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1. Zeitschichten
1 Vgl. dazu auch die Beiträge von Patrizia C a r m a s s i und Jörg B ö l l i n g in diesem Band.
2 Vgl. O h l y , Friedrich: Die Kathedrale als Zeitenraum. Zum Dom von Siena, in: Frühmittel
alterliche Studien 6 (1972), S. 94-158, hier S. 153.
3 Vgl. zum Folgenden RATHMANN-LuTz, Anja: Tim e and Space in the comuetudines of
12,h Century Marbach (Alsace) (in Vorbereitung); S p i e g e l , Gabrielle: Memory and His-
tory: Liturgical T im e and Historical Tim e, in: History and Theory 41 (2002), S. 149-162;
B o y n t o n , Susan Leslie: Shaping a M onastic Identity. Liturgy & History at the Imperial
Abbey o fF arfa, 1000-1125, Ithaca/N.Y. 2006; F a s s l e r , M argot E.: The Liturgical Frame
zeitig präsent sein und gem acht werden bzw. abwechselnd aufbrechen und unter
schiedliche Geschwindigkeiten haben. Erstens wird über die liturgischen Rituale
und die memoria die Passion Christi im L au f des Kirchenjahres dauernd aktualisiert,
repräsentiert und vergegenwärtigt. Diese Ebene einer ,heiligen Z eit‘ ist biblisch
und heilsgeschichtliche fundiert, was zum Beispiel in der Osterliturgie besonders
deutlich wird. D ie Einbindung der Geschichte der eigenen Institution über G rü n
dungsheilige und Anniversarfeiern in die Liturgie, die Nekrologe und K losterge
bäude erm öglicht zweitens die Bildung von (G ruppen-)Identitäten und kann als
,historische Zeit‘ der eigenen nahen oder fernen Vergangenheit wahrgenom men
w erden.4 D rittens sind es die liturgischen H andlungen selbst, insbesondere die
liturgischen G esänge5, die Zeit erfordern. D urch diese entsteht eine spezifische
,liturgische Z eit‘ bzw. in A nalogie für den H o f die ,zeremonielle Z eit‘. D a das
Verhältnis zwischen erforderlicher (Ritual-)Zeit beispielsweise für die Bußpsalmen
und der dafür verwendeten Q iellenbegrifflichkeit so disparat ist6 und auch letzt
lich unklar bleibt, wie viel Zeit in der M essfeier für bestim m te Abschnitte tatsäch
lich aufgewandt •wurde7, kann nur schwer bestim m t werden, wie diese Zeiträume
mit dem Zeitem pfinden der Beteiligten interferierten. Dennoch soll diese Zeit
hier viertens als Schicht der kom m unikativen Z eit‘ eingeführt werden. Sie ist von
jedem einzelnen intellektuell, mental, visuell und physisch erfahr- und gestaltbar
und kann - subjektiv oder objektiv - m essbar sein. D ie ,kommunikative Zeit‘ ist
au f die verschiedenen Individuen bezogen, die an der Konstruktion von Zeit in
einem M om ent beteiligt sind. A u f der Textebene ist sie in den Q iellen u. a. in
Kommunikationssituationen und der Beschreibung der Bewegungen von Körpern
im R aum sichtbar. ,G e-heiligte (sakralisierte) Zeit‘ schließlich korrespondiert
fünftens mit dem K onzept von ,geheiligtem R au m ‘ - beide existieren nur in klar
work o fT im e and the Representation ofH istory, in: Representing History, 900-1300. Art,
Music, History, University Park 2010, hg. v. Robert A. MAXWELL, S. 149-186; D i e s .: Rep-
resentations ofT im e in „Ordo representacionis A de“, in: Yale French Studies Special Issue:
Contexts: Style and Values in Medieval Art and Literature (1991), S. 97-113. Zu den raum
zeitlichen Grundlagen der Liturgie vgl. S t e c k n e r , Cornelius: Archäologie der chronolo
gischen und topographischen Orientierung in Architektur und Liturgie, in: Architektur und
Liturgie. Akten des Kolloquiums vom 25. bis 27. Juli 2003 in Greifswald, hg. v. Michael
A LTRIPP/Claudia N a u e r t h , Wiesbaden 2006, S. 25-34.
4 Vgl. V a n c e , Eugene: Roland and the Poetics ofM em ory, in: Textual Strategies. Perspectives
in Post-Structuralist Criticism, hg. v.Josue V. HARARi, Ithaca/N.Y. 1979, S. 374-403, für die
temporalen Effekte des Memorierens im Epos.
