Sie sind auf Seite 1von 144

Herderbucherei

Thomas Sartory
Zusammenleben
lernen

Gespräche mit Menschen,


die ich traf

Von den Schwierigkeiten des Zusammen


lebens ist heute überall die Rede; von Bei
spielen gelingenden Zusammenlebens spricht
man kaum. Dabei steht dem Menschen eine
erstaunliche Phantasie zu Gebote, zwischen
menschliche Probleme zu lösen. Das zeigen
die hier veröffentlichten Tonbandgespräche.
Sie bieten keine Gebrauchsanweisung,
sondern ermutigen dazu, der eigenen Phan
tasie Raum zu geben.

»menschlMier leben«
Thomas und Gertrude
Sartory
Erfahrungen mit
Meditation
Eine Orientierungshilfe für Christen
Gespräche und Überlegungen
Band 588 • • 144 Seiten

In der Sinnkrise unserer westlichen Gesellschaft ist dem auf


geklärten Zeitgenossen durch ein „religionsloses Christen
tum" oder gar eine „Theologie ohne Gott" nicht zu helfen.
Eine sich dem rein rationalen Denken anpassende, die Ver-
kopfung des geistig-seelischen Lebens noch weiter vor
treibende Theologie bietet nicht das Gegengewicht, dessen
die westliche Welt bedarf. Daher rührt die Faszination, die
die spirituelle Kultur des Ostens auf den Westen ausstrahlt.
Aber werden wir auf die Dauer aus uns fremden Wurzeln
leben können? Hat nicht das Christentum seine eigenen
geistigen, geistlichen und meditativen Traditionen?
Inzwischen sind vielerorts und auf mannigfache Weise Ver
suche im Gang, aus alten christlichen Überlieferungen heute
noch (oder wieder) Lebbares auszugraben und praktisch zu
erproben - in nicht weniger bereiter Offenheit, aber auch aus
den Weisheitstraditionen des Ostens (vor allem aus dem
jahrtausendealten Arsenal seiner meditativen Methoden)
ohne Scheu zu übernehmen, was auch einem Christen für
sein spirituelles und meditatives Leben dienlich werden kann.
In den Beiträgen dieses Buches kommen mancherlei Er
fahrungen auf diesem Wege zur Sprache.

in der Herderbücherei
Lebenshilfe

Joachim Bodamer
Vertrauen zu sich selbst
Menschen im technischen Zeitalter
Band 541 • • 128 Seiten, 2. Aufl.

Friedrich Braasch
Jeder Mensch braucht Zukunft
Heilung seelischer Erkrankungen
durch Zuversicht
Band 570 • • 128 Seiten

Dr. med. Rüdiger Rogoll


Nimm dich, wie du bist
Band 593 • • • 144 Seiten, 2. Aufl.

D r. m e d . K l a u s T h o m a s
Wirksam helfen - aber wie?
Lebenshilfe durch Laien
Band 560 • • • 192 Seiten

P a u l To u r n i e r
Geborgenheit - Sehnsucht des Menschen
Band 399 :: 240 Seiten, 6. Aufl.

in der Herderbücherei
Herderbücherei

»menschlicher leben«

Band 540
über das Buch

In diesem Buch geht es nicht um Kommunikationstheorien,


sondern um die Erfahrung des menschlichen Zusammen
lebens. Im Auftrag des Rundfunks suchte der Autor das Ge
spräch mit Leuten, die eine unkonventionelle Antwort auf
die Herausforderung ihrer sozialen Situation gefunden haben.
Seine Tonbandaufzeichnungen liegen auch diesem Taschen
buch zugrunde, das ein Resümee dieser Gespräche zieht,
ohne damit den Anspruch zu verbinden, beliebig anwendbare
Rezepte zu liefern. Es geht eben nicht darum, alle Rollen
klischees auszutauschen, sondern durch konkrete Beispiele
die Phantasie zu mobilisieren, eine eigene, d.h. eine ange
messene Antwort auf die Probleme menschlichen Zusam
menlebens zu finden.
Thomas Sartory

Zusammenleben lernen
Gespräche mit Menschen, die ich traf

Herderbücherei
Originalausgabe
erstmals veröffentlicht als Herder-Taschenbuch

1. Auflage Oktober 1975


2. Auflage März 1977

Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany


© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1975
Herder Freiburg • Basel • Wien
Freiburger Graphische Betriebe 1977
^-4«>i-n7'^4n-7
Inhalt

Vorwort 9

Kloster - Kibbuz - Kommune


Fluchtpunkt oder Spielraum? 11

Von Mitleid keine Spur


Die Lebensgemeinschaft von Behinderten und Nicht
behinderten in Sassen 55

Gute Schafe - böse Böcke?


Uber Seelsorge an Strafgefangenen 67

Wie man in einer ,Kleinfamilie' zusammen leben kann


Nur „Kirche - Küche - Kinder"? 79

Die mit einer Wunde leben


Über ledige Mütter, ihre Kinder und die Umwelt 97

Das Flugzeugkind Le Sinh


Über die Adoption eines Kindes 123

Zerbrochene Gemeinschaft?
Wie man als Witwe das Leben meistern kann 132

7
Vorwort

„Zusammenleben lernen - Gespräche mit Menschen, die ich


traf" will keine Theorien oder Thesen über Kommunikations
prozesse menschlichen Zusammenlebens aufstellen. Darüber
sind in den letzten Jahren eine Fülle systematischer Darstellun
gen erschienen. Hier sollen auch nicht etwa „Fallstudien" ge
boten werden; noch weniger geht es um psychologische Analy
sen oder therapeutische Ratschläge für das Zusammenleben von
Menschen. In diesen Gesprächen äußern sich Menschen über
das, was sie erfahren und was sie gelernt haben, indem sie mit
anderen Menschen zusammenleben. Meine Gesprächspartner
wollen keine „Vorbilder" sein. Wenn sie - auf mein Befragen
hin - sagen, wie sie es gemacht haben, wie es ihnen ergangen ist,
lassen sich weder pädagogische Rezepte daraus gewinnen, noch
Leitbilder abziehen.
Das heißt allerdings nicht, daß es sieh um völlig beliebige,
rein subjektive Gespräche mit Menschen handelt, die ich zu
fällig irgendwo „zwischen Tür und Angel" getroffen hätte. Meist
bin ich von irgendwem auf die betreffenden Partner, die ich vor
her nicht kannte, aufmerksam gemacht worden; dann wurden
die Gesprächstreffen geplant und von meiner Seite aus gründlich
vorbereitet, indem ich mich in die betreffende „Materie" ein
arbeitete. Es sollte jeweils im Spiegel eines persönlichen Lebens
ein Problem von allgemeinem Interesse Fleisch und Blut ge
winnen: die Adoption eines andersrassigen Kindes (und damit
das Problem einer Adoption überhaupt), ledige Mutterschaft,
Lebensgemeinschaft von Behinderten mit Nichtbehinderten,
Zusammenleben in einer „Kleinfamilie" verbunden mit der
Frage nach dem Sinn eines Lebens als Hausfrau und Mutter von
heranwachsenden Kindern, Sorge um Straffällige, Meisterung
des Lebens als Witwe, Zusammenleben in einer Wohngemein
schaft usw.
Ein Wort sollte noch darüber gesagt werden, warum die hier

9
ausgesprochenen Erfahrungen nicht von meinen Gesprächspart
nern in einem wohlgeordneten Erfahrungsbericht niedergelegt
oder von mir zu einem zusammenfassenden Ganzen verarbei
tet worden sind. Der Dialog, in dem sich ja nicht nur Frage und
Antwort in einem Wechselspiel begegnen oder Menschen ihre
Gedanken wie Klingen kreuzen, ist selber jene fruchtbare Situa
tion, über die Kleist in seinem immer noch gültigen Aufsatz
„Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken bei Reden"
schreibt: indem der Mensch zu einem anderen spricht, sagt er
plötzlich aus, was er vorher selber nicht wußte. Die vorliegen
den Gespräche wurden für den Rundfunk aufgezeichnet - es
wurde niemals etwas zweimal gesprochen, im nachhinein korri
giert oder wieder „durchgestrichen". Damit diese Unmittelbar
keit auch für den Leser nicht verlorengehe, andererseits das
Gesprochene aber auch lesbar würde, dafür sorgte Ruth Glo-
watzki, die die Gespräche vom Tonband übertrug.
Unerwartet war für mich, daß die so verschiedenen Partner
dieser höchst unterschiedlichen Gespräche trotz ihrer völlig un
vergleichbaren Lebenssituation in ihrer seelischen Ausstrahlung
etwas Verwandtes hatten: keiner bejammerte sein Lebensschick
sal, sondern packte es an als Herausforderung, die es zu bestehen
gilt. Denn ein Schicksal hat jeder Mensch - wäre es nicht dieses,
so wäre es ein anderes. Und hätte man nicht diese Probleme mit
diesen Menschen, mit denen man zusammenlebt, so hätte man
andere mit anderen Menschen. Zusammenleben lernen muß man
so oder so.

Niederaichbach b. Landshut, 27. Juli 1975 Thomas Sartory

10
Kloster - Kibbuz - Kommune

Fluchtpunkt oder Spielraum?

Für viele unserer Mitbürger ist „Kommune" immer noch ein


Reizwort. Dazu fällt ihnen unwillkürlich etwa ein: wildes
Zusammenleben junger Menschen (Promiskuität unter dem
Symbol des gemeinsamen Matratzen lagers), unaufgeräumte,
verschmutzte Wohnung, politisierendes Dauerpalaver, Links
extreme, wenn nicht gar Anarchisten, ,,nichts" studierende
Studenten, ungepflegte Langhaare und wilde Bärte. Ähnlich
wirken Stichwörter wie „Wohngemeinschaft" oder „Großfa
milie". (Wir werden übrigens diese drei Bezeichnungen Kom
mune, Wohngemeinschaft, Großfamilie weithin ohne Unter
scheidung, einem verbreiteten Sprachgebrauch entspre
chend synonym verwenden. Doch wird eine der möglichen
Differenzierungen später nachgeholt werden.) Also: was hat's
mit den sich überall bildenden Wohngemeinschaften auf
sich? Kündigt sich da eine ähnliche Kollektivierung der Privat
sphäre an wie etwa in der israelischen Kibbuz-Bewegung?
Oder ist die Kommune das Kloster des zwanzigsten Jahrhun
derts? -wenn auch vielleicht nur als Zufluchtsburg vor einer
als schnöde verachteten Welt (der berüchtigten „Scheißge
sellschaft") oder als Spielraum einer sich elitär dünkenden
Minderheit? In der öffentlichen Meinung jedenfalls wiegen
immer noch die vagen Horrorgefühle vor. Schon die bloße
Vorstellung, daß in solchen Wohngemeinschaften auch kleine
Kinder mitleben, erweckt eine Mischung von Grausen und
Mitleid: man sieht Verwahrlosung und Kriminalität bereits vor
der Türe lauern. Für viele Eltern ist schon die bloße Befürch

tung, eins ihrer heranwachsenden Kinder könnte eines Tages


in eine solche Kommune ziehen wollen, wie ein wahrer Alp
traum: ähnlich furchteinjagend wie die Vorstellung, sie könn
ten drogensüchtig werden oder sich auf große Gammelfahrt
begeben oder sonstwie ausflippen.

11
Daß Kommunen, Wohngemeinschaften, Großfamilien unter
einem solchen Zerrbild ins Bewußtsein der Öffentlichkeit ge
raten sind, erklärt sich ganz einfach aus der Doppeltatsache,
daß es a) in der neu sich belebenden Kommunebewegung
allerlei Abstrusitäten gegeben hat und auch heute noch gibt
- und sich b) Abstrusitäten publizistisch am leichtesten ver
kaufen lassen. Neugier und Interesse der Zeitungleser,
Rundfunkhörer und Fernsehschauer ist eben am ehesten zu
erwecken, wenn der Sache ein besonderer Gruseleffekt bei
gemischt ist. Wie aber kommt es, daß das Zerrbild ,,Kom
mune" sich so hartnäckig weiterbehauptet und die inzwischen
durchaus nicht seltenen Veröffentlichungen über das,,geord
nete" Leben in zahllosen Wohngemeinschaften so wenig pu
blikumswirksam zu werden scheint? Das hängt wahrschein
lich mit der tief eingewurzelten Diskriminierung des je
Andersartigen zusammen, durch die normalerweise jede
Gesellschaft ihre Abweichler in Schach zu halten sucht: sie
antwortet auf den bewußten oder unbewußten, den gewollten
oder ungewollten Angriff auf die in ihr geltenden Verhaltens
normen mit Abwehrmechanismen.
Und im Fall der Kommunen ist der „Angriff" so unbewußt
oder ungewollt auch gar nicht. Diese Wohngemeinschaften
lehnen vielmehr betont das in unserer Gesellschaftsordnung
herrschende Modell der sogenannten „Kleinfamilie" ab. Ihre
Angriffe auf die Kleinfamilie sind oftmals scharf, erbarmungs
los-und nicht wenige Psychologen und Soziologen liefern
ihnen die Munition dazu. Mit Horst Eberhard Richter wird die
Familie als ,,Patient" betrachtet - eine Beziehungswesenheit
sozusagen, die nicht nur krank macht, sondern selbst krank
ist (was natürlich in unzähligen Fällen von Neurosen zutreffen
wird). Aber,,Patient" ist noch viel zu glimpflich gesagt. Die
Familie gilt geradezu als Keimzelle alles Bösen. Hier geht's
nicht mehr darum, wie in den Fällen jugendlicher Kriminalität
oder sonstiger Abnormität, auf die ach so trostlose Erziehung
in irgendwelchen Waisenhäusern oder Erziehungsanstalten
hinzuweisen! Nein - Volker Elis Pilgrim weiß z.B., daß die
Wurzeln des Bösen meist anderswo zu suchen sind. Nach sei
nem Buch ,,Dressur des Bösen" (Desch-Verlag 1974) sind
zwar Erziehungsheime Brutstätten der Verwahrlosung; doch
damit sind sie nur ursächlich für das abnorm Böse, während
daf? norma/Rnsfi aainan Keimborien in dam irrtümiloharwaiaa

12
als normal geltenden Eltern-Kind-Verhältnis habe. Nach Pil
grim ist die Ehe der allerungeeignetste Platz für Kinder. Das
Bezugssystem der Ehe, das zwei Menschen lebenslänglich
zum Zusammensein verpflichte, sei das Druckverhältnis der
Erwachsenen, tödlich für jede menschliche Weiterentwick
lung. Wie könnten fC/nderin diesem Klima seelisch gedeihen?
Pilgrim zählt drei „böse Folgen" dieses ehelichen Druckver
hältnisses für die Kinder auf: „1. auf die Kinder wird ein Teil
der in der Ehe ausgetragenen Aggressionen gezielt; 2. die
Kinder müssen die verschiedenen Bedürfnisse ihrer Eltern er

füllen; 3. die Kinder empfinden die unbewußte Feindschaft


zwischen den Eltern und erleben sie als Feinde beliebiger
Menschen in der Gesellschaft." (S. 2151)
Der,,Normalbürger" fühlt sich durch solche und ähnliche
Angriffe auf die Ordnung (in der er selbstverständlich lebt und
die ihm darum als werthaft erscheint) verunsichert: er reagiert
wenig verständnisvoll, nicht selten aggressiv auf Alternativ
entwürfe zum herrschenden Modell der Kleinfamilie, wie sie
ihm in den neuen Wohngemeinschaften demonstriert und
vorexerziert werden. Dabei macht er allerdings einen Fehler
grundsätzlicher Art: er betrachtet die ihm gewohnte, die ihm
geläufige und vertraute Familienstruktur als die allein nor
male, seit jeher und für immer gültige, während ihm die Kom
mune als Experiment erscheint - viel zu unerprobt, als daß
ein verantwortungsbewußter Mensch auf dieses unbekannte
Blatt im Kartenspiel menschlicher Gemeinschaftsformen set
zen dürfte. Dabei ist - genau betrachtet - die Kleinfamilie das
völlig neuartige Experiment in der jahrtausendealten
Geschichte menschlicher Ehe- und Familienordnungen; sie
ist es, die noch alle Erscheinungen von Kinderkrankheiten
eines neu zu erprobenden Modells zeitigt, sie ist es, die sich
erst bewähren muß. Und noch ist nicht gewiß, ob die Zukunft
das Experiment „Kleinfamilie" als geglückt oder als fehlge
schlagenen Versuch erweisen wird. Denn ob von ,,Patient
Familie" die Rede ist, „Der Tod der Familie" prophezeit wird,
wie in dem Buch des Antipsychiaters David Cooper (Rowohlt),
oder ob Pilgrim die herkömmliche Familie als Ort der „Dressur
des Bösen" beschreibt - etwas Wahres ist schließlich in all
diesen Darstellungen getroffen. Diese drei oder vier Menschen
irgendwo in einem anonymen Wohnblock in ihrer engen Etage
ganz auf sich gestellt, auf sich allein angewiesen - eine solche

13
Kleinfamilie kann sich nicht nur als neurotisierender Faktor
erster Ordnung erweisen-sie ist oft genug als sozialer Orga
nismus krank und macht alle Glieder krank.
Schon darum stellt die Wohngemeinschaft eine Alternative
dar, die nicht nur wert ist, „erwogen" zu werden, sondern
auch „erprobt" zu werden; sie bietet nicht nur Alleinstehen
den, sondern auch Paaren mit Kindern die Chance, Vereinze
lung, Vereinsamung, Isolation zu überwinden. Sie könnte
- vielleicht! - sich als Gegengift gegen das Krebsübel der an
onymen Massengesellschaft erweisen.
Eine junge Psychologin (wegen ihrer zwei kleinen Kinder
zur Zeit nicht berufstätig) begründete im Gespräch vor dem
Mikrofon ihren Wunsch, mit Mann und Kindern in eine Wohn
gemeinschaft zu ziehen, folgendermaßen:
„Mit der Geburt des zweiten Kindes war mein Austreten aus
dem Beruf erforderlich und zugleich auch eine intensive
Abwesenheit meines Mannes durch ein Zweitstudium neben
vollem Beruf. Mir ist dadurch ganz kraß zum Bewußtsein ge
kommen, daß ich die alleinige Bezugsperson für meine Kinder
bin und ich wiederum über lange Zeit ebenfalls keine andere
Bezugsperson habe als meine Kinder. So erscheint mir die
Ehe nicht als positive Lösung, eine solche Situation tragbar
zu machen. Diese war einfach notwendig - mein Mann hatte
diesen Wunsch von Anfang unserer Ehe an gehabt, aber daß
sich das nun so umsetzen würde, daß ich darunter so leiden
würde... das hatte ich nicht voraussehen können. Und ich
sah es auch an meinen Kindern - es ist für sie nicht günstig,
wenn ich tagsüber für sie die alleinige Bezugsperson bleibe.
Ich könnte mir vorstellen, daß all das in einer Gruppe viel
leichter zu bewältigen wäre. Auch merkte ich, daß sich in der
Zweierbeziehung in Konflikten sehr leichtfestgefahrene Wege
herausbilden. Es fehlt eine neutrale dritte Person... oder

vierte, fünfte, sechste Person, die einem helfen kann, dieses


verfestigte Stadium zu überwinden, das sich sonst sehr lange
hinziehen und sehr quälend sein kann und wiederum nur auf
diesen kleinen Kreis von zwei Erwachsenen und den Kindern
sich auswirkt. Ich hatte häufig das Gefühl, keinen Rückhalt
zu haben - sah auch die Gefahr, daß sich meine eigenen Pro
bleme sehr stark auf die Kinder übertrugen."
Von der Wohngemeinschaft wird hier also Entlastung, Hilfe
erwartet - nicht nur für die Beziehung Mutter-Kind, sondern

1 4
auch für bestimmte Partnerprobleme. Also Flucht in die Kom
mune? Die Wohngemeinschaft als Fluchtburg, in der man sich
gegen spezifische Druckverhältnisse innerhalb der Kleinfami
lie gefeit wissen darf? Doch müßte eine solche Zuflucht zur
Wohngemeinschaft nicht unbedingt negativ als bloßes Aus
weichen, als „Flucht" diskriminiert werden - vorausgesetzt,
die Kommune bietet sowohl dem Partner wie auch den Eltern
und Kindern einen Spielraum, ein Experimentierfeld, worin
positivere Beziehungen (Beziehungen, die nicht krank ma
chen, sondern seelisch bekömmlich sind) gefunden und ein
geübt werden können.

Sylvia (sie hat Staatsexamen für Russisch und Geschichte ge


macht und leitet zur Zeit in Berlin einen Kinderladen) sprach
über das Leben in der Wohngemeinschaft aus der Perspektive
des „Einspänners" - eines Kommunemitglieds also, das nicht
zugleich in permanenter Paarbeziehung lebt. Sylvia (27) kann
bereits auf sechs Jahre Wohngruppenerfahrung zurückschauen
- wenn auch nicht in ein und derselben Wohngemeinschaft.
Sylvia: ... Ich habe durch Zufall eine Gruppe von Leuten
kennengelernt, bin mit denen zusammengezogen - wir waren
zwei Paare und ein alleinstehender Mann -, ja... und habe in
dieser Zeit mich eigentlich erst wieder gefangen oder eigentlich
da erst eine selbständige Lebensform gefunden, die zu erreichen
mir nicht gelungen war, nachdem ich das Elternhaus verlassen
hatte. Ich war, nachdem ich von zu Hause weg war, in eine
Art Vakuum gefallen - nur mit mir selbst konfrontiert, isoliert
und kontaktscheu, verbunden oft mit ziemlich großen Arbeits
schwierigkeiten; und erst da wieder habe ich angefangen, mich
kennenzulernen, durch die Brille anderer Menschen zu sehen,
deren Anerkennung zu akzeptieren und mit denen fröhlich zu
sein, mit denen was zu machen... erst da bin ich wieder lebendig
geworden. Für Jede Lebensperiode sind das andere Motive
- damals war es dieses - wirkliche Lösung vom Elternhaus, die
distanzierte Betrachtung der Erziehungsmethoden im Elternhaus
und dann die Diskussion jetzt um neue Beziehungsformen und
um einen Kontakt zu den Leuten in der Wohngemeinschaft, um
sexuelle Probleme - all das war damals für uns alle sehr wichtig,
und wir haben uns alle sehr gestützt. Wir waren ganz unter
schiedlich alt, von 21 bis 29, aber für uns alle war das damals
eine ganz neue Erfahrung, und es hat uns sehr stabilisiert und
1S
sehr sicher gemacht für neue Erfahrungen. Ein Jahr haben wir
zusammengelebt - das war damals in Heidelberg bis ein Teil
von uns nach Berlin umzog und ich dann auch mit einem Freund
zusammenzog und die Wohngemeinschaft sich dadurch auf
löste.
Dann habe ich wieder allein gelebt mit dem gleichen Ergeb
nis-: nämlich Traurigsein, Isoliertsein, Apathischwerden - und
hab' dann in Berlin mir wieder eine Wohngemeinschaft gesucht
und mehr oder weniger provisorisch bei zwei Freundinnen ge
wohnt und das auch wieder voll genossen...
T. S.: Es wäre doch eigentlich ein Test für die Effektivität
des Lebens in einer Wohngemeinschaft, daß - wenn man eine
Zeitlang in ihr gelebt hat... daß man dann einen Schritt weiter
gekommen ist und daß man nicht dann, wenn man aus dieser
Wohngemeinschaft wieder herauskommt, praktisch mit den
gleichen Problemen dasteht wie früher.
Sylvia: Ja, das kann ich von mir behaupten, daß ich eben zum
Beispiel, so komisch es klingt, nach der Zeit in der Wohngemein
schaft zu einer Zweierbeziehung fähig war, was ich davor nicht
gewesen wäre.
T. S.: Und dann also diese - kleinere - nur unter Frauen^
Sylvia: Da bin ich mir auch bis jetzt noch nicht so ganz klar...
zumindest in unserer Gruppe laufen schon Bestrebungen dahin,
daß nur Frauen zusammenleben oder nur Männer. Wir stehen
in Kontakt mit einer Wohngemeinschaft, in der nur Männer zu
sammenleben, wohl mehr oder weniger zufällig am Anfang, aber
jetzt ganz bewußt, weil viele sehr empfindliche Probleme eben
damit ausgeschlossen sind und die Möglichkeit besteht, zum
gleichen Geschlecht Kontakt aufzunehmen in einer Weise, wie
man es früher nicht gewohnt war. Wenn ich... ja, hier so sehe,
mit was für Problemen ich in einer gemischten Wohngemein
schaft wieder konfrontiert bin, dann habe ich doch manchmal
auch Sehnsüchte nach einer reinen Frauen-Wohngemeinschaft.
T. S.: Könntest Du das konkret sagen... was für Probleme
das sind?
Sylvia: Ja... die ganze Problematik von Beziehungen, gar
nicht so ausschlaggebend das Problem der Sexualität... In ge
mischten Wohngemeinschaften, in denen auch Freundespaare
zusammensind, sind eben die ganzen unheimlichen Empfind
lichkeiten von Wichtigkeit, die überhaupt erst auftreten, wenn
verschieden geschlechtliche Leute sich begegnen. Ein Großteil
dieser Empfindlichkeiten und Unfähigkeiten fällt weg, wenn
man nur mit Gleichgeschlechtlichen zusammen ist.
T. S . : . . . w o d a n n d o c h a u c h w i e d e r a n d e r e . . .
Sylvia: ... andere Probleme auftauchen - ja... da haben wir
aber auch noch zu wenig Erfahrung was geschieht, wenn eben
zwei Frauen ganz eng zusammen wohnen, ob das dann letzten
Endes auch wieder nur auf die gleichen zermürbenden Ausein
andersetzungen hinausläuft, weil die Erwartungen dann wieder
genauso hoch sind wie sonst in einer Beziehung - das kann ich
bisher noch nicht beurteilen.
T. S.: Nun wohnst Du jetzt in einer Wohngemeinschaft, in
der auch ein Kind ist -, was sind da die Erfahrungen? Erschwert
ein Kind das Leben in einer solchen Gemeinschaft?
Sylvia: Dazu wohnen wir noch nicht lange genug zusammen,
ich merke nur, daß das ein ganz - ganz neues Problem ist...
und eins, auf das Wohngemeinschaften ja schlecht vorbereitet
sind. Nicht umsonst bereitet sich ja eine Mutter neun Monate
auf ein Kind vor, wir aber sind jetzt plötzlich mit einem Kind
konfrontiert und dadurch auch mit ziemlichen Schwierigkeiten
und müssen plötzlich voll verantwortlich reagieren. In unserem
Falle ist es eine alleinstehende Mutter - oft sind es ja Paare,
dann ist es wohl nicht ein solches Problem. Wir müssen jetzt
plötzlich Verantwortung mitübernehmen, die wir bisher noch
niemals übernommen haben. Und das bedeutet Einschränkun
gen und Belastungen, die wir bisher noch nicht kannten. Aber
wenn das Kind stabil leben soll, dann ist das eben unbedingt
notwendig. Wie sich das entwickeln wird, kann ich jetzt noch
nicht sagen, ich weiß nur, daß das ein ganz neues Problem ist,
das sehr viel Verantwortungsbewußtsein und Einsatz voraus
setzt, womit wir gleichzeitig aus dem Experimentierstadium mit
uns selber herauskommen, aber... ja, dazu muß Reife vorhanden
sein; und was für langwierige Prozesse das sind, das merken
wir jetzt so allmählich. Es hilft nichts, wenn wir uns jetzt plötz
lich die Forderung stellen: „Also jetzt habt Ihr Euch gefälligst
dem Kind gegenüber verantwortungsbewußt zu verhalten. Ent
weder man kann das irgendwie schon, man hat sich darauf hin
entwickelt, oder man kann es eben noch nicht."

In diesen ersten Gesprächsbeiträgen sind einige Schwer


punktprobleme der Wohngemeinschaften angetippt worden:
Paarbeziehuna und Großfamilie - Individuum und Wohnae-

1 7
meinschaft - das Kind in der Kommune. Auf das Thema Kin
dererziehung werden die nächstfolgenden Gesprächsab
schnitte zentriert sein. Dehn die Kommune ist dem
Durchschnittsbürger ja vor allem durch die Vorstellung ver
dächtig, daß in solchen Wohngemeinschaften die Eltern nicht
mehr für ihre Kinder zuständig sein sollen, beziehungsweise
nicht mehr zuständig sein wollen. Geht man doch unreflektiert
vom Modell der Kleinfamilie als der einzig „normalen" Familie
aus und betrachtet die alleinerziehende Mutter (die geschie
dene wie die nichtverheiratete) ebenso mißtrauisch wie die
Lösung ,,Kinderhaus" im israelischen Kibbuz. Daß es in bei
den Fällen beträchtliche Probleme gibt, versteht sich von
selbst. Aber ist die Erziehung in einer Kleinfamilie etwa pro
blemlos - da, wo etwa in einer kleinen Dreizimmerwohnung
eine junge Mutter und ihre beiden Kinder von morgens bis
abends sich gegenseitig (höchst „wechselseitig") auf die Ner
ven gehen? Es sei noch einmal daran erinnert, daß die gegen
wärtige Erziehungssituation in der auf einen Drei- oder Vier
personenhaushalt zusammengeschrumpften Familie neuar
tig, wenig erprobt und noch keineswegs bewährt ist. In der
Großfamilie alten Stils wuchsen die Kinder in einem reich dif
ferenzierten Geflecht persönlich-intimer Beziehungen auf:
zum Haus gehörten nicht nur Vater und Mutter, sondern neben
vielen Geschwistern noch Großeltern, Tanten, Onkel, Vettern
und Cousinen, Knechte und Mägde. Im übrigen hatte man im
christlichen Mittelalter, als Klöster noch die einzige oder doch
vornehmliche „Bildungsanstalt" waren, keinerlei Hemmung,
die Kinder von klein auf ihnen zur Erziehung zu übergeben:
jedenfalls galt das für die Söhne und Töchtersolcher Familien,
die sich diesen Luxus leisten konnten. Auch in der bäuerlichen
Großfamilie dürfte die Mutter für ihre kleinen Kinder kaum
die ,,Hauptbezugsperson" gewesen sein: da waren Ammen
und Mägde zuständig ansteile der vielbeschäftigten und für
so vieles verantwortlichen Bäuerin.
Weiche Lösung wäre aber im Rahmen einer heutigen
Wohngemeinschaft sinnvoll? Das ist eine der Kardinalfragen
in der gesamten Kommunebewegung. In der Tat wird in den
Wohngruppen besonders heftig das Problem erörtert, welche
Zuständigkeit oder Erstverantwortlichkeit den leiblichen
Eltern für die Kinder innerhalb der Wohngemeinschaft zu
kommen soll. Bei einer Tagung der Evangelischen Akademie

18
Tutzing über Kommunen und Wohngemeinschaften berich
tete ein junges Ehepaar über die Ergebnisse ihres Arbeitskrei
ses zum Thema: „Kinder in der Wohngemeinschaft":

Sie: Wir konnten uns alle darauf einigen, daß eine Bezugsper
son, die dem Kind bleibt, von ganz besonders großer Wichtigkeit
ist und daß diese Bezugsperson sich kontinuierlich wenigstens
mehrere Jahre durch halten sollte. Positiv ist bei Wohngemein
schaften- so wurde festgestellt -, daß diese Bezugsperson, wenn
sie gegeben ist, noch ergänzt werden kann durch andere Perso
nen, die dem Kind neue Einflüsse zukommen lassen und es auch
noch weiter prägen können. Das heißt, der Horizont des Kindes
kann sich dadurch erweitern. In der Kleinfamilie, die meist sehr
isoliert ist, ist das nicht so gegeben.
Er: Man kann vielleicht noch ergänzen, daß das Problem
„Hauptbezugsperson" ganz besonders für das Kleinkind wichtig
ist, daß also gerade Kinder, die in solche Wohngemeinschaften
hineingeboren werden, von Anfang an eine Hauptbezugsperson
haben sollten, was später jedoch, wenn die Kinder im Schulalter
sind, nicht mehr ein so existentielles Bedürfnis ist.
T. S.: Und diese Bezugsperson braucht nicht die leibliche
Mutter oder der leibliche Vater zu sein?
Sie: Nein, das muß nicht sein; es ist nur die Frage, ob diese
Bezugsperson dem Kinde bleibt, wenn es nicht die leibliche
Mutter oder der Vater ist. Wir haben einen Erfahrungsbericht
eines Berliner Wohngemeinschaftlers gehört, der erzählte, daß
sie am Anfang sich nicht auf eine feste Person festlegten, sondern
den drei Monate alten Kindern, die dort waren, einfach ganz
wechselnde Zuwendungen zukommen lassen wollten. Nach
einiger Zeit, als die Kinder etwa ein halbes Jahr alt waren, zeigten
sich allerdings Entzugserscheinungen: die Kinder hatten Durch
fall und schrien nachts sehr häufig. Daraufhin beschloß die
Wohngemeinschaft, den Kindern eine Person als Hauptbezugs
person zur Verfügung zu stellen, woraufhin die Erscheinungen
sich wieder gaben. Ob das nur darauf zurückzuführen war,
konnte man natürlich nicht feststellen, aber es sei doch sehr
wahrscheinlich gewesen.
T. S.: Haben Sie persönlich Erfahrungen in dieser Hinsicht,
leben Sie in einer Wohngemeinschaft oder haben Sie in einer
gelebt - in der auch Kinder waren?
Er: Nein... Erfahrungen mit Kindern in einer Wohnee-

1 9
meinschaft haben wir beide nicht; ich persönlich habe drei Jahre
lang in einer Wohngemeinschaft gelebt, aber da waren keine
Kinder. Im Moment erwarten wir selbst ein Kind, und so macht
man sich über diese Fragen natürlich auch selbst Gedanken.
T. S.: Das ist ein guter Ansatzpunkt, weil damit die Sache
sehr existentiell wird... Würden Sie es, nach allem, was Sie über
Wohngemeinschaften wissen, für wünschenswert halten, mit Ih
rem Kind, das Sie bekommen werden, in einer Wohngemein
schaft zu leben, wo Sie selbst nicht die Bezugsperson dieses
Kindes wären?
Sie: Für mich käme das überhaupt nicht in Frage, weil ich
zu diesem Kinde schon jetzt eine starke Bindung habe und ein
fach auch gern die Mutterrolle übernehmen möchte.
T. S.: Können Sie sich eine Mutter vorstellen, die das nicht
will?
Sie: Ja - z.B. wenn die Mutter unverheiratet ist und für den
Lebensunterhalt selbst sorgen muß. Ich glaube, daß die Bezie
hung zu dem Kind dann gar nicht so stark sein kann. Und -
das war auch etwas, was wir in der Arbeitsgruppe erarbeitet
haben daß Wohngemeinschaften gerade für solche Randpro
bleme eine gute Lösungsmöglichkeit bieten. Die Elternteile Va
ter oder Mutter, die einzeln mit einem Kind kommen und sich
deswegen normalerweise nicht so darum kümmern können,
werden entlastet, und es besteht durch das Aufteilen einer gewis
sen Sorge für das Kind auf mehrere die Möglichkeit, daß es eben
nicht vernachlässigt wird.
T. S.: Nun sagt man...: neurotische Eltern haben gewöhnlich
neurotische Kinder, und Wohngemeinschaften legen besonderen
Wert darauf zu betonen, daß sie eine Alternative zur neuroti-
sierten Kleinfamilie seien. Dennoch kommen ihre Mitglieder ja
selbst aus Kleinfamilien und sind demnach ebenfalls mehr oder
weniger neurotisiert. Nun stellen Sie sich einmal praktisch
vor...: Ihr Kind wird jetzt mit einer Anzahl solcher Menschen
zusammenleben, die vielleicht... nun, sagen wir einmal im Jar
gon der Kommunen - „kaputte Typen" sind; wie wäre Ihnen
als Vater dabei zumute?
Er: Für mich wäre das Hauptproblem: Wer kümmert sich
besonders um das Kind! Ich glaube, wenn das Kind einen hat,
der menschlich halbwegs normal reagiert, ist es nicht so schlimm,
wenn die anderen ,kaputte Typen' sind. Das kann ein Kind,
soweit ich das jetzt verstehe, leichter verkraften, als wenn derje-

9 n
nige, auf den es absolut angewiesen ist, ständig falsch reagiert,
das heißt seine Neurosen wieder auf das Kind überträgt. Aber
wir hatten noch ein zweites Beispiel aus einer Wohngemeip-
schaft, in der schon zwei Kinder leben und in die jetzt ein weite
res Kind geboren werden wird - daß dort die Sache mehr oder
weniger nach Versuch und Irrtum gelöst werden soll, das heißt,
man möchte einmal abwarten, wie es sich einspielt, ob einer
die Hauptrolle übernehmen oder ob das wechseln soll. Da kamen
wir doch zu dem Schluß, daß das eigentlich nicht so recht geht,
daß besonders, wenn man in der Kindererziehung eine neue
Form versucht, man diese doch besser absichern sollte.
T. S.: Also mit anderen Worten - daß man doch vorsichtig
sein muß, Kinder Experimenten auszusetzen, von denen man
nicht weiß, wie sie ausgehen werden.
Sie: Ja... vor allem, da in Wohngemeinschaften die Dauer
dieses Zusammenhaltes meist sehr kurz ist - ich kenne kaum
Gemeinschaften, die über drei bis fünf Jahre hinauskamen -,
und da ist dann doch ein großes Problem, wenn ein Kind, das
sich an eine andere Person gebunden hat, plötzlich aus diesem
Zusammenhalt wieder herausgerissen wird. Wir haben auch
gerade im Gespräch mit jenem Berliner jungen Mann ge
sehen, daß dieses Problem auftauchte und daß das noch einen
ganz gewaltigen Bruch in der Entwicklung des Kindes geben
kann.
Er: Meiner Meinung nach ist ein ganz großes Problem auch
die Rechtssituation - daß nach dem heutigen Elternrecht die
leiblichen Eltern in jedem Falle das Hauptrecht auf das Kind
haben, selbst wenn sie sich jahrelang um das Kind nicht beson
ders gekümmert haben. Das halte ich für ein ganz großes Pro
blem ...
T. S.: So daß also in einem konkreten Fall eine Mutter, die
sich in einer Wohngemeinschaft um das Kind nicht gekümmert
hat, eines Tages auszieht und das Kind mitnimmt...

Nun ist das durch Abstammung begründete Eltern-Kind-


Verhältnis zweifellos keine nur biologische Beziehung, son
dern eine Art anthropologische Grundkonstellation, die für
den psychischen und emotionalen Entfaltungs- und Rei
fungsprozeß des heranwachsenden Kindes entscheidend ist.
Wie wenig es dabei auf das rein biologische Abstammungs
verhältnis ankommt, zeiat schon die Möglichkeit, daß der

?1
Vater- und Mutterpart durch Wahl- oder Adoptiveltern über
nommen werden kann. Fällt aber in dieser elementaren Drei

ecks-Beziehung ein „Eckstein" ganz aus (fehlt nicht nur die


leibliche Mutter, sondern auch die Muttergestalt - nicht nur
der biologische Vater, sondern auch die Vaterfigur), so wird
das normalerweise negative psychische Folgen für das Kind
haben. Das darf wohl als gesichertes Ergebnis heutiger Psy
chologie und Pädagogik gelten. Daher wird man damit rech
n e n m ü s s e n , d a ß i n e i n e r K o m m u n e a u f w a c h s e n d e K i n d e r,
die sich als eine Art Gemeinschaftskind aller erwachsenen

Kommunegliederfühlen sollen und keine nur ihnen ganz indi


viduell zugeordnete mütterliche oder väterliche ,,Bezugsper
son" haben, eine solche Kollektiverziehung nicht ohne Scha
den überstehen werden.
Um den rechten Einbau der Eltern-Kind-Beziehung in die
umfassende dörfliche Lebensgemeinschaft geht es seit Jah
ren, ja Jahrzehnten in der israelischen Kibbuzbewegung. Man
kann diese ländlichen Siedlungen auf genossenschaftlicher
Grundlage (zumindest die kleinen, überschaubar und somit
„intim" gebliebenen Kibbuzim) wie eine einzige, wenn auch
riesige Großfamilie (auf wahlverwandtschaftlicher Grundlage)
betrachten. Durch den Verzicht aller Kibbuzniks auf Privatei
gentum, durch wirtschaftliche Autarkie und die völlige Verge
sellschaftung von Produktion und Konsum mag der Kibbuz
auch an ein mittelalterliches Kloster erinnern. Wenn man so
will: an ein Kartäuserkloster! Nur daß im Kibbuz ein jedes
Häuschen nicht von einem einzelnen Mönch, sondern norma
lerweise von einer Familie als der kleinsten sozialen Einheit
der Großkommune bewotint wird - einer Familie allerdings,
in der die Kinder fehlen, von einer kurz bemessenen Zeit des
Tages abgesehen! Und damit stehen wir beim Problem ,,Fami
lie und Kollektiv im Kibbuz", wie Ludwig Liegle seine ,,Studie
über die Funktionen der Familie in einem kollektiven Erzie

hungssystem" genannt hat (Beltz-Verlag, Weinheim und


Base! 31973):
„In den meisten Kibbuzim leben die Kinder nicht bei ihren
Eltern. Sie sind vielmehr vom Zeitpunkt ihrer Entlassung aus
der Entbindungsanstalt an innerhalb von Gruppen gleichaltri
ger Kinder in den Erziehungsinstitutionen des Kollektivs un
tergebracht, wo sie von pädagogisch ausgebildeten Kibbuz-
Mitgliedern betreut werden. Nur für einige Stunden vereinigt

22
sich die ganze Familie täglichjn der Wohnung der Eltern."
(S. 21.)
In der Kibbuzbewegung ist die Spannungseinheit von Fami
lienerziehung und Altersgruppenerziehung im Kinderhaus
seit Jahrzehnten durchexerziert worden. Doch scheint es bis
zum heutigen Tag nicht gelungen zu sein, eine allseits be
friedigende Balance herzustellen.
Ausschnitte aus einem Gespräch mit Edna Brocke, einer
israelischen Soziologin und Politologin, die zur Zeit in
Deutschland lebt, vermitteln einen wesentlichen Einblick in
die Kibbuzbewegung:

E. B.: Das Schlagwort „die Kibbuzerziehung" ist etwas ver


einfachend, schon allein aus der Tatsache heraus, daß es drei
verschiedene Kibbuzströmungen politischer Art in Israel gibt
neben der vierten Strömung der religiösen Kibbuzim. Diese Tat
sache bedingt auch unterschiedliche Auffassungen von Erzie
hung und Familienleben. So finden wir in gewissen Kibbuzim,
die der einen Strömung angehören, heute starke Anzeichen, die
Kinder aus den Kinderhäusern wieder viel mehr in die Familien
zurückzubringen, während in den Kibbuzim der anderen Strö
mung noch weiterhin die Tendenz vorherrscht, die Kinder prak
tisch den ganzen Tag in den Kinderhäusern zu lassen. Diese
Drei- bzw. Vierteilung ist allerdings auch ein Versuch zu sche
matisieren, denn innerhalb dieser verschiedenen Kibbuzströ
mungen hat jeder Kibbuz die Freiheit, seine eigenen Vorstellun
gen zu entfalten und auch durchzuführen.
T. S.: ...so daß es da also praktisch eine große Palette der
verschiedensten Möglichkeiten gibt? Wenn Sie diese drei Strö
mungen charakterisieren wollten - wie würden Sie das tun?
E. B.:... in bezug auf Kindererziehung? Nun, ich glaube, der
Hauptstreitpunkt zwischen den „Ideologien", möchte ich fast
sagen, die diesen drei Strömungen zugrunde liegen, ist die Frage,
wieweit das Kind von seiner Familie, der Kernfamilie - den El
tern und Geschwistern - getrennt bleiben soll, das heißt im Kin
derhaus schlafen, lernen, spielen und mit seinen Kameraden Zu
sammensein, oder ob es zuhause schlafen soll bei seinen Eltern
usw. ...diese Frage ist die Kernfrage: wieweit die Trennung
der geographischen Bedingungen von Kind und Kernfamilie
weitergeführt werden soU, wie es zunächst in fast allen Kibbuzim
üblich war. Vielleicht ein Beispiel aus Kibbuz Nachal-Oz, der

23
früher ein Verfechter dieser Trennung war: er ist heute so weit,
die neuen Häuser für die Mitglieder so zu bauen, daß es eigentlich
Cottages sind, das heißt zwei-etagige Familienhäuser, wo Raum
genug für die Kinder der Familie vorgeplant ist, damit sie aus
den Kinderhäusern heraus und in die Familien-, Elternhäuser
zurückkommen...
T. S.: Hat man da bestimmte Erfahrungen gemacht...
schlechte Erfahrungen, daß man wieder zurückstrebt in die Fa
milie hinein?
E. B.: Es sind bestimmt unterschiedliche und vielschichtige
Erfahrungen gemacht worden, die vor allem auch von der Per
son der Betreuerin in dem jeweiligen Kinderhaus abhängen und
je nach Fähigkeiten und Möglichkeiten der Betreffenden stark
differieren. Dagegen machte man in dem bereits erwähnten Kib-
buz Nachal-Oz die vielleicht mehr allgemeine Erfahrung, daß bei
kleineren Kindern eine gesteigerte Häufigkeit von Bettnässen
auftrat, weshalb man eben dort versuchte, die Kinder wieder
mehr in die Elternhäuser zurückzuholen, zumindest für das
Übernachten, womit in vielen Fällen das Problem beseitigt war.
Man kam also zu dem Entschluß, das anfangs versuchte starre
Schema zugunsten dieser Lockerung aufzuheben.
T. S.: ...was allerdings nicht ausschließt, daß die Kinder
tagsüber dann doch in einem Kinderhaus wären, da ihre Eltern
berufstätig sind...?
E. B.: Ja natürlich - der Hauptpunkt ist eben das Übernachten;
eine weitere strittige Frage allerdings sind die Mahlzeiten, die
die Kinder bis zu einem gewissen Alter getrennt von den Er
wachsenen in den Kinderhäusem und nicht im gemeinsamen
Eßsaal einnehmen. Inzwischen fängt man in einigen Kibbuzim
an, der gemeinsamen Mahlzeit eine größere Bedeutung beizu
messen und die kleineren Mahlzeiten, das Frühstück z. B., in dem
kleinen Haus, das heißt in der Kemfamilie mit den Eltern, ein
nehmen zu lassen.
T. S.: Sie waren beim Militär und sind dort sicherlich mit
Leuten zusammengewesen, die in einem Kibbuz aufgewachsen
sind. Wie weit unterschieden sich diese nun von den anderen,
das heißt - können Sie etwas sagen über das... „Produkt" aus
dieser Erziehung?
E. B.: Nun, es ist schwer, aus einem so kleinen Erfahrungsbe
reich Verallgemeinerungen zu ziehen. Dennoch würde ich sagen,
daß die Kibbuzerfahrung offenbar doch einen sichtbaren Einfluß

9 4
auf die Entwicklung hat. Ich konnte feststellen, daß die Kibbuz-
mitglieder sich viel mehr auf ihre Umwelt einstellen, hilfsbereiter
sind und sozialer denken und handeln.
T. 5.; Eine Frage zu möglichen vielleicht... negativen Auswir
kungen auch: wenn ein Kind so stark in der Gruppe aufwächst,
wird es ja auch leicht gruppenbestimmt - könnte man sagen,
daß emotionale Fähigkeiten des Individuums bei solchen Leuten
ebenfalls stark ausgeprägt waren oder...
E. B.: ...ja - da mischen sich bei mir natürlich persönliche
Erfahrungen mit Dingen, die ich gelesen habe, konkrete Ein
drücke mit Angelesenem -, aber, wieder vereinfacht gesagt,
scheint mir doch eine gewisse Verflechtung der emotionalen
Bereiche vor allem in zwischengeschlechtlichen Beziehungen
einzutreten, die vielleicht dadurch bedingt sein mag, daß sich
immer alles auf die Gruppe ausgerichtet hat und viel weniger
auf bestimmte Individuen, sei es innerhalb der Gruppe oder in
nerhalb der Gesellschaft, in der man lebt; wie es z.B. ein Kind
gewohnt ist, das in der Kemfamilie mit einer oder vielleicht nur
zwei Bezugspersonen aufwächst."

