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Herderbücherei

J* M* Bochehski
Wege zum
philosophischen
Denken

nführung
n die Grundbegriffe
Nachschlagewerke
Herders Sprachbuch
Ein neuer Weg zu gutem Deutsch
60000 Wörter und 36 neue Rahmenartikel
über den richtigen Sprachgebrauch
Band 470, 832 Seiten, 2. Aufl.

Marina Elisabeth Pfeffer


Kleines Wörterbuch zur Arbeits
und Sozialpolitik
Band 422, 400 Seiten

Helmut Schoeck
Soziologisches Wörterbuch
Band 312, 400 Seiten, 10. Aufl.

Christian Michel / Felix Novak


Kleines Psychologisches Wörterbuch
Band 514, 384 Seiten, 5. Aufl.

Wolfgang Mentzel / Helmut Wittelsberger


Kleines Wirtschaftswörterbuch
Band 629, 384 Seiten

in der Herderbücherei
Dr. med. Klaus Thomas
Konzentration
für geistige Arbeit
und Lebensgestaltung
R ü c k k e h r z u m We s e n t l i c h e n
Hinkehr zur Mitte

Band 580, 176 Seiten

„Mir fehlt die Konzentration." Das ist eine Klage, die man
oft hören kann. Sie verweist auf ein Grundübel unserer
modernen Welt, das Ursache ist für viele Fehlentwicklungen
und Erkrankungen. Mit ein paar Konzentrationsübungen
allein ist dem nicht beizukommen. Notwendig ist die Ein
sicht, daß Konzentration eine Grundkraft ist, die wir auf allen
Gebieten des Lebens zurückgewinnen müssen - und können.
Anhand vieler Beispiele aus den Gebieten der Psychologie,
Pädagogik, Philosophie, Medizin und Religion zeigt der
Autor, wie die Rückkehr zum Wesentlichen die Voraus
setzung dafür schafft, daß wir selbst der Überforderung des
Tages erfolgreich begegnen und anderen in kritischen Situa
tionen helfen können, sich selbst nicht zu verlieren.

in der Herderbücherei
Herderbücherei

Band 62
Was ist eigentlich Philosophie? Wem mag sich diese

Frage nicht schon einmal aufgedrängt haben! Aber


mancher, der sich um eine Antwort bemühte, wird Lexi

kon oder Lehrbuch enttäuscht zur Seite gelegt haben,


weil er aus der abstrakten Beschreibung keine lebendige

Vorstellung gewinnen konnte.


Einen anderen Verständniszugang öffnet darum Pro
fessor Bochenski in diesem Taschenbuch, indem er uns

einlädt, mit ihm zusammen über Grundprobleme der


Philosophie nachzudenken, die auch Probleme unseres
Lebens sind. Durdi die anschauliche Art seiner Dar

stellung zieht er uns rasch in die Gedankengänge


hinein, und, auf diese Weise zum Mitphilosophieren
angeregt, entdecken wir gleichsam an uns selber, was
es mit der Philosophie auf sich hat. Wir werden also
über bloße Definitionen hinaus zur Erfahrung von Phi

losophie geführt. Das ist ein besonderer Vorzug dieser


Einführung.

Der Verfasser genießt in der Fachwelt vor allem als


Erforscher der logischen Gesetze internationales An
sehen, Gerade weil er aber sein Fach souverän be

herrscht, versteht er es, auch dem Laien einen Zugang

zum philosophischen Denken zu erschließen. So entstand


diese Einführung aus Rundfunkvorträgen, die ein so

vielfältiges Echo fanden, daß es nahelag, sie in Ta


schenbuchform einem weiteren Kreis interessierter Le

ser zußfänerlich zu machen.


J. M. Bodieriski

Wege zum
Philosophischen Denken

Herderbücherei
Veröffentlicht als Herder-Taschenbuch

I.Auflage Oktober 1959


2. Auflage Dezember 1960
3. Auflage September 1961
4. Auflage August 1962
5.Auflage Januar 1964
6. Auflage Juli 1965
Z.Auflage Mai 1967
8. Auflage Januar 1969
9. Auflage Dezember 1970
10. Auflage April 1972
11. Auflage November 1973
12. Auflage November 1974
13. Auflage Juni 1976
H.Auflage August 1978
15. Auflage Oktober 1979
16. Auflage November 1980

Alle Rechte vorbehalten - Printed in Germany


© Verlag Herder Freiburg im Breisgau 1959
Herder Freiburg • Basel • Wien
Herstellung: Freiburger Graphische Betriebe 1980
ISBN 3-451-01562-5
V O R W O R T

Diese zehn Vorträge wurden im Sonderprogramm des


Bayerischen Rundfunks während der Monate Mai, Juni
und Juli 1958 gehalten. Für die Veröffentlichung habe
i c h d e n Te x t n u r i n k l e i n e n s t i l i s t i s c h e n E i n z e l h e i t e n

geändert; im übrigen erhält ihn der Leser so, wie er im


Rundfunk aufgegeben war.
Daraus, erklärt sich auch die Eigenart der vorliegen
den kleinen Schrift. Ihr Inhalt ist sehr populär gehalten.
Von irgendeiner Vollständigkeit — ebensowohl in der
Aufzählung der Richtungen wie auch in der Darstellung
von Problemen — kann natürlich keine Rede sein. Das
Ziel war eher, dem philosophisch ganz unvorbereiteten
Hörer an Hand einiger Probleme zu erklären, was die
Philosophie ist und wie sie sich an ihre Gegenstände
macht. Deshalb ist es ohne Belang — obwohl ich es
selbst bedaure —, daß etwa der „existenzialistische"
Begriff des Menschen, der Hegeische objektive Geist
und ähnliches nicht einmal genannt wurden. Eine Aus
wahl mußte getroffen werden, und auch die strenge zeit
liche Beschränkung auf 27 Minuten hat mich manchmal
gezwungen, schon Niedergeschriebenes zu streichen.
Man könnte diese Meditationen an und für sich in
zweifacher Weise durchführen. Die eine wäre die

„objektive'', unparteiische Darstellung einiger Ansich


ten, ohne daß der Verfasser dabei seinen Standpunkt
erraten ließe. Die andere besteht darin, daß man sich
von Anfang an auf einen bestimmten Standpunkt stellt
und von ihm aus ebensowohl die Probleme wie auch die
Lösung erörtert. Ich habe bewußt die zweite Methode
gewählt, und zwar deshalb, weil mir die erste einfach
unmöglich zu sein schien. Denn — das ist meine Mei
nung — eine im genannten Sinne „objektive" Dar
stellung der philosophischen Grundprobleme gibt es
überhaupt nicht und kann es auch nicht geben. Der
Standpunkt aber, welcher hier vertreten ist, ist selbst
verständlich jener des Verfassers. Somit wurde diese
Reihe von Meditationen auch etwas ganz anderes, als
sie zuerst sein sollte: nämlich eine sehr skizzenhafte,
aber doch in manchem eindeutige Darstellung einer
Philosophie — jener nämlich, die ich für die wahre
Philosophie halte.
Die Veröffentlichung erfolgt in der Hoffnung, daß
einige meiner Zuhörer gerne den Text der Vorträge
haben möchten — und darüber hinaus, daß es einigen
den Zugang zum philosophischen Denken erleichtern
könnte.

8
I N H A L T

Vorwort . . . 7

Das Gesetz . . . 11

Die Philosophie . . . 23

Die Erkenntnis . . . 35

D i e Wa h r h e i t . . . 46

Das Denken . . . 58

Der Wert . . . 69

Der Mensch . . . 81

Das Sein . . . 92

Die Gesellschaft . . . 103

Das Absolute . . . 11 4
DAS GESETZ

Ich möchte heute mit Ihnen über das Gesetz meditieren.

Gemeint sind nicht jene Gesetze, die durch das Parla


ment festgelegt werden und in den Gerichten zur An
wendung kommen, sondern Gesetze im wissenschaft
lichen Sinne des Wortes—^twa physikalische, chemische,
biologische Gesetze —, vor allem aber Gesetze der
reinen, abstrakten Wissenschaften, wie der verschie
denen Zweige der Mathematik.
Daß es nun solche Gesetze gibt, weiß jeder. Es sollte
auch klar sein, daß sie eine geradezu ungeheure Bedeu
tung für das gesamte menschliche Leben aufweisen. Ge
setze sind ja das, was die Wissenschaft aufstellt und
kraft dessen sie unsere Technik gebildet hat. Gesetze
sind das Klare, das Sichere, die letzte Stütze in jeder
vernünftigen Handlung. Würden wir keine Natur
gesetze, keine mathematischen Gesetze kennen, dann
w ä r e n w i r e i n f a c h B a r b a r e n , h i l f l o s e We s e n , d e m
Walten der Naturkräfte preisgegeben. Es ist kaum eine
Übertreibung, wenn ich sage, daß wir ganz wenige
Sachen kennen, die für uns so lebenswichtig sind wie
Gesetze. Dies sind unter anderen, vielleicht vor allem,
die mathematischen, reinen Gesetze.
Es gibt nun Menschen, welche bereit sind, sich eines
Werkzeuges zu bedienen, ohne das mindeste über seinen
Aufbau zu wissen. Ich kenne Radioreporter, die nicht
einmal wissen, ob ihr Mikrophon ein Band- oder Kon
densatorgerät ist — und Autofahrer, die an ihrem
Wagen nur die Stelle kennen, wo der Starter steckt. Es

I I
scheint mir sogar, daß die Zahl solcher sozusagen auto
matischer Menschen, die alles gebrauchen und nichts ver
stehen, immer größer wird. Eine geradezu erschreckende
Tatsache ist es, daß von den meisten Radiohörern nur
sehr wenige sich je für die Struktur dieses wahren
Wunders der Technik, des Empfängers, interessiert
haben.

Aber wäre es auch so, daß wir fast alle jedes Inter
esse für die Geräte verloren hätten, so darf man doch
hoffen, daß es mit dem Gesetz anders ist. Denn das Ge
setz ist nicht nur ein Werkzeug. Es greift tief in unser
Leben — es ist die Voraussetzung unserer Kultur; es ist,
wie gesagt, das Element der Klarheit und Vernünftig
k e i t i n u n s e r e r We l t s i c h t .
Und deshalb scheint es mir, dai^ wir uns einmal auch
diese Frage stellen sollen: Was ist ein Gesetz?
Es genügt, diese Frage zu stellen und etwas darüber
nachzudenken, um einzusehen, daß das Gesetz etwas
sehr Merkwürdiges und Befremdliches ist. Dies kann
vielleicht am besten in folgender Weise gezeigt werden.
Die Welt, die uns umgibt, besteht aus vielen und sehr
verschiedenen Dingen, aber alle diese Dinge — Seiende,
sagen die Philosophen — besitzen gewisse gemeinsame
Eigenschaften. Unter „Ding" oder „Seiendes" verstehe
ich hier überhaupt alles, was in der Welt anzutreffen
ist — etwa Menschen, Tiere, Berge, Steine undsoweiter.
Die gemeinsamen Eigenschaften dieser Dinge sind,
unter anderen, die folgenden:
Zuerst sind die Dinge alle an irgendeinem Ort — ich
bin zum Beispiel in Fribourg und sitze jetzt an meinem
Arbeitstisch. Dann sind sie während einer bestimmten
Zeit — es ist etwa heute Montag 12 Uhr für mich.
Drittens kennen wir kein einziges Ding, das nicht an

1 9
irgendeinem Zeitpunkt entstanden wäre, und soweit wir
es wissen, sind alle Dinge vergänglich. Es kommt eine
Zeit, wo sie verschwinden. Viertens unterliegen sie alle
dem Wechsel: einmal ist der Mensch gesund, ein an
deres Mal krank — einmal ist der Baum klein, dann
wird er groß undsoweiter. Fünftens ist jedes dieser
Dinge einzeln, individuell. Ich bin ich und kein anderer,
dieser Berg ist genau dieser Berg und kein anderer
Berg. Alles, was in der Welt ist, ist individuell, einzeln.
Endlich, und das ist sehr wichtig, sind alle uns be
kannten Dinge in der Welt so geartet, daß sie auch
anders sein und auch nicht existieren könnten. Freilich
meinen einige Menschen, sie seien notwendig, dies ist
aber ein Irrtum. Sie könnten auch nicht sein, und wahr
scheinlich ohne großen Schaden für das Ganze.
Das sind also die Kennzeichen jedes Dinges in der
Welt: jedes ist in einem gewissen Raum, in einer Zeit; o
jedes entsteht, vergeht, ändert sich, ist ein Individuum
und ist nicht notwendig. So ist die Welt, oder so wenig
stens scheint sie zu sein.
Nun aber erscheint in dieser gemütlichen, raumzeit
lichen, vergänglichen und aus lauter individuellen
Dingen bestehenden Welt das Gesetz.
Das Gesetz aber hat keine der oben genannten Eigen
schallen der Dinge — keine einzige.
Denn erstens hat es überhaupt keinen Sinn, zu sagen,
daß ein mathematisches Gesetz an irgendeinem Ort sei;
wenn es besteht, dann besteht es überall zugleich. Frei
lich mache ich mir von diesem Gesetz ein Bild in meinem

Kopf, aber das ist nur ein Bild. Das Gesetz ist nicht
mit dem Bild identisch, sondern es ist draußen. Und
dieses Etwas ist über jeden Raum erhaben.
Zweitens auch über die Zeit. Es hat keinen Sinn, zu

1
sagen, daß ein Gesetz gestern entstanden ist oder daß
es zugrunde gegangen ist. Es wurde wohl an einem ge
wissen Zeitpunkt erkannt, vielleicht wird man an einem
anderen Zeitpunkt einsehen, daß es falsch — daß es
kein Gesetz war; aber das Gesetz selbst ist ja zeitlos.
Drittens unterliegt es keiner Änderung und kann
auch keiner unterliegen. Daß zwei und zwei vier sind,
bleibt so in Ewigkeit ohne jede Änderung — es wäre
widersinnig, eine solche Änderung sich an ihm zu
denken.

Und endlich — das ist vielleicht das merkwürdigste —


ist das Gesetz kein Individuum, es ist nicht einzeln, es
ist allgemein. Man findet es nämlich hier und dort und
wieder dort, ins Unendliche. Zum Beispiel finden wir,
daß zwei und zwei nicht nur auf der Erde, sondern auch
auf dem Mond vier sind, und in unzählbaren Fällen
haben wir genau dasselbe — ich betone — genau das
selbe — Gesetz gefunden.
Damit hängt aber das Wichtigste zusammen. Das
Gesetz ist notwendig, d.h., es kann nicht anders sein als
so, wie es sich aussagt. Auch wenn es sich um sogenannte
Wahrscheinlichkeitsgesetze handelt, besagen sie, daß
e t w a s m i t e i n e r s o l c h e n o d e r a n d e r e n Wa h r s c h e i n l i c h
keit vorkommt — aber daß es gerade mit dieser und
keiner andern Wahrscheinlichkeit vorkommt, ist not
wendig. Das ist ja etwas ganz Einzigartiges, was wir
außer dem Gesetz nirgends in der Welt gefunden
haben; denn in der Welt ist, wie gesagt, alles nur fak
tisch, es könnte auch anders sein.
So weit die Tatsachen, wenigstens so, wie sie zu sein
scheinen. Denn es gibt Gesetze, und es scheint, daß sie
gerade so sind, wie wir gesehen haben.
A b e r w i e s c h o n b e t o n t , i s t d i e s e Ta t s a c h e m e r k -

l a
würdig. Die Welt, unsere Welt, mit welcher wir täglich
zu tun haben, sieht ganz anders aus als diese Gesetze.
Sie ist schön bunt und enthält verschiedene, sozusagen,
Gattungen von Gegenständen; alles, was sie enthält,
hat jedoch den uns vertrauten Charakter des Räum
lichen, Zeitlichen, Vergänglichen und Individuellen und
Nicht-notwendigen. Was wollen in dieser Welt diese
unräumlichen, überzeitlichen, allgemeinen, ewigen und
notwendigen Gesetze? Sehen sie da nicht aus wie Ge
spenster? Wäre es nicht viel einfacher, wenn man sie in
irgendeiner Weise wegerklären, aus der Welt schaffen
könnte, so daß es sich am Ende zeigen würde, sie seien
im Grunde gar nicht anders als die gewöhnlichen Dinge
der Welt? Das ist der erste Gedanke, welcher auftaucht,
wenn man sich einmal darüber Klarheit verschafft

hat, daß es Gesetze überhaupt gibt. Und damit ent


steht das philosophische Problem.
Warum haben wir hier ein philosophisches Problem?
Die Antwort lautet, daß deshalb ein philosophisches
Problem vorliegt, weil alle andern Wissenschaften die
Tatsache, dal^ es Gesetze geben soll, schon voraussetzen.
Sie stellen Gesetze auf, forschen nach solchen, unter
suchen sie, aber was ein Gesetz ist, das interessiert keine
von ihnen. Und doch scheint die Frage nicht nur sinn
voll, sondern auch gewichtig zu sein. Denn mit der An
nahme des Gesetzes kriecht in unsere Welt so etwas wie
ein Jenseits. Das Jenseitige ist aber bekanntlich unan
genehm, ist etwas Gespenstisches. Es wäre schon gut,
wenn man diese Gesetze durch eine passende Erklärung
los würde . . .
Solche fehlen tatsächlich nicht. Zum Beispiel kann
man der Meinung sein, daß die Gesetze Gedanken
dinge sind. Es wäre nämlich so, daß die Welt durch und

15
durch sozusagen dinglich wäre, daß man in ihr über
haupt keine Gesetze hnden würde; diese wären nur
Fiktionen unseres Denkens. Ein Gesetz würde in diesem
Fall nur im Gedanken des Wissenschaftlers — zum Bei

spiel des Mathematikers oder des Physikers — bestehen.


Es wäre ein Teil seines BewulUseins.

Diese Lösung wurde tatsächlich öfters vorgeschlagen,


so unter anderen durch den großen schottischen Philo
sophen David Hume. Er meinte, daß alle Gesetze ihre
Notwendigkeit nur daraus erhalten, daß man sich an
sie gewöhnt. So zum Beispiel, wenn man sehr oft ge
sehen hat, daß zwei mal zwei vier ergeben, gewöhnt
man sich daran, daß es so ist. Und die Gewohnheit wird
zu einer zweiten Natur — der Mensch kann dann nicht
mehr anders denken, als er sich gewöhnt hat. In ähn
licher Weise werden durch Hume und seine Anhänger
andere vermeintliche Kennzeichen des Gesetzes erklärt.
Am Ende ihrer Analyse bleibt keine dieser Eigen
schaften bestehen; das Gesetz enthüllt sich als etwas, das
in unsere gute raumzeitliche, vergängliche und indivi
duelle Welt sehr gut paßt.
So weit unsere erste mögliche Deutung. Versuchen
wir, über sie etwas nachzudenken. Man muß gestehen,
daß sie etwas Sympathisches, sozusagen Menschliches an
sich hat; sie erlaubt uns, die Gesetze mit ihren unan
genehmen, gespenstischen Eigenschaften aus der Welt
zu schaffen. Und die Begründung scheint wirklich ver
nünftig zu sein; ist es doch eine Tatsache, daß wir uns
leicht an verschiedenes gewöhnen und dann wie unter
einem Zwang handeln. Man denke nur an den Zwang,
den der Raucher empfindet, Zigaretten zu rauchen!
Und doch erheben sich gegen diese Lösung verschie
dene gewichtige Bedenken.

16
Zuerst kann jeder sehen, daß wenigstens eine Tat
sache dadurch nicht erklärt ist. Ich meine nämlich die

Tatsache, daß die Gesetze in der Welt wirklich gelten.


Nehmen wir das folgende Beispiel: Wenn ein Ingenieur
eine Brücke berechnet, stützt er sich auf eine große
Menge mathematischer und physikalischer Gesetze.
Wenn man nun annehmen würde, wie es Hume tut, daß
alle diese Gesetze nur Gewohnheiten des Menschen, ge
nauer dieses Ingenieurs sind, dann fragt man sich, wie
es möglich ist, daß eine Brücke, die nach den richtigen
Gesetzen richtig berechnet wurde, fest steht, während
eine, bei deren Berechnung der Ingenieur Irrtümer be
gangen hat, zusammenbricht. Wieso können Gewohn
heiten des Menschen für so große Massen von Beton
und Eisen entscheidend sein? Es sieht so aus, als ob die
Gesetze nur sekundär, an zweiter Stelle ihren Sitz im
Gedanken des Ingenieurs hätten. Zuerst gelten sie ja
für die Welt, für Eisen und Beton, ganz unabhängig
davon, ob irgend jemand etwas von ihnen weiß oder
nicht. Warum sollten sie diese Geltung haben, wenn sie
nur Gedankendinge wären?
Diesem Bedenken könnte man aus dem Wege gehen,
indem man sagte, daß die Welt selbst durch unseren
Gedanken geschaffen ist, daß wir ihr unsere eigenen
Gesetze auferlegen. Aber das ist eine Lösung, welche
d e n Ve r t r e t e r n d e r L e h r e H u m e s — d e n P o s i t i v i s t e n —
und den meisten Menschen als ungeheuerlich erscheint.
Wir werden noch über diese Möglichkeit zu sprechen
haben, wenn wir zur Erkenntnistheorie kommen. Vor
läufig dürfen wir aber annehmen, daß nur ganz wenige
Menschen sie akzeptieren würden, und brauchen sie des
halb nicht in Betracht zu ziehen.

Das ist also das erste Bedenken. Es gibt aber noch

17
ein zweites. Wenn man die Gesetze in das Denken ver

setzt, hat man sie dadurch noch gar nicht erledigt. Sie
bestehen nicht mehr in der äußeren Welt, gelten aber in
unserer Seele weiter. Nun ist aber die menschliche Seele,
das menschliche Denken und überhaupt alles, was
menschlich ist, auch ein Teil der Welt und hat alle
Kennzeichen des Weltlich-Dinglichen.
Wir berühren hier zum erstenmal das merkwürdige
Geschöpf, das wir selbst sind: den Menschen. Es ist nicht
der Ort, schon hier über ihn zu meditieren. Eines soll
jedoch gesagt werden — und ich möchte es mit der gan
zen Schärfe, deren ich fähig bin, sagen, denn ganze
Berge von Vorurteilen stehen in dieser Beziehung auf
dem Wege zum richtigen Verständnis unseres Problems.
Was ich sagen möchte, ist nämlich dieses: Wir finden
I im Menschen vieles Einmalige, was in der übrigen
: Natur nicht zu finden ist. Dieses Einzigartige, Ein-
j malige, von dem Rest der Natur Verschiedene heißt
! meistens das „Geistige" oder der „Geist". Der Geist
ist nun ganz sicher ein interessantes, packendes Phäno-
I men des Philosophierens. Aber sosehr der Geist von
allem anderen in der Welt verschieden ist, bleibt er
i doch — und damit alles was in ihm steckt — ein Teil
i der Welt, der Natur, wenigstens in dem einen Sinne,
: daß er, genau wie alles übrige, wie dieser Stein, wie
der Baum vor meinem Fenster, wie meine Schreib
maschine zeitlich, räumlich, veränderlich, nicht-notwen
dig und individuell ist. Ein überzeitlicher Geist ist ja
' Unsinn. Es mag sein, daß er ewig dauern wird, aber in
wieweit wir ihn kennen, dauert gerade, das heißt, er ist
ein zeitliches Ding. Es ist schon wahr, daß er weite
Strecken des Raumes überblicken kann, aber alle Gei
ster, die wir kennen, sind an einen Leib gebunden und
d a m i t r ä u m l i c h . Vo r a l l e m h a t d e r G e i s t n i c h t s N o t w e n

diges an sich — er könnte sehr wohl nicht sein —, und


von einem allgemeinen Geist zu sprechen ist widersin
nig. Jeder Geist ist immer der Geist eines Menschen —
in zwei Menschen kann er sich gar nicht befinden, so
wenig wie ein Stück Holz an zwei Orten zugleich beste
hen kann.

Ist es aber so, dann ist unser Problem nicht gelöst,


sondern nur verschoben: wenn die Gesetze in unserem
Geist zu finden sind, bleibt noch zu erklären, was sie
eigentlich sind. Denn ein Stück unseres Geistes sind sie
sicher nicht. Vielleicht sind sie im Geist, aber nur inso
weit, als sie erkannt sind durch ihn und deshalb auch
außer dem Geist in irgendeiner Weise bestehen müssen.
Wenn man also das Gesetz in den Geist verlegt, ge
winnt man sehr wenig für die Klärung der Sachlage und
schafft sich zum mindesten eine neue große Schwierig
keit: man muß jetzt erklären, warum ein nur dem Geist
gehörendes Gesetz so streng in der äußeren Welt wal
tet.

Deshalb sind bei weitem die meisten Philosophen


einen anderen Weg gegangen. Dieser Weg besteht im
wesentlichen darin, daß man einfach sagt, die Gesetze
seien etwas von uns, von unserem Geist und von unse
rem Denken Unabhängiges. Man behauptet also, daß
sie in irgendeiner Weise außer uns bestehen, sind, oder,
wenn man will, gelten — daß wir Menschen sie nur
besser oder weniger gut erkennen, aber sie nicht schaf
fen, so wenig wie wir Steine, Bäume und Tiere durch
unser bloßes Denken schaffen können. Das vorausgesetzt,
sagen die Philosophen weiter, daß sie eine ganz andere,
zweite Art des Seienden, dessen, was ist, bilden.
In dieser Sicht gibt es also in der Wirklichkeit —

19
wenn man dies so nennen will — neben den Dingen,
dem Realen, noch etwas anderes, nämlich eben die Ge
setze; ihre Art und Weise, zu sein, nennt man das
Ideale. Man sagt, daß die Gesetze zu den ideal Seien
den gehören. Anders gesagt, gibt es zwei Grundarten
des Seienden — das Reale und das Ideale.
Es wird nicht ohne Interesse sein, festzustellen, daß
die genannten zwei Deutungen des Gesetzes — die po
sitivistische und die, sagen wir, idealistische im weite
sten Sinne des Wortes, sehr wenig mit dem Streit der
großen Weltanschauungen zu tun haben. So ist zum
Beispiel der Christ kraft seines Glaubens gar nicht an
diese Art des Idealismus gebunden; er glaubt, daß es
einen Gott und eine unsterbliche Seele gibt, sein Glaube
verpflichtet ihn aber gar nicht, an das Ideale zu glau
ben. Auf der andern Seite behaupten zwar die Kommu
nisten, alles sei materiell — sie wollen sagen ding
lich —, nehmen aber gleichzeitig an, daß es ewige, not
wendige Gesetze, und zwar nicht nur im Denken, son
dern auch in der Welt selbst gibt. Sie sind also in ge
wissem Sinne viel mehr idealistisch als die Christen.
Der Streit ist kein weltanschaulicher Streit; er gehört
ganz in die Philosophie.
Zu unserem Problem zurückkehrend, ist noch zu sa
gen, daß jene, die das Anders-Sein des Gesetzes, also
das ideale Sein anerkennen, sich in verschiedene Schu
len teilen, je nach der Auffassung dieses Idealen. Das
wird verständlich, wenn man sich die Frage stellt, was
unter der Existenz des Idealen zu verstehen sei, wie
man es sich denken soll. Darauf gibt es nämlich, im gro
ßen und ganzen, drei wichtigste Antworten.
Die eine lautet: Das Ideale besteht unabhängig vom
Realen, sozusagen an sich; es bildet eine besondere

9 0
Welt vor und über der dinglichen Welt. In dieser ,
idealen Welt gibt es selbstverständlich keinen Raum
und keine Zeit, keine Änderung und keine bloße Fak- j
tizität — alles ist ewig, rein, unveränderlich und not- |
wendig. Diese Auffassung wird oft dem Schöpfer un-
serer europäischen Philosophie, Plato, zugeschrieben. F.r
hat als erster das Problem des Gesetzes aufgestellt und
scheint es in dem besagten Sinne gelöst zu haben.
Die andere Lösung sagt: Das Ideale besteht schon, ;
aber nicht getrennt vom Realen — es existiert nur im
Realen. Genauer gesehen, gibt es in der Welt nur ge
wisse Strukturen, einen gewissen sich wiederholenden
Aufbau der Dinge — man nennt sie Wesen —, die so
geartet sind, daß der menschliche Geist in ihnen die
Gesetze ablesen kann. Formulierte Gesetze kommen
nur in unserem Denken vor — aber sie besitzen eine

Grundlage in den Dingen, und deshalb gelten sie in der


Welt. Das ist, skizzenhaft dargestellt, die Lösung des
Aristoteles, des großen Schülers von Plato, des Begrün
ders der meisten Wissenschaften.

