondolieri.
machen den Menschen diese Kunst vor. Homers Epen, die Ich sehe einmal davon ab, daß dem Kenner viele dieser
alle diese Lügen bewahren, sind eine Schule des Lügens. Personen als Typen aus der Commedia dell'arte bekannt
Die Philosophen haben bald daran Anstoß genommen. sind. Mit dieser Kenntnis oder ohne sie bleibt dem Zu-
Vorab Platon, der die Dichter der Lüge bezichtigt, wenn schauer die Aufgabe, herauszufinden, wer unter diesen
sie von den Göttern behaupten, sie lögen. Im idealen Staat Personen der Lügner ist. Die Technik der Komödie, das
ist für diese Lügen kein Platz, und es wird den Dichtern muß der Komödienautor beachten, verlangt sogar, daß
nicht gestattet werden, mit ihnen die Jugend zu verder- der Zuschauer den Lügner möglichst früh als Lügner er-
ben. Mit Platons Lügenaustreibung wird die Lüge zum kennt, lange bevor am Ende das ganze Lügengebäude zu-
literarischen Problem und nimmt eine Bedeutung an, sammengebrochen ist. Denn sein Lachen hat ein gewisses
die weit über die volkstümlichen Lügenmärchen hin- Informationsgefälle zu seinen Gunsten als Voraussetzung.
ausreicht. Man sieht es sogleich bei Lukian. In seinem Wie erfährt er nun, daß Lelio der Lügner ist?
Dialog Der Lügenfreund haben wir es mit einem Lügner Er erfährt es gleich zu Beginn - Goldoni sorgt für si-
und einem Skeptiker zu tun, und der Skeptiker weiß sich chere Effekte - aus dem Munde des Dieners Arlecchino,
gewarnt durch die Lügen eines Herodot und Homer. mit dem zusammen Lelio in der 2. Szene auf der Bühne
Nun, die Dichter haben glücklicherweise das Lügen nicht erscheint. Arlecchino, a parte sprechend oder im Dialog
gelassen, und unsere Staaten sind nicht so ideal, daß den mit seinem Herrn, macht dem Publikum klar, daß es dicke
Dichtern das Lügen verboten wäre. Die Dichter haben Lügen zu erwarten hat. Lelio schwächt nur ab: Nicht Lü-
sogar die Lüge und den Lügner als literarisches Thema gen, sondern geistreiche Erfindungen (1,4)! Dieser ver-
entdeckt und es zu einer eigenen, in sich sehr konsistenten hältnismäßig grobe Effekt zieht sich durch das ganze
literarischen Provinz ausgebildet. Es würde zu weit füh- Stück, und der Zuschauer erhält auf diese Weise ständig
ren, wollten wir sie hier ganz ausmessen. Aber für eine die deutlichsten Lügensignale.

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Damit ist das Stichwort gefallen, das für die ganze vérité. J'aime la vérité. (Ich möchte die Wahrheit sagen.
Lügendichtung wesentlich ist. Die Lügendichtung, ein- Ich liebe die Wahrheit.) 43 So verstehen wir auch Lelio
schließlich der Dichtung über den Typ des Lügners, ist recht, wenn er beteuert: „Bewahre mich der Himmel,
von einer Fülle von Lügensignalen durchsetzt, die sich daß ich je eine Unwahrheit spräche; ich bin außerstande,
übrigens mit großer Beständigkeit durch die Jahrhunderte auch nur im mindesten der Wahrheit Abbruch zu tun.
vererben. Es sind formale und inhaltliche Topoi, die nicht Seit ich denken kann, gibt es keinen Menschen, der mir
einmal durch bewußtes Lernen weitergegeben zu werden die geringste Lüge vorwerfen könnte. Fragt meinen
brauchen, sondern die sich wie von selbst einstellen, wenn Diener" (I,11). Hier sieht man zugleich ein ganzes Bündel
man eine Lügengeschichte zu schreiben versucht. Die Lü- Nebenmotive um die klassische Wahrheitsbeteuerung
gensignale gehören genauso notwendig zur literarischen herum. Der Lügner schwört heilige Eide und will zur
Lüge wie die Ironiesignale zur Ironie. Sie sind Bestandteil N o t auf der Stelle tot umfallen, wenn sein Wort nicht
der Information und kehren für jeden, der zu hören wahr ist. Die Wahrheitsbeteuerung ist nämlich zugleich
Ohren hat, die Information in ihr Gegenteil um. Die Lü- Leugnung der Lüge, ja der Fähigkeit zu lügen. Zur Wahr-
genrede besagt zwar das Gegenteil der verheimlichten heitsbeteuerung gehört ferner die Anrufung von Augen-
Gedanken, aber die volle Information, Lügenrede und und Ohrenzeugen oder aber, in Ermangelung falscher
Lügensignal, deckt sich mit den verheimlichten Gedan- Zeugen, die Versicherung, daß man selber Augen- oder
ken. Lügenrede und Lügensignal heben einander auf. Ei- Ohrenzeuge einer Begebenheit gewesen ist. Wenn das
ne literarische Lüge, die von einem Lügensignal begleitet alles nicht hilft, geht der Lügner aus der Verteidigung zum
ist, erfüllt daher nicht mehr den Tatbestand der Lüge im Angriff über und bezichtigt schnell andere der Lüge.
außerliterarischen Sinne. Das ist „der Lüge kecke Zuversicht" (Schiller), auch Gol-
In der genannten Szene aus der Komödie Goldonis tre- donis Lelio hat sie. Sie äußert sich als maßlose Detail-
ten Lügenrede und Lügensignal in die Repliken des Lüg- freudigkeit im Erfinden der Lügengeschichten. Goldonis
ners und seines Dieners auseinander. Es ist eine litera- Lügner fordert die besten Journalisten Europas heraus,
rische Konvention der Vertrautenszenen, daß dergleichen einen so wohldetaillierten Sachverhalt („un fatto cosi
möglich ist. Die Vertrauten gelten als ein Stück vom Ich bene circostanziato") zu erfinden (II,12). Zur Präzision
der Protagonisten. Aber man findet bei Goldoni darüber des Details gehört insbesondere die Genauigkeit der
hinaus ein reiches Inventar anderer und feinerer Lügen- Namen und der Zahlen; der Lügner spart daran nicht. Die
signale. Man findet vor allem das Lügensignal par excel- Zahlen können ihm gar nicht groß und die Namen
lence: die Wahrheitsbeteuerung. Lukian hatte eine Lügen- nicht lang genug sein. Schlimm, wenn er sich dann ver-
geschichte bereits Wahre Geschichten genannt, und in un- heddert. Il faut bonne mémoire après qu'on a menti, heißt
serem Jahrhundert läßt Cocteau seinen Lügner im es schon in Corneilles Komödie Le Menteur. (Man muß
Monolog Le Menteur noch beginnen: Je voudrais dire la ein gutes Gedächtnis haben, nachdem man gelogen

