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Eddie Fox und der Spuk von Stormy


Castle - Teil 1
Eine Geschichte von Antje Szillat mit Illustrationen von Susanne Göhlich,
erschienen im arsEdition Verlag.
Hier kommt der erste Teil der Geschichte.
Ein bisschen was vorweg ...
Das ist der junge Graf Edward Donald Darius Ignatz Eliot von Fox und Wood –

genannt Eddie. Es gibt etwas, das ihr am besten gleich zu Beginn dieser

Geschichte über Eddie wissen solltet: Eddie mag keine KINDER!

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Bäh-grrr-schlotterich!

Weder von Weitem, erst recht nicht in

der Nähe – und schon gar nicht UM, IN

und AUF seiner Burg Stormy Castle.

So, ich wette, jetzt fragt ihr euch:

warum eigentlich? Zumal Eddie selbst

noch ein Kind ist. Und natürlich wollt

ihr auch erfahren, wie das überhaupt

möglich ist, denn Eddie hat gerade

seinen 299. Geburtstag gefeiert.

Also, das mit seinem Geburtstag ist

nämlich so: Eddy ist ein G-G-GEIST.

Natürlich keiner von denen, die in

lange, weiße, schlabbrige Bettlaken gehüllt durch die Räume schweben. Nö –

bestimmt nicht!

Eddie ist ein ausgesprochen schicker Geist, ein waschechter Graf, der leider

im zarten Alter von nur 10 ¾ Jahren an einer ururalten Krankheit – die es

heute längst nicht mehr gibt – verstorben ist. Doch davon hat sich Eddie

keineswegs beeindrucken lassen.

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Pöh! Von wegen. Er ist einfach in seinem Turmzimmer wohnen geblieben,

eben dort, wo er sich am allerwohlsten fühlt. Zumindest die letzten 299 Jahre.

Doch jetzt ist etwas wirklich KNALLBLÖDES passiert. Etwas, über das Eddie

sich so ärgert, dass er sogar schon überlegt hat, seinen weltallerbesten

Zauberkrummstab Fidelius aus der streng geheimen Schatulle zu nehmen.

Oder wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt, ein bisschen durch die

finster-düsteren Burggänge zu spuken. Uuuuaaahhh!

Weil es sich aber allein so schrecklich einsam zaubert und spukt, hat er seine

beste Freundin Tilla um ihre Super-Fledermaus-Unterstützung gebeten.

Zu Tilla ist – außer dass sie eine Zwergfledermaus ist – anzumerken, dass

sie extrem nett ist. Und extrem kurzsichtig, weshalb sie gerne mal irgendwo

dagegenflattert! AUTSCHIII!

Außerdem bekommt sie bei großer Aufregung einen echt blöden und sehr

lästigen SCHLUCKAUF, der manchmal stundenlang anhält.

Beispiel neulich. „Hicks-hicks, Eddie, ich kann gar nicht mehr … hicks-hicks …

mit dem Hicksen aufhören, seitdem feststeht … hicks-hicks, dass jetzt … hicks-

hicks … alles ganz anders auf Stormy Castle ist … hicks-hicks-hicks …"

Auweia, die arme Tilla ist wirklich nicht zu beneiden, denn von viel zu vielem

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Hicksen bekommt man schlimmes Seitenzwacken.

Bestimmt wollt ihr jetzt aber unbedingt erfahren, warum Tilla sich überhaupt

sooo doll aufregt?! Stimmt’s? Nun ja, dann lest doch selbst, hier steht es

nämlich geschrieben – Wort für Wort!

Kapitel 1: Es donnert und kracht über Stormy Castle


In der Nacht zum 2. August tobte ein furchtbares Gewitter über Stormy

Castle. Tausend Blitze durchzuckten den Himmel und der Donner polterte wie

höllische Paukenschläge.

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Der junge Graf Eddie von Fox und Wood bekam von all dem nichts mit. Er lag

friedlich schnarchend in seinem breiten Himmelbett und träumte vom

Dosenwerfen und vom Bogenschießen.

Tilla hingegen machte kein Auge zu. Sie hockte in der obersten Fensterluke

und hatte Angst, dass bei all dem Blitzen und Donnern der Mond vom Himmel

fallen könnte – womöglich direkt auf ihren Kopf.

„Eddie!", rief sie laut, da das Schnarchen des jungen Grafen beinahe noch

lauter war als der Donner. „Eddie, werd doch bitte wach. Draußen tobt ein

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Unwetter. Die Blitze spießen die Sterne auf, der Donner will den Mond

sprengen. Mir ist ganz fürchterlich zumute.“

„Waaas iiist looos?“, murmelte Eddie träge.