Endlich gibt es noch eine dritte Lösung, die ich schon '
berührt habe in der Auseinandersetzung mit dem Po- ;
sitivismus: sie leugnet nicht, daß Gesetze ideal sind, j
meint aber, daß das Ideale nur im Denken vorkommt.
Daß die Gesetze für die Welt gelten, kommt davon, daß j
die Struktur der Dinge durch eine Projektion der Ge
dankengesetze entsteht. Dies ist, skizzenhaft referiert,
die Lehre des großen deutschen Philosophen Immanuel
Kant.

Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, daß bei


uns in Europa fast jeder bedeutende Philosoph sich zu
einer dieser drei Lösungen bekannt hat — daß unsere
Philosophie zu einem großen Teil aus Meditationen

21
über sie bestand und noch immer besteht. Vor drei Jah
ren konnte ich in der bekannten amerikanischen Uni
versität Notre Dame, nahe Chicago, einer Diskussion
beiwohnen, an welcher mehr als hundertfünfzig Philo
sophen und Logiker teilnahmen. Alle drei Redner wa
ren inathematische Logiker, und alles, was gesagt
wurde, nahm eine mathematisch-logische hoch wissen
schaftliche Form an. Die Diskussion dauerte zwei Tage
und drei Nächte fast ohne Unterbrechung. Und es han
delte sich genau um unser Problem. Professor Alonzo
Church, von der Universität Princeton, einer der be
deutendsten mathematischen Logiker der Welt, vertrat
die platonische Lehre — im wesentlichen genauso, wie
sie der Altmeister einmal auf der Agora in Athen ver
teidigt hatte. Und ich muß gestehen: mit viel Erfolg. Es
ist ein ewiges Problem der Philosophie — vielleicht nur
für uns Moderne, die so viel Gesetze kennen und für
die sie so wichtig geworden sind, viel brennender als
für irgendeine andere Epoche.
DIE PHILOSOPHIE

Die Philosophie ist eine Angelegenheit, die nicht nur


den F'achmann angeht, denn so merkwürdig es auch
aussehen könnte: es gibt wahrscheinlich keinen Men
schen, der nicht philosophiert. Oder wenigstens hat je
der Mensch Augenblicke in seinem Leben, in welchen er
zum Philosophen wird. Das ist vor allem von unsern
Naturwissenschaftlern, von Historikern und von den
Künstlern wahr. Sie alle pflegen früher oder später sich
mit Philosophie zu beschäftigen. Ich sage freilich nicht,
daß damit der Menschheit ein bedeutender Dienst ge
leistet ist; die Bücher der philosophierenden Laien —
seien sie auch berühmte Physiker, Dichter oder Politi
ker — sind gewöhnlich schlecht, sie enthalten nur zu oft
eine kindlich-naive und meistens falsche Philosophie.
Das ist aber hier Nebensache. Das Wichtige ist, daß wir
alle philosophieren und, wie es scheint, schon philoso
phieren müssen.
Und deshalb ist auch für alle die Frage wichtig: Was
ist eigentlich Philosophie? Leider ist dies eine der
schwierigsten philosophischen Fragen. Ich kenne nur
wenige Worte, die so viele Bedeutungen haben wie das
Wort „Philosophie''. Gerade vor einigen Wochen habe
ich in F'rankreich einem Kolloquium führender europä
ischer und amerikanischer Denker beigewohnt. Sie alle
sprachen von Philosophie, verstanden aber darunter
ganz und gar Verschiedenes. Wir wollen uns die ver
schiedenen Deutungen näher ansehen und dann ver
suchen, in diesem wahren Gewimmel von Definitionen
und Ansichten einen Weg zum Verständnis zu finden.

23
Es gibt nun zuerst eine Ansicht, nach welcher die
Philosophie ein Sammelbegriff für alles wäre, was noch
nicht wissenschaftlich behandelt werden kann. Dies ist
zum Beispiel die Ansicht von Lord Bertrand Russell
und von vielen positivistischen Philosophen. Sie machen
uns darauf aufmerksam, daß bei Aristoteles Philoso
phie und Wissenschaft dasselbe bedeuteten und daß
später die einzelnen Wissenschaften sich aus der Philo
sophie losgelöst haben: zuerst die Medizin, dann die
Physik, später die Psychologie, zuletzt sogar die For
male Logik selbst, welche, wie bekannt, heute meistens
an den mathematischen Fakultäten gelehrt wird. Oder,
anders ausgedrückt, es gebe überhaupt keine Philoso
phie in dem Sinne, wie es zum Beispiel eine Mathe
matik gibt, mit ihrem besonderen Gegenstand. Einen
solchen Gegenstand der Philosophie gebe es nicht. Man
bezeichne damit lediglich gewisse Versuche, verschie
denartige, noch unreife Probleme zu klären.
Dies ist ganz gewiss ein interessanter Standpunkt,
und die angeführten Argumente sehen zuerst über
zeugend aus. Sieht man sich aber die Sache etwas näher
an, dann erheben sich ganz große Zweifel. Denn, er
stens, wäre es so, wie jene Philosophen sagen, dann
sollten wir heute weniger Philosophie haben als etwa
vor tausend Jahren. Das ist aber sicher nicht der Fall.
Philosophie gibt es heute nicht weniger, sondern eher
mehr als je. Und ich meine nicht nur der Zahl der Den
ker nach — es werden deren heute etwa zehntausend
sein —, sondern auch der Zahl der behandelten Pro
bleme nach. Vergleicht man die Philosophie der alten
Griechen mit der unseren, so sieht man, daß wir uns im
zwanzigsten Jahrhundert nach Christus bedeutend mehr
FVagen stellen als die Griechen gekannt haben.

24
Zweitens ist es schon wahr, daß verschiedene Diszi

plinen sich von der Philosophie im Laufe der Zeit los


gelöst haben. Das Auffallende ist aber dabei, daß dann,
wenn eine solche spezielle Wissenschaft sich verselb
ständigte, fast gleichzeitig eine parallele philosophische
Disziplin entstand. So zum Beispiel in den letzten Zei
ten, als sich die formale Logik von der Philosophie
trennte, entstand gleich eine weit verbreitete und heiß
diskutierte Philosophie der Logik. Über sie wird heute
zum Beispiel in den Vereinigten Staaten Nordamerikas
vielleicht mehr geschrieben und diskutiert als über die
rein logischen Fragen, obwohl dieses Land gerade in
der Logik führend ist — oder gerade deswegen. Die
Tatsachen zeigen, daß die Philosophie, anstatt durch die
Entwicklung der Wissenschaften abzusterben, noch le
bendiger und reicher wird.
Und endlich eine boshafte Frage an jene, die meinen,
es gäbe keine Philosophie: Im Namen welcher Disziplin,
welcher Wissenschaft wird diese Behauptung auf
gestellt? Schon Al istoteles hielt den Gegnern der Philo
sophie folgendes vor: entweder — sagte er — soll man
philosophieren oder man soll nicht philosophieren;
wenn man aber nicht philosophieren soll, dann nur im
Namen einer Philosophie. Also auch wenn man nicht
philosophieren soll, muß man doch philosophieren. Und
d i e s i s t n o c h h e u t e w a h r. N i c h t s i s t a m ü s a n t e r a l s d i e
Sicht vermeinter Feinde der Philosophie, die groß
artige philosophische Argumente anführen, um zu zei
gen, daß es keine Philosophie gibt.
F's bleibt also dabei, daß man der ersten Meinung
nur schwerlich rechtgeben kann. Die Philosophie muß
etwas anderes sein als ein Sammelbecken für unreife

25
Probleme. Sie hat sicher hie und da auch diese Funk-

^tionDie
ausgeübt , aber sie ist noch etwas mehr als das.
zweite Meinung behauptet dagegen, daß die Phi
losophie nie verschwinden wird, auch wenn sich alle
möglichen Wissenschaften von ihr loslösen — denn sie
ist nach dieser Meinung keine Wissenschaft. Sie er
forscht, wie man sagt, das Überrationale — das Un
begreifbare, das über dem Verstand oder wenigstens an
seiner Grenze Liegende. Sie hat also mit der Wissen
schaft, mit dem Verstand nur wenig Gemeinsames. Ihr
Gebiet liegt außerhalb des Rationalen. Philosophieren
heißt demnach nicht mit der Vernunft nachforschen,
sondern auf irgendeine andere Weise, mehr oder weni
ger „unvernünftig". Das ist eine heute weit verbreitete
Meinung, besonders auf dem europäischen Kontinent —
und sie wird unter anderen durch gewisse sogenannte
Existenzphilosophen vertreten. Ein ganz extremer Ver
treter dieser Richtung ist sicher Professor Jean Wahl,
der führende Pariser Philosoph, für welchen es im
Grunde keinen wesentlichen Unterschied zwischen Phi

losophie und Dichtung gibt. Aber auch der bekannte


Existenzphilosoph Karl Jaspers dürfte in dieser Bezie
hung Jean Wahl nahestehen. In der Deutung von
Jeanne Hersch, der Genfer Philosophin, ist Philosophie
ein Denken an der Grenze zwischen Wissenschaft und

Musik; Gabriel Marcel, ein anderer Existenzphiiosoph,


hat in einem philosophischen Buch direkt ein Stück
eigener Musik abdrucken lassen — ohne von den Ro
manen zu sprechen, die einige heutige Philosophen zu
\ schreiben pflegen.
Auch diese Meinung ist eine respektable philoso
phische These. Zwar kann man zu ihren Gunsten ver
schiedenes anführen. Erstens, daß in den Grenzfragen

26
— und das sind meistens philosophische Fragen — der
Mensch sich aller seiner Kräfte bedienen muß, also auch
des Gemütes, des Willens, der Phantasie — wie ein
Dichter. Zweitens, daß die Grundgegebenheiten der
Philosophie dem Verstand gar nicht zugänglich sind —
man soll sie also mit anderen Mitteln zu erfassen ver

suchen, inwieweit es geht. Drittens, daß alles, was den


Verstand betrifft, schon der einen oder der anderen
Wissenschaft angehört. Also bleibt für die Philosophie
nur dieses dichterische Denken an der Grenze oder gar
ganz jenseits der Grenzen des Verstandes. Man könnte
vielleicht noch weitere Gründe dieser Art anführen.

Gegen diese Ansicht wehren sich aber zahlreiche


Denker, unter anderen jene, welche dem Spruch von
Ludwig Wittgenstein treu sind: „Wovon man nicht
sprechen kann, darüber muß man schweigen." Mit
„Sprechen" meint hier Wittgenstein das vernünftige
Sprechen, also Denken. Kann man, sagen diese Gegner
der dichterischen Philosophie, etwas mit normalen
menschlichen Erkenntnismitteln nicht erfassen, das heißt
mit dem Verstand, dann kann man es überhaupt nicht
erfassen. Der Mensch kennt nur zwei mögliche Metho
den, um etwas zu erkennen: entweder den Gegenstand
in irgendeiner Weise direkt zu sehen — sinnlich oder
geistig — oder aber zu erschließen. Beides ist aber eine
Erkenntnisfunktion und im wesentlichen ein Akt des
Verstandes. Daraus, daß man etwas liebt, haßt, daß
man irgendeine Angst, einen Ekel oder ähnliches erlebt,
folgt vielleicht, daß man sich unglücklich beziehungs
weise glücklich fühlt — aber darüber hinaus gar nichts.
So sagen jene Philosophen und, ich muß mit Bedauern
feststellen, sie lachen den Vertretern der anderen Mei-
nung ins Gesicht und sagen, sie seien Schwärmer, Dich
t e r, u n e r n s t e M e n s c h e n .
Ich will mich hier in die Diskussion der Frage nicht
einlassen — wir werden noch später dazu Gelegenheit
haben. Eines möchte ich jedoch bemerken. Sehen wir
uns die Geschichte der Philosophie an — vom alten
Griechen Thaies bis auf Merleau-Ponty und auf Jas
pers, so finden wir immer und immer wieder, daß der
Philosoph die Wirklichkeit zu erklären versucht hat.
Erklären heißt aber, den zu erklärenden Gegenstand
vernünftig — mit Hilfe des Verstandes — zu deuten.
Auch jene, die sich am schroffsten gegen den Gebrauch
des Verstandes in der Philosophie gewehrt haben — wie
Bergson zum Beispiel —, haben es immer so getan. Der
Philosoph, so scheint es wenigstens, ist einer, der ver
nünftig denkt, der versucht, Klarheit — das heißt Ord
nung, und das heißt wiederum Verstand — in die Welt
und in das Leben zu bringen. Historisch gesehen — das
heißt in dem, was die Philosophen wirklich getan haben,
nicht in dem, was sie über ihre Arbeit sagten —, war
die Philosophie im großen und ganzen eine vernünftige,
eine wissenschaftliche Tätigkeit, eine Lehre, nicht eine
Diditung. Hie und da waren Philosophen auch dichte
risch begabt: so Piaton, so der heilige Augustinus —
und, wenn man mit den Großen einen zeitgenössischen
Schriftsteller vergleichen darf, Jean-Paul Sartre, der ein
paar gute Theaterstücke geschrieben hat. Das alles
scheint aber bei ihnen eher ein Mittel der Mitteilung
des Gedankens gewesen zu sein. In ihrem Wesen ist
die Philosophie, wie gesagt, immer eine Lehre, eine
Wissenschaft gewesen.
Ist es aber so, dann drängt sich wieder die Frage auf:
Eine Wissenschaft von was? Die Körperwelt wird durch

28
die Physik, die Welt des Lebens durch die Biologie,
jene des Bewußtseins durch die Psychologie, die Gesell
schaft durch die Soziologie erforscht. Was bleibt für
Philosophie als Wissenschaft? Was ist ihr Gebiet?
Darauf erhalten wir seitens verschiedener philoso
phischer Schulen sehr verschiedene Antworten. Ich
werde einige der wichtigsten unter ihnen aufzählen.
Erste Antwort: Erkenntnislehre. Andere Wissen
schaften erkennen; die Philosophie erforscht die Mög
lichkeit des Erkennens selbst — die Voraussetzungen
und die Grenzen der möglichen Erkenntnis. So Im
manuel Kant und viele unter seinen Nachfolgern.
Zweite Antwort: die Werte. Jede andere Wissen
schaft untersucht das, was ist; die Philosophie erforscht
dagegen, was sein soll. Diese Antwort haben zum Bei
spiel die Anhänger der sogenannten Süddeutschen
Schule und zahlreiche zeitgenössische französische Phi
losophen gegeben.
D r i t t e A n t w o r t : d e r M e n s c h — u n d z w a r a l s Vo r a u s

setzung und Grundlegung alles anderen. Nach den Ver


tretern dieser Meinung ist nämlich in der Wirklichkeit
alles in irgendeiner Weise auf den Menschen bezogen.
Diese Beziehung wird seitens der Naturwissenschaften
und auch seitens der Geisteswissenschaften außer acht

gelassen. Die Philosophie hat sie, und damit den Men


schen selbst, unter diesem Gesichtspunkt zu eigenem
Gegenstand. So lehren viele Existenzphilosophen.
Vierte Antwort: die Sprache: „Es gibt keine philo
sophischen Sätze, sondern nur Klarlegung von Sätzen",
sagt Wittgenstein. Die Philosophie untersucht die
Sprache der anderen Wissenschaften vom Standpunkt
ihrer Struktur aus. Das ist die Lehre Ludwig Wittgen-

9 0
steins und der meisten logischen Positivisten der Gegen
wart.

Dies sind nur einige unter noch mehreren Ansichten


derselben Art. Jede von ihnen hat ihre Argumente und
wird in ziemlich überzeugender Weise verteidigt. Jeder
der Vertreter dieser Ansichten sagt von den Anhängern
der anderen, sie seien überhaupt keine Philosophen.
Man soll nur hören, mit welch tiefer Oberzeugung solche
Urteile gefällt werden. Die logischen Positivisten pfle
gen zum Beispiel alle Philosophen, die mit ihnen nicht
einverstanden sind, als Metaphysiker zu brandmarken.
Metaphysik ist aber nach ihnen Unsinn im strengsten
Sinne des Wortes, Ein Metaphysiker produziert Laute,
sagt aber gar nichts. Ebenso die Kantianer: für sie sind
alle, die anderer Meinung sind als Kant, Metaphysiker;
das bedeutet freilich bei ihnen nicht, daß sie Unsinn
sagen, sondern daß sie überholt und unphilosophisch
sind. Und über die souveräne Verachtung der Existenz
philosophen allen anderen gegenüber brauche ich gar
nicht zu sprechen. Sie ist allgemein bekannt.
Nun, um Ihnen meine persönliche bescheidene Mei
nung zu formulieren, empfinde ich angesichts dieses
festen Glaubens an die eine oder andere Auffassung
der Philosophie ein gewisses Unbehagen. Es scheint mir
sehr vernünftig zu sein, wenn man behauptet, der Phi
losoph solle sich mit der Erkenntnis, mit den Werten,
mit dem Menschen und mit seiner Sprache beschäftigen.
Aber warum nur damit? Hat irgendein Philosoph be
wiesen, daß es keine anderen Gegenstände des Philo
sophierens gibt? Wer das behauptet, dem muß icE, wie
Mephistopheles bei Goethe, zuerst Collegium Logiciim
raten, damit er einmal lerne, was ein Beweis eigentlich
ist. Nichts solches wurde je bewiesen. Und sehen wir
uns in der Welt um, dann scheint mir diese voll von
ungelösten Fragen zu sein — von wichtigen Fragen,
und zwar solchen, die zu allen genannten Gebieten ge
hören, aber von einer Spezialwissenschaft weder behan
delt sind noch behandelt werden können. Beispiel einer
solchen Frage ist das Problem des Gesetzes. Ein mathe
matisches Problem ist es sicher nicht; der Mathematiker
kann seine Gesetze ruhig formulieren und erforschen,
ohne sich je diese Frage zu stellen. Der Sprachwissen
schaft gehört sie auch nicht; denn es handelt sich nicht
um die Sprache, sondern um etwas in der Welt oder
wenigstens im Gedanken. Das mathematische Gesetz ist
aber andererseits auch kein Wert, es ist nicht etwas, was
sein soll, sondern was ist, gehört also gar nicht in die
Werttheorie. Will man die Philosophie auf irgendeine
Spezialwissenschaft einschränken oder auf eine der
Disziplinen, die ich aufgezählt habe, dann kann man
dieses Problem überhaupt nicht erörtern, es findet kei
nen Platz. Und doch ist es ein echtes und wichtiges Pro
blem. \
Es sieht also so aus, als ob man die Philosophie weder
mit den Spezialwissenschaften gleichsetzen noch auf ein ^
besonderes (xebiet einschränken sollte. Sie ist in gewis- J
sem Sinne eine Universalwissenschaft, ihr Gebiet ist
nicht wie jenes anderer Disziplinen auf etwas Be
schränktes, Bestimmtes eingeschränkt.
1st es aber so, dann kann es vorkommen und kommt
wirklich vor, daß die Philosophie sich mit denselben
Cxegenständen befaßt, mit welchen auch andere Wissen
schaften zu tun haben. Worin unterscheidet sich dann

Philosophie von dieser Wissenschaft? Die Antwort auf


diese Frage lautet, daß sie sich ebensowohl durch ihre
Methode wie auch durch den Gesichtspunkt unterschei-

U
det. Durch ihre Methode — weil der Philosoph sich den
Gebrauch keiner unter den vielen Methoden der Er
kenntnis verbietet. Er ist zum Beispiel nicht wie ein
Physiker verpflichtet, alles auf die sinnlich beobacht
baren Phänomene zurückzuführen, das heißt, sich auf
die empirisch-reduktive Methode zu beschränken; er
kann auch die Einsicht in das Gegebene gebrauchen und
a n d e r e s m e h r.
Anderseits unterscheidet sich die Philosophie von den
anderen Wissenschaften durch ihren Gesichtspunkt.
Wenn sie nämlich einen Gegenstand in Betracht zieht,
sieht sie ihn immer und ausschließlich sozusagen vom
Standpunkt der Grenze, der grundlegenden Aspekte.
In dem Sinne ist die Philosophie eine Grundlagen
wissenschaft. Dort, wo andere Wissenschaften stehen
bleiben, wo sie, ohne weiter zu fragen, Voraussetzungen
annehmen, fängt der Philosoph erst an zu fragen. Die
Wissenschaften erkennen — er fragt, was ist das Er
kennen; die andern stellen Gesetze auf — er stellt sich
die Frage, was ein Gesetz sei. Der Alltagsmensch und
der Politiker sprechen vom Sinn und von der Zweck
mäßigkeit — der Philosoph aber fragt, was man unter
Sinn und Zweck eigentlich verstehen soll. Somit ist auch
die Philosophie eine radikale Wissenschaft — in dem
Sinne, daß sie auf die Wurzeln geht, und tiefer als
irgendeine andere; daß sie dort, wo die andern zufrie
den sind, weiterfragt und weiterforschen will.
Wo die eigentliche Grenze zwischen einer Spezial-
wissenschaft und der Philosophie liegt, ist oft nicht
l'eicht zu sagen. So ist zum Beispiel die im Laufe unseres
Jahrhunderts sich so schön entwickelnde Grundlagen
forschung in der Mathematik ganz sicher eine philo
sophische Forschung, aber gleichzeitig ist sie mit den

82
mathematischen Untersuchungen eng verbunden. Es
gibt jedoch einige Gebiete, in welchen die Grenze klar
ist. Dies ist einerseits die Ontologie, die Disziplin, wel
che nicht von diesem oder jenem, sondern von den all
gemeinsten Sachen, wie dem Ding, der Existenz, der
kligenschaft und ähnlichem, handelt. Anderseits gehört
h i e r h i n d a s S t u d i u m d e r We r t e a l s s o l c h e r — n i c h t w i e
sie sich in der Entwicklung der Gesellschaft zeigen, son
dern in sich selbst. In diesen beiden Gebieten grenzt die
Philosophie einfach an nichts — es gibt überhaupt keine
Wissenschaft außer ihr, die sich mit diesen Gegenstän
den befaßt oder befassen kann. Und die Ontologie wird
dann in den Forschungen auf anderen Gebieten voraus
gesetzt, womit schon ein Unterschied im Hinblick auf -
andere Wissenschaften, die von der Ontologie nichts
wissen können, zustande kommt.
^So wurde die Philosophie von den meisten großen
Philosophen aller Zeiten gesehen. Eine Wissenschaft,
also keine Dichtung, keine Musik, sondern ein ernstes,
nüchternes Forschen. Eine Universalwissenschaft in dem

Sinne, daß sie sich keinem Gebiete verschließt und jede


Methode benützt, die zugänglich ist. Eine Wissenschaft
der Grenz- und Grundlagenprobleme — somit auch
eine Radikalwissenschaft, die sich mit den Vorausset
zungen der anderen Disziplinen nicht zufrieden erklärt,
sondern weiter bis zu den Wurzeln forschen will^
Man muß auch sagen, daß sie eine furchtbar schwie
rige Wissenschaft ist. Wo fast alles immer in Frage
gestellt wird, wo keine überlieferten Voraussetzungen
und Methoden gelten, wo man die sehr komplizierten
Probleme der Ontologie immer vor Augen halten muß,
kann die Arbeit nicht leicht sein. Kein Wunder, daß die
Meinungen in der Philosophie so sehr auseinander-

a'a
gehen. Ein großer Denker und kein Skeptiker — im
Gegenteil, einer der größten Systematiker der Ge
schichte —, der heilige Thomas von Aquin, hat einmal
gesagt, daß nur wenige Menschen und erst nach langer
Zeit und nicht einmal ohne Zumischung von Irrtümern
die Grundfragen der Philosophie lösen können.
Aber der Mensch ist schon zum Philosophieren be
stimmt, ob er es will oder nicht. Ich darf Ihnen aber
abschließend noch eines sagen. Trotz der ungeheuren
Schwierigkeiten, die es mit sich bringt, ist das Philoso
phieren eine der schönsten und edelsten Sachen, die es
im menschlichen Leben geben kann. Wer auch nur ein
mal mit einem echten Philosophen in Berührung ge
kommen ist, wird sich immer von ihr angezogen fühlen.
DIE ERKENNTNIS
r

Am Ende des fünften Jahrhunderts vor Christus lebte


in Sizilien ein griechischer Philosoph namens Gorgias
aus Leontinoi. Er soll vor allem drei Sätze aufgestellt
und geschickt verteidigt haben; erstens: Es gibt nichts;
zweitens: Wenn es auch etwas gäbe, so könnten wir es
nicht erkennen; drittens: Gesetzt, daß etwas da und er
kennbar wäre, könnten wir es doch den anderen nicht

sagen. Es ist nun nicht sicher, ob Gorgias diese Behaup


tungen selbst ernst nahm — vielleicht, so sagen einige
Gelehrte, handelte es sich bei ihm nur um einen Scherz.
Jedenfalls sind diese drei Sätze von ihm überliefert
worden, und seitdem — seit vierundzwanzig Jahrhun
derten — stehen sie vor jedem unter uns als eine Auf
forderung zum Nachdenken. Ich bin persönlich der Mei
nung, daß wir diese Aufforderung ernst nehmen soll
ten, so ungeheuerlich auch und merkwürdig die drei
Sätze aussehen. Ich werde noch weiter gehen: Es scheint
mir, daß es kaum einen Menschen gibt, der nicht wenig
stens einmal im Leben sich diese Fragen in irgend
einer Weise gestellt hat. Ist das bei Ihnen nicht der
Fall gewesen, so wird es wahrscheinlich noch kommen.
Die Gorgiasischen Sätze sind damit ganz sicher wichtige
Sätze.
Man könnte sich freilich denken, daß solche skepti
schen Zweifel eigentlich nur eine Spielerei seien ohne
jede reale Bedeutung für das Leben. So ist es aber nicht.
Denn würde jemand diese Sätze annehmen, dann müßte
für ihn jeder Lebensernst verschwinden: alles würde
ihm zum Schein und Trug. Und dann würde jeder Sinn

35
des Lebens, jeder Unterschied zwischen Echtem und
Falschem, zwischen Richtigem und Schiefem, zwischen
Gutem und Bösem zugrunde gehen. Es ist eine ernste
Angelegenheit. Dazu kommt noch, daß es keineswegs
an Gründen fehlt, die für Gorgias und gegen unsere
gewöhnliche Sicherheit, daß es Dinge und erkennbare
Dinge in der Welt gibt, sprechen. Es wird schon besser
sein, sich einmal die Frage um diese drei Sätze klar zu
stellen und zu versuchen sie zu beantworten. Ich möchte
Sie also heute zu einer Meditation darüber einladen.
Zweitausend Jahre nach Gorgias hat ein anderer
Philosoph, der Franzose Rene Descartes, eine solche
Meditation für sich durchgeführt. Es wird vielleicht am
besten sein, ihm wenigstens in der Darstellung der
Gründe für den Zweifel zu folgen.
Wir bemerken also, Descartes folgend, daß unsere
Sinne uns nur zu oft getäuscht haben. Ein rechteckiger
Tu r m s i e h t v o n w e i t e m r u n d a u s . M a n c h m a l m e i n e n w i r
etwas zu hören oder zu sehen, was gar nichts ist; einem
Kranken scheinen manchmal auch süße Speisen bitter.
D i e s a l l e s s i n d w o h l b e k a n n t e Ta t s a c h e n . D a z u k o m m t

noch, daß wir Träume haben, und oft ist es so, daß wir
während des Traumes sicher zu sein glauben, daß der
Traum Wirklichkeit sei. Wie können wir nun wissen,
daß wir auch jetzt nicht träumen? In diesem Augen
blick glaube ich, daß dieser Tisch und das Mikrophon
und die hellen Lampen rings herum wirklich sind. Was
aber, wenn es ein Traum wäre?

Ja, könnte man sagen, wenigstens dessen kann ich


sicher sein, daß ich Hände und Füße habe. Jedoch auch
das ist nicht so sicher, wie es zu sein scheint. Es erzählen
nämlich Leute, welche eine Hand oder einen Fuß ver
loren haben, daß sie noch lange Zeit nach der Amputa-
tion heftige Schmerzen in den Gliedern fühlen, die sie
nicht mehr haben. Und die moderne Wissenschaft lie
fert uns noch viele andere Argumente derselben Art;
so wissen wir zum Beispiel aus der Psychologie, daß
man durch einen Schlag auf das Auge des Patienten
ihn Licht sehen lassen kann — ein Licht, das ja gar
nicht da ist. Es scheint also zu folgen, daß alles, was
uns umgibt, und sogar unser eigener Körper ein Schein
s e i n k ö n n t e o d e r e i n Tr a u m .