Es wäre sogar denkbar (Ludwig Liegle wirft diesen Einwand


auf, ohne sich mit ihm zu identifizieren), „daß der,Preis' für
die starke Bindung des Kibbuzniks an Gruppennormen und
für die... Vermeidung von Konflikten zwischen Eltern und
Kindern - unter anderem für die Abschwächung der ödipalen
Bindungen - ein Mangel an profilierter Individuation und an
schöpferischer Unruhe bei Jugendlichen und jungen Erwach
senen wäre; es ist in diesem Zusammenhang häufig beobach
tet worden, daß es der im Kibbuz geborenen und erzogenen
Jugend an Jener geistig-seelischen Differenziertheit fehlt, die
für die europäischen Juden der Gründergeneration der Kib-
buzim charakteristisch war...". Ich vermute, daß die richtige
Balance zwischen Kernfamilie und Kollektiv, zwischen Klein
familie und Großkommune nicht nurschwerzu finden ist, son
dern auch gar nicht ein für allemal,,hergestellt" werden kann
- daß sie sich vielmehr immer wieder neu einpendeln muß.
Jedenfalls ist das eine Erfahrung, die auch die hiesigen Wohn
gemeinschaften immer wieder von neuem machen und mit
der sie vermutlich bis in alle Zukunft konfrontiert bleiben wer
den.
Das gilt natürlich nicht für Kommunen im engeren Sinne

25
des Wortes, die weder Kern- oder Kleinfamilien als ihre Unter
gliederungen noch überhaupt stabile Zweierbeziehungen im
Rahmen der größeren Gemeinschaft dulden wollen. Und da
mit hole ich - endlich! - die von manchem vielleicht längst
erwartete Abgrenzung von ,,Kommune", „Wohngemein
schaft", „Großfamilie" nach, die ich bisher (einem verbreite
ten Sprachgebrauch entsprechend) der Einfachheit halber
synonym gebraucht hatte. Man kann aber durchaus sinnvoll
(wenn auch nicht alle Wohngemeinschaften und Kommunen
eine solche Differenzierung mitvollziehen würden) von „Kom
munen", „Wohngemeinschaften" und ,,Großfamilien" in
einem engeren, spezifischen Sinne sprechen. Einige Wohn
gemeinschaften wollen unter keinen Umständen als „Kom
munen" tituliert werden. Ein Mitglied der christlichen
Wohngemeinschaft „Gut Küppershof" (die uns noch ausführ
licher beschäftigen wird) präzisierte die Unterscheidung von
Wohngemeinschaft und Kommune so:
„Unter Kommune wird häufig ein Ansatz zur Wohngemein
schaftverstanden, der zum Ziel hat, bestehende Familien- und
Eheformen aufzulösen beziehungsweise sie grundlegend an
ders zu organisieren. Aus diesem Grund bezeichnen wir uns
ungern als Kommune, weil wir im Gegensatz zu der genannten
Auffassung davon ausgehen, daß die Kleinfamilien das Kern
stück einer Wohngemeinschaft bilden müssen. Diese Kleinfa
milien müssen auch schon vor Bestehen der Wohngemein
schaftfunktionsfähig gewesen sein, da sich die Probleme der
Kleinfamilie durch Einzug in eine Wohngemeinschaft nicht
lösen lassen, sondern viel eher durch einen solchen Einzug
verstärkt werden. Dies bedeutet umgekehrt, daß jede Kleinfa
milie -zumindest theoretisch - in der Lage sein muß, auch
ohne Wohngemeinschaft einen offenen und nach außen wirk
samen Lebensstil zu verwirklichen. Wir gehen also nicht da
von aus, daß die Kleinfamilienstruktur a priori schlecht ist und
um jeden Preis geändert werden muß, sondern daß es darum
geht, der Kleinfamilie den richtigen sozialen Raum zu geben,
in dem sie sich entfalten kann. Deswegen halten wir die
Bezeichnung Kommune für unser Zusammenleben für irre
führend und nennen uns lieber etwas vorsichtiger und neutra
ler Wohngemeinschaft. Den häufig verwendeten dritten
Begriff ,Großfamilie' können wir für uns nicht in Anspruch
nehmen, weil wir nicht mit mehreren Generationen zusam-

9 A
menleben, wenn man einmal von den Kindern absieht. Erst
wenn es uns möglich sein wird, den einen oder anderen älte
ren Menschen, etwa die Eltern eines Bewohners des Hauses,
mit in die Gemeinschaft zu integrieren, könnten wir mit einem
gewissen Recht von Großfamilie sprechen.
Kleinfamilien sind also die Grundbausteine einer Wohnge
meinschaft, ohne die diese auf Dauer nicht existenzfähig ist.
Dies hat sich bei uns nicht zuletzt durch die Beobachtung be
stätigt, daß sehr viele Unverheiratete eine Art .Familienan
schluß' suchen, in dersiedas finden, was sie zu Hause bei ihren
Eltern nicht gefunden haben. Viele suchen einen Anschluß, in
dem sie nicht mehr den von zu Hause gewohnten Erziehungs
druck spüren, aber andererseits an der Atmosphäre einer
Kleinfamilie teilhaben können."
Ob nun tatsächlich die Kleinfamilien unentbehrliche
Grundsteine einer Wohngemeinschaft sind, ohne die diese
nicht existenzfähig bliebe, wird zweifellos zwischen den ver
schiedenen Gruppierungen mit ihren Wohngemeinschafts-
Ideen umstritten sein. Daß es aber nicht ohne ,.Mörtel" (um
im Bild zu bleiben), nicht ohne Bindemittel geht, daß etwas
da sein muß, was den Zusammenhalt der Gemeinschaft ga
rantiert, wird jeder anerkennen und bestätigen. Damit kom
men wir zu einem weiteren Fragenkomplex.
Zahlreiche Wohngemeinschaften - vor allem vorüberge
hende Gruppierungen im studentischen Bereich - sind vor
nehmlich zweckhaft orientiert. Man zieht zusammen, für eine
relativ kurze, überschaubare Zeit, weil das gemeinsame Hau
sen und Haushalten Geld, Kraft, Arbeit spart. Das Auto, der
Kühlschrankoderwasimmersonst sich der einzelne zu einem

angenehmen Leben wünscht, aber nicht leisten kann - zu


mehreren rentiert's sich. Die Frage nach einertragenden Basis
der Gemeinschaft kommt gar nicht erst auf: man bleibt zu
sammen, solange es sich für den einzelnen lohnt.
Grundsätzlich anders ist die Situation in jenen Wohnge
meinschaften, die mit dem Willen zur Dauer gegründet wer
den, in denen das äußere Zusammenleben Ausdruck und
WirkfaktorinnererGemeinschaft seinsoll. Man zieht nicht aus
bloßen Zweckmäßigkeitserwägungen heraus zusammen. Die
Erwartung ist anspruchsvoller, und entsprechend auch das
Engagement, zu dem man bereit ist. Man hofft, in einer sol
chen Wohn- und Lebensgemeinschaft menschenwürdiger

1 7
existieren zu können als in der sonstigen Vereinzelung und
Isolierung - erhofft auch Hilfe für den Prozeß der eigenen
Selbstfindung und Selbstwerdung. Und also ist man auch be
reit, den Preis zu zahlen: sich selbst ganz einzubringen, die
anderen ganz anzunehmen! Insofern hat der Einzug in eine
solche Wohngemeinschaft mancherlei Parallelen zu einer
Eheschließung. Da taucht dann allerdings die Frage auf: Wird
unsere Gemeinschaft Bestand haben - damit uns nicht eines
Tages nach allem, was wir nicht nur materiell, sondern auch
geistig, emotional, existentiell,,investiert" haben, die ,.Schei
dung" droht? Von welcher Art und Wirksamkeit ist der inte
grierende Faktor, der den zentrifugalen Kräften das Gleichge
wicht halten wird?
Das sind Probleme, wie sie der früheren Großfamilie bäuer
lichen Charakters meistens erspart blieben. Wir können das
heute noch in zahlreichen Entwicklungsländern beobachten,
in denen die Großfamilie einer vorindustriellen Zivilisation
noch längst nicht ausgestorben ist und darum nach Struktur
und Funktion immernoch „am lebenden Objekt" studiert wer
den kann. Es ist hier keineswegs nur die Macht des gemeinsa
men Blutes, dieZusammenhalt stiftet, nicht nur das Band viel
fältiger Verwandtschafts- und Schwägerschaftsbeziehungen,
die die Großfamilie vor dem Zerfall bewahrt. Mächtiger Inte
grationsfaktor ist zugleich die soziale Abhängigkeit des Indivi
duums vom Familienverband; der Zwang, sich anzupassen
und einzuordnen, ist nahezu unwiderstehlich, da nur die
Großfamilie normalerweise dem einzelnen emotionale Gebor
genheit und wirtschaftliche und soziale Sicherheit gibt.
Doch lebt der Mensch nicht nur vom Brot allein. Er lebte
nie vom Brot allein! An die Stelie blutsmäßigen Zusammen
halts konnte auch eine geistige Verwandtschaft treten; statt
des elementaren Bedürfnisses, das Leben mafer/e//zu fristen
und zu sichern, konnten spirituelle Bedürfnisse ausschlagge
bend werden. So steht neben der blutsbestimmten Großfami
lie seit altersher die geistige Familie des Klosters - „Kloster"
hier im weiten Sinn des Wortes verstanden als ein allgemein
religionssoziologisches (und nicht nur christliches) Phäno
m e n .

Was kann Zusammenhang stiften, wenn die Blutsbande


fehlen? Im indischen Ashram Ist integrierender Faktor der klo
sterähnlichen Wohngemeinschaft der Meister, der ,,Guru" -

9 R
eindeutig und so ausschließlich, daß sich normalerweise mit
seinem Tod der Ashram auflöst. Die Strahlkraft seiner Persön
lichkeit, die ungewöhnliche spirituelle Faszination, die von
ihm ausgeht, läßt eine Art verschworener Schülerschaft in sei
nem Umkreis entstehen. Diese Ashrams sind also „nicht Klö
ster im westlichen Sinn, sondern Gemeinschaften, die sich
um einen Heiligen gebildet haben, der Vermittler des Göttli
chen ist". (U. V. Mangoldt, „Ashrams - die geistigen Zentren
Asiens", 0. W. Barth-Verlag 1962.)
Das christliche Kloster stand runde anderthalb Jahrtau
sende unter der gemeinschaftsstiftenden, gemeinschaftskon-
solidierenden Intention einer „Nachfolge Jesu" im Sinne der
sogenannten „evangelischen Räte" (Armut, Keuschheit und
Gehorsam) - wie die jeweilige Ordensregel sie interpretierte
und konkretisierte. Diese scheinbar selbstverständliche Basis
jeder christlichen Klostergemeinschaft in ihrer fraglosen Inte
grationskraft wird seit einer Reihe von Jahren von erschrek-
kenden, ja bedrohlichen „Erdbeben" heimgesucht. Die große
Zahl der Austritte, der die Substanz der Gemeinschaften ge
fährdende Nachwuchsmangel, sind nur ein Symptom. Nicht
weniger Besorgnis erregt, daß viele Ordensleute, die an ihrer
bewährten Lebensform festhalten möchten, innerlich verun
s i c h e r t s i n d . D e n n n i c h t n u r d i e Ve r b i n d l i c h k e i t d e r O r d e n s r e

geln wird in einem wahren Trommelfeuer von Fragen, Ein


wänden, Zweifeln immer mehr angeschlagen, ja durchlöchert
(„sind sie in der Welt von heute noch lebbar?", „sind sie noch
sinnvoll, hilfreich in der Kirche von heute und morgen?"), so
gar die ,,Drei Räte" selbst (Armut, Keuschheit und Gehorsam)
sind ins Feuer der Kritik geraten: ihre „evangelische" Legith
mation wird nicht nur von der neutestamentlichen Exegese,
sondern auch in den Klöstern selbstzweiflerisch diskutiert.
Vielleicht wird bei der ganzen Debatte manchmal zu wenig
bedacht, daß - falls sich die bisherige neutestamentliche
Begründung des Ordensstandes als nicht stichhaltig erweisen
sollte - damit noch nicht die Möglichkeit oder Sinnhaftigkeit
eines christlichen Ordensstandes fragwürdig werden würde.
Schließlich stellen „Mönch" wie ,,Nonne" so etwas wie an
thropologische Schlüsselfiguren dar und sind darum in vielen
Religionen zu finden. Warum sollten sie da im christlichen
Bereich nicht auch ihr legitimes Heimatrecht haben - ähnlich
wie es Ehe überall oibt aber eben auch in einer spezifisch

? 9
christlichen Gestalt? Aufzugeben wäre dann lediglich die bis
herige Identifizierung von bedingungsloser, radikaler „Nach
folge Jesu" mit dem monastischen (klösterlichen) Leben - eine
Identifizierung, die immer schon fragwürdig war. Die ,,be
schaulichen", „kontemplativen" Orden würden ihren Weg der
Drei Räte weitergehen - wie überall auf der Welt, wo Men
schen sich ganz auf das innere Leben konzentrieren (auf spiri
tuelle Versenkung, Gebet, Meditation oder Kontemplation)
und dafür ein Leben in Armut, Gehorsam geschlechtlicher
Enthaltsamkeit auf sich nehmen! Das einzige, was sich geän
dert haben würde, wäre die Wertung des monastischen Weges
als einer Möglichkeit (und nicht der Möglichkeit) radikaler
Christusnachfolge.
Der Jesuit Heinrich Krauss (bis 1973 Provinzial der Süd
deutschen Provinz der Gesellschaft Jesu) hat in der Jesuiten
zeitschrift Orientierung(3^.8. u. 15.9.1974) einen erstaunlich
offenen Artikel zur Krise des katholischen Ordenslebens ver
öffentlicht. Er spricht darin die heutige Situation der soge
nannten „tätigen" Orden (nicht der „beschaulichen") an -
Ordensgemeinschaften also, die, wie etwa der Jesuitenorden,
im ,,Apostolat" (im engen oder weiten Sinn) ihr erklärtes
Ordensziel sehen: in Mission, Seelsorge, Jugenderziehung,
Kranken- und Armenpflege usw. Nach Krauss fragen sich ge
rade in diesen tätigen Orden heute viele Mitglieder, ob wirklich
das Evangelium von ihnen eine „Nachfolge Jesu" im Sinn der
drei traditionellen „Räte" fordere; sie fragen sich, ob nicht
auch Orden oder ordensähnliche Gemeinschaften mit nicht

geringerem apostolischem Einsatz denkbar wären - ohne den


spezifischen Gehorsam einem Oberen gegenüber, ohne
„Armut" (die in Wahrheit bei den heutigen Ordensleuten ja
doch nur eine angebliche Armut sei), vielleicht sogar ohne
prinzipiellen Verzicht auf Ehe. Krauss wehrt den Verdacht ab,
daß Ordensleute, die so denken, „die Basis für ein Ordensle
ben verloren" hätten. Bei näherem Zusehen stelle sich viel
mehr heraus, daß bei ihnen die geistliche und glaubensmäßige
Grundhaltung ,,tiefer und reifer" geworden sei. Ohne bereits
im gegenwärtigen Zeitpunkt eine totale Umwälzung des ka
tholischen Ordenslebens für möglich zu halten, steht Heinrich
Krauss doch den Versuchen positiv gegenüber, eine neue Art
von Ordensleben in ganz kleinen, überschaubaren Wohnge
meinschaften zu versuchen - ohne ,,Oberen" im Haus, ohne

30
völlige Besitzlosigkeit, vielleicht sogar ohne grundsätzlichen
Ve r z i c h t a u f e h e l i c h e P a r t n e r s c h a f t .
Sieht man nun genauer zu, wie dieses neuartige „Ordensle
ben" in kleinen familiären „Kommunen" nach Heinrich Krauss
aussehen würde, so stellt man verblüfft fest: das ähnelt zum
Verwechseln dem Leben In einigen christlichen Wohnge
meinschaften, wie es katholische und evangelische Christen,
Verheiratete wie Nichtverheiratete, schon seit Jahren erpro
ben und praktizieren. Aber auch die Ordenskommunen sind
ja nicht nur Vision, sondern in vielfältigster Gestalt schon rea
lisiert. Da wächst etwas von beiden Seiten aufeinander zu (aus
dem alten Bereich der Orden und dem noch älteren Bereich
der Welt), vermischt und vermählt sich; ein Drittes entsteht,
bei dem es vermutlich nicht mehr sinnvoll ist zu fragen: Ist das
„noch" Kloster? oder: Ist das „schon" Kloster? Es ist etwas
anderes, jenseits des traditionellen Dualismus von „Kloster"
und „Welt"-dafür aber vielleicht nahe am Evangelium, nahe
der Bergpredigt, nahe der „Nachfolge Jesu".
Bei der bereits erwähnten Tutzinger Tagung über Kommu
nen und Wohngemeinschaften erregten zwei junge Frauen
aus betont „christlichen" Wohngemeinschaften das größte
Interesse der Tagungsteilnehmer. Sie hatten gar nicht damit
gerechnet und waren verblüfft, so plötzlich in den Mittelpunkt
der allgemeinen Aufmerksamkeit zu geraten. Von Gut Küp
pershof bei Aachen kam die eine - von Eschweiler die andere.

GutK.: Wir existieren seit eineinhalb Jahren auf diesem Bau


emhof in der Wohngemeinschaft, sind zur Zeit zwölf Personen,
davon zwei Familien mit einem Kind und sieben Einzelne, davon
zwei Studentinnen, fünf Studenten. Motiv für den Einzug war
eigentlich der Wunsch nach einem intensiv christlich ausgerich
teten Leben, danach, Verantwortung für andere zu übernehmen,
wie es das Vorbild Christi intendiert, und so lag es nahe, zusam
menzuziehen, um diese Möglichkeiten auszuschöpfen.
T. S.: Sie würden sagen - Verantwortung für andere... dafür
wäre der Rahmen einer Kleinfamilie (auch dort kann ja eine Frau
für ihren Mann und ihre Kinder Verantwortung übernehmen) -
zu eng. Sie wollten diesen Kreis erweitern...
GutK.: Ja, wir wollten ihn bewußt erweitem, weil das Vorbild
Christi für alle Menschen da war und weil es uns gleichzeitig
gezeigt hat, wie man von Besitz frei werden kann - das waren
wohl die beiden Hauptpunkte! Wir wollten versuchen, aus der
starren Fixierung in der Ehe nur auf den Partner und die Kinder
wegzukommen auch auf die anderen hin, die uns ebensoviel
bedeuten, und^mit ihnen zu lernen, frei zu werden von Dingen,
die uns bisher doch relativ gefangengenommen haben.
T. 5.; Wie sieht das konkret aus... auch in der kleineren
Wohngemeinschaft von Eschweiler, wo berufstätige Frauen zu
sammenleben ... ?
Eschw.: Wir wohnen in einer kleinen Wohngemeinschaft zu
dritt - die Grundlage ist die gleiche wie in Küppershof, das heißt,
auch wir wollen auf der Grundlage des Christseins leben und
glauben, daß diese Wohngemeinschaft eine der möglichen For
men ist.
T. S.: Sie sprechen vom Vorbild Christi ... wie kann man
vom Vorbild Christi her zu einer Freiheit dem Besitz, dem
Eigentum gegenüber kommen, wenn man in einer solchen
Wohngemeinschaft lebt?
Eschw.: Der Ansatz liegt sicherlich darin, daß wir durch Chri
stus eine völlig neue Wertschätzung der Einzelmenschen be
kommen haben. Dieser einzelne uns gegenüberstehende Mensch
wird von Christus geliebt, das heißt, er hat einen unermeßlichen
Wert auch für uns als Gegenüber. Das heißt aber auch, daß wir
durch Festhalten an eigenem Besitz uns nicht eigentlich diesem
Gegenüber zuwenden können, weshalb unser Besitz allen dienen
und darin die Achtung für den anderen ausgedrückt werden soll.
Es soll hier allerdings nicht der irreführende Eindruck entstehen,
daß wir irgendwelche klösterliche Verzichtforderungen oder
Armut propagieren - das bestimmt nicht. Wir wollen nicht ohne
Besitz leben, sondern wir wollen frei von ihm sein, nicht an
i h n fi x i e r t .
T. S.: Kann man so etwas im Grunde nicht erst dann machen,
wenn man sicher ist, daß man eine Lebensgemeinschaft bildet?
Gut K.: ...ja, das ist natürlich eine berechtigte Frage. Man
muß das Ganze auf dem Hintergrund sehen, daß wir erst ein
Jahr zusammengewohnt haben, bevor wir die Freiheit und die
Bereitschaft hatten, unseren ganzen Besitz in einen Topf zu
schmeißen. Das heißt, wir haben Entwicklungen durchgemacht,
die zum Teil auch recht schmerzlich waren. Wir mußten erst
einmal sehen, ob wir überhaupt fähig sind, so zusammenzuleben.
T. S.: Wie machen Sie das nun konkret? Zum Beispiel: Sie
fahren jetzt in Urlaub... das kostet Geld...

^2
Gut K.: Nun... das sieht bei uns konkret so aus: bei Beträgen
über hundert Mark beschließt bei uns die Hausversammlung,
wobei, einmal im Monat, alle anwesend sind; es wird bespro
chen, wer in Urlaub fährt; es werden Wünsche geäußert und
Ziel und Ausmaß des Urlaubs bestimmt.
T. S.: Nun wird gerade in der Frage des Besitzes von Wohn
gemeinschaften und Kommunen vielfach stark propagiert, die
sen Verzicht auf Besitz auch in der Geschlechtsgemeinschaft
zu praktizieren, das heißt also: der Mann soll nicht den An
spruch auf den - „Besitz" seiner Frau haben. Wie denken Sie
darüber?
Gut K.: Grundsätzlich wollen wir das auch, daß einer den
anderen nicht besitzt, es ist nur die Frage, wie man dieses Pro
blem löst. Bei uns heißt das nicht, daß wir völlig verantwor
tungslos mal diesen mal jenen - „vernaschen", sondern uns doch
relativ verantwortlich wohl auf einen Partner festlegen, aber im
mer in dem Bewußtsein, daß es für diesen Partner wichtig ist,
Freiheit zu haben, das heißt immer wieder sich klarzumachen,
daß der andere nicht uns gehört, sondern daß wir uns gegenseitig
gehören und auch bedenken müssen, ob es für den anderen jetzt
nützlich ist, Ansprüche auf ihn zu erheben.
T. S.: Haben Sie in der Zeit, die Sie zusammenleben, in diesem
Punkte schon Schwierigkeiten gehabt... hat z. B. Eifersucht eine
Rolle gespielt... ?
Gut K.: Direkt in dieser Richtung eigentlich noch nicht -
das mag aber daran liegen, daß die beiden fest gebundenen Paare
bereits als Verheiratete in die Gemeinschaft kamen; damit war
ihre Stellung in der Gemeinschaft von vornherein geklärt. Die
anderen haben meist Freunde, die in der Stadt wohnen - insofern
k a m e n d i r e k t i m H a u s n o c h k e i n e K o n fl i k t e a u f .
T. 5.; Wenn nun Ihre Freunde Sie besuchen und zeitweise
mit Ihnen leben, dann ist doch das auch ein ökonomisches Pro
blem, wie lösen Sie das zum Beispiel?
Gut K.: Nun, da ist eine ganz praktische Regelung, daß wir
für Mahlzeiten einen bestimmten Satz festgelegt haben, der für
„Dauergäste", die fast ständig an den Wochenenden oder in den
Semesterferien da sind, etwas niedriger ist und dann einfach ein
bezahlt wird.
T. S.: Noch etwas zum spezifisch Christlichen: wie sieht Ihr
Alltag aus?
Eschw.: Wir haben in unserer kleinen Wohngemeinschaft

33
ebenso wie in der großen feste gemeinsame Zeiten, in denen
wir zum Beispiel morgens Andacht halten, gemeinsame Essens
zeiten und abends einen gemeinsamen Tagesabschluß. In der
großen Wohngemeinschaft ergänzt sich das noch etwas durch
dynamische Prozesse - da werden zum Beispiel in den Semester
ferien Gebetszeiten eingerichtet, weil das Bedürfnis, gemeinsam
zu beten, einfach größer ist, wenn alle im Haus sind. Das ist
aber alles kein Gesetz, sondern eine freiwillig gestellte Ord
nung - der sich niemand unterziehen muß, weil alle Zwänge
hinderlich sind für unsere Freiheit. Aber wir haben festgestellt,
daß wir mit der Zeit dazu kommen, freiwillig uns gewissen Ord
nungen zu unterwerfen, weil wir merken, daß sie für die Ge
meinschaft wichtig sind, daß das gemeinsame Gebet grundsätz
lich uns eigentlich am meisten verbindet.
Gut K.: Auch wir haben eigentlich die gleiche Erfahrung ge
macht, wovon die interessanteste war, daß Krisenzeiten, an de
nen die meisten Wohngemeinschaften scheitern, uns gerade be
sonders stark verbanden, weil sie uns dort forderten, wo unsere
Motive zur Wahl dieses Gemeinschaftslebens lagen; immer dann,
wenn die Frage besonders dringlich sich stellte: „Trägt unsere
Glaubensbasis uns durch, oder ist sie eine Illusion... ?" spürten
wir, daß sie trotz oft schwerster Konflikte sich sehr gut bewährte,
nicht zuletzt vielleicht, weil wir im gemeinsamen Lebensvollzug
gewisse Regeln haben, die wir alle akzeptieren.
T. 5.; Haben in der Zeit Ihres Zusammenlebens Mitglieder
die Gemeinschaft verlassen?
Gut K.: Ja, ganz am Anfang ein Student, der mit einer recht
vagen Motivation eingezogen war und sehr bald merkte, daß
das nicht der richtige Ort für ihn sei. Außerdem eine Familie,
die nach einigen Monaten auszog mit der gerade gegenteiligen
Erkenntnis: daß sie eine noch festere Lebensform brauche - sie
gingen in die sogenannte „Jesus-Bruderschaft", eine schon stär
ker klösterlich geprägte Gemeinschaft für Familien.
T. S.: Es sind doch auch in Ihrer Gemeinschaft klösterliche
Elemente enthalten - wenn Sie die... „orten" würden, wo wür
den Sie sie ansiedeln? Sagen wir - im benediktinischen, im fran
ziskanischen oder ignatianischen Stil, oder mehr nach der Bru
derschaft von Taize, die ja eine sehr gute, auch in das Weltliche
hinein übertragene Regel hat... Wie würden Sie das sehen?
Gut K.: Ich würde sagen, daß Taize an sich am ehesten unserer
Konzeption entspricht - als weiteres wäre noch etwa, soweit
^ 4
ich das kenne, die Konzeption der Franziskaner vergleichbar...
mit dem Unterschied allerdings, daß wir keinen Vorsteher haben,
keine Autorität mit Weisungsbefugnis!
T. S.: Und wenn Sie Meinungsverschiedenheiten haben - wie
werden die ausgetragen... durch Diskussionen... oder...?
Gut K.:]2l ... was natürlich nicht heißt, daß wir alles demokra
tisch regeln wollen, weil das erfahrungsgemäß unsinnig ist. Wir
sehen selbstverständlich, daß einige von uns einen größeren
Schatz an Lebenserfahrung und vielleicht auch die besondere
Gabe haben, Gespräche zu führen oder Lösungen anzubieten,
woraus es sich zwangsläufig ergibt, daß von Fall zu Fall einige
mehr oder weniger die Führung haben, was aber nicht heißt,
daß ihnen nicht widersprochen werden kann.

Das klingtja nun fast „verteufelt fromm"-wenn man einmal


Goethes Urteil über seine „Iphigenie", sie sei ihm eigentlich
„verteufelt human" geraten, so variieren darf. Was sind das
für Leute, die so zusammenleben: Sind sie nicht vielleicht
d o c h e i n b i ß c h e n , , b o r n i e r t " o d e r, , s e k t i e r e r i s c h " ? I c h w o l l t e
es genauer wissen. Und: Gut Küppershof war eine Reise wert!
Hier einige Auszüge aus einem eingehenderen Gespräch mit
Dr. H., der seit Beginn der Gemeinschaft, seit Januar 73, in
Gut Küppershof lebt:

7. 5.; Wenn Sie nun nach längerer Zeit, die Sie hier mit den
anderen zusammenleben, sich die Frage stellen: wie sähe wohl
der ideale „Genosse" meiner Wohngemeinschaft aus? Welche
Eigenschaften müßte jemand haben, der für ein Leben in einer
solchen Wohngemeinschaft und speziell in einer, wie Sie sie hier
haben, geeignet wäre?
Dr. H.: Nun... als erstes einmal müßte er überzeugter Christ
sein, wobei ich unter „überzeugt" verstehe, daß man ihm in
seinem Alltag anmerkt, wovon er lebt und wofür er lebt. Daß
man aus der Art und Weise, wie er Probleme anpackt, wie er
Gespräche führt, wie er mit Menschen umgeht, merkt: das ist
wirklich jemand, bei dem ich angenommen und geborgen bin,
jemand, bei dem ich spüre, daß mehr dahintersteht als nur dieser
Mensch! Wenn diese Voraussetzung nicht gegeben ist, kommt
es - wie wir aus den Erfahrungen mit uns besuchenden betonten
NichtChristen wissen-doch zu erheblichen Schwierigkeiten und
Spannungen, die vorwiegend darauf beruhen, daß man sich nicht
versteht und einander nicht akzeptiert - Spannungen, die auf
Dauer nicht eigentlich erträglich sind.
T. S.: Könnte mit dem Postulat des „entschiedenen Christen"
nicht auch ein elitäres Bewußtsein sich einschleichen in dem
Sinne: wir sind besser als andere Leute...?
Dr. H.: Nun... besser bestimmt nicht, wir sind höchstens
anders. Der Gefahr dieses „elitären Bewußtseins" sind wir
durchaus ständig ausgesetzt aufgrund unserer relativ engen
Struktur. Wir wissen jedoch auch: wenn wir in der Gemeinschaft
eine starke Auseinandersetzung mit Nichtchristen haben
- wohlgemerkt in der Gemeinschaft -, dann werden dadurch
enorme Kräfte für diese Auseinandersetzung gebunden, und man
hat praktisch keine Kräfte mehr frei, um nach außen wirken
zu können, um sich mit Gästen, wo immer sie herkommen, aus
einanderzusetzen. Fast wesentlicher noch erscheint mir ein
zweiter Gesichtspunkt: der Nichtchrist in einer Gemeinschaft
von Christen fühlt sich sehr stark in der Isolation - er kann
nicht nachvollziehen, was die anderen bewegt und was sie tun,
dieser inneren Bewegung Ausdruck zu verleihen... er kann
daran nicht teilnehmen und fühlt sich zwangsläufig ausgeschlos
sen ...

Dieses betonte Kriterium ,,nun - ein Christ müßte er jeden


falls sein" - als eigentlich einziges auf die Frage genannt,
welcher Art Menschen man in Küppershof in die Wohnge
meinschaft aufnehmen könnte, verschlägt manchem vielleicht
ein wenig den Atem. Es klingt alles andere als „anspruchslos".
Wa s i s t g e m e i n t ?

Dr. H.: Wenn hier einer einziehen will, steht im Vordergrund


die Frage: Lebt dieser Mensch relativ zu seinen Möglichkeiten
überzeugend? Und in dem Moment, in dem er das auf seiner
christlichen Basis tut, spielt dann die Frage, ob das viel oder
wenig ist, eine völlig untergeordnete Rolle.
T. S.: ... es würde also auch die Konfession, die er hat, eine
untergeordnete Rolle spielen?
Dr. H.: Das steckt damit drin: die Einheit, die wir hier zusam
men leben, ist eben nicht die Einheit einer Konfession, sondern
wirklich die Einheit der Gegenwart Christi, wie man das im
klassischen kirchlichen Wortschatz ausdrückt, und das muß sich
irgendwie jeden Tag zeigen.
Nicht deshalb sollen also in dieser christlichen Wohnge
meinschaft Küppersbusch nur Christen Mitglieder werden
dürfen, weil man „unter sich" („unter uns Pastorenkindern")
bleiben will, weil man nur im Kontakt mit Gleichdenkenden
die notwendige Selbstbestätigung findet, weil man sich unbe
queme Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden erspa
ren möchte. Der Ausgangspunkt ist vielmehr: Nur wenn wir
uns untereinanderwölWg verstehen, wird unsere Gemeinschaft
so gefestigt und tragfähig werden, daß wir uns für alle Außen-
kpntakte vorbehaltlos öffnen können. Da spielt dann die Frage
„Christ" oder,,NichtChrist" keine Rolle mehr. Die Wohnge
meinschaft Küppershof öffnet Haus und Herzen jedem, der
kommen will. Zu den regelmäßig donnerstags stattfindenden
Gesprächskreisen werden mögliche Interessenten durch ge
druckte Handzettel eingeladen. Da gibt es Themen wie „Ver
einsamung und Kontaktschwierigkeiten unter den Studen
ten", „Auroville... Beginn einer Utopie?", „Menschenbild in
d e r Te c h n i k " , „ L e b e n m i t a n d e r e n - L e b e n i n U n f r e i h e i t ? " ,
„Leistung - und dann noch Mensch sein?", „Die Sozialstruk
turen christlicher Gruppen im ersten Jahrhundert", „Wie wird
freie Zeit zur Freizeit?". Aber es fehlt im Angebot auch nicht
die ,,Einladung zum Schwätzchen" unter Verheißung von
„ L u f t , R a u m u n d B o w l e " , o d e r d a s , , F e s t w i d e r d i e Ve r -
kopfung" unter dem Motto „Der Mensch lebt nicht vom
Intellekt allein, es muß auch Bier dabei sein." Auch zum
Spielen oder Basteln fühlt man sich nicht zu erwachsen.
Alles das betrachtet man als Experimentierfeld des Christ
lichen.

T. S.: Könnten Sie das konkret sagen, wie man - im Geiste


Christi bastelt?
Dr. H.: ... Ich glaube, daß es auch dabei darauf ankommt,
den Menschen zu achten in dem, was er kann, auf der Basis
dessen, was er mitgebracht hat, und nicht nach einem allgemei
nen Wertmaßstab - daß man ihn bejaht, womit man ihm gleich
zeitig hilft, sich selber zu bejahen.

Eine ideale Gemeinschaft also? Auch die auf Küppershof


m u ß t e n l e r n e n , d a ß ü b e r a l l „ d e r Te u f e l i m D e t a i l " s t e c k t -
und daß eine große Idee, eine generöse Absicht und ein enthu
siastisches Engagement an den kleinen Widrigkeiten des All-

37
tags scheitern könnten, wenn man diese nicht mit Toleranz,
Vernunft und der notwendigen Dosis Humor zu meistern ver
steht.

T. S.: Sie leben jetzt eine Weile hier zusammen, und ich kann
mir denken - als Sie hier anfingen, hatten Sie so manche Ideale,
wie Sie gemeinschaftliches Leben gestalten würden. Haben Sie
im Laufe der Zeit von der Erfahrung her hier Ideale zurück
schrauben müssen?
Dr. H.: Ich würde so weit gehen zu sagen: von unsern An
fangsvorstellungen ist nicht mehr sehr viel übriggeblieben. Unser
ursprünglicher Gedanke war: gut, da ist eine Anzahl von Chri
sten, Verheiratete, Unverheiratete - wir ziehen zusammen und
versuchen, zusammen zu leben... nichts einfacher als das! We
sentlich weiter haben wir damals nicht gedacht.
Wir haben dann im Laufe der ersten Monate festgestellt, daß
es so einfach nicht geht und daß man sich genau überlegen muß,
in welcher Art und Weise man zusammenleben will. Wir haben
zum Beispiel nach etwa einem halben Jahr begriffen, daß es kei
nen Sinn hat, dem andern gegenüber um jeden Preis offen im
Sinn des Kritischen zu sein, sondern daß man immer erst prüfen
sollte, ob man ihn eigentlich auch gern hat, und - wenn das
im gegebenen Moment nicht der Fall ist, sollte man mit dem
offenen Wort lieber warten, bis man ihn wieder gern hat. Zum
andern haben wir gemerkt, daß wir viele Dinge ordnen, daß
wir Verantwortlichkeiten festlegen müssen, auch in ganz banalen
Bereichen des Alltags, wie z.B. Sorge für Abendessen und Früh
stück, den gemeinsamen Einkauf für die Gruppe usw. Inzwi
schen hat sich eine für den praktischen Lebensvollzug längst
bewährte Ordnung herauskristallisiert, bei der sich als positiv
erwies, wenn in den wesentlichen Bereichen einer oder einige
wenige für alle da sind, für alle verantwortlich sind in einer be
stimmten Frage, zum Beispiel Finanzierung, Einkaufen oder
Sauberhalten der gemeinsamen Räume.

Es mag schon sein, daß manche Besucher, mancher Gast


auf Küppershof die Wohngemeinschaft als eine Art Fluchtburg
empfindet-eine Zuflucht, in der er sich gern, vorübergehend,
von der gar nicht so erfreulich freien und befreienden „Welt
ohne Gott" erholt, in der er aber nicht immer leben möchte,
weil ihm die Atmosphäre dort ein wenig zu gettohaft erscheint:

38
eine Schutzzone, ein Reservat, wo es in jeder Beziehung an
ders zugeht als in der „wirklichen" Welt. Die Küppershofleute
selbst werden ihr Leben vermutlich nicht als Rückzug aus der
realen Welt verstehen, sondern als ein Experiment, in dem
neue Formen familiären und häuslichen Zusammenlebens er

probt werden können. Mißglückt das Experiment, wird man


um eine Hoffnung ärmer und um eine Erfahrung reicher sein;
die Enttäuschung wäre zweifellos erheblich, denn der Einsatz
in diesem Spiel ist hoch - doch ein wirkliches,,Fiasko" würde
es für die Beteiligten kaum bedeuten, keinen wirklichen
Schiffbruch. Die Leute sind jung: das ist das Alter, in dem
man selbst nach einer,,Ehescheidung" noch ein neues Leben
anfangen könnte.
Anders ist die Situation in Sassen-einer dörflichen Lebens

gemeinschaft mit geistig Behinderten auf anthroposo-


phischer Grundlage, die zum Abschluß noch vorgestellt
werden soll. (Vgl. den ausführlichen Bericht über Sassen
S. 55ff.) Dort würfelt man - wenn wir im Bild des „Spiel
raums" bleiben wollen - nicht nur um die eigene Haut. Das
gibt dem Unternehmen „Sassen" seinen Ernst und der Frage
nach dem Integrationsfaktor ein fast beängstigendes Gewicht.
Seit drei Jahren kenne ich Sassen, ein kleines Dorf bei
Schlitz in Hessen. Hier wohnen Behinderte (geistig behinderte
Jugendliche und ältere Erwachsene) mit ihren „Betreuern"
in einer dynamischen Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, die
v o n a l l e n m i t v e r a n t w o r t l i c h g e s t a l t e t w i r d . Vo n A n f a n g a n
frappierte mich der partnerschaftliche Stil des Zusammenle
bens. Vielleicht kann ich meinen Eindruck auf die Formel brin

gen, daß die sogenannten Betreuer mit den Betreuten (in Sas
sen akzeptiert man diese Unterscheidung nicht) absolut
norma/-wie mit anderen Erwachsenen auch - umgehen. Die
gebotene Rücksicht auf die zum Teil erheblichen geistigen
Behinderungen hat nichts mit der üblichen Überheblichkeit
des sogenannten „Normalen" gemein, der den Behinderten
als ewig unmündig betrachtet und behandelt; sie war von je
ner nüchternen Selbstverständlichkeit, mit der man einen Far
benblinden an der Kreuzung darauf aufmerksam machen
würde, daß die Ampel noch Rot zeigt. Mein erster Eindruck
war, man müsse in Sassen so etwas wie eine Zauberformel
fürdas Zusammenleben mit Behinderten gefunden haben: die
innere Sicherheit, mit der die Behinderten auch dem Gast

39
gegenübertraten, die Selbstverständlichkeit, mit der sie den
Fremden an ihrem Gemeinschaftsleben teilnehmen ließen,
war ein deutliches Indiz für ihr heiles Selbstwertgefühl. Doch
belehrten mich weitere Informationen, daß „Sassen" kein
singulärer Glücksfall und die dortige Methode kein Zauber
kunststück ist, daß vielmehr (wie man an anderen anthroposo-
phischen Einrichtungen studieren könne) die Praxis aus dem
anthroposophischen Menschenbild zu erklären sei. Nach die
sem Menschenbild ist bei geistig Behinderten zwar das Wech
selspiel von Körper und Seele gestört, der Geist dagegen, der
geistige Wesenskern, ist völlig intakt. Darin sieht man in Sas
sen kein Dogma, sondern erfahrbare Realität - eine Erfah
rungstatsache, die sich im kontinuierlichen Zusammenleben
mit den Behinderten immer wieder als wirklich erweise. Und
in derTat: selbst der Außenstehende fängt schon nach einem
Besuch von wenigen Tagen an sich zu fragen: was ist denn
eigentlich „normal" - und was sagt der Intelligenzquotient
über den Geist der Menschen aus und über ihre Fähigkeit,
menschlich miteinander zu leben?
Die Dorfgemeinschaft Sassen wurde 1968 gegründet. Jede
Familie (Wahlfamilie) bewohnt ein eigenes Haus; jede Haus
gemeinschaft besteht aus einem Hauselternpaar (die jungen
Ehepaare unter ihnen haben alle noch kleine Kinder) und etwa
zwölf bis vierzehn Behinderten. Seit ich Sassen kenne, sind
einige Häuser neu entstanden und neue Familien gegründet
worden. In Sassen hat inzwischen das berühmte verflixte sie
bente Jahr begonnen. Die ,,Pioniere" hatten sich ein rundes
Jahrzehnt auf eine Arbeit, wie sie jetzt in Sassen verwirklicht
wird, vorbereitet. Nun rückt eine neue Generation von Mitar
beitern nach, die ähnliche Voraussetzungen nicht mitbringen,
sondern sie erst „vor Ort" erarbeiten müssen. Ein neues
Spannungsfeld zwischen „Alten" und ,,Neuen" entsteht, in
dem man sich zwar Fehler leisten darf, in dem aber unter allen
Umständen jenes Klima des Wohlwollens zwischen allen Mit
arbeitern intakt gehalten werden muß, das den Behinderten
die unerläßliche emotionale Geborgenheit und Sicherheit
gibt.
In einem Rundgespräch über die Hintergründe einiger der
zeitiger Spannungen unter den Mitarbeitern sagte Reinhard
Wegener - inzwischen einer von den Sassener,,Alten" (wenn
auch nicht den Lebensjahren nach):

40
R. W.: Eine Gemeinschaft ist ein Organismus, der klein an
fängt wie ein Kind - zunächst noch eine vollständige Einheit
in sich und wie ein Kind wächst auch dieser Organismus,
er wird größer, es kommen mehr Menschen dazu, die Beziehung
zur Umwelt wird aktiver, wobei gleichzeitig das Selbstverständ
nis neue Formen anzunehmen beginnt. Bei alledem verändern
sich langsam die Verhältnisse in diesem Organismus in einer
organischen Proportion: was am Anfang in einzelnen Menschen
vereinigt war, das gliedert sich jetzt auf in eine größere Gruppe,
denn der ganze Organismus soll seine organische Struktur behal
ten, so daß nicht zum Beispiel ein Riesenkopf auf einem kleinen
Körper sitzt oder umgekehrt - ganz große Füße und oben alles
sehr klein und zurückgeblieben. Darin sehe ich die echten
Wachstumsschmerzen, daß sich jetzt die einzelnen Funktionen
in der Gemeinschaft auf mehr Menschen verteilen. Auch weitet
sich die Verantwortung, die zunächst auf ganz wenige Menschen
konzentriert gewesen ist, natürlicherweise auf einen größeren
Kreis aus. Das bedeutet für den einen Menschen, der früher viel
in sich vereinigt hat, zunächst einmal einen Verlust, einen
Schmerz des Hergebens, während es für die anderen einen Zu
wachs an Aufgaben bedeutet; und mit diesem veränderten Ver
hältnis fertig zu werden, fordert von jedem einzelnen eine große
Auseinandersetzung: es muß sich jeder in seiner neu errungenen
Eigenschaft wieder neu bewähren und gleichzeitig ein neues
Verhältnis zum Ganzen gewinnen.

