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VL: Sprache und Kultur des Nahen und

Mittleren Ostens

Modul: Der Nahe und Mittlere Osten in der


Gegenwart
11.6.2018
Prof. Dr. Stefan Weninger
Heutiges Thema:

SPRACHTOD -
SPRACHWECHSEL –
2
BEDROHTE SPRACHEN
Sprachtod

• Von Sprachtod spricht man, wenn …


– … eine Sprache nicht mehr benutzt wird,
– … eine Sprache keine kompetenten Sprecher mehr hat,
– ... die Nachfahren der Sprecher eine andere Sprache sprechen.

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• „Kompetenter Sprecher“
– muttersprachliche Kompetenz
– i.d.R. Erstsprache
– intuitives sprachliches Wissen (Grammatik, Wortschatz,
Idiomatik etc.)
– Muttersprachliche Kompetenz kann nur im Kindesalter erworben
werden.
– Nicht zu verwechseln mit Schulausbildung,
Fremdsprachenunterricht etc.; ein „kompetenter Sprecher“
könnte z.B. auch Analphabet sein

4
Sprachtod

• Von Sprachtod spricht man, wenn …


– … eine Sprache nicht mehr benutzt wird,
– … eine Sprache keine kompetenten Sprecher mehr hat,
– ... die Nachfahren der Sprecher eine andere Sprache sprechen.

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Sprachtod

• Von Sprachtod spricht man, wenn …


– … eine Sprache nicht mehr benutzt wird,
– … eine Sprache keine kompetenten Sprecher mehr hat,
– ... die Nachfahren der Sprecher eine andere Sprache sprechen.
• Sprachtod ist …
– ... zumeist nicht identisch mit dem Genozid einer
Sprechergemeinschaft
– ... analog dem Aussterben einer biologischen Spezies
– ... letztlich eine der Biologie entnommene Metapher

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Sprachtod

• Von Sprachtod spricht man, wenn …


– … eine Sprache nicht mehr benutzt wird.
– … eine Sprache keine kompetenten Sprecher mehr hat
– ... die Nachfahren der Sprecher eine andere Sprache sprechen
• Sprachtod ist …
– ... zumeist nicht identisch mit dem Genozid einer
Sprechergemeinschaft
– ... analog dem Aussterben einer biologischen Spezies
– ... letztlich eine der Biologie entnommene Metapher
– (Biodiversität und sprachliche Diversität von UNESCO
ausdrücklich in Zusammenhang gesetzt:
http://www.unesco.org/new/en/culture/themes/endangered-languages/biodiversity-and-
linguistic-diversity/)
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Sprachwechsel

• Von Sprachwechsel spricht man ...


– ... wenn eine Sprechergemeinschaft ihre angestammte,
traditionelle Sprache aufgibt, und statt dessen eine andere
Sprache benutzt.

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Sprachtod und Sprachwechsel

• Begriffe ‚Sprachtod‘ und ‚Sprachwechsel‘:


– Zwei Betrachtungsweisen des gleichen Phänomens
– Sprachtod: Betrachtung aus Sicht der langue
– Sprachwechsel: Betrachtung aus Sicht der Sprachbenutzer

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Einige Zahlen zur globalen Bedrohungssituation

• Aktuell weltweit etwa 6.000 Sprachen gesprochen


• 60-80% als ‚bedroht‘ eingeschätzt (Schätzung M. E. Krauss 2007)
• ‚bedrohte Sprache‘: In 100 Jahren vermutlich nicht mehr von der
Kindergeneration gelernt
• „Nach Einschätzung der UNESCO ist mehr als die Hälfte der
weltweit über 6.000 Sprachen vom Aussterben bedroht. 200
Sprachen sind während der letzten drei Generationen ausgestorben,
etwa 1.700 Sprachen sind ernsthaft gefährdet, über 600 Sprachen
werden kaum noch gepflegt.“
http://www.unesco.org/new/en/communication-and-information/access-to-knowledge/linguistic-diversity-and-
multilingualism-on-internet/atlas-of-languages-in-danger/

• ‚moribunde‘ (‚todgeweihte‘)Sprache: Aktuell von Kindern nicht mehr


erlernt
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Ausgestorbene Sprachen des NMO

• Vor längerer Zeit:


– Sumerisch, Akkadisch, Hebräisch, Phönizisch, Altsüdarabisch,
Koptisch
• In jüngerer Zeit:
– Mlaḥso (chr. Neu-Aramäisch), jüd. Neu-Aramäisch, jüd. arab.
Dialekte

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‚Hot spots‘ des Sprachensterbens

• Subsaharisches Afrika
• Papua-Neuguinea
• Indien
• Mexiko

• -> Regionen mit hoher sprachlicher Diversität

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‚Bedrohende‘ Sprachen

• In der Regel regionale Prestigesprachen


• In der Regel nicht Englisch / Spanisch / Französisch!