Einige sagen nun, daß wenigstens die mathematischen


Wahrheiten mit Gewißheit erkannt werden können.
Die Sinne können uns täuschen, sagen sie, aber der Ver
stand erfaßt mit Gewißheit seine Gegenstände. Auch
das kann aber leicht widerlegt werden. Denn Irrtümer
kommen auch in der Mathematik vor; wir alle irren
uns im Rechnen von Zeit zu Zeit, und dies ist auch bei
den größten Mathematikern vorgekommen. Dann
kommt es auch vor, daß wir im Traum rechnen und
falsch rechnen, ohne es zu bemerken. Es folgt, daß der
Verstand uns ebenso täuschen könnte, wie es die Sinne
tun.

Gibt es also nichts Sicheres, das nicht mehr zweifel


haft wäre? Descartes meinte, so etwas in seinem eigenen
Ich gefunden zu haben. Er sagt, wenn ich mich täusche,
muß ich auch sein; denn um zu denken — und Zweifeln
oder Sich-Täuschen ist ja Denken —, muß man exi
stieren. Darum sein berühmter Spruch: (]ogito ergo
sum — ich denke, also bin ich. Dann hat er mit Hilfe
einer ziemlich komplizierten Akrobatik aus diesem „Ich
bin" den Beweis abzuleiten versucht, daß es auch andere

Dinge gibt
Die meisten Philosophen, die seine Gedankengänge
untersucht haben, sind aber mit dieser Seite seines
Systems nicht einverstanden. Sie sagen, und mir scheint
mit Recht, daß Descartes zwei ganz verschiedene Sachen
verwechselt hat: den Inhalt des Denkens und den Den
kenden selbst. Zwar meinen wir alle, daß, um irgend
ein Denken zu haben, schon ein Denkender dasein
muß — falls man aber alles, auch die mathematischen
Wahrheiten, in Zweifel gezogen hat, wird auch diese
Wahrheit fraglich. Wir haben vom cartesianischen
Standpunkt aus kein Recht, dies zu behaupten. Somit
beweist das Cogito nur eines, daß es nämlich ein Denken
gibt — wobei hier das Wort „gibt" einfach bedeutet,
daß solche oder andere Inhalte vorschweben. Ein
Schluß auf die Existenz, auf das Dasein des Denkenden
ist ganz unberechtigt. Man sollte — so bemerkte bos
haft ein späterer Philosoph — nicht sagen: Ich denke,
also bin ich — sondern: Ich denke, also bin ich nicht.

Es folgt also, daß wir überhaupt keinen Grund haben,


irgend etwas als sicher Existierendes anzunehmen. Es
könnte sehr wohl so sein, daß, wie Gorgias sagte, es
nichts gibt und wir nichts erkennen können. Alles wäre
dann ein bloßer Schein, eine — um mit Dostojewski]
zu sprechen — durch einen Idioten erzählte Geschichte.
Nun bin ich mir wohl bewußt, daß diese idiotische
Geschichte den meisten unter uns unsympathisch ist. Es
handelt sich aber nicht um Sympathien und Antipathien.
Trotz allem, was gewisse dichterische Philosophen er
zählt haben, kann auch die größte Liebe ihren Gegen
stand nicht schaffen. Darüber, ob es etwas gibt oder
nicht gibt, kann man nicht durch Wünsche entscheiden.
Man muß zu wissen versuchen. Wir müssen das Pro

blem verstandesmäßig angreifen.


Wie aber? Ein Physiker, ein Botaniker, ein Historiker
und wir alle im Alltagsleben setzen voraus, daß es

.^-58
Dinge gibt und daß wir sie erkennen können. Hier steht
aber diese Voraussetzung selbst in Frage. Es handelt
sich bei dem Wege um einen jener Fälle, in welchen
etwas mehr als die speziellen Wissenschaften notwendig
ist — wo man sozusagen unmittelbar die Rolle und die
Wichtigkeit der Philosophie sehen kann.
Wie also sollen wir vorgehen? Eines ist klar: einen
Beweis, in welchem aus etwas schon Erkanntem etwas
anderes erschlossen wird, können wir hier nicht haben.
Denn der Skeptiker, wie Gorgias, bezweifelt alles, also
auch unsere Voraussetzungen. Er würde auch die Regel,
nach welcher wir schließen, in Zweifel ziehen. Diesen

Weg können wir also nicht beschreiten.


Was bleibt also? Mir scheint, daß drei andere Wege
vor uns offenstehen. Wir können zuerst sehen, ob der
Skeptiker sich selbst nicht widers[nicht. Wäre das näm
lich der Fall, dann würde er eigentlich nichts Zusammen
hängendes, also nichts Verständliches sagen — das
heißt aber, daß er eigentlich nichts gesagt hätte.
Wir können zweitens sehen, ob und wie sich seine
Annahmen heiz'ähren, ob sie mit unserer Erfahrung zu
sammenstimmen, so etwa wie es die Physiker tun, wenn
sie eine Hypothese verifizieren wollen.
Endlich können wir zu sehen versuchen, ob es nicht
so ist, daß alle diese durch Gorgias geleugneten Sachen
evideiit sind, das heißt, daß es ganz klar so ist, wie wir
es meinen.

Der erste Weg war schon im Altertum begangen.


Sagt der Skeptiker nämlich, daß man nichts erkennen
kann, dann kann man ihn fragen, wieso er eine solche
Behauptung aufstellen darf ? Ist er der Wahrheit seines
Satzes sicher? Wenn ja, dann gibt es doch etwas
Sicheres und etwas Erkennbares. Also ist der Satz, daß
nichts erkennbar ist, falsch. Und ist etwas erkennbar,
so muß es auch in irgendeiner Weise sein, existieren.
Man erzählt von einem griechischen Skeptiker namens
Krates, daß er dies eingesehen hatte und deshalb nichts
sagte, sondern nur den Finger bewegte. Aber Aristoteles,
der große Meister des europäischen Denkens, bemerkte,
daß er auch dazu kein Recht hätte, denn die Bewegung
des Fingers will doch eine Meinung ausdrücken, und
Meinungen darf der Skeptiker nicht haben. Fr soll — so
sagte Aristoteles — einer Pflanze ähnlich sein. Mit
einer Pflanze kann man aber unmöglich diskutieren,
weil sie ja nichts sagt.
Ich weil^ nun nicht, ob Ihnen diese Argumentation
überzeugend erscheint. Es sei aber bemerkt, daf^ die
mathematische Logik gewisse ziemlich ernste Bedenken
gegen sie gebracht hat. Sie stützen sich auf die sogenannte
Typentheorie. Ich kann hier diese eher komplizierte
Theorie leider nicht besprechen, möchte Sie nur vor
allzu grof^em Vertrauen dieser skizzierten Argumen
tation gegenüber warnen.
Dagegen scheint der zweite Weg zuverlässig zu sein.
Falls wir nämlich voraussetzen, daß es wirklich Dinge
um uns gibt und daß wir sie wenigstens einigermaf^en
erkennen können, so stimmt ziemlich alles, was wir er
fahren, damit überein. Der Linterschied zwischen dem,
was wir „Wirklichkeit" nennen, und dem Schein besteht
vor allem darin, daß die Wirklichkeit geordnet ist —
daß in ihr Gesetze walten, während der Schein keine
solche Ordnung aufweist. Nun stellen wir fest, dai^ in
der Welt, wie wir sie erfahren, eine solche Ordnung
tatsächlich fast überall herrscht. Nehmen wir ein Bei

spiel: Ich lege mich ins Bett, und bevor ich einschlafe,
s e h e i c h m e i n e n N a c h t t i s c h m i t d e m We c k e r. A m M o r -
gen steht er weiter da, und der Wecker ist auch nicht
verschwunden, ja, es liegt mehr Staub auf dem Tisch
als am Abend. Dies läßt sich am besten erklären, falls
man annimmt, daß es wirklich einen Nachttisch, einen
Wecker, ein Zimmer und so weiter gibt, und daß ich
diese Dinge erkenne. Oder ich sehe eine Katze, die
links erscheint, dann hinter meinem Rücken verschwin
det und wieder auf der rechten Seite auftaucht. Das
kann man wieder am besten dadurch erklären, daß man
sagt, es gibt eine wirkliche Katze, die hinter meinem
Rücken weitergeht. Natürlich könnte der Skeptiker
sagen, das alles sei Schein, aber geordneter Schein —
jedoch ist es sicher einfacher, eine Wirklichkeit an
zunehmen.

Endlich — und das scheint mir der beste Weg zu


sein — kann man bemerken, daß die Falschheit der
Sätze von Gorgias einfach evident ist: wir sehen näm
lich klar, daß es etwas gibt, manches haben wir mit
Sicherheit darin erkannt und auch den anderen Men
schen mitgeteilt. Sagt man uns aber, das sei alles ein
Traum — so antworten wir einfach, daß es kein Traum
ist. Es gibt Fälle und viele Fälle, in welchen wir uns
irren können, aber jeder kennt Lagen, in welchen über
haupt kein vernünftiger Zweifel möglich ist. Ich bin
zum Beispiel jetzt ganz und gar absolut sicher, daß ich
sitze und nicht stehe und daß die Lampe vor mir brennt.
Ebenso sicher bin ich, daß fünf mal achtzehn neunzig
macht. Daraus, daß ich mich hie und da geirrt habe,
folgt nämlich gar nicht, daß dies immer der Fall wäre.
Ich würde also gegen Gorgias die folgenden drei
Sätze aufstellen: erstens: Es gibt ganz sicher etwas;
zweitens: Wir können ganz sicher etwas daraus er
k e n n e n : d r i t t e n s : E s i s t a u c h k l a r u n d s i c h e r, d a ß w i r

41
einiges unter dem Erkannten den anderen Menschen
mitteilen können. Und solange mir jemand kein besseres
Argument bringen wird als jene, die ich bei Descartes
finde, sehe ich keinen Grund, meine Meinung zu ändern.
Damit ist schon viel gewonnen — jedoch nicht so
viel, wie man zuerst glauben könnte. Denn erstens
haben wir bis jetzt keinen Nachweis, daß es eine Wirk
lichkeit außei- dem Bewußtsein gibt. Das ist eine ganz
andere und viel schwierigere frage, die wir in der
nächsten Meditation behandeln werden. Es könnte
nämlich auch so sein, daß es zwar Dinge gibt und eine
Wirklichkeit, daß diese aber sich ganz innerhalb unseres
Denkens befinden. Wir hätten auch in diesem Falle eine

Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Schein —


jedoch nicht zwischen dem Inneren und Äußeren. Dar
über aber später.
Weiter folgt aus unseren Ausführungen gar nicht,
daß wir alles, was Vvdr zu sehen glauben, auch wirklich
vor uns so haben, wie wir es sehen. Daß es etwas gibt,
ist sicher; wie aber die Dinge in der Welt beschaffen
sind, ist eine andere Frage. Viele Menschen, die keine
Skeptiker sind, glauben, daß es zum Beispiel in der
Welt keine Farben gibt. Auch diese Frage gehört nicht
hierhin und ist keineswegs durch unsere heutige Unter
suchung entschieden.
Drittens — das sollte selbstverständlich sein — gibt
es ganz sicher mehr Dinge, als wir kennen, und wir er
kennen mehr, als wir den anderen mitteilen können.
Soviel, um Mißverständnisse zu vermeiden.
Ich möchte noch in diesem Zusammenhang zwei
philosophische Meinungen besprechen, mit welchen ich
persönlich nicht einverstanden bin, welche aber heute
weit verbreitet sind. Es handelt sich einerseits um den

42
Primat des Ich, andrerseits um die vermeinte Not
wendigkeit in unserer Frage, zu emotionalen Erleb
n i s s e n Z u fl u c h t z u n e h m e n .
Es gibt heute ziemlich viele Denker, die glauben,
meine eigene Existenz sei für mich sicherer als alles
andere — oder sogar das einzige ganz Sichere. Nun
wird niemand — außer den Skeptikern — daran zwei
feln, daf^ er selbst wirklich existiert. Ich kann aber nicht
einsehen, warum dies sicherer sein sollte als die Tat
sache, daß es etwas in der Welt gibt. Mir scheint sogar,
daß der letztgenannte Satz Es gibt etwas eine gewisse
Priorität vor dem Satz Ich bin besitzt. Denn mich selbst
erkenne ich sozusagen erst auf Umwegen. Zuerst bin
ich auf den Gegenstand gerichtet, ich erfasse etwas in
der Welt — vielleicht schlecht, vielleicht oberflächlich,
aber mit größter Gewißheit. Daß es etwas gibt, und
zwar zuerst etwas, was vor mir liegt — ein Nicht-Ich,
wie die Philosophen zu sagen pflegen —, das scheint die
sicherste Wahrheit zu sein.

Einige andere neuere Philosophen — wie ich glaube,


dem Scholastiker Joannes Duns Scotus folgend — meinen,
daß die volle Gewißheit über die Existenz der Welt
und der Dinge in der Welt nicht durch bloße Erkenntnis
erreicht werden kann, sondern daß dazu die sogenann
ten emotionalen Erlebnisse — etwa Angst, Furcht,
Liebe, Haß — notwendig sind. Man führt in diesem
Zusammenhang die berühmte Beschreibung eines Erd
bebens durch den amerikanischen Philosophen William
James an und sagt, dal^ erst ein solches Erlebnis den
Menschen ganz sicher macht, daf^ es eine Welt gibt.
Diese Lehre wurde vor allem durch den deutschen Den
ker Wilhelm Dilthey entwickelt; ihm folgen viele zeit
genössische Philosophen.

4.S
Ähnliches hört man manchmal in Gestalt einer popu
lären Widerlegung des Skeptizismus: Schlagen Sie, so
sagt man, den Skeptiker auf den Kopf, dann wird er
schon begreifen, daß es etwas außer ihm gibt, nämlich
ihre Faust. Dies scheint einleuchtend zu sein — wer
würde das Dasein einer Faust, die ihn schlägt, be
zweifeln? Nun bezweifle ich sie gar nicht, sehe aber
kaum, wie sie uns in unserer Frage helfen könnte, und
dasselbe gilt auch vom Erdbeben, von Haß, Liebe und-
soweiter. Denn was erlebe ich, wenn jemand mich auf
den Kopf schlägt? Einerseits fühle ich durch den Tast
sinn die Hand; andererseits erlebe ich den Schmerz, die
Wut undsoweiter. Würde man nun voraussetzen, daß
uns die Sinne immer täuschen — wie es die Skeptiker
tun —, dann würde das erste überhaupt nichts beweisen
für die Existenz dieser Faust. Und der Schmerz oder
die Wut noch viel weniger, da man sehr wohl Schmer
zen oder Wut erleben kann, ohne daß irgend etwas von
draußen auf uns wirkt. Entweder wissen wir also schon

erkenntnismäßig, daß es etwas gibt, oder wir werden


es nie durch solche Erlebnisse erfahren — diese setzen
nämlich die Gültigkeit des Erkennens schon voraus. Ist
diese nicht gegeben, so können sie nichts helfen.
Mit dem Skeptizismus ist es nämlich so, daß man ihm
keine Zugeständnisse machen soll. Macht man auch die
kleinsten, dann ist. man sehr schnell verloren. Und das
tun ebensowohl jene, welche die Evidenz, daß es etwas
vor uns gibt, leugnen, wie auch jene, die an der Ge
wißheit unserer Erkenntnis zweifeln und ihr durch

Angst, Ekel, Wut und sonstiges helfen möchten. In bei


den Fällen faßt der Skeptizismus den ihm preisgegebenen
Finger und zieht den Philosophen in seinen Sumpf
hinein

4 4
Jedoch ist die Tatsache, daß es einen Sumpf gibt, daß
es einmal einen Gorgias mit seinen drei Sätzen gegeben
hat, nicht ohne Bedeutung und nicht ohne Nutz für den
nüchtern denkenden Philosophen. Was der Skeptiker da
sagt, ist freilich ungeheuerlich übertrieben und deshalb
einfach falsch. Aber einen wahren Kern enthält seine

Übertreibung doch. Dieser besteht darin, daß unsere Er


kenntnismöglichkeiten sehr, ich möchte sagen, tragisch
klein sind. Wir wissen sehr wenig, und auch das, was
wir wissen, ist uns nur zu oft oberflächlich und ohne Ge
wißheit gegeben. Das meiste in unserem Wissen ist ja
nur wahrscheinlich. Es gibt schon absolute, unbedingte
Gewißheiten, aber diese sind selten. Der Mensch be
wegt sich in der Welt wie ein Blinder durch langsames
Tasten und Versuchen, mit seltenen klaren Einsichten
und seltenem sicherem Erfolg. Einer, der glauben würde,
wir erkennen alles und erkennen es vollständig und
können alles, was wir erkennen, mitteilen, ein solcher
Mensch würde eine ebenso große und ebenso falsche
Übertreibung begehen wie der Skeptiker.
Denn in den philosophischen Fragen — das ist die
Lehre, welche uns immer und immer aus dem Nach
denken über die großen Probleme kommt — ist nichts
einfach. Jede einfache Lösung ist eine falsche Lösung.
Sie ist gewöhnlich ein faule Lösung — wie der Skeptizis
mus, der uns von jeder Pflicht der mühsamen Forschung
befreit, weil es nach ihm nichts zu Erforschendes gibt.
Die Wirklichkeit ist aber ungeheuer komplex und die
Wahrheit über sie muß auch ungeheuer komplex sein.
Nur durch lange und mühsame Arbeit kann sich der
Mensch einiges aus ihr, nicht vieles, aber doch einiges,
aneignen.

45
DIE WAHRHEIT

In unserer letzten Meditation haben wir uns mit der

Frage beschäftigt, ob es überhaupt Dinge gibt und ob


wir sie erkennen können; anders gesagt, wir haben uns
gefragt, ob es Wahrheit gibt. Denn eine richtige Er
kenntnis ist eine wahre Erkenntnis; hat man etwas er
kannt, dann weiß man, daß es wahr ist, zu sagen, es sei
so oder so. Heute wollen wir uns einem anderen Pro
blem zuwenden, nämlich der Frage: Was ist die Wahr
heit? Diese alte, Christus von Pilatus einmal gestellte
Frage ist nämlich eines der interessantesten, aber auch
schwierigsten philosophischen Probleme.
Was bedeutet es nun, wenn wir sagen, daß ein Satz,
ein Urteil wahr ist — oder auch, wenn wir sagen, daß
ein Mensch ein wahrer Freund ist? Es ist leicht einzu

sehen, was man dabei meint: man meint, etwas sei


wahr, wenn dieses Etwas zutrilft. So sagen wir, Fritz
sei ein wahrer Freund, wenn er mit unserem Ideal eines
w a h r e n F Te u n d e s ü b e r e i n s t i m m t , w e n n d i e s e s a u f i h n
zutrifft.

F l s i s t l e i c h t e i n z u s e h e n , d a ß d i e s e s Z u t r e ff e n s o z u

sagen in zweifacher Richtung vorkommen kann. F^in-


mal so, daß ein Ding einem Gedanken entspricht — so,
wenn man sagt: dieses Metall sei wahres Gold, oder:
dieser Mensch sei ein wahrer Held. Dann entspricht das
Ding dem (»edanken. Diese erste Art des Wahren und
der Wahrheit pflegen die Philosophen manchmal „onto-
logisch" zu nennen: es handelt sich um die sogenannte
ontologische Wahrheit. In anderen Fällen ist es aber
umgekehrt der Gedanke, das Urteil, der Satz undso-
weiter, die wahr heißen, wenn sie dem Ding entspre
chen. Diese zweite Art des Wahren hat ein Kennzeichen,
durch welches man sie leicht erkennen kann: wahr sind
in diesem zweiten Sinne nur Gedanken, Urteile, J
Sätze — nicht aber Dinge in der Welt. Diese zweite Art
der Wahrheit heißt bei den Philosophen „logische
Wahrheit".
Wir wollen uns hier auf die letztgenannte Art be
schränken und die erste, welche besonders schwierige
Probleme stellt, nicht berühren.
Was nun die logische Wahrheit ist, kann man an
Hand eines Beispieles verstehen. Nehmen wir die Aus-
^ sage: „Die Sonne leuchtet heute." Diese Aussage — also
auch der ihr entsprechende Gedanke — ist genau dann
wahr, wenn die Sonne heute tatsächlich leuditet. Man
sieht daraus, daß eine Aussage und ein Satz genau dann
^ logisch wahr sind, wenn es so ist, wie sie besagen. Ist
es anders als sie sagen, dann sind sie falsch. Das scheint
klar und selbstverständlich zu sein. Und doch ist die
Sache bei weitem nicht so einfach, wie man zuerst meinen
könnte. Es gibt nämlich im Hinblick auf sie zwei große
und schwierige Probleme.
' Das erste Problem kann in folgender Weise gestellt
werden. Ist ein Satz genau dann wahr, wenn es so ist,
wie er sagt, dann muß er immer unbedingt wahr oder
falsch sein, ganz unabhängig davon, wer ihn aussagt
und wann er ausgesagt wird. Anders gesagt, wenn ein
Satz wahr ist, so ist er absolut wahr, für alle Mensclien
und alle Zeiten.
Nun erheben sich dagegen verschiedene Bedenken.
Diese sind teilweise so gewichtig, daß manche Philo
sophen und auch manche Nicht-Philosophen zu sagen
pflegen, die Wahrheit sei relativ, bedingt, veränderlich
undsoweiter. Die Franzosen haben sogar ein Sprichwort,
welches sagt: „Wahr diesseits der Pyrenäen, falsch
jenseits/' Und es ist heute fast eine Mode geworden,
zu behaupten, die Wahrheit sei relativ. Was sind nun
die Gründe für eine solche Auffassung?
Einige dieser Gründe sind oberflächlich und lassen
sich leicht widerlegen. So zum Beispiel sagt man, daß
der Satz „es regnet heute" nur relativ wahr sei, weil es
in Rom regnet, in München aber nicht; also ist dieser
Satz wahr in Rom. aber falsch in München. Oder wie in
der indischen Geschichte über die Blinden, deren einer
das Bein des Elefanten faßte und sagte, der Elefant sei
wie ein Baum, der andere aber den Rüssel faike und
behauptete, er sei wie eine Schlange.
Alles das sind Mißverständnisse. Es genügt, die ge
nannten Sätze voll zu formulieren, klar zu sagen, was
gemeint ist, um einzusehen, daß hier von keiner
Relativität die Rede sein kann. Wenn jemand sagt, es
regnet heute, meint er offenbar, dai^ es hier in Mün
chen regnet, und zwar an einem bestimmten Tag und zu
einer bestimmten Stunde, nicht aber, daß es überall
regnet. Sein Satz ist also unbedingt für alle Menschen
und Zeiten wahr. Auch die Erfahrung jener Blinden
mit dem Elefanten beweist nichts gegen den unbeding
t e n C h a r a k t e r d e r Wa h r h e i t . S i e h a b e n s i c h n u r u n v o r

sichtig ausgedrückt; hätte jeder von ihnen gesagt: „Der


Elefant ist, sofern es sich um das Glied handelt, welches
ich berührt habe, gleich einem Baum" undsoweiter, so
wäre der Satz unbedingt wahr. Die Schwierigkeit
stammt hier aus einer unzureichend ausgedrückten
Formulierung der Sätze. Sind diese einmal ausdrücklich
formuliert, dann zeigt sich, daß sie unbedingt wahr oder
unbedingt falsch sind und gar nicht relativ.

48
Wir kennen aber auch ernstere Bedenken gegen die
Unbedingtheit der Wahrheit. Im Gegensatz zur land
läufigen Meinung gibt es heute nidbt nur eine, son
dern mehrere Geometrien: neben jener von Euklid,
welche in den Schulen gelehrt wird, bestehen die
Geometrien von Rieman, von Lobatschewskij und noch
andere. Und zwar ist es so, daß gewisse Sätze, die
in einer dieser Geometrien wahr sind, in einer anderen
falsch sind. Fragt man also einen heutigen Geometer,
ob ein gewisser Satz wahr oder falsch sei, so muß er zu
erst fragen: In welchem^Sy^em? Die geometrischen
Sätze sind also in weitem Grad im Hinblick auf das

System relativ.
Schlimmer ist noch, daß dasselbe von der Logik gilt.
Auch in der Logik gibt es verschiedene Systeme, so daß
die Frage, ob ein gewisser logischer Satz wahr ist, ohne
Bezug auf ein bestimmtes System gar nicht beantwortet
werden kann. Zum Beispiel gilt der bekannte Satz vom
ausgeschlossenen Dritten — daß es regnet oder nicht
regnet — wohl in der sogenannten klassischen Logik
von Whitehead und Russell, aber nicht in der Logik
von Professor Hey ting. Die Wahrheit der logischen
Sätze ist also relativ in dem gesagten Sinne.
Man könnte nun meinen, daß es doch einen Weg
geben muß, um zu entscheiden, welches unter allen
diesen Systemen richtig ist, ob es stimmt oder nicht. So
einfach liegen aber die Dinge nicht. Handelt es sich
zum Beispiel um die Geometrie, so sagen die Fachleute,
daß die euklidische sich in unserer kleinen Umwelt gut
bewährt, daß aber im Weltraum eher eine andere auf
die Tatsachen paßt. Es wäre also so, daß ein Satz unter
gewissen Umständen wahr, unter anderen aber falsch
wäre. Dies ist ein gewichtiges Bedenken.

49
Nehmen wir nun an, daß es so weit ist, wie diese
Kenner es sagen, daß es im Gebiet der Mathematik und
der Logik verschiedene Systeme gibt und daß gewisse
Sätze in dem einen wahr, in dem anderen falsch sein
können. Es entsteht dann unmittelbar die Frage, was
veranlaßt uns, das eine und nicht ein anderes unter
diesen Systemen zu wählen? Es handelt sich doch nicht
um eine reine Willkür. Der Physiker — Einstein zum
Beispiel — hat eine bestimmte Geometrie nicht deshalb
gewählt, weil das ihm Spaß machte; er hatte dafür ernste
Gründe. Welche Gründe? Hier taucht eine Antwort auf,
welche von großer philosophischer Bedeutung ist. Diese
Antwort sagt, daß der Wissenschaftler und im allge
meinen der Mensch einen Satz oder ein System nicht
deshalb als wahr ansieht, weil sie auf die Wirklichkeit
zutreffen, sondern deshalb, weil dies ihm nützlich ist.
So zum Beispiel wählt ein Physiker eine nicht-eukli
dische Geometrie deshalb, weil er damit leichter, besser,
vielleicht überhaupt seine Theorien aufbauen und die
Wirklichkeit erklären kann.
Ist es aber so, dann soll man jene Sätze als wahr be
zeichnen, welche uns nützlich sind. Wahrheit ist Nütz
lichkeit — so sagt man. Das ist der sogenannte prag-
matistische Begriff der Wahrheit, welcher vor allem von
William James, dem berühmten und liebenswürdigen
amerikanischen Denker, entwickelt wurde und heute
viele Anhänger hat.
An dieser Lehre ist nun so viel richtig, daß es ganz
sicher Ausschnitte der Wissenschaft gibt, in welchen
wir Sätze nur deshalb annehmen, weil sie uns für die
weitere Forschung oder für den Aufbau von Theorien
nützlich sind. Zwei Sachen sind hier jedoch zu beachten.
Zuerst, daß wir in solchen Fällen eigentlich nicht wissen,

50
ob die betreffenden Sätze wahr oder falsch sind; sie
sind ja nur nützlich. Und warum sollte man diese Nütz
lichkeit gerade „Wahrheit" nennen und von der Rela
tivität der Wahrheit sprechen, das ist schwer einzusehen.
Zweitens, daß auch, wenn es sidi um die Nützlichkeit
handelt, wir nicht umhin können, wenigstens einige
wahre Sätze zu kennen — und ich meine „wahre" im
gewöhnlichen Sinn des Wortes. Ein Physiker hat zum
Beispiel eine Theorie aufgebaut und meint, sie sei nütz
lich; wie kann er das begründen? Nur so, daß er sie an
den Tatsachen erprobt. Das heißt aber wieder, daß er
gewisse Sätze aufstellt, die durch die direkte Beob
achtung bestätigt sein sollen. In irgendeinem Labora
torium schreibt dann irgendein Wissenschaftler zum
Beispiel den folgenden Satz: „Unter diesen und diesen
Umständen stand heute um 10 Uhr 20 Minuten 15
Sekunden der Zeiger des Amperemeters auf soundso
viel." Nun ist der letztgenannte Satz nur dann wahr,
wenn er wirklich zutrifft, wenn der Zeiger des Ampere
meters tatsächlich zu jener Zeit unter den genannten
Umständen dort stand und nicht anderswo. Also auch
als Pragmatist muß man zugeben, daß es gewisse wahre
Sätze gibt im aristotelischen Sinne; die übrigen nenne
man aber besser nicht „wahr", sondern einfach „nützlich".
Soviel über die erste Frage. Wir wenden uns jetzt der
zweiten zu. Sie lautet: Was ist dieses Etwas, mit dem
ein Satz übereinstimmen soll, um wahr zu sein? Man
könnte meinen, die Lage sei klar: der Satz muß mit der
Sachlage, mit dem Stand der Dinge, wie sie außer uns
sind, übereinstimmen, um wahr zu sein. Aber auch hier
gibt es Bedenken.
Nehmen wir zum Beispiel den Satz: „Diese Rose ist
rot." Wollen wir behaupten, daß er genau dann wahr

51
ist, wenn die Rose wirklich rot ist, dann hören wir, daß
es in der äußeren Welt überhaupt keine Röte gibt, denn
alle Farben entstehen erst in unseren Sehorganen als
Ergebnisse der Wirkungen gewisser Lichtwellen, die
auf unsere Augen fallen. Eine äußere Farbe gibt es gar
nicht. So lehren unsere Physiologen. Also kann es nicht
stimmen, daß unser Satz genau dann wahr ist, wenn er
auf die äußere Sachlage zutrifft; denn eine solche gibt es
gar nicht. Worauf muß also ein Satz zutreffen, um wahr
zu sein?