Das Ganze, um das es hier geht, ist aber immer Sassen als
H e i m a t b e h i n d e r t e r M e n s c h e n - n i c h t e r s t l i c h d a s , , We r k " ,
in dem die Kreativität der Mitarbeiter sich darstellen und be
währen darf, auch nicht erstlich die soziale Leistung oder
der soziale Dienst, worin der einzelne sich (durchaus legiti
merweise) in seiner Persönlichkeit verwirklichen möchte.
Fragte ich in Sassen einen der Mitarbeiter in geheimer
Bewunderung: Wie können Sie das alles nur schaffen? Woher
nehmen Sie die Geduld, die Gelassenheit, daß Sie in diesem
Vielerlei von Beanspruchung nie die Nerven verlieren? - ob
ich so oder ähnlich fragte, ich bekam unter Garantie zur Ant
wort: Das kommt von unseren Leuten her (gemeint sind die
Behinderten)-s/esind's, die das Klima bestimmen-sie tragen
uns viel mehr als wir sie!
.c^flcepn hpt Ha.Q X/prtraiipn rißr rinrt Iphßnden Behinderten.

41
Das ist das stärkste Bindemittel zwischen den Mitarbeitern
und das mächtigste Motiv, alle Spannungen zu bewältigen.
Fragen wir also nach dem Integrationsfaktor, so ist er mehr
noch als im anthroposophischen Menschenbild in den Behin
derten selbst zu finden. Sie sind das eigentliche Ferment, das
die Mitarbeiter zusammenschweißt - trotz der beträchtlichen
A l t e r s u n t e r s c h i e d e , t r o t z d e r u n t e r s c h i e d l i c h e n Vo r a u s s e t
zungen, von denen die einzelnen herkommen.
Anders als die meisten einheitlich jugendlichen Wohnge
meinschaften ist für die Sassener Lebensgemeinschaft das
Zusammenspiel der Generationen kennzeichnend. Ja, geht
man von der Drei-Generationen-Gemeinschaft als Kriterium
aus, dürfte man Sassen durchaus als eine Art „Großfamilie"
betrachten. Den Hauptstamm der Mitarbeiter bilden zwei ver
schiedene Generationen, nicht nur im übertragenen, rein al
tersmäßigen Sinn, sondern zum Teil auch „buchstäblich".
Schon unter den „Pionieren" gab es die Konstellation: Eltern
-Söhne, Schwiegertöchter, Enkel. Heute fehlt nicht einmal die
noch ältere Generation, die der Urgroßeltern: Eltern einiger
Mitarbeiter aus der „Großelterngeneration". Aber auch tätige
Mitarbeiter gibt's in dieser ältesten Generation.
Eines dieser Sassener Phänomene ist Frau Eiffler, 84 Jahre
alt, die erst kürzlich nach Sassen gezogen ist, um sich dort
(wie man es früher wohl genannt hätte) „nützlich" zu machen.
Sie hat sich in der ihr eignen Wendigkeit schnell an die
Zusammenarbeit mit den Behinderten gewöhnt.

T. S.: Was machen Sie den ganzen Tag?


Fr. E.: Nun... ich hätte gern etwas Konkretes, eine fester
umrissene Aufgabe gehabt, aber das ist nicht möglich, weil die
jungen Mädchen beschäftigt werden wollen und beschäftigt wer
den müssen...
T. S . : . . . d i e B e h i n d e r t e n . . . ?
Fr. F.: ... die behinderten jungen Mädchen, ja; (das Wort
„behindert" soll man ja möghchst vermeiden.) So habe ich mir
angewöhnt, die Dinge zu machen, die die jungen Mädchen nicht
gern tun. Ich bin zum Beispiel in der Bügelstube und bügle die
schwierigen Stücke, ich helfe in der Küche mit oder hole bei
schlechtem Wetter die Post, weil es mir Spaß macht und sonst
niemand es gern tut und weil ich mir sage: Warum sollst du
das nicht machen... wozu bist du noch auf der Welt... ?

4 9
T. 5.; Man muß hier wohl dauernd sehr wach sein, weil man
doch mit sehr vielen Menschen umgeht und man sich einstellen
muß auf viele Menschen...
Fr. E.: ... Ja - man muß das wollen... sonst kann man sie
nicht begreifen...; sie sind so gut... man muß sich auf sie ein
stellen, sonst würde es vielleicht... unerwartete oder entsetzliche
Reaktionen geben...

Frau Eifflerist nicht Anthroposophin, doch nimmt sie, inter


essiert und wißbegierig, wie sie ist, an den regelmäßig stattfin
denden anthroposophischen Arbeitskreisen teil - mit großen
Augen und staunend vor der geistigen Welt, die sich ihr da
auftut. Aber - Anthroposoph muß man nicht sein und muß
es auch nicht werden wollen, um in Sassen mitarbeiten zu
können. Gibt es überhaupt Vorbedingungen? Dazu einige
Ausschnitte aus einem Gespräch, das schließlich in die Frage
einmündete, ob man sich nach dem Leben in einer solchen
Gemeinschaft überhaupt noch einmal eine private Existenz
vorstellen könne. Außer Reinhard Wegener spricht auch Mag
gan Lossen, eine gebürtige Schwedin:

T. S.: Gemeinschaften werden erkennbar, wenn man unter


sucht, nach welchen Kriterien sie neue Mitarbeiter akzeptieren
oder auch ablehnen. Ich kann mir einen neuen Mitarbeiter ideal
ausmalen, indem ich sage: Wenn er das und das hat oder ist,
dann ist er für unsere Gemeinschaft besonders willkommen, aber
wenn er diese und jene Eigenschaften hat, werden wir ihn nicht
brauchen können. Ich will es Ihnen an einem Beispiel deutlich
machen: Benedikt hat in seiner Klosterregel alle möglichen Arten
von Mönchen ins Auge gefaßt mit den unterschiedlichsten nega
tiven Verhaltensweisen - die murren, die aufsässig sind, die un
gehorsam sind, die Schwätzer sind - alles! Nur einen Typ von
Mönch kennt er nicht: den der lügt! Das wäre für sein Kloster
nicht tragbar. Es kann einer jede Schwäche haben, nur - lügen
darf er nicht! ... Wie denken Sie sich den idealen Mitarbeiter,
damit er in diesen Bewußtseinsbildungsprozeß überhaupt ein
steigen kann... wie würden Sie ihn beschreiben?
R. W.: ... Das ist eine sehr schwere Aufgabe, die Sie mir da
stellen, und ich kann es auch nur nach den wenigen Mitteln,
die mir zur Verfügung stehen, versuchen zu sagen...: Für mich
wäre ganz wesentlich, daß er dem Wesen des Menschen so

43
gegenübersteht, daß er es in seiner Größe, in seiner Tiefe, in
seiner - Gottgeschaffenheit kann ich vielleicht sagen, immer
mehr ergründen, erkennen, ins Bewußtsein heben möchte; und
wenn ihm dieses ein Anliegen ist, wird er auch behinderten Men
schen gegenüber keine Schranke mehr aufrichten müssen, denn
auch in diesen Menschen wird ihm das das Wesentliche sein.
Und das wiederum schafft die Grundlage, um mit diesen Men
schen zusammenzuleben, weil es ja keine Trennung gibt zwi
schen den Menschen.
M. L: Ja - der, der hierher kommt, muß diese Achtung vor
den Menschen schon haben, sonst könnte man nicht sagen, er
gehöre hierher...
T.S.:... er würde ja wahrscheinlich gar nicht hierher kommen
wollen, wenn er das nicht hätte...
Sie sind noch jung - können Sie sich vorstellen, nach diesem
Leben in dieser Gemeinschaft, in der Sie jetzt einige Jahre gelebt
haben, so mit Ihrer Familie wieder allein zu leben, ohne die
Gemeinschaft?
M. L.: Ich würde es niemals suchen, glaube ich, aber wenn
es dazu kommen würde, würde ich es nochmal tun, das ist klar.
R. W.: Ich glaube, ich habe die Fähigkeit nicht verloren, allein
zu leben, sondern bin sicher - ich hoffe es wenigstens - in der
Weiterentwicklung nicht schwächer geworden in dieser Bezie
hung. Ich wdirde für mich sagen, daß ich diese Gemeinschaft
nicht aufgesucht habe, um der Erleichterung oder des Schutzes
durch die Gemeinschaft willen, also um ein bequemeres Leben
zu haben, um geschützter zu sein gegen die Unbill des jetzigen
Lebensstiles, sondern ich bin gekommen als einer, der mitgestal
ten, mittragen möchte an einer solchen Gemeinschaft; und inso
fern dürfte es mir auch keine Frage sein, auch einmal wieder
alleine sein zu müssen - ich würde sicher keine Angst davor
haben.

Wir können das Thema „Wohngemeinschaft" nicht ab-


schiießen, ohne das Problem „Auflösung", „Trennung" we
nigstens zu streifen. Eine Reihe von Kommunen sind in den
letzten Jahren entstanden und wieder verschwunden. Den
Rückschauenden wird das in der Gemeinschaft gelebte Leben
wie ein Experiment erscheinen, aus dem sie allerlei lernen
k o n n t e n . I n s o f e r n i s t Wo h n g e m e i n s c h a f t w e i t h i n e i n f a c h e i n
Spielraum, in dem neue mitmenschliche Kommunikationsfor-

44
men ausprobiert, eingeübt werden können, andere wiederum
als nicht lebbar sich erweisen.

Zur Jahreswende 1973/74 führte ich ein Gespräch mit Albert


Schmidt, einem 22 Jahre jungen Mann, Student der Pädago
gik. Ich hatte ihn kennengelernt durch einen Aufsatz, den er
in der Zeitschrift,,Neues Hochland" geschrieben hatte über
die große ,,Familie", in der er lebte: die musizierende Kom
mune Lord's Family im Beiingrieser .Schlösser im Altmühl
tal. Albert Schmidt ist verheiratet mit Monika; sein Sohn
Florian war damals 7 Monate alt.
Inzwischen hat sich die Großfamilie Lord's Fam/7y aufgeteilt
in kleinere Gruppen und Kleinfamilien, ein Prozeß, der sich
damals schon anbahnte. Im Oktober 1974 erschien im Pfeif

fer-Verlag, München, ein Buch, in dem Albert die Geschichte


der Gruppe bis zu ihrer Auflösung vor dem Hintergrund des
Aufbruchs vieler junger Menschen ins ,,Anderssein" erzählt
und reflektiert. Der Titel des Buches: ,,Die andere Wirklich
keit" verrät schon ein wenig von der Welt- und Selbstsicher
heit jener 16 jungen Männer und Frauen, die da dreieinhalb
Jahre zusammenlebten. Einiges davon klang auch in unserem
damaligen Gespräch an, das man heute rückblickend als ein
Dokument der Geschichte einer Kommune sehen könnte und
darüber hinaus als einen Beitrag zum Thema „religiöse Erfah
rung" aus der Sicht jugendlicher Subkulturen, die jenseits von
Konsum und Konformität einen eigenen Weg zu gehen ver
sucht.
Heute lebt Albert mit Frau und Kind in einem Dorf nahe
der Hochschul- und Bischofsstadt Eichstätt in unmittelbarer
Nachbarschaft zu zwei weiteren Kleinfamilien, die aus der ge
meinsamen Kommuneerfahrung hervorgegangen sind.

T. S.: Albert, wie ich es beobachte, ist die Entwicklung eurer


Kommune, die sich gerade vollzieht, nicht ein Auseinanderfal
len, sondern eine Art... Zellteilung.
A. S.: So könnte man es bezeichnen. Was das Wesentliche
vorher an der Gruppe war und auch jetzt noch ist: daß jeder
einzelne und auch alle zusammen gemeinsam einen Weg suchen,
ihr Leben zu bewältigen aus einer gewissen Perspektive heraus,
aus einer Sicht, die man ohne weiteres als religiös bezeichnen
kann.
T. S.: Da möchte ich gleich nachfragen: In welcher Weise
religiös? Konfessionell...?
A. S.: Religion heißt für uns zunächst nicht ein konfessionelles
Bekenntnis. Die Leute, die hier gelebt haben und noch hier leben,
haben verschiedene Bekenntnisse, zum Teil evangelisch, zum
Teil katholisch - das ist nicht das, was uns bewegt. Was für
uns Religion ist und geworden ist, das ist die Summe aller Erfah
rungen, auch in der Begegnung mit anderen Menschen, eine
Summe, die allerdings mehr als nur Summe ist, sondern die Jedem
einzelnen von uns in einem langen Prozeß, der auch noch nicht
abgeschlossen ist, die Augen geöffnet hat dafür, daß es noch
andere Dinge gibt zwischen Himmel und Erde sozusagen, daß
es andere Wirklichkeiten gibt, von denen man sich vielleicht vor
her nichts zu träumen gewagt hat. Einige von uns haben das
längst nicht immer so gesehen - ich selber war zum Beispiel
eine Zeitlang sehr Marxismus-orientiert, habe mich sehr damit
befaßt, politisch aktiv, und habe mir solche Fragen erst mit der
Zeit gestellt und dann gesehen, daß es eben nicht genügt, eine
Veränderung draußen anzustreben und draußen zu suchen, son
dern daß eine Introspektion notwendig ist, das heißt - eine Schau
nach innen... daß man sich selbst kennenlernen und seine Bezo-
genheit zu allem, was außen herum ist, ändern muß.
T. S.: Sie sind von Hause aus katholisch. Haben Sie das, was
Sie unter Religion verstehen, in der katholischen Kirche nicht
gefunden?
A. S.: Ich war jahrelang in der katholischen Jugendbewegung
tätig, auch als Gruppenführer, als Diözesan-Jugendleiter sogar,
ich kenne nach wie vor viele Theologen... Priester, Theologie
studenten, aber ich muß sagen - auch nach all den Gesprächen,
die ich gerade in jüngster Zeit mit Theologen geführt habe-,
daß das, was wir hier im Haus suchen an religiöser Erfahrung,
an Glauben, der in der aktuellen Situation lebendig ist, daß das
in der Kirche nicht von vornherein gegeben ist. Daß auch viele
Theologen genau wissen, wo das große Handikap liegt im Mo
ment, daß es nicht damit getan ist, auf dem Weg von Liturgiere
formen und so weiter eine Anpassung an die Gesellschaft zu
verwirklichen, sondern daß das eigentlich progressive Element
in der Kirche fehlt, nicht nur bezogen auf das Gesellschaftliche,
sondern auch auf den einzelnen Menschen.
T. S.: Wie würden Sie es näher umschreiben? Sie sprechen
ja von Erfahrungen. - Wenn ich Sie richtig verstehe, würden
4 A
Sie sagen,... Sie vermissen in der Kirche, so wie sie als Verband
existiert, als Institution, religiöse Erfahrung. Sie finden religiöse
Erfahrungen auch nicht bei Theologen widergespiegelt?
A. S.: Ich kenne einzelne Leute in der Kirche, die wirklich
beispielhaft sein können für das, was religiöse Erfahrung ist,
aber ich glaube, daß der große Trend dessen, was in der Kirche
angestrebt wird, in einer ganz anderen Richtung verläuft... daß
die Grundfrage, die sich heute innerkirchlich für kirchliche Or
ganisationen stellt, die ist: Wie können wir überleben! Wie kön
nen wir die Kirche in der pluralistischen Gesellschaft, in der
technokratischen Gesellschit, in der industrialisierten Gesell
schaft - wie können wir die Kirche... durchziehen, wie können
wir ihren Weiterbestand garantieren! Aber diese Frage geht ei
gentlich am Menschen vorbei. Natürlich wäre es billig, jetzt ein
seitig zu polemisieren gegen alle Versuche einer Veränderung,
die in der Kirche vorhanden sind. Doch ich glaube, das Entschei
dende muß sein - gerade für die Jugendlichen, die man auf alle
mögliche Art wieder für die Kirche zu gewinnen sucht -, einen
Ansatzpunkt zu geben, wo jeder einzelne in seiner Situation im
alltäglichen und im festtäglichen Leben Erfahrungen machen
kann, die ihm einen Vorgeschmack geben davon, was das Reich
Gottes ist.
T. S.: Wie würden Sie „Reich Gottes" umschreiben? Wir ha
ben hier eine alte biblische Idee, die auf das Judentum zurück
geht, durch die Geschichte des Christentums immer dagewesen
ist... wie kann man Reich Gottes erfahren?
A. S.: Ich glaube, daß darüber in der Bibel sehr viel ausgesagt
ist. Zum einen: „Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt."
Das heißt, der Ansatz der säkularisierten Theologie: nichts als
die Welt kann verändert werden - dieser Ansatz führt in die
Irre. Das Reich Gottes ist eben nicht in erster Linie von dieser
Welt.
T. S.: Vorsicht: Ich würde interpretieren: - nicht von der Art
dieser Welt.
A. S.: Das ist richtig. Aber sehr wohl ist es natürlich möglich
- und das ist eines dieser Paradoxa, die in der christlichen Reli
gion vorhanden und zutiefst sinnvoll sind - daß das, was Reich
Gottes ist und was nicht von dieser Welt sei, ohne weiteres in
dieser Welt erfahren und erlebt werden kann. Daß es punktuell
z.B. in der Versunkenheit und in der Ekstase Erlebnisse und
Erfahrungen geben kann, die den einzelnen auch verwandeln
47
können, die ihn verändern. Daß er vielleicht ganz gewohnte
Dinge, ganz gewohnte Situationen, vielleicht alltägliche Begeg
nungen mit Menschen plötzlich neu erfährt, intensiver erfährt...
in einem neuen Licht.
T. 5.; Ist Ihnen so etwas geschenkt gewesen... können Sie
es konkretisieren?
y4. 5.; Ja... es hat verschiedene Gelegenheiten gegeben, meist
nicht alltägliche Situationen. Als das wichtigste Geschenk be
trachte ich eigentlich diese Gemeinschaft, die uns allen geschenkt
war hier im Schlössel,... wo solche Begegnungen wirklich statt
gefunden haben. Aber auch in einer Begegnung zwischen Men
schen, die scheitert... selbst da, selbst in der Erfahrung von Leid,
das gemeinsam empfunden wird, ist es möglich, daß plötzlich
etwas von dem aufscheint, das über diese graue eindimensionale
Wirklichkeit hinausleuchtet.
T. 5.; Ja... Sie haben schon zu Anfang gesagt, daß die Wirk
lichkeit mehrdimensional ist. Und Sie haben zwei Stichwörter
gebraucht - einmal durch Versunkenheit diese hinter der Ober
fläche vorhandene Dimension zu erfahren und... durch Ekstase.
A.S.: Das sind zum Beispiel genau zwei wesentliche Elemente,
die im kirchlichen Leben viel zu wenig betont und geübt werden.
Die Versunkenheit auf der einen Seite und die Ekstase auf der
anderen - zwei Elemente, die es eigentlich jedem Christen er
möglichen könnten und ermöglichen sollten, direkt und ganz
persönlich sich angesprochen zu fühlen von dieser anderen
Wirklichkeit, von Gott.
T. S.: Das sollten wir zum besseren Verständnis konkretisie
ren ... bleiben wir einmal bei der Ekstase. Ich habe vor kurzem
an einer Tagung teilgenommen über Drogen. Ein evangelischer
Pfarrer hielt dort eine Betrachtung über Religion und Droge,
und er sagte, die negativen Auswirkungen der Droge, die Ja heute
gerade in der jungen Generation da sind, seien ein Zeichen dafür,
daß wir in einer schlechten Religion leben... daß also hier Ersatz
gesucht werden muß. Er vermißte in der von der Kirche gepräg
ten Religion das ekstatische Element.
A. S.: Ja... das, glaube ich, hat er ganz richtig gesehen. Ob
wohl ich Leute kenne, die gerade auf dem Weg über Drogener
fahrung diese religiöse Erfahrung wieder gemacht und dann in
verschiedenster Weise ihr Leben wirklich vollkommen geändert
haben. Die einen, die ihr Leben und ihren Glauben ganz in den
Dienst der Verkündigung des Evangeliums gestellt haben - das

48
waren auch einige hier vom Schlössel, die jetzt sozial tätig sind
und auf diese Weise Christentum zu leben versuchen - andere
wiederum, die auch durch Drogenerfahrung eine gewisse Offen
heit und Weite, eine Fähigkeit zu hören, zu sehen und wahrzu
nehmen entwickelt haben, die sie einfach sensibler macht gegen
über menschlichen Begegnungen, gegenüber all dem, was man
täglich sehen kann und oft doch nicht sieht.
T. S.: Nun haben Sie einmal in dem Aufsatz im „Neuen Hoch
land", den ich zuvor ansprach, geschrieben, daß für Sie persön
lich und für ihre Gemeinschaft hier im Schlössel keineswegs
Drogen ausschlaggebend waren, sondern Sie haben Musik als
„ekstatisches Katapult" bezeichnet. Es ist ja auch eine Eigenart
Ihrer Gemeinschaft hier, daß sie musiziert... man spricht von
„Musik-Kommune" oder... ?
A. S.: ... Ja, sicher sind Drogenerfahrungen für uns nicht in
dem Maße relevant gewesen, daß sie die ganze Entwicklung der
Gruppe bestimmt hätten. Sie haben zeitweilig eine Rolle gespielt,
auch im Zusammenhang mit der Musik, aber gerade in dieser
Möglichkeit der Kommunikation durch Musik hat es eben im
mer wieder die Erfahrung gegeben, daß zwei, drei oder mehr
sich ganz zusammengehörig fühlen, einander ganz verstehen und
einander auch ganz annehmen können. Und diese Erfahrung
dann auch als Geschenk empfinden... nicht als ihr eigenes Ver
dienst, sondern als etwas, was ihnen gleichsam gnadenhaft -
wenn man diesen... altmodischen Ausdruck verwenden mag -
geschenkt worden ist.
T. S.: Wenn ich Sie recht verstehe, dann begreifen Sie Ekstase
nicht unbedingt als ein... wie soll ich sagen - ein exaltiertes
Gefühlsmoment, sondern als ein Über-sich-Hinausschreiten, ein
spontanes Über-sich-Hinauswachsen auf Kommunikation
hin...?
A. S.: Ja, das ist etwas, das sich ganz stark ereignet im Unter
schied zu dem, was wir vorhin mit Versunkenheit bezeichnet
haben im zwischenmenschlichen Bereich. Das heißt, hier ist ein
Element gegeben, das bei Martin Buber diese Beziehung zwi
schen Ich und Du ausmacht. Hier ist ein Element gegeben des
Aufeinanderzugehens, für den andern da sein, sich dem andern
öffnen, ihn akzeptieren... das ist immer wieder passiert, wenn
wir miteinander Musik gemacht haben.
T. S.: Nun... was würde das bedeuten... oder sagen wir ein
mal - Sie hätten die Möglichkeit, diese Ideen in der Kirche zu

49
verwirklichen? Hielten Sie das überhaupt für möglich oder...
wie würden Sie das machen?
A. S.: Hm... ich glaube, daß Elemente wie Versunkenheit
oder Ekstase nicht ohne weiteres in die Kirche mit eingebracht
werden können auf einem Weg, der sozusagen von oben nach
unten verläuft, das heißt, daß nicht ein Bischof oder wer auch
immer von innen heraus eine Erneuerung bringen kann. Ich
meine, daß es auch immer wieder in der Geschichte sichtbar
war, daß neue Impulse von außen, gleichsam von einem Rand,
von dem man es gar nicht erwartete, gekommen sind und eben
auch Erneuerung gebracht haben. Es wäre auf der anderen Seite
natürlich auch falsch zu sagen, daß mir nichts an dem liegt, was
sich in der Kirche entwickelt, was in ihr verwirklicht wird.
T. S.; Nun stehen Sie selbst ja auch in einer christlichen Konti
nuität - orientieren Sie sich zum Beispiel an Geschichte, an ge
schichtlichen Verwirklichungen... nehmen Sie die zur Kennt
nis?
A. S.: Selbstverständlich nehme ich sie zur Kenntnis, und ich
habe darüber auch schon einiges studiert.
T. S.: In welcher Richtung schlägt Ihr Herz da?
A. S.: Das ist sehr schwer zu sagen. Es gibt da zum Beispiel
gerade im Mittelalter - und das Mittelalter ist in vielen Bezügen
vergleichbar mit der Jetztzeit -, es gibt da beispielsweise diese
Strömungen eines enthusiastischen Christentums, das sich dann
verbunden hat mit anderen Strömungen, so mit dem enthusia-
stisch-chiliastischen, also diesem endzeitlich geprägten Christen
tum; und von diesen Strömungen finde ich sehr viel wieder in
unserer Jetztzeit. Aber so wie es mir im Mittelalter vielleicht
gegangen wäre, so geht es mir eigentlich jetzt - daß ich mich
keiner dieser Strömungen voll zurechnen möchte, daß ich sogar
in vielen eminente Gefahren erblicke... gerade in dieser Verbin
dung zum Beispiel von Weltgeschichte und Heilsgeschichte.
T.S.:... oder in der Verbindung von chilias tischen Impulsen
mit Sozialfragen...
A. S.: ... mit politischen Aktionen, ja.
T. S.: Wir haben eben schon über Reich Gottes gesprochen,
und hier ist ja die Idee des Reiches Gottes dann auch verfälscht
worden. Es ist interessant - die Gefahren der Verfälschung lagen
ja gerade in der Richtung, das heißt... in diesen beiden Richtun
gen, die Sie als das Positive bezeichnet haben: entweder wurde
,Reich Gottes' total verinnerlicht und als jenseitige Größe aufge-

s n
faßt - Reich Gottes gleich Himmelreich, über und jenseits aller
Zeit, also in der Versunkenheit - oder eben im Ekstatischen,
wo dann das politische Element hinzukam, wie bei den Schwär
mern,.den Taboriten zum Beispiel, wo dann die Sache sehr ge
walttätig wurde.
A. S.: Ich glaube aber, daß beide Elemente, so gefährlich sie
in einer falsch strukturierten Verbindung sein können, im
Grunde genommen positiv sind. Daß eine gewisse Form von
Enthusiasmus ebenso notwendig ist wie eine Form von Chilias-
mus, also Endzeiterwartung, projiziert auf das Diesseits, also
in einer religiösen Praxis im diesseitigen Leben.
T. S.: Wie sieht für Sie persönlich religiöse Praxis im Diesseits
aus?
A. S.: Nun, die sieht so aus, daß im Grunde genommen alles,
was man tut oder läßt, immer wieder gemessen werden muß
an einer Orientierung, die über das Diesseits hinausweist. Das
gilt für zwischenmenschliche Beziehungen,... das gilt eigentlich
für alles, was das tägliche Leben ausmacht.
T. S.: Konkret! Wie orientieren Sie die persönlichste mit
menschliche Beziehung, die Sie haben, zu ihrer Frau und ihrem
Kind, hin auf das Jenseits?
A. S.: Zum Beispiel bin ich mit Martin Buber der Auffassung,
daß jede Beziehung zwischen Ich und Du, zwischen zwei Perso
nen, in ihrem Letzten über diese Beziehung hinausweist auf das
absolute Du, daß also alle Linien zwischen Ich und Du von
verschiedenen Kommunikationspaaren sich schneiden in diesem
Unendlichen... als Parallelen! Und das bedeutet nun zum Bei
spiel in meiner Ehe oder auch im Umgang mit den Leuten, mit
denen ich hier zusammenwohne, daß ich mich immer wieder
prüfe, wie meine Beziehung zu meiner Frau, zu meinen Freun
den dem entspricht, was auch die Beziehung zwischen mir und
dem absoluten Du ausmacht. Wie weit also diese... Liebe bei
spielsweise in der Beziehung zum Mitmenschen konkret ver
wirklicht ist.
T. S.: Es ist das Eigenartige und zugleich das Schöne, wenn
man hier in Ihre Gemeinschaft kommt, daß hier Liebe spürbar
ist - das hat mich fasziniert, als ich das erste Mal hier war, und
es fasziniert mich immer wieder, wenn ich mit Ihnen zusammen
komme. Zum Beispiel möchte ich einen Bereich auch erwähnen,
der für Sie wohl auch wichtig ist - mich haben immer die Tiere,
mit denen Sie hier im Haus zusammenleben, besonders „ange-

51
sprochen", ich habe sie immer als besonders... freundlich emp
funden, friedlich...
A. S.: Das freut mich! Ich glaube, daß es auch sehr wichtig
ist, daß ein Mensch mit Tieren zusammenlebt und - gerade für
unsere Kinder ist das ja so schön - daß ein Kind mit Tieren
aufwächst. Diese Art von Kreatürlichkeit, wie sie bei Franziskus
von Assisi auch angesprochen ist, vom Bruder Tier, von der
Schwester Natur... es ist ja auch kein Zufall, daß ich immer
wieder den direkten Bezug zur natürlichen Umgebung suche.
T. S.: „Natur" spielt eine große Rolle hier, und... ich möchte
doch auch noch einmal eines aufgreifen, gerade wo es um mit
menschliche Kommunikation geht. - Sie haben doch der Musik
hier einen breiten Bereich eingeräumt, Sie musizieren sehr viel...
was bedeutet Musik, und ich möchte sagen... in weiteren Berei
chen alles Ästhetische für Versunkenheit und für Ekstase?
A. S.: Musik ist eine der Möglichkeiten, miteinander zu kom
munizieren, die niemanden ausschließt. Es können sich mehr
beteiligen als nur zwei wie bei einem Gespräch, man kann mit
machen, mitspielen, mitsingen, mittanzen, sich bewegen, inner
lich und äußerlich; man kann auch zuhörend sehr aktiv sein...
und von daher ist Musik geradezu prädestiniert als eine der Mög
lichkeiten, im Bereich der Ekstase, wo es - wie wir schon gesagt
haben - gerade auch um das Kommunikative geht - in diesem
Bereich als Kommunikationsmittel zur Verfügung zu stehen. In
der Musik selbst, in dem, was dann konkret gespielt wird, ergibt
sich natürlich auch die Möglichkeit, wegzudenken, wegzufüh-
len, wegzuempfinden von der Situation, in der man sich im Alltag
befindet, in ganz andere Sphären zu gelangen, Sphären des Emp
findens und der Wahrnehmung, wo die Ansprechbarkeit gerade
für... Botschaften aus einer anderen Wirklichkeit viel größer
ist. Deshalb habe ich auch immer davon gesprochen, daß Musik
einerseits Brücke ist, auf der anderen Seite aber auch Botschaft
selbst. Ich darf an die Negro Spirituals und an die amerikanische
Negermusik erinnern, wo Musik wirklich ein Akt der Befreiung
war. In der größten Sklaverei konnten die singen; „I am free",
„ich bin frei" - und das ist etwas, was wir nicht unterschätzen
dürfen, diese Kraft, die darin steckt.
T. 5.; Zurück zur Kirche! Verfolgen Sie die Geschicke der
Kirche... was da vor sich geht? Sind Sie daran innerlich interes
siert?
A. 5.; Ja, ich bin daran sehr interessiert. Und ich suche auch
immer die direkte Information, das heißt die Information in di
rekten Gesprächen und Kontakten, die sich ganz spontan erge
ben. Es ist uns ja nicht gleichgültig, was aus der Kirche wird,
wie sich Kirche in der kommenden Zeit verwirklichen wird.
Aber unsere spezielle Aufgabe sehen wir nicht darin, im Sinne
einer Identifizierung mit Kirche tätig zu sein - Identifizierung
heißt immer auch Abgrenzung. Sondern wir sehen unsere Auf
gabe genau in dem Element des Verbindens, das heißt, wir versu
chen ebenso Teilhabe und Interesse zu gewinnen zum Beispiel
auch an fernöstlichen Religionen, an allen anderen Geistesströ
mungen, die da sind.
T. S.: Meinen Sie, wenn Sie zu stark identifiziert wären, etwa
mit der römisch-katholischen Kirche, daß das diese Verbindung
zu fernöstlichen Religionen erschweren würde?
A. S.: Ich glaube, unter Umständen ja. Und zwar, wenn die
Gebundenheit an die Kirche, die Identifikation mit ihr so stark
würde, daß alles andere als irrig, als falsch oder in irgendeiner
Weise als unrichtig und unwahr abqualifiziert würde.
T. S.: Nun bricht ja hier manches auf und das macht deutlich,
daß man da bereits anders denkt. Obwohl - ich würde hier sagen,
man denkt anders, aber ob man schon anders fühlt...}
A. S.: ... das ist die zweite Frage.
T. S.: Ich habe eben eine schöne Szene erlebt. - Ihr kleiner
Sohn wurde unruhig und im Nebenzimmer zu Bett gebracht,
und Sie haben ihm etwas vorgespielt auf einem Instrument...
A. S.: Ja, das war ein rumänisches Zupfinstrument. Ich spiele
meinem Sohn sehr gern und möglichst oft etwas vor, besonders
abends vor dem Einschlafen, und ich merke, daß, so klein er
ist, er sehr stark angesprochen wird, daß er sich beruhigt, daß
er ins Träumen kommt, und das ist irgendwie ein wechselseitiger
Prozeß, das heißt, mir geht es dann genauso... ich kann mich
dann irgendwie ihm mitteilen - meine Worte versteht er zwar
noch nicht jetzt als Säugling dem Sinne nach, aber ich bin sicher,
daß er musikalisch bereits sehr viel spürt.
T. S.: Darf ich etwas Kühnes sagen! Ich überlege, wo Ihre
Aufgabe in der Kirche sein könnte - Sie spielen den Leuten etwas
vor... in ihrem Denken werden Sie sie nicht „bekehren" können,
gar nicht... lieh erinnere mich an ein Wort von Kardinal New
man, der einmal gesagt hat: wenn er zu einer Diskussion mit
einem Protestanten aufgefordert würde, er würde nicht diskutie
ren, sondern sie würden etwas miteinander musizieren.

53
A. S.: ... das ist ein gutes Wort! Diese Erfahrung habe ich
oft und oft gemacht - daß ich mit Menschen, mit denen wirklich
Differenzen bestanden, nicht nur Meinungsverschiedenheiten,
auf dem Weg über die Musik sehr guten Kontakt finden konnte.
T. S.: Nun weiten wir das noch aus - daß das Transzendieren
seiner selbst nicht nur in der Musik gegeben ist - sonst wären
viele frustriert, die einfach nicht musizieren können, sondern
im ganzen Bereich des Ästhetischen, der Poesie...
5.;... des schöpferischen Tuns, des schöpferischen Den
kens und des schöjiferischen Handelns. Und das bezieht sich
nicht nur auf das Spielen eines Instruments, sondern das kann
sich auf jede alltägliche Kleinigkeit beziehen, auf den gesamten
Umgang, den man mit der Welt hat. Und das möchte ich eigent
lich sowohl der Kirche als auch allen anderen wünschen: mehr
Musik!
T. S.: Immerhin ist es bemerkenswert, wie sehr die Umwelt
inzwischen auf Ihre Gemeinschaft und deren Zielsetzung auf
merksam geworden ist. Es kommen sehr viele Menschen zu ih
nen, und ich wundere mich über die Sensibilität der Massenme
dien - es sind im letzten Jahr mehrere Filme hier gedreht und
Rundfunkaufnahmen gemacht worden..., die Leute spüren
doch... hier ist etwas anders, es steht eine Sehnsucht dahinter...
A. S.: Diese Tatsache allein zeigt ja, worin das Interesse besteht
- doch nicht darin, daß hier eine kirchliche Gruppe ist, doch
nicht darin, daß hier eine politische Gruppe ist, daß hier eine
Musik-Kommune ist oder wie immer eine der Möglichkeiten
aussähe, sondern darin, daß hier eine Gruppe ist oder auch ein
zelne sind, die vieles von alledem miteinander verbinden, die
alles kennen und versuchen, in der einen oder anderen Form
auch sich zu beteiligen, die aber darüber hinaus immer das
verbindende Element suchen ... in einer gewissen Grundge-
stimmtheit.
T. S.: Es würde also das Motto, das der Papst für das Heilige
Jahr ausgegeben hat - Versöhnung - hier doch auf eine nicht
alltägliche Art und Weise praktiziert werden, und von daher
könnte es auch ausstrahlen, indem Sie selbst eine... „versöhnte"
Gemeinschaft sind, und zwar nicht nur untereinander, sondern
auch mit Tieren und mit Natur und mit allem. Also könnte das
hier so etwas wie ein Kristallisationspunkt sein, der auch in
eine... zerstrittene Kirche hinein ausstrahlt.
A. S.: Ich glaube, so kann man es sehr wohl sehen.

^ 4
Von Mitleid keine Spur
Die Lebensgemeinschaft von Behinderten
und Nichtbehindenen in Sassen

Von Mitleid keine Spur? Mancher fühlt sich wohl durch diese
Überschrift verunsichert; sie läßt nämlich erwarten, daß „Mit
leid" hier kritisch betrachtet, eher getadelt als gelobt werden
wird. Das mag den einen oder anderen mit skeptischen Erwar
tungen oder Befürchtungen erfüllen. Wirft man denn unserer
Wohlstandsgesellschaft nicht zu Recht vor, daß sie mitleidlos
sei, daß jeder nur an seine eigenen Profite und Interessen
denke und daß die Allgemeinheit mitleidlos dulde, daß die so
zial Unterprivilegierten, die gesellschaftlichen Außenseiter,
die Isolierten und Diskriminierten dabei zwischen die Mühl
steine unserer Konsumgesellschaft zerrieben werden? Willy
Brandt fand es an der Zeit, zur,»Compassion" aufzurufen: er
hielt Mitleid für eine heute lebensnotwendige politische
Tugend. Brandt umschrieb sie so: „Die Übersetzung (von
Compassion) ist nicht einfach Mitleid, sondern die Berelt
schaft, mitzuleiden; die Fähigkeit, barmherzig zu sein, ein
Herz für den anderen zu haben."
Wer wollte gegen solches Mitleid sprechen? Gefühlsloslg-
keit ist gewiß keine Tugend. Dennoch: bei Mitleid ist Vorsicht
geboten, höchste Vorsicht. Mitleid Ist gut, wo es Anreiz bietet
- Anreiz zum Helfen, zur Teilnahme, zur Partnerschaft. Aber
es ist ganz und gar ungeeignet als Basis des Helfens, der fort
d a u e r n d e n Te i l n a h m e , d e r w i r k s a m e n S o l i d a r i s i e r u n g .
In der Einleitung zu seinen Chassidischen Büchern weist
Martin Buber auf das strenge Urteil jüdischer Frommer über
das Mitleid hin. Sie hätten Helfen aus Liebe, aus Mit-/eben
gefordert und von einem Helfen aus Mlt-/e/cfen nicht viel ge
halten. Hier wird also unterschieden zwischen „mit dem ande
ren leben" und ,,mit dem anderen leiden". Mitleid entsteht
aus einer Art Gefühlsansteckung. Der Schmerz des anderen
wird einem selbst zum stechenden Schmerz. Aber da niemand

55
gern leiden will, da jeder seinen Schmerz so schnell wie mög
lich los werden will, tut man dem anderen schnell etwas Gutes,
damit einem selbst wohler zumute wird. Der Mitleidige hilft
aus einem scharfen, raschen Schmerz, den er bannen will - so
Martin Buber-, nicht aus Liebe, das heißt aus Mitleben. „Der
Mitleidige lebt nicht das Leid des anderen mit, er trägt es nicht
im Herzen...; er trägt dieses sonderliche Wesen, das Leid des
anderen nicht im Herzen, sondern er empfängt von dieses Lei
des äußerlichster Gebärde einen scharfen, raschen Schmerz,
dem Urschmerz des Leidenden abgrundtief unähnlich, und
so wird er bewegt. Es soll aber der Helfende wahrhaft mitleben
- und nur Hilfe aus solchem Mitleben besteht vor den Augen
Gottes. So wird von einem Zaddik (einem jüdischen Meister
des geistlichen Lebens) erzählt, der - wenn ein Armer sein
Mitleid erregte - diesen erst mit aller Notdurft versorgte, dann
aber, da er in sich verspürte, daß die Wunde des Mitleids ge
heilt war, sich mit großer, ruhevoll hingebender Liebe in das
Leben und Bedürfen des anderen versenkte, es in sich als
sein eigenes Leben und Bedürfen faßte und nun in Wahrheit
zu helfen begann." (Werke III, S.44f.)
Man möge also nicht mißverstehen: es ist nicht besser, mit
leidlos als mitleidig zu sein. Das wäre ein Rückschritt hinter
eine zweitausendjährige christliche Geistesgeschichte, in der
(trotz allem!) die Seele des Menschen zu einem altruistischen
Fühlen, zu einem Fühlen auf den anderen hin, sensibilisiert
wurde. Nein, es geht nicht darum, jene Regung eines mitfüh
lenden menschlichen Herzens beim Anblick fremden Leides,
die wir Mit-Leid nennen, geringzuschätzen. Wohl aber sollten
wir begreifen, daß Mitleid allein nicht genügt, um einem Lei
denden wirklich zu helfen, und daß hemmungsloses Mitleiden
geradezu ein Hindernis werden kann zu einem tatkräftigen
Helfen. Vielleicht kann man es so sagen - und damit sind wir
beim Thema, der Lebensgemeinschaft Sassen: Wenn mir ein
behinderter Mensch begegnet, ein Spastiker, ein Mongoloide,
ein Enzephalitiker, eine Oligophrene, und ich lasse mich von
einem hemmungslosen Mitleid überwältigen, dann sehe ich
diesen Menschen nur unter dem Stempel seiner Behinderung
und nicht in seiner einmaligen Individualität. Das ist wohl auch
der Grund, warum Behinderte selbst nicht Mitleid wollen. Sie
wollen sie selbst sein und nicht, daß man an ihnen nichts an
deres sieht als ihre Behinderung.

SA
Warum Mitleid geradezu tödlich sein kann und dem Behin
derten jeden Lebensmut nimmt, zeigt der Lebensbericht einer
Spastikerin: Christa Schlett in ihrem Buch: „Krüppel sein da
gegen sehr", das 1970 im Jugenddienstverlag, Wuppertal, er
schien. Der temperamentvolle, kritische und tapfere Bericht
der Christa Schlett zwingt jeden Leser zur Gewissenserfor
schung. Es wird einem bewußt, wie schwer es ist; vor den
berechtigten Ansprüchen eines behinderten Menschen zu be
stehen, der wie jeder andere (sogenannte Normale) das Recht
für sich fordert, er selbst sein zu dürfen, und nicht erstlich
als Behinderter gesehen und behandelt zu werden. Im Vorwort
von Ernst Klee heißt es: ,,Christa Schlett kann nur mühsam
gehen - sich fortbewegen wäre der treffendere Ausdruck -
sie kann die Bewegung der Arme nur mühsam oder kaum kon
trollieren und die Sprache (ein noch tieferes Handikap) dringt
unartikuliert aus ihrem Mund. Dennoch hat sie sich in den

Kopf gesetzt, mehr zu sein als ein Krüppel, nämlich ein


M e n s c h , e i n P a r t n e r, u n d e i n b i ß c h e n F r a u . "
,,Hier darf jeder ganz er selbst sein, hier ist der Behinderte
nicht Objekt des Mitleids" - das könnte man auch über die
Dorfgemeinschaft Sassen sagen, von der hier berichtet wer
den soll. Ich habe Sassen 1971 mit Elisabeth Wyrambe be
sucht, und wir haben viele Gespräche mit Behinderten und
Nichtbehinderten geführt. Natürlich konnten auch wir uns,
als wir die „Dörfler" zum ersten Mal sahen, einer Mischung
von Schrecken und Mitleid kaum erwehren. Doch bald
wurde uns klar, daß man diesem Gefühl nicht nachgeben
durfte, wollte man sich nicht die Chance verbauen, zu ver
stehen, wie diese Dorfgemeinschaft Sassen ,,funktioniert".
Das wurde schon aus einem kurzen Gespräch mit Herrn S.
deutlich, einem der vorübergehenden Mitarbeiter in Sassen.
Er hatte bisher als Konstruktionsingenieur in der Industrie ge
arbeitet. Nun hat er sich für längere Zeit in Sassen verpflichtet
und ,,konstruiert" jetzt dort, was den Behinderten die Arbeit
erleichtern kann. Anfangs sei er abends ins Bett gesunken,
als habe er auf dem Bau acht Stunden lang schwer gearbeitet.
Das Ganze sei ihm doch recht an die Nerven gegangen. Aber
er habe das doch ziemlich schnell überwunden:

Ich habe vor allem nicht den Fehler gemacht, den vielleicht
manche machen, die hierherkommen - das ist: mit den Leuten

57
Mitleid haben. Das darf man gar nicht. Wer hierherkommt
und sagt: was sind das für arme Menschen: der kann nicht reden
und der redet so viel; wer mit dieser Einstellung - „das sind
arme Menschen" - hierherkommt, der kann an und für sich
gleich wieder gehen. Das ist nicht das Richtige.
Fr.: Und wie würden Sie die Einstellung, die die richtige
ist, bezeichnen?
A.: Die richtige Einstellung? Nun - man kommt hierher und
arbeitet mit den Leuten und betrachtet sie als vollwertige
Arbeitskraft. Und das tun wir hier ja auch. Wir sind eigentlich
nur hier, um den Leuten Arbeitsanleitungen und Arbeitser
leichterungen zu geben. Meinetwegen... daß wir uns Gedanken
machen über Vorrichtungen, wie das einfacher geht und so
weiter. So sehe ich meine Tätigkeit hier.