5 C h o a t e , Tova Ann Leigh: T ie Liturgical Faces o f Saint Denis: Music, Power, and Identity
in Medieval France, Diss. Yale University 2009, passim, hier S. 1.
6 Einern kurzen Wort im Text stehen - wie z. B. bei den Bußpsalmen - unter Umständen
lange Zeiträume in der Durchführung gegenüber.
7 Vgl. dazu auch den Beitrag von Jörg B ö l l i n g in diesem Band.
abgegrenzten Formationen, beispielsweise während bestim m ter H andlungen in
der M esse oder a u f einer Prozession. Sie werden wieder und wieder an bestim m
ten Orten zu bestim m ten Zeiten inszeniert und lösen sich danach wieder auf.8
Über, unter und zwischen all diesen Zeitschichten und W ahrnehmungsangeboten
liegt eine weitere Schicht: die eschatologische und dam it die ,N ich t-Z eit‘ der
göttlichen Ew igkeit, die als Versprechen und Verheißung den m onastischen wie
den höfischen A lltag durchzieht.9
W ie sich an den B eispielen aus St.-D en is zeigen wird, sind die einzelnen
Schichten eng m iteinander verflochten und letztlich nur analytisch zu trennen.
D a Z eit von M aterialität nicht zu trennen ist, sind immer auch Räum e und Objekte
mitzudenken, wenn von Zeitlichkeit die Rede ist. Gerade bei der Liturgie ist das
wohl am Besten zu zeigen: Liturgie findet im Kirchen- und Stadtraum statt (man
denke besonders an die Stationsliturgien), schafft liturgische Räume kurzer oder
längerer D auer und benutzt Objekte (Reliquien, Altarschmuck, liturgisches Gerät,
Textilien), deren eigene Z eitlichkeit sich in die R ituale einschreibt. D as A lter
bestim m ter Reliquien wirkt a u f die Liturgie zurück und die B edeutung eines
bestimm ten O bjektes als ein von X zum Zeitpunkt Y geschenktes oder gestiftetes
Objekt, wie z. B. die Vase der Alienor von Aquitanien, die Ludw ig VII. an St.-Denis
stiftete,10 ruft distinkte ,historische Zeiten hervor - nämlich die ferne (und fremde)
Entstehungszeit des ursprünglichen O bjekts, die nähere Vergangenheit der Ver
m ählung A lienors und L ud w igs, zu der die Ü bergabe an L u d w ig erfolgte, und
schließlich die unmittelbare Vergangenheit des Zeitpunkts der Stiftung an St.-
Denis.
A ll diese D im ensionen von geschichteter Z eit sind für das Kloster St.-D enis, die
altehrwürdige Benediktinerabtei im N orden von Paris, anzunehmen, doch es kom
men noch ein paar temporale Spezifika dazu: So konnte ihr Status einer großen
Pilgerkirche den ,norm alen‘ A b lau f des klösterlichen A lltags durchbrechen und
empfindlich stören. D azu trat als weiteres Charakteristikum die enge Beziehung
8 Zu den Konzepten von geheiligter Zeit aus religionswissenschaf t licher Sicht vgl. S c h w a r t z ,
Hillel: Art. Sacred Time, in: Encyclopedia o f Religion 12, Detroit 22005, S. 7986-7997.
9 Vgl. dazu auch den Beitrag von Patrizia C a r m a s s i in diesem Band.
10 Paris, musee du Louvre, MR340, http://www.photo.rmn.fr/archive/90-005517-02-
2C6NUOHH6Y_ V.html [I 1.4.2016].