Diese und ähnliche Bedenken haben zahlreiche mo


derne Denker dazu veranlaßt, eine philosophische Lehre
anzuerkennen, die „erkenntnistheoretischer Idealismus"
heißt. Nach ihr gibt es zwar Dinge und unbedingte
Wahrheiten, aber alles das ist nicht draußen, sondern
i n d e m e i n e n o d e r a n d e rn Si n n e d e s Wo rte s i n u n s, i n
unserem Denken. Natürlich entsteht hier gleich die
Frage, wieso wir noch wahre Sätze und wirkliche Dinge
von falschen Sätzen und reinen Einbildungen unter
scheiden können. Darauf antworten aber die Idealisten,
daß der Unterschied auch von ihrem Standpunkte aus
vorhanden ist. Alles, was wir erkennen, ist zwar ein Er
zeugnis unseres Denkens, ist in uns; wir erzeugen einige
unter diesen Gegenständen nach Gesetzen, andere will
kürlich. Das war im wesentlichen die Lehre des großen
deutschen Philosophen Immanuel Kant, welchem noch
heute einige, obwohl wenig zahlreiche Philosophen fol
gen.
Um sich diese Lehre etwas zu vergegenwärtigen, wol
len wir auf unser Beispiel von der Katze zurückgreifen.
Die Katze kommt von links, geht dann hinter meinem
Rücken, verschwindet also für eine Weile, dann taucht
sie wieder rechts auf und geht weiter. Ich habe in der

52
letzten Meditation gesagt, daß die Sache sich am leidi-
testen so erklären läßt, daß man eine „äußere" Katze
annimmt, die hinter meinem Rücken weitergeht. Die
Idealisten können eine solche Katze nicht anerkennen,
denn ein Äußeres gibt es für sie im strengen Sinne des
Wortes gar nicht. Sie sagen aber, daß die Katze so weit
wirklidi ist, daß sie durdi mich nadi Gesetzen gedadit
wird. Sie ist deshalb keine Einbildung, sondern Wirk
lichkeit. Übrigens ist der ganze Raum, in welchem ich
mich mit der Katze befinde, mein eigener Körper und-
soweiter, auch wirklidi, das heißt: nach Gesetzen ge
dacht.

Es gibt also zwei mögliche Deutungen der Wahr


heit — die genannte idealistische und die andere, die
man realistisch nennt. Beide haben ihre großen Schwie
rigkeiten, und sich für die eine öder die andere zu ent
scheiden, ist sicher keine leichte Aufgabe. Jene, die mei
nen, der Idealismus sei einfach Unsinn, möchte ich dar
auf aufmerksam machen, daß sie ihn gar nicht verstan
den haben. Unsinnig wäre, wenn man die Wirklichkeit
und die Wahrheit leugnen würde; das tut aber der Idea
list gar nicht.
Die meisten heutigen Philosophen sind aber keine
Idealisten. Die Entscheidung gegen diese Auffassung
der Wahrheit und der Erkenntnis kommt bei ihnen
meistens im Laufe einer Überlegung der Frage, was
eigentlich die menschliche Erkenntnis ist. Nach dem
Idealismus muß man sagen, daß die Erkenntnis schöp
ferisch ist: sie schafft ihre Gegenstände. Nun ist es offen
bar, daß unser persönlicher, individueller Gedanke nur
sehr wenig schaffen kann, höchstens Gedankendinge,
Einbildungen, und auch diese bestehen meistens aus
Elementen, die nicht neu geschaffen, sondern nur unter-

53
einander verbunden sind — so zum Beispiel, wenn ich
mir eine Sirene denke: diese besteht nämlich aus einer
halben Dame und einem halben Fisch; um die Sirene zu
schaffen, muß ich beide irgendwo gesehen haben. Das
ist offenbar und sicher.
Deshalb sind die Idealisten gezwungen, ein zwei
faches Subjekt, einen zweifachen Gedanken, ein doppel
tes Ich anzunehmen: einerseits das sozusagen kleine,
persönliche Ich — dieses Ich nennen sie „empirisch" —
und ein großes, überpersönliches, transzendentales Ich,
oder das „Ich überhaupt". Es ist dieses zweite große,
transzendentale Ich, welches die Gegenstände schafft;
das kleine empirische Ich kann sie nur so nehmen, wie
sie durch das große „Ich überhaupt" gegeben sind.
Das alles ist aber, sagen die Gegner, die Realisten,
sehr problematisch und kaum glaubwürdig. Was soll
dieses transzendentale Ich sein, das eigentlich kein Ich
mehr ist, welches sozusagen über mir schwebt? Ein Un
ding, sagen die Realisten. So etwas gibt es gar nicht und
ist auch schwer faßbar. Dazu kommt noch, daß, wenn
wir unsere Erkenntnis näher betrachten, offenbar wird,
d a ß w i r i n i h r Ve r s c h i e d e n e s u n t e r e i n a n d e r k o m b i n i e

ren, verbinden, vielleicht hie und da auch etwas schaf


fen — aber im großen und ganzen besteht sie darin,
daß wir einen Gegenstand erfassen, der schon in irgend
einer Weise da ist, besteht, und zwar außer der Er
kenntnis.
Der Streit zwischen dem Idealismus und dem Realis
mus ist nun ein Streit über die Auffassung der Erkennt
nis: Besteht sie in einem Schaffen oder in einem Erfas
sen des Gegenstandes? Entscheidet man sich für die
idealistische Lösung, dann hat man mit wahrlich un
geheuren Schwierigkeiten zu kämpfen. Es ist viel bes-

54
ser — so sagen die Realisten —, sich an die erste Mei
nung zu halten, und dies um so mehr, als sie die Natur
der Erkenntnis besser wiederzugeben scheint.
Freilich hat auch die realistische Auffassung ihre
großen Schwierigkeiten. Eine habe ich schon genannt —
es ist die Schwierigkeit, die aus der wissenschaftlich be
legten Tatsache stammt, daß es in der Welt keine Far
ben zu geben scheint. Es sieht hier so aus, als ob wir,
wenigstens in diesem Falle, durch unsere Erkenntnis
etwas geschaffen hätten: die Farben. Wir mögen an
Hand dieser Schwierigkeit sehen, was die Realisten zu
antworten haben.
Sie sagen dazu ein zweifaches. Erstens, sagen sie, darf
man die Grenze zwischen dem Erkennenden und der
Außenwelt nicht an der mensdilichen Haut anlegen. Sie
liegt vielmehr dort, wo der Übergang zwischen den
physischen und den psychischen Vorgängen zustande
kommt. Was der Geist auffaßt, sind die Ereignisse, so
wie sie sich im Organismus zeigen. Tragen wir rote
Brillen, dann sehen wir die grünen Gegenstände
schwarz — jedoch wird niemand behaupten, daß wir
diese schwarze Farbe durch unsere Erkenntnis gesdhiaf-
fen haben — im Gegenteil, sie ist ja da als Ergebnis der
Wirkung der Brillen. Ähnlich ist es mit den Augen.
Die Realisten sagen zweitens, daß wir in sehr vielen
Fällen nicht die Dinge in sich selbst, sondern auf uns
wirkend erfassen, also erfassen wir dann das Verhält
nis zwischen den Dingen und unserem Körper. So zum
Beispiel, wenn wir die rechte Hand in heißes, die linke
in kaltes Wasser taudien, dann aber beide in lauwar
mes. Wir fühlen dann Kälte in der rechten, Wärme in
der linken Hand. Das ist klar — sagen die Realisten.
Denn unser Temperatursinn erfaßt den Unterschied

55
zwischen der Temperatur der Haut in einem gegebenen
Glied des Körpers und der Außenwelt. Dieser Sinn er-
faßt aber und schafft gar nicht die Temperatur. Sie ist
gegeben.
Eine andere, etwas subtilere Schwierigkeit, die öfters
seitens der Idealisten hervorgehoben wird, besteht
darin, daß dasjenige, was erkannt ist, in der Erkennt
nis sein muß; also nicht draußen; also können wir von
einem Draußen gar nicht sprechen. Darauf antworten
aber die Realisten, dies sei ein Mißverständnis und
Aberglaube. Man faßt hier die Erkenntnis so, als ob sie
eine Schachtel wäre: ein Ding kann nur innerhalb oder
außerhalb der Schachtel sein. Nun ist aber die Erkennt
nis ganz sicher keine Schachtel. Man kann sie am besten,
wie es Edmund Husserl getan hat, einer Lichtquelle ver
gleichen: fällt ein Lichtstrahl auf ein Ding in der Dun
kelheit, so ist dieses Ding im Licht und doch ist es nicht
innerhalb der Lichtquelle.
Ich habe mich selbst vor Jahren nach schwerem Rin
gen für den Realismus entschieden, und je mehr ich dar
über nachdenke, desto mehr bin ich überzeugt, diese
Auffassung der Wahrheit sei die richtige. Ich weiß, daß
nicht jeder dasselbe tun wird; denn die Frage ist schwie
rig. Ganz unabhängig davon aber, was andere als Lö
sung annehmen werden, möchte idi vor einem Miß
verständnis warnen. In diesem Problem muß man sich

ganz entscheiden. Man muß die ganze menschliche Er


kenntnis entweder als ein Erfassen oder als ein Schaffen
des Gegenstandes verstehen. Jede Kompromißlösung
ist falsch. So auch unter anderen jene landläufige, nach
welcher wir in der Außenwelt wohl Gestalten und Licht

wellen, aber keine Farben hätten. Man muß entweder


sagen, daß es überhaupt keine Außenwelt gibt und daß

A ß
unser Geist alles schafft, oder im Gegenteil, daß er
nichts schafft außer der Kombination von Inhalten und
daß alles, was wir erkennen, in irgendeiner Weise außer
dem Geist vorhanden sein muß.

Ein bedeutender deutscher Psychologe, Fechner, hat


einmal eine Schrift verfaßt, in welcher er die Tageswelt
der Nachtwelt gegenüberstellte, einer Welt, in der es
keine Farben, keine Klänge, nur mechanische Bewegun
gen und Gestalten in der Dunkelheit gäbe. Er hat diese
Nachtansicht entschieden verworfen. Es wird Sie viel
leicht interessieren, zu erfahren, daß heutzutage die
meisten Philosophen seine Ansicht teilen, das heißt, daß
sie für eine lichtvolle Welt sind gegen die genannte
dunkle Auffassung.
DAS DENKEN

Dem Denken — viel mehr als der Beobaditung — ver


danken wir die gewaltigen Errungenschaften unserer
Wissenschaft. Es ist im Begriff, das Antlitz der Erde
und unseres Lebens umzugestalten. Es wird sich sicher
lohnen, eine Weile über dieses Denken nachzusinnen.
Was ist es eigentlidi? Wie ist es möglich, daß es uns
irgend etwas kennenlernen läßt? Wie gestaltet es sich,
welche Wege folgt es in der wissenschaftlichen For
schung? Und letztens, die wichtigste Frage: Welches ist
sein Wert? Dürfen wir ihm vertrauen, an seine Ergeb
nisse glauben, uns durch das wissenschaftliche Denken
führen lassen? Einige unter diesen gewichtigen Fragen
möchte ich heute mit Ihnen kurz diskutieren.
Und zuerst: Was ist das Denken? Ganz allgemein
nennt man Denken jede Bewegung in unseren Vorstel
lungen, Begriffen undsoweiter. Zum Beispiel wenn mich
jemand fragt: „Woran denkst du?", so antworte ich
etwa: „Ich denke an mein Elternhaus." Das heißt aber,
daß mir in meinem Bewußtsein Bilder, Erinnerungen
und ähnliches in irgendeiner Weise vorschweben und
nacheinander folgen. Die allgemeinste Definition des
Denkens lautet also: eine Bewegung der Vorstellungen
und Begriffe.
Das wissenschaftliche Denken ist aber nicht irgendein
Denken. Es ist ein ernstes Denken. Dadurch meinen wir

erstens, daß es diszipliniert ist, daß ein ernst denkender


Mensch seinen Begriffen und Vorstellungen nicht die
Freiheit läßt, ihm vorzuschweben, sondern sie streng zu
seinem Ziele führt. Und zweitens meinen wir, daß das
Ziel hier ein Wissen ist. Das wissenschaftliche, ernste
Denken ist ein diszipliniertes, auf das Wissen gerichte
tes Denken.

Wie kann aber ein soldies Denken uns zum Wissen


werden? Man könnte meinen, daß der Gegenstand, den
wir erkennen wollen, entweder da ist, gegeben ist, und
dann braucht man kein Denken, um ihn zu sehen, son
dern es genügt, die Augen zu öffnen oder die Aufmerk
samkeit auf ihn zu richten; oder aber dieser Gegenstand
ist abwesend, nicht gegeben; und in diesem Falle — so
scheint es wenigstens — kann ein Nachdenken ihn kaum
näherbringen.
Und doch ist es anders. Es genügt, unsere Erfahrung
darüber zu befragen, um zu sehen, daß das Denken in
beiden Fällen eine nützliche, oft ausschlaggebende Rolle
spielen kann.
Nehmen wir zuerst den Fall, in welchem der Gegen
stand gegeben ist. Dieser Gegenstand ist nie ganz ein- ^
fach. Vielmehr ist er gewöhnlich so, daß er sehr, fast
unendlich komplex ist. Er hat Hunderte von Seiten,
Aspekten, Eigenschaften, undsoweiter. Unser Geist ver
mag aber alles das nicht auf einmal zu erfassen. Um
einen solchen Gegenstand gut kennenzulernen, muß
man fleißig, mit Anstrengung eine seiner Seiten nach
der anderen sidi ansehen, das Gesehene miteinander
vergleichen, die Sache von immer neuen Standpunkten
aus betrachten und auseinanderlegen. Das alles ist aber
Denken.

Hier sei ein Beispiel einer solchen Denkarbeit gege


ben. Angenommen, ein roter Flecken sei hier vor meinen
Augen. Zuerst könnte man meinen, es sei ganz einfadi £x
und es genüge, die Augen gut zu öffnen, um einzusehen,
was er ist. Ganz einfach ist aber ein roter Flecken nicht.

5 9
Denn erstens kann es überhaupt keinen roten Flecken
geben, wenn es um ihn keinen Grund gibt — und zwar
muß die Farbe des Grundes eine andere sein als die des
Fleckens. Das ist das eine, Zweitens stellen wir fest —
eine ziemlich einfache, aber doch merkwürdige Tat
sache —, daß der Flecken nicht nur eine Farbe, sondern
auch eine j^dehun^ haben muß, eine gewisse Länge
und Breite. Die Ausdehnung ist aber keine Farbe, sie ist
etwas ganz anderes, obwohl sie notwendig mit der
Farbe verbunden ist. Drittens genügt die Ausdehnung
allein noch nicht. Es muß noch eine Gestalty eine Forju.
des Randes vorhanden sein — der Flecken kann zum

Beispiel viereckig oder rund sein, aber eine Form muß


er haben. Betrachten wir ihn weiter, so finden wir, daß
auch seine Farbe keine einfache Sache ist: es ist wohl
eine rote Farbe, aber nicht irgendeine rote Farbe, son
dern eine ganz bestimmte Schattierung, Nuance. Hat
man zwei rote Flecken, so wird der Ton, die Schattie
rung, in beiden gewöhnlich nidit derselbe sein. Bei der
Analyse der Farbe kann man noch viel weiter gehen;
wie jeder, der sich mit der Farbenlehre beschäftigt hat,
wohl weiß, kann man zum Beispiel auch von der inten-
sität der Farbe sprechen. Bemerken wir noch, daß der
"Flecken nicht nur auf einem andersfarbigen Grund, son
dern auf einem Ding, auf einem Träger erscheint, so
haben wir in ihm bis jetzt nicht weniger als sieben Ele
mente entdeckt: Gi^md, Farbe, i^sdehnu^ng, jSestaitK
Ton, Intensität und endlich den Träger. Und dabei sind
wir erst am Anfang.
Das ist aber ein sehr einfaches, triviales Beispiel.
Handelt es sich etwa um geistige Gegenstände, wie das
„Verzeihen" oder die „Gabe", dann kann man sich vor
stellen, welche wahrlich unendlidie Komplexität in

fi n
ihnen vorhanden ist und wie grpß die erforderlidie
Denkarbeit sein muß, um sich in ihnen einigermaßen
zu orientieren.

Diese Art von Denken wurde in der Geschichte immer


von den Philosophen angewandt. Der große Meister
darin ist Aristoteles gewesen. Am Anfang dieses Jahr
h u n d e r t s h a t d i e s e s Ve r f a h r e n e i n f ü h r e n d e r d e u t s d i e r

Denker, Edmund Husserl, bedeutend geklärt und be


schrieben. Er hat es „phänomenologisch" genannt. Phä
nomenologie ist — wenigstens in den Frühschriften
Husserls — ein Verfahren, in welchem wir das Wesen
des gegebenen Gegenstandes durch eine ähnliche der
hier gegebenen Analysen zu erfassen suchen.
In den Naturwissenschaften spielt aber diese Art von
Denken eine eher untergeordnete Rolle. Der Haupt-
nachdrudc ist dort auf die andere Art gelegt, nämlich
auf ein Denken, welches den nicht gegebenen, den sozu
sagen abwesenden Gegenstand zu erfassen versucht. Ein
solches Denken heißt audi Schließen. ^
Ich möchte in dieser Beziehung zuerst eine wichtige
Bemerkung machen. Wie schon gesagt, gibt es nur zwei
mögliche Fälle: entweder ist der Gegenstand gegeben
oder nicht. Ist er gegeben, dann soll man ihn einfach
sehen und beschreiben; ist er aber nicht gegeben, dann
haben wir nur eine Möglichkeit, um etwas über ihn zu
erfahren — nämlich zu schließen. Einen dritten Weg
gibt es für die Erkenntnis nicht. Freilich kann man an
etwas glauben — aber der Glaube ist kein Wissen; das
Wissen kommt nur durch Beobachtung des Gegebenen
oder durch das Schließen zustande.
Dies soll deshalb ganz scharf betont werden, weil
heutzutage verschiedene Mißverständnisse weit verbrei
tet sind. Es wird zum Beispiel gesagt, man könne etwas

61
durch den guten oder schlediten Willen kennenlernen.
Andere behaupten, daß ein Sprung der Freiheit oder
ähnliches ein Werkzeug des Wissens sei. Nun kann man
sich natürlich vorstellen, daß das Springen als eine Vor
bereitung für den Erkenntnisakt nützlich sein könnte.
Zum Beispiel wenn ich eine Kuh, die hinter der Mauer
^ y, steht, erkennen will, dann kann ein Sprung über die
Mauer dazu führen, daß idi sie erkenne. Aber nachdem
ich diesen Sprung mutig durchgeführt habe, muß ich doch
die Augen öffnen, und erst durch das Sehen werde ich
irgend etwas über die Kuh lernen. Kein Sprung der
F r e i h e i t o d e r ä h n l i c h e s k a n n m e h r s e i n a l s e i n e Vo r

bereitung des Erkenntnisaktes. Dieser ist aber immer,


wie gesagt, entweder ein direktes Erfassen des Gegen
standes — also ein sinnliches oder geistiges Schauen —
oder aber ein Schließen. h W.
Das Schließen bietet nun verschiedene schwierige
Probleme. Das wichtigste dieser Probleme lautet: Wie
ist es überhaupt möglich, einen nichtgegebenen Gegen
stand durch einen Schluß zu erfahren, kennenzulernen?
Idi muß gestehen, daß dieses Problem mir als sehr
schwierig erscheint; eine volle Lösung kenne ich nicht.
Eines ist aber sicher: wir können durch das Schließen
etwas lernen. Das folgeTidelBeispielzeigt di^^h^laF.
Fragt man mich, wieviel siebentausendachthundert-
siebenundvierzig mal dreiundzwanzigtausendhundert-
neunundsechzig sind, so weiß ich es zuerst nicht. Wenn
ich mich aber hinsetze und die Multiplikation durch
führe, dann weiß ich, daß das gleich hunderteinund-
achtzig Millionen achthundertsiebentausend hundert-
dreiundvierzig sind. Multiplizieren ist aber denken, ist
ein Schließen. Wer also behauptet, daß man ohne ein
solches Schließen, ohne Rechnen, das Ergebnis wissen

ß 9
kann, der soll mir sagen wie; ich wäre ihm dafür sehr
dankbar. Falls er aber das nicht sagen kann, dann muß
er zugeben, daß ich durch das Schließen etwas gelernt
habe. Es kann nicht im Ernst bezweifelt werden, daß
wir dadurch sogar ständig vieles lernen.
Wie kommt nun ein Schließen zustande? Immer und
ohne Ausnahmen so, daß wir als Voraussetzungen
zweierlei haben: einerseits gewisse Prämissen, das heißt
Aussagen, Sätze, die schon als wahr bekannt sind oder
in irgendeiner Weise anerkannt sind; andererseits aber
eine gewisse Regel, nach welcher wir sdiließen. Zum
Beispiel, um zu erschließen, daß die Straße feucht ist,
kann ich die Prämissen haben: „Wenn es regnet, dann
ist die Straße naß" — und: „Es regnet." Dazu muß ich
noch die Regel kennen, welche bei den Logikern modus
ponendo ponens heißt; sie lautet etwa so: Hat man
einen Wenn-Satz — einen Satz, welcher mit „wenn"
anfängt — und dazu seinen Vordersatz, dann kann man
seinen Nachsatz anerkennen. Die alten Stoiker haben
diese Regel so formuliert: Wenn das erste, dann das
zweite; nun aber das erste; also das zweite. Die Logik
— oder genauer die formale Logik — ist die Wissen
schaft, die solche Regeln untersucht.
Von diesen Regeln gibt es aber zwei ganz verschie
dene Arten. Auf der einen Seite haben wir eine große
Menge von Regeln, die unfehlbar sind, das heißt, daß
das Ergebnis ganz sicher ist, wenn man diese Regeln
richtig anwendet. Ein Beispiel einer solchen Regel ist
gerade unser modus ponendo ponens; ein anderes Bei
spiel ist der wohl bekannte Modus des Syllogismus, nach
welchem man schließt: Wenn alle Logiker sterblich sind
und Lord Russell ein Logiker ist, dann ist auch Lord
Russell sterblich. Auf der anderen Seite aber gibt es sehr

63
viele Regeln, die nicht unfehlbar sind. Und das Heikle
im Leben und in der Wissenschaft ist, daß diese nicht
unfehlbaren Regeln in ihnen eine viel größere Rolle
spielen als die unfehlbaren.
Die Sache ist so wichtig, daß wir uns mit ihr ein
wenig näher beschäftigen müssen. Die nicht unfehlbaren
Regeln sind alle im Grunde gewisse Umkehrungen un
seres modus ponendo ponens. In diesem schließt man
v o m Vo r d e r s a t z a u f d e n N a c h s a t z — a l s o v o m e r s t e n
auf das zweite. Das ist eine unfehlbare Regel. In der
andern Art von Regeln geht man aber nach dem um
gekehrten Schema — etwa so: Wenn das erste, dann das
zweite; nun aber das zweite, also das erste. Daß dies
keine unfehlbare Regel ist, davon kann man sich über
zeugen, wenn man zum Beispiel so schließt: Wenn ich
Napoleon bin, dann bin ich ein Mensch; nun bin ich aber
ein Mensch; also bin ich Napoleon. Die Prämissen sind
hier beide wahr; der Schluß ist aber falsch — denn
Napoleon bin ich leider nicht. Die Regel ist also nicht
unfehlbar. Die Logiker würden sogar sagen, sie sei
falsch.

Aber im Leben, und vor allem in der Wissenschaft,


schließen wir fast immer so. Zum Beispiel: die so
genannte Induktion besteht ganz und gar in einem sol
chen Schließen. Denn in der Induktion haben wir als

Prämisse, daß einige Individuen sich soundso verhalten.


Andererseits wissen wir aus der Logik: wenn alle Indi
viduen sich soundso verhalten, dann auch einige; daraus
schließen wir, daß alle Individuen sich so verhalten.
Ein Beispiel: die Chemiker haben festgestellt, daß
einige Stücke Phosphor bei, sagen wir, zweiundvierzig
Grad verbrennen; sie schließen daraus, daß alle Stücke
von Phosphor bei zweiundvierzig Grad verbrennen. Der
Gedankengang ist der folgende: wenn alle — dann
auch diese einige; nun aber diese einige, also alle. Ge
nauso, wie im Falle von Napoleon, es ist ein Schluß vom
zweiten auf das erste. Ein nicht unfehlbarer Schluß.

Natürlich ist der Gedankengang in der Wissenschaft


nie so ganz einfach wie hier geschildert. Im Gegenteil.
Die Menschen haben zahlreiche, sehr raffinierte Metho
den erfunden, um ihre nidit unfehlbaren Schlüsse zu be

kräftigen. Aber alles dies ändert nur sehr wenig an der


grundlegenden Tatsache, daß die gesamte Naturwissen
schaft nach nicht-unfehlbaren Regeln vorgeht. Das Er
gebnis ist, daß die naturwissenschaftlichen Theorien nie
ganz sichere Wahrheiten sind. Alles, was die Wissen
schaft in dieser Beziehung erreichen kann und tatsäch
lich erreidit, ist Wahrscheinlichkeit.
Und auch mit dieser Wahrscheinlichkeit liegen die
Sachen gar nicht so einfach, wie manche es sich vielleicht
denken. Denn erstens wissen wir bis heute nicht, was
eigentlidi die Wahrscheinlichkeit der Hypothesen ist.
Es scheint, daß sie etwas ganz anderes sein muß, als,
sagen wir, die Wahrscheinlichkeit eines Autounfalles,
welche berechnet werden kann. Das kann man so ein

sehen: Die meisten Gesetze der modernen Physik sind


Wahrscheinlichkeitsgesetze, das heißt, sie besagen nur,
daß ein Ereignis mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
eintreffen wird. Aber diese Gesetze über die Wahr
scheinlichkeit sind selbst wieder wahrscheinlich — offen
bar in einem andern Sinne.
Würden wir aber auch wissen, was die Wahrschein
lichkeit ist, dann würde noch immer die Frage zu beant
worten sein: Wieso können wir überhaupt eine Wahr
scheinlichkeit erreichen? Daß wir eine solche feststellen.

65
ist sicher; wir wissen aber bis jetzt nicht, wie dies mög
lich ist.
Idi bin mir nun wohl bewußt, daß alle diese Zweifel
Ihnen angesidits des großen Erfolges der Wissenschaft
als unbegründet erscheinen werden. Aber sagen Sie mir
bitte, welchen Grund Sie haben, anzunehmen, daß die
Sonne morgen wieder aufgehen wird. Sie werden wohl
sagen: weil es bisher immer so gewesen ist. Das ist aber
kein genügender Grund. Die Katze meiner Tante ist
auch jahrelang am Morgen durch das Fenster in ihr
Zimmer gekommen; an einem Tag kam sie aber nicht
mehr. Wenn man aber sagt, die Gesetze der Natur seien
gleichförmig, dann frage ich, woher wir das wissen sol
len. Nur so, daß wir bis jetzt diese Gleichförmigkeit
beobachtet haben — gerade wie im Falle der Sonne
oder der Katze? Daraus folgt aber keineswegs, daß sie
morgen ebensowohl gleichförmig sein werden.
Diese Betrachtungen erlauben uns eine geklärte Hal-
tog der Wissenschaft gegenüber. Man könnte vielleicht
die Grundsätze dieser Haltung in folgender Weise for
mulieren:

Erstens: Vom praktischen Standpunkt aus ist die Wis


senschaft ganz sicher — wenn es sich um echte Wissen
schaft handelt — das Beste, was wir überhaupt haben.
Sie ist höchst nützlich.
Zweitens: Auch theoretisch gesehen, haben wir kaum
etwas Besseres, wenn es sich um die Erklärung der Na
tur handelt. Die Wissenschaft liefert uns — außer den

Beobachtungssätzen — nur wahrscheinliche Aussagen.