Man betrachtet die Leute als vollwertige Arbeitskraft? Das


klingt zunächst übertrieben. Es ist ja nicht einer in Sassen
unter den Behinderten, der im normalen Leben, auf sich ge
stellt, eine normale Berufstätigkeit ausüben könnte. Darum
ist er ja hier. Dennoch stimmt der Satz wenigstens der Absicht
nach. Die Arbeit ist hier genau so Lebensgrundlage wie bei
anderen Menschen auch. Arbeit wird nicht verstanden als bloß

therapeutische Möglichkeit, als ,,Beschäftigung", bei der der


einzelne auch noch etwas lernen kann. Man geht davon aus,
daß Arbeit ein wesentliches Moment der Selbstverwirklichung
des Menschen ist-auch des Behinderten. Arbeiten heißt auch
hier: für andere tätig sein!
Die Gruppen in den Werkstätten z. B. sollen das Bewußtsein
haben, daß ihre gemeinsame Leistung wirtschaftliche Bedeu
tung hat fürdie Existenz der ganzen Dorfgemeinschaft. Gewiß
können nur Produkte hergestellt werden, die die begrenzten
intellektuellen und manuellen Fähigkeiten der Behinderten
nicht überfordern. In den Werkstätten, in denen Vogelnistkä
sten, künstlerisch gestaltete Namensschilder und kunstge
werbliches Email hergestellt wird, konnten wir solche Ferti
gungsprozesse verfolgen. Jeder Arbeitsprozeß ist in einfach
ste Griffe aufgeteilt. Man könnte sagen: das ist doch im Prinzip
nichts anderes als Fließbandarbeit. Und doch besteht ein cha
rakteristischer Unterschied: im Laufe der Monate wechseln
die einzelnen ihre Arbeitsplätze, solange, bis jeder die Ferti
gungsphase schon einmal selbst gemacht hat. So könnte

«^8
dann im Endeffekt, um bei einem Beispiel zu bleiben, jeder
auch allein einen ganzen Vogelnistkasten zusammenbauen.
Auf diese Weise kann jeder einzelne eine stark emotionale
Beziehung zu seiner Arbeit entwickeln. Und die im Intellektu
ellen oft so schwer Behinderten haben ja oft eine übernormale
Begabung im emotionalen Bereich.
Sie können also eine Art Liebe zu den Produkten entwik-
keln, die sie herstellen. Und dieTeamarbeit, von der das Gelin
gen des Produktes abhängt, vertieft das Gemeinschaftsleben
und hebt schließlich das Bewußtsein: indem man etwas für
die ganze Dorfgemeinschaft Wichtiges tut, ist man selbst
wichtig.
Aus Respekt vor diesem emotionalen Bedürfnis des Behin
derten bemüht man sich in Sassen um Produkte von echtem
Ve r k a u f s w e r t . M a n w ü n s c h t s i c h K u n d e n , d i e d i e P r o d u k t e
nehmen, weil sie ihnen gefallen und nicht, weil sie von Behin
derten hergestellt sind. Tim Lossen, der in Sassen die Werk
stätten betreut, sagte uns dazu:

„Es ist noch nicht so, daß wir ein echtes Produkt haben und
ein echtes Produkt anbieten und anbieten können - ohne den
potentiellen Kunden darauf hinzuweisen: es handelt sich um ein
Produkt aus einer beschützenden Werkstatt - ,kauft's aus Mit
leid!' oder so. Wir könnten, wenn wir jetzt ein bißchen auf
dem Mitleid herumschwämmen, wesentlich mehr verkaufen,
wollen das aber nicht. Auf der anderen Seite haben wir uns
natürlich auch um Produkte bemüht, die einen echten Brauch
wert haben. Wir können uns jetzt nicht hinsetzen und
Schälchen klopfen und die bei uns auf Halde stellen und sagen:
nun ja - wenigstens haben wir was zu tun. Sondern wir wollen
schon, daß das, was wir machen, auch wirklich weggeht, gekauft
wird, gern gekauft wird. Anklang findet und sich bewährt."

Es genügen eigentlich schon wenige Stunden „Sassen" für


den aufmerksamen Gast, zunächst zu fühlen (aus der ganzen
fröhlichen Atmosphäre herauszu fühlen) und dann schließlich
auch zu begreifen: zu Mitleid besteht kein Anlaß! Mitleid kann
hier nicht aufkommen, weil man auf Schritt und Tritt Respekt
erlebt, Respekt auch vor den Schwerstbehinderten. Jeder wird
ganz als Mensch genommen, als der einmalige, individuelle
Mensch, derer ist. Seine Behinderung ist zwar sein Schicksal,
mit dem er leben muß, mit dem zu leben man ihm hilft, aber
die Behinderung ist für ihn nicht primär, sondern sekundär.
Auf unsere Frage an eine der .Betreuerinnen', ob sie mit
den Behinderten offen über deren Probleme sprechen würde,
beispielsweise über das Thema ihrer Behinderung, meinte
sie:

„Wir können es. Wir tun es manchmal, wenn es dringend


erforderlich ist. Aber im allgemeinen tun wir es nicht. Weil es
nicht eine solche Rolle spielt. Das ist es: man merkt es immer
mehr im Zusammenleben - daß die Behinderung als Problem
oft viel mehr auf der eigenen Seite besteht, auf der Seite der
Nichtbehinderten..
Ft.: Muß man sehr viel Rücksicht nehmen?
A.: Das glaubt man zuerst. Aber im Grunde ist es umgekehrt.
Sie nehmen auf uns sehr viel Rücksicht, in einer sehr natürlichen
Weise - man fordert es nicht. Schwierig hingegen ist manchmal
die Umstellung für die, die vorher woanders waren, in einer
Umgebung, die nicht so frei war wie hier bei uns. Sie brauchen
dann schon eine Zeitlang, bis sie sich richtig entfalten, ihre Per
sönlichkeit entwickeln können, und wir spüren sehr deutlich,
daß sie diese ganze Freiheit anfangs gar nicht richtig packen kön
nen, weil sie es einfach nicht gelernt haben.
Ft.: Aber dann, wenn diese Schwierigkeit überwunden ist,
kommen eigentlich erstaunliche Ergebnisse, nicht wahr?
A.: Ja, eigentlich immer. Das macht es natürlich besonders
schön, und man kann es immer wieder versuchen, auch wenn
es im Anfang manchmal Rückschläge gibt-und die gibt es natür
lich auch. Aber es ist - im Grunde positiv.
Ft.: Es erfordert doch sehr viel Geduld... der Umgang mit
B e h i n d e r t e n . . . o d e r. . . ?
A,: Viel weniger als man denkt...
Ft.: Wenn man in einer Gemeinschaft lebt, stellt diese Ge
meinschaft doch an jeden einzelnen bestimmte Forderungen. -
Ist das auch im Zusammenleben mit Behinderten möglich?
Ja, unbedingt! Und nicht nur möglich, sondern sogar not
wendig. Das ist Ja Grundbedingung, damit sie sich entfalten kön
n e n .

Fr.: Wahrscheinlich ist es eben das, was in den vorhergehenden


Anstalten, in denen viele ja waren, überhaupt nie getan wurde,
nicht wahr?

60
A.: Ja - sei es aus Zeitmangel oder vielfach auch aus Unver
ständnis ...
Fr.: ... oder die ja meistens vertretene Tendenz in Richtung
„Ruhestellung" und „nicht stören"...
A.: ... ja - und man glaubt ja auch, sie seien krank. Das ist
ein Irrtum. Ich meine - es gibt auch Kranke, aber die meisten
sind nicht krank, sie sind bloß anders. Und das ist es! Wir müssen
ihnen helfen, in diesem täglichen Kram zurechtzukommen...
aber im Grunde können auch sie uns ebensoviel geben.

Das war übrigens Maggan Lossen, die Frau von Tim. Sie
ist Schwedin, 27 Jahre alt, wollte ursprünglich Schauspielerin
werden. Vor drei Jahren entschloß sie sich, mit ihrem Mann
Tim (er brach sein Studium - Germanistik und Theaterwissen
schaft -dafür ab), nach Sassen zu gehen. Sie haben zwei Kin
der. Heute leben sie in einer Großfamilie mit 14 Behinderten
im Alter von 19 bis 34 Jahren zusammen. Sie leben zusammen
im Bewußtsein, etwas aufzubauen, ein Gemeinwesen, in dem
jeder seinen Platz und jeder seine Aufgabe hat, in dem jeder
dem anderen hilft und selbst Hilfe empfängt. Yvette, ein behin
dertes Mädchen, 19 Jahre alt, sagte es uns so:

Fr.: Yvette, Sie haben eben schon gesagt, wie gut es Ihnen
gefällt hier in Sassen. Was gefällt Ihnen besonders, was ist denn
so schön hier?
A.: Ja, hier ist die Umwelt so schön. Und hier sind auch die
Menschen ganz toll zu einem. Und ich finde, hier ist auch sehr
viel Unterhaltung. Die Arbeit find' ich ganz toll. Der Rhythmus
ist schön. Hier wird man nicht getrieben. Hier wird alles mit
Liebe gemacht und nicht mit Haß.
Fr.: Warum fällt Ihnen das so auf? Haben Sie vorher andere
Erfahrungen gehabt?
A.: Ja, ich hab' auch sehr schlimme Erfahrungen gehabt. Wo
ich früher war, da war alles abgeschlossen und so. Und dann
hat's geheißen: Ja, Du bist verrückt. Du kannst keinen Schrank
allein haben. Du kannst das nicht. Oder wir haben den Mut
weggenommen gekriegt: „Du kannst nicht existieren" und so.
Aber wir werden den Menschen beweisen, daß wir was können.
Und meine Eltern waren da. Und die haben gemerkt, daß ich
mich sehr, sehr verändert habe. Ich brauch' keine starke Medizin
mehr... wie sie mich vollgepulvert haben mit Medizin! Ist alles
A l
weg... wie sie gedacht haben, ich könnt' das nicht ohne Medizin!
Und ich finde, das hat was mit der Umwelt zu tun und mit
d e r M e n s c h e n l i e b e h i e r. . .
Und ich finde, die Ille (ein gelähmtes Mädchen im Rollstuhl,
d.Verf.), die bringt viel Spaß mit ins Haus, und der Dietrich
auch und die Jo auch mit ihrem Klavier, wenn sie spielt. Ich
finde, wir bringen uns alle gegenseitig Freude ins Haus. Und
da, da.,. ist hier auch Ausgleich und nicht immer Streit und
Haß und Neid und so. Ich finde, wir bauen uns doch hier ein
Paradies auf. Und wir machen vielleicht den Anfang. Und unsere
Nachfolger, wenn wir mal älter sind, und alt und zerbrechlich
oder so, gelt, - daß die sich dann auch denken: aha, die vor
uns - die haben uns das so aufgebaut, dann müssen wir wieder
aufbauen für die nächsten. Und so geht das im Leben immer
weiter... und ich finde das ganz toll!

Yvette findet, daß es in Sassen anders sei als in anderen


Anstalten und Heimen. Das habe etwas mit der Menschenliebe
zu tun. Aber da ist auch noch ein anderes Moment im Spiel.
Auch in den kirchlichen Heimen haben viele Behinderte in
den vergangenen Jahrzehnten Zuflucht und Liebe gefunden.
Aber Partnerschaft mit Behinderten verlangt mehr als fromme
Gefü hie mitleidiger Zuwendu ng - sie bedarf der Anstrengung
des Gedankens, wie der Münchener Psychologe Albert Görres
zu Recht in einem Vortrag betont hat. Görres, selbst Vater
zweier behinderter Kinder, sagte: „Ich hatte kürzlich Gelegen
heit, Gast in einer anthroposophischen Einrichtung für Behin
derte zu sein. Mit der Zeit wurde ich mehr und mehr betroffen
von dem Eindruck, den ich in dieser ausgeprägten Weise in
anderen Einrichtungen nicht gehabt hatte. Mir schien näm
lich, als würden die geistig Behinderten in dieser anthroposo
phischen Einrichtung in einer ganz besonderen Weise behan
delt, nämlich mit einem ganz eigenartigen lebhaften Respekt,
mit einer ungemachten und ungekünstelten Ehrerbietung, die
von dem mir bisher Bekannten auffällig abstach."
Nun-das ganze Projekt Sassen ist auf dem anthroposophi
schen Menschenbild aufgebaut. Keiner der Betreuer spricht
dort von,,geistig Behinderten". Nach ihrer Sicht ist bei diesen
Behinderten zwar das Wechselspiel von Seele und Körper ge
stört-der Geist dagegen, der geistige Wesenskern, sei völlig
intakt. Sie sehen darin kein anthroposophisches Dogma, son-

62
dem eine Realität, die sich im unmittelbaren Zusammenleben
mit den Behinderten immer wieder als wirklich, als erfahrbar
wirklich erweist.
Hanno Heckmann, der Leiter von Sassen oder, sagen wir
besser: der primus inter pares, der erste unter Gleichen, sagte
dazu:

„Eines ist sicher - daß die Menschen sich eine ganz falsche
Vorstellung machen von behinderten Menschen. Der behinderte
Mensch - man muß mit ihm zusammenleben, um das begründen
zu können. Das könnte ich Ihnen nicht einmal in einem Satz
sagen, warum die Vorstellung vom Behinderten so falsch ist -
das beweist erst das Zusammenleben. Im gesamten sozialen Be
reich, das heißt, in seinem sozialen Verhalten, ist der sogenannte
Behinderte normaler als wir, die wir uns normal nennen. Das
ist ganz sicher. Was doch immer wieder auffällt, - dieses Unmit
telbare und dieses Ehrliche, was dahinter steht. Sie haben nicht
den Intellekt, also - sie können nicht lügen, sie können sich
nicht in ein anderes Licht stellen. Wir mit unserem Verstand
versuchen sofort, einen,Anschein' zu erwecken, uns in das Licht
zu setzen, in dem wir vom anderen gern gesehen werden möch
ten. Diese Fähigkeit haben sie nicht. Und das macht auch das
Leben mit ihnen so lebenswert, möchte ich sagen, und auch lie
benswert! Ja - daß man wirklich plötzlich feststellt: ach - hätten
wir es alle... - hätten wir alle diese Fähigkeit wie sie - es wäre
wunderbar, miteinander zu leben! In diesem Bereich sind sie,
sind die Behinderten die Führenden. Immer wieder sind wir von
neuem überrascht von der Art, wie sie Dinge klarstellen oder
wie sie handeln..."
Ft.: ... oder wie sie sich äußern? Könnten Sie vielleicht einmal
ein kleines Beispiel, eine Briefstelle - von der Sie sprachen -
zitieren?
A.: Gern, ja! Ich habe hier einige Briefe liegen von einem
jungen Mann, der nicht sprechen, aber Briefe schreiben kann.
Er hat nie eine Schule besucht - die Mutter hat ihm das Schreiben
beigebracht. Er kommt aus Rom, und dort habe ich ihn einmal
besucht und ihm später als kleines Geschenk das Buch „Der
kleine Prinz" geschickt. Und darauf hat er mir. geschrieben:
Lieber Herr Heckmann! Herzlich sehr bedanke ich mich für
die gute, klarblickende Rede Ihres Briefes und für das unge
wöhnlich poesievolle Buch von dem kleinen Prinzen. Meine
Mutter hat es mir bald vorgelesen und mir befohlen, es auch
alleine zu begucken. Das hätte ich ohnehin getan. Denn diese
Geschichte habe ich bestimmt besser verstanden als sie. Liebe
will sich auch in der wirkenden Tat erweisen. Tat erst und wahrer
Einsatz machen sie wirklich. So hat sie Bedeutung für den Lie
benden. Ich wünsche mir eine Betreuung, wie der kleine Prinz
sie seiner Rose angedeihen ließ. Ich würde mich aber nicht so
launenhaft benehmen wie sie. Die Wirkung wäre durchaus be
friedigend. Ich würde versuchen, sehr gefälUg und strebsam zu
sein. Mit dem wirklichen Verlangen, bald zu Ihnen zu kommen,
grüßt Sie herzlich Ihr Lorenz.
Das ist ein Junge, der wirklich schwer behindert ist. Also er
stens nicht spricht, ein Encephalitiker, der auch so ganz leicht
zu recht starken Unruhezuständen neigt - und - was auch häufig
passiert - der wippt, hin und her schaukelt und dann oft ganz
in sich zusammenfällt. Wenn Sie ihn beobachten, würden Sie
das unmöglich vermuten, daß er so etwas überhaupt - denken
kann!

In.all den verschiedenen Interviews, in den vielen Gesprä


chen wurde von den Betreuern immer wieder betont: die
Behinderten lernen nicht nur von uns... wir lernen auch von
ihnen: Aufrichtigkeit, Taktgefühl, emotionale Wärme. Dieses
Phänomen beeindruckte uns besonders. Wir sind darum in
unseren Gesprächen immer wieder auf das Thema des
Zusammenlebens zurückgekommen, und der Tenor aller Ant
worten war: Wenn wir Schwierigkeiten haben, dann sprechen
wir offen darüber, bis alles wieder gut ist. Man könnte das
Zusammenleben in Sassen durchaus einen fortwährenden

gruppendynamischen Prozeß nennen.


In zweifacher Hinsicht erleben die Sassener ihre Welt als
eine Art Enklave, abgegrenzt von der sonstigen Welt, und das
empfinden die Betreuten nicht anders als die Betreuer. Hier
lebt man in der Natur, verbunden mit der Natur. Und man er
fährt Gemeinschaft, wie sie unter Menschen sein sollte...! Als
hätte man ihm die Aufgabe gestellt, eine Art klassischer For
mel dafür zu finden, antwortete Burckard, ein 26jähriger jun
ger Mann, als Behinderter in der Landwirtschaft tätig, auf un
sere Frage, was die Menschen draußen über Sassen wissen
sollten:

64
„Was die Leute draußen wissen sollten... ? Die sollen wissen,
daß wir in unserer Gemeinschaft sehr glücklich sind, und sollen
also sehen, daß also auch in der Natur das Leben doch eigentlich
das gesündeste Leben ist. Und vor allen Dingen, daß man auch
viel Freude hat und anderen Menschen auch helfen soll. Was
man auch in der Stadt so gut könnte. Nämlich vor allen Dingen
ist es eben so - die ganzen körperbehinderten Menschen, die
hier leben und so - die vom Schicksal schwer Geschlagenen...
die finden alle zueinander und können miteinander ihren Kum
mer austragen. Das sollten die Leute in der Stadt eigentlich auch
tun. Sie tun es leider nur nicht."

Naturverbunden leben, gesund leben, richtig leben? Ein


Hauch von Dorfromantik? Eine bev^ußte Antiweit zum moder
nen Leben in der Stadt von heute? Man sollte einmal die Ideo
logie beiseite lassen und lieber fragen: Welche Chancen hät
ten diese Behinderten im großstädtischen Getriebe und unter
den Bedingungen der modernen Leistungsgesellschaft?
Hanno Heckmann meinte:

„Der Dorfgedanke ist bei unserer Arbeit sicher ein ganz we


sentlicher, nämlich deshalb, weil wir hier in diesem Dorf, das
wir aufbauen werden, ja auch unsere eigenen Gesetze machen
können. Und das ist so wesentlich, weil mit den Gesetzen, die
heute im normalen Leben gültig sind, die behinderten Menschen
einfach nicht würden leben können. Ein Leistungsprinzip einem
Behinderten gegenüber ist Unsinn - es geht nicht! Er wird immer
seinen eigenen Rhythmus bestimmen müssen - auch in der Tä
tigkeit. Und so glaube ich eben, daß die Gesetze, die man auf
stellt, letztlich abgelesen werden müssen vom Behinderten...
von einem Kreis von Behinderten, nicht vom einzelnen. Eigent
lich sind sie es, die uns sagen: so und so müßt Ihr das hier machen.
Und dafür muß man ein Ohr haben... man muß herausspüren,
was sie wollen."

Man mag zu diesen wie ähnlichen Versuchen einer Emigra


tion aus der modernen Welt stehen, wie man will. Hinsichtlich
behinderter Menschen wüßte ich nicht, was dagegen spre
chen sollte, ihnen statt der Attraktionen des Stadtlebens, mit
denen sie sowieso nichts anfangen können, den Lebensraum
zu bieten, in dem sie trotz ihrer Schädigungen gedeihen kön-
nen. Die Dorfgemeinschaft Sassen wird maximal 160 Behin
derte und Nichtbehinderte umfassen können. Heute warten
schon über 2000 Behinderte darauf, in Sassen eine Heimat
zu finden. Und man plant dort auch schon das nächste Dorf
in der Nähe. Doch so sehr Sassen sich auch vergrößern wird
- es bleibt ein Tropfen auf einen heißen Stein. Man hat von
der Hilda-Heinemann-Stiftung, die sich vor allem um behin
derte Erwachsene kümmert, gesagt, sie helfe nicht nur
behinderten Menschen, sondern sie fördere zugleich auch
eine bessere Selbsterkenntnis dieser Gesellschaft, in
dem sie ihr zu einem Menschenbild verhelfe, das vielleicht
einmal das Prädikat „human" verdient haben werde. Ich per
sönlich habe dieses humane Menschenbild in der anthropo-
sophischen Lebensgemeinschaft Sassen gefunden, und mir
kam immer wieder ein Wort Pastor von Bodelschwinghs in
den Sinn, der auch kein weichliches Mitleid, keine falsche
Barmherzigkeit bei den Eltern, Verwandten und Pflegern sei
ner epileptischen Kranken dulden wollte. Dieser liebeerfah
rene Mann sagte das strenge Wort: ,,Wenn wir barmherziger
sein wollen, dann müssen wir härter werden." Ich möchte sa
gen: dann müssen wir gerechter werden, indem wir neue Maß
stäbe für „normal" oder „unnormal" setzen, oder wie es einer
von Sassen sagte: die Behinderung liegt oft viel mehr bei uns,
die wir uns normal nennen.
Gute Schafe - böse Böcke?

Über Seelsorge an Strafgefangenen

Der Titel klingt reißerisch. Aber die Sache, um die es geht


- Seelsorge unter jugendlichen Strafgefangenen - hat nichts
Reißerisches an sich. Auch soll sie nicht etwa in Gestalt eines
Krimi nahegebracht werden, sondern im Gespräch mit einem
Seelsorger in einer Jugendstrafanstalt - der eben das nicht
tun möchte: gute Schafe von bösen Böcken zu trennen.
Doch viele Betroffene, straffällig gewordene, empfinden so
die Kirche, für ihren Anwalt können und wollen sie die Kirche
nicht halten. Gehört nicht auch sie zu jenen gesellschaftlichen
Mächten, die das uralte Spiel gern betreibt: gute Schafe -
böse Böcke: die einen in Ehren, die anderen hinter Gitter?
In der Tat: Wo es um Fragen der Reform von Strafrecht
und Strafvollzug geht, erwecken die Kirchlichen oft den Ein
druck, als seien sie allzumal im Lager der Gestrengeren zu
finden: strafbereit, straf besessen, manchmal sogar strafwütig.
Während kirchenfremde Humanisten, Sozialisten, Marxisten
sich den Kopf über den rechten Sinn einer staatlichen Strafge
richtsbarkeit zerbrechen (darf Strafe als Sühne für begange
nes Unrecht betrachtet werden, oder ist sie lediglich eine
rechtsstaatlich unverzichtbare Reaktion zum Schutz we
sentlicher Rechtsgüter), scheinen brave Christen an der
Zuständigkeit des Staates nicht zu zweifeln, über Schuld und
Unschuld zu richten. Sie scheinen weniger Hemmung zu ha
ben, ein Gefängnis als Stätte verdienter Strafe für begangene
Schuld zu betrachten - auch wenn sie dann vielleicht gern
bereit sind, die ,,armen Gefangenen" in christlicher Caritas
zu besuchen und zu betreuen. „Strafe muß sein": davon
scheinen gerade die Frommen überzeugt zu sein. Der Ruf
nach der Todesstrafe soll (angeblich statistisch belegbar) un
ter regelmäßigen Kirchgängern häufiger erklingen als unter
Unkirchlichen. Es sieht nicht so aus, als gehörte die Liberali
sierung des Strafrechts zu den Herzensanliegen der Kirchen-

A 7
leute. Daß die Kirchen etwa für die Unantastbarkeit auch des
ungeborenen Lebens eintreten, wird jeder, der die Kirche für
eine der entscheidenden moralischen Kräfte unserer Gesell
schaft hält, nicht nur verständlich, sondern richtig finden.
Aber ist es Sache der Kirche, für diesen hohen ethischen Wert
des Respektes vor dem werdenden Leben eine strafgesetz
liche Absicherung zu verlangen?
Schließlich ist die Kirche nicht eine Art Überstaat, die noch
besser weiß und verficht als der Staat selbst, was ihm frommt.
Der Staat sieht sich immer wieder unausweichlich inden Kon
flikt verstrickt zwischen Gemeinwohl und Einzelwohl. Er muß

(sonst hebt er sich selbst auf) das Interesse des Ganzen dem
Interesse des einzelnen vorziehen. Er ist ein Instrument zur

Selbstverteidigung der Gesellschaft gegen Übergriffe, die


Frieden und Sicherheit der Allgemeinheit bedrohen. Er kann
- qua Staat - nicht fragen nach der ganz persönlichen Schuld
eines Rechtsbrechers: was ihn auf den Plan ruft, sind die Fol
gen von dessen Tun; der Staat muß sich jener Kräfte erwehren,
die den allgemeinen Rechtsfrieden stören, gefährden, bedro
hen. Die explodierende Bombe des Anarchisten ist eine
Kriegserklärung, auf die der Staat mit den ihm zur Verfügung
stehenden Gewaltmaßnahmen antworten muß, ohne lange zu
fragen, wie der seelische Prozeß moralisch zu beurteilen ist, in
dem ein jugendlicher Idealist zum Anarchisten geworden ist.
Aber die Kirche als Kirche - wahrhaftig nicht berufen als
Instrument der Selbstverteidigung der Gesellschaft-, sollte
sie nicht jenes moralische Gewissen repräsentieren, das am
Wohl, am Heil des einzelnen orientiert bleibt: am „unsterbli
chen" Wert eines jeden Menschen? Man kann zwar mit der
Bergpredigt keinen Staat regieren und das Evangelium von
der Ehebrecherin nicht zum Maßstab der Strafrechtsreform
machen. Aber eine Plattform müßte sich von da gewinnen las
sen füreine aktive, fruchtbare, partnerschaftliche Zusammen
arbeit von Strafgefangenen und Seelsorgern. Darum habe ich
einen Mann zum Gespräch vor das Mikrophon gebeten, der
sich mit den hier anstehenden Problemen sowohl praktisch
wie theoretisch befaßt. Mein Gesprächspartner ist der 33jäh-
rige Jesuitenpater Eugen Wiesnet.

T. S.: P. Wiesnet, was arbeiten Sie, wo arbeiten Sie?


P. W.: Meine Arbeit befaßt sich, als „Überschrift" gesagt.
mit der Rehabilitierung von Außenseitern unserer Gesellschaft:
mit der Rehabilitierung von drogenabhängigen Jugendlichen,
mit der Rehabilitierung und Resozialisierung von jugendlich
Straffälligen. Mit den drogenabhängigen Jugendlichen lebe und
arbeite ich zusammen in einer therapeutischen Wohnge
meinschaft in der Nähe von München. Die Strafanstalt, in der
ich freier Mitarbeiter des Gefängnispfarrers bin, ist in der Nähe
von Würzburg, und ich habe die Möglichkeit, alle 14 Tage das
Wochenende dort zu sein. Die beiden Orte München und Würz-
burg bedingen natürlich eine gewisse lokale Mobilität, die für
diese Arbeit Voraussetzung ist.
T. S.: Nun kommt allerdings noch hinzu - Sie sind nicht nur
ein Praktiker. Auch wenn Sie erst 33 Jahre alt sind - Sie haben
den Doktor der Philosophie, den Doktor der Theologie und
arbeiten jetzt an einer Habilitationsschrift in Innsbruck... mit
welchem Thema?
P. W.: Ich befasse mich in meiner Habilitationsschrift in Pa
storaltheologie mit dem Problem der Strafe, der Resozialisie
rung, denn in der Theologie katholischer- wie evangelischerseits
war bisher der Begriff Strafe doch sehr stark vom Vergeltungs
und Sühnedenken her geprägt... Kant hat bei vielen Gedanken
gängen doch mit Pate gestanden. Von meinen persönlichen Er
fahrungen her - ich kenne diese Jugendstrafanstalt jetzt seit über
vier Jahren und einige hundert jugendlicher Strafgefangener -
von dieser Erfahrung her nun muß ich doch sagen, daß das kon
krete Bild des straffälligen Menschen in unserer Gesellschaft
heute ganz anders ist als der „Bilderbuchtäter" in unseren Lehr
büchern.
T. S.: Sie haben eben genannt... das Christentum mit seiner
Lehre von Schuld und Sühne und Strafe, und Sie haben Kant
erwähnt - glauben Sie nicht, daß man auch im Hinblick auf
den christlichen Aspekt dieser Fragen ebenfalls von einer „Bil
derbuchgeschichte" sprechen könnte?
P. W.: Das ist richtig. Auch im christlichen Denken über die
Strafe, über das Wesen der staatlichen Sanktion dem straffälligen
Menschen gegenüber hat in der Vergangenheit eine gewisse Ein
seitigkeit geherrscht, das stark alttestamentlich bestimmte Got
tesbild ... das Bild von dem strafenden, Gerechtigkeit ausüben
den Gott ist im Vordergrund gestanden, und hat...
T. S.:wenn ich Sie hier unterbrechen darf... ich bemühe
mich immer, das alte Mißverständnis nicht aufkommen zu lassen.

^ 9
als kenne... das Alte Testament im Gegensatz zum Neuen nur
den strafenden, den rächenden Gott und Gerechtigkeit nur als
Strafgerechtigkeit. - So ist es im Alten Testament nicht gewesen,
sondern es war eine Richtung so, daneben aber auch, ja sogar
dominierend, der Gott der Liebe. Ich würde sogar sagen
- theologiegeschichtlich gesehen -, daß der Satisfaktionsgedanke
erst so recht seit dem hohen Mittelalter, seit Anselm von Can
terbury, eine große Rolle spielte...
P. W.:... ja, genau... Anselm von Canterbury, der die ganze
Frage der Erlösung mit seinem Satisfaktionsgedanken in streng
juristischen Kategorien gedacht hat. Er konnte dieses theologi
sche Phänomen nur in juristischen Kategorien denken und auch
bewältigen. Hier kommen also dem sehr persönlichen Gedanken
der Erlösung, der Befreiung des Menschen, juristische Formen
zu... der Wiedergutmachung und so weiter...
T. S.: Nun könnte man heute umgekehrt sagen, daß viele juri
stische Gedankengänge einen massiven theologischen Hinter
grund haben.
P. W.: Auch das. Sie wissen, daß gerade in der Staatstheologie
vergangener Zeit immer wieder kurzschlüssig von der Autorität
Gottes auf die Autorität des Staates übergegangen wurde, d.h.,
daß man Funktionen, die man Gott zugestand, automatisch auch
dem Staat zugestanden hat - das sind Gedankengänge, die heute
zu überprüfen sind. Was mir bei diesem ganzen Fragenkomplex
wesentlich erscheint, ist das... Eigentümliche der neutestament-
lichen Theologie, nämlich - daß Christus gerade dem Außensei
ter der Gesellschaft, auch dem gefallenen Menschen, Versöh
nung, Wiedergutmachung und Heil zuspricht. Im ganzen Neuen
Testament finden wir in diesem Zusammenhang das Wort Ver
geltung nichty es wird hier immer nur von Befreiung, Wiedergut
machung gesprochen. Diese Gedanken müssen wir, glaube ich,
heute in einer Theologie der Resozialisierung, oder, wie wir das
nennen wollen, mehr in den Vordergrund stellen. Wir Christen
können nur davon sprechen, daß dem Täter gegenüber die
Funktion der Strafe den Sinn haben muß, Schaden wiedergut
zumachen, den der Täter verursacht hat, dann der Wieder
versöhnung... mit sich selbst, mit seiner eigenen Person
und mit der Gesellschaft, und schließlich der Wiederein
gliederung in diese Gesellschaft. Ich möchte also sagen: der
Sinn der Strafe sind diese drei großen „W", auf die es
ankommt.

7 n
7. S.: Nun machen Sie persönlich in der Seelsorge an straffälli
gen Jugendlichen Ihre Erfahrungen. Nehmen wir jetzt die drei
„W" einmal her - Wiederversöhnung, Wiedergutmachung,
Wiedereingliederung: Wie stellt sich das im Hinblick auf jugend
liche Straftäter dar?
P. W.: Das ist ein heute in unserer Gesellschaft noch weitge
hend unbewältigtes Problem, einfach auch deshalb, weil wir in
der heutigen Wissenschaft - sei es in der Psychologie, oder auch
in der Soziologie - über das Entstehen von Kriminalität zwar
schon vieles, aber noch nicht alles wissen. Wir können heute
in vielen Fällen noch nicht beurteilen, warum dieser Jugendliche
in eine solche Entwicklung hineingeraten ist. Darum müssen
wir heute wegkommen von nur punktuellen Hilfsmaßnahmen
für bestimmte Jugendliche, bei ihrer Wiedereingliederung. Wir
müssen zusätzlich übergehen zu der entschiedenen Frage: Was
sind die Ursachen der Kriminalität? Anders ausgedrückt: zu der
Frage der Prophylaxe. Sie stellt sich uns heute ganz entschieden!
Die Frage der Vorbeugung einer Entwicklung also, die sich in
bestimmten Milieus, in bestimmten gesellschaftlichen Schichten
und Unterschichten von vornherein anbahnt. Vorbeugung durch
den Versuch, sei es durch Einzelfallhilfe oder auch durch gewisse
gesellschaftspolitische Reformen, derartige Entwicklungen von
vornherein zu verhindern. Ich sage hinsichtlich der straffälligen
Jugendlichen immer - man hat ihnen sehr lange, meist 17 bis
18 Jahre, Zeit gelassen, um kriminell zu werden, und erst dann,
als sie vor dem Richter standen oder in ein Erziehungsheim ka
men, ist man auf ihr Problem aufmerksam geworden, aber da
war es schon zu spät.
7. S.: Können wir diese Probleme etwas näher und konkreter
beschreiben...: Wie viele Jugendliche sind in der Strafanstalt,
in der Sie arbeiten?
P. W.: Es sind dort über 400 Strafgefangene, also eine sehr
große, eine überfüllte Strafanstalt, nur männliche Jugendliche,
Vollzugsalter bis 24 Jahre, die zum Zeitpunkt der Tat unter
21 waren. Wir haben statistische Untersuchungen gemacht: man
muß bei weit mehr als der Hälfte, bis zu 70 % dieser Jugendlichen
von massiv ge- und zerstörten familiären und sozialen Verhält
nissen sprechen, aus denen sie kommen. Wenn man heute immer
wieder von der Familie spricht als Ursache für ein Fehlverhalten,
so ist das nicht nur ein Modewort, sondern diese Tatsache läßt
sich statistisch belegen, und wir wissen heute aus der Kinder-

71
und Jugendpsychologie, gerade seit Rene Spitz, welch massiv
schädigende Wirkung, gerade in der frühen Kindheit, unzurei
chende persönliche familiäre Verhältnisse haben. Spitz, auf den
wir uns in unserer Arbeit doch sehr weitgehend beziehen, spricht
immer wieder von der Tatsache, daß frühkindliche psychische
Schädigungen weitgehend irreparabel wären. Das zeigt auch,
warum bei jugendlichen kriminellen Strafgefangenen mit 20/21
Jahren eine pädagogisch-therapeutische Arbeit oft von so wenig
Erfolg begleitet ist.
T. S.: Das ist nun im Hinblick auf diese straffälligen Jugendli
chen interessant und wichtig. Aber ich könnte mir denken -
Eltern, die so etwas hören, bekommen Angst. Und zwar meine
ich... die Massenmedien, eine ganz bestimmte Sorte von Illu
strierten und Zeitschriften, psychologisieren die Erziehung der
art, daß ich immer wieder Eltern finde, die geradezu Angst krie
gen, die mit Tests herumlaufen und sie an ihre Kinder anlegen,
also die Sorge haben, sie machen etwas falsch. Früher hat man
das nicht in diesem Maße gehabt, und es sind trotzdem auch
ganz vernünftige Kinder erzogen worden.
P. W.: Ja genau! Weil es meiner Meinung nach nicht auf die
raffinierte psychologische Methode in der Erziehung an
kommt... es kommt auf etwas anderes an - nämlich darauf,
daß die seelische Grundstimmung zwischen Eltern und Kindern
stimmt. Wir sprechen immer von der Nestwärme... ich möchte
dieses Wort gar nicht strapazieren, aber alle unsere Jugendlichen
in der Strafanstalt gebrauchen dieses Wort so oft. Sie sagen immer
wieder: „Das ist das, was ich nie hatte! Ich habe nie erfahren,
wie eine Mutter wirklich ist, was eine Familie ist... ich kenne
das nicht." Es kommt also gar nicht darauf an, daß man mit
dem Lehrbuch in der Hand erzieht... das geht bestimmt
schief... nein, es kommt darauf an, daß die Eltern, daß die ganze
Familie sich dem Kind engagiert widmen. So waren Bäuerinnen
vor hundert Jahren oft bessere Erzieherinnen als manche junge
engagierte Eltern, die, wie Sie sagen, mit dem Test an ihre Kinder
herangehen. Weil in diesen alten Familien die Beziehungen ein
fach gestimmt haben, und das ist trotz aller Wohlstandsfrage
die entscheidende Frage: Stimmen die inneren Beziehungen?
T. S.: Ich glaube, man kann viele Erziehungsfehler machen,
aber wenn diese Nestwärme da ist...
P. W.:... dann kann man auch Fehler machen, und diese wir
ken sich nicht einmal so schlimm aus, wie wenn diese Grundbe-

72
Ziehung zerstört ist... dann eigentlich erst kann man in der Er
ziehung - diese Erfahrung mache ich in der Strafanstalt - nicht
mehr sehr viel machen. Hier sind die ganz entscheidenden Pro
bleme! Das wurde sehr eindringlich deutlich wieder vor einigen
Tagen in einem Zugangsgespräch mit einem Jugendlichen. Das
Gespräch dauerte etwa zwei Stunden. Wir haben versucht, uns
kennenzulernen, und als ich in seiner Zelle aufstand, um zu ge
hen, sagte er zu mir: „Vielen Dank, Sie waren der erste Mensch,
der mir zwei Stunden zugehört hat." Der Junge war 19 Jahre
alt! In dem Gespräch kam übrigens auch heraus - er war einer
von den jungen Kriminellen, der, 19 Jahre alt, noch kein einziges
Weihnachtsfest in einer Familie erlebt hatte. Seine Mutter war
Prostituierte, er kam - die typische „Heimkarriere" - vom Säug
lingsheim übers Waisenhaus ins Erziehungsheim... in die Ju
gendstrafanstalt ...! Wir sprechen heute von Mechanismen, auch
von biographischen Mechanismen, denen ein solcher Jugendli
cher dann ausgeliefert ist... ein Teufelskreis, dem man aus eige
ner Kraft dann nicht mehr entrinnen kann. Hier setzt dann die
Arbeit ein, und ich möchte sagen - es ist von unserer Seite her
ausgleichende Gerechtigkeit... daß wir diesen vielfach vom Le
ben schwer benachteiligten Jugendlichen, die zweifellos auch
sehr vieles Fragwürdige in ihrem Leben getan haben - diese
Frage sei gar nicht bestritten -, angesichts ihrer großen Benach
teiligung doch helfen, diesen Teufelskreis zu überwinden, an
einem Punkt auszubrechen. Allein können sie es nicht schaffen.
T. 5.; Ja. Nun sitzen sie also in der Strafanstalt, die ja wirklich
nicht geeignet ist, Nestwärme zu vermitteln. Gibt es Alternati
ven, gibt es wenigstens Modellvorstellungen, wie man den Straf
vollzug anders machen könnte?
P. W.; Diese Vorstellungen gibt es, und genau hier ist der
Zusammenhang mit der therapeutischen Wohngemeinschaft, in
der ich arbeite. Wir haben dort in Aiglsdorf, einem kleinen Ort
in der Nähe Münchens, seit nun fast zwei Jahren eine Wohnge
meinschaft mit zehn drogenabhängigen Jugendlichen... genau
gesagt - diese Jugendlichen waren sämtlich Fixer, also Jugend
liche, die harte Drogen - Morphium, Heroin, Kokain und so
weiter-sich injiziert haben, also bereits schwer abhängig waren.
Sie machen dort nach dem körperlichen Entzug in einer Klinik
ihre psychische Entwöhnung durch. Diese psychische Entwöh
nung dauert circa ein halbes Jahr. Von diesen zehn Jugendlichen
war ein großer Teil jeweils im Gefängnis. Ich übernehme auch

7 ^
aus Ebrach Strafgefangene, die drogenabhängig sind, die über
die Droge zur Kriminalität gekommen sind, nach Aiglsdorf.
Dieses Aiglsdorf ist-wie Sie gerade fragten-eine solche Modell
einrichtung, eine Alternative... warum? Weil wir dort durch
den persönlichen Kontakt auf seelsorglicher wie auf therapeuti
scher Ebene mit diesen Jugendlichen ihre persönlichen Pro
bleme, die Ursache und Auslöser für ihr dissoziales Verhalten
waren, konkret und gezielt angehen können. Ich arbeite dort
im Verbundsystem mit Psychologen und Sozialarbeitern - ein
auch personalmäßig aufwendiges Experiment, aber die thera
peutischen Erfolge, die wir erzielen, rechtfertigen den Aufwand.
So etwas, wie es in Aiglsdorf mit einer kleinen Gruppe gemacht
wird, und hier sind pädagogische Erfolge mit Jugendlichen zu
erzielen, die in einer Strafanstalt nie da sind -, so etwas läßt
die Hoffnung aufkommen, daß der Knast, wie er heute ist mit
70 Prozent Rückfall, sich eines Tages ganz überlebt haben und
Möglichkeiten Platz machen wird, mit deren Hilfe jener zwangs
läufige Teufelskreis der Kriminalität unterbrochen werden kann.
T. S.: Das könnte allerdings etwas utopisth klingen, wenn
man die realen Möglichkeiten bedenkt. Sie haben in Aiglsdorf
etwa zehn junge Menschen, die dort betreut werden von einem
ganzen Stab - vielleicht genauso viele Leute wie die Betreuten -,
und Sie sprechen von 400 Jugendlichen dort in der Strafanstalt
- wie will man das machen?
P. W.; Ja... hier liegen ganz klar die praktischen Probleme,
die jedoch bereits konkret angegangen werden. In diese Richtung
gehen ja auch alle Reformen innerhalb der Strafanstalt. In den
bisherigen Mammutanstalten mit ihren anonymen Gefangenen
massen bildete sich häufig unter Strafgefangenen jene berühmte
Insassen-subkultur mit allen ihren typischen Erscheinungen, von
der Tätowierung bis zur Vergewaltigung. Man will also durch
Aufteilung dieser anonymen Masse in familiäre Gruppen hier
pädagogisch mehr herausholen.
T. 5.; Dann müßte zunächst einmal eine Anstalt ganz anders
gebaut werden.
P. W.: zunächst einmal vom Räumlichen her - hier müßte
fast mehr in Einzelhäusern, Pavillons...
T. S.: ...ja, so wie Kinderdörfer...
P. W.: ... genau, Sie sagen es! Ich sage immer - die Anstalt
der Zukunft müßte wie ein Kinderdorf gebaut sein, nur für Straf
fällige. Aber genau dasselbe familiäre Prinzip. Es gibt auch heute