Blinzelnd öffnete er die Augen und erblickte Tilla direkt vor seiner Nase. Sie

hatte es nicht länger oben in der Luke ausgehalten und war – flatter-flatter –

zu Eddie ins Himmelbett geflattert.

„Was ist denn, Tilla?", nörgelte Eddie verschlafen. „Warum weckst du mich?

Ich habe doch gerade so schön geträumt.“

„Weil über unserer Burg ein Unwetter tobt. Es kracht und blitzt schon seit

Stunden und langsam mache ich mir ernsthafte Sorgen."

Mühsam setzte Eddie sich im Bett auf. „Wegen einem kleinen Gewitterchen

musst du …"

Eddie sprach nicht weiter, denn in diesem Moment knallte es so gewaltig,

dass die dicken Burgmauern aus uraltem Sandstein ordentlich wackelten.

Gleichzeitig ließ ein greller Blitz die Nacht zum strahlend hellen Tag werden.

Mit einem spitzen Schrei verschwand Tilla unter Eddies Bettdecke. „Mach,

dass es aufhört, Eddie", wisperte sie. „Ich habe Angst vor Gewitter. Das weißt

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du doch.“

Dann begann Tilla zu hicksen. Und auch wenn Eddie lieber in seinem Bett

liegen geblieben wäre, er wusste, jetzt musste er wirklich etwas unternehmen.

„Na warte, du lästiges Gewitter, dir werde ich es zeigen", knurrte er und wühlte

sich aus den kuschelig warmen Federn.

Entschlossen drückte er die Schultern durch, während er zum uralten Sekretär

aus Mahagoniholz marschierte, an dem vor ihm schon viele Grafen von Fox

und Wood gesessen hatten. Natürlich nicht, um in aller Seelenruhe in einem

seiner Lieblingsbücher zu blättern. Der junge Eddie hatte beschlossen, seinen

Zauberstab Fidelius aus der Schatulle zu nehmen und – Rambazumba-

rutzfatz-radellius – das Gewitter einfach wegzuzaubern!

Doch auf halben Weg, also viereinhalb Schritte vom sicheren Himmelbett

entfernt und viereinhalb vom Mahagoni-Sekretär, gab es einen so furchtbar

zuckenden Blitz und einen so ohrenbetäubenden Knall über der Burg, dass

Eddie vor Schreck zur Salzsäule erstarrte. Sechs … fünf … vier … drei …

Sekunden stand er einfach nur da. Und schon blitzte es erneut, dieses Mal

noch greller. Und das Donnern war noch ohrenbetäubender.

Eddie war von dem Blitz ganz geblendet. Selbst wenn er ein geübter Zauberer

wäre – was er nun aber leider kein bisschen war –, konnte er so nicht den

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Weg zum Sekretär finden und die geheime Schublade aufziehen. Auch nicht

die Schatulle nehmen und Fidelius vorsichtig herausheben. Und erst recht

nicht den weltallerbesten Zauberkrummstab in den Himmel richten und rufen:

„Verflixtimus-Hieronymus, sofort hörst du zu toben und wüten auf, du

nerviges Gewitter!"

Stattdessen wankte Eddie zurück zum Himmelbett, während das Gewitter

über und rund um Stormy Castle nun ein wahres Feuerwerk entfachte – mit

einer Wucht, einer Gewalt, einer Kraft, dass Eddie einsah, dass es nirgendwo

sicherer war als in seinem Bett.

„Wir können nichts tun, Tilla, nur warten, bis das Gewitter vorbeigezogen ist",

sagte er zu seiner ängstlichen Freundin.

„Kannst du mir dann wenigstens den Kopf streicheln?", bat Tilla ihn. „Das

beruhigt mich vielleicht ein bisschen.“

„Klar doch“, willigte Eddie ein. Bloß Tilla nicht merken lassen, dass ihm selbst

ganz schön muffensausig zumute war.

Doch als der nächste Blitz in eine der Fichten einschlug, von denen die Burg

umgeben war, beschloss er: „Ich … ich komme zu dir unter die Bettdecke,

Tilla", und tauchte flugs ab.

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Am nächsten Morgen schien die Sonne wieder. Die Vögel in den Bäumen

sangen ein fröhliches Lied. Im Bachlauf badeten die Enten zusammen mit

den Eichhörnchen, und etwas tiefer im Forst, der zu Stormy Castle gehörte,

röhrte ein junger Hirsch.