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hat.) 44 Ist man dann mit einer Lüge hereingefallen, so Bei Lukian lernt man weitere Lügensignale kennen, die
lügt man sich flugs mit einer noch dickeren Lüge heraus. der Bühne nicht recht zugänglich sind. Im Dialog Der
Der „Meisterlügner" schiebt einen großen Lügenberg Lügenfreund gerät der Skeptiker nämlich in eine ganze
vor sich her, der immer mehr anwächst, je länger er am Gesellschaft von lügenfertigen Gesellen. Sie erzählen sich
Werk ist und je öfter er auf einer Lüge ertappt wird. Das gegenseitig Geschichten, die von Lügen strotzen. Die
Teilgeständnis einer Lüge ist dabei nur Sprungbrett für Freude am Lügen steht allen auf der Stirn geschrieben.
neue Erfindungen und wird sogleich wieder als Wahr- Das ist eine Grundsituation der literarischen Lüge. Man
heitsbeteuerung in den Dienst einer neuen, größeren Lüge erzählt sich die Lügengeschichten im Kreis. Es ist eine Er-
gestellt. zählrunde wie bei Boccaccio, aber es geht um gröbere Ef-
Das alles sind Lügensignale, und es bedarf nicht einmal • fekte. Jeder kommt an die Reihe und hat zu versuchen, die
literarischer Bildung, um sie als solche zu erkennen. Ein Lügen der anderen zu überbieten und auszustechen. Die
bißchen Menschenkenntnis tut es schon. 45 Die Literatur Erzählsituation ist die einer Wette. Man leitet seine eigene
baut auf der elementaren Psychologie der Menschen- Geschichte ein, indem man die letztgehörte Geschichte
kenntnis auf und verstärkt ihre Elemente zu Motiven. abwertet: „Das ist noch gar nichts; hört nur erst meine
Wer aber ganz ohne Menschenkenntnis ist, der wird sich Geschichte ..." Gewonnen hat, wer die dicksten Lügen
auch in der Lügendichtung nicht zurechtfinden, weil er erfindet. Er ist der Meisterlügner. Im Märchen findet man
die Lügensignale nicht sieht. Es ergeht ihm dann so wie oft eine Variante dieser Erzählsituation, wenn der Lügen-
jenem modernen Lukian-Kommentator, der noch nach könig demjenigen seine Tochter zur Frau verspricht, der
fast zweitausend Jahren einer Lüge des Lügenfreundes am besten zu lügen versteht. So bilden sich Dynastien und
aufsitzt. Der Lügenfreund Eukrates hatte nämlich an regierende Häuser im Lügenreich.
einer Stelle seiner Lügengeschichten beteuert, hier wisse Lügensignale können auch im Inhalt der Lügenge-
er nun auch nicht genau Bescheid. Der gelehrte Kommen- schichten liegen. Es gibt bevorzugte Reviere der litera-
tator macht dazu eine Anmerkung als Fußnote und rischen Lüge. Die Liebe, der Krieg, die Seefahrt und
schreibt, das sei doch wieder ein Zug, der beweise, daß die Jagd haben ihr Latein - sämtlich gefährliche Beschäf-
Lukian seinen Eukrates nach dem Leben schildert. 46 tigungen, bei denen es auf den Erfolg ankommt. „Die
Nein, lieber Kommentator, das beweist nur, daß sich Schilderung von galanten Abenteuern wäre ja fade ohne
Lukian auf die Kunst der Lügensignale verstand. Wer ein bißchen Dichtung als Dreingabe", sagt Goldonis Lelio
hundert Details gibt und dann beim hundertundersten (I,15), und er muß es wissen. In dem vorgegebenen Rah-
sagt, hier sei er nun nicht mehr ganz sicher, der beglaubigt men einer Lügenerwartung, wie er in der Lügendichtung
damit die hundert anderen erlogenen Details in einer häufig schon durch den Titel gesetzt ist, ist bereits die
Weise, die nicht mehr zu überbieten ist. Hier fängt das Wahl eines dieser Themen Lügensignal. Bei solchen The-
Raffinement der Lügensignale an. men genießt man es, angeschwindelt zu werden.