7 4
schon Anstalten, in der Schweiz - zum Beispiel Saxerried bei
St. Gallen, eine Musteranstalt -, die dieses Prinzip verwirklichen.
Da ist der Schlüssel: Betreuer zu Hausinsassen bzw. Gefange
nen im Verhältnis von 1 zu 3. Auf einen Betreuer kommen drei
Gefangene. Das ist also ein sehr aufwendiges, intensives Prinzip,
aber auch hier rechtfertigen die Erfolge diesen Aufwand. Aller
dings müssen wir heute sagen: Für die große Anzahl von Gefan
genen, die wir vor uns haben, können wir theoretisch eine Alter
native entwickeln, nur - der Teufel steckt im Detail...! Die
engagierten Mitarbeiter, die solche Modelle durchziehen, wird
es in diesem Ausmaß, in dieser Breite einfach nicht geben. Ich
sehe jedenfalls im Moment keine Möglichkeit. Ich weiß auch von
jungen Sozialarbeitern, daß bei ihnen der Dienst in einem Gefäng
nis ausgesprochen unbeliebt und unattraktiv ist. Hier ergibt sich
ganz einfach die große Lücke allein in der Mitarbeiterfrage.
T. S.: Könnte sich hier die Kirche nicht mehr engagieren?
Gewiß - auch die Kirche steht vor denselben Problemen, wenn
sie hier Mitarbeiter herschaffen soll - sie kann ja für ihre norma
len Aufgaben schon keine Mitarbeiter mehr finden - aber es
wäre doch eine Aufgabe der Kirche.
P. W.: Ja, ich glaube ja. Denn gerade - um noch einmal auf
das Neue Testament zurückzukommen - wenn wir die Gestalt
Christi betrachten, müssen wir doch feststellen, daß die Men
schen, mit denen er sich in erster Linie umgab, für die er sich
in erster Linie einsetzte, doch die Benachteiligten waren, die
untere Schicht der damaligen Bevölkerung. Ich sage das jetzt
nicht nur, weil es im Moment modern ist, auf diese Leute hinzu
weisen, nein... sondern das gehört zu den wichtigsten Aussagen
des Neuen Testaments. - Ich glaube, daß die Kirche, auch wenn
sie es vielleicht in bestimmten Perioden ihrer Geschichte verges
sen hat, doch... Lobby dieser Armen und... Anwalt dieser Be
nachteiligten sein sollte! Von ihrem eigenen Auftrag her.
T. S.: Eine persönliche Frage: Wie sind Sie zu diesem Engage
ment gekommen? Hat der Orden Sie freigestellt dafür oder...
P. W.: Die ganze Sache hat sich sehr einfach entwickelt - ich
habe während meines Studiums neben der Theorie eine Reihe
von Praktika gemacht... ich war zunächst als Psychologieprak
tikant in einer psychiatrischen KHnik für fast ein Jahr in Nürn
berg - damals noch nicht dem Orden angehörend - und bin
dann, ebenfalls noch während des Studiums, zu einem zunächst
auf vier Wochen befristeten Praktikum in die Strafanstalt hinein-

75
gekommen, ich bin dann zwei Monate dort gebKeben, weil ich
während dieser Tätigkeit doch sehr bald durch persönliche Ge
spräche mit dieser gesamten Problematik konfrontiert worden
bin, Kontakte... auch persönliche Kontakte, zu Jungen Strafge
fangenen herstellen konnte und dann feststellen mußte - man
kann, wenn man in diese Arbeit erst einmal eingestiegen ist,
nicht nach vier Wochen sagen: Meine Herren, auf Wiedersehen,
es war sehr interessant!... Das geht nicht. Man muß in dieser
Arbeit drinbleiben. Ich kenne heute noch Strafgefangene, die
ich damals vor vier Jahren kennengelernt habe, junge Mörder,
- die ja zu zehn Jahren verurteilt werden, von denen sie dann
in der Regel sieben Jahre absitzen müssen - die heute noch in
der Strafanstalt sind. Um ein Beispiel zu bringen: einer von ihnen
ist geistig und körperlich behindert, vom Familiären her sozial
schwer benachteiligt, ein Mann, der einen affektiven Mord an
einer Prostituierten begangen hat - der dann Sicherungsverwah
rung bekommen wird - ein Junge also, bei dem von Resozialisie
rung nicht sehr viel gesprochen werden kann. Er selbst weiß
das auch, aber er wartet auf jeden Sonntag, den ich komme,
wo ich mit ihm spreche und er mir seine Sorgen aus dem Gefäng
nis erzählen kann und er dann sagt: „Sie, nach dem Gespräch...
jetzt geht's mir wieder besser. Jetzt weiß ich wieder, daß irgend
jemand da ist, der für mich mitdenkt." Auch das ist also eine
Funktion... nicht nur von Resozialisierung zu sprechen, vom
Erfolg der Wiedereingliederung. Sondern Seelsorge heißt auch
manchmal, dort wo nicht mehr viel herauszuholen ist, rein prag
matisch, dieses Leben zu begleiten, Probleme mitzutragen.
T. S.: Wozu auch gehört, daß nicht unbedingt religiös viel
herausgeholt werden muß. Sie tun doch hier einen Dienst...
oder fragen wir einmal so: Worin sehen Sie als Seelsorger einen
Unterschied zu einem Sozialarbeiter, der-praktisch-das gleiche
tun würde...? Sie deuteten schon an... Sie haben eine andere
Vorstellung von Seelsorge...
P. W.: Ich möchte etwas provokatorisch sagen - ich verstehe
mich in meiner Arbeit nicht als „Bekehrungsagent in Sachen
Religion", sondern ganz anders. Ich möchte sagen, daß dieses
Wort „Seelsorge" oder „Seelsorger", der Titel, mit dem man
uns bezeichnet, fast etwas einseitig ist; denn es geht uns in dieser
sozialpädagogischen Arbeit nicht nur isoliert um die Seele des
einzelnen, sondern es geht uns um viel mehr - es geht uns um
diesen ganzen Menschen! Und man muß sich auf diesem Sektor

76
der Pädagogik um die gesamten Probleme dieses Menschen
kümmern. Jener Sektor seines Lebens, wo er die Frage nach
dem Sinn des Lebens stellt, jene Dimension seines Lebens, wo
er sich auch mit der religiösen Frage beschäftigt - diese Frage
ist eingebettet in seine übrigen Probleme... man kann sie nicht
für sich isoliert herausnehmen. Ich kann mich sehr gut erinnern
- als ich ins Gefängnis kam, sagte einer der Gefangenen spöttisch
zu mir: Was wollten Sie denn... Sie Himmelskomiker? Das ist
einer der Leute, zu denen ich heute das beste Verhältnis habe!
Weil ich über dieses Wort hinweggegangen bin und versucht
habe, mit ihm zu klären, was man aus seinem Leben jetzt noch
machen kann. Das klingt wie eine erbauliche Story, ist es aber
nicht. Der Mann geht am Sonntag in die Kirche, er sagt: „Herr
Pfarrer, ich bin nicht fromm... bilden Sie sich ja nichts ein!
Aber ich will hören, was Sie hier sagen." Und das scheint mir
bereits auch eine Form der... ja, der Frömmigkeit zu sein -
eine anfängliche Frömmigkeit -, ich glaube also, daß hier SeeL
sorge ist: „Hilfe zur Lebensbewältigung." Auf der breiten Basis
der Gesamtproblematik. Daß hier die Sinnfrage, die religiöse
Frage immer mit hereinkommt, ist selbstverständlich, aber sie
ist nicht das erste, auf das wir sozusagen „losgehen". Ich glaube,
wir müssen viel mehr den Menschen in ihren Problemen ab
sichtslos helfen.
T. S.: Nun haben Sie aber den einzelnen im Auge. Würden
Sie sagen, daß Ihre Aufgabe auch eine gesellschaftspolitische Be
deutung hat? Es geht ja nicht nur darum, dem einzelnen zu hel
fen, sondern hier sind ja Strukturen...
P. W.: Ich glaube, daß uns über die Einzelfallhilfe hinaus hier
sehr klar gesellschaftlich-strukturelle Probleme bewußt wer
den ... ganz klar, ich sehe hier auch die Funktion meiner Tätig
keit an der Universität - wie gesagt, ich habilitiere mich, ich
habe einen Lehrauftrag an der Universität Innsbruck -, hier sehe
ich die Aufgabe der Multiplikatorenarbeit auch unter den Stu
denten. Diese Problematik, diese Themen vor die Studenten zu
bringen - jene Leute, die dann später in den verschiedensten
Berufen tätig sein werden, vom Juristen bis zum Pädagogen.
Hier, glaube ich, kann unsere Aufgabe in erster Linie die Frage
einer gesellschaftlichen Bewußtseinsveränderung sein... auf
breiter Basis.
T. S.: Meinen Sie nicht, daß hier auch die Kirchen als Großge
bilde oder Ihr Orden... sagen wir einmal - daß das Gewicht

7 7
des Ordens oder das Gewicht der Kirche hier in die Waagschale
geworfen werden müßte?
P. W.: Das glaube ich! Wenn man in der heutigen Theologie
immer wieder davon spricht, daß die Kirche ein gesellschaftskri
tisches Element sein muß, so glaube ich, daß dieses gesellschafts
kritische Element sich nicht nur in Resolutionen oder auf Tagun
gen niederschlagen darf, nein... sondern es müßte wahrschein
lich in dem Einsatz für diese konkrete Problematik gipfeln. Hier
muß ich an unseren Kirchen durchaus eine gewisse Kritik üben:
über die Gefängnispfarrer, über die berufsmäßig in Bewährungs
hilfe, Caritas und so weiter Tätigen hinaus haben diese Mitarbei
ter doch weitgehend „Feigenblattfunktion", das heißt, sie wer
den vorgezeigt als repräsentative Leistung der Kirche auf diesem
Sektor. Aber ich halte dieses Engagement für entschieden zu
wenig. Ich bin mir der Problematik der praktischen Durchfüh
rung voll bewußt - es gibt eine ganze Bandbreite kirchlicher
Aufgaben, für die allein es schon nicht genügend Mitarbeiter
gibt - aber das kann uns trotzdem nicht hindern, auf die Not
wendigkeit dieses „Lobbys für die Armen" hinzuweisen... und
das stelle ich als Forderung auf!
T. S.: Pater Wiesnet, zum Schluß möchte ich noch auf etwas
hinweisen - an Ihrer Jacke tragen Sie ein Abzeichen... es sieht
aus wie ein Fallschirm...
P. S.: Ja, das ist richtig... ich sage immer: das ist meine Hun
demarke, die auf mein geheimes Laster hinweist. Ich bin Fall
schirmspringer, sowohl vom Sportlichen wie vom Militärischen
her - ich bin Oberleutnant bei den deutschen Fallschirmjägern
- dieses Laster, wie ich immer sage, ist zum Teil persönliche
Entspannung, persönlicher Ausgleich zur Arbeit, aber auf der
anderen Seite auch... ich möchte sagen - fast so etwas wie ein
symbolischer Sport: als ich beim Militär meinen ersten Sprung
machte, sprang mit mir ein amerikanischer Sergeant ab, der nach
dem Sprung zu mir sagte: jumping is life... springen - so ist
das Leben. Was er gemeint hat, ist wohl fast das, was in diesem
Gespräch angeklungen ist: er meinte - wir brauchen in unserem
Leben soviel Einsatz, Mut, Initiative, Phantasie... soviel wie
der Fallschirmspringer braucht, wenn er aus der Maschine weg
geht ... Und ich bin also wirklich auch dieser Meinung - sprin
gen... so ist das Leben!
T. S.: Gut... dann wünsche ich Ihnen, daß Sie auch auf den
richtigen Landeplätzen ankommen!

7 8
Wie man in einer ,Kleinfamilie'
zusammenleben kann

Nur „Kirche - Küche - Kinder"?

In unserer Fremdwörter liebenden Welt Ist viel von Emanzipa


tion der Frau die Rede. Emanzipation heißt „Befreiung". Die
Frau soll befreit werden - befreit von den Einengungen und
Begrenzungen, die mit Ihrer Geschlechtsrolle - Ihrer Rolle als
Frau - verbunden sind. Sie soll sich In genau derselben Welse
persönlich, Individuell entfalten können wie der Mann. Dazu
gehört beispielsweise das Recht auf Ausbildung und Berufs
tätigkeit. So weit, so gut! Was aber, wenn die Frau heiratet,
Kinder bekommt? Dadurch darf Ihr Anspruch auf eine Berufs
tätigkeit nicht geschmälert werden - lautet das Programm
der Emanzipation, der Frauen-Befreiung. Und so sucht man
nach allerlei Wegen, wie die Frau Ehe und Mutterschaft mit
Ihrer weiteren Berufstätigkeit verbinden könnte. Wenn die
Frau ebenso wie Ihr Mann berufstätig bleibt, muß der gemein
same Haushalt eben die selbstverständliche Pflicht beider
sein, so daß, wenn beide von der Arbelt nach Hause kommen,
sie sich die Haushaltspflichten teilen müssen. Noch einmal
sage Ich: so weit, so gut. Und wenn Kinder da sind? Auch
hier sei der Mann genauso zuständig für die Betreuung wie
die Frau: In gemeinsamem Einsatz, mit Hilfe von Kindergarten,
Kinderhort, einer zum Kinderhüten bereiten Oma und so wel
ter, lasse sich auch dieses Problem bewältigen. Wenn nicht,
sei das ganze System der Klelnfamllle falsch, und man müßte
andere Systeme, etwa Kommunen oder Wohngemeinschaf
ten, ausprobieren.
Wa s a b e r, w e n n n u n e i n e F r a u e r k l ä r t e : f ü r m i c h I s t d e r
schönste Beruf, Hausfrau und Mutter zu sein, das füllt mich
völlig aus! Dann versucht man, Ihr welszumachen, sie habe
ein total falsches Bewußtsein, sie sei bereit, Sklavin Ihres
Mannes und Ihrer Kinder zu sein, und merke nicht einmal,
daß sie versklavt sei. Das aber 1st, Ich sag's mit einem zweiten

79
heute gängigen Fremdwort - „Manipulation". Man versucht
mit aller Macht den Frauen einzureden, daß die Aufgaben als
Hausfrau und Mutter den Einsatz an Kraft, Zeit, Geduld, Initia
tive, Phantasie nicht wert seien, den die Frauen dafür zu lei
sten weithin noch immer gewillt wären. In unserer scheinbar
so frauenfreundlichen Zeit, in der alle Welt von Befreiung, von
Emanzipation der Frau spricht, macht man ihr die Arbeit ma
dig, zu der viele Frauen am meisten Lust haben. Ausgerechnet
der Beruf, der für die meisten Frauen der menschlich vielsei
tigste wäre, wird als Beruf verächtlich gemacht. Das trifft auch
jene Frauen, die heute alt sind und auf ihr Leben zurück
schauen. Soll das nun eigentlich gar nichts sein, was sie in
ihrem Leben geleistet haben? Haben sie dadurch, daß sie ihr
Leben lang „nur" Ehefrau, Hausfrau, Mutter waren, ihre
Selbstentfaltung verfehlt, verspielt? Ich meine, es würde
höchste Zeit, daß nicht mehr andere über die Hausfrau spre
chen, über Wert oder Unwert ihrer Berufsrolle, sondern daß
die Hausfrauen selbst zu Wort kommen. Hier ein Gespräch,
das ich mit einer Hausfrau über ihre familiären und häuslichen
Aufgaben geführt habe:

T. S.: Meine Gesprächspartnerin ist Frau K. aus Berlin: Sie


sind jetzt 47 Jahre alt, verheiratet seit 20 Jahren. Sie haben vier
Kinder im Alter von 19, zweimal 17 - das sind Zwillinge - und
einen zwölfjährigen Jungen. Wenn Sie auf dem Amt oder ir
gendwo nach Ihrem Beruf gefragt werden - was geben Sie dann
an?
Frau K.: Dann gebe ich Hausfrau an; und zwar immer mit
einer leisen Ironie, weil ich genau weiß, wie das im allgemeinen
beurteilt wird: das ist eben nur eine Hausfrau. Sie hat wahr
scheinlich nichts gelernt und beschäftigt sich lediglich mit Ko
chen und Putzen. In Wirklichkeit weiß ich aber, daß der Beruf
der Hausfrau ein durchaus lebenserfüllender ist mit einer gro
ßen Vielfalt von Pflichten, unter denen die mechanischen den
geringsten Raum einnehmen. Außerdem habe ich ja sehr
viel gelernt und dennoch diesen Beruf der Hausfrau ganz be
wußt gewählt.
T. S.: Was haben Sie gelernt... Sie haben studiert?
Frau K.: Ja, ich habe Germanistik, Geschichte und Latein stu
diert und an der Universität Berlin das Staatsexamen gemacht
für Germanistik und Geschichte.

80
T. S.: Und nach dem Staatsexamen, hatten Sie den Plan, in
die Schule zu gehen?
Frau K.: Nein, diesen Plan hatte ich eigentlich nicht. Ich hatte
immer mehr an einen Beruf zum Beispiel im Verlagswesen ge
dacht oder auch daran, nach einer Promotion in den wissen
schaftlichen Bibliotheksdienst zu gehen; aber da ich mich gleich
zu Beginn meines Studiums verlobt hatte, habe ich zunächst
einmal mein Staatsexamen gemacht, um erst einen Abschluß
zu haben, und bin dann auch bis zu unserer Heirat für ein
Referendar jähr in die Schule gegangen. Habe aber dann, als wir
heirateten, sofort aufgehört zu arbeiten.
T. S.: Bedeutete das damals für Sie einen Bruch? Sie waren
ja anders angetreten, als Sie anfingen zu studieren, und nun kam
die Heirat und Sie mußten umdenken, oder...?
Frau K.: Ja... das ist richtig. Ich habe natürlich zunächst,
in der Schulzeit und während der Studienzeit, nicht unbedingt
daran gedacht zu heiraten, auch weil ich ja zu der Kriegsgenera
tion gehörte, für die eine Heirat durch den Ausfall der entspre
chenden männlichen Jahrgänge durchaus nicht so sicher war;
habe diesen Schritt aber dann sehr bewußt getan, in völliger
Übereinstimmung auch mit meinem Partner in dem Wunsch,
eine Familie zu haben und unser Leben von vornherein ganz
konkret und konsequent in dieser Richtung zu gestalten, weshalb
wir mit der Heirat auch warteten bis nach dem Staatsexamen
meines Mannes... er ist Jurist.
T. S.: Viele sagen heute, die Frau müsse berufstätig sein, um
einen gewissen Lebensstandard zu haben oder halten zu können
- war das ein Problem für Sie?
Frau K.: Es ist richtig, daß unsere Gesellschaft sich in zuneh
menden Maße auf Doppelverdiener einstellt, und auch für mei
nen Mann in guter beruflicher Position ist es manchmal schwer,
allen Wünschen, die oft auch von außen her an die Kinder heran
getragen werden... etwa Schulreisen, Musikinstrumente, Bücher
- all das, was zur Entwicklung der Kinder gehört, gerecht zu
werden. Man muß da eine Rangordnung finden; für uns ist
Lebensstandard nicht eine Frage des Sozialprestiges, sondern die
Freiheit, ein Leben nach unserem Geschmack führen zu können.
Wir wollen am kulturellen Leben teilnehmen, wollen Gespräche
mit Freunden haben, Ferien in der Natur verbringen - und für
all das braucht man eigentlich mehr Muße als Geld. Der finan
zielle Gesichtspunkt war für uns niemals ausschlaggebend, weil

81
eben einfach die Aufrechterhaltung der Ordnung in der Familie,
das Dasein für die Kinder und füreinander immer das Vorrangige
w a r .

T. S.: ... Und als Sie nun Ihre Ehe anfingen - nun... Sie
mußten umdenken, es kam eine neue Aufgabe auf Sie zu... war
Ihnen das von vornherein klar, diese Aufgabe nicht mit einer
Berufsausübung verbinden zu können?
Frau K.: Ja, das war mir vom ersten Tage an klar. Völlig klar!
Für mich war es ganz selbstverständlich, daß eine Familie haben
bedeutet, sein Leben nun auch dafür einzusetzen.
T. S.: Nun würde eine Frau, die berufstätig ist, wohl auch
sagen, daß sie ihr Leben für ihre Familie einsetzt... ich meine,
es wäre natürlich nicht gut, negativ über die zu sprechen, die
den Weg anders gehen.
Frau K.: Ja... nein, das liegt mir ja auch ganz fern. Es ist
selbstverständlich, daß das jeder für sich entscheiden muß. Es
wird auch in jeder Umgebung wieder anders sein...
T. S.: ... es kann Leute geben, die tatsächlich auch mehrere
Dinge nebeneinander tun können.
Frau K* ... Ja, nur - der Beruf der Mutter und Hausfrau ist
so beschaffen, daß er ausschließlich mit... lebendigen Wesen
zu tun hat, und alles Lebendige läßt sich nun einmal nicht in
Stundenpläne pressen. Das ist unmöglich! Ich kann es mir stun
denmäßig noch so gut ausrechnen... dann und dann gehe ich
meinem Beruf nach, habe dann am Abend noch so und soviel
Zeit, wo ich mich mit meinen Kindern aussprechen kann, sie
mit ihren Anliegen zu mir kommen können... sie werden früh
von 7-V2 8 richtig versorgt - das alles kann ich mir ausrechnen.
Aber das Leben unter lebendigen Menschen spielt sich eben ganz
anders ab! Abends sind die Kinder vielleicht gar nicht da! Da
wollen sie sich auch gar nicht aussprechen. Sie wollen sich dann
aussprechen, wenn sie mittags um 12 aus der Schule kommen,
und das Recht haben sie auch... es fällt ihnen nachher gar nicht
mehr ein, was sie mir eigentlich erzählen wollten, weil ja dann
schon wieder tausenderlei dazwischenliegt...
T. 5.; Ja... fragen Ihre Kinder Sie nun tatsächlich - Sie haben
ja schon heranwachsende Kinder, zweimal 17 und einmal 19
Jahre alt-, ist das Verhältnis zur Mutter so, daß sie fragen...
oder daß Sie in einem Gespräch mit ihnen stehen?
Frau K.: Teils ja, teils nein. Das kann man nicht völlig klar
beantworten. Die Situation bei uns ist dadurch etwas eekenn-

8 2
zeichnet, daß wir zwei als Zwillinge haben - und die haben un
tereinander einen so engen Kontakt und so reiche Aussprache
möglichkeiten, daß ich manchmal das Gefühl habe, sie fragen
mich eigentlich zu wenig, sie erzählen mir eigentlich zu wenig...
T. S.: Sie sagen das etwas bedauernd. Hängt das mit einer
bestimmten Vorstellung von... Mutter zusammen, daß man
meint: die Mutter muß gebraucht, will gebraucht werden... und
heute, bei einer oft sehr selbständig heranwachsenden Jugend
werden die Mütter oft gar nicht gebraucht...
Fr a u K .: D a s h a l te i c h fü r fa l sch . D i e Mu tte r w i rd i mme r
gebraucht, gerade von der selbständigen Jugend. Gerade heute,
wo so viele Ordnungsfaktoren, die früher selbstverständlich wa
ren, fallen, wo die Kinder dieser schrankenlosen Vielfalt ausge
liefert sind, in der sie sich täglich neu bewähren, in der sie aber
auch immer wieder versagen, ist die Mutter besonders wichtig,
die zuhören kann, trösten, schweigen, die für die Kinder das
Zuhause ist, ohne das jeder Mensch, eigentlich auch jeder Er
wachsene, innerlich verelendet. Natürlich muß ich mit Fragen
und Ratschlägen im Augenblick sehr zurückhaltend sein, aber
manchmal werden sie auch wieder von mir erwartet. Gerade
dieses Sich-Einstellen auf die jeweilige Lage kostet mich sehr
viel Kraft, und gerade dafür brauche ich meinen freien Kopf.
T. S.: Wenn die Tochter einen extrem anderen Weg geht, als
die Mutter es für richtig hält - verletzt das Ihre Gefühle?
Frau K.: Ich habe das noch nicht erlebt und halte durchaus
für möglich, daß ich darüber sehr traurig sein würde. Aber ich
sage mir natürlich ganz rational, daß ja schließlich mein ganzes
Arbeiten dahin geht, diese Kinder selbständig zu machen. Sie
sollen ja selbst leben, sie müssen ihre Entscheidungen selbst tref
fen, und ich kann nicht jeden Schritt bewachen, das ist unmög
lich ... das wäre geradezu schrecklich. Und... so schön es ist,
Kinder zu haben, so ist es doch natürlich auch eine Last, die
einen ständig begleitet und jede eigene Handlung einschränkt,
und insofern ist auch eine gewisse Freude damit verbunden,
wenn ein Kind wieder eine neue Stufe erreicht hat und sich nun
ganz folgerichtig Schritt für Schritt von uns löst. Ein bißchen
schmerzlich ist das schon für uns, und manchmal hat man auch
Angst vor vermeintlich falschen Entscheidungen, aber eigentlich
fange ich gerade jetzt an zu genießen, daß die Kinder manches
anders machen als wir, daß sie ihre Eigenarten haben und entwik-
keln, was bringt das für einen Reichtum in unser Haus!

8 ^
T. S.: Wie beurteilen Ihre Kinder, daß die Mutter mit dieser
Ausbildung und vor allem mit diesen starken geistigen Interessen
nicht berufstätig geworden ist? Haben Sie mit den Kindern mal
darüber gesprochen?
Frau K.: Ich glaube, die Kinder sind glücklich und dankbar,
daß sie, wenn sie nach Hause kommen, immer einen Menschen
finden, der Zeit hat für sie, wenn sie wollen, der aber auch be
schäftigt ist und nicht traurig, wenn sie eben gleich die Treppe
nach oben gehen und nicht erst erzählen oder einen Rat oder
ein Gespräch suchen.
T. 5..* Daß Sie das mit dieser Gelassenheit sagen und auch tun
können - beruht das nicht darauf, daß Sie auch ein starkes indivi
duelles Eigenleben führen? Wozu Ihnen-darauf möchte ich hin
aus - Ihre Berufsausbildung doch eben auch verholfen hat?
Frau K.: Ja, das ist ganz sicher richtig. Und deshalb halte
ich es auch für ungeheuer wichtig, daß ich das gehabt habe. Ich
würde niemals unseren Töchtern von einem Studium abraten
mit dem Argument, sie würden wahrscheinlich doch heiraten
und ihren Beruf vielleicht nie ausüben können. Aber sie müssen
natürlich wissen, daß sie sich eines Tages entscheiden müssen,
ob sie eine Familie gründen wollen oder ob sie sich mit wirklicher
Leidenschaft einem Beruf verschreiben wollen - wenn das der
Fall ist, wäre es vielleicht der fairere Weg, dann auf Kinder zu
verzichten. Es ist natürlich auch möglich, daß sich die Verhält
nisse soweit wandeln, daß die Ehepartner sich wirklich die
Hausarbeit teilen. Das würde aber berufliche Halbtagsarbeit für
beide bedeuten, also auch Verzicht auf Spitzenpositionen - vor
läufig ist das wohl undurchführbar.
T. S.: Können Sie sich eine Ehe ohne Kinder vorstellen?
Frau K; Ja... ich könnte es. Ich könnte mir eine Ehe ohne
Kinder vorstellen... wo dann starke geistige Interessen sind oder
diese Zweisamkeit so reich und erfüllt ist - das könnte ich mir
ohne weiteres vorstellen. Wenn wir keine ^ Kinder bekommen
hätten... nun, ich glaube, mein Mann wäre sehr unglücklich
gewesen. Ihm hätte das sehr gefehlt, obwohl er heute unter dieser
Familie mit all ihren Anforderungen, sowohl finanzieller als auch
geistiger Art, sicher mehr leidet als ich. Für ihn sind diese Jahre,
die ja jetzt ohnehin etwas schwierig sind, wohl schwerer als für
mich, die ich mich durch tägliche Tätigkeit hier doch immer
wieder auch bestätigen k^n, mehr greifbare Erfolge sehe, wäh
rend er mehr die tägliche Reibung empfindet.

84
T. S.: Wenn Sie in der Küche am Kochtopf stehen - Sie haben
ja keine Hilfe für das Haus, Sie machen alles selbst, nicht wahr? -,
macht Ihnen das Freude, Hausarbeit zu machen? Für die Familie
zu kochen?
Frau K.: Es macht mir insofern Freude, als ich mich immer
sehr auf unsere gemeinsamen Mahlzeiten freue, auf die wir alle
sehr großen Wert legen als eine Zeit, in der dann wirklich alle
mal beisammen sind und man in der entspannten Atmosphäre
des... Sattwerdens, dies Zur-Ruhe-Kommens am offensten und
ungezwungensten miteinander spricht. Und es ist mir auch ge
lungen zu erreichen, daß das auch den Kindern sehr viel Freude
macht - sie erwarten das und sind enttäuscht, wenn es ausnahms
weise einmal anders ist. Diese Atmosphäre des Um-den-Tisch-
Sitzens bedeutet ihnen viel, und ich merke auch immer an den
Gefährten unserer Kinder, wie gern sie an unseren gemeinsamen
Mahlzeiten teilnehmen. Ich habe auf diese Weise - eben weil
ich immer da bin und Zeit habe - sehr oft acht und zehn und
zwölf Personen am Tisch, die diese Atmosphäre sehr genießen.
T. S.: Sie haben am Anfang gesagt: „Wenn man dem Leben
dienen will" - oder so ähnlich drückten Sie es aus... „das kann
man nicht mit einem Stundenplan in der Hand." So sehen Sie
wohl auch das Essen mit ganz anderen Augen - es ist nicht nur
eine Nahrungsaufnahme, sondern es ist weit mehr als das?
Frau K.: Ja, das ist wohl das Entscheidende: Es hat für mich
keinen Selbstzweck. Es ist gar nicht so wichtig, ob es nun immer
so gut schmeckt oder auch mal nicht... die gemeinsame Mahlzeit
hat einfach eine andere Funktion... eben zumal sie keinen
Selbstzweck hat und weil das Kochen ja nur ein kleiner Teil
meines Lebens als Hausfrau ist und bei weitem nicht der schwie
rigste oder anstrengendste. Gespräche mit meinem Mann und
den Kindern - natürlich immer zu den unmöglichsten Momen
ten -, Schularbeiten, Lektüre, Sport mit den Kindern, viel Haus
musik, Theater, Konzerte, oft Gäste, Feste - mit allem, was diese
Dinge an Planung und Vorbereitung voraussetzen, da muß ich
schon sehen, daß die Hausarbeit im engeren Sinne so schnell
und reibungslos wie möglich erledigt wird, was nicht sagt, daß
ich sie nicht trotzdem auch genieße; weil sie ja doch, soweit
sie mechanisch ist, Raum läßt zum Überlegen, zum Planen für
Künftiges, zum Lösen von Problemen... insofern ist sie mir
auch gar nicht verhaßt. Und auch den Wechsel zwischen geistiger
und körperlicher Arbeit empfinde ich als ausgesprochen wohltu-

85
end, und von daher tue ich sie auch gern; zum Beispiel Gartenar
beit ... man sieht, was man macht, in aller Ruhe, ohne Hetze...
ich genieße das durchaus. Oder auch im Haus... wenn man
vielleicht durch äußere Verpflichtungen oder auch mal aufre
gende, problembeladene Tage in der Familie, so etwas aus dem
Geleise gekommen war, und man bringt danach auch äußerlich
alles wieder in Ordnung und zur Klarheit - das kann eine große
Entspannung und Befreiung sein, ein Neubeginn. Insofern
würde ich sagen: ja, ich tue Hausarbeit gern, ich genieße das
alles durchaus.
T. 5.; Es ist merkwürdig zu hören, daß jemand sagt: „Ich
genieße Hausarbeit." Es ist interessant... ein Aspekt! - Gibt
es in Ihrer Familie Konflikte... ? Und... wie tragen Sie sie aus,
wenn es welche gibt?
Frau K.: Tja... Konflikte... I Natürlich gibt es... Differenzen,
würde ich mal sagen... - Es gibt einen Konflikt in unserer Fami
lie, der jahrelang wirklich ein Problem war und es auch heute
noch bis zu einem gewissen Grade ist. Das ist die Tatsache, daß
unser jüngster Sohn fünf Jahre jünger ist als die Zwillinge und
sieben Jahre jünger als der Älteste und daß er zwar von aufge
klärten Kindern, von uns gemeinsam selbstverständlich mit gro
ßer Liebe erwartet wurde und als Baby auch mit großer Begeiste
rung aufgenommen, dann aber doch von seinen Geschwistern
in zunehmendem Maße eigentlich als lästig empfunden wurde.
Die drei Großen bilden bei aller Unterschiedlichkeit ihrer We
sensart eine sehr harmonische Gruppe und waren sich wirklich
von jeher in jedem Sinne selbst genug. Sie ergänzten sich so
ideal, daß im Grunde das, was auch immer dazukam, ein Stören
fried sein mußte. Ich muß sagen - es ist mir nicht gelungen,
das während der Kinderzeit so zu harmonisieren und zu über
brücken, wie ich es mir gewünscht hätte. Es kommt hinzu, daß
der Kleine charaktermäßig ein kleines bißchen aus der Reihe
tanzt: er ist ein äußerst vitales Kind und hat, vielleicht zum Teil
durch Veranlagung, zum Teil vielleicht aber auch durch seine
Stellung in der Geschwisterreihe, ein sehr starkes Selbstbewußt
sein, ein sehr starkes... einen „Egoismus", wie es die Großen
nennen, entwickelt, um sich überhaupt erst einmal als gleichbe
rechtigtes Glied in die Gruppe einzuarbeiten. Das ist im Grunde
ein ganz natürlicher Prozeß, was aber selbstverständlich das
Auftreten gewisser Schwierigkeiten nicht verhindert. Sie haben
mir zum Beispiel immer vorgeworfen, ich kümmerte mich um

SA
den Kleinen viel zu viel, ich machte tausend Dinge mit ihm,
die ich mit ihnen nie gemacht hätte, aber sie sind eben vielleicht
noch nicht alt genug, um zu sehen, daß sie selbst das ja gar
nicht so nötig hatten, weil sie eben immer zu dritt waren, das
Problem der Einsamkeit also überhaupt niemals kennengelernt
haben, während der Kleine nicht nur einsam ist, sondern zusätz
lich auch noch eine wunderbar harmonische Gruppe, die sich
herrlich zu dritt beschäftigt, unerreichbar in greifbarer Nähe hat.
Dieses haben sie ja niemals erlebt. Ich werde nie vergessen, wie
unser kleiner Ulrich mal morgens bei mir am Haustor stand,
als ich unsern drei Großen nachsah, als sie sich auf die Räder
schwangen und zur Schule fuhren, und wie sich da noch drei
Nachbarskinder anschlossen, mit denen unsere Kinder sehr be
freundet sind - und diese sechs radelten los, und unser kleiner
fünfjähriger Ulrich sagt: „die Glücklichen!" Mir hätten wirklich
die Tränen kommen können. Da lag das alles drin beschlossen
- sein ganzer Kummer, seine ganze Schwierigkeit...! Und weil
diese große Gruppe immer so magisch lockte, hat er eben auch
vergleichsweise spät dann die Kameradschaft und Freundschaft
mit Gleichaltrigen gesucht - die Großen waren natürlich immer
interessanter als der kleine Spielfreund. Er ist nun auch ein sehr
waches Kind, das sich leidenschaftlich für alles interessierte und
die tollsten Fragen stellte, so daß er für mich von früh an ein
sehr anregender Gesprächspartner war, was die Großen in dem
Sinne nicht waren - sie sind geistig eigentlich... nun, sagen wir,
sehr ruhig vorangeschritten ...
7. S.: ... aber doch würden Sie sagen: in den Bahnen der
Eltern oder... haben sich hier neue Gleise aufgetan? Ich denke
so - wenn ich diese Großstadt hier erlebe... es ist ja eine un
glaubliche Stadt, mit allem, was hier zusammenkommt, den vie
len seelisch kranken Menschen... verrückt... die Stadt ist ver
rückt! Wenn man hier nun Kinder sieht mit 17, 19 Jahren, die
hier aufwachsen und natürlich all diesen Einflüssen ausgesetzt
sind, kann man denken, hier wächst ein ganz anderes Lebensge
fühl auf -, würden Sie das von Ihren Kindern sagen... oder ist
dieses Heim, das Sie geschaffen haben, stark genug, sie nicht
nun etwa zu isolieren, aber sie doch zu... schützen?
Frau K.: Ja, sie werden wohl bis jetzt von den Gewohnheiten
ihres Elternhauses noch sehr stark getragen, es ist für sie ein
Schutz, eine Hilfe, auch wenn sie oft gegen das Elternhaus oppo
nieren. Unser Ältester, der an wirtschaftlichen und politischen

87
Fragen sehr interessiert ist, wird zwar von den Klassenkamera
den, die zum Teil ganz extrem linke Positionen einnehmen, na
türlich immer wieder auch düpiert und bringt Parolen mit nach
Hause, denen wir widersprechen müssen. Das hat ihn aber her
ausgefordert, auf allen diesen Gebieten nun selbst zu arbeiten,
um in den Klassendiskussionen den anderen gewachsen zu sein.
Aber nicht nur das ist der Grund seines Engagements, sondern
einfach sein ganz natürliches Interesse für all diese Fächer...
politische-Weltkunde, Geschichte, Erdkunde und jetzt auch in
zunehmendem Maße Deutsch - das sind alles Fächer, die ihm
ungemein liegen, insofern also tatsächlich auch „in den Spuren
der Eltern", denn das ist ja auch meine Studienrichtung gewesen,
wenn auch vielleicht nicht so stark politisch aktualisiert, das na
türlich nicht.
7. S.; Würden Sie selbst sich als politischen Menschen be
zeichnen? ...Oder sagen wir - wir haben nun hier die Atmo
sphäre Ihres Hauses geschildert... wie weit gehen Ihre Aktivitä
ten nun auch nach draußen?
Frau K; Ja... von Hause aus möchte ich vielleicht sagen, daß
ich nicht politisch, kein politischer Mensch gewesen bin. Ich
war vor allem historisch interessiert, und je älter ich wurde, desto
interessanter wurde es mir. Das hat sich ganz offensichtlich sehr
stark auch von meinem Vater auf mich übertragen, dem als Bau
ernsohn im humanistischen Gymnasium eine ganz neue Welt
sich eröffnete, der er von da an verhaftet blieb. Das alles hat
wohl sehr stark auf mich gewirkt, und das war die Ausgangswelt,
aus der ich kam. Mein Mann dagegen ist politisch immer sehr
viel interessierter gewesen, und zwar von Hause aus, da schon
mein Schwiegervater ein ausgesprochen politischer Mensch ge
wesen ist. Mein Mann als Jurist war natürlich auch mit dem
praktischen Leben immer mehr konfrontiert, im Beruf und auch
im Studium schon - da kam in unser Haus ein neuer Ton, schon
in mein Elternhaus und später auch in meine Ehe - diese Interes
sen hatten doch ein sehr starkes Gewicht, und diese ... Misch
atmosphäre, möchte ich einmal sagen, die ist nun für unsere Kin
der, speziell für unseren großen Sohn, sehr anregend. Unser
Großer findet in meinem Mann einen durchaus ihm gewachsenen
Gesprächspartner, während ich vielleicht mehr die historischen
Detailkenntnisse beisteuern kann. Mein Mann arbeitet auch in
der praktischen Parteipolitik, ich beschränke mich lieber auf eine
Arbeit in der Öffentlichkeit, die mir menschlich faßbar bleibt,

88
also im Eltemausschuß der Schule, im caritativen Bereich der
Gemeinde, in der Nachbarschaftshilfe. Wenn ich auch die großen
Linien des politischen Geschehens mit Spannung verfolge, so
muß ich sagen, daß ich ein wirklich brennendes Interesse an
Partei- und Tagespolitik auch heute noch... eigentlich nicht
habe.
T. S.: Aber Sie haben ein starkes religiöses Interesse?
Frau K.: Ja, das ist richtig. Das war die zweite Komponente
meiner Kindheit.
7. 5.; Inwieweit hat diese Komponente Ihr Leben bestimmt?
Oder Ihre ganzen Anschauungen in dieser Richtung?
Frau K.- Ja... das hat mein Leben sehr bestimmt... insofern,
als ich mich in einer Ordnyng aufgehoben wußte, der ich nicht
entrinnen kann und nicht entrinnen will, weil ich glaube, daß
sie gut ist; und die mich natürlich und eben auch „übernatürlich"
in einen Lebensbezug stellt, dem ich mich nicht entziehen kann.
Für mein Gefühl hätte ich nicht sagen können: ich heirate jetzt,
ich möchte nur ein Kind und... ich hab' ja studiert und das
macht mir viel Spaß und... ich will mich ja hier nicht ganz um
bringen und... es gibt ja sowieso schon viel zu viele Kinder
auf der Welt... und nun werde ich mir ein Leben zurechtzim
mern, wie es mir gefällt! Das wäre mir, auch von meinem religiö
sen Denken her, ganz unmöglich gewesen. Sondern da hatte ich
eigentlich doch das Gefühl - das muß ich nun irgendwie erwar
ten; was Gott mit mir vorhat und was ich tun soll - das werde
ich dann schon sehen... ich kann das nicht vorher berechnen.
T. S.: Sie kennen die Vorwürfe gegen die „Mutter- oder Haus
frauen-Ideologie" mit den drei „K" - Kirche, Küche, Kinder-,
was sagen Sie dazu!
Frau K.: Ich finde diese Formulierung unglaublich primitiv,
sie hält nicht der einfachsten Überlegung stand. Gerade heute,
wo man vom Zeitalter des Kindes spricht und die entscheidende
Bedeutung gerade der Kinderjahre erkannt hat, wo die gesunde
Ernährung der Menschheit im Mittelpunkt des Denkens zahllo
s e r M e n s c h e n u n d I n s t i t u t i o n e n s t e h t u n d w o d e r We r t d e r
geistigen, ja geistlichen Sammlung, der Meditation, der Muße
und auch das Dasein für den Nächsten an allen Straßenecken
aus allen weltanschaulichen Richtungen gepredigt wird - gerade
da will man mit so einem Schlagwort die Menschen dumm ma
chen, die nach diesem Gesetz leben, die Mütter. Ich sehe mich
als Teil eines großen Lebensgefüges, dem sich die Menschheit

89
als Ganzes Ja auch nicht entziehen kann. Ich bin ein Glied dieser
Menschheit und habe meinen Teil der Menschheitsgeschichte
mit zu tragen. Und als Frau und verheiratete Frau bin ich dann
eben auch Mutter, das ist klar, das gehört einfach zusammen.
Deshalb brauche ich nicht zu sagen: ich habe gar keine Macht
darüber, und wenn ich 12 Kinder zur Welt bringe, dann hat
das Gott so gewollt - das ist nicht meine Meinung. Denn ein
Kind aufziehen bedeutet ja nicht nur, es zur Welt zu bringen
- da gehört so viel dazu, da muß ich meine eigenen Kräfte ken
nen, um jedem gerecht zu werden... zumindest die Nervenkraft
und die Gesundheit der Mutter, soweit man das in der eigenen
Hand hat... zumindest die muß ich für jedes Kind voll einsetzen
können... und da sind dann die Grenzen gesetzt. Und da habe
ich auch nicht das Gefühl, irgendwelchen Geboten, die von
außen an mich herangetragen werden, nun folgen zu müssen
und auch gar kein schlechtes Gewissen, nun z.B. die Mittel zu
gebrauchen, die die Wissenschaft erarbeitet, um die Kinderzahl
zu beschränken - das ist allein meine Entscheidung, die ich allein
vor mir verantworten muß.
T. S.: Sie würden da auch einen Konflikt mit der offiziellen
institutionalisierten Kirche auf sich nehmen...?
Frau iC.; Ja! das würde ich! Allerdings ist es mir immer sehr
schmerzlich, wenn man diese institutionalisierte Kirche in einem
Gegensatz zu der „wirklichen" Kirche, der Gemeinde Christi,
sieht. Ich möchte die Institution der Kirche gar nicht in Frage
stellen, unter Menschen aus Fleisch und Blut muß es das geben,
aber dieses „Gerüst", wenn ich es einmal so nennen darf, aus
Behörden, Vorschriften und solchen Dingen ist doch nur dann
wirklich Kirche, wenn es von Menschen getragen wird, die in
einem lebendigen Zusammenhang mit Gott und untereinander
stehen. Leben gibt es aber nur in der Freiheit des Gewissens,
und diese Gewissensfreiheit hat die Kirche ja auch immer als
letzte Instanz anerkennen wollen. Ich werde immer für mich
die Freiheit beanspruchen, kirchliche Vorschriften beiseite zu
lassen, wenn sie mich hindern, den Menschen gerecht zu werden,
die von meinen Entscheidungen abhängig sind - so gut ich es
eben erkennen kann.
T. S.: Aber Sie nehmen doch da einen Standpunkt, einen selb
ständigen Standpunkt ein, der Ihnen auch die Möglichkeit gibt,
ein System zu kritisieren, indem Sie sagen: das ist gut, das ist
nicht gut - das kann ich integrieren, das nicht...