der Abtei zum kapetingischen Königtum und die Am bition, caput regni zu sein.11
U nd nicht zuletzt waren es die um fangreichen Baum aßnahm en, die A bt Suger
seit den 1130er-Jahren durchführen ließ (und die eine ebenso umfangreiche (Qyel-
lenproduktion nach sich gezogen haben), die Einfluss au f die Zeitordnungen in
S t.-D e n is nahmen. M it diesen Brüchen im idealen m onastischen Zeitgefüge ist
also zu rechnen, auch wenn A bt Suger von Bernhard von Clairvaux dafür gelobt
wurde, dass er die klösterliche Ordnung - also u. a. die regelmäßigen G ebetsstun
den und eine geregelte Liturgie - in St.-D en is w iederhergestellt habe.12 D och
fanden wegen der Baum aßnahm en bis in die 1230er-Jahre hinein deutlich we
niger Prozessionen in die Kapellen statt als danach und hier wie auch in anderen
N eubauten bürgerte es sich ein, dass vor der Evangelienlesung eine zusätzliche
Antiphon gesungen wurde, die nötig geworden war, um „die Zeit, die der Diakon
zusätzlich brauchte, um vom A ltar zur Kanzel zu kom m en“ 13, auszufüllen. D iese
,Störung‘, die als ein Ineinanderfallen der durch Bew egung im Raum hergestell
ten kom m unikativen Zeit‘ einzelner Akteure mit der ,liturgischen Zeit‘ des Ritus
gesehen werden kann, wurde jedoch sogleich in die Liturgie integriert und somit
nicht (mehr) als Störung w ahrgenom m en.14
Komm en neue H eiligenfeste oder Anniversarfeiern zum Jahreszyklus hinzu,
verdichten sich die Berührungspunkte zwischen den verschiedenen Schichten au f
diese Weise erneut: So wird unter A bt A dam ein neues Offizium für die Anniver
sarfeier Dagoberts am 19. Januar eingeführt und dam it die zyklisch geprägte li
turgische Zeitebene mit dem konkreten historischen Bezug au f die merowingische
V ergangenheit und dem Verweis au f die aktuelle enge Verbundenheit zu den
11 p i e g e l , Gabrielle M .: The Cult of St Denis and Capetian Kingship, in: Saints and their
S
Cults, hg. v. Stephen W 1 LSON, Cambridge 1983, S. 141-168; G e r s o n , Paula Lieber (Hg.):
Abbot Suger and Saint-Denis. A Symposium, New York 1986; G r o s s e , Rolf: Saint-Denis
zwischen Adel und König. Die Zeit vor Suger (1053-1122), Stuttgart 2002; D e r s . (Hg.):
Suger en question. Regards croises sur Saint-Denis, München 2004.
12 FüHRERjulian: Suger et Bernard de Clairvaux, in: Suger en question, hg. G r o s s e , 2004 (wie
Anm. 11), S. 81-93. Vgl. auch zum Folgenden D e r s .: König Ludw ig VI. von Frankreich und
die Kanonikerreform, Frankfurt a. M. 2008.
13 R o b e r t s o n , Anne Walters: Die Rekonstruktion der königlichen Abtei von Saint-Denis:
musikalische, rituelle und politische Aspekte, in: Musica. Geistliche und weltliche Musik
des Mittelalters, hg. v. Vera MiNAZZi/Cesarino R u i n i , Freiburg 2011, S. 224-227. Vgl. zur
Liturgie in St.-Denis D i e s .: Tue Service-Books o f the Royal Abbey of Saint Denis, Oxford
1991.
14 Auch für die Bautätigkeit selbst muss eine eigene Zeitlichkeit angenommen werden (z. B.
die Dauer von Planung und Ausführung sowie Lieferung von Material, Verzögerungen im
geplanten Bauablauf), die sich mit dem klösterlichen Alltag überschnitt und ihn potentiell
störte. Suger selbst kommt in De consecratione 35 (wie Anm. 27), S. 216, im Rahmen eines
Wunderberichts darauf zu sprechen (,,[ ...] pro operis longa dilatione grauaremur“).
N achkom m en der W ohltäter der A btei verwoben.15 D iese bewusste Konstruktion
bestimmter Vergangenheiten via memoria lässt sich neben der Liturgie auch an den
Stiftungen und der Urkundenproduktion zeigen, wie Julian Führer nicht nur für
St.-D enis, sondern auch für weitere Pariser Gem einschaften nachgewiesen h at.16
Dies gilt ebenso für die Vergangenheitskonstruktionen des H o fes.17 D as bedeutet
für den A b lau f von Zeit, dass einzelne Ereignisse aus einer linearen L o g ik in die
rituelle Präsentifizierung überführt werden und dam it in eine L o g ik der W ieder
holbarkeit.
15 Vgl. C h o a t e , Liturgical Faces of Saint Denis, 2009 (wie Anm. 5), S. 94; B a r r o u x , Robert:
L’anniversaire de la mort de Dagobert a Saint-Denis au X lle siede: Charte inedite de l'abbe
Adam, in: Bulletin philologique et historique du comite des travaux historiques et scienti-
fiques 1942-43 (1945), S. 131-151.
16 F ü h r e r , Julian: Le souvenir des rois de France dans les chapitres parisiens, in: Memoria:
Kultur - Stadt - Museum/Memoire: Culture - ville - musee, hg. v. Andreas S o h n , Bochum
2006, S. 81-91.
17 Vgl. S p i e g e l , Gabrielle M .: T ie past as text. T ie theory and practice o f medieval historiog-
raphy, Baltimore 1997; D i e s .: Memory and History: Liturgical Tim e and Historical Time,
in: History and T ieory 41 (2002), S. 149-162.