Aber mehr können wir hier nirgendwo erlangen.
Drittens folgt daraus, daß sich der denkende Mensch,
wenn es zu einem Widerspruch zwischen der Wissen
schaft und irgendeiner andern menschlichen Autorität
kommt, für die Wissenschaft und gegen diese erklären
soll. Das gilt vor allem von den sogenannten Ideolo
gien, also Behauptungen, die auf Grund irgendeiner
menschlichen, sozialen oder anderen Autorität, auf
gestellt worden sind. Aus diesem Grunde verwerfen
und verurteilen praktisch alle Philosophen der Welt die
kommunistische Ideologie, welche der Wissenschaft
Sätze von Marx, Engels und Lenin gegenüberstellt.
Dies ist unvernünftig und unzulässig.
Viertens: Da aber die Wissenschaft im großen und
ganzen nur wahrscheinliche Sätze liefert, kann es vor
kommen, daß sie im Namen der unmittelbaren Evidenz
verworfen werden dürfen. Die Wissenschaft ist nicht

unfehlbar, und haben wir etwas evident anderes ge


troffen als das, was sie behauptet, so dürfen und sollen
wir für die Evidenz stehen, gegen die wissenschaftlichen
Theorien.

Fünftens ist die Wissenschaft nur in ihrem Gebiet


kompetent. Leider kommt es nur zu oft vor, daß auch
ganz bedeutende Wissenschaftler verschiedenes behaup
ten, was mit ihrem Gebiet nicht das mindeste zu tun hat.
Ein klassisches und krasses Beispiel einer solchen Über^
tretung der Grenzen der Kompetenz ist jene berühmte
Behauptung eines gelehrten Arztes, der sagte, es könne
kein menschliches Bewußtsein geben, weil er so viele
Körper zerschnitten und nie ein Bewußtsein dabei ge
funden habe. Das Ungereimte besteht hier darin, daß
die Wissenschaft dieses Arztes kraft ihrer eigenen Me
thode auf die Erforschung von Körpern beschränkt ist,
das Bewußtsein aber ganz sicher kein Körper ist — ganz
abgesehen davon, daß die Körper, die der gelehrte Arzt
zerschnitten hatte, ja tot waren. Sehen wir uns aber
dieses Beispiel etwas näher an, dann finden wir das

67
Folgende: Der gute Arzt hatte überhaupt keinen wissen
schaftlichen Grund, eine solche Behauptung aufzustel
len. Um sie zu legitimieren, mußte er voraussetzen, daß
es nur Körper gibt. Das ist aber keine Naturwissenschaft,
keine Chirurgie, sondern reine, obwohl schlechte Phi
losophie.
Und das ist gerade die große Gefahr. Ganz gewaltige
Gebiete der Wirklichkeit sind noch nicht erforscht, sogar
der exakten wissenschaftlichen Forschung überhaupt
noch nicht erschlossen — vor allem, wenn es sich um den
Menschen handelt. Auch dort, wo die Forschung schon
im Gang ist, wissen wir unglaublich wenig. Was nun
vorkommt, ist, daß die Menschen die enormen Lücken
im wissenschaftlichen Wissen durch ihre private, mei
stens grob naive und falsche Philosophie füllen wollen,
die dann als Wissenschaft verkündigt wird. Das tun
natürlich nicht nur einige Wissenschaftler, sondern auch
viele andere Menschen. Aber die Wissenschaft genießt
eine so große Autorität, daß ihre Vertreter in dieser Be
ziehung am gefährlichsten sind, wenn sie außer ihrer
Kompetenz zu philosophieren anfangen.
Und wenn sich die Gesellschaft den Luxus erlaubt,
einige Philosophen zu haben, obwohl diese Philosophen
keine Flugzeuge und keine Atombomben erzeugen hel
fen, so hat es deshalb vielleicht einen guten Sinn. Denn
die Philosophie und sie allein kann uns vor Wahnsinn
warnen, der so oft seitens eines falschen Denkens unter
der vermeinten Autorität der Wissenschaft droht. In
einer ihrer wichtigsten Funktionen ist sie nichts anderes
als Verteidigung des echten Denkens gegen Schwär
merei lind Tinsinn.
DER WERT

Einer der größten Dichter, den die Mensdiheit je ge


habt hat, Goethe, hat mehrmals mit Spott über die
Theorie und das Spekulieren gesprochen. „Grau, treuer
Freund", sagte er, „ist jede Theorie"; und Sie kennen
wohl die Stelle, wo er sagt: „ein Kerl, der spekuliert, ist
w i e e i n Ti e r a u f d ü r r e r H e i d e v o m b ö s e n G e i s t h e r u m

geführt". Ich bin der Meinung, daß er — und mit ihm


alle Diditer und vielleicht alle Frauen, die meistens wie
Diditer denken, darin redit haben, wenn sie gegen die
Übertreibungen des theoretischen Denkens sich wehren.
Es ist nämlich so, daß der Mensch der Wirklichkeit nicht
bloß schauend gegenübersteht. Er sieht sie nicht nur, er
wertejt sie auch, er empfindet diese Wirklichkeit als
schön oder häßlich, als gut oder böse, angenehm oder
peinlich, edel oder gemein, als heilig oder unheilig,
undsoweiter. Wir sind schon so, daß wir nur durch
große Anstrengung uns zur rein schauenden Haltung
erheben können, und auch das nur in seltenen Augen
blicken. Im großen und ganzen ist unser Leben durch
das Werten und die Werte bestimmt.
Von dieser Tatsache ausgehend, kann man sich na
türlich sagen: wozu alles dieses Philosophieren und
Nachdenken; laß uns in die Welt der Werte eintauchen
und leben; des Lebens ewig grünen Baum hat Goethe
der grauen Theorie gegenübergestellt. So meinen auch
viele heutige Philosophen — um unter anderen nur
Gabriel Marcel anzuführen, der sich als Grundregel ge
stellt hat: Du bist nicht im Theater, das heißt, du sollst
nicht schauen. Mir scheint, daß das Denken, das reine

69
Schauen, auch ein Stück Leben ist und daß die Goethe-
sche Gegenüberstellung von Theorie und Leben schief
ist. Es scheint mir, daß ein volles menschliches Leben
ohne wenigstens einige Augenblicke der reinen Theorie,
des reinen Schauens überhaupt kein menschliches Leben
wäre. Aber das Schauen ist sicher nicht alles in diesem
Leben und auch nicht alles, was es zum menschlichen
Leben macht. Das Werten und alles, was darauf folgt,
gehört zu diesem Leben ebenso wesentlich wie die
Theorie.

Und deshalb muß der Philosoph sich auch mit den


Werten befassen. Tatsächlich ist die Werttheorie, der
Versuch, diese Seite unseres Lebens zu klären, seit Jahr
tausenden ein Grundstück jeder Philosophie gewesen.
Und zwar schon deshalb, weil das Gebiet der Werte
unter allen vielleicht die größten Schwierigkeiten stellt.
So einfach und einsichtig die Werte selbst unserem gei
stigen Auge erscheinen mögen, so furchtbar verwickelt
wird die Lage, wenn wir sie richtig zu verstehen ver
suchen.

Beginnen wir am besten mit einem Beispiel. Man


möge mir verzeihen, daß es ein sehr krasses und grobes
Beispiel ist; es handelt sich hier aber nicht um Gefühle,
sondern um das Verständnis, und solche krassen Bei
spiele pflegen das Wesen des Gefragten am besten zur
Anschauung zu bringen. Das Beispiel ist nun das fol
gende: Ein verbrecherischer Junge, nennen wir ihn Karl,
rät seinem Freund Ludwig, er solle während der Nacht
das Rasiermesser aus der Schublade nehmen und seiner
schlafenden Mutter die Kehle durchschneiden, um dann
ruhig ihr Geld wegzunehmen. Dieses Geld soll den bei
den Burschen zu einem fröhlichen Abend in der Kneipe
dienen. Ludwig, wir nehmen an, er sei ein normaler

70
Mensch, sagt mit Empörung, er werde das nie tun. Nun
fragt Karl: Warum? es ist doch so einfach und würde
nützlich sein. Was wird darauf Ludwig antworten?
Versetzen wir uns in seine Lage. Was würden wir ant
worten? Ich fürchte, wir würden keine richtige Antwort
finden. Wir würden vielleicht sagen, es sei ein Verbre
chen, eine Gemeinheit, etwas Unerlaubtes, Schmutziges,
Sündiges undsoweiter. Würde aber unser Karl uns fra
gen, warum etwas Verbrecherisches, Schmutziges, Sün
diges undsoweiter nidit zu tun sei, da würden wir nur
sagen können, daß man solche Sachen einfach nicht tut.
Anders gesagt, wir würden nichts antworten. Einen Be-
weis, eine Begründung unserer Haltung könnten wir
überhaupt nicht bringen. Der Satz „Du sollst deiner
Mutter die Kehle nicht zerschneiden, um Geld für das
Trinken zu gewinnen", dieser Satz kann nicht begründet
werden. Er ist evident; man kann höchstens sagen, daß
es so ist und daß darüber nicht zu diskutieren ist.

So also ist die Lage. Versuchen wir, sie nun ein wenig
zu analysieren, um herauszufinden, welche Bestandteile
in dieser komplexen Situation eingeschlossen sind. J)a-
bei wenden wir die in der letzten Meditation beschrie
bene phänomenologische Methode an; denn eine andere
gibt es für diesen Gegenstand überhaupt nicht.
Wir stellen also zuerst fest, daß unser Satz „Du
sollst deiner Mutter undsoweiter" uns allen gegeben
erscheint. Er ist da, vor den Augen unseres Geistes, als
etwas, was von uns ganz unabhängig ist, in sich besteht,
genauso wie ein Gegenstand in der Welt, vielleicht ist
er nur härter als die einfachen Dinge. Er ist, wie die
Philosophen sagen, ein Seiendes. Welche Art von
Seiendem? Offenbar kein reales. Denn eine solche

Sache, ein solches Ding gibt es in der Welt nicht — auch

71
ist der Satz überzeitlich und überräumlich geltend. Es
ist ideales Seiendes, derselben Art wie mathematische
Gebilde.

Aber — und das ist der große Unterschied — es ist


nicht nur einfach da wie eine mathematische Formel.
Denn diese sagt einfach, was ist, während unser Satz
fordert; er sagt, was sein soll. Er steht vor unserem Ge
wissen wie ein Ruf, wie ein Gebot. Das ist recht merk
würdig, aber es ist so.
Drittens ist dieses Gebot, dieser Satz, wie Kant ein
mal bemerkte, kategorisch. Das bedeutet, daß es keinen
Sinn hat, zu fragen, wozu ich so handeln soll. In der
Technik ist es anders. Es gibt zum Beispiel in der Tech
nik des Autofahrens das folgende Gebot: „Du sollst
ungefähr nach zwei Drittel der Kurve Gas geben."
Dieses Gebot ist hypothetisch, das heißt, es hängt von
einem Zweck ab, denn es gilt nur insoweit, als wir
schnell und sicher die Kurve befahren wollen; würden
wir das nicht wollen, dann würde das Gebot seine Be
deutung verlieren. Aber mit unserem Satz über die
Mutter ist es ganz anders. Er ist kategorisch. Er fordert
unbedingt, ohne Rücksicht auf irgendeinen Zweck. Sollte
auch die Erdehersten, falls ich meine Mutter nicht er
morde, dann würde es trotzdem heißen, daß ich sie
nicht ermorden darf.
Viertens — aber nur viertens — stellen wir fest, daß
die Einsicht in ein solches Gebot, in einen solchen Satz,
auf uns unmittelbar wirkt. Je klarer sie ist, desto stär
ker unsere Reaktion, desto wuchtiger der Wille, die
Empörung oder die Begeisterung. Natürlich hängt diese
Reaktion auch von unserem augenblicklichen körper
lichen und geistigen Zustande ab — wenn ich müde bin,
reagiere ich schwächer —, aber an erster Stelle ist sie

7 9
durch den Gegenstand bestimmt und durch die Einsicht
in diesen Gegenstand.
So weit die Beschreibung der Lage. Wir wenden uns
jetzt der Erklärung dieses merkwürdigen und so be
deutenden Phänomens zu. Ich möchte diesen Erklärungen
nur eine kurze Bemerkung über die verschiedenen hier
vorkommenden Begriffe und Arten der Werte voraus
schicken.

Man muß also nach dem Gesagten drei Sachen scharf


unterscheiden: erstens, ein Dingy etwas Reales, was
wertvoll — positiv oder negativ — ist, etwa gut oder
s c h l e c h t . I n u n s e r e m F a l l i s t d i e s e s R e a l e d i e Ta t d e s
Mordes. Dieses Reale, also in unserem Falle die Tat,
ist durch eine Eigenschaft gekennzeichnet, die sie ge
rade zu Wertvollem macht; und diese Eigenschaft —
und das ist das zweite — heißt im genauen Sinne des
Wortes ,yWerV\ Drittens aber gibt es, wie schon be
merkt, unsere Beziehungen und Reaktionen dazu —
unsere Einsicht in die Werte, unsern Willen, der etwas
begehrt oder über etwas empört ist undsoweiter. Diese
drei Sachen sollen nicht verwechselt werden, denn es
sind ganz verschiedene Angelegenheiten: der Träger
des Wertes, der Wert selbst und die menschliche Hal
tung dem Wert gegenüber.
Handelt es sich nun um die Werte selbst, so gibt es
im geistigen Bereich wenigstens drei große Gruppen
von solchen Werten, die man die moralischen, ästhe-
tisjAen und religiösen nennt. Die'^oralischeri Werte
sind am besten bekannt — das Eigentümliche bei ihnen
ist eine Forderung zur Tat — sie enthalten nämlich
immer ein Tun-sollen, nicht nur ein Sein-solleUy wie
alle Werte. Die ästhetischen Werte — jene des Schönen,
des Häßlichen, des Eleganten, des Groben, des Edlen.

7.S
des Zarten, des Erhabenen undsoweiter — sollten auch
wohl bekannt sein. Das Charakteristische bei ihnen ist,
daß sie wohl ein Sein-sollen, aber kein Tim-sollen ent
halten. Sieht man zum Beispiel ein schönes Gebäude,
dann sieht man auch, daß es so sein soll, aber einen Ruf
an unser Gewissen bringt dieser Wert wenigstens un
mittelbar nicht mit sich. Endlich sind die religiösen
Werte wieder von einer anderen Art. Sie sind den

religiösen Menschen — und jeder von uns ist in irgend


einer Weise mehr oder weniger religiös — auch wohl
bekannt. Aber die Analyse dieser Werte ist sehr schwie
rig. Sicher ist, daß sie in uns ein Gefühl des Sdiauerns
und gleichzeitig des Sich-Ergebens auslösen, und zwar
verbunden mit einer gerade ungeheuren Masse von
ästhetischen und moralischen Reaktionen. Sie scheinen
aber weder zu den moralischen noch zu den ästhetischen
Werten zu gehören. So ist zum Beispiel der Mord an
seiner eigenen Mutter vom moralischen Standpunkt aus
ein Verbrechen, eine böse Tat; vom religiösen Stand
punkt aus ist er aber etwas ganz und gar anderes, näm
l i c h e i n e S ü n d e . A m b e s t e n s i n d d i e m o r a l i s c h e n We r t e

durch die Philosophen erforscht worden; die ästhetischen


sind sdion viel weniger analysiert worden, und die
religiösen warten noch immer auf eine grundlegende
Arbeit. Was ist zum Beispiel die Heiligkeit? Der ver
storbene führende französische Philosoph Louis Lavelle
hat darüber ein sehr schönes Buch geschrieben — es heißt
„Vier Heilige", aber auch er hat die Analyse nicht sehr
weit gebracht.
Nun zu den Erklärungen. Im Zentrum der Ausein
andersetzung steht hier die Frage der Deutung des
Wandels in den Wertungen. Man könnte nämlich
meinen, daß die Wertungen beständig sind, daß zum

74
Beispiel unser Satz über die Mutter immer und überall
anerkannt ist. Das ist aber nicht der Fall. Die morali
schen Wertungen — und desto mehr die ästhetisdien
und die religiösen — sind zu verschiedenen Zeiten und
in verschiedenen Kulturkreisen sehr verschieden. Ein

polnischer Ethnologe, der in Australien forsdite,


Malinowski, hat einst ein geradezu erschütterndes Buch
über die geschlechtliche Moral der dortigen Wilden ge
schrieben. Liest man dieses Buch, dann hat man den
Eindruck, als ob praktisch alles, was bei uns als geltend
und vielleicht als heilig angesehen wird, anderswo als
böse und verbrecherisch gewertet würde. Was die
ästhetischen Werte betrifft, so ist wohl bekannt, daß
Frauen, die für uns häßlich sind, bei gewissen Neger
stämmen als wunderbar schön angesehen werden. Die
Wertungen scheinen also höchst relativ zu sein.
Es gibt nun zur Deutung dieser Sachlage vor allem
zwei große philosophische Theorien: einerseits die
positivistische, andrerseits die idealistische — idealistisch
i m w e i t e s t e n S i n n e d e s Wo r t e s .

Die erste, vor allem durch die britischen Empiristen


vertreten, behauptet, daß die Relativität und der Wan
del der Wertungen durch dieselbe Relativität und den
s e l b e n Wa n d e l d e r We r t e s e l b s t z u d e u t e n i s t . We r t e
sind nämlich nach diesen Denkern nichts anderes als
eine Art Bodensatz aus Wertungen. Die Menschen
haben sich aus diesen und jenen — meistens Nützlich
keitsgründen — angewöhnt, so und so zu werten, und
dann bilden sie sich entsprechende Werte. Ändert sich
die Lage und werden die betreffenden Dinge und
Handlungen nicht mehr nützlich, so ändern sich auch
die Werte. Um diese Deutung auf unser Beispiel anzu
wenden, sagen die Positivisten, daß der Mord an seiner

75
I
eigenen Mutter in unserem Kulturkreis sozial schädlidi
wäre; denn erstens ist die Mutter dazu notwendig, das
Kind zu erziehen; zweitens kann sie vielleicht noch an
dere Kinder haben. Man kann sich aber eine Kultur

denken, in welcher es anders wäre — sagen wir eine


Kultur, in welcher die Kinder ausschließlich in Staats
anstalten erzogen — oder auch, wie im berühmten
Roman von Aldous Huxley, in besonderen Fabriken
synthetisch erzeugt würden und wo die Mutter als
solche nicht gebraucht würde. In einer solchen Kultur
würde unser Satz vielleicht nicht gelten, weil er nicht
mehr nützlich wäre. Dann könnte der von Karl vor

geschlagene Mord an der Mutter moralisch gut sein. So


weit die Positivisten. Selbstverständlich behaupten sie
auch, daß die Werte reale Dinge sind, nämlich gewisse
Haltungen des Menschen.
Die Idealisten fühlen sich aber durch diese Argumente
kaum getroffen. Sie geben zu, daß unsere Wertungen
sich ändern und daß vieles, was hier als gut, anderswo
als schlecht angesehen wird. Sie bemerken aber, daß
dies nicht nur im Fall der Werte wahr sei. So hatten
zum Beispiel die alten Ägypter eine Formel für die Be
rechnung der Oberfläche des Dreieckes, die vom Stand
punkt unserer Geometrie offensichtlich falsch ist. Sie
haben diese Formel während Jahrhunderten gebraucht.
Beweist das, daß es zwei richtige Formeln für die Be
rechnung der Oberfläche von Dreiecken auf der Erde
gibt? Keineswegs, sagen die Idealisten. Es beweist nur,
daß die Menschen damals die richtige Formel nicht ge
kannt haben. Genauso ist es auch im Gebiet der Werte;
denn eine Wertung — unsere Einsicht in die Werte und
unsere Reaktion auf sie — ist etwas ganz anderes als
die Werte selbst. Die Wertungen sind veränderlich.
relativ, immer wechselnd; die Werte aber selbst sind
ewig und unveränderlich. Fragt man, welchen Grund
die Idealisten für diese Behauptung haben, so ant
worten sie, wie unser Ludwig dem Karl: „Das ist
evident. ' Hat man einmal eingesehen, was eine Mutter
ist, dann kann man darüber keinen Zweifel haben, daß
e i n M u t t e r m o r d i m m e r e i n Ve r b r e c h e n i s t u n d b l e i b e n
wird. Wer das leugnet, ist in dieser Beziehung blind.
Genauso wie es farbenblinde Menschen gibt, gibt es
audi wertblinde Menschen.
Diese Lehre, die im wesentlichen von Plato stammt,
wurde in unserem Jahrhundert durch, den größten
Moralisten der Neuzeit, den deutsdien Philosophen
Max Sdieler, großartig ausgebildet. Jeder, der sich mit
diesen Fragen befaßt, sollte Scheler gelesen haben; er
kann ihn vielleicht dann verwerfen — aber über die
Werte zu sprechen ohne Kenntnis dieses großen Den
kers, ist meiner Meinung nach unzulässig.
Max Scheler und die andern idealistischen Philo

sophen betonen aber immer wieder, daß im Gebiet der


Wertungen der Wandel, der Wechsel, ganz bedeutend
größer ist als auf irgendeinem theoretischen Gebiet.
Dies hängt zuerst damit zusammen, daß das Reich der
Werte von sehr großem Reichtum ist und kein Mensch
es ganz ausschöpfen kann — ja, kein Mensch kann auch
nur emen einzelnen Wert voll durchsdiauen. Wenn
Christus im Evangelium sagt, niemand sei gut außer
Gott, dann ist unter anderem dies gemeint: nur ein Un
endlicher und ein unendlich heiliger Geist kann irgend
einen Wert voll erfassen. Wir Mensdien sehen ihn nur
in Bruchstücken, immer oberflächlich, immer von einer
Seite. Dies ist bei diesem Wege eine Lehre, die eine
große praktische Bedeutung für das Leben hat. Es folgt

7 7
nämlich daraus, daß es keine zwei Menschen gibt, die
dieselbe Einsicht in einen Wert haben — einer sieht
besser den einen — etwa den Wert der Tapferkeit —
ein anderer einen andern Wert — zum Beispiel den
Wert der Güte oder der Reinheit. Und daraus folgt,
daß wir jemanden nicht als einen Verrückten bezeich
nen sollen, wenn wir sein Verhalten nicht verstehen.
Er mag vielleicht ein Held, ein Heiliger, ein Genius
sein. Leider ist das Verständnis dieser schlichten Wahr
heit wenig verbreitet, und die Besten unter uns, jene,
welche die klarste Einsicht in die Werte hatten, wurden
regelmäßig durch die Masse der Blinden verfolgt. Und
doch hängt der Fortschritt der Menschheit gerade von
diesen bessern, besser sehenden Menschen ab.
Das ist jedoch nur eine Seite dieses Wandels. Bei den
Werten ist es nämlich so, daß die Einsicht nicht nur von
der Begabung abhängt, sondern vor allem vom Willen.
Ein sehr anständiger Mensch sieht viel klarer als ein
weniger anständiger — er sieht nämlich besser die
Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Tat in diesem Be
reich. Es kommt deshalb auch vor, daß ein Mensch, der
viel begabter und viel gelehrter ist als ein anderer, in
einem Wertgebiet weit hinter ihm zu stehen kommt, ja
manchmal ein vollständiger Barbar in dieser Hinsicht
auf einem gewissen Wertgebiet sein kann.
So sieht der große Streit zwischen den Positivisten
und den Idealisten aus. Ich werde Ihnen nun noch sagen,
was ich selbst darüber meine. Ich bin der Ansicht, daß
der Positivismus nicht haltbar ist; er besteht nämlich,
wie mir scheint, in einer Verwechslung der Wertungen
mit dem Wert, unserer Sicht und unserer Reaktion auf
d i e W e r t e m i t d e n W e r t e n s e l b s t . A l l e Ta t s a c h e n ,
welche seitens des Positivismus angeführt sind, können

I R
ebensowohl vom Standpunkt des Idealismus gedeutet
werden; darüber hinaus ist aber der Idealismus nicht

gezwungen — wie der Positivismus —, die unmittelbare


Evidenz der Werte zu leugnen. Das ist das erste.
Damit hängt auch zusammen, daß ich die Werte als
e t w a s I d e a l e s s e h e . S i e s i n d n i c h t Te i l e o d e r N i e d e r

schläge unserer geistigen Tätigkeit. Aber ich würde die


Werte nicht in irgendeinen platonischen Himmel ver
legen. Sie bestehen nur in unserem Geist — genauso
wie die mathematischen Gesetze. In der Welt gibt es
nur Einzeldinge, und zwar reale Einzeldinge. Jedodi —
und das ist das dritte — gibt es in der Welt eine ge
wisse Grundlage für die Werte. Was ist diese Grund
lage? Ich sehe hier persönlich nur eine mögliche Ant
wort: die Werte sind auf der Beziehung zwischen dem
Menschen und den Dingen gegründet. Warum gibt es
zum Beispiel den Wert der Elternliebe? Weil die
menschliche körperliche und geistige Konstitution schon
eine solche ist, daß das Kind die Eltern lieben und
ihnen gehorchen muß, um als Mensch zu gedeihen. Wäre
die menschliche Konstitution eine andere, dann hätten
wir auch eine andere Ästhetik und eine andere Moral.

Folgt daraus, daß die Werte veränderlich sind? Ja und


nein. Ja, insoweit der Mensch selbst veränderlich ist.
Nein, insoweit er eine ständige Grundkonstitution auf
weist. Es ist nun aber so, daß beides in uns vorkommt;
die Einzelheiten wechseln, aber der Grundstock bleibt.
Und deshalb sind die grundlegenden Werte unveränder
lich. Solange der Mensch ein Mensch bleibt, kann keiner,
auch Gott nicht, daran etwas ändern — der Mutter
mord wird für ihn immer als ein Verbrechen gelten.
Nur kommt es vor, daß der Mensch auf gewisse Werte
FlinH wirH

7Q
Mit dieser Feststellung haben wir uns aber der
Grenze zwischen der theoretischen Philosophie, die nur
verstehen will, und der praktischen, die lehrt, was zu
tun ist, genähert. Es sei mir erlaubt, aus dieser zweiten,
praktischen Philosophie abschließend eine Wahrheit zu
nennen, die mir für das menschliche Leben zentral zu
sein scheint: das Licht, das Verständnis der Werte, und
die Kraft, sie zu verwirklichen, das ist, was wir in
diesem Leben für den Geist am meisten begehren
sollten.