Eddie wühlte sich aus seinen warmen Federn und machte wie jeden Morgen

zehn Kniebeugen und zwölf Liegestütze. Er pfiff gut gelaunt vor sich hin,

während er in sein großzügiges Badezimmer trabte und sich in dem

prächtigen Spiegel mit dem verschnörkelten Goldrahmen betrachtete.

Dummerweise sah er nichts. Geister hatten nun mal kein Spiegelbild, selbst

wenn sie für andere sichtbar waren. Dabei wusste Eddie auch so, wie er

aussah: ausgesprochen gut natürlich!

Dann tauschte er wie jeden Morgen seine Nachtwäsche aus weißem Leinen

gegen eine seiner geliebten karierten Hosen, einen seiner geliebten blauen

Pullunder und eines seiner geliebten weißen Hemden aus, die zu Dutzenden

auf der Kleiderstange hingen. Noch einmal tief durchatmen und die frische

Morgenluft genießen, die durch das geöffnete Turmzimmerfenster

hereinströmte, und Eddie war bereit für den neuen Tag.

Tilla kam aufgeregt angeflattert. Haarscharf streifte sie den linken hinteren

Bettpfosten, um dann frontal gegen die aufstehende Schranktür zu krachen.

SCHEPPER! RUMS! Blöde Kurzsichtigkeit!

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„Mist, seit wann steht denn der Schrank dort?“, fluchte sie und rieb sich mit

dem Flügel die Stirn.

„Schon seit ungefähr dreihundert Jahren", gab Eddie grinsend zurück. Dann

wies er auf den strahlend blauen Morgenhimmel. „Was habe ich dir gesagt,

Tilla, auf Gewitter folgt Sonnenschein. Nun schau mal zum Fenster hinaus.

Und was siehst du? Ich hatte mal wieder recht.“

„Deshalb bin ich hier, Eddie“, erklärte Tilla aufgeregt. „Draußen passiert

gerade etwas Komisches.“

„Komisches? Was denn?“

„Sieh doch selbst. Ich kann es nämlich nicht erklären, weil es eben … komisch

ist."

Eddie schüttelte den Kopf. Tilla war wohl zu heftig gegen die Schranktür

geflattert und bildete sich jetzt etwas ein. Aber ihr zuliebe marschierte er zum

Fenster und blickte hinaus. „Tilla, also, ich glaube, du solltest ernsthaft über

eine neue Brille nachdenken. Da ist nichts."

„Eddie, du musst in den Innenhof sehen, nicht in den Burggarten. Dort ist das

Komische."

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Kopfschüttelnd wandte Eddie sich dem anderen Fenster zu. „Wenn es dir so
wichtig ist, Tilla, bitte schön. Aber versprich mir, dass du wenigstens mal über
eine neue Bri…" Mitten im Wort verstummte er und rieb sich ungläubig die
Augen. „Da sind Männer. Fremde Männer. Und zwei große Autos. Sehr große
Autos. Und die Männer, sie tragen Sachen in die Burg", krächzte er dann
fassungslos. „Wie … wie kommen die dazu? Was bilden die sich denn ein?
Das ist meine Burg!"

„Ich habe sie belauscht, Eddie", sagte Tilla und flatterte aufgeregt um Eddies

Kopf herum. „Sie haben sich darüber unterhalten, wo die Tische und Stühle

für die Klassenzimmer hinkommen. Und die Tafeln und auch die Lehrerpulte.“

„Tafeln? Lehrerpulte?“ Eddie schlug die Hände vor der Brust zusammen.

Tilla ließ sich auf seiner Schulter nieder. „Und … Eddie, hm …na ja, ich habe

noch etwas gehört", flüsterte sie zögerlich, so, als ob sie es am liebsten nicht

aussprechen wollte. „Stormy Castle, unsere schöne Burg, sie soll eine Schule

werden.“

„Eine WAS?“ Eddie schrie so laut, dass Tilla vor Schreck von seiner Schulter

fiel.

Sie flatterte durchs Zimmer, sauste haarscharf am Kronleuchter vorbei und

landete schließlich mit einem Purzelbaum auf dem Sekretär.

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Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen rannte Eddie im Zimmer auf und

ab wie ein Tiger im Käfig.