Gerade die in den monastischen ^^ellen stark betonte historische Kontinuität ist aus der
dynastischen Geschichtsschreibung und dem genealogischen Strukturprinzip der Litera
tur nicht wegzudenken. Vgl. u. v. a. B l o c h , R. Howard: Etymologies and Genealogies: a
Literary Anthropology of the French Middle Ages, Chicago 1983; S p i e g e l , Gabrielle M.:
Genealogy. Form and Function in Medieval Historical Narrative, in: History and Theory
22 (1983), S. 43-53; H e c k , Kilian/JAHN, Bernhard (Hg.): Genealogie als Denkform in
Mittelalter und Früher Neuzeit, Tübingen 2000; F ü h r e r , Julian: Gegenwart der Vorgän
ger und genealogisches Bewusstsein bei den Kapetingern (987-1223), in: Genealogisches
Bewusstsein als Legitimation. Inter- und intragenerationelle Auseinandersetzungen sowie
die Bedeutung von Verwandtschaft bei Amtswechseln, hg. v. Hartwin BRANDT/Katrin KöH-
LERIUlrike S i e w e r t , Bamberg 2010, S. 145-166; W o r m , Andrea: Arbor autem humanum
genus signijicat. Trees of Genealogy and Sacred History in the Twelfth Century, in: Tue Tree.
Symbol, Allegory, and Mnemonic Device in Medieval Art and Tiought, Turnhout 2014,
S. 35-67; A n d e n n a , Cristina/MELVILLE, Gert (Hg.): Idoneität - Genealogie - Legitim a
tion, Begründung und Akzeptanz von dynastischer Herrschaft im Mittelalter, Wien 2015.
steigern.18 ln ihm bot sich die perfekte Figur, um verschiedene Zeitschichten und
-erfordernisse zu verbinden: Apostolische und frühchristliche Ursprünge, philoso
phisch-theologische A utorität und D ignität und merowingische Gründungsväter
sowie die Anciennität der Institution fanden sich in der spätestens m it A bt H il-
duin im 9. Jahrhundert konsolidierten Überblendung der verschiedenen ,histori-
schen‘ D ionysius-Figuren, die in den Jahrhunderten danach einerseits liturgisch
und historiographisch gefestigt (und teilweise zum E rzbisch of überhöht), ande
rerseits auch immer wieder bestritten wurde.19 D ie kapetingischen Könige wiede
rum - und andere Große im Reich - konnten sich m it ihren eigenen Geschichten
und Interessen an diese zeitlich überblendete F igur Dionysius anbinden und damit
an ihrer multiplen Tem poralität partizipieren, woran wiederum auch das Kloster
bzw. Suger großes Interesse hatte.20 D as Interesse an Dionysius als Patron des K ö
nigreichs lässt sich bereits früh in der gem einsam en Geschichte von A btei und
Königtum feststellen: S o hatte schon Ludw ig der From m e an St.-D enis bzw. A bt
H ilduin den A uftrag gegeben, in „armario Parisiacae ecclesiae“ alles zu sam meln,
was über den H eiligen zu erfahren wäre.21 A uch zeit-räum lich war D ionysius in
Paris eingeschrieben: D ie drei ersten Kirchen in Paris, die D ionysius geweiht ha
ben soll (N otre-D am e-des-C ham ps, Saint-E tienn e-des-G res und Saint-Benoit),
der O rt des Prozesses vor Sisinnius (Saint-D enis-du-P as hinter Notre D am e), das
Gefängnis des Glaucinus, wo ihm Christus erschienen sein soll (Saint-D enis-de-
la-C hätre, im Nordwesten der Kathedrale) und der O rt des M artyriums (Kapelle
des M artyriums und Saint-Pierre-de-M ontm artre) bilden die loca sancta von Paris.
M it diesen Orten sind neben dem O rt der Grabstätte selbst, also der Abteikirche
von St.-D enis, die frühchristlichen Zeitschichten sowohl physisch als auch litur
gisch in ganz Paris präsent, m it St.-D enis verbunden und werden durch regelmä
ßige Prozessionen aktualisiert.
18 D ie Feier der Detectio Sanctorum Dionysii, Rustici, et Eleutherii war bereits 1053 von den
Mönchen eingefiihrt worden. Kurz danach wurden neue liturgische Handschriften geschaf
fen bzw. angeschafft (Missale BnF, M s. lat. 9436; Hymnar BnF, M s. lat. 103) und das erste
Kartular angelegt, das die Exemptionsansprüche stärken sollte. Vgl. C l a r k , W illiam W./
W a l d m a n , Thomas G.: Money, Stone, Liturgy, and Planning at the Royal Abbey of
Saint-Denis, in: N ™ Approaches to Medieval Architecture, Farnham 2011, hg. v. Robert
Odell B oR ^W illiam W. C l a r KIAbby M c G e h e e , S. 63-75, hier S. 64.