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Bedrohte Sprachen des NMO (Semitisch)

• Neuaramäisch (alle Varietäten; in unterschiedlichem Grad bedroht)


– ca. 550.000 Sprecher
– Syrien, Irak, Türkei, Iran (de facto Mehrheit im Exil)
– Vier (jetzt eigentlich nur noch drei) große Gruppen
– Christen, Juden, Mandäer
• Neusüdarabisch
– Jemen, Oman
– 225.000 Sprecher
• Arabische Dialekte
• (bedrohte semitische Sprachen in Äthiopien: Argobba, Harari)

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Bedrohte Sprachen (Iranisch)

• Über 20!
• Z.B.: Koroshi
– Iran, Provinz Fars
– Unzusammenhängendes Sprachgebiet
– 1.000 Sprecher (Schätzung 2003)
• Ethnologue: „40-50 Familien“
– Kein offizieller Status
• Tiefe soziale Stellung (Ethnologue: „They work for the Qashqa’i
people“)
– Kaum Dokumentation vorhanden
– Sprachstatus: „Nearly extinct“
http://www.ethnologue.com/language/ktl

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Bedrohte Sprachen (Turksprachen)

• Mehrere Turksprachen in Russland, Ukraine und China


• Z.B. Karaimisch, Tschuwaschisch

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Bedrohte Sprachen (Berber)

• Minderheitenstatus in allen Ländern (Marokko, Mauretanien,


Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten, Mali, Niger, Burkina Faso)
• Beispiele besonders bedrohter Varietäten:
– Zenaga (Mauretanien): 2-300 Sprecher
– Djerbi (Tunesien): 26.000 Sprecher (Stand 1997)

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Was geht beim Sprachtod eigentlich verloren?

“The extinction of each language results in the irrecoverable loss of


unique cultural, historical, and ecological knowledge. Each language
is a unique expression of the human experience of the world. Thus,
the knowledge of any single language may be the key to answering
fundamental questions of the future. Every time a language dies, we
have less evidence for understanding patterns in the structure and
function of human language, human prehistory, and the
maintenance of the world‘s diverse ecosystems. Above all, speakers
of these languages may experience the loss of their language as a
loss of their original ethnic and cultural identity.”

UNESCO Expert Group of Endangered Languages, 2003

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Bewertungsfaktoren für den Grad der Bedrohung
und die Notwendigkeit der Dokumentation

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

19
Bewertungsfaktoren für den Grad der Bedrohung
und die Notwendigkeit der Dokumentation

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

20
Beispiel: Arab. Dialekt der Juden von Aqra und
Arbil

• Jüdische Gemeinden in ‘Aqra und Arbīl (N-Irak)


• Arabophon (qəltu-Dialekte)

21
Beispiel: Arab. Dialekt
der Juden von Aqra
und Arbil
Quelle: Jastrow 1990

22
Beispiel: Arab. Dialekt der Juden von Aqra und
Arbil

• Jüdische Gemeinden in ‘Aqra und Arbīl (N-Irak)


• Arabophon (qəltu-Dialekte)
• 1950/51 vertrieben / Israel ausgewandert (‚Operation Ezra und
Nehemia‘)
• In Israel aufgewachsene Kinder lernen nur noch Hebräisch
• Sprachaufnahmen der Dialekte durch Otto Jastrow in den 80er
Jahren
– O. Jastrow: Der arabische Dialekt der Juden von ‘Aqra und Arbīl
(Wiesbaden 1990)
• Dialekte heute de facto ausgestorben

23
Bewertungsfaktoren für den Grad der Bedrohung
und die Notwendigkeit der Dokumentation

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

24
Beispiel Hóbyót

• Neusüdarabisch

25
Beispiel Hóbyót
Karte: Marie-Claude Simeone-
Senelle, in: S. Weninger et al. (ed.):
The Semitic Languages (Berlin
2011), S. 1078.

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Beispiel Hóbyót

• Neusüdarabisch
• Etwa 100 Sprecher
• Sehr schlechte Prognose, schlecht dokumentiert

27
Bewertungsfaktoren für den Grad der Bedrohung
und die Notwendigkeit der Dokumentation

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

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Unklares Kriterium!