9 0
Frau K;... Ja, jedenfalls bei Punkten, die reine Ordnungsfak
toren sind... die heute so aussehen können und morgen anders.
Da gibt es eine große Zahl in der Kirche... Das ist für mich
kein Glaubensbekenntnis, wenn die Kirche, sicher wohlerwogen
und zu bestimmten Zeiten berechtigt, nun gewisse Richtlinien
und Leitlinien gibt - das ist für mich nicht verbindliches Glau
bensgut oder dergleichen... das ist ja kein Selbstzweck, so ein
kirchliches Gesetz!
T, S.: Wie empfinden Sie denn diesen großen Umbruchspro
zeß? Sie kommen ja doch aus der Jugendbewegung, sehr religiös
kirchlich geprägt durch die Gemeinde um Dr. Pinsk, was ja eine
stark liturgische Seite hatte - wie werden Sie jetzt mit diesen
ganzen Reformen, diesen ganzen Umbrüchen in der Kirche fer-
tig?
Frau K.: wenn ich doch wenigstens eine echte Reform
sähe! Dann könnte man diese Frage vielleicht richtig beantwor
ten. Das ist ja eigentlich der große Kummer für mich, daß im
Grunde diese wirkliche Reform eigentlich gar nicht da ist.
7. S.: Was würden Sie als „wirkliche Reform" bezeichnen?
Frau K.: Nun... ich würde so sagen: die Reform, z.B. die
liturgische Bewegung, richtete sich doch im Grunde gegen
Schlendrian, Gedankenlosigkeit, mechanisches Absolvieren und
wollte die lebendige Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst
bewirken und damit den Reichtum dieser alten römischen Litur
gie fruchtbar machen ... zum wirklichen Zentrum des religiösen
Lebens eines jeden Christen. Aber das ist durch all diese Refor
men nicht im entferntesten erreicht worden! Es ist nur eine große
Verarmung eingetreten an Formen, an Texten... Nun gut, es
sind jetzt andere Texte, und ich finde es durchaus ganz positiv,
mal diese anderen Texte zu hören... aber im Grunde werden
die neuen Möglichkeiten nicht genutzt, sie werden eben nicht
in der Predigt wirklich aufgegriffen... Diese neuen Aspekte, die
sich ergeben könnten, „das breitere Band" kommt nicht zum
Tragen, weil eben das Grundübel, der Schlendrian, völlig unver
ändert weitergeht.
7. S.: ...auf einer anderen Ebene...
Frau K.: Ja, eigentlich auf einer primitiveren Ebene - es ist
alles viel einfacher und kürzer geworden bei gleichem Schlen
drian, und nun bleibt eigentlich schon gar nichts mehr. Das ist
mein Kummer! Ich hänge nicht an alten Formen, gar nicht...
das heißt nein, das ist eigentlich etwas unehrlich... ich hänge

91
auch an alten Formen, aber wenn sie durch gute neue ersetzt
werden, habe ich nichts dagegen einzuwenden. Nur das Grund
übel ist genau das gleiche geblieben!
T. S.: Ich empfinde, daß die Liturgie zu stark intellektualisiert
worden ist - es ist eine Dimension verlorengegangen, die die
alte Liturgie - in etwa - noch hatte. Heute spielt sich die ganze
Liturgie im Oberstübchen ab, hinter jedem Wort steht ange
strengtes Bewußtsein... der Mensch lebt aber anders als nur
aus dem Verstand und dem Intellekt. Und wehe, wenn dann
jemand das „falsche Bewußtsein" hat, d. h. andere Intentionen
vertritt als die Gottesdienstveranstalter!
Frau K.: Man kann das an der Osternacht zum Beispiel ver
deutlichen: Was war das früher für ein Reichtum, der eben auch
der Meditation viele Möglichkeiten ließ! Das ist nun alles kom
primiert auf den Zemr Age danken. Und damit ist das alles so
plakativ geworden. Man könnte das praktisch in irgendeiner
Formel zusammenfassen, an die Wand schreiben, und dann war's
gut, und dann hätte man's!... mehr hat man dann eigentlich
auch gar nicht.
T. S.: Können Sie über solche Probleme mit Ihren Kindern
sprechen? Wie reagieren sie überhaupt auf all diese Fragen?
Fran K.: Nein! Mit unseren Kindern kann ich darüber über
haupt nicht sprechen; sie haben für liturgische Dinge nicht das
geringste Interesse und zu der Liturgie, wie sie jetzt praktiziert
wird und wie sie sie nun vorgefunden haben, überhaupt keinen
Zugang.
T. S.: Gehen sie denn in die Kirche?
Frau K.: Nein! Hm... ja und nein kann man sagen. Sie sind
bis vor einigen Jahren ganz regelmäßig in die Kirche gegangen,
haben dann angefangen, sich furchtbar zu langweilen in dem
Moment, als sie nun anfingen zu denken und für ihr Denken
eben dort keine Nahrung fanden... überhaupt kein Angebot
praktisch. Unsere Töchter waren als kleine Kinder religiös ei
gentlich unansprechbar, während unsere beiden Söhne als Kin
der ausgesprochen religiös gewesen sind und durchaus das Ge
fühl hatten, irgendwie im Angesichte Gottes zu leben... das
war für sie eine absolute Realität, und für unseren Kleinen ist
das auch heute noch so. Aber das nun mit einem wie auch im
mer gearteten regelmäßigen sonntäglichen Kirchgang zu ver
binden - dieses Bedürfnis haben unsere Söhne schon lange nicht
m e h r.

92
T. S.: 1st das für Sie persönlich eine Realität - „im Angesichte
Gottes leben"?
Frau K.: Ja, das ist für mich eine Realität! Und zwar in eigent
lich immer stärkerem Maße, seit diese Freude an... vielleicht
äußeren Formen - ich selbst würde sie nicht als äußerlich
ansehen, aber sie werden ja oft so angesehen - seit ich diese
Befriedigung und Freude an einem gut gefeierten Gottes
dienst nun wirklich nie mehr habe. Seitdem ist in immer stär
kerem Maße dieses Bewutßsein in mir gewachsen, daß es
im Grunde eben doch vielleicht wirklich nicht so wichtig
ist, was diesen anfänglichen „Verlust" doch zunehmend auf-
wiegt.
Ich wollte noch sagen: die Mädchen, die bisher eigentlich ganz
unreligiös gelebt haben, sind komischerweise nun plötzlich
durch eine Freundin, die evangelisch ist, sehr stark von der Be
wegung der Jesus People angezogen und überzeugt worden - in-
teressanterweise auf einer musikalischen Woche, die eine unserer
Töchter mitmachte - wo sie nun Nächte hindurch über Gott
und die Bibel diskutierten und sprachen. Für mich war das zu
nächst eine völlig abseitige Vorstellung, und ich habe mich an
fangs auch dagegen gewehrt, aber sie ließ sich nicht abhalten
und verfolgte, wie alles, was sie tut, auch dieses innere Interesse
mit großer Konsequenz. Sie hat dann nach der ersten wirklichen
Begegnung mit den Jesus People ihre Zwillingsschwester sofort
nachgezogen, und seitdem sind die beiden von einer tiefen
Frömmigkeit erfüllte Mädchen, die in einer für mich ein bißchen
primitiv anmutenden Weise nun sich also doch in der Hand
Gottes empfinden und ihre Aufgabe auch als Christen sehr, sehr
ernst nehmen.
T. S,: Sind Sie selbst einmal mit dort gewesen?
Frau K.: Ja, ich bin mitgegangen zu einem Sonntagsgottes
dienst und... für mich war das in dieser Form eigentlich unmög
lich - nun ja, es war so, wie ich mir so eine mittelamerikanische
Sekte in einer kleinen Stadt vorstelle... es war das intellektuelle
Niveau einfach derart, daß ich mich da... nicht wohl fühlte,
will ich einmal sagen. Es war ein Prediger da, der durchaus das
Ohr seiner Zuhörer hatte und auch in einer natürlichen und
impulsiven Weise und mit einem rückhaltlosen Glauben an Gott
und seine Güte und Vorsehung predigte und die Menschen auch
in seinen Bann schlug - das war gar keine Frage; ... aber für
mich ist diese Art von Predigt nicht so geeignet.
T. S.: Aber Sie tolerieren das Engagement Ihrer Töchter, Sie
freuen sich sogar darüber...
Frau K.: Ja, ich freue mich Jetzt eigentlich tatsächlich, nach
dem ich lange mit mir ein bißchen habe kämpfen müssen und
gewünscht habe, sie hätten irgendeinen anderen Weg gefunden.
Inzwischen bin ich jetzt im Grunde doch ganz froh, daß sie
auf diese Weise ganz aus sich heraus, nicht von mir gegängelt,
eigentlich gegen meinen Widerstand, nun den Entschluß gefaßt
haben, sich in dieser Gemeinde wirklich zu betätigen... das ge
hört eben mit zu diesem Loslösungsprozeß. Sie werden ihren
eigenen Weg gehen, und ich kann nicht Jeden Schritt nach mei
nem Geschmack lenken. Das ist sicher der Fehler mancher Müt
ter.

T. S.: Sie merken also Jetzt - die Kinder werden selbständiger,


die Kinder werden erwachsener; ... haben Sie persönlich, für
sich selbst Angst vor dem Altwerden... kommt das Problem
des Alterns auf Sie zu? Denken Sie bewußt daran?
Frau K.: Ja, natürlich fängt man in unserem Alter an, daran
zu denken, zumal mein Mann im Staatsdienst ist und seine Pen
sionierung Ja einmal akut wird, was oft einen sehr tiefen Ein
schnitt im Leben eines Mannes bedeutet... Ja, natürlich machen
wir uns darüber Gedanken und... Ja, was heißt Angst - wer
möchte schon gern alt werden oder alt sein, das ist natürlich
kein so unbedingt erstrebenswerter Zustand, wenn man z.B.
an körperliche Einschränkungen denkt. Im übrigen ist es eigent
lich im Moment doch noch so, daß wir uns auch darauf freuen,
dann wieder freier zu sein und unseren Interessen etwas rück
haltloser leben zu können. Mein Mann ist Jäger und freut sich
natürlich auf die Zeit, wenn er nicht mehr an die Schulferien
gebunden sein wird. Wir fahren immer noch alle gemeinsam
in den Urlaub, was Ja in unserer Zeit eigentlich beinahe ein klei
nes Unikum ist, aber wir haben das mit einem kleinen... Kunst
griff, will ich mal sagen, erreicht, indem wir uns vor 2 Jahren
entschlossen haben zu zelten. Bis dahin waren wir immer in
ganz hoch gelegenen einsamen Berghütten und haben auch im
mer für Spielgefährten für unsere Kinder gesorgt - sie waren
dort nie allein und immer sehr glücklich, aber es kam dann einmal
der Zeitpunkt, da sie uns nach einer an sich sehr wohlgelungenen
Reise erklärten: nein, also immer in diese einsamen Hütten, trotz
der nettesten Freunde... sie möchten mal unter Menschen und
ans Meer... das war so ihre Vorstellung. Da „Meer" finanziell

94
praktisch nicht möglich ist für eine so große Familie, haben wir
uns entschlossen zu zelten, haben uns ein entsprechendes Auto
gekauft und voriges Jahr eine Probereise nach Dänemark und
in diesem Jahr dann eine sehr große Reise sechs Wochen durch
Frankreich gemacht. Es war für die Kinder ein großer Anreiz,
so viel Neues kennenzulernen, und wir haben uns im großen
und ganzen auch sehr gut vertragen. Wozu sicherlich auch beige
tragen hat, daß die Kinder auf dieser Reise auch helfende Funk
tionen übernehmen mußten... Der Große fährt jetzt Auto und
löste meinen Mann, da ich nicht fahre, auf diesen großen Strecken
ab, das heißt, er wußte, daß er tatsächlich gebraucht wurde und
diese Reise ohne ihn gar nicht möglich gewesen wäre. Genauso
haben wir es dann mit unseren Besichtigungen gemacht. Wir
haben uns auf der langen Fahrt natürlich eine Menge angesehen
und vorher festgelegt: „Das und das wollen wir uns ansehen...
also muß immer einer referieren." Der Große, der das gerade
erstmalig auf einer ungemein gelungenen Schulreise nach Grie
chenland erlebt hatte, zog sich sofort mit sicherem Griff das
dankbarste Thema, nämlich Chartres, an Land, die Mädchen
Tours und Angouleme, ich selbst habe Poitiers übernommen
- eine ganz hochinteressante, wunderbare Stadt - und mein
Mann hat sich mit Paris beschäftigt.
T. S.: Man hat sich also etwas einfallen lassen!
Zum Schluß eine Frage an die Historikerin: Sie wissen einiges
aus der Geschichte, und Sie erleben wach unsere Zeit - Wie
denken Sie über die Zukunft? Ich sprach im Laufe unseres Ge
sprächs von der verrückten Stadt, in der Sie leben... man
kann sich ja fragen, wenn man heute an die Umweltprobleme
und all diese Dinge denkt und gerade auch, wenn man Kinder
in die Zukunft hinein erziehen und entlasten will...: Wie soll
es weitergehen? Sind Sie pessimistisch, optimistisch... oder läßt
sich das gar nicht einfangen? Was haben Sie da für ein Weltge
fühl?
Frau K.: Ja, unsere Kinder tun mir manchmal ein bißchen
leid, wenn ich an die Welt denke, in der sie wahrscheinlich einmal
leben müssen. Besonders im Hinblick auf Enge, auf Wohnver
hältnisse, aufxSchematisierung, auf Naturfeme, auf Lärm, auf...
Einschränkung eigentlich des freien menschlichen Lebens und
Atmens - das, muß ich sagen, bedrückt mich manchmal doch
sehr... da tun sie mir wirklich leid. Wenn ich mir vorstelle,
cip viVllpirlnt- immpr in cn f>inpr Wabp plnps Hnrhhansps
leben, immer diesen Lärm um sich... man lacht manchmal über
solche Zukunftsbilder, wo sie alle mit Gasmasken rumlaufen
-und dennoch sind unsere Umweltprobleme bereits jetzt durch
aus alarmierend.
T. 5./ Ja... und das sind Ja auch Dinge, die Sie mit der Erzie
hung gar nicht mehr steuern können. Sie können höchstens ver
suchen, den Kindern einen großen substantiellen, geistigen und
seelischen Fundus mitzugeben, daß sie menschliche Menschen
w e r d e n u n d b l e i b e n . . . i n e i n e r u n m e n s c h l i c h e n We l t .
Frau K; Ja... darin sehe ich überhaupt auch den Wert ihrer
Bildung und Ausbildung und auch der meinen, daß man irgend
wie Distanz findet, daß man sich einen Freiheitsraum schafft,
der einen eben doch letzten Endes weitgehend unabhängig macht
von dem, was einem im Leben begegnet; denn das kann ich
ja überhaupt nicht steuern. Aber dieses Eine-Welt-in-sich-Tra-
gen, die einem genug Distanz schafft... und dieses Glaubensge
fühl im Grunde... daß einem im Grunde ja nichts passieren
kann - das ist eigentlich das Fundament, auf das ich mich immer
wieder zu stellen versuche. Und ich wünschte es so sehr, das
den Kindern irgendwie übermitteln zu können - durch Vorbild
ja nur, durch Reden kann man das nicht - was das für einen
Menschen an Freiheitsraum bedeutet, wenn er so etwas hat.
T. S.: Vielleicht könnte man sagen: selbst über der Gasmaske
noch das Antlitz Gottes...

96
Die mit einer Wunde leben

Über ledige Mütter, ihre Kinder und die Umwelt

„Die mit einer Wunde leben?" Gemeint sind nichtverheiratete


Mütter mit ihren Kindern. Der Titel mag irreführend klingen.
Es ist nicht meine Absicht, sentimentale Anwandlungen von
Mitleid bei solchen Lesern zu erregen, die in sogenannten
intakten Familienverhältnissen leben und denen nicht selten
erst gewisse Katastrophen bei ihren heranwachsenden Kin
dern die Augen dafür öffnen, daß ihre Familie gar nicht so
„heil" ist, wie sie immer angenommen hatten. Noch aus einem
anderen Grund ist der Titel fragwürdig. „Die mit einer Wunde
leben?" Gewiß leben jene Frauen, die man früher „uneheliche
Mütter" nannte, mit ihren Kindern in unvollständiger Familie.
Aber das ist ihr Schicksal, das sie mit Hunderttausenden an
derer Mütter teilen - die, verwitwet oder geschieden, sich
ebenfalls mit ihren Kindern allein durchs Leben schlagen
müssen. Mit allen Problemen, die das mit sich bringt: Fehlen
eines Partners, Last des Alleinerziehens, mangelnde Integra
tion in die Gesellschaft, Doppelbelastung durch Mutter- und
Erwerbsberuf! In der Bundesrepublik Deutschland leben zur
Zeit rund 360000 alleinstehende Mütter mit Kindern unter
fünfzehn Jahren, davon 140000 verwitwete, 130000 geschie
dene und 86000 „ledige" Mütter. Weniger also als ein Drittel
aller alleinstehenden Mütter sind - in alter Terminologie! -
„ u n e h e l i c h e " M ü t t e r.
Dennoch wurde der Titel ,,Die mit einer Wunde leben" ge-
wählt-und trotzdes Einspruchs einiger Gesprächs-Partnerin
nen beibehalten. Erscheintaus einem doppelten Grund ange
bracht zu sein. Erstens bleibt einfach sehr oft durch nicht
gelungene oder zerbrochene Partnerbeziehung eine (nur sel
ten ganz vernarbende) Wunde zurück] zweitens ist das Stigma
der „Unehelichkeit" auch heute noch immer fühlbar, mit all
seinen gesellschaftlichen Konsequenzen, das durch bessere

97
Gesetze allein nicht geheilt oder in Zukunft vermieden werden
kann: da tut öffentliches Umdenken not!
Was das Manko der Partnerbeziehung betrifft, so fühlen
sich geschiedene Mütter wohl meistens tiefer verwundet. Zwar
gibt es auch unter den nichtverheirateten Eltern vordem end
gültigen Zerwürfnis manchmal einen „Kampf bis aufs Mes
ser", wie er zumeist normalen Scheidungen vorauszugehen
pflegt. Doch wäre bei einer realistischeren Einstellung ein
solcher Kampf oft zu vermeiden gewesen. Jedenfalls schrieb
mir eine nichtverheiratete Mutter in einer Art Bilanz zum er
sten Geburtstag ihres Sohnes (als Beitrag für dieses Buch
und als Ratschlag für andere Mütter in ähnlicher Situation)
ü b e r i h r Ve r h ä l t n i s z u m Va t e r i h r e s K i n d e s :
„Wir haben uns sehr auf das Kind gefreut. Aber wir finden
weder zusammen noch kommen wir auseinander. Dafür gibt
es viele Gründe, die ich aber nicht im einzelnen nennen
möchte. Um jetzt eine Bindung aufrechtzuerhalten, dazu
braucht man so unendlich viel Kraft, die man in dieser Lage
einfach nicht hat. Es führt leider zu sehr harten Auseinander
setzungen, die man jedem, der sich in ähnlicher Lage befindet,
gern ersparen möchte. Es beginnt bei den ersten Gesprächen,
wenn die Tatsache der Schwangerschaft feststeht. Ich meine,
man sollte sich zuerst ehrlich und ohne Rücksicht fragen, wie
man zueinander steht. Findet man keine Lösung, um ganz
zueinander zu kommen, dann ist es besser, man trennt sich
auf unbestimmte Zeit, und jeder geht seinen Weg allein. Ich
habe immer mit mir die Hoffnung getragen, daß sich die Lage
vielleicht ändert, wenn das Kind da ist. Anfangs schien es
so zu sein, aber dann begann sich die Situation zu verhärten.
Dabei wurde der Graben zwischen uns immer breiter und tie
fer, daß man nicht mehr in der Lage war, die Sorge und Freude
um das Kind mitzuteilen. Jedem möchte ich den Rat geben,
wenn er sich in einer ähnlichen Lage befindet, nicht solch
einen bitteren und harten Kampf zu führen, sondern den an
fangs schwereren und diplomatischeren Weg zu wählen: eine
Trennung, bis Gras über die Sache gewachsen ist! Das
schließt ja nicht die Möglichkeit aus, daß man sich später auf
einer gleichen Ebene wieder finden kann und der eigentliche
Ansatzzu einer neuen und fruchtbaren Freundschaft gegeben
ist, die erst dann nützlich für alle drei Teile werden kann."
Die Verwundung durch eine mißglückte Partnerbeziehung

98
ist eine Sache, die die nichtverheiratete Mutter allein angeht
und die nurvon ihr bewältigt werden kann. Das ,.Stigma" der
Unehelichkeit dagegen ist ein Problem der Umwelt, der
Gesellschaft in Staat und Kirche, und es ist ihre Sache, ob
sie die Gründe für die Diskriminierung zu durchschauen lernt
und mit der Unlogik entschieden aufzuräumen beginnt, nach
der zwar in Punkte Sex heute nahezu alles erlaubt ist (so die
Einstellung der ,,Welt") oder doch verständlich, zumindest
„verzeihbar", durch sakramentale Vergebung aus der Welt
schaffbar(so die Kirche)-ausgenommen derbleibende Makel
der nichtehelichen Mutterschaft und nichtehelicher Geburt.

Einige nichtverheiratete Mütter waren bereit zu einem


Gespräch über die spezifischen Probleme ihrer Situation und
ihres Lebens: Frau Gm., 32 Jahre alt, Arbeiterin und Mutter
zweier Kinder von verschiedenen Vätern, die dreißigjährige
Krankengymnastin B. P., Mutter eines siebenjährigen Sohnes,
Frau Gr., 38 Jahre alt, Röntgenassistentin mit einem vierzehn
jährigen Jungen, als Akademikerin Frau Dr. G., 45 Jahre, mit
einer Tochter und einem Sohn aus einer langjährigen Partner
schaft, und schließlich Frau D., 30 Jahre alt, Lehrerin, mit
einem fünfjährigen Mischlingskind.
Ich habe die Auszüge aus meinen Tonbandgesprächen
nach drei Gesichtspunkten geordnet. Die thematische Auftei
lung in drei Blöcke deutet allerdings nur den jeweiligen
Schwerpunkt der Gesprächsausschnitte an: es gibt die ver
schiedenartigsten thematischen Querverbindungen. Alle Aus
züge streng themabegrenzt zu halten hätte bedeutet, die ein
zelnen Beiträge völlig zu ,,zerschnippeln" - was dem Zuhörer
und Leser die Chance nehmen würde, einen Persönlichkeits
eindruck von der jeweils interviewten Mutter zu gewinnen.
Diese Einschränkung vorausgesetzt, wird also in einem er
s t e n Te i l v o n d e r R e a k t i o n d e r U m w e l t a u f d a s F a k t u m d e r
nichtehelichen Mutterschaft die Rede sein.
I m m i t t l e r e n Te i l w i r d e s u m d i e f e h l e n d e o d e r z e r s t ö r t e

Partnerbeziehung zum Vater des Kindes gehen, um Probleme


des in der Familiengemeinschaft,,ausfallenden" Vaters bzw.
der auf dem Wege der Verwaltung verordneten Ersatzfigur.
Thema des letzten Teiles wird die Einstellung der nichtver
heirateten Mutter zum erwarteten Kind und die spätere Bezie
hung zwischen Mutter und Kind sein.
Zunächst also die Reaktion der Umwelt, vor allem der enoe-

9 9
ren Familie-wobei die Bandbreite des Möglichen in Umrissen
deutlich werden dürfte. Am Anfang mag der in dieser Bezie
hung glücklichste „Fall" der 38jährigen Röntgenassistentin
stehen. Frau Gr., deren Sohn heute 14 Jahre alt ist, stammt
übrigens (das sollte man wissen) aus einer Familie mit sieben
Kindern: der Vater fiel im Krieg, und die Mutter kam unter den
Bomben desselben Krieges ums Leben.

T. S.: Der Titel dieses Beitrags heißt: „Die mit einer Wunde
leben". Es wird in diesem Titel ja bereits etwas über ledige Müt
ter ausgesagt, und zwar in einer etwas verallgemeinernden Form
- es wird gesagt... sie haben eine Wunde, aber sie müssen halt
damit leben. Was fällt Ihnen, Frau Gr., ein, wenn Sie diesen
Titel hören und ihn auf sich selbst beziehen?
Frau Gr.:... Ich würde diesen Titel nicht auf mich selbst be
ziehen ... ich habe ein unsicheres Gefühl dabei. Diese „Wunde"
kann leicht als ein Zeichen aufgefaßt werden, als ein Mal, und
ich empfinde mich da nicht „gezeichnet", als nicht... betroffen!
T. S.: Nun... es ist ja im allgemeinen so: Sie sind Mutter,
wie eine andere Mutter auch - aber es kommt da ja noch etwas
hinzu -, es wird gesagt, eine ledige Mutter (man würde nicht
gleichlautend sagen eine verheiratete Mutter), das heißt - die
Mutter wird hier doch mit einem Mal versehen, mit einem Zei
chen. In letzter Zeit hat ja die ledige Mutter besonders stark
das Interesse weitester Kreise auf sich gezogen im Zusammen
hang mit Abtreibungsfragen, mit dem § 218 vor allen Dingen
im kirchlichen Raum -, Sie sagen nun, Sie möchten nicht so
abgestempelt werden, aber ... - sind Sie es nicht faktisch doch?
Frau Gr.:.. .Vielleicht!... dann ist es aber so, daß ich es nicht
ganz wahrhaben will, denn ich fühle mich völlig mit dem Kind
in der Gemeinschaft, in der ich lebe, integriert. Ich habe nicht
das Gefühl der Ausnahmestellung, der Sonderstellung!
T. S.: Sie sprechen von einer Gemeinschaft, in der Sie leben...
was meinen Sie damit?
Frau Gr.: Das ist die Gemeinschaft der weiteren Familie, der
Arbeitskreis, mit dem ich täglich zusammenkomme, als Rönt
genassistentin in einem Krankenhaus...
T. S.: War das nun in der Familie immer so... ? Haben Sie
sich „im Schoß der Familie", wie man so schön sagt, geborgen
fühlen können?
Frau Gr.:... ja - ich habe überhaupt erst während der Schwan-

100
gerschaft gemerkt, was es heißt, Geschwister zu haben, die ab
solut zu einem stehen. Wir sind nicht als Geschwisterkreis zu
sammen groß geworden, sondern getrennt, aufgrund von Un
fällen und Kriegsnachwirkungen... und ich habe dann in meiner
schwierigen Lage, als ich das Kind erwartete, eine Geschwister
liebe erfahren, die... ich glaube... sehr selten ist. Es war so
völlig natürlich, wie sie reagiert haben...
T. S.: ...von Ihnen her gesehen?
Frau Gr.: Nein - auch von meinen Geschwistern her gesehen;
obgleich sicher gewisse gefühlsmäßige Hemmungen da waren,
die man mir gegenüber aber nicht ausgesprochen hat...; sondern
man hat mich wie mit einem Schutzwall umgeben, gegen An
griffe, die von außen kommen könnten.
T. S.: Sind Angriffe von außen erfolgt?
Frau Gr.: Ja, durchaus!
T. S.: Die Geschwister sind mit Ihnen etwa gleichaltrig, nicht
wahr? Sie haben einen heute vierzehnjährigen Sohn, sind selbst
Mitte 30 und die Geschwister also mehr oder weniger in Ihrem
Alter... also eine Generation... War auch jemand der älteren
Generation beteiligt... und wie kam er mit der Sache zurecht?
Frau Gr.: Ja - es war die ältere Schwester meiner Mutter betei
ligt, die es ungemein schwer hatte, damit zurechtzukommen.
Ich nehme an, daß es bei dieser Tante ganz sicher auch ein Erzie
hungsproblem war, über das sie nicht hinweg kam, auch religiö
ser Art - ich glaube es ganz bestimmt!
T. S.: Sie waren bei dieser Tante nach dem Tod der Eltern
aufgewachsen... Hat sie wohl das Gefühl gehabt, in Ihrer Erzie
hung versagt zu haben?
Frau Gr.: Ja, ich glaube... Sie war immerhin 40 Jahre lang
Studienrätin gewesen, in der Großstadt zwar, die ja aber im per
sönlichen Umkreis allmählich doch zur Kleinstadt wird, und
ich glaube, daß das sehr ausschlaggebend war.
Sie war aber andererseits auch völlig unfähig, ihre Probleme
und Fragen, die sich im Zusammenhang mit meiner Schwanger
schaft ergaben, mit irgend einem ihrer Freunde zu besprechen,
o b w o h l e s z u m Te i l w i r k l i c h L e b e n s f r e u n d s c h a f t e n w a r e n . . .
das konnte sie nicht. Es waren ungeheure Barrieren da!
T. S.: ... Sie haben mir einen Brief von ihr gezeigt... Sie hat
gleichzeitig doch wohl auch sehr gekämpft... ?
Frau Gr.:... unendlich! Sie hat mir durchaus liebevolle Briefe
geschrieben, worin doch auch immer wieder sehr stark ihr Lei-

101
den zum Ausdruck kam, was mich natürlich sehr bedrückte...
Sie sprach zum Beispiel grundsätzlich nur von dem „armen klei
nen Kind", das da geboren werden sollte... „das arme Kleine",
und machte sich ernsthaft Sorgen darüber, in welchem Verhältnis
nun dieses Kind zu mir stehen solle. So hatte sie einmal den
Gedanken geäußert, daß es doch gut wäre, wenn eines meiner
älteren verheirateten Geschwister dieses Kind, das ich erwartete,
zu sich nehmen und es zu mir später Tante sagen würde - es
war eine völlig verrückte Situation, die meine Geschwister ihr
zwar klarmachten, über die sie aber dennoch einfach nicht hin
wegkam ...
T. S.: Sie sind berufstätig und waren es von Anfang an. Wo
haben Sie das Kind zur Welt gebracht?
Frau Gr.: Ich habe das Kind in einem privaten Entbindungs
heim im Sauerland zur Welt gebracht, das, soviel ich weiß, der
oberen Aufsichtspflicht des Fürsorgeamtes in Dortmund unter
stand.
T. S.: Und wie wurden Sie da behandelt, wie ging das dort?
Frau Gr.: ...ja... nun dürfen Sie nicht vergessen, daß das
gut 14 Jahre zurückliegt - eine ziemlich lange Zeit also. Nun...
es wurde uns sehr klargemacht, daß wir a) „gefallene" Mädchen
waren und b), wenn wir aufmucksten und uns gegen irgend wel
che verrückten Bestimmungen, zum Beispiel Ordnungsbestim
mungen, wehrten, dann wurde uns gesagt; „wir haben Sie ja
nicht hergebeten, Sie können ja wieder gehen!" Nur - wo sollten
wir denn hingehen! Also blieben wir, ohne weiterhin noch allzu
viel zu sagen. Die Kinder allerdings wurden ausgezeichnet und
gut betreut.
T. S.: Sie haben dann weiter Ihren Beruf ausgeübt und hatten
das Kind immer bei sich...; konnten Sie es in einen Kindergarten
geben, in eine Krippe oder...
Frau Gr.: Nein! Ich habe das Glück gehabt, eine Familie zu
finden, bestehend aus Vater, Mutter und einem erwachsenen
Sohn. Sie wohnten zufällig in unserem Haus und haben meinen
Jungen betreut... tagsüber - ideal! Absolut ideal!
T. 5.; Ja... denn damit kämpfen ja viele Mütter, die berufstätig
sein müsseny um überhaupt leben zu können.
Frau Gr.: Heute gibt es sehr gut geleitete Krippen und Horte
- ansonsten muß man nach wie vor suchen und natürlich auch
etwas Geld investieren, denn das ist nicht ganz billig... wenn
man das Kind privat unterbringt. Ich habe schon damals im Mo-

m ?
nat immerhin 130 Mark gezahlt. Die Betreuung war allerdings
auch sehr gut und außerordentlich liebevoll. Es war eine sehr
einfache Familie, die den Jungen aber sehr liebte, und er liebte...
sehr zurück! Zuerst kam bei ihm immer diese Familie, und zwar
alle drei Mitglieder, und dann kam lange nichts, bevor ich dann
erst kam. Wenn ich ihn im Urlaub für drei oder vier Tage selbst
bei mir hatte, dann fand er das sehr bald äußerst ungemütlich
und sprach das auch aus und sagte: „Wann gehst Du denn endlich
wieder arbeiten?" Sein Rhythmus war unterbrochen...
T. S.: Haben Sie, seit sie - ledige Mutter sind, Kontakt zu
anderen ledigen Müttern gehabt? Und - ist das gut oder - we
sentlich hilfreich, wenn man das hat? Bei Ihnen steht ja als
Schwergewicht die eigene Familie dahinter...; es gibt aber doch
viele Dinge, zum Beispiel juristischer Art oder im Umgang mit
Ämtern, wo ledige Mütter sehr allein stehen und wohl einen
Erfahrungsaustausch einfach brauchen - würden Sie das befür
worten, daß es da so etwas gibt...?
Frau Gr.: Ja, sehr... sehr! Ich würde auch befürworten, daß
da große Anstrengungen und Aufklärungsarbeiten geleistet
würden - gerade im Hinblick auf Jugendämter! Denn... Sie be
kommen nur Beratung, wenn Sie fragen, aber die Mütter haben
natürlich nicht immer die aktuellen Fragen so zur Hand, und
so bleiben sie vielfach uninformiert.
T. S.: Man hat in einer Umfrage unter alleinstehenden Müttern
vom Allensbacher Institut die Frage gestellt, ob sie - alleinste
hende Frauen überhaupt - den Eindruck hätten... ich weiß nicht
genau, wie es da formuliert war... sagen wir vielleicht einmal
etwas drastisch:... den Eindruck hätten, Freiwild für Männer
zu sein. Haben Sie da irgend welche Erfahrungen... ? Wie rea
gieren Männer darauf, wenn Sie erfahren, daß sie eine alleinste
hen d e Fra u u n d - Mu tte r si nd?
Frau Gr.:... Ja - ich habe ganz am Anfang, als das Kind noch
sehr klein war, eine einzige Begegnung gehabt... da kam ich
mir tatsächlich als Freiwild vor! Nur bin ich da sehr energisch
eingeschritten!... und ich habe die Erfahrung mit anderen ge
macht, zum Beispiel bei Kolleginnen am Arbeitsplatz - daß es
doch entscheidend auch auf die Frau ankommt, ob sie sich als
- Freiwild behandeln läßt oder nicht.

Und nun zu der dreißigjährigen Krankengymnastin, deren


Sohn Christian jetzt sieben Jahre alt ist.

103
Frau B. P.: Für meinen Vater - auch für meine Mutter - ist
eine Welt zusammengebrochen, als sie von meiner Schwanger
schaft erfuhren. Vor allem mein Vater hat es nie verwinden kön
nen. Er war Zahnarzt - in einem kleinen Ort... also so eine...
höhere Familie, eine bessergestellte Familie... und nun passierte
das bei seiner einzigen Tochter! Ich habe zwar noch einen älteren
Bruder - ich bin so ein bißchen ein Nachzögling, von meinem
Vater sehr geliebt, und da hieß es: „So etwas gibt es bei meiner
Tochter nicht!" Und nun mußte ich ihm sozusagen... beichten,
daß ich ein Kind erwarte, habe ja damals allerdings immer noch
gehofft, daß wir heiraten würden; und auch meinen Eltern lag
natürlich sehr an dieser Heirat, ganz gleichgültig, ob diese Ver
bindung glücklich werden, ob wir zusammen passen würden
oder nicht - es gab für sie nur den einen Gedanken... heiraten!
Ganz egal auch, daß der Mann nun geschieden war.
T. S.: Der Vater fühlte also plötzlich: das Monument, das
er auf einen Sockel gestellt hatte - seine einzige Tochter... die
war nun plötzlich weg von dem Sockel! Und das verkraftete
er nicht...
Frau B.P.:... nein, das hat er bis zu seinem Tod nicht verkraf
t e t .

T. S.: Als das Kind da war... hat er Sie dann akzeptiert?


Frau B. P.: Er hat mich bis zu einem gewissen Grade wohl
akzeptiert, und ich durfte auch wieder gern nach Hause kommen,
aber... er hatte mich... weggeworfen! Und hat nun seine ganze
Liebe wieder auf das Kind konzentriert, genauso wie er es mit
mir gemacht hat. Er hätte auch mit Christian wieder den gleichen
Fehler gemacht... hätte auch ihn wieder in Watte gebettet und
ihm alles ferngehalten - genau wie mit mir.
T. S.: Wie reagierte Ihre Mutter?
Frau B. P..- Ja... meine Mutter war anfänglich auch sehr un
glücklich über diese Situation, hat aber schnell den Boden unter
den Füßen wiedergewonnen und gesagt: „Sie ist unsere Tochter,
wir müssen ihr helfen!" Ich bin ja nun nicht nach Hause gegan
gen in all dieser Zeit, sondern lebte in Untermiete bei einem
jungen Ehepaar, das zur gleichen Zeit auch das erste Baby erwar
tete... Wir haben gemeinsam Vorbereitungen getroffen, ge
handarbeitet, gelesen... sie haben versucht, mich abzulenken
und mir diese Zeit sehr erleichtert. Ich bin ja nicht mehr in die
Krankengymnastikschule zurückgegangen... ich saß den ganzen
Tag in meinem Zimmer und habe nur noch gewartet auf die
1 0 4
Stunden, die ich mit dem Vater verbringen konnte. Als...
„wohlbehütete" Tochter, die ich gewesen bin, war ich trotz mei
ner 23 Jahre noch sehr unreif und in dieser ganzen Situation
sehr, sehr hilflos; auch bei meinen Freunden und Bekannten
habe ich diesen sehr hilflosen Eindruck gemacht und wurde all
gemein bedauert, ohne jemals einen Vorwurf zu hören. Verur
teilt wurde Christians Vater, der ja 20 Jahre älter ist als ich;
man war der Meinung: er hätte gescheiter sein müssen, er hätte
erst einmal klare Linien schaffen müssen, um etwas Neues anzu
fangen.

Die Frage, worin die oftmals schockierende Reaktion auf


die Tatsache ,,nichtverheiratete Mutter", „lediges Kind"
eigentlich gründet, ist rein rational schwer aufhellbar. Die of
fenkundigen Nachteile: schwierige Situation der allein erzie
henden und notgedrungen fast immer berufstätigen Mutter,
Ausfall des männlichen, väterlichen Elements im familiären
Leben, trifft nicht nur auch auf die anderen Teilfamilien (nach
dem Tod des Vaters oder der Scheidung der Eltern) zu, son
dern oft genug auch auf zahllose ,,vollständige" Familien.
Dazu ein Ausschnitt aus einem Gespräch mit Frau Dr. S., deren
Kinder inzwischen 12 und 9 Jahre alt sind:

T. 5.; Man ist geneigt, die Probleme, die die „nichteheliche"


Mutter mit Kind stellt, isoliert zu sehen, während sie doch richtig
nur in dem großen Zusammenhang der „unvollständigen" Fami
lie, der alleinstehenden und allein erziehenden Mutter zu sehen
sind... Glauben Sie, daß hier viele Probleme für die verwitwete,
für die geschiedene, die nichtverheiratete Mutter gleich sind?
Vrau Dr. 5.; Ja... doch, das muß ich immer wieder feststellen:
das Problem der unvollständigen Familie, daß also nur ein El
ternteil ständig da ist, ist in jedem gegebenen Fall immer dasselbe,
aus welchem Grund auch immer der eine Elternteil fehlt.
Dann... für den Erwachsenen der fehlende Partner... das ist
auch ein Problem, ganz gleich, aus welchem Grunde es auftritt
- es zeigt sich in seiner praktischen Auswirkung immer gleich.
Oder die Berufstätigkeit der Mutter - es ist fast dasselbe, wenn
sie in einer Vollfamilie ausgeübt wird... das heißt, man ist hier
in einen Problemkreis eingebettet, der noch viele andere betrifft
und nicht nur die nichtverheiratete Mutter. Es trifft einen eine...
nun, so eine Mischung aus Ächtung und vorsichtiger Distanz,

m s
die, so glaube ich, weder rein religiös, noch rein bürgerlich oder
moralisch oder auch nur spießbürgerlich begründet ist, sondern
ich habe das Gefühl, daß das so ist, weil ein tief eingefleischtes
Tabu verletzt wird...! Es ist doch einfach so: Vater - Mutter
- Kind, oder Kinder... das ist eine uralte Ordnung! Wenn jetzt
schicksalhaft, also selbst durch Scheidung, diese Ordnung ver
letzt worden ist, gut - dann kann man das instinktiv besser aner
kennen, als jemanden, der sie sozusagen von Anfang an mißach
tet hat. Ich habe das Gefühl, daß Menschen, die - ob nun mit
großem Verdienst oder zufällig - in dieser Ordnung leben, da
ihre eigene Gefährdung wittern und deshalb sich wehren gegen
dieses sichtbare Zeichen der Gefährdung. Denn eigenartiger
weise kommen einem Männer, also Familienväter da noch viel
distanzierter und mit viel mehr Vorbehalten entgegen als die
Frauen. Ich habe auch erlebt, im Bekanntenkreis, daß eine sehr
liebe Nachbarin, mit der ich jetzt befreundet bin, mir sagte, sie
wäre, obwohl sie mich persönlich gern gemocht hätte-fassungs
los gewesen und hätte es entsetzlich gefunden. Heute versteht
sie mich voll und ganz - sie ist inzwischen geschieden!
T. S.: Die Vorbehalte also, gerade bei Männern - was man auch
in der Zölibatsfrage beobachten kann -, vor allem bei Männern
im mittleren Alter ... diese Angst kann vielleicht darin be
gründet sein, daß sie unbewußt... eine Bedrohung, eine Gefähr
dung für sich selbst spüren, so daß sie von da aus einen Bann
kreis ziehen.
Frau Dr. S.:... und zwar glaube ich nicht eine unmittelbare
Gefährdung, die bei dem Mann zu dem Gedanken führt: „Oh,
diese Frau war einmal ziemlich hemmungslos, die könnte auch
in meine Ehe einbrechen" - nicht so, sondern unterschwellig:
„So fest und sicher steht das ja alles gar nicht mit dieser Ordnung,
in der ich bin... ich könnte ja einmal selbst gefährdet wer
den..."; Ich glaube, daß das irgendwie in den Gedanken- und
Gefühlsbereich eintritt, was ohne diese Konfrontation mit je
mandem, der nicht in dieser Ordnung lebt, einfach gar nicht
aufgekommen wäre.
T. 5..- Wo erleben Sie in Ihrer Situation noch Schwierigkeiten?
Frau Dr. S.: Ich habe einmal ziemliche Schwierigkeiten erlebt
in beruflicher Hinsicht... Man hatte mir eine sehr anspruchs
volle Stelle angeboten, die etwas entfernt in den kirchlichen Be
reich hineinspielte, in einem Verband... und da war also großes
Entsetzen, als klar wurde, daß ich nicht verheiratet bin, wobei
es noch eher akzeptiert worden wäre, wenn ich geschieden wäre
- ja... man fragte mich sogar, ob ich nicht wenigstens standes
amtlich getraut wäre, was ja eigentlich für die Kirche dasselbe
ist wie der ungetraute Zustand, in dem ich mich befinde. Und
da wollte man also von mir ein - Bekenntnis verlangen, daß ich
das alles bereute, daß es sozusagen besser wäre, wenn die Kinder
gar nicht lebten, was mich zuerst sehr irritierte. Als man mir
dann aber näher erklärte, daß sich das lediglich um ein formales
Bekenntnis handele, um eine formale Richtigstellung meines
Verhältnisses zu der kirchlichen Ordnung, empfand ich es nicht
mehr als so erschreckend... aber damit bin ich immerhin kon
frontiert worden.
T. S . : Wa n n w a r d a s . . . ?
Frau Dr. S.: Das ist noch gar nicht lange her... das ist prak
tisch... neueste Zeit!
T. 5.;... Neueste Zeit...! ? Und wie würden Sie das erklären...
was steckt dahinter, daß die so etwas verlangten...; liegt das
auf derselben Ebene wie dieses Tabu-Problem, das wir eben in
bezug auf bestehende Ordnung, Familie... besprachen?
Frau Dr. S.: Ich glaube ja...; es wurde mir immer wieder
versichert: kein persönlicher Angriff gegen mich, Achtung vor
meiner Situation und ihrer Bewältigung, Achtung vor meiner
Person, und doch - die Notwendigkeit der Gewißheit, daß ich
nicht grundsätzlich gegen die Ehe und gegen diese Form der
Ordnung eingestellt sei.
T. S.: Ich finde nur das Ungeheuerliche an diesem verlangten
„Bekenntnis", daß hier Vergangenheit durchgestrichen werden
sollte! Man könnte ja sagen: Gut, wir möchten in dieser Position,
in der Sie stehen werden, positiv Ihre Meinung wissen, wie Sie
grundsätzlich zu Ehe, Familie, Kindern und so weiter stehen.
Aber daß da etwas durchgestrichen werden soll, daß Sie etwas
bereuen sollten, daß da etwas lieber nicht da wäre - wer kann
denn auf solche Ideen kommen!
Frau Dr. S.: ... Das entzieht sich etwas auch meiner Beurtei
lung, was da dahintersteht; da mögen auch noch persönliche,
psychologische Verwicklungen mitspielen... ich kann es nicht
ganz genau sagen, was ich da verletzt habe.
T. S.: Jedenfalls kann man daraus doch schließen: das Problem
der nichtehelichen Mutter ist noch keineswegs bewältigt. Und
nicht nur im kirchlichen, sondern auch im gesellschaftlichen Be
reich.

107
Frau Dr. S.: Nein... nein, bestimmt nicht... ganz bestimmt
nicht! In einem gewissen Sektor ist es wirkhch ein Problem,
das ganz für sich steht und das man nicht mit der verwitweten
oder der geschiedenen Frau teilt. In diesem persönlichen Bereich,
wie man eingeschätzt wird, wie einem begegnet wird, wobei
das aber eben hauptsächlich unterschwellig spielt bei den Perso
nen, die einem gegenübertreten. Nicht offene Aggression - die
ist wirklich sehr selten geworden.