19 C h o a t e , Liturgical Faces o f Saint Denis, 2009 (wie Anm. 5), Kap. 1. Zur Erzbischof-Le
gende vgl. Wa l ™ a n , Thomas G.: Sigil/um sancti dionysii archiepiscopi: L a fabrication d'une
legende, in: Bibliotheque de l’Ecole des Chartes 164 (2006), S. 349-370. Überblendet wur
den Dionysius Areopagita, Bf. v. Athen, der Apostel Galliens, Bf. v. Paris, und Pseudo-Dio
nysius. Im 12. Jahrhundert kam dazu die Darstellung Dionysius’ als Erzbischof hinzu.
20 Vgl. C h o a t e , Liturgical Faces o f Saint Denis, 2009 (wie Anm. 5), S. 18, dort Verweis auf
B o y n t o n , Shaping a Monastic Identity, 2006 (wie Anm. 3), S. 3.
21 C h o a t e , Liturgical Faces o f Saint Denis, 2009 (wie Anm. 5), S. 45.
Für A baelard war gerade die Vermischung der Zeitebenen, in denen m an die
verschiedenen D ionysius-Figuren ansiedeln konnte, zum Problem geworden, das
durch die Entscheidung für eine ,historisch richtige“ A utorität lösbar war.22 Den
spirituellen, liturgischen und auch politischen Bedürfnissen der A btei kam dies
jedoch nicht entgegen - im Gegenteil: D ie ,Geschichtlichkeit‘ oder ,Gewordenheit‘
der eigenen Liturgie sollte gerade nicht in den Vordergrund gerückt werden, auch
wenn man sich ihrer durchaus bewusst war.23 W ie in der Forschung zu Suger schon
vielfach ausgeführt wurde, gin g es ihm vielmehr darum, seine Handlungen in ein
- nicht unbedingt sequentieU gedachtes - Kontinuum einzuschreiben.
D er N eubau und die dam it verbundenen A ktionen - wie die Verbringung
zahlreicher Reliquien, die zuvor in der Kapelle H ilduins in der Krypta waren, in
neue A ltäre24 —sollte in Einklang sowohl m it den Traditionen der eigenen Insti
tution als auch m it der spätantiken wie zeitgenössischen Exegese stehen.25 E r kann
als gebaute H istoriographie, als Neuordnung der Geschichte und als Um setzung
dieser zeitlichen Uberblendungsstrategie gesehen werden. Hierdurch wurden ei
nerseits Identifikations- und Legitim ationsangebote an den H o f gem acht und
andererseits die Ehrw ürdigkeit und Einflussm öglichkeiten der Abtei gestärkt.
Suger ließ dementsprechend bewusst - stilistische - Anachronismen und merowin-
gische Spolien einplanen, wie die Säulen im C h oru m gan g oder nachgem achte
Kapitelle in den neuen ,gotischen‘ Chor bzw. die A psis. A u f diese W eise wurden
die Zeitschichten und ihre Gleichzeitigkeit auch in der Architektur sichtbar sowie
26 Vgl. dazu und zum Folgenden C l a r k , William W.: ,,Tie Recollection o f the Past is the
Promise o f the Future.“ Continuiry and Contextuality: Saint-Denis, Merovingians, Cape-
tians, and Paris, in: Artistic Integration, hg. ^ c u i n / B r u s h / D r a p e r , 1995 (wie Anm. 25), S.
92-113; D e r s .: Defining National Historical Memory in Parisian Architecture (1130-1160),
in: Gregoire de Tours et l'espace gaulois, hg. v. Nancy G a u t h i e r , Tours 1997, S. 341-358;
D e r s . / F r a n k , Jacqueline A.: Abbot Suger and the Temple in Jerusalem: a New Interpreta
tion o f the Sacred Environment in the Royal Abbey o f Saint-Denis, in: The Built Surface
I. Architecture and the Pictorial Arts from Antiquity to the Enlightenment, hg. v. Christy
ANDERSON/Karen K o e h l e r , Aldershot 2002, S. 109-129; D e r s .: Context, Continuity, and
the Creation ofN ational M emory in Paris, 1130-1160: A Critical Commentary, in: Gesta
(2006), S. 161-175; D e r s ./ W a l d m a n , Money, Stone, Liturgy, 2011 (wie Anm. 18).