RO
DER MENSCH

Wir werden jetzt über den Menschen nachdenken. Es


gibt in diesem Gebiet so viele philosophische Probleme,
daß wir hier nicht einmal alle nennen können. Unsere
Meditation wird sich deshalb notwendig auf nur einige
unter ihnen beziehen. Wir werden uns vor allem — mit
den großen Denkern der Vergangenheit und unserer
eigenen Zeit — die Frage stellen: Was ist der Mensch?
V/as bin ich eigentlich?
Es wird am besten sein, wenn wir hier, wie immer,
mit der Feststellung jener Eigenschaften des Menschen
beginnen, die keinem Zweifel unterliegen. Dies könnte
man unter zwei Haupttitel bringen: Der Mensch ist
erstens ein Tier, und zweitens ein sonderbares, ganz
einzigartiges Tier.
E r i s t a l s o v o r a l l e m e i n Ti e r u n d b e s i t z t a l l e K e n n -
zeichen eines Tieres.^TjList ein Organismus, hat Sinnes-
organCj^ er wächst, nährt und bewegt sich, besitzt mäch-
tige Triebe — so den Selbsterhaltungs- und Kampf
trieb, den geschlechtlichen Trieb und noch andere, genau
wie die anderen Tiere. Wenn wir den Menschen mit
den höheren Tieren vergleichen, sehen wir, daß er ganz
s i c h e r e i n e A r t u n t e r d e n a n d e r e n Ti e r a r t e n b i l d e t . D i e
Dichter haben freilich öfters die menschlichen Gefühle
in wunderbarer Sprache gepriesen. Ich kenne aber einige
Hunde, deren Gefühle, wie mir scheint, viel schönerund
tiefer sind als jene mancher Menschen. Es ist vielleicht
unangenehm, aber man muß gestehen, daß wir zur
selben Familie gehören, daß zum Beispiel die Hunde
und die Kühe so etwas wie unsere jüngeren Brüder und

81
Schwestern sind. Dazu brauchen wir nicht zu den gelehr
ten Entwicklungstheorien zu greifen, nach welchen der
Mensch — freilich nicht von einem Alfen, wie öfters
gesagt wird — aber doch von einem Tier stammt. Daß
er nämlich ein Tier ist, ist offenbar auch ohne jede ge
lehrte Zoologie.
Er ist jedoch ein merkwürdiges Tier. Er hat an sich
vieles, was wir bei den anderen Tieren entweder gar
nicht oder aber nur in winzigen Spuren finden. Was
hier vor allem auffällt, ist, daß der Mensch vom bio
logischen Standpunkt aus eigentlich gar kein Recht
hätte, sich der gesamten Tierwelt so aufzudrängen, sie
so zu beherrschen und, als der gewaltigste Schmarotzer
der Natur, aus ihr zu profitieren, wie er es tatsächlich
tut. Er ist ja ein mißratenes Tier. Schlechte Augen, fast
kein nennenswerter Geruch, minderwertiges Gehör, das
sind sicher seine Kennzeichen. Natürliche Waffen, etwa
Klauen, fehlen ihm fast vollständig. Seine Kraft ist un
bedeutend. Er kann weder schnell laufen noch schwim
men. Dazu ist er nackt und stirbt viel leichter als die
meisten Tiere vor Kälte, Hitze und ähnlichem. Bio
logisch gesehen, hätte er kein Recht zur Existenz. Er
sollte seit langem untergegangen sein wie so viele an
d e r e m i ß r a t e n e Ti e r a r t e n .

Und doch ist es ganz anders geworden. Der Mensch


ist der Herr der Natur. Er hat eine lange Reihe von
gefährlichsten Tieren einfach ausgerottet; andere Arten
hat er gefangengenommen und zu Haussklaven ge
macht. Er hat das Antlitz des Planeten verändert; es
genügt ja, aus einem Flugzeug öder von einem Berg
aus auf die Erdoberfläche zu schauen, um zu sehen, wie
sehr er alles durcheinanderbringt und verändert. Jetzt
fängt er an, sich an die äußere Welt, außer der Erde,

82
zu machen. Von einem Aussterben der menschlichen Art
ist keine Rede. Was man fürchtet, ist eher, daß sie zu
zahlreich wird.

Wie ist nun so etwas möglich? Wir kennen alle die


Antwort: durch die Vernunft. Der Mensch, obwohl er
so schwach ist, besitzt eine furchtbare Waffe: seine
Intelligenz. Er ist unvergleichbar intelligenter als
irgendein Tier, auch das höchste außer ihm. Freilich
finden wir eine gewisse Intelligenz auch bei den Affen,
den Katzen und den Elefanten. Aber das sind Kleinig
keiten im Vergleich mit dem, was der Mensch besitzt,
auch der einfachste Mensch. Das erklärt seinen Erfolg
auf der Erde.
Das ist aber nur eine vorläufige und oberflächliche
Antwort. Der Mensch scheint nicht nur mehr Intelligenz
als die anderen Tiere zu haben, sondern auch eine an
dere Art der Intelligenz oder wie immer wir es nennen
wollen. Das zeigt sich darin, daß er, und er allein, eine
Reihe von ganz besonderen Eigenschaften aufweist. Die
am meisten auffallenden unter ihnen sind folgende
fünf: die Technik, die Tradition, der Fortschritt, die
Fähigkeit, ganz anders zu denken als andere Tiere, und
e n d l i c h d i e R e fl e x i o n .
Zuerst die 'Technik. Sie besteht wesentlich darin, daß
der Mensch sich gewisser durch ihn selbst erzeugter
Werkzeuge bedient. Auch einige andere Tiere tun etwas
Ähnliches — zum Beispiel wird ein Affe gerne einen
Stock gebrauchen. Aber das zielbewußte Erzeugen von
komplizierten Werkzeugen in langer, mühsamer Arbeit
ist typisch menschlich.
Die Technik ist jedoch bei weitem nicht das einzige
Sonderbare am Menschen. Sie hätte sich nie entwickeln
können, wäre der Mensch nicht gleichzeitig ein soziales
Wesen, und zwar sozial in einem ganz besonderen
Sinne des Wortes. Wir kennen freilich auch andere
soziale Tiere — zum Beispiel besitzen die Termiten und
die Ameisen eine geradezu wunderbare soziale Organi
sation. Aber der Mensch ist in einer anderen Weise
sozial als sie. Er wächst nämlich in die Gesellschaft durch
die 'Iradition. Diese ist ihm nicht angeboren, hat mit
seinen Instinkten nichts zu tun — er lernt sie. Und zwar
kann er sie deshalb lernen, weil der Mensch, und er
allein, eine hoch komplizierte Sprache besitzt. Die Tra
dition allein würde schon genügen, den Menschen
s c h a r f v o n a l l e n a n d e r n Ti e r e n z u s c h e i d e n .

Dank der Tradition ist der Mensch fortschrittlich. Er


l e r n t m e h r u n d m e h r. U n d z w a r l e r n t n i c h t n u r e i n

einziges Individuum — denn das kommt auch bei den


anderen Tieren vor, sondern es ist die Menschheit, die
G e s e l l s c h a f t , d i e l e r n t . D e r M e n s c h i s t e r fi n d e r i s c h .
W ä h r e n d d i e a n d e r e n Ti e r e v o n G e n e r a t i o n a u f G e n e
ration ihr Wissen starr vermitteln, weiß bei uns jede
Generation mehr — oder kann wenigstens mehr wis
sen — als die vorangehende. Und oft innerhalb einer
einzigen Generation kommt es zu ganz großen Neue
rungen. Wir haben solche zum Beispiel in unserem
eigenen Leben gesehen. Noch auffallender ist, daß
dieser Fortschritt, wie es scheint, mit der biologischen
Entwicklung sehr wenig zu tun hat. Biologisch sind wir
von den alten Griechen fast gar nicht unterschieden;
wir wissen aber unvergleichlich mehr als sie.
Es sieht aber so aus, als ob alles das — die Technik,
d i e Tr a d i t i o n u n d d e r F o r t s c h r i t t — v o n e t w a s v i e r t e m

abhängig wäre, nämlich von der besonderen Fähigkeit,


die der Mensch besitzt, anders zu denken als die übrigen
Tiere. Dieses Anders-Sein seines Denkens ist nicht

84
leicht in cine kurze Formel zu fassen; denn es ist sehr

vielseitig. So ist der Mensch der Abstraktion fähig;


w ä h r e n d d i e a n d e r e n Ti e r e i m m e r i n H i n b l i c k a u f d a s

einzelne, das Konkrete denken, vermag der Mensch


allgemein zu denken. Dem verdankt er gerade die größ
ten Errungenschaften seiner Technik; man denke nur
an seine Mathematik — das wichtigste Werkzeug der
Wissenschaft. Die Abstraktion geht aber nicht nur auf
Allgemeines. Sie geht auch auf ideale Gegenstände wie
Zahlen und Werte. Damit hängt sicher zusammen, daß
der Mensch eine ganz einzigartige Unabhängigkeit von
dem das ganze Tierreich beherrschenden Gesetz der bio
logischen Zweckmäßigkeit zu besitzen scheint. Ich werde
nur zwei sehr auffallende Züge dieser Unabhängigkeit
anführen: die Wissenschaft und die Religion. Was das
Tier kennt, ist immer zweckgebunden; es sieht und ver
steht nur das, was ihm oder seiner Art nützlich ist. Sein
Denken ist durch und durch praktisch. Anders beim
Menschen. Er erforscht auch Gegenstände, die über
haupt keinen praktischen Zweck haben können — nur
des Wissens wegen. Er ist der objektiven Wissenschaft
fähig und hat sie tatsächlich aufgebaut.
Noch merkwürdiger ist vielleicht seine Religion.
Wenn wir sehen, daß an der südlichen Küste des Mittel
meeres, wo der Wein gerade sehr gut gedeihen würde, er
nur sehr wenig angebaut wird — weil dort Muselmanen
wohnen, dagegen aber unter unvergleichbar weniger
günstigen Umständen, am Rhein oder gar in Norwegen,
in christlichen Ländern; wenn wir die großen Sied
lungen in den Wüsten, um buddhistische oder christliche
Wallfahrtsorte, beobachten — dann müssen wir uns

sagen, daß ja dies keinen wirtschaftlichen, keinen bio


logischen Sinn hat, daß es vom rein tierischen Stand-

85
punkt gerade sinnlos ist. Der Mensch kann sich aber
solche Sachen leisten, weil er von den biologischen
Gesetzen der Tierwelt in gewissem Umfange unab
hängig ist.
Ja, diese Unabhängigkeit geht noch weiter. Jeder
von uns hat das unmittelbare Bewulksein, frei zu sein —
es sieht so aus, als ob er, wenigstens während einiger
Augenblicke, alle Gesetze der Natur überwinden könnte.
Damit hängt aber noch etwas anderes zusammen. Der
Mensch ist nämlich — und vielleicht vor allem — der

Reflexion fähig. Er ist nicht, wie scheinbar alle anderen


Tiere, ausschließlich der Außenwelt zugewandt. Er
kann an sich selbst denken, er ist um sich selbst be
sorgt — er fragt um den Sinn seines eigenen Lebens.
Er scheint auch das einzige Tier zu sein, welches ein
klares Bewußtsein davon hat, daß es sterben muß.

Beachtet man alle diese Besonderheiten des Menschen,


so kann man sich nicht wundern, daß der Begründer
unserer westlichen Philosophie, Plato, zum Schluß ge
kommen ist, der Mensch sei etwas von der ganzen Natur
Verschiedenes. Er, oder eher das, was ihn zum Men-
sdien macht — die Psyche, die Seele, der Geist — ist
freilich in der Welt, gehört aber nicht zur Welt. Er
ragt über die ganze Natur hinaus.
Die genannten Besonderheiten bilden aber nur eine
Seite des Menschen. Wir haben schon bemerkt, daß er

gleichzeitig ein echtes und volles Tier ist. Was noch


wichtiger ist, das Geistige im Menschen hängt mit
diesem rein Tierischen, mit dem Leiblichen eng zu
sammen. Die kleinste Störung im Gehirn genügt ja, um
das Denken des größten Genius lahmzulegen; ein halber
Liter Alkohol ist oft imstande, den raffiniertesten Dichter
i n e i n w i l d e s Ti e r u m z u w a n d e l n . N u n i s t a b e r d e r K ö r -

m
per mit seinen physiologischen Vorgängen, und auch das
tierische Triebleben, etwas vom Geiste so Verschiedenes,
daß sich die Frage aufdrängt, wie eine solche Verbin
dung der beiden überhaupt möglich sein kann. Das ist
die zentrale Frage der philosophischen Wissenschaft
vom Menschen, der Anthropologie, wie man sie nennt.
Auf diese Frage gibt es verschiedene Antworten. Die
älteste und einfachste besteht darin, daß man einfach
leugnet, es gäbe im Menschen irgend etwas anderes als
den Leib und die mechanischen Bewegungen der Körper
teilchen. Diese Lösung ist jene des strengen Materialis
mus. Sie wird heute nur selten vertreten, und zwar unter
anderm wegen eines Argumentes, welches gegen sie
durch den großen deutschen Philosophen Leibniz ge
bracht wurde. Leibniz schlug nämlich vor, man denke
sich das Gehirn so vergrößert, daß man sich in seinem
Innern bewegen könnte wie in einer Mühle. Wir wür
den in ihm nur Bewegungen von verschiedenen Körpern
begegnen, nie aber so etwas wie einem Gedanken. Der
Gedanke und ähnliches müssen also etwas ganz anderes
sein als einfache Bewegungen der Körper. Natürlich
kann man auch sagen, daß es überhaupt keine Gedanken
und kein Bewußtsein gibt; das ist aber so offensichtlich
falsch, daß die Philosophen eine solche Behauptung nicht
ganz ernst zu nehmen pflegen.
Außer diesem extremen Materialismus gibt es auch
einen anderen, gemäßigten, nach welchem es zwar Be
wußtsein gibt, dieses aber nur als Funktion des Leibes —
eine Funktion, die sich von jenen der anderen Tiere nur
dem Grad nach unterscheidet. Dies ist eine viel ernster
zu nehmende Lehre.

Sie ist ziemlich nahe einer dritten Auffassung ver


wandt, die wir Aristoteles verdanken und welche heute

87
eine starke Bekräftigung seitens der Wissenschaft zu
erhalten scheint. Sie unterscheidet sich von der genann
ten zweiten Art des Materialismus in zwei Punkten. Sie
meint erstens, daß es keinen Sinn hat, die geistigen
Funktionen einseitig dem Leib gegenüberzustellen. Der
Mensch, lehrt Aristoteles, ist ein Ganzes, und dieses
Ganze hat verschiedene Funktionen: rein physische,
pflanzliche, tierische und endlich auch geistige. Sie sind
alle Funktionen nicht des Leibes, sondern des Menschen,
des Ganzen. Und der zweite Unterschied besteht darin,
daß Aristoteles mit Plato in den geistigen Funktionen
des Menschen etwas ganz Besonderes sieht, was in den
a n d e r e n Ti e r e n n i c h t v o r h a n d e n i s t .

Endlich vertreten strenge Platoniker — und an sol


chen fehlt es auch heute nicht — die Meinung, daß —
wie ein boßhafter Gegner es formuliert hat — der
Mensch ein in einer Maschine wohnender Engel sei, ein
reiner Geist, der einen reinen Mechanismus bewegt. Da
bei ist dieser Geist, wie schon gesagt, als etwas ganz
anderes als alles übrige in der Welt gedacht. Nicht nur
der französische Philosoph Descartes, sondern auch
viele heutige Existenzphilosophen halten in verschie
denen Abwandlungen diese Lehre. Nach ihnen ist der
Mensch nicht das Ganze, sondern der Geist allein oder,
wie man es heute öfters nennt, die Existenz.
Wie man sieht, handelt es sich hier eigentlich um
zwei Fragen — ob es im Menschen etwas wesentlich an
deres gibt als in den übrigen Tieren und wie dieses
Etwas sich zu den anderen Bestandteilen seiner Natur
verhält.

Es besteht aber um den Menschen noch eine andere

Grundfrage, die gerade durch die Philosophie der letz


ten Jahrzehnte scharf zum Ausdruck gebracht wurde —

88
nämlich durch die sogenannte Existenzphilosophie und
den Existenzialismus. Wir haben nämlich verschiedene
Besonderheiten des Menschen betrachtet, die ihm alle
eine gewisse Würde und Macht verleihen, dank deren
d e r M e n s c h ü b e r a l l e a n d e r e n Ti e r e e r h a b e n i s t . A b e r
der Mensch ist nicht nur das. Er ist auch — und zwar
dank derselben Eigenschaften — etwas Unvollendetes,
Unruhiges und im Grunde genommen Elendes. Ein
Hund, ein Pferd frißt, schläft und ist glücklich; mehr
als die Befriedigung ihrer Triebe brauchen sie gar nicht.
Anders der Mensch: er schafft sich immer neue Bedürf

nisse und ist nie satt. Eine ganz sonderbare Erfindung


des Menschen ist zum Beispiel das Geld, dessen er nie
genug hat. Es sieht so aus, als ob er ganz wesentlich auf
einen unendlichen Fortschritt angewiesen wäre, als ob
nur das Unendliche ihn befriedigen könnte.
Gleichzeitig ist aber der Mensch — und wie es scheint,
nur er — seiner Endlichkeit, vor allem seines Todes,
bewußt. Zusammen bilden diese beiden Eigenschaften
eine Spannung, kraft welcher der Mensch wie ein tragi
sches Rätsel aussieht. Er scheint für etwas dazusein, was
er überhaupt nicht erreichen kann. Was ist dann sein
Sinn, der Sinn seines Lebens?
Diese Rätsel zu lösen haben sich seit Plato die besten
unter unseren großen Denkern bemüht. Sie haben uns
im wesentlichen drei große Lösungen vorgeschlagen.
Die erste, die im neunzehnten Jahrhundert sehr ver
breitet war, besteht in der Behauptung, das Unendlich
keitsbedürfnis des Menschen sei dadurch zu befriedigen,
daß er sich mit etwas Weiterem — vor allem mit der
Gesellschaft — identifiziert. Es hat keine Bedeutung, so
sagen diese Philosophen, daß ich leiden, scheitern und
sterben muß — die Menschheit, das Weltall, wird wei-
tergehen. Wir werden über diese Lösung noch später
zu sprechen haben. Hier sei nur gesagt, daß sie den
meisten zeitgenössischen Denkern als unhaltbar er
scheint; denn anstatt das Rätsel zu lösen, leugnet diese
Meinung das Gegebene, nämlich die Tatsache, daß der
Einzelmensch für sich, als Individuum — und nicht für
irgend etwas anderes das Unendliche begehrt. Im dü
steren Licht des eigenen Todes erweisen sich solche
Theorien als Schall und falsch.

Die zweite Lösung — die heute bei den Existenzia-


listen weit verbreitet ist — behauptet im Gegenteil, der
Mensch habe überhaupt keinen Sinn. Er ist ein Irrtum
der Natur, ein mißratenes Geschöpf — eine nutzlose
Passion, wie Sartre einmal schrieb. Das Rätsel kann
nicht gelöst werden. Wir werden ewig eine tragische
Frage für uns selbst bleiben.
Es gibt aber auch Philosophen, die, Plato folgend,
diesen Schluß nicht ziehen wollen. An einen so voll

ständigen Unsinn in der Welt glauben sie nicht. Eine


Lösung des Rätsels des Menschen muß es nach ihnen
doch geben.
Worin könnte aber diese Lösung bestehen? Nur
darin, daß der Mensch in irgendeiner Weise das Un
endliche erreichen könnte. Das kann er jedoch im dies
seitigen Leben nicht. Wenn es also eine Lösung des
Menschenproblems gibt, dann muß er seinen Sinn im
Jenseits haben, außer der Natur, außer der Welt. Aber
wie? Die Unsterblichkeit der Seele ist, nach vielen Phi

losophen seit Plato, beweisbar; andere setzen sie, ohne


an einen strengen Beweis zu glauben. Aber auch die
Unsterblichkeit bringt noch keine Antwort auf die
Frage. Es ist nicht einzusehen, wie der Mensch, auch im
jenseitigen Leben, das Unendliche erreichen könnte.

0 0
Plato hat einmal gesagt, daß die letzte Antwort auf
diese Frage nur durch einen Gott uns gegeben werden
könnte, durch eine vom Jenseits kommende Offenba
rung.
Das ist aber nicht mehr Philosophie, sondern Religion.
Das philosophische Denken stellt hier, wie in so vielen
anderen Gebieten, die Frage — es führt uns bis an eine
Grenze, an welcher der Mensch schweigend die nicht
mehr zu lichtende Dunkelheit schaut.

Q 1
DASS E I N

Nach unseren letzten Betrachtungen über den Menschen


sollten wir uns eigentlich den Fragen der Gesellschaft
zuwenden. Jedoch ist das Verständnis der letztgenann
ten Probleme, wenigstens meiner Meinung nach, in
hohem Grade davon abhängig, ob man vorerst eine
klare Stellung in einem ganz anderen Gebiet bezogen
hat — nämlich in jenem der O/itologie, der allgemeinen
Lehre vom Seienden. Aus diesem Grunde wird es zweck

mäßig sein, unsere heutige Meditation nicht der Gesell


schaft, sondern dem Seienden zu widmen.
Es handelt sich um ein sonderbares Gebiet. Es ist

wichtig — viele zeitgenössische Philosophen halten es


sogar für zentral —, aber es ist gleichzeitig sehr schwie
rig. Die Schwierigkeiten sind noch dadurch vergrößert,
daß wir heute unter dem Einfluß zweier Traditionen

leiden, welche den Zugang zu diesen Fragen einfach


verunmöglichen. Im Gegensatz zu den anderen Zweigen
der Philosophie, wo fast alle wenigstens darin einver
standen sind, daß es Fragen gibt, ist es hier anders:
zahlreiche ältere, aber auch nicht wenige neuere Philo
sophen leugnen einfach, daß es überhaupt eine Ontoto
gie gibt und daß ihre Probleme sinnvoll sein könnten.
Diese Traditionen sind jene des Positivismus und des
erkenntnistheoretischen Idealismus. Daraus erwächst
hier für uns eine zweifache Aufgabe: wir müssen uns
zuerst fragen, ob es eine Ontologie gibt, und erst dann,
falls wir uns für ihre Legitimität entschließen, dürfen
wir uns mit ihren Problemen beschäftigen.

92
Bevor wir uns aber diese Frage stellen, wird es nütz
lich sein, einige terminologische Angelegenheiten zu
klären. In der Ontologie spricht man oft vom Sein, und
zwar gebraucht man dieses Wort nicht als ein Verbum,
sondern substantivisch; man sagt also nicht etwa: „es
ist angenehm, gesund zu sei}i \ sondern: „Das Sein ist
dieses und jenes". Wenigstens pflegen viele Ontologen
dieses Wort so zu gebrauchen. Was mich persönlich an
geht, so habe ich immer gefunden, daß es besser ist, nicht
vom Sein, sondern vom Seienden zu sprechen. Man
nennt nämlich alles, was in irgendeiner Weise ist, also
besteht, existiert, ein Seiendes. So ist jeder meiner ver
ehrten Leser ein Seiender, aber auch sein Taschentuch
und sogar seine gute oder schlechte Laune. Ja, die Mög
lichkeit, daß er morgen lacht, wird ein Seiendes — denn
es gibt eine solche Möglichkeit, sie besteht, sie ist da.
Alles, was ist, ist ein Seiendes — außer den Seienden
gibt es nichts.
Was nun das Sein betrifft, so ist es das Abstrakte
vom Seienden — so ungefähr wie die Röte das Ab
strakte vom Roten, die Wut von einem wütenden Men
schen oder Tier, die Höhe ein Abstraktes von einem
hohen Turm, undsoweiter. Eine fundamentale Regel
der philosophischen Methode besagt aber, daß man,
wenn möglich, alle abstrakten Worte auf konkrete zu
rückführen soll — denn dann wird die Forschung leich
ter und man ist wenigstens gewissermaßen vom Unfug
gesichert, welcher im Reich der Abstrakta nur zu oft
waltet. Man denke nur an allen Unsinn, welcher über
die Wahrheit geschrieben wurde, und zwar nur deshalb,
weil man sich nicht die Mühe gegeben hat, anstatt der
abstrakten „Wahrheit" das kleine und konkrete Wört
chen „wahr" zu gebrauchen. Aus diesem Grunde werde
ich auch hier, soweit möglich, das Wort „Sein" vermei
den und immer von Seiendem sprechen.
Es gibt nun, wie ich schon sagte, Meinungen, nach
weichen es keine Lehre vom Seienden geben kann. Eine
solche Meinung ist zuerst durch den erkenntnistheore
tischen Idealismus vertreten worden. Er meint, daß
alles, was von den Seienden gesagt werden kann, schon
in den Einzelwissenschaften gesagt wird — für die Phi
losophie bleibe nur die Aufgabe, klarzumachen, wie die
Erkenntnis in den Einzelwissenschaften zustande

kommt, wie sie überhaupt möglich sei. Dazu pflegen die


erkenntnistheoretischen Idealisten zu sagen, daß das
Seiende auf das Denken zurückzuführen sei.
Die Ontologen antworten aber darauf zweifach. Sie
sagen erstens, daß keine Einzelwissenschaft solche Fra
gen, wie jene der Möglichkeit im allgemeinen, der Kate
gorien undsoweiter, behandelt oder behandeln kann.
Und sie bemerken zweitens, dal^ das Denken, auf wel
ches man das Seiende zurückführen will, ja ist, also ein
Seiendes ist; und daß das ganze Unternehmen nur inso
weit überhaupt einen Sinn hat, als man zwei Arten von
Seiendem annimmt und dann ihr gegenseitiges Verhält
nis untersucht. Das ist aber — so sagen die Ontolo
gen — gerade Ontologie. Sie behaupten also, der er
kenntnistheoretische Idealismus sei im Grunde genom
men eine Ontologie, nur eine primitive und naive, weil
unbewußte Ontologie.
Die andere anti-ontologische Meinung ist die der Po-
sitivisten. Sie ist heute — im Gegenteil zum eher ver
schwindenden erkenntnistheoretischen Idealismus —
weit verbreitet, vor allem in den angelsächsischen Län
dern. Diese Philosophen behaupten, daß, wenn ich zum
Beispiel sage, der Hund sei ein Tier, dies eine sinnvolle

94
wissenschaftliche Aussage sei; wenn ich aber behaupten
würde, er sei eine Substanz — die Substanz ist nämlich
ein ontologischer Begriff —, so sage ich überhaupt nichts
über die Wirklichkeit. Ich spreche nicht vom Hund, son
dern vom Wort „Hund". Die Ontologie soll also durch
eine allgemeine Grammatik ersetzt werden.
Die Ontologen fühlen sich jedoch auch durch diese
Argumentation nicht betroffen. Sie sagen, es sei nicht
klar, warum man bis zu einer gewissen Grenze die Be
griffe verallgemeinern dürfe — etwa nach der Reihe
Raubtier — Säugetier — Wirbeltier — Tier — Lebe
wesen —, weiter aber nicht; warum auf einmal, fragen
sie, dieser Sprung in das Sprachliche? Jede Realwissen
schaft kann mit den Mitteln der heutigen mathemati
schen Semantik in eine Sprachwissenschaft umgewandelt
werden: zum Beispiel statt von den Wirbeltieren zu
sprechen, kann man vom Gebrauch des Wortes „Wir
beltier" reden. 1st es aber einmal erlaubt, das Seiende
in Tiere und Pflanzen zu teilen, dann darf man viel
leicht auch allgemeinere Einteilungen bilden, die nicht
mehr der Biologie angehören, sondern einer allgemei
neren, der allgemeinsten aller Wissenschaften — und
das wäre die Ontologie. Tatsächlich haben sich diese
Gegenargumente zuletzt, besonders in den Vereinigten
Staaten Amerikas, als sehr einflußreich erwiesen. Ge
rade unter den führenden Logikern sind es viele, die
einmal in ihrer Mehrheit dem Positivismus gehuldigt
haben, die heute eifrig Ontologie treiben. Ein klassi
sches Beispiel ist der bekannte Logiker der Universität
Harvard, Professor Quine.
Noch eine dritte Meinung könnte formuliert werden.
Man könnte nämlich fragen, ob es überhaupt möglich
ist, irgend etwas vom Seienden im allgemeinen zu sa-

0 ^
gen, außer der Trivialität: „Das Seiende ist seiend",
oder: „Was ist, ist." Es ist nämlich nicht gleich einzu
sehen, welche Art von anderen Aussagen in dieser Wis
senschaft vorkommen könnte.
Mir scheint nun, daß man diese Frage am besten da
durch beantwortet, daß man einfach Ontologie treibt,
daß man ihre Probleme aufstellt und zu lösen versucht.
Das ist auch, was alle großen Philosophen der Vergan
genheit, von Plato bis Hegel, immer getan haben; und
heute, nach einer relativ kurzen Periode ohne Ontolo
gie, besitzen wir wieder eine lange Reihe von überzeug
ten Ontologen. Wir werden ihnen einfach in einigen
ihrer Untersuchungen folgen.
Und zuerst eine ganz kleine und auf den ersten Blick
leicht zu lösende Frage — die aber während der letzten
Jahrzehnte viele Diskussionen hervorgerufen hat: die
Frage um das Nichts. Wir haben gesagt, daß alles, was
ist, ein Seiendes ist. Daraus scheint zu folgen, daß es
außer dem Seienden nichts gibt. Und daraus könnte
man wieder ableiten, daß es ein Nichts gibt, also daß
das Nichts in irgendeiner Weise doch ist, existiert. Viel
leicht wird dies als ein Sophisma anmuten. Wir pflegen
zu sagen, daß etwas nicht ist — oder wie Sartre es noch
schärfer formuliert: daß es nichts gibt. Zum Beispiel:
wenn der Motor im Wagen streikt, schaut einer in den
Vergaser und sagt: „Im Vergaser gibt es nichts." Die
Frage lautet nun: ist dieser Satz wahr? Offenbar ist er
manchmal wahr. Wenn aber ein Satz wahr ist, dann
muß es in der Wirklichkeit so sein, wie er sagt. Das ist
die Definition der Wahrheit. Also muß es ein Nichts im