Diese sogenannten bürgerlichen Vorurteile und Tabus


spielen oft im Arbeitermilieu keine geringere Rolle. Zwar findet
man hier genügend Familien, denen es überhaupt nicht darauf
anzukommen scheint, weil sich entweder die Stimme des Her
zens allen „Prinzipien" überlegen erweist oder die rein anima
lische Fürsorge für Kind und Kindeskinder etwas so Theore
tisches wie Prinzipien gar nicht kennt. Nicht selten aber wird
gerade in dieser Sicht Unehelichkeit (sowohl der Mütter wie
der Kinder) besonders gebrandmarkt, unversöhnlich, als ein
Ausdruck offenbar dafür, daß man als Familie auf die Ehre
der Familie etwas hält. Ich sprach mit Frau Gm., die außer
ihrem 10jährigen Sohn ein Baby von einigen Monaten hat:

T. S.: Wenn Sie zurückdenken - von wo haben Sie die größten


Schwierigkeiten gehabt... Wie hat zum Beispiel Ihre Familie
reagiert?
Frau Gm.: Ja... Familie kann man ja bei mir nicht sagen -
ich habe Ja keine Eltern mehr gehabt, nur noch zwei Schwestern
und einen Bruder in Kanada...; die waren wirklich sehr... arg
und schlecht zu mir, die eine hat gesagt, sie stecken mich in
ein Fleim und so, und das geht nicht... mit einem ledigen Kind
und so... und ich soll das Kind hergeben... wegschenken...
und da sag ich: das tu' ich auf keinen Fall... wenn ich es schon
auf die Welt bringen muß, dann behalt ich's auch, gell - überall
hat man mich fühlen lassen... so von oben herab, daß'd praktisch
nicht verheiratet bist und trotzdem ein Kind hast und so...
schaut her - die ist nicht verheiratet und so...
T. S.: Hm... wenn Sie an die Menschen denken, mit denen
Sie zu tun hatten - könnten Sie näher beschreiben, wo da die
größeren Schwierigkeiten waren, sagen wir einmal: waren das
religiös orientierte Menschen... oder wie waren die, bei denen
Sie dieses erlebten, so von oben herab angeblickt zu werden... ?

i n s
Frau Gm.: ...Ja... das kann ich eigentlich auch nicht genau
sagen, wie das war und... man hat das Gefühl gehabt... die
haben das ja auch nicht direkt gesagt...; das Gefühl hast' halt
g'habt, Du bist halt nicht so als wie die andern gell...
T. 5..' Sie haben sich schwer durchschlagen müssen! - Was
haben Sie beruflich gemacht, ehe Sie das Kind kriegten?
Fmu Gm.: Ich war in der Fabrik.
T. S.: Und... haben Sie dadurch Ihre Arbeitsstelle verloren?
Frau Gm.: Ja... öfters! Ja halt... wie der Junge dann krank
war, da hab' ich in Pasing gearbeitet, da hab' ich verpackt und
so... und's Kind hab' ich hinten in der Krippe gehabt und Ja...
da hab' ich's in der Früh abgeben, und dann bin ich in die Arbeit,
und abends nach der Arbeit hab ich's wieder geholt. Ja... und
wenn er halt dann krank war, hat's geheißen ja... Sie müssen
das Kind zu Hause lassen, der steckt die andern an... das geht
nicht. Und da hab' ich g'sagt: Was werden die denn in der Arbeit
sagen... und dann bin ich daheim blieben, und so ist mir's öfter
gangen, und da haben die in der Arbeit gesagt: „Fräulein Gm.,
das geht nicht, Sie können nicht dauernd zu Hause bleiben -
Sie werden verstehen, daß wir Sie nicht immer entbehren kön
nen" und so... und dann haben sie mir gekündigt gell, und da
hab' ich die Stelle wieder verloren... und so ist mir's öfters ge
gangen, drei-, viermal...!

Es war im übrigen Frau Gm. nicht anzumerken, ob sie je


darüber nachgedacht, geschweige denn sich geärgert hat,
wenn sie öffentlich (am Arbeitsplatz oder bei Ämtern) als
,,Fräulein" tituliert wurde, obwohl sie doch, allen bekannt,
Mutter war. Gewiß, die hier erwähnten Auseinandersetzungen
liegen an die acht Jahre zurück. Aber ausgemerzt ist diese
Unsitte auch heute noch nicht. Das ist ein Symptom für die
taktlose Gedankenlosigkeit, mit der auch heute noch bei
kirchlichen Stellen, in Krankenhäusern, Arztpraxen, Rechts
anwaltbüros und ähnlichen Institutionen (Im Unterschied zur
heutigen Gepflogenheit staatlicher und städtischer Ämter) die
Anrede ,.Fräulein" immer wieder die Vorstellung heraufbe
schwört, dasei ein „Mädchen mit Kind", wie erwachsen auch
immer die Mutter sein mag, selbst wenn sie über dreißig, vier
zig Jahre alt ist.
Natürlich gibt es unter den unverheirateten Müttern einen
nicht unerheblichen Prozentsatz vom Typ ,,Mädchen mit

1 0 9
Kind": genauer: „Kind mit einem Kind". Da hat eine selbst
noch infantile Mutter (wie alt an Lebensjahren sie auch sein
mag), die selbst für sich nicht einstehen kann, ein Kind zur
Welt gebracht, für das sie als unfertiger Mensch keine normale
mütterliche Verantwortung tragen kann. Das alte Uneheli-
chenrechtwar, zum Schutz der Kinder, an diesem Typ unehe
licher Mutterschaft orientiert. Das neue Gesetz läßt zwar
durchaus Raum für den Schutz von Kindern solcher infantiler
Mütter, doch rechnet es entschieden auch mit dem Typ der
mündigen, selbstverantwortlichen und darum zu elterlicher
Verantwortung fähigen nichtverheirateten Mutter. Daß im üb
rigen bei verheirateten Müttern prinzipiell (wenn auch in an
derer Prozentverteilung) dieselbe Bandbreite von Mündigkeit
und Verantwortungsfähigkeit besteht, darf als bekannt vor
ausgesetzt werden. Und so wie auch Ehe nicht gleich Ehe
ist, viele Eheleute lediglich „verheiratet", aber nicht Lebens
partner geworden sind, geht auch bei den nichtverheirateten
Eltern eines Kindes die Skala der möglichen Beziehungen von
totaler Unverbundenheit bis zu einer zumindest zeitweise in
tensiven, beide Partner ganz engagierenden Partnerbezie
hung. Doch selbst in Fällen einer flüchtigen Begegnung, die
normalerweise kaum Spuren in der Erinnerung hinterlassen
würde, läßt die bloße Tatsache, daß ein Kind da ist, diese
Begegnung oft lebenslänglich als eine ,,Wunde" erscheinen.
W i e v i e l m e h r, w e n n d i e M u t t e r s e i n e r z e i t s e e l i s c h i n d i e s e
Beziehung einiges ,,investiert" hatte.
Hören wir zunächst wieder das Gespräch mit der Kranken
gymnastin:

T. S.: Wie hat der Vater reagiert, als er hörte: ein Kind ist
unterwegs.
Frau B. P.; Ja... er hat mir immer versichert: Du wirst sehen,
bis in sechs Wochen bin ich geschieden, und dann können wir
heiraten. Und aus den sechs Wochen sind acht Wochen gewor
den, ein Vierteljahr, vier Monate und... die Scheidung ist eben
nie durchgegangen - inzwischen sieben Jahre nicht!
T. S.: Weiß Christian, wer sein Vater ist?
Frau B. F.: Christian weiß es, ja... aber erst seit einem halben
Jahr ungefähr. Er war sehr stolz, als er es erfuhr! Er hat den
Vater jetzt kennengelernt, und er war sehr glücklich. Vor allen
Dingen bei seinen Schulfreunden hat er mit Stolz gesagt: „Seht
i i n
Ihr - ich habe einen Papi", und seine erste Reaktion war: nun
kann ich endlich meinem Freund sagen, daß ich auch einen Vati
habe!

Die,.Wunde" der nichtzustande gekommenen oder zerbro


chenen Partnerbeziehung wird durch das Kind immer wieder
offengehalten, das ohne Vater aufwachsen muß und das nicht
selten das als eine Art „Stigma" empfindet. Ob dieses Stigma
in den Augen des Kindes schließlich als eine Art Makel er
scheint, hängt weitgehend von der Umgebung (in Familie,
N a c h b a r s c h a f t , Ve r w a n d t s c h a f t , B e k a n n t s c h a f t , S c h u l e , K i r
che) ab - genauer: von der inneren Einstellung zum Faktum
nichtehelicher Geburt, die sich unwillkürlich in ihrem Sprach
stil widerspiegeln wird. Es folgt nun ein Ausschnitt aus dem
Gespräch mit der Röntgenassistentin, Mutter des 14jährigen
Sohnes:

7.5..* Stichwort: „Probleme, die auf den Jungen zukommen".


Kommt auf den Jungen oder ist auf den Jungen schon zugekom
men das Problem seiner Unehelichkeit...?
Frau Gr.: ...Ja... Zum ersten Mal klar bewußt ist es ihm
geworden während des... Erstkommunionunterrichtes - da
war ich also sehr böse! ...Da Heiner aber die Fähigkeit hat,
seine Fragen und Probleme klar auszusprechen, konnte ich das
abfangen.
7. S.: Wie war das denn...
Frau Gr.: ...tja... wie war das...?
7. S.: ...hat der Pfarrer ihn angesprochen?
Frau Gr.: Nein... nein, nicht persönlich. Er hat im Rahmen
des Religionsunterrichtes über das sechste Gebot gesprochen
und hat unter anderem als - Begriff für die Sünde dagegen das
uneheliche Kind genannt. Dieser Begriff ist gefallen, denn bis
dahin hatte der Junge nie von einer Unehelichkeit gesprochen...
ich wußte nicht, daß ihm das überhaupt ein Begriff war. Daß
er ohne Vater groß werden mußte, das wußte er, aber... benannt
als Unehelichkeit - dieser Status wurde nie benannt bei uns!
Ich war sehr betroffen davon! Und er war sehr bestürzt und
fragte mich dann abends bei der Zubettgeh-Prozedur: „Meinst
Du, daß Gott Dir das verziehen hat?"... Daraus ergibt sich doch
eigentlich, daß er das auf sich bezog und die Sache sehr deutlich

I I I
T. S.: Was haben Sie ihm denn darauf gesagt?
Frau Gr.: Ich habe ihm gesagt: da wäre ich ganz hundertpro
zentig sicher! Und ich habe ihm dann noch hinterher gesagt:
„Außerdem... einen Beweis habe ich ja dafür auch - ich habe
ja Dich dafür!" Und dann war er sehr gelockert und gelöst und
er strahlte! Er ließ sich dadurch beruhigen.
T. S.: Was fehlt dem Kind?... Wo ist er im Leben benachteiligt
dadurch, daß er ein... lediges Kind ist?
Frau Gr.: Ich würde jetzt auf Anhieb sagen: er ist überhaupt
nicht benachteiligt! Er ist weder seinen Klassenkameraden
gegenüber benachteiligt noch in der Jugendgruppe bei den Meß
dienern und Pfadfindern, bei denen er ist - er ist nirgends be
nachteiligt! Er ist es ja auch vom Gesetz her nicht mehr - er
ist jetzt ja ehelichen Kindern gleichgestellt!
T. S.: Eine Benachteiligung könnte man höchstens darin sehen,
daß er ohne Vater aufwächst.
Frau Gr.: Nun... also - da würde ich vielleicht noch Kinder
aus geschiedenen Ehen als wesentlich benachteiligter empfinden.
Sie haben Vater und Mutter kennengelernt und werden bei einer
Scheidung gefühlsmäßig doch sehr belastet, wogegen ein Kind,
das von vornherein nur bei der Mutter großgeworden ist und
darüber hinaus noch familiäre Kontakte hat... nun, da sehe ich
eigentlich keine Benachteiligung.
T. S.: Nun haben Sie mir gesagt, daß Ihr Verhältnis zu dem
Vater des Kindes ein besonders schwieriges gewesen sei. Der
Vater hat sich ja nicht zu dem Kind bekannt...? Das heißt,
anfangs ja, aber nachher nicht mehr. Und das weiß der Junge...
Was sagt er dazu?
Frau Gr.:... Es ist sehr schwer - es ist folgendes: Der Vater
des Jungen ist tot. Er ist 1973 tödlich verunglückt... Nun...
der Junge hat doch einiges von mir mitgekriegt, was ich nicht
geplant hatte. Vor allem kam hinzu - ich habe ein erbbiologisches
Gutachten machen lassen, weil ich dem Vater doch einigen Wind
aus den Segeln nehmen wollte. Heiner hatte damals am Human
genetischen Institut die erste Begegnung mit seinem Vater, und
so hat er doch von diesen sehr großen Differenzen und Spannun
gen sehr viel mitgekriegt...
Seine Reaktion auf den Tod seines Vaters war sehr merkwür
dig, - so merkwürdig, daß ich Ihnen hier also einfach keine klare
Antwort auf Ihre Frage geben kann. Denn am Tag nach der
Beerdigung kam er zu mir und sagte: „Mutti - kannst Du ihm

11 2
denn jetzt vergeben?" Da war ich so unendlich bestürzt und
betroffen, und ich habe ihm dann gesagt: „Noch kann ich es
nicht, aber ich werde mich darum bemühen." Und da hat er
gesagt: „Danke Mutti!" und dann hab ich also fürchterlich ge
heult, und es war.:, ach... nein, es war keine schöne Zeit.
T. 5.; Aber solche Zeiten müssen durchgestanden werden...
Frau Gr.: Ja sicher! Und wir haben sie auch durchgestanden
und... bei uns, bei dem Kind und mir... da gibt es ein Motto,
das habe ich ihm so ungefähr - mit der Muttermilch hätte ich
beinahe gesagt - eingegeben. Das heißt immer: „Wenn wir beide
zusammenhalten, kann uns eigentlich gar nicht furchtbar viel
passieren, nicht?" Und das sind zum Beispiel solche Krisen, in
denen man einfach zusammenhalten muß, wenn einen solche
Gefühle etwas... schlauchen!

Frau Gm. hat Partnerprobleme und Vaterprobleme in zwei


recht unterschiedlichen Versionen erfahren:

T. S. : Sie haben zwei ledige Kinder... von zwei verschiedenen


Vätern. Wie alt waren Sie... ?
Frau Gm.: Ich war damals, als ich das erste Kind bekommen
habe, 20 Jahre, und jetzt beim zweiten 31.
7. S.: Es liegen also 10 Jahre dazwischen. Als das erste Kind
kam, ist das für Sie überraschend gewesen? Sagen wir mal: -
war das Kind „geplant"...?
Frau Gm.: Nein! auf gar keinen Fall! Es war für mich überra
schend. Als ich also gemerkt habe, daß ich schwanger war und
das dem Mann also gesagt habe, da hab' ich nichts mehr von
ihm gehört.
7. S.: War das eine Liebesbeziehung zu dem Mann?
Frau Gm.: Ja.
7. S.: Und Sie fühlen sich von ihm im Stich gelassen? Er hat
sich nie mehr um Sie und das Kind gekümmert?
Frau Gm.: Nein, überhaupt nicht! In keiner Weise! Er hat
sogar abgestritten, das Kind wär' von ihm. Wenn er sich irgend
wie so... also, daß er mir geholfen hätte und so, also... nicht
das Kind abzutreiben, aber daß er mich wenigstens unterstützt
hätte... er hätt' mich ja nicht heiraten brauchen... aber - von
dem Augenblick, wo ich ihm gesagt hab', ich war' schwanger,
hab' ich ihn überhaupt nicht mehr gesehn.
7. S.: Was machte er beruflich?

11 3
Frau Gm.: Er war Diplomingenieur.
T. S.: Also ein Akademiker! Und - hatte er selbst Kinder?
War er verheiratet?
Frau Gm.: Das weiß ich leider nicht, das entzieht sich meiner
Kenntnis.
T. S.: Während wir hier sprechen, sitzt Ihr Junge uns schräg
gegenüber - versteht er das, was wir hier reden?
Frau Gm.: Ja, freilich... er versteht's schon, aber ich weiß
nicht, wie er das auslegt; er weiß schon alles... vom Kinderkrie
gen und so... das weiß er alles... und er hat auch früher mich
immer gefragt, wo sein Vater wär', gell... und da hab' ich gesagt,
der ist in Amerika, aber mittlerweile glaubt er das sowieso nim
m e r .

T. S.: ...er kennt seine Geschichte?


Frau Gm.: Ja, er weiß genau, daß er ein lediges Kind ist, daß
sein Vater sich nicht um ihn kümmert... das weiß er.
T. S.: Wie ist es denn jetzt? Sie haben ja jetzt noch ein zweites
Kind - haben Sie den Mut zu diesem zweiten Kind trotz dieser
negativen Erfahrungen mit dem ersten Kind gehabt?
Frau Gm.: Ja, eigentlich auch nicht. Ich wollte ja grundsätzlich
nicht, aber von dem Vater war es ein Wunschkind.
T. S.: Und er lebt praktisch heute auch mit Ihnen zusam
men ... und das finden Sie eine gute Situation?
Frau Gm.: ... Was heißt gut? Freilich wär's besser, wenn wir
verheiratet wärn, schon dem Kind gegenüber. Wenn's mal größer
ist, gell... dann wird's immer schwierig... es trägt ja jetzt meinen
Namen; freilich... der Vater könnt's adoptieren, gell... nachher
kriegt's seinen Namen ...
T. S.: Aber hier ist es so, daß der Vater sich darum kümmert?
Auch was die Erziehung angeht? Kann der ältere Bub den Mann
als Vater akzeptieren?
Frau Gm.: Nein! Auf gar keinen Fall! Erstens mal sagt er:
„Das ist nicht mein Vater", und das stimmt ja auch, weil...
wenn er schlägt und so, gell... sag ich: du brauchst da nicht
schlagen, der geht dich nichts an...
7. S.: Sind Sie wirtschaftlich gesicherter als vorher, dadurch,
daß Sie jetzt mit dem Vater des zweiten Kindes zusammenleben?
Frau Gm.: Ja... irgendwie schon und irgendwie auch nicht,
er arbeitet sehr schlecht... und trinkt auch; drum hab' ich ne
gewisse Angst, daß wir heiraten, gell... er will schon, aber ich
will nicht. Er ist irgendwie ein labiler Charakter...

11 4
T. S.: Wenn Sie das Bedürfnis haben, mit jemanden darüber
zu sprechen, wie Sie Ihre Kinder erziehen - sind Sie in Erzie
hungsfragen sicher? Wozu möchten Sie Ihre Kinder erziehen?
Frau Gm.: Ja - zu nem anständigen Menschen, auf alle Fälle!!
Und daß sie was lernen, das is mal Grundbedingung, daß jeder
was lernen muß... ne Lehre auf alle Fälle! ... ich erzieh's halt,
so gut es in meinen Kräften steht. Gut, jetzt leb' ich mit dem
Mann zusammen... der hilft zwar auch ein bißchen mit, aber
- es fehlt schon der Vater...

U n d d a r u m t r i t t „ Va t e r S t a a t " a u f d e n P l a n . E s I s t n i c h t
meine Absicht, hier gegen die Kompetenzen des Staates zu
polemisieren: es liegt oft genug Im Interesse des Kindes und
der nicht selten hilflosen Mutter, wenn die Beauftragten des
Staates ratend, unterstützend, schützend der Mutter zur Seite
stehen. Nur tun sie nicht selten Im einen Fall das Überflüssige,
Im anderen nicht das Notwendige.

T. 5.; Sucht Sie manchmal die Fürsorgerin auf? Kommt Sie


manchmal zu Ihnen?
Frau Gm.: Ja, die Fürsorgerin schaut öfters nach und kommt
öfters und schaut, wie's geht und so...
T. S.: Fühlen Sie sich durch den Besuch der Fürsorgerin - sagen
wir mal - beobachtet, unter Aufsicht stehend; oder empfinden
Sie das mehr als eine wirklich wohlwollende Hilfe, die Ihnen
da entgegenkommt?
Frau Gm.: Nein, könnt ich nicht sagen; also - sie tun schon
was... aber es is irgendwie doch ein Nachschaun so quasi, ob
dem Kind nichts abgeht... ob's es auch gut hat... so irgendwie
empfind ich das... net, daß s'der helfen wollen und so. Ich mein,
ich möcht da nichts sagen, gell... aber ich bin nicht sonderlich
begeistert von Hilfe, wenn'st Hilfe brauchst.
T. S.: Haben Sie mal eine konkrete Situation gehabt, wo Sie
Hilfe nötig hatten?
Frau Gm.: Ja - das war zweg'ns dem Kindergeld, wo der
Kindsvater nicht gezahlt hat. Da bin ich als allererstes in die
Fürsorge rauf, gell, und hab denen den Fall klargelegt. Ja, und
da hat's die Fürsorge der Amtsvormundschaft gemeldet und die
haben dann was unternommen, gell. Ja und, da vergehen drei
Monate, vier Monate, ich geh' immer wieder auf die Bank...
jilsn nnrh kpin Hpld da und so. Und dann hab' ich wieder nach-

11 « ^
gefragt, und da hieß es: der Herr war da und er könnt momentan
nicht zahlen, er war in Geldschwierigkeiten. Ja sag ich, und was
ist mit mir, sag ich... ich bin auch in Geldschwierigkeiten, ich
kann auch nich zahlen, sag ich... die paar Markel, was ich als
Hilfsarbeiterin verdien, sag' ich... Ja, und ich soll nicht so blöd
daherreden und lauter so Zeug. Na und da is halt so weitergegan
gen, und dann hab' ich wieder etliche Monat gewartet, und dann
bin ich wieder zur Fürsorge gangen... und „was ist jetzt los"
sag ich... „ich brauch doch a Geld" sag ich... ja und „der Vater
zahlt schon, jetzt warten's bis Geld kriegen". Ja, und kriegt hab'
ich halt nix. Und dann habns gsagt, sie hätten angeblich nichts
erreicht, er hätte angeblich kein Geld... ja, und da habns mich
halt immer wieder so hingehalten. Das war nur ne Hinhalterei
und sonst gar nix! Mittlerweile ist ein Jahr vergang', und ich
hab' immer noch kein Geld g'habt. Und nachher hab' ich mir
selber ein Rechtsanwalt g'sucht, der hat das sogar billig
g'macht... der war sogar ganz gut, gell... ja und der hat mir's
nachher g'macht, und - ein Brief hat er an die Vormundschaft
g'schrieben, und dahat er reing'schrieben, warum der Vater nich
zahlt und so, und es geht nicht, und wenn er nicht zahlt, dann
stellt er Strafantrag. Und in nem Monat drauf hat er mir mitge
teilt: „Also der Kindsvater hat gezahlt - er hat das Geld überwie
sen!" Jetzt stelln's Eana mal vor: ein ganzes Jahr lang hab' ich
gewartet - die Amtsvormundschaft hat nichts unternommen,
die Fürsorge hat nichts unternommen... also das war nur eine
Hinhalterei, gell... und nachdem ich mir seihst einen Rechtsan
walt genommen hab', selber mein Recht gefordert hab' - da hab'
ich's Geld gekriegt! Die hätten ja genauso sagen können: „Sie,
passens auf... wenn der nicht zahlt, stellen wir Strafantrag..."
das hätt' ja die Amtsvormundschaft genauso machen können,
gell...

Besonders Frau Gm. hat sich schwer durchschlagen müs


sen mit ihrem Kind. Welche wirtschaftlichen Schwierigkeiten
auf sie zukommen würden, hatte sie als 20jähriges Mädchen
gewiß noch nicht überschauen können. Daß sie als,.Mädchen
mit unehelichem Kind" allerlei würde schlucken müssen,
wurde ihr aber offensichtlich bereits während der Schwanger
schaft klargemacht. Warum hat sie dennoch das Kind bekom
men - und wie steht sie heute zu ihm?
D a m i t k o m m e n w i r z u m d r i t t e n Te i i u n s e r e r T h e m a t i k :

11A
T. S.: 1st für Sie niemals der Gedanke akut gewesen, abzutrei
ben ... oder haben Sie sich mit dem Gedanken beschäftigt?
Frau Gm.: Ja, ich hab' mich schon mit dem Gedanken be
schäftigt. Aber erstens hab' ich das Geld nicht gehabt und zwei
tens - einen Arzt zu finden war auch schwer. Da hab' ich halt
so rumgefragt und so, aber niemand wollt mir was sagen, alle
haben da Angst g'habt, gell. Und so... ist mir nichts anderes
übriggeblieben.
T. S.: Die Frage der Abtreibung ist im Augenblick ja wieder
akut. Sie wissen - die verschiedenen Modelle, die diskutiert wor
den sind, also Fristenlösung, wo die Entscheidung bei der Frau
liegt - wie würden Sie aus Ihrer Situation heraus darüber ur
teilen?
Frau Gm.:... Also, ich befürworte das ganz... jede Frau hat
das Recht zu entscheiden, ob sie das Kind will oder nicht.
T. S.: Und Sie sagten ja auch: es hat damals am Geld gefehlt
und Sie haben nicht die Möglichkeit gehabt...
Frau Gm.: Ja, wenn ich die Möglichkeit gehabt hätte, hätt'
ich's damals schon abtreiben lassen. Wenn es damals schon ge
wesen wie heute: also die Fristenlösung bis zum dritten Monat
also, hätt' ich damals also unbedingt abtreiben lassen.
T. S.: Bejahen Sie das Kind heute?
Frau Gm.: ... Ja... heute schon, also... es tät mir vielleicht
leid, daß ich ihn irgendwie abtrieben hätt' oder was; gut, es
ist mir nichts andres überblieben, als daß ich ihn auf 'd Welt
bring gell, aber... jetzt hab' ich ihn halt da und muß mich damit
zufriedengeben. Freilich hab' ich ihn gern, genauso...

Und wie ist es damals der Krankengymnastin ergangen, der


„Tochter aus gutem Hause"?, als sie ihren heute siebenjähri
gen Sohn erwartete?

T. S.: Haben Sie von Anfang an mütterliche Gefühle gehabt?


Frau B. P.: Nun, in den ersten Wochen, als ich merkte - ich
erwarte ein Baby, da war mir das fürchterlich. Als ich dann zum
Arzt ging - er hat mir wirklich nun bestätigt: „Sie erwarten
ein Kind" - von diesem Moment an habe ich Muttergefühle in
mir gespürt... und war dann plötzlich so stark, bis zur Geburt
hin...
F. S.: Also: die in den Augen anderer „arme Brigitte" war
innerlich stark...

11 7
Frau B. P.: ...innerlich stark, ja... ich hätte gekämpft für
mein Kind!
T. S.: Sind Sie nie auf den Gedanken der Abtreibung gekom
men?
Frau B. P.: Ja, bevor ich mir nicht ganz sicher war. Ich habe
etwas gezögert, bis ich den Arzt aufsuchte, und vorher hab' ich
mir gedacht: entweder das Kind muß weg, oder ich muß weg!
Der Gedanke, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen - das
war einfach unmöglich! Aber dann, als ich zum Arzt gegangen
war, da hab ich gefühlt - das Kind kommt zur Welt. Und ich
bin stark! Und da hätte kommen können, was wollte - ich hätte
das Kind unter allen Umständen zur Welt gebracht!

Die von mir interviewten Mütter haben alle im Lauf der Jahre
erfahren, daß es mit dem „Auf-die-Welt-Bringen" natürlich
noch lange nicht getan ist. Sie haben alle jene Probleme zu
bewältigen, die jede allein erziehende Mutter meistern muß
- ob nichtverhei ratet, verwitwet oder geschieden. Noch einmal
einen Ausschnitt aus dem Gespräch mit der Mutter des 14jäh-
rigen Jungen, der Röntgenassistentin:

T. S.: Sie haben jetzt 14 Jahre mit dem Kind gelebt. Wenn
Sie zurückblicken - könnten Sie sich Ihr Leben ohne dieses Kind
überhaupt vorstellen?
Frau Gr.: Nein, überhaupt nicht! Überhaupt nicht!
T. S.: Eine kritische Frage: Bei meinen vielen Gesprächen mit
ledigen Müttern ist mir aufgefallen... wie beherrschend in ihrem
Leben das Kind ist. Nun gibt es Mütter, die ihre Verantwortung
dem Kind gegenüber so ernst nehmen, daß sie da leicht in eine
verkrampfte Haltung hineinkommen - auch in der Erziehung
des Kindes, mit der sie ja völlig allein stehen - und daß dann
eine solche Konzentration auf das Kind erfolgt, daß es für die
Mutter faktisch zum Lebens-F^rmerwird. Sie Frau Gr., können
sich nun Ihr Leben nicht mehr ohne das Kind vorstellen... ich
stelle mir z.B. vor, daß der zweite Loslösungsprozeß, den jede
Mutter durchmachen muß, die zweite „Entnabelung", nämlich
- ein Kind hinzugeben in seine eigene Freiheit, in sein eigenes
Leben hinein... ich stelle mir das schwer vor für eine ledige
Mutter;... denn mit der Weggabe ihres Kindes wird sie einsam,
da das Kind ihr weithin auch den fehlenden Mann ersetzte. Wie
sehen Sie das?

1 1 8
Frau Gr.: Dazu ist einiges zu sagen: Ich glaube auch, daß
die Gefahr besteht, sich in dem Kind einen Partner heranzuzie
hen, diese Gefahr besteht. Nur würde ich sagen: das kann nicht
mit jedem Kind gemacht werden. Ich glaube, daß ein sehr intelli
gentes Kind sich nicht zum Partner der Mutter erziehen läßt...!
Ich glaube, daß ein Kind mit... guter Begabung sich seinen eige
nen Lebensraum schaffen will und wird und sich einfach wehrt,
als Partner der Mutter festgelegt zu werden. Da gibt es Konflikt
situationen, die ich einfach kenne. Das andere Problem, das der
Loslösung und des Hingebens des Kindes in sein persönliches
Leben, in seine persönliche Entscheidung -, das ist ganz sicher
sehr schwer... ich übe das.

Ziehen wir ein Fazit:


Daß sie mit einer Wunde leben, trifft zweifellos auf viele
nichtverheiratete Mütter zu: es liegt nun einmal in der Natur
der Dinge begründet, daß ihre eigene Beziehung oder Unbe-
zogenheitzum Vater ihres Kindes meistens ebenso belastend
bleibt, wie die des Kindes zu seinem Vater. Aber das ist eine
Angelegenheit des höchst persönlichen Bereiches, die nie
mand außer den Betroffenen etwas angeht, da niemand ande
rer als die Betroffenen sie zu bewältigen haben und bei reali
stischer Einstellung zur ,,Aufgabe Leben" auch bewältigen
können. Dagegen ist es eine Sache der Öffentlichkeit (der
Gesellschaft in Kirche und Staat), daß die jahrhundertelange
Ächtung der nichtehelichen Mütter und Kinder durch jene
normale Achtung ersetzt wird, auf die alle Mütter mit ihren
Kindern Anspruch haben - ergänzt durch jene Bereitschaft
zu Beistand und Hilfe, wie man sie jeder allein erziehenden
Mutter (auch der verwitweten und geschiedenen) schuldet.
Werden Schutz des werdenden Lebens gegen die Alterna
tive der Abtreibung verteidigt, sollte zu allererst einmal vor
dieser Türe kehren! Denn an jener Diffamierung der „uneheli
c h e n " M ü t t e r u n d K i n d e r, d i e b i s h e r m i l l i o n e n f a c h A n l a ß z u
Abtreibung oder sogar Kindesmord gegeben hat, ist die kirch
liche Brandmarkung jeder nichtehelichen Geburt mitursäch
lich gewesen. Aber, das ist die Frage: Werden die kirchlich
Orientierten überhaupt fähig sein, über ihren eigenen Schat
ten zu springen? Ein Beispiel! Als ein bedeutender Bischof
am 21. April 1974 beim „Gebetstag für den Schutz des Lebens"
predigte, zeigte er deutlich das Bemühen, auch der nichtehe-

11 9
lichen Mutter - wie er sagte - „verstehende Liebe" entgegen
zubringen. Um so erstaunlicher war in dieser Predigt eine
äußerst merkwürdige, ja entlarvende Passage. Wörtlich pre
digte er: „Die erwartende Mutter muß sich angenommen und
verstanden wissen: auch das Schulmädchen, das schwanger
wird, auch die uneheliche Mutter. Das besagt gar nicht, daß
wir die vorausgehende Tat billigen. Aber hier ist genau die
Haltung Christi von uns gefordert, der die Armen und
Gezeichneten, die Sünder und die Ausgestoßenen liebt. Und
zwar in einem wunderbaren Ausgleich! Er, der sündenlose
Sohn des heiligen Gottes, verschob niemals die Maßstäbe,
aber er liebte ehrfürchtig und brüderlich. Gerade hier haben/
wir,Frommen'-aber nicht nur wir, sondern auch viele Vertre
tereiner gänzlich unreligiösen, bürgerlichen Wohlanständig
keit - manches neu zu lernen."
Niemand hat die hier zitierte ,,vorausgehende Tat" zu billi
gen, aber niemand hat sie auch zu mißbilligen - aus dem ein
fachen Grund, weil niemandem ein Urteil zusteht, nur den bei
den Beteiligten, ihnen ganz allein. So entspricht es übrigens
der einfachen Logik Jesu: „Richte nicht, damit du nicht ge
richtet werdest" - „kümmere dich nicht um den Splitter im
Auge deines Bruders, sondern um den Balken in deinem eige
nen." Die,,vorausgehende Tat" geht keinen Unbeteiligten et
was an! Wie konnte einem Bischof eine solche Panne unter

laufen, daß er mitten im Kampf gegen eine Liberalisierung


des Abtreibungsstrafrechts generell mit der nichtehelichen
Mutter jene ,,Armen und Gezeichneten, Sünder und Ausge
stoßenen" des Evangeliums assoziierte? Es kann doch nicht
darum gehen, im Hinblick auf nichtverheiratete Mütter die
Liebe Jesu zu den Ausgestoßenen zu imitieren, sondern die
Ausstoßung zu verhindern! Alles andere ist pure Heuchelei
und groteske Unlogik in einer Gesellschaft, die nichteheliche
Geschlechtsbeziehungen immer offener toleriert und die
darum der „unehelichen" Mutter nichts anderes vorwerfen
kann, als daß sie entweder die ,,Pille" nicht genommen oder
nicht abgetrieben hat.
Es ist darum auch eine Frage, ob die durchaus hilfreichen
Mutter-Kind-Heime der Weisheit letzter Schluß sein können
- ob sie nicht vielmehr doch wieder eine Getto-Situation

schaffen, die die völlige Integration der nichtverheirateten


Mütter und ihrer Kinder behindert. Das Wort soll darum zum

120
Abschlui3 unter unseren Gesprächspartnerinnen jene Mutter
haben, die bisher noch nicht zu Wort gekommen war - Lehre
rin von Beruf die mit ihrem Kind fünf Jahre lang in einem sol
chen Mutter-Kind-Heim gewohnt hat: dankbar für alle Erleich
terungen, die ihr dort geboten wurden, und doch letztlich
überzeugt, daß die bisherigen Heim-Konzepte noch keine
wirkliche Lösung der Probleme ermöglichen:

T. S,: Christina, wenn jetzt Jemand sagen würde: Sie haben


eine Erfahrung von fünf Jahren in einem Heim für Mutter und
Kind-entwerfen Sie einmal in kühnen Strichen die Idealvorstel
lung eines Heimes für Mutter und Kind. Wie würden Sie ein
solches Haus konstruieren, nicht nur baulich, sondern über
haupt?
Christina:... Dann würde ich sagen... nun, ich würde natür
lich sehr großzügig sagen: es müßte eine Dreizimmerwohnung
sein, eine Zweizimmerwohnung aber in jedem Fall! Und, das
wichtigste wäre natürlich, daß Jeder Kommende dazu einen un
gehinderten Zugang hätte, speziell natürlich der Vater des Kin
des. Was ich aber auch ganz wichtig fände - daß nicht wieder
nur die Mütter mit ihren Kindern „baumäßig" zusammengefaßt
wären, sondern - wie es, glaube ich, in Neuperlach geplant ist
-daß auch ganz normale Familien vermischt darunter leben oder
Alleinstehende - Berufstätige, Studenten... auch ältere Men
schen - „Großeltern", ein altes Paar, das keine Verpflichtungen
mehr hat... daß man einfach die Möglichkeit hätte, auch ganz
nahe Kontakte zu schließen. Daß man also nicht, wenn man
vor die Tür geht, genau weiß: Jede, mit der ich Jetzt rede, ist
eine Mutter mit ihrem Kind. Sondern ich kann auch mal zu
der Oma hingehen, kann mit ihr irgend etwas besprechen, kann
sie einladen, oder sie paßt mal auf mein Kind auf, und ich kaufe
ihr dafür ein. Das fände ich sehr wichtig - daß man eben Kontakt
zu allen möglichen Altersgruppen und auch... Schichten hat.
Der zweite ganz große Vorteil sollte tatsächlich der sein, daß
die Krippe und der Kindergarten im Haus Mnd - das wäre unge
mein wichtig!
T. S.: Wie steht es eigentlich mit den Finanzen - was mußten
Sie bezahlen? Wie sind überhaupt die Sätze in diesem Heim für
Mutter und Kind?
Christina: Wir haben am Schluß für das Einzimmer-Apparte
ment 177 Mark Miete bezahlt...

121
T. S.: ...richtete sich das nach Ihrem Einkommen?
Christina: Nein, das war festgesetzt, das war für jeden gleich,
und dazu kamen also nur noch Wasser, Strom und Gas. Aller
dings haben sich die Krippen und die Kindergartensätze nach dem
Einkommen gerichtet. Also man kann sagen: Wenn eine Mutter
nun sehr wenig verdiente oder aus irgendwelchen Gründen nicht
arbeitete, dann sind die Betreffenden mit etwa 200 Mark im Mo
nat ausgekommen; sie haben also tatsächlich so wenig für den
Kindergarten oder die Kinderkrippe bezahlt. Andere, die mehr
verdienen, bezahlen sehr viel mehr.
T. S.: Würden Sie dafür plädieren, daß solche Häuser zahlreich
gebaut werden? Halten Sie das für eine gute Lösung, oder sollte
man eine ledige Mutter finanziell so auf die Füße stellen, daß
sie nicht unbedingt arbeiten müßte, vor allem vielleicht im ersten
Jahr, und dann eine eigene Wohnung integriert unter anderen
Leuten, haben könnte?
Christina: Ja... eigentlich ist das dasselbe Problem auch für
die Ehefrau. Ich sehe da kein spezielles Problem für die alleinste
hende Mutter. Man sollte sich prinzipiell überlegen, wie Kinder
heranwachsen sollten. Ob also mit der Mutter ganztags zu Hause
oder halbtags - das empfinde ich nicht als Problem der alleinste
h e n d e n M u t t e r.
T. S.: Nun baut man ja keine Heime generell für jedwede
Art von nichtverheirateten Müttern mit ihren Kindern...
Christina:... ja... es brauchen ja auch keine Heime in diesem
Sinne zu sein. Wie gesagt, wenn man - wie das in Neuperlach
geplant ist - eine Siedlung baut, unter dem besonderen Aspekt,
hier Schichten zu helfen, die es schwerer haben, wie zum Beispiel
Studenten, für die es auch nicht mehr leicht ist, ein Zimmer
zu finden, oder... Alleinstehenden, oder... älteren Ehepaaren
- ja, daß man für diese eine Chance schafft, daß sie dahin ziehen
können, aber nicht müssen. Bei der ledigen Mutter kommt es
immer auf die Umwelt an - man soll sie und ihr Kind nicht
von ihrer natürlichen Umwelt isolieren und nicht durch Heime
der herkömmlichen Art die Gettosituation verschärfen.

122
Das Flugzeugkind La Sinh
Über die Adoption eines Kindes

Man nennt sie die Flugzeugkinder, jene kleinen Asiaten und


Lateinamerikaner, die mit dem Flugzeug kamen, um in der
Bundesrepublik bei Adoptiveltern eine neue Heimat zu finden.
Terre des Hommes, jene internationale Organisation - 1966
in der Schweiz gegründet - hat sie vermittelt gemäß ihrer
Charta, in der es heißt: „Terre des Hommes macht notleidende
Kinder ausfindig. Um der Gerechtigkeit willen, nicht aus Her
ablassung wird dem Kind geholfen, ohne Vorbehalte politi
scher, konfessioneller und rassischer Art. Terre des Hommes
setzt sich aus Menschen zusammen, die dem leidenden Kind
als Mitmensch als Streiter gegen das Unrecht, das ihm ge
schieht, ohne persönliche Eitelkeit, ohne Lohn und weitge
hend anonym zu Hilfe kommen." So steht in der Charta dieser
Organisation.
Wir lüften ein wenig den Schleier der Anonymität von einem
Einzelschicksal. Rudolf und Christel H. aus Regensburg - er
ist 36 Jahre alt und Jugendbildungsreferent, sie ist 26 und
Hausfrau - Rudolf und Christel H. haben vor etwa 7 Monaten
die kleine Le Sinh aus Vietnam, die elternlos in einem Lager
im Mekong-Delta lebte, auf dem Flugplatz in Empfang genom
men, nachdem sie sich 9 Monate lang über zahllose bürokra
tische Instanzen den Weg zu ihrem neuen Kind erkämpfen
mußten. Ja, und dann war noch jemand mit am Flugzeug, das
2V2jährige Söhnchen der H.s, Stefan, genannt Sascha. Er
ist bei diesem Abenteuer mit von der Partie, genauso wichtig
wie Vater und Mutter. Und da sind noch die Verwandten, die
Leute von der Straße, da sind die Behörden. Sie alle sind mit
beteiligt, und von allen wird in diesem Gespräch mit den H.s
die Rede sein.
Auf die Frage, wie es zur Adoption der kleinen Le Sinh kam,
ob sie den Wunsch, ein Kind zu adoptieren, immer schon ge
habt hätten, erzählten die H.s:

123
Christel H.: Den hatten wir kurioserweise schon, bevor wir
heiraten wollten.
Rudolf H.: Daß wir adoptieren wollten, hat uns zum Nach
denken gebracht über Kind überhaupt, insofern, als wir merkten,
daß Kinder auch als Ware angesehen werden oder als Selbstbestä
tigung in einer Ehe. Eltern lassen ihre Kinder sich nicht lösen,
daß sie selber ein Mensch werden, der anders sein kann, als sich
die Eltern das vorstellen. Von da her haben wir versucht, einen
konkreten Ansatz zu finden, Kinder zu adoptieren.
T. S.: ...weil Sie meinen, daß dann das Loslösungsproblem
leichter gelöst werden kann?
R. H.: Das Loslösungsproblem als solches war und ist für
uns kein Problem. Das Problem war mehr darin zu suchen, daß
wir sagten: Wir wollen Kinder haben, haben Kinder gern; beide
kommen wir aus kinderreichen Famihen. Wir haben gedacht,
warum sollen wir nicht den Kindern ein Leben ermöglichen,
die bereits in dieser Welt sind?
C. H.: Man muß aber noch dazu sagen: Wir haben ein soge
nanntes körpereigenes Kind, wie ich immer sage, und zwar des
wegen: Wir haben Zugeständnisse an unsere Erziehung gemacht,
die emotional von der Frau erwartet, selber Kinder zu bekom
men. Man kann schwer über seinen eigenen Schatten springen,
und daher haben wir beide Möglichkeiten genommen, obwohl
ich auch der Meinung bin, daß es möglich ist, ohne selber Kinder
zu bekommen, Kinder zu adoptieren.
R. H.: Aber nicht nur zu adoptieren, sondern auch zu akzep
tieren. Für uns war das Kind nicht „Bestätigung", sondern der
Mensch, das Geschöpf Gottes, wenn man so sagen soll. Und
da versuchten wir, keinen Unterschied zu machen zwischen dem
Kind als Geschöpf Gottes, das wir sozusagen von unserem Kör
per her bekommen, und dem Kind, das irgendwoanders her
kommt.
T. S.: Sie sprechen von Geschöpf Gottes. Ist Ihre religiöse
Einstellung eine starke Motivation gewesen? Sie sind ja Jugend
bildungsreferent, stehen in kirchlichem Dienst.
R. H.: Das ist eigentlich schwer zu beantworten. Ich kann
sagen: ja und nein. Wenn ich von „Geschöpf Gottes" spreche,
müßte ich sagen: ja, hier hat meine religiöse Einstellung eine
Rolle gespielt. Aber grundsätzlich ist unser Engagement sehr
in die Welt hinein gerichtet. Wir beschäftigen uns mit Menschen,
die teils etwas abseits von der Gesellschaft stehen oder unterpri-

124
vilegiert sind oder mit der Situation „Entwicklungspolitik".
Dieses ganze geistige Umfeld hat dazu beigetragen, diesen
Standpunkt einzunehmen.
C. H.: Das darf aber nicht nach Mitleid klingen.
T. S.: Warum dann gerade ein asiatisches Kind? Gibt es nicht
auch hier genügend Kinder, die aus der für Kinder sehr schädli
chen Heimsituation erlöst werden könnten durch Adoption?
R. H.: Vielleicht hatte unsere Entscheidung zwei Gründe:
Einmal das Engagement für die Dritte Welt. Unsere Situation
ist so: Wir haben früher versucht, mitzusprechen und mitzuden
ken, wo können wir uns konkret für die Dritte Welt engagieren?
Und dahinein kam nun die Möglichkeit, ein Kind aus der soge
nannten Dritten Welt zu adoptieren. Wir haben uns nicht festge
legt auf ein asiatisches Kind. Wir haben bei der Rückfrage von
Terre des Hommes, aus welcher Nation oder woher, da haben
wir alles angekreuzt. Es war uns egal.
C. H.: ,Alles' heißt, Kind aus irgendeinem Notstandsgebiet
der Welt, das hatten wir angekreuzt.
T. S.: Terre des Hommes vermittelt Kinder aus Vietnam...
R. H.: Der Fragebogen lautet auch: arabische Länder, Latein
amerika, Afrika, z.B. Biafra. Wir hätten dann auch „ja" gesagt.
T. S.: Wie hat Ihre nähere Umwelt auf Ihren Entschluß rea
giert, z.B. die Verwandten?
C.^ H.: Ganz verschieden.
R. H.: Die Reaktion war eigentlich erst ganz spürbar, als das
Kind da war. Manche haben das nicht ernst genommen, daß
wir das so meinen, wie wir es gesagt haben. Die Reaktion ging
vom „herzlichen Glückwunsch" zum Vater und zur Mutter bis
hin zur Blut- und Bodentheorie als anderes Extrem.
T. S.: Sie haben einmal in einem Interview gesagt, daß Sie
Milieu-Theoretiker seien, daß Sie also glauben, auch ein asia
tisches Kind, also ein Kind aus einem anderen Kulturraum, kann
hier sehr wohl gedeihen. Sie haben gemeint, das Milieu sei ent
scheidend für die Erziehung eines Kindes, daß es glücklich wird
und daß es gedeihen kann. Haben Sie sich nicht doch da mit
dem Gedanken beschäftigt: Das Kind hat ein Erbe in sich, das
von einem anderen Kulturkreis geprägt ist, das es sozusagen im
Blut hat? Wird etwa ein asiatisches Kind, wenn es hier erzogen
wird, nicht der geistigen und seelischen Welt entfremdet, in der
es - sagen wir mal - tiefenbewußt - verwurzelt ist?
C. H.: Da muß ich die Gegenfrage stellen: Was stellen wir
- ich auch - uns vor, wenn wir sagen: Das ist ein Asiate? Durch
unsere Schulbildung wissen wir: das sind die mit den grazilen
Handbewegungen, das sind die gefährlichen Chinesen, Schlitz
augen, Edgar-Wallace-Kriminalfilme usw. Die Le Sinh ist jetzt
sieben Monate bei uns, und eigentlich haben wir ihr schon
furchtbar viel „vererbt". Sie braucht eine Stunde zum Anziehen
wie mein Mann, sie hat ein Hohlkreuz wie ich. Das ist jetzt
natürlich Emotion, aber sie ist so in unsere Familie hineinge
wachsen, obwohl wir sehr darauf geachtet haben, ihr nicht ihre
Persönlichkeit zu nehmen. Sie ist ja 3 V4 Jahre alt gewesen, als
sie kam, hatte also schon Leben hinter sich, und wir wollten
sie zwar in manchem ändern, aber nicht sie verändern, und ich
finde, sie ist nicht störend, und jeder, der kritisch kommt, sagt,
sie lebt gut in unserer Familie.
T, S.: Ich habe nicht diese negativen Assoziationen, wenn ich
an „Asiate" denke, sondern ich verstehe es ganz positiv: Der
zu sich selbst erwachte Asiate hat ein solches Kulturerbe mit
Fähigkeiten für Wirklichkeitsbereiche, die der westliche und eu^
ropäische Mensch nicht hat. Da könnte man sich ja fragen: Ist
da überhaupt eine Chancengleichheit in der Erziehung gegeben?
R. H.: Es ist halt so, daß wir eigentlich nach 7 Monaten unsere
These schon bestätigt bekommen haben, daß die Le Sinh - ja -
jetzt schon reagiert wie Kinder von hier, als wäre sie hier gebo
ren. Im großen und ganzen kann man das sagen. Ob im Blut
die Kultur steckt, das möchte ich als Milieu-Theoretiker gerade
etwas anzweifeln. Ich glaube, es steckt weniger drin. Wir proji
zieren es viel zu viel hinein. Sonst hätten wir es gar nicht wagen
können, glaube ich, so zu handeln. Wir wußten zwar, daß es
ein Risiko sein wird, aber wir sind dieses Risiko eingegangen,
denn wir meinten, ein Risiko geht man mit jedem Kind ein.
Dieses Risiko möchten wir auch in Zukunft wagen, ganz gleich,
wie sich Stefan, wie sich Le Sinh entwickeln wird.
T. S.: Mußten Sie, Frau H., gefühlsmäßig Barrieren übersprin-
gen?
C. H.: Dazu muß ich sagen, daß das Kind, das ich im Körper
getragen habe, der Stefan also, für mich bei der Geburt so fremd
war wie irgendein anderer Säugling. Wenn er zum Füttern im
Zimmer war, dann war er mein Kind, und war er weg, dann
fühlte ich mich überhaupt nicht als Mutter. Ich habe erst lernen
müssen, ein Kind zu haben, und diese Beziehung zueinander
hat eine Zeit gedauert und ist gewachsen. Genau dasselbe ist
mit Le Sinh passiert; nur muß man sagen; zu einem kleinen
Säugling, der nicht nein sagt, kann ich leichter eine Beziehung
aufbauen als zu einem 3 VJährigen Kind, das ich überhaupt nicht
verstehen kann und das sich auch nicht so in den Arm nehmen
läßt. Da mußte die Beziehung auch erst wachsen, auch von Le
Sinh zu uns hin. Sie hat ja zuerst eine andere Bezugsperson ge
habt, aber jetzt, nach 7 Monaten: Sie ist ein goldiges Kind gewor
den, und wenn ich sagen müßte, ein Kind kommt weg - ich
wüßte wirklich nicht, welches Kind ich wegtun sollte. Das
könnte ich nicht sagen.
R. H.: Unser Wunsch war ursprünglich, einen Säugling zu
adoptieren. Das war der einzige Wunsch, den wir hatten bei
der ganzen Adoption, sonst nichts. Dieser Wunsch wurde uns
nicht erfüllt. Wir hatten etwas Sorge, als wir das Bild von Le
Sinh vorgelegt bekamen, weil sie sehr traurig blickte. Wir wußten
überhaupt nicht, wo^sie herkam, wir wissen es auch heute noch
nicht, und wir wissen auch nicht, was sie an Kriegserlebnissen
hinter sich hat. Aber das war unser Entschluß: Ganz gleich,
welches Bild wir vorgelegt bekommen, wir haben sofort ja ge
sagt. Wir haben auch da nicht ausgesucht zwischen Kindern,
weil wir eben meinen: Der Weg des Menschen geht in die Zu
kunft, und die Zukunft ist stärker als die Vergangenheit, wenn
man es wagt, in die Zukunft zu gehen.