27 Liturgische Kollisionen im Kirchenraum, 2002 (wie Anm. 25), S. 208 f. (dort auch
J a c o b sen ,
das Zitat), Abb. 8 u. 13; Andrang der Pilger: SucER, Ordinatio 36 f., in: D e r s .: Ausgewählte
Schriften, hg. v. Andreas SPEER/Günther B i n d i n g , Darm stadt 2000, S. 173-197, hier. S.
190/192; De consecratione, 10-13, in: Ebd., S. 199-251, hier S. 206/208, De administratione,
II,164, in: Ebd., S. 253-371, hier S. 316/318.
Die Schriften Sugers werden hier nach der Ausgabe von S p e e r zitiert, die Ausgabe von
G a s p a r r i (wie Anm. 30) wurde zum Vergleich herangezogen.
28 Dazu C l a r k / F r a n k , Abbot Suger and the Temple, 2002 (wie Anm. 26), Zitat S. 110.
29 De administratione II,171 (wie Anm. 27), S. 322.
30 Vgl. die Einleitung von G a s p a r r i in S u g e r v o n S t . - D e n i s : CEuvres, hg. u. übers. v. Fran-
s;oise G a s p a r r j , Paris 22008, 2 Bde., Bd. 1, S. X V ff., XLIV. Zu den Rombezügen vgl. auch
So finden sich im N eubau alle Zeitebenen sichtbar ausgestellt und zueinander
arrangiert. D ies war bereits während der - ziemlich lange andauernden - Bauphase
erfahrbar, denn die Bautätigkeiten ließen die unterschiedlichen Zeitschichten der
Entstehung der Abteikirche und ihre beziehungsreichen A nspielungen für die
Offizien lesenden und M essen zelebrierenden M önche täglich sichtbar werden.
Doch nicht nur die Bauschichten legten die Zeitschichtungen der Liturgie und
Geschichte offen, sondern auch die Anlage der liturgischen Bücher: Ältere Stücke
wurden - wie Spolien - als Z usatz oder D oppelgesänge nach den aktuell verwen
deten Stücken in die M anuskripte eingetragen. A u f diese Weise blieben die älte
ren Schichten im Layout sichtbar und auch liturgisch brauchbar, waren aber zugleich
als jenseits der zeitgenössischen Praxis stehend m arkiert.31
D ie Zeitschichtungen, die au f diese Weise Architektur und Artefakten einge
schrieben waren, wurden von Suger in den W eihezeremonien ebenso wie in den
in der Folge dazu verfassten Texten, einer Urkunde von 1144, der ordinatio sowie
den Schriften de consecratione und de administratione, reflektiert und deutlich her
vorgehoben.32 S o konstruiert er in de consecratione einen weiten, mehrere Schichten
überspannenden Z eitrau m .33 D ieser um fasst die angebliche W eihe der ersten
Kirche durch Christus, und dehnt sich über den M erow inger D agobert bis hin
zum karolingischen Bau, dessen W eihe 775 jährlich am 24. Februar m em oriert
wurde, bis in die eigene Gegenwart. D er D agobertbau ist es, den Suger eigentlich
um - und neu bauen lässt, der aber - in Sugers Interpretation - alle Vorgängerbau
ten mit ihren ,historischen Zeiten“ in sich birgt. Im ,Zeitenraum ‘ des wachsenden
Neubaus sind jed och auch - durch typologische, sym bolische oder praktische
Verweise - ,heilige‘, ,liturgische“ und ,komm unikative‘ Z eitschichten enthalten.
Durch zwei U rkunden, die Suger zeitgleich für den K önig verfasste, nahm er
außerdem Bezug a u f die unmittelbare Vergangenheit und stellte die Weihe in eine
Reihe m it der Rückkehr der Krone Philipps I. nach St.-D enis und der Aufnahme
der Standarte des Vexin, der Oriflamme, durch den König am Hauptaltar. Diese
invented tradition, die 1120 und 1124 stattgefünden hatte, hatte gleichartige U r
kunden hervorgebracht, deren ,anachronistische‘ Urkundensprache als Zeitverweis
analog zu den Retrostilen am N eubau füngiert. E r konstruiert dort die „biblische
Vergangenheit als monastische Gegenw art“ und bindet som it auch die Schicht der
Vergleicht man die erwähnten Urkunden mit weiteren Texten, so zeigen sich neben
der Ineinanderschachtelung der Zeitdimensionen .Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft“ noch andere Formen, in denen über Zeitlichkeit verhandelt werden kann.