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Es gibt über diese Bereiche hinaus ein Land, in dem die Lügenland zu erklären. Wir würden diese Stimmen gar
Lüge zu Hause ist. Ich meine nicht Kreta, dessen Be- nicht erwähnen, wäre nicht Platons Stimme unter ihnen.
wohner - einem berühmten Sophisma zufolge - allesamt Es ist die Stimme eines Philosophen, und so bedeutet der
Lügner sind. (Aber ein Kreter ist's, der das sagt; es wird Vorwurf der Lügenhaftigkeit gegenüber der Dichtung
also doch wohl nicht stimmen. Andererseits: Dieser Kre- zugleich, daß die Sprache der Philosophie die der Eigent-
ter hat dann also gelogen, und dann könnten auch die an- lichkeit, die Sprache der Dichtung aber die der Uneigent-
deren Kreter Lügner sein.) Ich meine jenes Land, das man lichkeit sei. So wie in der Lüge der gesagte Satz einen ge-
„Verkehrte Welt" nennt. Eine seiner Provinzen heißt dachten Satz verdeckt, so verhüllen angeblich die Worte
Schlaraffenland, und davon berichtet eine Geschichte, der Dichter die Gedanken der Philosophen. Gegenüber
die fängt an: „Ich will euch erzählen und will auch nicht der Wahrheit der Philosophie ist die Dichtung Lüge oder
lügen, ich sah zwei gebratene Tauben fliegen ...". Im doch wenigstens getrübte Wahrheit, und es bedarf jeden-
gewöhnlichen Leben fliegen uns die gebratenen Tauben falls einer philosophischen Exegese, um die Fiktion der
nicht in den Mund; im Schlaraffenland tun sie es, wie es Dichter mühsam mit der reinen Doktrin der Weisheits-
dort überhaupt in allem ganz anders zugeht. So ist es in lehrer in Einklang zu bringen.
der Verkehrten Welt immer. Alles ist auf den Kopf ge- Wohl dem, der diesen Glauben hat! Ihm ist nicht zu
stellt: Fische fliegen, Vögel kreuchen; Schafe sind wild helfen; die Musen haben ihm eine andere Einsicht versagt.
und Löwen zahm; Jünglinge ruhen und Greise tanzen; es Herder schreibt: „Nur ein Unverständiger war's, der
schneit rote Rosen und regnet kühlen Wein. Wir wissen Poesie und Lüge verwirrte." 50 Und Nietzsche notiert:
schon: Es schneit ja keine Rosen und regnet keinen Wein, „Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also ge-
aber wir lassen uns durch das Lügensignal der Reihung rade nicht täuschen, ist wahr." 51 Wer das nicht glaubt, der
von Unmöglichkeiten nicht abschrecken, dem Lügen- ist auch durch eine Linguistik der Lüge nicht zu über-
erzähler ins Land der Verkehrtheiten zu folgen, wenn er zeugen. Sollte er aber die voraufgehenden Überlegungen
anhebt: „Finster war's, der Mond schien helle, / Schnee angenommen haben, so kann eine Linguistik der Lüge
lag auf der grünen Flur, / Als ein Wagen blitzesschnelle / ihm wenigstens einen Skrupel nehmen. Getäuscht wird
Langsam um die Ecke fuhr ... " 49 Wir treten ein in dieses durch die Dichtung niemand. Nicht, weil etwa keine Täu-
Land und grüßen seine Bewohner mit einem Lächeln, das schungsabsicht da wäre: Die Dichter haben ja die Absicht
dem Lächeln der Auguren verwandt ist. Es ist ein Lä- zu dichten. Aber es sind, wenn Dichtung Lüge ist, immer
cheln, an dem sich die Mitglieder eines Lügenkollegiums auch die Lügensignale da. Dichtung gibt sich als Dich-
erkennen, Lügensignal für die Eingeweihten, Rätsel für tung. Alle traditionellen Gattungsmerkmale sind zugleich
die Dummen und Nurernsten. Signale, daß dieser gesprochene oder gedruckte Text
Es hat nun immer Stimmen gegeben, die der Dichtung Dichtung ist, nicht Wahrheit. Und die Gattung, die am
insgesamt die Ernsthaftigkeit angetan haben, sie zum meisten in den Verdacht geraten muß, lügenhaft zu sein,