• Gesamtpopulation problematisches Kriterium


• Nationalstaatliche Ebene? Gesellschaftliche, regionale Ebene?

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Bewertungsfaktoren

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

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Register, Domänen

• Kommunikation in der Familie


• Kommunikation im nahen Umfeld (Nachbarschaft, Dorf, Stadtviertel)
• Berufliche Kommunikation (Kollegen, Kunden)
• Kommunikation mit gesellschaftlichen Autoritäten (chiefs, Priester,
Scheichs)
• Kommunikation mit staatlichen Autoritäten (Polizei, Behörden,
Armee)
• Politische Kommunikation auf staatlicher Ebene
– Jeweils spezieller Wortschatz notwendig; Gegenüber muss
auch der betreffenden Sprache mächtig sein

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Bewertungsfaktoren für den Grad der Bedrohung
und die Notwendigkeit der Dokumentation

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

32
Beispiel: Ṭuroyo (Neu-Aramäisch)

• Ursprungsgebiet: SO-Türkei
• Sprecher ausschließlich Christen
• Ursprünglich Sprache analphabetischer Bauern

33
Beispiel: Ṭuroyo (Neu-
Aramäisch)

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Beispiel: Ṭuroyo (Neu-Aramäisch)

• Ursprungsgebiet: SO-Türkei
• Sprecher ausschließlich Christen
• Ursprünglich Sprache analphabetischer Bauern
• Mehrheit der Sprecher im Exil (Deutschland, Niederlande,
Skandinavien, USA, Australien)
– Sprachunterricht in Kulturvereinen
– Alphabetisierung (Lateinschrift und altsyrische Schrift)
– Internetradio

35
Beispiel: Ṭuroyo (Neu-Aramäisch)

Übersetzung des ‚Kleinen Prinzen‘ durch


den ‚Kreis aramäischer Studierender
Heidelberg‘
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Bewertungsfaktoren für den Grad der Bedrohung
und die Notwendigkeit der Dokumentation

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

37
Beispiel: Amazight (Berber) in Marokko

• Institut royale de la culture amazighe (2001)

38
Beispiel: Amazight (Berber) in Marokko

39 http://www.ircam.ma/
Beispiel: Amazight (Berber) in Marokko

• Institut Royale de la culture amazighe (2001)


– Forschung
– Beratung der Erziehungsbehörden
– Erstellung von Lehrmaterialien

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Bewertungsfaktoren

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

41
Beispiel Mehri
Karte: Marie-Claude Simeone-
Senelle, in: S. Weninger et al. (ed.):
The Semitic Languages (Berlin
2011), S. 1078.

42
Beispiel Mehri

„Das gesamte öffentlich-staatliche Leben spielt sich praktisch nur in


Arabisch ab. Mehri ist auf offizieller Ebene schlichtweg nicht existent
- im Nordjemen ist die Tatsache, daß in Mahra eine nicht-arabische
Sprache gesprochen wird, völlig unbekannt. Da Mehri nicht
geschrieben wird, hat es im öffentlichen Bereich auch keinerlei
Prestige. Dies zwingt die Bevölkerung in vielen - und wichtigen!
Lebensbereichen eine Fremdsprache zu gebrauchen.“

A. Sima zum Status des Mehri in Ghaydha (2001)

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Bewertungsfaktoren

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

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Beispiel Mehri

„Besonders bedenklich für die Überlebenschancen dieser Sprache


ist, daß die Mehris selbst ihrer sprachlichen und kulturellen
Eigenständigkeit wenig Bedeutung zumessen - es ist bezeichnend,
daß das mahritische Provinzmuseum in al-Ghaydha seit zehn
Jahren wegen "Umbau-Arbeiten" geschlossen ist. Die Jugendlichen,
die davon träumen in den Golfstaaten das große Geld zu machen,
empfinden ihre Mehri-Kenntnisse als überflüssig und die Tatsache,
daß sie erst in der Schule mühsam Arabisch lernen müssen, als
hinderlich.“

A. Sima zur Situation des Mehri in al-Ghaydha (Jemen)

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Bewertungsfaktoren für den Grad der Bedrohung
und die Notwendigkeit der Dokumentation

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

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Dokumentation

• Minimale Sprachdokumentation:
• Grammatik
• Wörterbuch
• Textsammlung (mit Übersetzungen)
– Tonaufnahmen