Die H.s sind also überzeugt, daß das asiatische Kind schon
nach 7 Monaten völlig integriert ist. Berichte von anderen
Eltern, wie sie Terre des Hommes veröffentlicht, bestätigen
diese Erfahrung. Dies zu hören ist wichtig, weil dadurch man
che Vorurteile abgebaut werden können, und ein solches Vor
urteil kann sehr konkret werden. Die Adoption erfolgt norma
lerweise nach dem Recht des Heimatlandes, also in diesem
Fall nach vietnamesischem Recht. Erst nach einiger Zeit kann
die Familie in Deutschland den Antrag auf Einbürgerung und
auf Adoption nach deutschem Recht steilen. Noch 1971 wurde
beim Amtsgericht in Berlin-Lichterfelde der Adoptionsantrag
eines Eiternpaares zurückgewiesen mit der Begründung;
„Die Verpflanzung eines Kleinkindes in einen anderen Teil
der Welt zu anderen Menschen liegt nicht in seinem wohlver
standenen Interesse, zumal damit gerechnet werden muß, daß
es von seiner Umwelt als Fremdling angesehen wird. Auch
die Krankheit des Kindes kann das geplante familiäre Verhält-

127
nis in die Zukunft trüben. Daß die beabsichtigte Kindesan
nahme auch gegen die Interessen der ehelichen Kinder ver
stößt, mag letztlich noch bemerkt werden, was den
Familienfrieden und damit die Interessen des Kindes in der
Zukunft ebenfalls beeinträchtigen kann."
So also der Beschluß des Berliner Amtsgerichts. Er wurde
zwar V2 Jahr später vom Landgericht aufgehoben, aber er si
gnalisiert trotzdem eine weitverbreitete Meinung. Weil häufig
konkurrierende Interessen der - wie Frau H. sagt - körper
eigenen Kinder gegenüber einem Adoptivkind ins Spiel ge
bracht werden, interessierte die Frage, wie denn der ZVgjäh-
rige Stefan das fremde, ältere Kind verkraftet habe:

C. H.: Der Stefan war lange vorbereitet auf die Le Sinh und
hat sie positiv aufgenommen. Das war für die Le Sinh eine große
Hilfe, und erst nach 3-4 Monaten fing der Sascha an mit der
normalen Eifersucht, die unter Geschwistern üblich ist. Bis dahin
war die Le Sinh schon so weit gefestigt, daß sie mit ihm diese
Konflikte austragen konnte. Ich meine immer, daß der Stefan
für die Le Sinh genauso hilfreich war wie mein Mann und ich
und viele positiv eingestellten Leute, und ich muß immer sagen,
ich bin froh, daß er uns so geholfen hat.
R. H.: Ja, er hat die Dinge von der Le Sinh mit eingekauft.
Er hat in ihrem Bett geschlafen, ehe sie kam. Er hat das ganze
Drumherum erstmal wirklich bejaht. Damit konnte er auch
leichter die Le Sinh bejahen und hat grad zu Anfang die Le
Sinh einmalig mit hereingenommen. Wenn er das nicht getan
hätte, könnte ich mir vorstellen, daß es für die Le Sinh bedeutend
schwieriger gegangen wäre. Es ist für Le Sinh ja alles unheimlich
schnell gegangen. Was sie z.B. geleistet hat im Hinblick auf das
Erlernen der Sprache. Bei allen Schwierigkeiten ... muß man sei
nen Weg gehen ...
T. S.: ... und keine Probleme künstlich erzeugen.
R. H.: Das wäre dann zu viel, was am Anfang zu verkraften
wäre.

Die Familie mit dem asiatischen Adoptivkind lebt inmitten


der Öffentlichkeit. Wie reagierten die Leute auf der Straße - Le
Sinh ist dunkelhäutig - auf das fremde Kind und auf die Eltern
dieses Kindes?

1 9 «
C. H.: Ja, mit der Umwelt, da muß ich sagen: Emotional
bin ich oft furchtbar gegen sie. Sie stellen sich oft hin auf der
Straße und glotzen schlicht und ergreifend. Ich sage nichts da
gegen, wenn jemand hinkommt und schaut... Aber dieses nega
tiv Neugierige finde ich oft äußerst unangenehm. Die Le Sinh
stellt sich nämlich - reagierend - jetzt schon hin, nach dem
Motto: Guck mal, ich bin anders. Zwischen einer gesunden Neu
gier und dieser negativen Neugier ist ein großer Unterschied.
Es ist schon passiert - aus lauter Freude über dieses Kind -, daß
Le Sinh eine große Puppe geschenkt bekommt und Sascha von
denselben Gästen nicht mal einen Kaugummi. Das ist auch eine
gewisse Diskriminierung.
R. H.: Man kann schlecht sagen, ob sie von der Umwelt bejaht
wird. Die Leute zeigen ihre Emotionen. Inwieweit hier nur der
Effekt darin ist: Die Leute dort haben etwas Gutes getan, oder
eine Art Gewissensberuhigung, daß man sich eben schön zeigt.
Ob sie selber zu Konsequenzen bereit wären, weiß ich nicht.
Aber das wäre für mich die eigenthche Bejahung.
T. S.: Wie sähen die Konsequenzen aus? Sollen möglichst viele
Leute solche Kinder adoptieren?
R. H.: Wir würden uns freuen, aber wir würden das nicht
verlangen. Wir haben es jedenfalls bis heute nicht bereut, daß
wir es getan haben.
C. H.: Ich würde sagen: Jeder, der eine solche Sache macht,
hofft, daß es mehrere machen. Das ist ganz normal. Nur frage
ich mich gerade beim Kinderadoptieren: 15-20 Jahre muß ich
mit dem Kind auskommen. Eine Aktion, für die ich mich begei
stere, ist nach relativ kurzer Zeit vorbei. Aber solch ein Kind
- Begeisterung reicht da wohl nicht lange. Ich wäre schon dafür,
daß andere Leute adoptieren. Aber ich würde sie ein bisserl vor
ihrer eigenen Begeisterung warnen, weil: Es ist viel Alltag mit
einem farbigen Kind - genauso mit einem weißen Kind.
T. 5.; Das alles erfordert doch eine große Aufmerksamkeit.
Sie müssen doch gerade diesem Kind gegenüber sehr präsent
sein, weil Sie auch so viel erfahren müssen von dem Kind.
R. H.: Ich glaube, man soll das Kind nicht als etwas Besonde
res nehmen, also meinen, es wäre etwas Besonderes, sondern
man soll das Kind so nehmen, wie es ist. Wir sehen heute gar
nicht mehr den Unterschied, allmählich auch nicht mehr die
Hautfarbe. Wir haben heute mehr Erziehungsschwierigkeiten
durch Reaktionen, daß die Leute nur die Le Sinh sehen und

129
den Stefan gar nicht. Natürlich, es wird ein Wagnis sein und
bleiben...
C. H.: ... Kinder zu haben, prinzipiell, ob eigene oder adop
tierte.

Hört man diese Leute reden, dann hat man nicht den Ein
druck, daß es sich hier um weltfremde Idealisten handelt.
Übrigens sei nebenbei bemerkt, daß dieses Beispiel zeigt, daß
gesellschaftspolitische Theorie sehr wohl zu konkreter Praxis
führen kann.
Böse Menschen sind allerdings auch nicht die Leute, die
ihre Bedenken äußern. Das Problem wurde z.B. 1971 in der
Schweiz akut, als das Sekretariat der Schweizerischen Zen
tralstellefür Flüchtlingshilfe an den Bundesrat herantrat, 1000
Waisenkinder aus Pakistan für ein Dauerasyl in die Schweiz
aufzunehmen. Es brach eine heftige Kontroverse aus. Gegen
diesen Plan wurden folgende Bedenken angemeldet: Die Kin
der werden schon wegen ihrer Hautfarbe nie integriert, und
sie werden darum auch nicht glücklich werden. Es sei ein Ver
brechen, diese Menschen zu verpflanzen und von ihren Wur
z e l n a b z u s c h n e i d e n . We h r l o s e K i n d e r w ü r d e n z u „ We s t l e r n "
und zu „Christen" gemacht. Auf der anderen Seite die Argu
mente der Befürworter: Bei diesen Kindern ginge es um die
Alternative Leben oder Tod. Die Zukunft gehöre im übrigen
einer Welt, in der das Bewußtsein, Mensch zu sein, immer
mehr vor den rassischen und anderen Besonderheiten in den
Vordergrund trete. Darum sei eine dementsprechende Erzie
hung möglich und sinnvoll. Im übrigen könne die Schweiz
auf die positive Erfahrung mit den Adoptivkindern aus Tibet
h i n w e i s e n . Vo n 1 9 6 1 - 1 9 6 4 w u r d e n n ä m l i c h 1 5 8 Ti b e t - K i n d e r
von Schweizer Familien aufgenommen. Inzwischen sind diese
Kinder 12-14 Jahre alt, und eine neuerliche Erhebung hat ge
zeigt, daß diese Kinder alle sehr gut integriert sind.
Doch wie auch in unserem Gespräch deutlich wurde: Ob
diese Integration gelingt, das hängt weitgehend von der
Öffentlichkeit ab. Eine solche Familie sitzt ja nicht in einem
Elfenbeinturm. In einigen Jahren wird Le Sinh in die Schule
kommen und noch Jahre später wird sie eine junge Dame sein.
Vielleicht hat sich bis dahin hierzulande etwas geändert hin
sichtlich der „negativen Neugier", von der Christel H. sprach,
die ihren peinlichsten Ausdruck zur Zeit findet in den mit ge-

n n
heuchelter Moralltät geschriebenen und pornographisch be-
biiderten Berichten einer bestimmten Iliustriertenpresse über
„Dunkie Haut bei uns".
Wie immer man zur Adoption asiatischer Kinder stehen
mag, das Spektakuläre an ihr ruft zumindest die entsetzliche
Not abertausender Kinder ins Bewußtsein, und dies nicht nur
in Vietnam oder Korea, sondern vor unserer eigenen Tür. In
der Bundesrepublik leben 190000 Kinder in Heimen, zum
Großteil mit Hospitalismusschäden. Man sollte sich mit dem
Gedanken, Kinder aus dieser Situation durch Adoption erlö
sen zu können, vertraut machen. In diesem Zusammenhang
sollte das Geschick der kleinen Le Sinh aus Vietnam betrach
tet werden.

n i
Zerbrochene Gemeinschaft?

Wie man als Witwe das Leben meistern kann

Allerseelen Ist fü r uns der Tag des Totengedenkens. Wi r gehen


auf die Friedhöfe, schmücken die Gräber, zünden Lichter an.
Aber sind wir nur mit unseren eigenen Verstorbenen beschäf
tigt, denken wir auch an die Lebenden, die Zurückgebliebe
nen? Die Nachbarin da, die gerade einen Kranz zum Friedhof
trägt, hat vor einem Jahr Ihren Mann verloren. Sie trägt keine
Trauerkleidung mehr, sie Ist In Ihren alten Beruf zurückge
kehrt - das Leben hat sie wieder! Wirklich? Vielleicht auch
gehören wir selbst zu jenen Menschen, denen die Trauer über
einen längst noch nicht verwundenen Verlust In diesen Tagen
über dem Kopf zusammenschlägt. Die Trauer über den Tod
nahestehender Menschen gehört zu den elementarsten
Erfahrungen, die die Seele völlig aufbrechen und umpflügen.
Mit dieser Trauer zurechtzukommen, so daß man welter leben
kann, Ist eine der schwersten Aufgaben, die der Mensch zu
bewältigen hat. Da Ist harte ,,Trauerarbelt" zu leisten.
Yorick Spiegel hat In seinem Buch „Der Prozeß des Trau-
erns" (Kaiser- und Grünewald-Verlag 1973) die verschiedenen
Stadien dieses Prozesses genau beschrieben. Wer einen
schweren Verlust erlitten hat, wird In diesem Buch alles be
schrieben finden, was er durchgemacht hat: seine eigenen
Reaktionen werden Ihm plötzlich verständlich werden. Und
auch, wer einem Trauernden zur Seite stehen möchte, erfährt
hier, was er dazu wissen muß. Denn ein Sterbefall geht nicht
nur die unmittelbar betroffenen nächsten Angehörigen an:
daß da ein Mensch plötzlich nicht mehr da und mit einem
Schlag der gesamte Lebenskontext für die ,,Hinterbliebenen"
verändert Ist - das geht auch die Nachbarn, die Verwandten,
die Bekannten, die Berufskollegen an.
Ich habe mit einer Witwe gesprochen, Mutter dreier Söhne,
die vor sieben Jahren Ihren Mann verloren hat. Zur Vorberel-

132
tung auf dieses Gespräch war mir die Darstellung des „Trau
erprozesses" von Yorick Spiegel eine unentbehrliche Hilfe.
Wenn ich im folgenden „die Psychologen" anführe, mich auf
sie berufe, spiele ich auf jene psychologischen Erkenntnisse
an, die in diesem Buch verwertet sind.
In der Bundesrepublik gibt es zur Zeit 214000 verwitwete
M ü t t e r m i t 3 4 2 0 0 0 K i n d e r n u n t e r 1 8 J a h r e n . Vo n d i e s e n M ü t
tern sind 39% berufstätig.

T. S.: Sie sind Witwe, jetzt 50 Jahre alt, Mutter von drei Söhnen
im Alter von 14, 17 und 20 Jahren. Seit sieben Jahren sind Sie
Witwe; Ihr Mann starb nach sechzehnjähriger Ehe an einem
Herzinfarkt. Der Tod Ihres Mannes liegt also schon längere Zeit
zurück, und Sie können diese ganze Zeit nun besser reflektieren,
weil Sie Abstand haben. Psychologen sprechen heute im An
schluß an Siegmund Freud von der sogenannten „Trauerarbeit",
die der Hinterbliebene zu leisten hat, er muß also einen Prozeß
der Trauer durchmachen, in dem es etwas zu tun gibt. Man muß
es ja verarbeiten, daß es den geliebten Menschen nicht mehr
gibt, wenigstens nicht mehr so wie bisher. Zunächst wird ja
durch den Tod eines geliebten Menschen eine ganze Welt zer
stört, oder wenn das zu stark ist - sie gerät in ein Chaos, in
eine Unordnung. Und das charakteristische der Trauerarbeit
muß sein, so sagen die Psychologen, diese zerstörte innere Welt
wieder aufzubauen. Wenn Sie nun auf diese Zeit nach dem Tod
Ihres Mannes zurückblicken - glauben Sie, daß Sie eine solche
Trauerarbeit leisten mußten?
Frau Ku.: Oh ja, das glaube ich! Und ich weiß auch, daß
sie sehr schwer und anstrengend war und daß man immer wieder
Phasen überwinden muß, in denen man versucht ist, schwach zu
sein oder sich von den Schwierigkeiten überwältigen zu lassen.
Aber man spürt doch, daß man nicht aufgeben darf und auch
nicht aufgeben will
T. S.: Würden Sie sagen, daß Ihre drei Kinder, die Sie hatten,
für Sie sehr wichtig waren?
Frau Ku.: Ja und nein. Ich möchte sagen... es wird einem
nach einem solchen Trauerfall ja oft entgegengehalten: „Sie ha
ben ja drei Kinder, das ist doch etwas, was Sie ausfüllt..." Dazu
würde ich sagen, daß weder drei Kinder noch sechs Kinder fähig
sind, die Lücke auszufüllen, die ein geliebter Mensch eben in
das Leben eines anderen reißt. Und es ist wohl das Schwierigste,

133
weiterleben zu müssen ohne dieses Du, in dem man vorher ge
borgen war und dem man ja auch selbst alles gegeben hat; nun
allein ein Leben finden zu müssen, das ja auch wieder ausgefüllt
und glücklich sein soll.
T. S.: Sie sagen - als das Wesentlichste Ihrer Ehe: Sie sind
in einem Du geborgen gewesen. Aus dieser Geborgenheit sind
Sie mit dem Tod dieses Du herausgefallen. Könnte man sagen...
Sie sind ja ein glaubender Christ... daß für Sie von Bedeutung
gewesen ist - etwa der Glaube, daß der verstorbene Ehe
partner sich nicht in ein Nichts aufgelöst hat, sondern daß es
ein Fortleben nach dem Tode gibt... hat das Ihre Trauer erleich
tert?
Frau Ku.: Ja, natürlich. Der Glaube an das Fortleben oder
an ein ewiges Leben ist ja schließlich eine Beruhigung und ein
Trost, nicht ganz zu verzweifeln. Ich glaube, daß das schon sehr
viel ausmacht.
T. S.: Nun sagen Psychologen, daß der Tote auch eine negative
Macht auf den Hinterbliebenen ausüben kann. Oft treten unmit
telbar nach dem Tod des geliebten Menschen Schuldgefühle,
Selbstvorwürfe auf und die quälende Frage: was hätte man anders
machen können, was ist man ihm schuldig geblieben. Viele gera
ten hier sozusagen in den Bann des Toten und können sich nicht
recht befreien. Wäre von daher nicht eine gewisse Gefahr gege
ben, etwa bei dem Gedanken: der Geliebte ist ja nicht tot, er
lebt weiter, übt nun aber auch weiter eine... wie soll ich sagen...
eine gewisse Macht über mich aus... ?
Frau Ku.: Das könnte ich von mir nicht sagen. Ich glaube,
daß unsere Ehe sehr bewußt gelebt wurde und daß gerade die
starke Forderung während der langen Krankheit meines Mannes,
die auch etwas sehr Beglückendes hatte, weil man für den ande
ren alles tun und geben konnte - daß gerade diese Tatsachen
einem doch auch nach dem Tod das Gefühl geben, alles was
man überhaupt nur tun konnte, auch wirklich getan zu haben.
Das ist eine Beruhigung und ein Glück, das dann doch fortwirkt.
Ich würde also eher sagen, daß es ein Gefühl innerer Ruhe und
Freude ist, füreinander alles getan zu haben, was nur irgend
möglich war.
T. S.: Ich könnte mir aber durchaus denken, daß manche Men
schen sich in ein falsches Schuldgefühl hineinsteigern. Ich finde
es gut, daß Sie das in dieser Ruhe sagen: „Wir haben alles fürein
ander getan."

134
Frau Ku.: Ja, ich glaube, wenn man sehr bewußt lebt, weiß
man, daß man ständig gefordert ist, ständig sein Verhalten neu
überprüfen muß. Man ist bemüht, immer sein Bestes zu geben,
und so wächst man miteinander. Ich erinnere mich an einen Aus
spruch meines Mannes kurz vor seinem Tod. Ich hatte als junge
Ehefrau einmal gesagt, daß ich glaubte, eine Ehe müsse immer
schöner werden, je länger sie dauere. Daran erinnerte er sich
kurz vor seinem Tode und stellte fest, daß es wirklich so war.
Und dadurch ist eigentlich mit dem traurigen Ende kein wirkli
ches Ende da, sondern es ist eine Freude, die auch noch weiter
wirkt.
T. S.: Nun sprechen also, wie eben schon gesagt, die Psycholo
gen von einer Trauerarbeit, die in einzelnen Phasen geleistet wer
den muß, und auch Sie sprachen ja von Phasen. Es heißt zum
Beispiel, die erste Phase sei der Schock, den man erfährt, auch
wenn man schon einige Zeit in der Einsicht und dem Wissen
gelebt hat: Es ist eine längere Krankheit, und es wird eines Tages
zu Ende gehen - trotz allem ist es ein Schock!
Frau Ku.: Ja, ich muß sagen, daß ich trotz der Länge und
der Schwere der Krankheit nicht fähig war, mit dem Tod zu
rechnen, daß aufgrund einer Bewußtseinsminderung diese Mög
lichkeit einfach nicht so deutlich reahsiert wird; bis zum letzten
Augenblick eigentlich, in dem mir der Arzt sagte: „Es ist vorbei,
wir können nichts mehr tun." - Da war es wirklich ein Schock,
den ich weder fassen noch begreifen konnte. Dann kommen die
Tage bis zur Beerdigung, in denen man durch die Fülle der damit
zusammenhängenden praktischen Erledigungen so gefordert ist,
daß man zu irgendwelchen Reflexionen überhaupt nicht kommt.
Aber dann kommt man allmählich zur Besinnung, und dann
ist es schon so, daß man in einen Abgrund fällt und das Gefühl
hat, völlig allein und verlassen zu sein - erst dann spürt man
die ganze Schwere.
7. S.: Die Psychologen sprechen hier von der Phase der Derea
lisation, das heißt, die Welt wird für den Trauemden unwirklich
- alles was in ihr geschieht, geschieht in einem großen Abstand,
er steht gleichsam daneben, und es ist eine Leere da. Sie sagen,
daß es gerade in dieser Phase sehr viele Kommunikationsstörun
gen gibt, das heißt eine große Reizbarkeit und Verletzbarkeit,
auch ein unverständliches Mißtrauen gegen Verwandte und
Freunde... Würden Sie auch sagen, daß das in der ersten Phase
nach dem Tod so gewesen ist?
FrauKu.: Ich kann nur bestätigen, daß ein gewisses Verlangen
nach Zurückgezogenheit und Sich-abschiießen von der Welt sehr
stark war und ich zumindest einige Tage lang den Wunsch hatte,
mich ganz in mein Haus zurückzuziehen und niemanden zu
sehen; ich darf froh sein, daß es Menschen gegeben hat, die mir
da herausgeholfen und mir ihre Hilfe angeboten haben. Ich bin
darauf eingegangen, und das war der Anfang des neuen Lebens,
würde ich sagen.
T. S.: Nun wird ja im Angesicht des Todes oder gerade bei
der Beerdigung vielfach Hilfe angeboten, die nachher nicht ein
gelöst wird...
Frm Ku.: Ja, das ist schon so. Und doch war es sehr erfreulich,
daß viele Menschen in meiner Umgebung, die auch meinen Mann
sehr gut kannten und schätzten, mir in vielfacher Form ihre Hilfe
angeboten haben - aber ich habe mir doch auch bewußt gemacht,
daß das auf die Dauer nicht so bliebe, was ja auch ganz natürlich
ist. Das heißt, ich habe die Erfahrung gemacht, daß es echte
Hilfsbereitschaft durchaus noch gibt... nur sollte man die ande
ren auch nicht strapazieren...
T.S.:... was allerdings häufig nicht genügend respektiert wird.
- Nun gehören ja die Witwen auch zu der - wie man sagt...
„Randgruppe" der alleinstehenden Frauen. Stimmt es, wie man
es immer wieder lesen kann, daß gerade die verwitwete Frau
in der Gesellschaft einen schweren Stand hat?
Frau Ku.: Ja... ich glaube schon. Ich habe selbst schon oft
darüber nachgedacht, woran es liegt - vielleicht macht man den
anderen doch einen unausgesprochenen Vorwurf... daß man
von ihnen zu wenig in ihre Gemeinschaft einbezogen und her
eingeholt wird; aber wenn man dann ganz ehrlich ist und zu
rückdenkt an früheres eigenes Verhalten und sich bewußt macht,
daß eine FamiHe eine doch sehr geschlossene Gruppe ist, in
sich selbst sehr abgerundet und sich selber tragend, dann
begreift man, daß sie gar nicht mit Absicht sich so abschließt
und dem andern, der von einem solchen Schicksalsschlag
getroffen ist, eben nur bis zu einer gewissen Grenze sich öff
nen kann. Was nicht heißt, daß nicht mit ihm empfunden
würde.
T. S.: Sie beurteilen das sehr reahstisch und ohne die Klage
vieler, nun alleingelassen zu sein. Aber dennoch könnte ich mir
denken, daß diese Lage doch sehr schwer ist: Sie mußten drei
Jungen erziehen... das ist doch heute schwer für eine Frau allein!
136
Woher, würden Sie sagen, ist Ihnen da Hilfe zuteil geworden...
von der Verwandtschaft zum Beispiel?
Frau Kh.: Nein! Ich glaube, geholfen hat mir da überhaupt
niemand, ich mußte mit allem allein fertig werden; und das war
oft sehr schwer, vor allem, da die Kinder durch die lange Krank
heit und den Todesfall doch sehr beeindruckt oder auch gestört
waren. Und das ist etwas, was auch die Verwandten nicht leicht
verkraften oder auch aus eigenem Unvermögen von sich schie
ben. Und so ist man auf sich selbst gestellt und muß seinen
Weg alleine suchen.
T. S.: Nun waren Sie ja noch jung damals, als Ihr Mann starb.
Sind Sie nicht auf die Idee gekommen, wieder zu heiraten?
Frau Ku.: Nein... gleich von vornherein nicht, und ich glaube
auch, daß eine Wiederheirat bei meinen Kindern auf Unver
ständnis gestoßen wäre. Ich hatte den Eindruck, daß sie sich
und mich als ganze Familie sahen und mich gleichsam als Vater
und Mutter empfanden und brauchten, und ich glaube, daß das
Hinzukommen eines Mannes in die bestehende Familie für sie
noch schwieriger gewesen wäre. Obwohl der Kleinste doch sehr
nach seinem Vater verlangte, da mein Mann sich den Kindern
sehr zugewendet hatte; und diesen ganz persönlichen Kontakt
vermißte er nun, und er war drauf und dran, sich einen Vater
zu suchen, indem er alle möglichen Bekannte oder Leute, die
ihm auf der Straße gefielen, sich als Vater auserkor. Aber das
hat er inzwischen überwunden, und ich glaube, daß keines mei
ner Kinder eine Wiederverheiratung ohne weiteres angenommen
hätte.
T. S.: Würden Sie sagen, daß Kinder ein Recht haben, der
Mutter den Weg nicht freizugeben?
Frau Ku.: Ein Recht?... Ich weiß nicht, ob man das Recht
nennen kann. Ein Kind braucht wenigstens einen Elternteil, und
wenn es nun einen noch hat, dann wünscht es vielleicht gefühls
mäßig, daß dieser Teil ihm bleibt und auch die Lücke wieder
ausfüllt. Natürlich hat das Kind kein „Recht", das von der Mut
ter zu verlangen, denn nach wenigen Jahren gehen die Kinder
selbst aus dem Haus und nehmen für sich das Recht in Anspruch,
einen Menschen zu besitzen oder zu ihm zu gehören; das sehen
meine Kinder heute auch ein. Doch waren für meine damalige
Entscheidung ja nicht nur diese, sondern auch religiöse Gründe
maßgebend, und ich habe es auch nicht bereut, so gehandelt
zu haben.

137
T. S.: Können Sie das näher erklären mit den religiösen
Gründen? Unsere Frage ist also: Warum nicht wieder gehei
ratet? Und Sie sagen, religiöse Gründe waren dafür entschei
dend ...
Frau Kh.: Nun, das ist schwierig... ich will es versuchen.
Ich hatte vor... etwa nun 25 Jahren einmal eine Gotteserfahrung,
die mein Leben so beeinflußte, daß ich nun nach dem Tod meines
Mannes ganz stark das Bewußtsein hatte, daß eine neue Bindung
an einen Menschen nicht mehr in Frage käme. Es ist schwer
zu beschreiben, weil es wohl kaum möglich ist, ein solch persön
liches Erlebnis einem anderen klarzumachen.
T. S.: Nun, grundsätzlich würde ich da sagen, daß Christen
von Gotteserfahrungen, wenn sie welche machen, auch sprechen
sollten. Ich erwarte es vor allen Dingen - das nur in Klammern -
von Theologen, die soviel von Gott und über Gott reden, daß
man sich manchmal fragt: „Mein Lieber, weißt du das nur aus
Büchern, oder hast du irgendwie mal Gott erfahren?" Vielleicht
wird es sehr schwierig sein, genau zu benennen, worin diese
Erfahrung bestand. Man wird sie vielleicht nachweisen, oder sie
wird sich vielleicht ausweisen können an den Konsequenzen,
die sie zeitigte. Würden Sie sagen, daß diese Gotteserfahrung
in den Bereich der Mystik hineinging?
Frau Ku.: Ich glaube ja. Ich denke zum Beispiel an den Fran
zosen Andre Frossard, der von seiner Gotteserfahrung gespro
chen hat. Ich habe mir, als ich davon hörte, wohl auch Gedanken
gemacht, ob man nicht auch selbst über seine eigene Erfahrung
sprechen sollte. Ich war manchmal versucht, in einem religiös
gebundenen Kreis davon zu sprechen, aber es fällt einem schwer.
Man befürchtet auf der einen Seite, daß man von den anderen
für... überspannt gehalten wird oder für unrealistisch, und auf
der anderen Seite ist es fast etwas... Belastendes und Trauriges,
daß man von seinen eigenen Erfahrungen den anderen nichts
geben kann. Ich möchte eigentlich s^en: alle die mit dem Glau
ben Schwierigkeiten haben, sollten sich doch von denen, die eine
Erfahrung haben durften, überzeugen lassen, daß es wert ist zu
glauben. Und letztlich meine ich... wenn wirklich eine Gottes
erfahrung da war, dann wirkt sie sich im Leben eines solchen
Menschen sichtbar aus.
T. 5.; Ja, vielleicht würde ich sagen: das ist das Überzeugende,
wenn sie sich auswirkt! Wenn ich jemandem mit Worten be
schreiben sollte, warum ich meine Frau liebe, so kann ich das

11 8
auch nicht - das sind ja Bereiche, die letztlich nicht mehr in
Worte zu fassen sind. Aber es wird sich zeigen in der Art und
Weise, wie man zusammenlebt. Und hier würden Sie also sagen,
diese Gotteserfahrung ist so stark gewesen... aber Ihre Ehe ist
dadurch nicht bestimmt gewesen, oder?
Frau Ku.: Nun... diese Gotteserfahrung war vor 25 Jahren,
noch vor meiner Eheschließung, und ich hatte damals Schwierig
keiten, die Ehe überhaupt einzugehen, weil ich mich fragte, ob
mein Leben nicht in einer totalen Hinwendung verlaufen sollte.
Doch durch den Rat eines Bekannten, eines Priesters, bei dem
ich konvertierte, wurde mir klar, daß man seine Hingabe an
Gott auf beiden Wegen leben kann, in der Ehe genau wie in
einer geschlossenen Gemeinschaft. Doch hat natürlich dieses re
ligiöse Erlebnis während meiner ganzen Ehe immer weiterge
wirkt.
T. S.: Ist das in Ihrer Ehe bestimmend gewesen? War es...
negativ bestimmend? Man könnte ja fast sagen, Sie waren eine...
verhinderte Klosterfrau... innerlich.
Frau Ku.: Ja, ich muß sagen - es war immer da. Aber es
hat dem anderen nichts genommen... nur, in der ganzen Hin
gabe an einen Menschen habe ich doch immer auch gespürt,
daß die andere Seite eigentlich genausoviel verdienen würde,
oder eigentlich noch mehr. Und als dann die schwierigste Zeit
kam mit der Krankheit und ich wußte, daß die Trennung von
mir gefordert werden würde, habe ich mich darauf sehr stark
eingestellt.
T. S.: Sie hatten also, so möchte ich einmal sagen, von dieser
Gotteserfahrung her eine Basis, Boden unter den Füßen, in einem
Bewußtsein des Vertrauens zu leben: „Sie sind gehalten!" Und
nun können Sie also ein neues Leben anfangen. Hat das dann
auch durchgehalten?
Frau Ku.: Das hat durchgehalten, ja! Eines Tages ist nach der
schwierigen Phase dann doch der Wunsch da gewesen und immer
stärker geworden, aus meinem Leben etwas zu machen. Und
dann habe ich allmählich auch den Weg gefunden, wie das ge
schehen soll, und so habe ich mehr und mehr auch zu mir selbst
gefunden. Natürlich waren bei alledem auch erhebliche Schwie-
riglteiten zu überwinden. Doch ich spürte, wie mit der Forde
rung auch meine Kräfte wuchsen, die jeweiligen Schwierigkeiten
zu überwinden.
T. 5.; Sie sagten: „... aus dem Leben etwas machen". Nun...

139
war da nicht schon allerlei... wenn man drei Kinder zu erziehen
hat...? Sie sind noch berufstätig geworden?
Frau Ku.: Ja, jetzt noch, ziemlich spät... oder wieder. Und
zwar in einem Beruf, den ich als junger Mensch gar nicht gelernt
hatte - ich arbeite als Katechetin an einer Schule und habe noch
mit 46 Jahren angefangen, eine theologische Ausbildung zu ma
chen, was von Bekannten und Verwandten mit leichtem Kopf
schütteln begleitet wurde, da man meint, in diesem Alter sei
es nicht mehr möglich, noch so intensiv zu lernen. Aber es ist
gegangen, und es hat mir sehr viel Freude gemacht, und ich
glaube, daß gerade von der Gotteserfahrung her eine Möglichkeit
besteht, nun andere an dieser Freude und Überzeugung teilneh
men zu lassen.
T. S.: Würden Sie sagen, daß dieser Weg, den Sie jetzt nach
dem Tod Ihres Mannes gegangen sind, Ihnen auch Möglichkeiten
gegeben hat, die Sie vorher, als Ihr Mann noch lebte, nicht gehabt
hätten?
Frau Ku.: Ja, das glaube ich. Sogar sehr deutlich. Das heißt,
ich glaube, so negativ das klingen mag, daß ich für mich persön
lich sehr viel gewonnen habe und daß das auch eine Zeit der
persönlichen Entfaltung war, die ich bei Weiterbestehen der Ehe
nicht gehabt hätte.
T. S.: Das erscheint mir doch wichtig zu hören, da es bei
Ihnen so überzeugend klingt, weil Sie eine glückliche Ehe gehabt
haben, und daß Sie trotzdem nachher noch eine Stufe weiter
wuchsen... eine Befreiung auch - Emanzipation wenn Sie wol
len -, erlebten und von daher Fähigkeiten entfalten konnten,
die vielleicht anders nicht zur Entfaltung gekommen wären.
Woraus man wohl schließen könnte: Man kann aus dem härte
sten Schicksal etwas machen, wenn man... will. Beziehungs
weise, wenn man - Sie würden wohl hier sagen -, wenn man
diesen Boden unter den Füßen hat...
Frau Ku.: Das glaube ich, ja. Ich weiß nicht, wie ich es ge
schafft hätte, ohne diesen Boden... das kann man persönlich
nicht beurteilen.
T. S.: Nun, ich glaube, wir können hier, von Ihrem Leben
einfach sagen: hier ist ein Mensch - jetzt... säkular gesprochen,
weltlich gesprochen - durch Religiosität lebenstüchtig geworden,
oder geblieben. Ich meine, das sollte man auch bezeugen. Wo
heute immer wieder die Angriffe geführt werden, Menschenwür
den durch eine Religiosität in ihrem Menschsein verstümmelt

140
oder an ihrer Entfaltung gehindert! Hier ist das Gegenteil erlebt
worden! - Würden Sie sagen, daß es gut wäre, wenn Witwen sich
zusammenschließen würden oder auch untereinander stärkeren
Kontakt hätten, um ihre Erfahrungen auszutauschen?
Frau Ku.: Oh ja, ich glaube schon, sofern genügend darunter
wären, die eine positive Wendung ihres Lebens vollzogen haben.
Wenn eine Gruppe mit nur gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen
hätte und das Negative dadurch verstärkt würde, dann wäre das
sicher sehr ungünstig, weil diese Gruppe sich dann doch wieder
noch mehr von der Gesellschaft zurückzöge. Wenn aber jemand
da wäre, der eine solche Gruppe betreute oder Möglichkeiten
für einen neuen Weg, überhaupt für eine positive Einstellung
aufzeigte, dann würde ich es sehr gut finden, weil in der Gesell
schaft es schon wirklich so ist, daß die alleinstehende Frau nicht
genügend Kontakt hat zu anderen Menschen.
T. S.: Vielleicht wäre das eine moderne Aufgabe des Standes,
den die alte Kirche ja gekannt hat: des Standes der Witwe -
nun aber mit anderen Aufgaben... nicht nur den caritativen Auf
gaben wie damals, sondern mit den heute neuen Möglichkeiten,
Kommunikationzu intensivieren und eine Lebenshilfe zu bedeu
ten für andere, die in die gleiche Lage kommen - eine Aufgabe
an der Gesellschaft überhaupt.
ist keine Utopie. Namhafte Autoren zeigen
in einer neuen Serie der Herderbücherei,
wie man bessere Lebensbedingungen schaf
fen kann — für sich und andere. Sie analy
s i e r e n d i e k r a n k m a c h e n d e n Ve r h ä l t n i s s e
und erläutern an Beispielen und Lebens
schicksalen neue Formen der Menschlich
keit. Ihre in Beobachtung und Selbstversuch
gewonnenen Erfahrungen sind kein beliebig
anwendbares Erfolgsrezept, sondern eine
Herausforderung an die menschliche Phan
tasie. Sie helfen dem Leser, sich von fest
gefahrenen Verhaltensmustern und Vorur
teilen zu befreien, Zutrauen zu sich selbst
zu fassen sowie unkonventionell und part
nerschaftlich zu handeln.

Die neue Serie „menschlicher leben" ist


eine Offensive der Hoffnung gegen Re
signation und Ratlosigkeit.
Heilung durch Nähe
Seelisch Kranke hraHchen uns
herausgegeben von Barbara Bondy
Band 548 • • • 144 Seiten

August Sahm
Humanisierung der Arbeitswelt
Verhaltenstraining statt Verordnung
Band 551 • • • 128 Seiten

E. Frings-Kammerichs/H. A. Schüller
Die schwierige Generation
Jugendkrise - ein Zeichen der Hoffnung
Band 555 :: 192 Seiten

Sterben im Krankenhaus
Aufzeichnungen über einen Tod
Herausgegeben von Rudolf Kautzky
Band 561 • • 160 Seiten, 3. Aufl.

Camilla Härlin
Der isolierte Mensch
Kontakte herstellen und gewinnen
Band 572 • • • 144 Seiten

Karl Ledergerber
Keine Angst vor der Angst
Ihre Überwindung
durch Einsicht und Vertrauen
Band 589 :: 192 Seiten

Gertrud Stetter
Die unvollständige Familie
Mut zur Selbsthilfe
Hoffnung auf Verständnis
Band 597 • • • 144 Seiten
Thomas Sartory, 1925 in Aachen geboren. Studium der
Philosophie, katholischer und evangelischer Theologie. 1947-1963
Benediktiner in Niederaltaich. Dort beauftragt mit dem Aufbau
und der Leitung des Ökumenischen Instituts und der Schrift
leitung der Zeitschrift UNA SANCTA. 1954 Promotion zum
Dr. theol. in München, 1962 Habilitation an der Theologischen
Fakultät der Universität Salzburg. 1960-1963 theologische
Lehrtätigkeit in Rom, 1963-1967 Seelsorger in München.
Während dieser Zeit erschienen „Eine Neuinterpretation des
Glaubens" und „Fragen an die Kirche", die zu Auseinander
setzungen mit verschiedenen kirchlichen Behörden führten.
1967 Laisierung.

Seitdem freiberuflich tätig als Schriftsteller und Publizist,


thematisch im Umkreis jener Fragen, bei denen es um die
menschliche Gestaltung unserer Welt und die Bewältigung des
persönlichen Lebens geht. Dabei bleibt Sartory immer auch
Theologe, jenem Hintergrund der Probleme geöffnet, der letzt
lich die religiöse Sphäre berührt.

Letzte Veröffentlichungen: zusammen mit Gertrude Sartory


„Nach dem Tod — die Hölle?" (dtv 1974); „Das ganze Leben.
Anregungen für junge ältere Leute" (Verlag J. Pfeiffer,
München 1974).

Herderbücherei ISBN 3-451 07540-7 [590]

Das könnte Ihnen auch gefallen