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das Märchen nämlich, hat auch die deutlichsten Gat-
tungsmerkmale. Schon das Kind kann sie verstehen.
Aber eines muß man den Verächtern der Dichtung zu-
geben. Es kam in der Literaturgeschichte eine Zeit, da Nachwort nach 35 Jahren
schien die Dichtung an sich selber irre zu werden. Die
Dichtung beteuerte, sie wolle nun Wahrheit geben. Gut,
das war nicht neu. Das Signal war bekannt, man kannte es Die Schrift Linguistik der Lüge ist im Jahre 1965 entstan-
aus der langen Tradition der Lügenliteratur. Man durfte es den. Sie wurde verfaßt als Antwort auf die erste Preisfrage
so deuten, daß sich die Dichtung nun wohl besonders der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung:
große Lügen einfallen lassen würde. Aber siehe da, so war „Kann Sprache die Gedanken verbergen?" Im Jahre 1966
es nicht gemeint. Die Dichtung wollte gar nicht größere ist die Schrift im Druck erschienen und vielfach nach-
Lügen ersinnen, sondern tiefere Wahrheiten aussprechen. gedruckt worden. Sie war dann längere Zeit vergriffen
Sie wollte nun „realistisch" sein. Das war irritierend, die und erscheint nun unverändert in einem neuen Verlag in
Signale stimmten auf einmal nicht mehr. Seitdem ist alles 6. Auflage. Dazu ist ein Wort zu sagen.
viel komplizierter geworden in der Literatur, und seitdem In den 35 Jahren, die seit dem Erstdruck vergangen sind,
haben die Lügner, die wirklichen Lügner meine ich, auch ist viel über die Linguistik und über die Lüge nachgedacht
erkannt, daß sie die Dichtung in den Dienst ihrer verlo- worden. Eine ganze Bibliothek wäre mit neueren Büchern
genen Zwecke stellen können. Dichtung im Dienste der und Aufsätzen zu diesem Thema zu füllen. Wollte ich all
Lüge ist Lüge. Aber seitdem ist auch jede Dichtung, die diesen Beiträgen Rechnung tragen, müßte ich einen neuen
sich dem Dienst der Lüge verweigert, Wahrheit und - Essay schreiben. Von diesem Gedanken habe ich jedoch
mit Brechts Worten - „Wahrheit, die zu schreiben sich Abstand genommen, da ich im Zweifel bin, ob jene Neu-
lohnt". 52 fassung überhaupt ein Essay bleiben könnte und nicht
vielmehr ein dickes Buch werden müßte. So bin ich zu
dem Entschluß gekommen, der Schrift von damals ein
Nachwort von heute beizugeben, um mit dem Autor, der
ich damals war, in einen kritischen Dialog einzutreten.

Wort, Satz, Text

Die „Linguistik", die im Titel meiner Schrift durch eine


Alliteration mit der Lüge verbunden ist, verdient im
Rückblick die erste Betrachtung. Für die Sprachwissen-