Vergaser geben.
Übrigens: wir sprechen sinnvoll vom Nichts, zum Bei
spiel jetzt rede ich darüber. Wenn ich aber über etwas

96
sinnvoll rede, dann muß dieses Etwas ein Gegenstand
sein. Andernfalls würde ich gar nicht darüber sprechen
können. Also ist das Nichts ein Gegenstand. Also ist
es. Und doch ist es nichts; also: es ist nicht.
Durch solche und ähnliche Gedanken wurden einige
zeitgenössische Denker — wie die genannten führenden
Existenzphilosophen — dazu bewegt, daß sie sagten,
das Nichts bestehe in irgendeiner Weise. Andere Phi
losophen folgen ihnen freilich nicht. Sie sagen, das
Nichts sei nur gedacht, es ist aber gar nicht. Mir per
sönlich scheint die Frage recht kompliziert und schwierig
zu sein. Ich würde vielleicht das Folgende sagen. Ich
würde bemerken, daß man zwischen dem realen und
dem idealen Seienden unterscheiden muß. Der Begriff
des Nichts ist ein ideales Seiendes — und ein Bild be
sonderer Art, des Mangels am realen Seienden. Das er
klärt, wie wir überhaupt von ihm reden können. Weiter
würde ich vielleicht sagen, daß ein Mangel etwas Re
ales sein kann. Daß zum Beispiel mein Freund l'^ritz in
diesem Cafe nicht ist, ist trotz allem etwas Reales. Es ist
nicht bloß durch mich gedacht — sondern ist schon so im'
Cafe. Nun ist die Frage nach dem Mangel eine sehr
sonderbare und sehr schwierige Frage. Es scheint mir
klar zu sein, daß gewisse Mängel an allem, was wir ken
nen, haften — schon deshalb weil alle diese Seienden
beschränkt und endlich sind. Damit kommen wir aber

in sehr tiefe metaphysische Fragen — in die Probleme


der Endlichkeit des Seienden, die ich hier lieber nicht
berühren möchte. Ich werde nur sagen, daß letzten En
des Nicht-Seiendes in irgendeiner Weise anzunehmen
ist, obwohl schon nicht, wie Sartre es tut. Wir kommen
vielleicht noch in der letzten Meditation darauf zurück.
Das wäre ein Beispiel einer ontologischen Frage —

97
und es sollte klar sein, daß keine Einzelwissenschaft sie
zu lösen vermag. Hier ist aber eine andere Frage:
Man spricht in der Alltagssprache und auch in der
Wissenschaft von der Möglichkeit. Zum Beispiel, sagt
man, hat ein Kind die Möglichkeit, ein Philosoph zu
werden, ein Stuhl aber nicht. Man könnte zuerst mei
nen, daß diese Möglichkeit etwas nur von mir Gedach
tes ist, dafS es in der Wirklichkeit nur solche Sachen gibt,
die schon sind. Das trifft aber sicher nicht zu; denn die
Tatsache, daß dieses Kind zum Beispiel zum Philoso
phen werden kann oder werden könnte, hängt gar nicht
davon ab, was irgend jemand darüber denkt. Auch
wenn es niemand gibt, der darüber denkt, bleibt es
noch immer wahr, daß das Kind diese Möglichkeit hat.
Das ist aber sehr merkwürdig. Es sieht so aus, als ob
wir im Realen selbst eine Unterscheidung durchführen
sollten, nämlich zwischen dem real Wirklichen — dem,
was schon sozusagen voll ist — und dem real Mög
lichen — dem, was werden kann. Nicht alle Philosophen
sind damit einverstanden: Parmenides, ein alter grie
chischer Denker, dann die Megariker und letztens der
deutsche Philosoph Nicolai Hartmann und Sartre be
haupteten, das Wirkliche und das Mögliche seien im
Grunde dasselbe. Dagegen meint Aristoteles und seine
Schule, man müsse beide scharf unterscheiden. Dadurch
entsteht eine weitere ontologische Problematik, die, wie
es scheint, fast immer im Zentrum der philosophischen
Diskussion gestanden hat und auch heute steht.
Ein drittes ontologisches Problem ist jenes der so
genannten Kategorien. Die Welt scheint nämlich so
aufgebaut zu sein, daß sie aus gewissen Dingen besteht,
welche durch Eigenschaften gekennzeichnet und unter
einander durch Beziehungen verbunden sind. Es sieht

Q K
also so aus, als ob wir in der Welt, im Realen, drei
verschiedene Aspekte oder Arten des Seienden unter
scheiden sollten. Zuerst die Dinge, oder wie man sie
nach Aristoteles zu nennen pflegt, die Substanzen —
etwa Berge, Menschen, Steine —, dann die .Eigenschaf
ten — zum Beispiel jene, die darin bestehen, daß ge
wisse Dinge rund, andere aber viereckig sind, gewisse
Menschen klug, andere dumm, gewisse Berge hoch, an
dere niedrig sind —, endlich Beziehungen oder Relatio
nen, wie die Beziehung des Vaters zum Sohn, des grö
ßeren zum kleineren, des Bürgers zum Staat, undso-
weiter. Man beachte, daß diese Einteilung weder mit
Wirklichkeit und Möglichkeit noch mit den sogenannten
Stufen des Wirklichen — etwa jenen des Stofflichen
und Geistigen — irgend etwas zu tun hat. Denn alle
Kategorien können — so scheint es wenigstens — eben
sowohl wirklich wie möglich sein, ebensowohl stofflich
wie geistig.
Die genannten drei Kategorien — Substanz, Eigen
schaft und Beziehung — werden tatsächlich in der
Praxis des Denkens immer vorausgesetzt. Sie sind es
zum Beispiel im gewaltigen mathematisch-logischen
Werk von Whitehead und Russell, welches die Grund
lage der neuzeitlichen Logik bildet. Wenn man aber
darüber nachdenkt, so tauchen große Schwierigkeiten
auf, und zwar in Hinblick auf jede der genannten drei
Kategorien. Die Eigenschaft ist sehr schwer faßbar —
die Versuchung liegt nahe, sie als etwas Unreales zu
denken. Noch schwieriger ist vielleicht, eine Beziehung
zu verstehen, die an sich das Merkwürdige hat, daß sie
sozusagen in irgendeiner Weise zwischen den Dingen
zu sein scheint. Aber auch die Substanz bietet nicht

wenige Schwierigkeiten. Alles nämlich, was wir von

QQ
einem Ding wissen, sind gerade seine Eigenschaften.
Sehen wir von ihnen ab, dann scheint überhaupt nichts
zu bleiben.

Und deshalb besteht über die Kategorien ein alter


philosophischer Streit. Leibniz, der geniale Logiker des
siebzehntenJahrhunderts, hat ein System aufgebaut, in
welchem es keine realen Beziehungen zwischen den Din
gen gibt. Das Hegeische System enthält dagegen nur
Beziehungen — die Dinge sind nach ihm nur Bündel
von Beziehungen und die Eigenschaften sozusagen Nie
derschläge von Beziehungen. Andere Philosophen pfle
gen wieder, mit Aristoteles, alle drei Grundkategorien
anzunehmen.

Die Sache hat eine ganz grundlegende Bedeutung,


nicht nur für die Gottesfrage — aus verschiedenen Kate
gorienlehren ergeben sich ganz verschiedene Gottes
begriffe —, sondern auch für die Philosophie der Cre-
sellschaft, wo, wie wir sehen werden, was grundlegend
ist, von der angenommenen Kategorienlehre abhängt.
Im Zusammenhang damit möchte ich noch zwei wei
tere ontologische Probleme nennen: das Problem des
Wesens und das Problem der inneren Relationen. Das
erste lautet: Ist jedes Seiende nur eine sozusagen gleich
mäßige Anhäufung von Eigenschaften und Beziehun
gen, oder kann man in ihm eine fundamentale Struktur
e n t d e c k e n , d i e d a s b e t r e ff e n d e S e i e n d e k o n s t i t u i e r t u n d
aus welcher sich weitere Eigenschaften ergeben? In an
deren Worten: Gibt es zum Beispiel für den Menschen
wesentliche Kennzeichen? Es scheint so; denn für den
Menschen ist zum Beispiel wesentlich, dal^ er ein biß
chen Vernunft hat — unwesentlich aber, daß er, sagen
wir, ein Franzose sei. Das geben freilich alle zu. Zahl
reiche Philosophen behaupten aber, daß das Wesen

100
selbst vom subjektiven Standpunkt abhängt und im
Realen gar nicht begründet ist. Der Streit zwischen
ihnen und jenen Denkern, welche reale Wesenheiten
annehmen, ist immer einer der wichtigsten in der Philo
sophie gewesen.
Das zweite Problem ist ähnlich und wird seit Hegel
viel diskutiert. Nach Hegel sind nämlich alle Beziehun
gen eines Dinges dem Dinge selbst in dem Sinne „inner
lich", daß es ohne sie nicht bestehen kann. Anders ge
sagt, ein Ding wird durch seine Beziehungen zu dem,
was es ist; sie konstituieren sein Wesen. Sie sind alle
notwendige, innere Relationen. Dagegen meinen andere
Philosophen, daß es wohl einige solche wesensnotwen
digen Beziehungen gibt — zum Beispiel wird ein Sin
nesorgan durch seine Beziehung zum Objekt konsti
tuiert, etwa das Gehör durch die Beziehung zu den
Lauten —; aber es gibt auch unwesentliche, nicht kon
stituierende Relationen. So, sagen jene Philosophen, ist
es für den Menschen unwesentlich, ob er sitzt oder steht
— er bleibt ein Mensch —, oder anders gesagt, er ist
zuerst Mensch, und erst dann geht er in verschiedene
solche Beziehungen ein. Auch dieses Problem hat eine
sehr große Bedeutung für zahlreiche Gebiete, vor allem
für die Gesellschaftsphilosophie.
Wir haben damit einige ontologische Fragen genannt,
einige Beispiele der ontologischen Problematik skizziert.
Es sind bei weitem nicht alle, auch nicht alle grund
legenden Fragen dieser Disziplin. Es besteht zum Bei
spiel noch ein sehr wichtiges Problem des Unterschiedes
zwischen den sogenannten Stufen des Seienden — etwa
in der Reihe: Stoff — Leben — Geist. Ist dieser Unter
schied wesentlich, wie Aristoteles und Hegel meinten,
oder handelt es sich nur um mehr komplexe Strukturen

101
einer einzigen Grundschidit, mit dem naiven Materia
lismus und dem ebenso radikalen Spiritualismus? Was
ist — weiter — die Beziehung der Existenz — dessen,
wodurch ein Seiendes ist, besteht, und der Essenz —
dessen, was es ist? Wie stehen das ideale Seiende und
das reale zueinander? Soll man das Ideale als ein Ab
bild des Realen oder, umgekehrt, das Reale als ein Ab
bild des Idealen sich denken? Wie steht es mit der Not

wendigkeit und Zufälligkeit im Realen? Ist etwa alles


so determiniert, daß es nicht anders werden kann, oder
ist es nicht so, und dann, was bedeutet das Wort „kann"
in diesem Zusammenhang?
Das sind Fragen, mit welchen sich die Ontologie be
faßt. Es sind schwierige und sehr abstrakte Fragen. Wer
aber daraus folgern würde, sie seien unwichtig, der
würde sich irren. Es genügt, Plato und Hegel zu nen
nen, die beiden Ontologen, um sich zu vergegenwärti
gen, daß diese scheinbar lebensfremde Wissenschaft
eine fruchtbare, die Geschichte und das Leben der
Menschheit gestaltende Kraft sein kann.

102
DIE GESELLSCHAFT

Nach den sehr abstrakten Betrachtungen über ontolo-


gische Probleme kommen wir heute zurück zu den Fra
gen des menschlichen Daseins, und zwar zu jenen der
Gesellschaft. Ich werde hier das Wort „Gesellschaft" im
gewöhnlichen, alltäglichen Sinne gebrauchen, ohne
einen Unterschied zu machen zwischen den verschie
denen Formen, die sie annehmen kann — etwa der Ge
sellschaft im strengen Sinne des Wortes und der Le
bensgemeinschaft. Es wird sich also um die sogenann
ten sozialen oder gesellschaftlichen Fragen handeln.
Man könnte nun zuerst meinen, es seien alles durch
und durch praktische, politische, wirtschaftspolitische
oder gar strategische Probleme. Ob man, zum Beispiel,
eine Demokratie oder eine Diktatur haben soll, das
hängt davon ab — so könnte man meinen —, welche
dieser Verfassungsformen zweckmäßiger ist; und ob
Privateigentum oder Staatsmonopol an Produktions
mitteln besser ist, darüber, scheint es, kann nur ein Po
litiker oder ein Ökonom entscheiden, also ein Praktiker,
nicht der Philosoph. Es sieht so aus, als ob wir es hier
mit einem Gebiet zu tun hätten, welches vollständig
außerhalb der Philosophie liegt.
U n d d o c h i s t e s n i c h t s o . F r e i l i c h s i n d d i e Ve r f a s

sungsformen und ökonomischen Strukturen weitgehend


vom Standpunkt ihrer Zweckmäßigkeit zu beurteilen;
und es ist auch wahr, daß der Philosoph zu den konkre
ten Fragen aus diesem Gebiet — wie übrigens aus den
anderen Gebieten — nur wenig zu sagen hat. Ob zum
Beispiel eine staatliche Fabrik privatisiert werden soll

1 (v^
oder nicht, ob man dem Staatspräsidenten mehr oder
weniger Macht geben will, ob man einen bestimmten
Staat zentralistisch oder föderalistisch einrichtet — dar
über muß in jedem P^all vom Standpunkt der Umstände
geurteilt werden; und das gerade tun die Praktiker,
nicht die Philosophen.
Aber es genügt nicht, die Umstände allein zu kennen,
um über solche Fragen zu entscheiden. Jene, die sagen,
alle gesellschaftlichen Angelegenheiten seien vom
Standpunkt ihrer Zweckmäßigkeit zu werten, sagen da
durch auch, daß ein Zweck, also ein Ziel, vorausgesetzt
ist. Welches Ziel? Darauf antworten einige, es handle
sich gar nicht um eine philosophische Frage: das Ziel sei
einfach die Macht des Staates. Aber der Philosoph fragt
hier: Und warum soll gerade die Macht des Staates un
ser Ziel sein? Wird nun der Vertreter der genannten
Meinung seine Ansicht in irgendeiner Weise zu recht
fertigen versuchen, dann treibt er nicht mehr Politik
oder Staatslehre, keine Wirtschaftstheorie, sondern
Ethik, also Philosophie. Und tatsächlich ist es so, daß
man ohne Philosophie — ob sie gut oder falsch sei, wis
senschaftlich oder dilettantisch — überhaupt keine An
sichten über die Gesellschaft vertreten kann. Denn alle
diese Ansichten hängen, wie gesagt, vom Ziel ab, und
die Bestimmung dieses Zieles gehört der Philosophie.
Jedoch ist die Frage nach dem Ziel des gesellschaft
lichen Handelns, obwohl zentral, nicht die erste Frage,
welche sich der Philosoph stellt. Das große, fundamen
tale Problem der sozialen Philosophie ist nämlich die
FVage nach der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie lau
tet: Was ist an der Gesellschaft wirklich, real — und
in welchem Grad? Ich werde hier nur diese Frage er
örtern, weil ich glaube, daß die Lösung aller andern, so

104
zum Beispiel der Frage um die Würde und Freiheit des
Menschen, nur eine Folgerung aus der Antwort sind, die
wir auf sie geben.
Die Lage ist nun folgende: jeder von uns empfindet,
daß ihm in der Gesellschaft eine Macht gegenübersteht,
die er lieb oder unlieb haben kann, die aber ganz sicher
sich nicht einfach wegdenken läßt wie unsere Phantasie
bilder. Zum Beispiel ist es uns nicht erlaubt — wie der
große englische Ökonom John Stuart Mill einmal so
eindringlich bewiesen hat —, uns so zu verhalten, wie
wir wollen, auch nicht in der am meisten freiheitlichen
Gesellschaft. Um nur eine Kleinigkeit zu nennen, müs
sen wir uns alle, ob wir wollen oder nicht, in gewissen
Grenzen an die herrschende Mode halten. Würde ich

versuchen, im Badeanzug an einem heißen Tag meine


Vorlesung zu halten — ich habe oft diese Versuchung
gehabt —, dann würden sich ganz peinliche Konsequen
zen ergeben. Wahrscheinlich würde ich meinen Lehr
s t u h l v e r l i e r e n . Vi e l l e i c h t w ü r d e i c h i n e i n K r a n k e n h a u s

eingesperrt, und mein hochverehrter Kollege, der


Psychiater, welcher zugleich Direktor dieser Anstalt ist,
würde versuchen, mir meine Ideen über die Bekleidung
an heißen Tagen durch zweckmäßige Einspritzungen zu
verbessern — sie nämlich den sozialen, den in der
schweizerischen Universitätswelt geltenden Normen an
zupassen.

Und würde die Gesellschaft mich nur äußerlich fes


seln! Sie greift aber auch in mein Denken, in meine Ge
fühle, sie bestimmt, wenigstens in einem sehr hohen
Grade, mein ganzes geistiges Leben. So zum Beispiel ist
dieses Leben weitgehend durch die Sprache bestimmt.
Die Sprache hängt aber durch und durch von der Gesell
schaft ab. So ist das meiste, was ich weiß, aus der Tra-

105
dition gelernt — ich habe es von der Gesellschaft erhal
ten. Und auch was ich fühle und will, hängt in den mei
sten Fällen weitgehend von meiner Erziehung ab, von
dem, was die Gesellschaft als Ganzes jetzt fühlt und
meint.

Es ist also kein Wunder, daß die Gesellschaft den


denkenden Menschen, den Philosophen, immer als eine
sehr reale Macht erschienen ist. Sie scheint da zu sein, zu
existieren, genau in der Weise wie andere reale Dinge
in der Welt — vielleicht ist sie nur mir gegenüber noch
mächtiger, noch sozusagen realer als irgendein anderer
Bestandteil dieser Welt.
Hier melden sich aber gleich die Schwierigkeiten. Se
hen wir uns um, dann finden wir in der Gesellschaft nur
Menschen, ich meine Einzelmenschen. Suche ich zum
Beispiel nach dem Sinn des Wortes „Menschheit", dann
finde ich nur Individuen — die Menschheit scheint ein
fach der Inbegriff von allen Menschen zu sein. Und das
selbe gilt auch von den anderen Gesellschaften. Die
Familie, das sind, zum Beispiel, der Vater, die Mutter,
die Kinder, vielleicht noch die Großmutter und der On
kel — und nichts mehr. Das deutsche Volk, das sind die
Deutschen zusammen. Obwohl also die Gesellschaft mir

gegenüber als eine wirkliche Macht gegenübersteht,


finde ich sie nirgends — in der Welt scheint es keine zu
geben.
Solche Erwägungen haben nun zahlreiche Philoso
phen — ich will sie „Individualisten' nennen — dazu
bewegt, daß sie sagten, die Gesellschaft sei eine reine
Fiktion. In der Wirklichkeit bestehen nur Einzelmen
schen. Man nennt sie zusammen „Gesellschaft" — das
ist aber nur ein Wort. Wenn man vom Staat spricht,
dann meint man im Grunde nicht den Staat — denn

108
etwas solches gibt es ja gar nicht —, sondern die Bürger,
oder genauer, jene unter ihnen, welche die Macht aus
üben. Die Pflichten dem Staat gegenüber sind also
Pflichten dem Staatsoberhaupt, den Beamten undso-
weiter gegenüber.
Sie werden mich selbstverständlich fragen: Wie aber
kann eine solche Behauptung ernst genommen werden?
Wie können jene Individualisten die evidente Tatsache
des Druckes erklären, welchen die Gesellschaft auf mich
ausübt? Tatsächlich leugnen sie ihn aber nicht und wis
sen ihn auch zu erklären. Sie sagen nämlich, daß er
durch die gegenseitige Wirkung der Einzelmenschen zu
stande kommt. Auch Elementarkörper, Elektronen, sa
gen wir, sind Einzeldinge, aber sie bilden doch im Atom
ein Ganzes, und zwar deshalb, weil sie gegenseitig auf
sich wirken — sich anziehen oder abstoi^en. So auch die
Menschen in der Gesellschaft. Daß dabei diese An

ziehungskraft nicht nur mechanisch, sondern auch bio


logisch oder psychologisch gedeutet wird, ist hier be
langlos. Das wichtigste ist nur, daß hier das einzig
Wirkliche in der Gesellschaft die Einzelmenschen sind
und daß das Ganze ausschließlich aus ihnen besteht.
Wenn wir aber über diese Lösung nachdenken, dann
finden wir darin verschiedene Schwierigkeiten. Es fällt
zuerst auf, daß gemäß dieser Deutung die Wechselwir
kung unter den Menschen als etwas Unreales aufgefaßt
werden muß. Würden nämlich die Individualisten die

Wirkungen als wirklich, als real auffassen, dann könn


ten sie unmöglich sagen, daß die Gesellschaft ausschließ
lich aus Individuen besteht. Sie würde dann aus ihnen
mit jenen verschiedenartigen Beziehungen bestehen —
sie wäre also mehr als die Summe der Einzelmenschen.
Auch ein Atom ist ja mehr als die Summe der Elemen-

1 0 7
tarkörper, Protonen, Elektronen oder wie sie noch hei
ßen sollen. Desto mehr die Gesellschaft.

Warum aber werden diese Beziehungen als nicht real


angesehen? Nur deshalb, weil dem Individualismus
eine bestimmte Kategorienlehre zugrunde liegt. Die In
dividualisten meinen nämlich, das einzig Reale in der
Welt seien die Dinge, die Substanzen. Alles übrige soll
unreal sein, im besonderen die Beziehungen.
Man wird wohl sagen, das seien lebensfremde Theo
rien. Aber das ist sicher ein Irrtum. Denn ist der In
dividualismus in dem beschriebenen Sinne des Wortes
w a h r, d a n n k a n n m a n n i c h t e i n s e h e n , w i e d i e G e s e l l
schaft irgendein Recht haben könnte. Was nicht ist, was
nur eine Fiktion sein soll, kann keine Rechte besitzen.
Und was sich dann aus dieser Theorie ergibt, ist ein
extremer sozial-ethischer Individualismus. Freilich, nur
wenige Philosophen haben es gewagt, diese Folgerung
zu ziehen — eine rühmliche Ausnahme ist ein deutscher

Denker, Max Stirner, gewesen, der ein Buch verfaßte:


„Der Einzige und sein Eigentum", worin alle sozialen
Pflichten geleugnet werden. Es ist nur zu bedauern, daß
andere individualistische Philosophen seinen Mut nicht
hatten. Denn, so scheint es mir. Stirner hatte recht: ist
man einmal ein Individualist, meint man, daß nur der
Einzelmensch in der Gesellschaft wirklich ist, dann soll
man auch ein sozialethischer Individualist sein.
Aber der sozialethische Individualismus ist so offen
sichtlich falsch, er verletzt so evident unsere Einsichten
in die moralischen Werte, daß die ganze Theorie ir
gendwo falsch sein muß.
Und deshalb hat es in der Geschichte nicht wenige
Philosophen gegeben, die, von der Tatsache ausgehend,
daß die Gesellschaft etwas Reales ist, eine entgegen-

108
gesetzte Theorie aufgebaut haben. Und zwar gibt es
vom ontologischen Gesichtspunkte her zwei Arten sol
cher Theorien.

Die erste unter ihnen meint, genau wie der Indivi


dualismus, daß nur die Substanzen wirklich seien. Sie
sieht aber — im Gegensatz zum Individualismus — die
Substanz, wenigstens die volle Substanz, nicht in den
Einzelmenschen, sondern in der Gesellschaft. Es gibt
danach in der Gesellschaft nur ein Ding, ein volles We
sen, eine Substanz — nämlich das Ganze. Die Indivi
duen, die Einzelmenschen, sind nur Teile dieser Sub
stanz, also keine vollen Wesen. So wie die Hand des
Menschen kein volles Ding in sich selbst ist, sondern
nur gerade ein Teil des Gesamtdinges, des Menschen,
s o i s t a u c h d e r E i n z e l m e n s c h n u r e i n Te i l d e r G e s e l l
schaft.
Die andere Theorie setzt eine entgegengesetzte Kate
gorienlehre voraus, zieht aber aus ihr eine ähnliche Fol
gerung. Es wird hier nämlich vorausgesetzt, daß es
eigentlich nur eine Kategorie gibt, eine einzige Wirk
lichkeit, nämlich die Beziehungen, die Relationen. Wie
ich in der letzten Meditation ausgeführt habe, sind
dann die Substanzen — etwa Menschen — durch die Be

ziehungen konstituiert; sie sind, was sie sind, nur dank


dieser Beziehungen; sie sind sozusagen Bündel von Re
lationen. Ist es aber so, dann kann und soll die Gesell
schaft als das wahre Ganze angesehen werden, der Ein
zelmensch, welcher durch die gesellschaftlichen Bezie
hungen konstituiert ist, erscheint hier (noch mehr als in
der ersten Lösung) als etwas Untergeordnetes, etwas
weniger Reales als die Gesellschaft. „Das Wahre ist
das Ganze", sagt Hegel, der Urheber dieser Lehre —
wobei „wahr" hier etwa „wirklich", „substantiell", „an

109
sich bestehend" meint. Der Mensch ist bei Hegel und
seinen Schülern ein dialektisches Moment der Gesell
schaft und nichts mehr.
Diese beiden Lehren führen wie der Individualismus
zu schwerwiegenden sozialethischen Folgerungen. Denn
ist die Gesellschaft das einzig wahrlich wirkliche Reale,
das einzige voll Existierende und der Mensch nur ein
Teil, ein Moment in ihr — dann sollte es klar sein, daß
er keine Eigenrechte haben kann. Er ist ja in der Ge
sellschaft, durch die Gesellschaft und für die Gesell
schaft. Was sich hier ergibt, ist ein sozialethischer Kol
lektivismus, ja Totalitarismus, nach welchem der
Mensch im Grunde genommen — obwohl dies in Wor
ten oft geleugnet wird — ein Mittel wird, die Gesell
schaft aber das einzige Ziel bleibt.
Orwell, der Verfasser des bekannten Zukunftsromans
„Neunzehnhundertvierundachtzig" hat das mit gro
ßer Schärfe eingesehen. Sein Held fragt den Henker
während der Folter, ob der Diktator, der „Große Bru
der", existiert. Der Henker fragt darauf, was das be
deuten soll. Lind das Opfer sagt: „Ja einfach, wie ich
existiere." Er erhält darauf eine Antwort, die sich aus
dem Sozialkollektivismus ergibt: „Du existierst gar
nicht." Der Einzelmensch existiert gar nicht, wenigstens
hat er keine volle Existenz. Er wird und soll ewig als
ein Werkzeug, als ein Mittel für das Ganze gebraucht
und rücksichtslos ausgenützt werden. Eigene Rechte
kann ein solches „Moment", ein solches „Unwesen"
nicht haben.

Das ist also die philosophische Antinomie, die den


Hintergrund für die Auseinandersetzung bildet, in wel
cher die Menschheit heute steht. Was ist real? Der
M e n s c h o d e r d i e G e s e l l s c h a f t ? Wa s i s t d e r Z w e c k u n d
w a s d i e M i t t e l — d a s G a n z e o d e r d a s I n d i v i d u u m ? We r
soll dem anderen geopfert werden? Sind etwa Konzen
trationslager, in welchen Millionen von Menschen gren
zenlos leiden und sterben, berechtigt, weil sie für die
Gesellschaft nützlich sind — oder sollen wir sagen, daß
die Gesellschaft uns gegenüber überhaupt keine Rechte
hat, daß Steuer, Militärdienst, ja polizeiliche Verkehrs
regeln moralisch unberechtigt sind, daß wir einer Fik
tion, dem Staat, gegenüber keine Pflichten haben kön
nen?