In unterschiedlichen Textformen nimmt St.-D enis Anteil an höfischen Z eit
regim es und -interessen und konstruiert diese mit: S o prägt die m onastische
Z eitlichkeit die hier entstehende H istoriograph ie und U rkundensprache (und
um gekehrt36) und beeinflusst dadurch ebenfalls die Vorstellungen einer spezifisch
.höfischen Z eit“. D am it ist nicht in erster Linie die teilweise liturgische Verwendung
von Sugers Vita Ludovici gem eint.37 Diese gehört vielmehr in den Bereich der
ineinandergeschobenen Zeitschichten, von denen oben die Rede war. Vielmehr
wird im Weiteren die Zuschreibung von unterschiedlichen ,temporalen ^ m litä te n “
N ur unter der L a st der M ärtyrer haben kirchliche W ürdenträger und der König
die gleiche Geschwindigkeit.
In Sugers Vita Ludovici grossi und dem Fragm ent De glorioso rege Ludovico
werden zahlreiche H andlungen Ludw igs VI. und seines Sohnes als erzwungene
Re-aktionen a u f politische oder militärische Verschiebungen in seiner U m gebung
gezeichnet. Sie geschehen grundsätzlich „plötzlich“, werden „in großer Eile oder
H ast“ durchgeführt und führen entsprechend zu Konfusion und Unordnung. Im
G egen satz zur stabilitas von St.-D enis geht all das auch immer mit viel Bewegung
einher, Briefe oder Worte reichen nicht - die schnelle körperliche Präsenz des
Königs ist gefragt, häufig begleitet von ebenso schnell zusammengerufenen Trup-
46 Andere Bereiche höfischen Lebens decken diese Texte allerdings kaum ab.
47 G u i l l a u m e d e S t . - D e n i s : Vita Sugerii, in: G a s p a r r i , Suger. CEuvres, Bd. 2 (wie Anm. 30),
S. 292-357, hier S. 299.
48 Dies geschieht aber durchaus auch, vgl. z. B. Ep. 4, in: G a s p a r r i , Suger. CEuvres, Bd. 2 (wie
Anm. 30), S. 19.
49 Ep. 5, ebd., S. 31.
50 Vgl. FüHRER,Julian: Suger et Bernard de Clairvaux, 2004 (wie Anm. 12).
Textproduktion wahrgenom men und konstruiert wurde. H ier sollen jedoch nicht
direkt die Kreuzzugsberichte untersucht, sondern ein kurzer Blick au f die tem po
ralen Q ualitäten der Herrschenden in der höfischen Literatur geworfen werden.51
W ährend die Chanson de Roland, die vom Spanienzug Karls des Großen und dem
H eldentod Rolands erzählt und deren Text sich am Beginn des 12.Jahrhunderts
konsolidierte, die Bew egung ihrer H elden w eitestgehend über die Textstruktur
abbildet und wenige direkte temporale Zuschreibungen aufweist52, finden sich im
um 1165 entstandenen roman Cliges des Chretien de Troyes, der von den A ben
teuern und der Brautschau des griechischen Kaisersohnes Alexander und seines
Sohnes Cliges handelt, die qualitativen temporalen Zuschreibungen wieder, die
auch der Befund aus der Vita Ludovici Grossi und dem sugerschen Fragm ent De
Glorioso Rege Ludovico aufweist: In militärischen und herrscherlichen Belangen
muss der K önig schnell handeln, der H eld eilen und zwar grundsätzlich „ohne
A ufschub“ .
So antwortet der Kaiser gleich zu Beginn au f das A nsinnen seines Sohnes an
den A rtu sh of zu ziehen, nach nur kurzem W iderstand „sanz plus atandre“53 posi
tiv und Alexander betont sogleich, dass „ne s'acordent pas bien ansanble, Repos et
los“54 N och in derselben N acht werden die Schiffe geladen, dam it man „au plus
tost qu'il pot“ losreisen kann, woraufhin alle zu den Schiffen eilen. D ie Beispiele
ließen sich insbesondere aus dem Bereich der Schlachtenbeschreibungen noch
w eiter fortsetzen. Sich ausruhen und Ruhm erw erben, das geht im höfischen
Kontext nicht zusam m en - ein deutlicher G egen satz zur m onastischen Kontem
plation, die dort ja gerade zum Ziel führt.
Gegenpole zu Schnelllebigkeit und rastloser Bewegung gibt es allerdings den
noch in der Literatur, im roman beispielsweise dehnen die langwierigen Liebeser-
51 M it dem keltisch-britischen Sagenkreis käme noch eine ganz neue (bzw. alte) Ebene von
Zeitlichkeit mit ins Spiel, die hier aber nicht berücksichtigt werden kann.