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schaft, wie man statt Linguistik auch sagen kann, waren Gerade das Gegenteil sollte nach meiner Vorstellung
die 60er Jahre eine bewegte Zeit. Damals hatte sie sich im Zeichen der Textlinguistik geschehen. Als ihr Aus-
in Deutschland gerade von einer strikt historisch orien- gangspunkt gilt in einem gegebenen „Sprachspiel" (im
tierten Wissenschaft zur strukturalen Sprachwissenschaft Sinne von Wittgenstein) der mündlich oder schriftlich ge-
entwickelt, die zu beschreiben sich vornahm, wie in der äußerte „Text-in-der-Situation". Von ihm geht die text-
Sprache alles mit allem systematisch zusammenhängt. linguistische Analyse sodann absteigend zu kleiner
Dieser „Strukturalismus", wie die neue Forschungsrich- dimensionierten Einheiten der Sprachbetrachtung über,
tung von ihren Freunden mit Bewunderung, von ihren wobei jeweils unterschiedliche Sprachstrukturen der
Gegnern mit Widerstreben genannt wurde, erprobte ihre „Textsyntax" (nicht bloß „Satzlehre"!) und „Textseman-
Methoden mit Vorliebe - und das war neu - an der Ge- tik" (nicht bloße „Wortlehre") in den Blick kommen.
genwartssprache und hielt sich sogar - das war unerhört - Meiner Schreibintention nach hatte nun die Lingui-
für literarische Strukturen offen. stik der Lüge auch den Zweck oder Nebenzweck, die
Recht schnell sprang die wissenschaftliche Entwicklung Leistungsfähigkeit dieser neukonzipierten Textlinguistik
jedoch schon eine Stufe weiter, und zwar jenseits des an einem Gegenstand zu erproben, der seinerzeit weit
Atlantiks zur „generativen Grammatik", in Mitteleuropa außerhalb der Reichweite sprachwissenschaftlicher Me-
zur „Textlinguistik" hin. In diesen historischen Zusam- thoden lag. Die Lüge galt bis dahin als ein Betätigungsfeld
menhang gehört auch der vorliegende Essay, der sich für für Philosophen und Psychologen, Moralisten und
Kenner als ein verstecktes Manifest der Textlinguistik Feuilletonisten. Für Linguisten war hier fast alles noch zu
(im Essay themabezogen „Textsemantik" genannt) zu entdecken. Dieses weitgesteckte Ziel war jedoch von ei-
erkennen gab. nem einzelnen Autor sicher nicht im ersten Anlauf zu er-
Damit ist zunächst gemeint, daß diese neue Linguistik reichen. Im Rückblick bemerke ich daher deutlich die
zu ihrer traditionellen Orientierung am „Wort" und „Satz" Grenzen, die mir als Fürsprecher der jungen Textlingui-
die größere Dimension „Text" hinzufügte, um der Sprach- stik damals gesetzt waren. So stört mich zum Beispiel
analyse ein weiteres Feld zu eröffnen. „Wort", das war der heute beim Wiederlesen meiner Schrift, daß in dieser
Grundbegriff der Bedeutungslehre (Semantik), „Satz" der prinzipiell textlinguistisch angelegten Betrachtung doch
Grundbegriff der Satzlehre (Syntax) gewesen, und die ge- noch vielfach das Wort „Satz" verwendet wird, wenn auch
nannte generative Grammatik schickte sich gerade an, den meistens nur in der (fast) unschuldigen Bedeutung als ein
„Satz" (sentence) für die gesamte Linguistik, einschließ- „Stück Text". Später, in meinen Textgrammatiken der
lich der Wort-Linguistik, in eine axiomatische Position französischen und der deutschen Sprache (1985/1993),
zu bringen, so daß anderes als direkt oder indirekt Satz- habe ich den hoffnungslos logiklastigen und auf die Ja/
förmiges in der Sprache genuin nicht mehr erkannt wer- Nein-Alternative fixierten Satzbegriff ganz verabschie-
den konnte. det, da er in einer konsequent textlinguistischen Analyse

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entbehrt werden kann. 53 Hätte ich also damals, im Jahre Heilung von diesen Krankheitsfolgen setzt voraus, daß
1966, schon mehr Mut zu meiner eigenen Methode ge- die Psyche zuerst von ihren Lügen geheilt wird, was nur
faßt, so wären manche meiner Betrachtungen zu lügenden geschehen kann, wenn der Prozeß im hellen Licht des
Wörtern und verlogenen Sätzen vielleicht etwas welthal- Bewußtseins wieder aufgerollt und bis zur vollen Wahr-
tiger ausgefallen. heit neu verhandelt wird. Es ist bezeichnend für die
Freudsche Psychoanalyse, daß sie für das Grundübel der
verdrängten Lüge kein anderes Heilmittel kennt als die
Scham-, Schand-, N o t - und Trostlügen Sprache, die im Modus des Erzählens das versteckte Übel
wieder einfängt und unter die Kontrolle des Bewußtseins
Daß gleichwohl zum Verständnis des Phänomens Lüge bringt. Dies ungefähr und noch einiges andere mehr hätte
die Grenzen auch der Textlinguistik noch überschritten in einem Freud-Kapitel meines Essays stehen können,
werden müssen, ist mir seinerzeit schon in den Kapiteln wenn ich seinerzeit schon mehr Zutrauen zu interdiszi-
zur Metaphorik, zur Ironie und zur (poetischen) Fiktion plinären Fragestellungen gehabt hätte. 56
klargeworden, wo ich reichlich auf literarische und allge- Freuds Denkanstöße betreffen jedoch nicht nur das
mein kulturelle Verstehensmuster, insbesondere solche private, sondern auch das öffentliche Bewußtsein, folglich
der Hermeneutik, zurückgegriffen habe. Aber auch mit auch die öffentliche und politische Lüge. Daß in der
einer Hermeneutik oder Poetik erreicht man bei der Lüge Politik viel gelogen wird, ist bekannt und hat in neueren
noch nicht alle Schichten, zumal wenn diese in der Tiefe Zeiten eher zu- als abgenommen. Doch nie hat sich die
der Seele verborgen liegen. So vermisse ich beispielsweise Lüge mit einer solchen Last auf ein ganzes Land gelegt
in meinem Essay eine tiefsinnige Beobachtung wie die wie in Deutschland unter der Diktatur Hitlers. Mehr als
von Nietzsche: „Das habe ich getan, sagt mein Gedächt- im Jahre 1965 zweifle ich heute daran, daß sich die Ver-
nis. Das kann ich nicht getan haben - sagt mein Stolz und derbnis des politischen Bewußtseins, die durch diese Lüge
bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Gedächtnis nach." 54 bewirkt worden ist, mit linguistischen Mitteln erschöp-
Aus dem Verdrängen entsteht hier jene süße Lüge, mit der fend beschreiben läßt. Die öffentliche Diskussion wurde
einem moralischen Über-Ich „stolz" vorgegaukelt wird, damals beherrscht von der Frage, ob die deutsche Sprache
es sei gar nichts geschehen, für das Rechenschaft abzule- Mitschande, vielleicht sogar Mitschuld trägt an den Ver-
gen oder Schuld abzutragen wäre. brechen, die später mit solchen Ausdrücken wie „Holo-
Sigmund Freud hat in seinen Schriften zur Psychoana- caust" und „Shoah", bezeichnet wurden. Im Banne dieser
lyse eindrucksvoll gezeigt, wie eine Lüge, zumal eine Diskussion habe ich vielleicht zu wenig auf Einzelstim-
„Lebenslüge" (Ibsen), 55 wenn sie ins Unbewußte abge- men, zumal aus der Literatur, gehört. Schon zur gleichen
drängt wird, dort heimlich-unheimlich ihre Tücke walten Zeit entstand ja das Oratorium Die Ermittlung, in dem
läßt, mit pathogenen Folgen für Leib und Seele. Eine Peter Weiss die Aussagen des ersten Auschwitz-Prozesses