Der gesunde Menschenverstand wehrt sich gegen die


Annahme irgendeiner dieser extremen Thesen. Es
scheint dem vorphilosophischen, schlichten Menschen
klar zu sein, daß das Individuum, der Einzelmensch,
Eigenrechte hat — daß er aber auch Pflichten der Ge
sellschaft gegenüber haben muß, daß weder er noch sie
Fiktionen oder „Momente" sind. Das glauben wir — so
scheint mir wenigstens — alle. Aber wie kann dieser
Glaube — oder besser, diese Einsicht — philosophisch
erklärt und gerechtfertigt werden?
Eine solche Erklärung und Rechtfertigung ist tat
sächlich vorhanden, und zwar, insofern es sich um die
theoretischen Grundlagen handelt, schon bei Aristo
teles. Sie baut sich, wie alle sozialen Lehren, auf einer
bestimmten Kategorienlehre auf. Von diesem Stand
punkt aus sind nicht nur die Substanzen real, und zwar
real im vollen Sinne des Wortes, als primäre Realitäten,
sondern auch die Beziehungen. Diese sind zwar keine
Dinge, keine Substanzen, sind jedoch da; sie haften
wirklich an den Substanzen und verbinden sie unter
einander. Daraus ergibt sich gleich ein Zweifaches. Zu
erst, daß die einzige volle Realität in der Gesellschaft
die Einzelmenschen sind. Zweitens, daß die Gesellschaft

1 1 1
mehr als die Summe der Einzelmenschen ist: sie enthält
nämlich außer ihnen noch die realen Beziehungen unter
den Menschen und zum gemeinsamen Zweck.
Dazu kommt noch eine zweite fundamentale Lehre.
Die genannten Beziehungen, die uns in der Gesellschaft
verbinden, schweben ja nicht in der Luft. Sie sind in
etwas, im Einzelmenschen selbst begründet. Dieses
Etwas, das sie ermöglicht, ist das Gemeinsame in den
Menschen — und dynamisch, also ethisch gefaßt, ist es
das Gemeinwohl, jener Aspekt des Einzelwohls, welches
von den Menschen nicht nur gemeinsam angestrebt
wird, sondern auch nur gemeinsam erreicht werden
kann.

Somit sind in dieser Lehre beide Seiten der Anti


nomie aufgenommen, ohne daß sich Einseitigkeiten er
geben. Der Einzelmensch, und er allein, bleibt das
letzte irdische Ziel jedes gesellschaftlichen Handelns,
jeder Politik. Dieses Ziel kann aber nur so erreicht
werden, daß die Realität der Gesellschaft und ihres

eigenen Zieles anerkannt wird. Aber dieses Ziel ist im


Einzelwohl begründet. Die Pflichten, die wir der Ge
sellschaft gegenüber erfüllen, sind echte Pflichten — sie
binden uns mit derselben moralischen Kraft wie jene
gegen die Individuen — denn die Gesellschaft ist keine
Fiktion. Und doch bleibt sie ein Werkzeug der Erfüllung
des einzelmenschlichen Schicksals.
Wie mir scheint, ist heute der Individualismus keine
bedeutende Lehre mehr. Die große Auseinandersetzung
hinter dem Streit der Parteien und — leider — dem
Donner der Bomben, die wesentliche Auseinandersetzung
über die Stellung des Menschen in der Gesellschaft
geht zwischen den Lehren des Aristoteles und Hegels.
Es ist selten in der Geschichte so klar geworden wie

11 2
heute, welche furchtbare, lebensbildende und lebens
vernichtende Macht die großen Philosophien sein
können. Es ist heute vielleicht notwendiger als in
irgendeiner anderen Periode, daß jeder denkende
Mensch sich über seinen Ort in diesem, scheinbar so
abstrakten, und doch so brennend wichtigen Gebiet
Klarheit verschafft.

11
DAS ABSOLUTE

Wir kommen in dieser letzten Meditation unserer Reihe


zum Problem des Absoluten — so pflegen die Philo
sophen das Unendliche zu nennen. Und zwar kommen
wir zur Rede darüber erst am Ende, weil für den Philo
sophen Gott — es handelt sich wohl um ihn — gar nicht
am Anfang steht wie für den Gläubigen. Wenn der
Philosoph ihn überhaupt erreicht, dann erst nach langem
Wa n d e rn d u r c h d a s R e i ch d e s En d l i ch e n , d e s w e l tl i ch e n
Seienden.
Eine ganz spezifische Schwierigkeit des Gebietes be
steht darin, daß es zwei Wege zu Gott hin gibt: den
Weg der Religion und den Weg der Philosophie. Der
Mensch ist aber eine Einheit; man kann nicht so leicht
den Gläubigen vom Denker scheiden. Es besteht des
halb immer die Gefahr, daß unser Glaube auf unser
philosophisches Denken einen Einfluß ausüben wird,
daß wir, besonders in dieser Frage, manches als ver
nünftig Erwiesene behaupten werden, was die Ver
nunft allein, die Philosophie, nicht leisten kann. Und
das ist gerade unerlaubt. Whitehead hat einmal gesagt,
es gebe unter den führenden Metaphysikern unseres
Kulturkreises einen einzigen nur, der ganz unabhängig
vom Glauben über Gott gedacht hat — nämlich Aristo
teles. Alle nach ihm, von Plotin ab, ständen unter dem
E i n fl u f ^ d e s G l a u b e n s . M e h r a l s A r i s t o t e l e s e r r e i c h t
habe, könne die reine Philosophie nicht erreichen.
Jedoch scheint es mir, daß Whitehead hier über
trieben hat. Man kann, so glaube ich, auch philosophisch
mehr über Gott sagen als Aristoteles gesagt hat. Und

I 14
vor allem haben wir aus unserer langen Geschichte
eines gelernt, daß nämlich die Existenz Gottes eigentlich
durch keinen unter den großen Denkern je ernsthaft in
Frage gestellt worden ist. Das mag sonderbar klingen,
wenn man an die so zahlreichen sogenannten Atheisten
denkt. Sieht man sich aber die Sache näher an, so findet
man, daß der große philosophische Streit gar nicht um
die Existenz eines Absoluten, eines Unendlichen geht.
Dafs es ein solches gibt, behaupten mit derselben Ent
schiedenheit Plato, Aristoteles, Plotin, Thomas, Des
cartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Hegel, Whitehead — und
auch, falls man die kleineren Geister mit diesen großen
vergleichen darf, die heutigen dialektischen Materia
listen, die offiziellen Parteiphilosophen des Kommunis
mus. Denn, indem diese die Existenz des christlichen
Gottes mit größter Wucht leugnen, pflegen sie gleich
zeitig zu behaupten, die Welt sei unendlich, ewig, un
begrenzt, absolut. Und was noch mehr ist: ihre Haltung
ist, wie jeder leicht feststellen kann, in manchem typisch
religiös. Die Frage lautet also nicht, ob es einen Gott
gibt, sondern: ob er eine Person, ein Geist ist. Das mag
merkwürdig scheinen, aber es ist schon so. Vielleicht
gibt es hie und da einige wirkliche Leugner des Ab
soluten; sie sind jedenfalls sehr selten und ohne größere
Bedeutung. Die umstrittene Frage ist nicht, ich wieder
hole, ob Gott existiert, sondern wie wir Ihn uns denken
sollen.

Selbstverständlich ist aber auch das Problem der Exi


stenz Gottes legitim. Keine Autorität — auch nicht jene
aller Philosophen zusammen— darf uns als genügender
Grund für irgendeine philosophische Behauptung gel
ten. Wir dürfen und sollen uns fragen, welche Gründe
uns zwingen, diese Existenz anzunehmen.

J15
" i
In dieser Hinsicht kann man nun die Philosophen in
zwei Klassen teilen nach der Methode, die sie ge
brauchen, um Gottes Dasein zu begründen. Ich werde
die ersten „Intuitionisten", die zweiten „Illationisten"'
nennen, obwohl beide Namen nicht ganz zutreffend
sind. Die Intuitionisten meinen, Gott, das Absolute,
sei in irgendeiner Weise direkt gegeben. Wir begegnen
ihm in unserer Erfahrung. Man muß gestehen, daß
solche Philosophen ziemlich selten sind, oder besser, daß
sie selten zugestanden haben, daß sie eine solche Lehre
halten. Doch würde dies für die genannten kommu
nistischen Philosophen wohl stimmen — einen Beweis
nämlich, daß es eine unendliche und ewige Materie gibt,
haben sie nie erbracht, sie scheinen also eine direkte Er
kenntnis davon zu besitzen. Der berühmte französische

Philosoph Bergson hat zwar nicht behauptet, eine solche


Erfahrung sei in ihm oder den andern Philosophen zu
gänglich — er lehrte aber, daß dies für die Mystiker zu
trifft, und baute darauf sogar seinen Gottesbeweis. Das
sind aber eher Ausnahmen.

Vo n d e n r e i n e n I n t u i t i o n i s t e n m u ß m a n d i e D e n k e r

unterscheiden, welche, wie Max Scheler oder Karl


Jaspers zum Beispiel, wohl ein gewisses Erfassen Gottes
behaupten, die aber meinen, der Mensch erfahre ihn
nicht in Ihm seihst, sondern in einem endlichen Seien
den. Für Jaspers ist die menschliche Existenz das, was
s i c h z u s i c h s e l b s t u n d d a r i n z u i h r e r Tr a n s z e n d e n z —
zu Gott — verhält. Er faßt also — wenn man sich so
ausdrücken darf — das Unendliche nicht direkt, son
dern indirekt, in sich selbst, in seinem eigenen Sein. Ich
glaube, Jaspers würde protestieren, falls man dies einen
Beweis nennen würde, und dasselbe sollte auch für
Scheler gelten — man könnte aber vielleicht sagen, es

11 6
sei eine Einsicht in das endlich Seiende, die so geartet
ist, daß sie das Unendliche zu erfassen erlaubt. Und
dann würde der Unterschied zwischen dieser Haltung
und jener der ausgesprochenen Illationisten vielleicht
nicht so groß sein, wie man es zuerst meinen könnte.
Der Illationisten gibt es wieder zwei Arten. Einige
unter ihnen — so der heilige Anselm von Canterbury,
Descartes, Spinoza, Hegel und manche andere — meinen,
man könnte Gottes Existenz a prioru ohne Bezug auf
die Erfahrung des endlich Seienden, sozusagen aus dem
bloßen Denken, erschließen. Wie man aus der Definition
eines Dreieckes seine Eigenschaften ableitet, ganz un
abhängig davon, ob es in der Welt Dreiecke gibt oder
nicht, so könnte man auch Gottes Existenz erschließen.
Dieser Beweis wurde aber durch Thomas von Aquin
und dann durch Kant widerlegt, und zwar mit einem
so großen Erfolg, daß er heute nur selten vertreten
wird.

Dagegen nehmen zahlreiche Philosophen verschie


dene Gottesbeweise an, welche auf der Erfahrung ge
gründet sind. Es scheint mir, daß die meisten unter
ihnen im Grunde genommen dieselbe Grundlage haben.
Ich werde sie in jener Gestalt wiedergeben, die ich bei
Whitehead — dem großen Theoretiker Gottes des
zwanzigsten Jahrhunderts — finde. Denn es scheint mir,
es würde, was er sagt, im Grunde genommen durch die
anderen Denker dieser Gruppe gebilligt.
Whitehead meint also, daß wir in der Welt ein stän
diges Werden feststellen können: Alles, was ist, wird.
Zum Beispiel ist ein Apfel grün und wird dann gelb.
Man muß deshalb, nach ihm, eine treibende Kraft hinter
diesem Werden annehmen. Er nennt sie „Creativity",
„schöpferische Kraft". Diese allein genügt aber nicht.

11 7
Gesetzt, es gäbe in der Welt einen Drang zum Neuen,
so ist es nodi nicht einzusehen, warum dieses Neue ge
rade so und nicht anders geartet sein sollte. Selbstver
ständlich kann man sagen, daß es solche und nicht an
dere Naturgesetze gibt, die bestimmen, die verursachen,
daß der Apfel gerade rot oder gelb, nicht aber blau
wird. Aber damit ist die Frage nur verschoben. Warum
gibt es unter einer unendlichen Zahl von möglichen
Naturgesetzen gerade solche? Warum folgt die Ent
wicklung der Welt solchen Wegen und nicht anderen?
Darauf kann man selbstverständlich sagen — und es
wurde öfters gesagt —, daß wir darüber keine Antwort
geben können. Whitehead verwirft aber diese Haltung
ganz entschieden. Der Philosoph, sagt er, ist da, um
rational zu verstehen, um zu erklären. Er muß seinem
Wesen nach voraussetzen, daß es Erklärungen gibt, daß
Vernunft in der Welt waltet. Das ist ja die Grund
voraussetzung der Wissenschaft — der Unterschied
zwischen der Philosophie und den Einzel Wissenschaften
besteht nur darin, daß die Philosophie den Rationalis
mus ohne Einschränkungen anwendet, weit über die
Grenze, die den Einzelwissenschaften genügt.Der Philo
soph, so sagt Whitehead, hat das Recht und die Ver
pflichtung, immer zu fragen: Warum?
Und dann kommt man zur Feststellung, daß es einen
Gott geben muß — eine Macht über die Welt, welche
gerade den Gang der Welt bestimmt, und zwar eine
unendliche Macht. Er nennt sie „das Prinzip der Kon-
kretisation" — den Grund, weswegen die Sachen so
sind, wie sie sind, und nicht anders.
Dahinter steht wohl noch die folgende Überlegung,
die durch Whitehead selber nicht formuliert wurde, die
aber hier grundlegend ist: Warum, so fragte man, ist

11 8
eine Welt überhaupt, und gerade diese Welt, nicht eine
andere? Denn in ihr gibt es keinen Grund dazu. Nur
dann würde sie sich sozusagen selbst begründen, wenn
sie das Absolute wäre. Dann wäre aber auch das Abso
lute gegeben. Wir sind also in jedem Falle gezwungen,
ein solches anzunehmen.

Um diesen Schluß zu vermeiden, hat man eigentlich


nur eine Möglichkeit: man muß dann sagen, daß es in
der Welt etwas Irrationales gibt, wie man sich elegant
ausdrückt, das heißt, etwas einfach Absurdes, Sinn
loses. Und tatsächlich sind alle jene, die den Wert des
oben skizzierten Beweises leugnen, in verschiedener
Weise Irrationalisten. So die Positivisten, so einige
Idealisten und letztens der Philosoph, der sich durch
seinen Atheismus berühmt gemacht hat, Sartre. Sartre
ist vielleicht der intelligenteste und schärfste Atheist,
den wir je in der Geschichte gehabt haben, und es wird
sich deshalb lohnen, seine Lehre kurz zu charakteri
sieren.

Er hat in höherem Grade als viele andere die Niciit-

Notwendigkeit, die Ungenügsamkeit von allem, was


wir in der Welt vorfinden, verstanden und erlebt. Alles
das, sagt er, ist ohne Berechtigung. Es braucht gar nicht
zu sein und ist doch da. Ein abstraktes Dreieck, eine
mathematische Formel erklärt man durch irgend
etwas — aber sie existieren ja gar nicht. Die Existenz
der Dinge, diese Baumwurzel zum Beispiel, kann da
gegen nicht so erklärt werden. Das real Seiende in der
Welt könnte nur durch Gott erklärt werden. Aber
Sartre will keinen Gott anerkennen — er meint, er sei
ein Widerspruch — und deshalb schließt er ganz logisch,
alles Seiende und im besonderen der Mensch, seien ab
surd, sinnlos. Sartre hat wie kein anderer das Dilemma

11 9
zu formulieren gewußt: man muß, sagt er, zwischen
Gott und der Absurdität wählen. Und dann wählt er
selbst das Absurde, das Sinnlose. Es sei mir erlaubt,
hier am Rande zu bemerken, daß einer, der diesen Ge
dankengang von Sartre kennt, ihn unmöglich als bloßen
„Existentialisten", wie man sagt, kennzeichnen kann.
Sartre ist sicher ein Metaphysiker hoher Klasse. Auch
wenn er irrt, irrt er auf einer Ebene, die viele andere
gar nicht erreicht haben.
Jedoch wehren sich viele Philosophen gegen die An
nahme der Sinnlosigkeit in der Welt. Hat es, so fragen
sie, überhaupt einen Sinn, noch zu philosophieren, hat
irgendeine philosophische Erklärung noch eine Berech
tigung, wenn alles, was real ist, unsinnig sein soll? Und
ist es so, dann kann und soll ein Philosoph eher die Exi
stenz Gottes annehmen — trotz der furchtbaren Schwie

rigkeiten, die sie mit sich bringt —, als mit Sartre sich
zum Absurden zu bekennen.
Warum diese Schwierigkeiten? Ein Gläubiger, auch
ein gläubiges Kind, kennt ja keine Schwierigkeiten, an
Gott mit Liebe zu denken. Es ist ein vertrauter, klarer
Gedanke, so groß und erhaben auch Gott erscheinen
könnte. Aber der Philosoph ist in einer anderen Lage.
Gott ist für ihn nicht ein Gegenstand der Liebe und der
Verehrung, sondern des Denkens. Der Philosoph ver
sucht, muß versuchen, ihn zu verstehen.
Und hier taucht gleich als erste und fundamentale
Schwierigkeit die Einsicht auf, daß Gott von allem an
deren ganz, vollständig verschieden sein muß. Er muß
real sein, und doch in gewissem Sinne die Kennzeichen
des Idealen haben; denn er ist seinem Wesen nach not
wendig wie das ideal Seiende, also auch ewig, überzeit
lich, überräumlich — und doch individuell in gewissem

12Ü
Sinne des Wortes — ja mehr individuell als irgend
etwas anderes —, vollständig in sich geschlossen, leben
dig in einem Grade, den wir uns nicht vorstellen können.
Wir müssen ihm logisch alle jene Eigenschaften zu
schreiben, die wir als höchste Formen des Seienden hier
finden — also etwa die Geistigkeit, die Persönlichkeit,
undsoweiter. Gleichzeitig ist es aber unmöglich, irgend
etwas von ihm so auszusagen, daß unsere Worte den
selben Sinn dort hätten wie in der Beziehung auf die
Geschöpfe. Ja, auch wenn wir sagen, daß Gott ist, muß
dieses »isV' etwas anderes meinen als bei uns.

Und dadurch geriet die Philosophie in ein Dilemma.


Entweder sagen wir, daß Gott so ist wie andere Seiende,
nur unendlich höher in jeder Beziehung — oder aber
wir müssen behaupten, daß wir nichts von ihm wissen
können. Das erste ist aber offensichtlich falsch. Gott
kann nicht so sein wie andere Seiende. Das zweite ist
aber auch falsch: denn von etwas, wovon wir überhaupt
nichts wissen, können wir auch die Existenz nicht aus
sagen. Wenn wir nämlich gesagt haben, dieses Etwas
ist, dann haben wir ihm schon eine Eigenschaft zu
geschrieben; ein leeres X kann nicht als seiend be
hauptet werden — so lehrt die Logik.
Die besten Köpfe in der Geschichte der europäischen
Philosophie haben ständig mit diesem Dilemma ge
rungen. Zwischen dem Unsinn des Anthropomorphis- C
mus — der Gott zu einem Geschöpf macht — und dem
nicht weniger absurden Unsinn der absoluten Unerkenn-
barkeit Gottes haben die meisten großen Denker immer
einen Mittelweg gesucht. Ein großartiges Bild dieses
Ringens findet sich zum Beispiel im dritten Band der
„Philosophie" von Jaspers.
Ich persönlich bin der Meinung, daß dieser mittlere

191
Weg nicht nur möglich ist, sondern auch wenigstens
skizzenhaft vorliegt. Es ist die Analogie-Lösung des
heiligen Thomas von Aquin. Ich kann sie hier nicht
weiter erörtern, möchte nur darauf aufmerksam machen,
daß wir heute, dank der Errungenschaften der mathe
matischen Logik, imstande sind, sie besser als je zu
formulieren und zu verstehen.

Das ist also die erste große Schwierigkeit. Die andere


finden wir in der Frage der Beziehung Gottes zur Welt.
Ist er nämlich unendlich, dann scheint es zuerst, daß es
außer ihm nichts geben kann; und dann ergibt sich der
sogenannte Monismus oder (wenn man Gott ein Bewußt
sein zuschreibt) der Pantheismus. Die Welt wäre dann
Gott oder wäre ein Teil, eine Erscheinung Gottes. Aber
dann müßte man sagen, daß er, welcher gerade der
Grund für das Nicht-Notwendige ist, selbst Teile hat,
daß er wird, aus Endlichem besteht, undsoweiter — was
lauter Ungereimtheiten sind.
Eine ähnliche Frage ist jene der Beziehung Gottes
zur Welt in der dynamischen Ordnung. Das Werden ist
ja ein Seiendes, es ist da, muß also letzten Endes durch
Gott nicht nur begründet, sondern auch bestimmt wer
den. Auf den menschlichen Willen bezogen, scheint das
zu bedeuten, daß alles, was wir tun, was wir wollen,
von vornherein durch Gott bestimmt ist, daß es also
keine Freiheit des Willens gibt.
In beiden Fragen liegt die Lösung vielleicht darin, daß
man an das Anderssein Gottes und seiner Wirkung
denkt. Gott ist ja nicht ein anderes Seiendes neben den
Dingen in der Welt und auch nicht, wie ein oberfläch
licher Schriftsteller einmal sagte, wie ein zweites Pferd,
das mit dem Menschen zusammen das Boot zieht. So
wohl sein Sein wie seine Wirkung liegen nicht neben.

122
sondern über dem Geschöpflichen — es ist ein anderes
Sein und eine andere Wirkung.
Und dann noch die religiöse Frage. Kann der Gott
der Philosophen — das Unendliche, Notwendige, alles
begründende Seiende — derselbe Gott sein wie der
liebevolle Vater und Erlöser der Christen, die mit ihm
im Gebet zu sprechen glauben? Der Gott der Religion
unterscheidet sich vom Weltgrund der Metaphysiker in
einem entscheidenden Zug: er ist das Heilige. Was das
Heilige ist, kann niemand genau sagen, so wenig
einer sagen kann, was eigentlich ein Farbiges oder ein
Schmerzliches ist. Aber das Heilige ist im menschlichen
Bewußtsein, in der Erfahrung des Betenden gegeben —
es steht klar vor den Augen seines Geistes. Fällt dieses
Heilige mit der Unendlichkeit des Weltgrundes zu
sammen? Gibt es überhaupt eine Brücke zwischen dem,
was wir durch die Vernunft in der Philosophie erreichen
können, und dem Gegenstand der Verehrung und Hoff
nung, dem Prinzip der Liebe, welches die Religion ver
kündet?

Die Meinungen der Philosophen sind auch in dieser


Beziehung geteilt. Kein ernster Denker leugnet heute,
daß das Heilige eine Urgegebenheit ist in dem Sinne,
daß es auf nichts anderes zurückführbar ist — daß es
sich hier um ganz besondere Werte und Haltungen han
delt. Die meisten unter den Denkern von heute meinen

aber, das Gebiet habe mit der Metaphysik nichts zu


tun — eine Brücke zwischen dem Glauben und dem
Denken gebe es in Hinblick auf Gott nicht. Der Gott der
Metaphysik, so sagen sie, sei anders als der heilige Gott
der Religion,
Es gibt aber audi Philosophen, die nicht so weit
gehen. Freilich sagt die Religion mehr über Gott als die

19.S
Philosophie. Daraus, so meinen sie, folgt aber nicht, daß
der Gegenstand der philosophischen Gotteslehre in
irgendeinem Punkt mit dem Gott der Religion im
Widerspruch stehen sollte. Ein solcher Punkt ist tat
sächlich nicht aufzuweisen. Alles, was wir philosophisch
über Gott sagen können, wird auch ein religiöser Mensch
anerkennen; nur weiß er über ihn viel mehr als die
größten unter den Metaphysikern. Der Gegensatz be
steht nicht im Gegenstand, sondern in der Haltung des
Menschen. Der Philosoph schaut nach Gott als nach einer
vernünftigen Erklärung der Welt. Gott ist ihm not
wendig, nicht um ihn anzubeten, sondern um seinen
Rationalismus zu wahren: seine Annahme ist nichts an
deres als ein rücksichtsloses Bekenntnis zur Erklärbar
keit des Seienden, und wenn man hier von einem Glau
ben sprechen darf: der einzige, der vorausgesetzt ist, ist
d e r G l a u b e a n d i e Ve r n u n f t . Vo n e i n e r L i e b e z u G o t t
kann hier keine Rede sein — und wenn Spinoza von
einer vernünftigen Liebe Gottes sprach, dann meinte er
nur die Erkenntnis.

Diese Haltung jedoch bringt den Philosophen hier,


wie in der Frage um den Menschen, an eine Grenze,
über welcher er nur Dunkelheit sieht. Sein Gott ist so

unbestimmt, mit so vielen Problemen belastet, daß der


Philosoph selbst — das hat Plato einmal getan — sich
die Frage stellt, ob es nicht ein Jenseits der Philosophie
geben kann. Und dann kann er, wenn er gläubig ist,
Antworten auf viele seiner quälenden Fragen aus der
Religion erhalten. Sein Gottesbegriff wird durch sie
nicht verworfen, er wird nur voller und lebendiger.
Aber die,Philosophie kann den denkenden Menschen
nur unter einer Bedingung an diese Grenze führen, die
er mit eigenen Kräften nicht mehr zu überschreiten ver-

124
mag: daß sie sich selbst treu bleibt. In dieser Frage, wie
in allen anderen, erweist sie sich als lebensbildend und
fruchtbar nur, wenn sie durch einen echten Willen des
Verstehens und eine feste Haltung an die Vernunft ge
tragen wird. Denn die Philosophie ist nichts anderes
als die menschliche Vernunft ohne jede Rücksicht, ohne
jede Grenze, mit aller Kraft, deren wir fähig sind, auf
die Erklärung der Welt angewandt.
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Wörterbuch
Herausgegeben von Max Müller und Alois Halder
Herderbücherei Band 398, 344 Seiten, 8. Aufl.

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J. M. BOCHENSKI

Formale Logik
3. Auflage
XXIII und 646 Seiten, 4 Tafeibeilagen. Leinen. ISBN 3 495 44115 8
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in Dokumenten und Darstellungen, Band III/2)

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Geschichte der formalen Logik, die wir besitzen. Dem Cha
rakter der Reihe entsprechend, in der sie erscheint, wird die
historische Entwicklung der Probleme durch Texte in deut
scher Übersetzung belegt, während sich der Verfasser auf
kurze Kommentare, Verknüpfungen und Zusammenfassun
gen beschränkt. Es ist dem Verfasser gelungen, so ein an
schauliches Bild vom gegenwärtigen Stand der Forschung
auf diesem Gebiet zu geben." (Bibliographie de la Philosophie,
Paris)

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Übersetzt und herausgegeben von A. Menne
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Dieses Werk will den Studierenden und allen an zeitgenös


sischer Philosophie Interessierten eine leicht zugängliche
Sammlung von philosophisch-logischen Studien bieten, an
Hand deren sie den Logikkalkül nicht mehr in seiner theo
retischen und abstrakten Form, sondern in Anwendung auf
philosophische Probleme kennenlernen können. Bewußt wur
den dabei im wesentlichen solche Probleme ausgewählt, die
bereits in der Antike oder Scholastik auftauchen, zum Bestän
de der philosophia perennis gehören. Die hier zusammenge
faßten Arbeiten sind neben ihrer thematischen Arbeit da
durch ausgezeichnet, daß sie von J. M. Bochenski selbst
oder in seinem Geiste verfaßt sind und von ihm aufgewor
fene Fragestellungen weiterführen.

VERLAG KARL ALBER FREIBURG/MÜNCHEN


Joseph M. Bochehski ist am 30.8.1902 in Czuszow
(Polen) geboren. 1920/26 jur. und ökon. Studien (Univ.
Lemberg und Posen). 1927 Eintritt in den Orden der
Dominikaner. 1928/31 philosophische Studien, Univ.
Freiburg (Schweiz). 1931 Dr. phil. 1931/34 theologische
Studien, Angelicum Rom. Dr. theol. 1935.1934/35
Dozent, 1935/40 Professor der Logik, Angelicum. 1938
P r i v a t d o z . U n i v. K r a k a u . 1 9 4 5 a . o . P r o f e s s o r U n i v.

Freiburg (Schweiz), 1948 o.ö. Professor, 1950/52 Dekan


der Phil. Fakultät, 1964/66 Rektor. 1966 Dr. jur. h.c.
(Univ. of Notre Dame). Visiting Professor: Univ. of
Notre Dame (1955/56), Univ. of California at L.A. (Flint
Prof. 1958/59), Univ. of Kansas (1960/61), Univ. of
Pittsburgh (1968), Univ. of Edmonton (1971). Direktor,
Ost-Kolleg Köln 1961/62. Pilotenausweis 1970.

Herderbücherei ISBN 3-451-01562-5 [590]

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