47
Dokumentation

• Feldforschung ‚von außen‘ durch Wissenschaftler aus dem


„globalen Norden“
– Vorteil: Professionell
– Nachteile: Langwierig, teuer; geringe (positive) Rückwirkung auf
die Sprechergemeinde

48
Beispiel: Neuwestaramäisch

• Dokumentation des Neuwestaramäischen (Syrien) durch Werner


Arnold (Erlangen / Heidelberg)

49
Beispiel:
Neuwestaramäisch
Quelle: W. Arnold / P. Behnstedt
(1993)

ca. 15.000 Sprecher

Maalula: Christen

50
Beispiel:
Neuwestaramäisch
Quelle: W. Arnold / P. Behnstedt
(1993)

Ma‘lula; Foto Uni HD

51
Beispiel:
Neuwestaramäisch
Quelle: W. Arnold / P. Behnstedt
(1993)

Ma‘lula; www.maaloula.de

52
Beispiel: Neuwestaramäisch

• Dokumentation des Neuwestaramäischen (Syrien) durch Werner


Arnold (Erlangen / Heidelberg)
• Feldforschung 1985-1987 (permanent vor Ort)
– Bericht: http://semitistik.uni-hd.de/malula.html
• 1988: Promotion mit Laut- und Formenlehre des
Neuwestaramäischen

53
Beispiel: Neuwestaramäisch

• Publikation der Resultate in dem mehrbändigen Werk Das


Neuwestaramäische:
– I. Texte aus Baxʿa. (= Semitica Viva; Bd. 4/I), Wiesbaden 1989.
– II. Texte aus Jubbʿadīn. (= Semitica Viva; Bd. 4/II), Wiesbaden
1990.
– III. Volkskundliche Texte aus Maʿlūla. (= Semitica Viva; Bd.
4/III), Wiesbaden 1991.
– IV. Orale Literatur aus Maʿlūla. (= Semitica Viva; Bd. 4/IV),
Wiesbaden 1991.
– V. Grammatik. (= Semitica Viva; Bd. 4/V), Wiesbaden 1990.
• Arbeit am Wörterbuch (=Teil VI): Bis heute

54
Dokumentation

• Feldforschung ‚von außen‘ durch Wissenschaftler aus dem


„globalen Norden“
– Vorteil: Professionell
– Nachteile: Langwierig, teuer; unter Umständen nicht nachhaltig

55
Dokumentation

• Feldforschung ‚von außen‘ durch Wissenschaftler aus dem


„globalen Norden“
– Vorteil: Professionell
– Nachteile: Langwierig; unter Umständen nicht nachhaltig
• ‚capacity building‘ bei lokalen Interessenten (‚local language
workers‘)
– Vorteile: Oft sehr viel kostengünstiger; bessere Rückbindung an
die Sprechergemeinschaften

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Beispiel Soqoṭri
Karte: Marie-Claude Simeone-
Senelle, in: S. Weninger et al. (ed.):
The Semitic Languages (Berlin
2011), S. 1078.

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Beispiel: Soqoṭri

• Ismael Mohammed Salem: „Sammlung sokotrischer


Sprachzeugnisse und deren Archivierung “ GBS-Bulletin 17, 2010,
21-23.
• „Jemenitische Wissenschaftler, die sich mit der sokotrischen Sprache
beschäftigen, gibt es nicht. Ich habe ausländische Forscher immer wieder
bei Ihren Recherchen unterstützt und alles zu meiner Sprache gelesen, was
mir zugänglich war. Nachdem 2009 ein deutsches Fernsehteam für den
Sender ARTE über meine Arbeit berichtet hat, lud mich das Max-Planck-
Institut in Nijmegen (Niederlande) zu einem DoBeS-Trainingsprogramm
ein.“

58
Beispiel: Soqoṭri

• „Unter den MSA-Sprachen hat Sokotri eine sehr reiche poetische Tradition.
Früher wurden viele Alltagshandlungen wie Viehtreiben oder die
Herstellung von Butter durch Lieder begleitet, Nachrichten und Scherze in
Gedichtform verfasst. In den Bergen werden noch immer rituelle Gedichte
aufgesagt, bevor ein Tier geschlachtet wird. Epische Gedichte erzählten
von der Geschichte der Insel, und abends hielten Männer und Frauen am
Feuer spontane Dichterwettbewerbe ab: sokotrische „Poetry-Slams“. Der
sprachliche Wettkampf wurde sehr geschätzt – vielleicht auch, weil die
sokotrische Kultur anders als die arabische nie eine kriegerische war: hoch
angesehen waren stets jene Menschen, die besonders sprachgewandt waren
und bei Konflikten gut schlichten konnten.“