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dramatisch verdichtet hat. Aus den Worten eines Zeugen können, müßte auch ausführlicher von der Höflichkeit
(nicht einmal eines Angeklagten!) dieses Prozesses hätte die Rede sein. Diese dürfte in ihrer alteuropäischen Ge-
ich nach Weiss die Ausdrücke des lügenhaften Vergessens stalt als courtoisie und politesse ohne Skrupel eine gesell-
zitieren können: „Ich habe keine Erinnerung" - „Davon schaftliche Tugend genannt werden, wenn nicht auch sie,
ist mir nichts bekannt" - „Da bin ich überfordert" - „Ich gerade sie, in ihrem Bestand an Konventionen und Ritua-
weiß es nicht, ich war ja nicht dabei". 57 Oder hat jener len der Lügenkunst einen breiten Platz eingeräumt hätte.
Zeuge vor Gericht vielleicht sogar eine individuelle In Schillers Drama Kabale und Liebe beginnt ein Dialog:
Wahrheit geprochen, weil in den zwanzig Jahren, die da- „Wenn ich Sie worin unterbreche, gnädige Frau ..." - „In
mals seit dem Völkermord an den europäischen Juden nichts, Herr Major, das mir wichtiger wäre". 59 Es sind
vergangen waren, sogar sein Gedächtnis der Lüge gefügig Todfeinde, der Major Ferdinand von Walter und Lady
geworden war? Milford, die mit diesen konventionell verlogenen Worten
Läßt es sich überhaupt im Leben vermeiden, aus ein Gespräch eröffnen, in dem es um die Wahrheit ihrer
Not, zum Schutz und zur Schonung zu lügen? Molières Beziehung geht. Unsere klassische Literatur lebt von sol-
Misanthrop verschmäht sie alle, diese mehr oder weniger chen und ähnlichen Formen höflich-höfischer Galanterie,
konventionellen Lügen, wie wir gewöhnlichen Menschen die, bei Licht besehen (aber bei welchem Licht?), ebenso
sie täglich in kleiner Münze an unsere Umwelt ausgeben, feinfingerige wie faustdicke Lügen sind. Doch gehören
um bald einer trivialen Notlage zu entkommen, bald uns oder gehörten sie seit Jahrhunderten so selbstverständlich
oder anderen einen vorübergehenden Schutz zu gewäh- zur schönen Scheinwelt des adeligen, bürgerlichen und
ren, bald schließlich einer unangenehmen Wahrheit mit diplomatischen Benehmens, daß sie nach solchen rand-
schonenden Worten aus dem Wege zu gehen. Aber jener scharfen Begriffen wie Wahrheit und Lüge gar nicht zu
so aufrichtig-ehrliche Misanthrop ist bei Molière ein bewerten sind. Hier hätten wir uns in früheren Zeiten
komischer Charakter, der vom Autor zum Verlachen frei- vielleicht noch mit der Rede von der „Lügnerin Gesell-
gegeben ist. Denn das wirkliche Leben in der Gesellschaft schaft" (Karl Kraus) behelfen können. 60 Aber in Jurek
ist nicht so beschaffen, daß jemand ohne ein bißchen Lug Beckers Roman Jakob der Lügner, der allerdings erst
und Trug „durch-"kommen könnte - die andern tun es ja 1969 erschienen ist, hätte das nicht mehr ausgereicht. 61 In
auch. N u r auf einer einsamen Insel - so die Schlußper- diesem tiefsinnigen Roman aus der Trostlosigkeit des
spektive der (tragischen?) Komödie Molières - kann der Warschauer Gettos ist der Jude Jakob der leichtsinnig-
Nie-Lügner seine „menschenfeindliche" Marotte ausle- verwegene Lügner, der für seine Gefährten täglich neue
ben. Und mit dieser Aussicht geht dann das Theaterpu- Rundfunknachrichten von der unmittelbar bevorstehen-
blikum zum Souper.58 den Befreiung erfindet und auf diese Weise in ihnen, bis
In diesem Zusammenhang, dem ich in meinem Essay zum bitteren Ende der Illusion, eine kleine Pflanze der
ebenfalls mehr als eine kurze Bemerkung hätte widmen Hoffnung sprießen läßt. Die Zahl der Selbstmorde im