52 Die Entstehung wird auf das Ende des 11. und den Anfang des 12. Jahrhunderts datiert. Zu
möglichen mündlich überlieferten Vorgängern gibt es in der Forschung geteilte Meinungen.
Vgl. z. B. O h l y , Ernst Friedrich: Zu den Ursprüngen der Chanson de Roland, in: Mediaeva-
lia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag, hg. v. Ursula H e n n i g /
Herbert K o l b , München 1971, S. 135-153. Die romanistische und die germanistische For
schung hat sich intensiv mit Fragen von Zeit und Zeitlichkeit in der Chanson de Roland bzw.
im Rolandslied auseinandergesetzt: G r u n m a n n - G a u d e t , Minnette: The Representation of
Time in La Chanson de Roland, in: T ie Nature ofM edieval Narrative, hg. v. D e r s ., Lexing-
ton 1980, S. 77-97; R e i c h l i n , Susanne: Nach- oder Nebeneinander? Die Zeitlichkeit des
seriellen Erzählens im „Rolandslied“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissen
schaft und Geistesgeschichte 86 (2012), S. 166-205.
53 C h r e t i e n d e T r o y e s : Cliges, hg. v. Wendelin FoERSTER/übers. v. Ingrid K a s t e n , Berlin
2006, v . 1 2 2 .
54 Ebd., v . 157 f.
örterungen die Zeit. Ähnliches spiegelt sich in den Viten in den wohlüberlegten
Ratschlägen und Komm entaren Sugers, die ebenfalls den Effekt einer Beruhigung
und Verlangsam ung haben. Und auch die W ahrnehmung der Nacht als eine A rt
,geschützten Zeitraum s1 und dam it die A uffassung von deren Störung als beson
derem Frevel zieht sich durch Historiographie, Literatur und Briefe gleichermaßen:
In der N acht vollzieht sich besonders intensiver G ottesdienst, es geschehen W un
der, aber auch Verrat und hinterhältige A ngriffe.55 D ie dam it verbundene Störung
der Zeitordnung m acht die N acht dam it einerseits zu einem , Z e i t z i schenraum ‘,
in dem temporale Zuschreibungen verhandelbar sind, und andererseits zu einem
O rt, an dem die (soziale) O rdnung gestört wird und ins Wanken gerät.
V. Z u sa m m e n fa ssu n g
55 Vgl. Ebd., v . 1698-1718. D ie Nacht (bzw. die korrekte Durchführung der nächtlichen
Offizien) spielte auch bei den Reformen der monastischen Gemeinschaften eine wichtige
Rolle (z. B. bei der Reform der Kanoniker von Sainte-Genevieve). Vgl. F ü h r e r , König L ud
wig VI., 2008 (wie Anm. 12), S. 30. Besonders bedeutsam ist die Nacht in der Legende von
der Weihe der Abteikirche von St.-Denis durch Christus selbst. Vgl. G r o s s e , Saint-Denis
zwischen Adel und König, 2002 (wie Anm. 11), S. 147-151. Für die Nacht als Zeit des
Verrats, vgl. z. B. O t t o v o n F r e i s i n g : Die Taten Friedrichs oder richtiger Chronica, hg. v.
Franz-Josef ScHMALE /übers. v. Adolf S c h m i d t , Darmstadt 31986 (FSG A 17), S. 162, I, 20.
N eubau und institutionelles A lter gefestigte Kloster und die durch fehlenden
Nachwuchs und interne wie externe K äm pfe gefährdete M onarchie gegenüber.56
D er Zuschreibung von geordneter, gleichmäßiger Zeitlichkeit und Teilhabe an
himm lischer Kontinuität a u f der einen entspricht die hektische Bew egung und
Unm ittelbarkeit der H andlungen a u f der anderen Seite. D och liegen in dieser
Bew egung ja auch gerade die M öglichkeiten für erfolgreiche H errschaft, so dass
eine einfache moralische W ertung von ,guter‘ monastischer und ,schlechter‘ höfi
scher Zeit hier nicht angebracht ist. In der Person Sugers, die zwischen beiden
Zeitlichkeiten wandern kann, zeigen sich auch beider Potentiale.
This contribution analyzes the multiple overlapping layers o f time as they were
conceived in liturgical and performative acts as well as in architecture and precious
objects. lt investigates the practices, spaces, and material objects in such locales as
the Benedictine A bbey o fS t.-D e n is near Paris with its close connections to the
French court in the twelfth century. In addition, the article discusses the attri
bution o f specific “temporal qualities’’ to individuals or to the spheres o f both the
court and the monastery. Those qualities together with other virtues and moral
requirements contributed towards the installation and consolidation ofexistin g re-
lations o f power.