59
Beispiel: Soqoṭri

• „Diese dichterischen Ausdrucksformen verschwinden noch schneller als


die Sprache selbst. Ursache ist die wachsende Verbreitung eines
konservativeren Islam. Waren früher Gedichte und Gesänge
selbstverständlicher Teil von Festen, sind sie es heute nur noch in sehr
entlegenen Inselregionen. Auch gemeinsame Wettbewerbe und Lieder von
Männern und Frauen gibt es nicht mehr.“

60
Beispiel: Soqoṭri

• „Gemäß einer Empfehlung des DoBeS-Archives (MPI Nijmegen) habe ich


folgende Ausrüstung angeschafft:
• Marantz PMD 661 Aufnahmegerät € 629,00
• Audio Technica AT8022 Stereo-Mikrophon € 419,00
• Sony MDR7505 Kopfhörer € 109,00
• 5 SD Speicherkarten 4 GB € 72,50
• 8 NiMH Batterien und Ladegerät € 95,00
• Behringer F-Control Audio FCA202 € 77,00
• Gesamtkosten: € 1359,45

61
Beispiel: Soqoṭri

• „Seitdem ist ein Jahr vergangen. Ich habe in dieser Zeit rund 20 Sokotris
interviewt und dabei 100 Stunden an Gedichten, Legenden und
Erinnerungen aufgezeichnet. Dazu kommen Lieder von traditionellen
Hochzeiten und großen Festen sowie erste Soundscapes aus verschiedenen
Regionen der Insel. Teilweise ergänze ich die Tonaufnahmen durch
Videoaufzeichnungen.“

62
Beispiel: Soqoṭri

• „Sicherlich wäre eine phonetische Transkription meiner Aufnahmen


denkbar, so wie sie bereits punktuell für einige ältere Forschungsarbeiten
existiert. Mein Anliegen ist es jedoch, eine Schrift zu entwickeln, die auch
von den Menschen auf Sokotra gelesen werden kann – und vielleicht sogar
eines Tages an den Schulen unterrichtet werden könnte. Dazu scheint es
mir am sinnvollsten, das arabische Alphabet zugrunde zu legen und dieses
durch zusätzliche Punktierungen mancher Zeichen so zu erweitern, dass sie
die dem Sokotri eigenen Vokale abbilden. Bisher habe ich fünf neue
Buchstaben entwickelt, doch mit der Aussprache meiner Testleser bin ich
noch unzufrieden. “

63
Bewertungsfaktoren für den Grad der Bedrohung
und die Notwendigkeit der Dokumentation

1. Intergenerational language transmission


2. Absolute number of speakers
3. Proportion of speakers within the total population
4. Loss of existing language domains
5. Response to new domains and media
6. Material for language education and literacy
7. Governmental and institutional language attitudes and policies,
including official status and use
8. Speakers‘ attitudes towards their own language
9. Amount and quality of documentation
UNESCO 2003

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Rettungs und Dokumentationsarbeiten

• UNESCO Universal Declaration on Cultural Diversity (2001)


– Geht explizit auch auf linguistic diversity ein!
• UNESCO Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural
Heritage (2003)
– Sprache ausdrücklich als Teil des immateriellen Kulturerbes
• VW-Stiftung: Förderinitiative Dokumentation bedrohter Sprachen
– Bislang 9,2 Mio €
– http://www.volkswagenstiftung.de/fileadmin/downloads/publikationen/Dobes.pdf
• Gesellschaft für Bedrohte Sprachen (gegr. 1997)
– http://www.uni-koeln.de/gbs/

65
Positive Überraschungen

• Meldung über Sprachtod manchmal voreilig

66
Beispiel Neumandäisch (S-Irak / SW-Iran)

• Mandäisch und Neumandäisch: Formen des Aramäischen


• 1956: Der letzte bekannte kompetente Sprecher (Nāṣer Ṣābūrī)
stirbt
• 1990: Ein weiterer kompetenter Sprecher (Scheich Sālem Čoḥeylī)
meldet sich.
– R. Macuch: Neumandäische Texte im Dialekt von Ahwāz
(Wiesbaden 1993)

67
Literatur

• M. Brenzinger: „Language Maintainance and Language Shift.“ ELL


• L. Grenoble: „Endangered Languages.“ ELL
• A. Sima: „Feldforschung im Jemen“ http://www.semitistik.uni-hd.de/sima_jemen.html

68
Danke für die Aufmerksamkeit!

69

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