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Getto geht für einige Zeit zurück, die Zahl der Morde am
Ende nicht.
Wer lügt eigentlich in diesem „Roman", wenn Jakob
der Lügner lügt? Anmerkungen

1 Enchiridion ad Laurentium, Kap. XXII; vgl. Lindworsky, in:


Die Lüge, Leipzig 1927, S. 56.
2 Thomas, Summa theologica II, 2, qu. 110, art. 3 (nach Lind-
worsky, a.a.O.) und Bonaventura, 3 sent. dist. 38 art. un. qu. 2,
ratio 4 (nach Keseling, in: Augustinus, Die Lüge, 1953,
S. XXXVII).
3 Dionysius Cato. Disticha Catonis IV, 20, hrsg. von M. Boas,
Amsterdam 1952. Voltaire: Le Chapon et la Poularde, in: Dia-
logues et anecdotes philosophiques, Classiques Garnier S. 116. -
Talleyrand: Memoires de Barere, 1842, zitiert nach Büchmann,
Geflügelte Worte, 1950, S. 281.
4 Schwierigkeiten, heute die Wahrheit zu schreiben, hrsg. von
Heinz Friedrich, München 1964, S. 84.
5 Shakespeare, Heinrich V., Akt V, Szene 2.
6 Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre V, 16. - Hinweis bei Leo
Spitzer, Essays in Historical Semantics, 1948, S. 142.
7 Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 1921, 4.002.
8 Die Lüge in psychologischer, philosophischer, juristischer,
pädagogischer, historischer, soziologischer, sprach- und lite-
raturwissenschaftlicher und entwicklungsgeschichtlicher Be-
trachtung, hrsg. von Otto Lipmann und Paul Plaut, Leipzig
1927.
9 Augustin: De mendacio, Kap. IV.
10 Mallarme: Avant-dire au Traite du Verbe de R. Ghil, 1885;
Œuvres completes, Pleiade-Ausgabe, S. 857.)
11 Valery: Cahier 11, S. 261 - ähnlich: Cahier V, S. 825. Zu
Valerys Semantik: Jürgen Schmidt-Radefeldt, Semantik und
Sprachtheorie in den Cahiers von Paul Valery, Diss. Kiel
(Masch.- Druck) 1965.
12 Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen I, Nr. 43; New
York 1953, S. 20.
13 Darauf hat in anderem Zusammenhang Peter Hartmann hin-
gewiesen. Man vergleiche sein Buch: Zur Theorie der Sprach-
wissenschaft, Assen 1961, S. 16 ff.

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14 Voltaire, Dictionnaire philosophique, s.v. Langues, section III. einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960, besonders
- Nathalie Sarraute: Portrait d'un inconnu, 1956, Ed. 10/18, S. 344 ff.
S. 66.) 30 Augustin, Contra mendacium, Kap. IV.
15 Cato: Ed. Jordan, S. 80, Frgm. 15. 31 Der Nationalsozialismus. Dokumente 1933-1945, hrsg. von
16 Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen W. Hofer, Fischer-Bücherei, Frankfurt 1957, S. 207 und 204.
Sinne, Gesammelte Werke, Musarion-Ausgabe, Bd. VI, S. 79. 32 Kierkegaard, Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rück-
17 Condillac: La langue des calculs, Objet de cet Ouvrage, sicht auf Sokrates (1841), Düsseldorf 1961. Vgl. besonders die
Œuvres philosophiques, Bd. II, Paris 1948, S. 420. Einleitung und die 10. These.
18 Man kann sich darüber beispielsweise orientieren bei Carl 33 Kayser, Das sprachliche Kunstwerk, 51959, S. Ulf.
G. Hempel, Fundamentals of Concept Formation in Empirical 34 Paulhan, La morale de l'ironie, Paris 31925, S. 146.
Science (International Encyclopedia of Unified Science, Vol. II, 35 Proudhon, Les confessions d'un revolutionnaire (1849). Œuvres
7) Chicago 1952. Ferner: Torgny T. Segerstedt, Some Notes on completes, Bd. VIII, 21929, S. 341 f.
Definitions in Empirical Science (Uppsala Universitets Ars- 36 Ich folge hier einem Vorschlag von Wilhelm Büchner, Über
skrift 1957:2) Uppsala 1957. den Begriff der Eironeia, Hermes 76 (1941), S. 339-358.
19 Spengler, Der Untergang des Abendlandes, Bd. II, 1922, 37 Aristoteles, Nikomachische Ethik IV, 13.
S. 172. 38 Friedrich Schlegel, Lyceumsfragment 42, in: Kritische Schriften,
20 Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit hrsg. von W. Rasch, München o.J., S. 10.
(Versuche 21). Frankfurt 1949, S. 94. 39 Cicero, De oratore II, 269.
21 Schwierigkeiten, heute die Wahrheit zu schreiben, hrsg. von 40 Musil, Aus einem Rapial und andere Aphorismen; in: Tage-
Heinz Friedrich, München 1964, S. 35. bücher, Aphorismen, Essays und Reden, Hamburg 1955, S. 558.
22 Ebd., S. 41. 41 Kierkegaard erinnert daran, daß der Sokrates des Xenophon
23 Rosenstock-Huessy, Die Sprache des Menschengeschlechtes, nicht ironisch ist (a. a. O., S. 24).
Bd. II, Heidelberg 1964, S. 116. 42 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1952, S. 1603.
24 Daran kranken die heillos verallgemeinerten Thesen zur Ent- 43 Cocteau: Nouveau Theâtre de poche, Monaco 1960, S. 111.
menschlichung der deutschen Sprache von George Steiner, 44 Corneille: Le Menteur IV, 5.
John McCormick und Hans Habe, über die im Jahrgang 1963 45 Die Konstruktion des Lügendetektors beruht auf der - an-
der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter berichtet und scheinend begründeten - Annahme, daß eine Lüge immer von
diskutiert wird. Man konsultiert jedoch mit Gewinn: Victor Lügensignalen begleitet ist. Sie gehen bei der literarischen Lüge
Klemperer, LTI - Notizbuch eines Philologen, Berlin 21949. nach außen, bei der moralischen Lüge jedoch nach innen, in die
Ferner: D. Sternberger/G. Storz/W. E. Süskind, Aus dem physiologischen Bahnen des Körpers. Dort kann man sie mit
Wörterbuch des Unmenschen, Hamburg 1957 (dtv 1962). empfindlichen Instrumenten aufspüren. Wieweit dieses Ver-
25 Augustin, De mendacio, Kap. III. fahren zuverlässig und selber moralisch zu rechtfertigen ist,
26 Ich bespreche diese Fragen näher in den Aufsätzen Münze und bleibt eine andere Frage.
Wort. Untersuchungen an einem Bildfeld; in: Romanica, Fest- 46 Lukian, Sämtliche Werke, hrsg. von Hanns Floerke, München
schrift für Gerhard Rohlfs, Halle 1958, S. 508-521; und Se- 1911, Bd. I, S. 164.
mantik der kühnen Metapher, Deutsche Vierteljahrsschrift 37 47 Vgl. dazu Alexander Rüstow, Der Lügner, Leipzig 1910.
(1963)325-344. 48 Es gibt zu diesem Motiv seit der Antike eine ernsthafte, zeit-
27 Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 1952, S. 306f. kritische Variante. Vgl. Ernst Robert Curtius, Europäische Li-
28 Näheres dazu in meinem Buch Tempus - Besprochene und er- teratur und lateinisches Mittelalter 21954, S. 104 ff.
zählte Welt (Sprache und Literatur 16), Stuttgart 1964. 49 Es gibt seit kurzem zwei schöne Anthologien der Lügen-
29 Gadamer, Was ist Wahrheit? Zeitwende 28 (1957) 226-237. dichtung: Lug und Trug - Die schönsten Lügengeschichten der
Vgl. auch Gadamers Buch Wahrheit und Methode; Grundzüge Weltliteratur, hrsg. von Walter Widmer, Köln 1963; - Reisen

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nach Nirgendwo. Ein geographisches Lügengarn aus vielerlei
fremden Fäden zusammengesponnen von Jürgen Dahl, Düs-
seldorf 1965.
50 Aus dem Herder-Nachlaß, abgedruckt bei W. Kayser, Die
Wahrheit der Dichter, Hamburg, rde, 1959, S. 83.
51 Nietzsche, Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sin-
ne, Gesammelte Werke, Musarion-Ausgabe, Bd. VI, S. 98.
52 Brecht, Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit,
Frankfurt 1949, S. 89.
53 Meine Auffassungen von der Linguistik finden sich vornehm-
lich in meinem Buch „Sprache in Texten" (Stuttgart 1976)
sowie in meinen Grammatiken, der „Textgrammatik der fran-
zösischen Sprache" (Stuttgart 1982; französische Version:
„Grammaire textuelle du français", Paris: Didier 1989) und der
„Textgrammatik der deutschen Sprache" (Mannheim 1993).
54 Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Nr. 68, Sämt-
liche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und
M. Montinari, Berlin 1980, Bd. 5, S. 86.
55 Henrik Ibsen: Die Wildente, 5. Akt.
56 Näheres zu Freud aus dieser Perspektive in meinem Buch
„Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens", München 3. Aufl.
2000, S. 160-168.
57 Peter Weiss: Die Ermittlung. Oratorium in 11 Gesängen,
Frankfurt 1991 (edition suhrkamp 616), S. 102 und besonders
S. 125-128.
58 Moliere: Le Misanthrope (1666), deutsch: Der Menschenfeind,
Werke, Wiesbaden 1954, S. 487-547.
59 Schiller: Kabale und Liebe (1784), II 3.
60 Karl Kraus: Literatur und Lüge (1958), Taschenbuchausgabe
München: dtv 1962, S. 11.
61 Jurek Becker: Jakob der Lügner (1969), Taschenbuchausgabe
Frankfurt 1982 (suhrkamp taschenbuch 774).

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