„Eine Schule? Kinder gehen zur Schule. Kinder sind schlimm! Und gemein! Sie

haben nichts im Sinn, als mich zu ärgern. Kinder haben in meiner Burg nichts

zu suchen. Das ist immer noch die Burg der von Fox und Wood, und ich bin

der rechtmäßige Erbe und Besitzer und werde niemals zulassen, dass meine

schöne Burg in eine Schule verwandelt wird. Nur über meine Leiche!"

„Ähm … Eddie, ich will dir bestimmt nicht widersprechen, dich nur vorsichtig

daran erinnern: Du bist bereits tot. Und das schon seit 288 ¼ Jahren, wenn ich

mich nicht verrechnet habe."

Eddie schluckte schwer – verflixt, leider hatte Tilla recht.

Kapitel 2: Gefährliche bärtige Männer wollen die Burg erobern


Eddie und Tilla schlichen sich vorsichtig aus dem Turmzimmer. Leise

huschten die beiden die neunzehn schmalen Treppenstufen hinunter. Tillas

Herz klopfte dabei wild und in Eddies Bauch wurde die Wut immer feuriger.

Nun stand Eddie am verschnörkelten MahagoniTreppengeländer und

beobachtete, was sich unten in der Eingangshalle seiner Burg tat. Tilla hockte

auf Eddies Schulter.

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„Die bärtigen Männer haben bestimmt

was zu verbergen, wenn sie sich das

Gesicht so zuwachsen lassen",

vermutete die kleine Fledermaus.

„Natürlich haben sie das!", stimmte Eddie ihr energisch zu. „Die Frechheit, mit

der sie Sachen in meine Burg tragen, die ich hier überhaupt nicht haben will.

Und die Frechheit zu denken, sie könnten hier auf Stormy Castle eine … eine

…“ Eddie musste sich überwinden, das schreckliche Wort überhaupt nur

auszusprechen, „Sch-Sch-Schule aufmachen.“

„Unerhört!“, bekräftigte Tilla.

Eddie nickte und schaute düster drein. „Die werde ich mir vorknöpfen."

„Sehr gute Idee!" Tilla nickte. „Und wie genau willst du vorgehen? Die bärtigen

Männer, die hier die Möbel hereintragen, sehen ziemlich groß und stark aus.

Wir sind viel kleiner und nur zu zweit.“

„Aber viel, viel älter als alle bärtigen Männer zusammen, und deshalb sind wir

ihnen auch eindeutig überlegen", war sich Eddie sicher.

Tilla neigte den Kopf leicht nach links, was sie häufig tat, wenn sie genau über

etwas nachdenken musste. Hatte er etwa vor, die Bärtigen zu verzaubern?

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Riskant, wenn man bedachte, dass Eddie sich schon ziemlich oft verzaubert

hatte, obwohl er einer urururalten Zauberer-Familie angehörte und das

Zaubern ihm quasi in die Wiege gelegt worden war.

Gerade als Tilla ihn fragen wollte, kam noch jemand in die Burghalle
gerauscht. Eine Frau, sehr groß, sehr schlank, sehr schick. Sie trug die
honigblonden Haare zu einem strengen Dutt zusammengefasst und erinnerte
Tilla irgendwie an Eddies vornehme Maman.

Allerdings würde die Gräfin niemals in so ein enges rotes Kostüm schlüpfen

und erst recht nicht hohe und pfeilspitze schwarze Absatzschuhe tragen.

„Und was will jetzt, bitte schön, auch noch diese rote Frau?", fauchte Eddie.

Tilla wiegte den Kopf. „Vielleicht ist sie die Köchin. Oder eine Zofe."

„Schon möglich“, murmelte er. Obwohl er sich nicht vorstellen konnte, dass

eine Zofe sich so anzog. Allerdings kannte sich Eddie mit dem heutigen

Kleidungsstil kein bisschen aus. Er war schon eine halbe Ewigkeit nicht mehr

im Dorf unterhalb von Stormy Castle gewesen.

Eddie hatte wohl ein paar Mal ernsthaft darüber nachgedacht, sich mal

wieder unters Volk zu mischen, doch hatte den Gedanken dann wieder

verworfen. Hier in seiner Burg und ganz besonders in seinem geliebten

Turmzimmer fühlte er sich wohl und konnte tun und lassen, was er wollte.

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Außerdem war er hier immer vor den Kindern sicher gewesen, damals, als er

im Dorf zur Schule gegangen war. Seine boshaften Klassenkameraden hatten

sich nie hinauf in die Burg getraut. Allein schon die imposante

Sandsteinbrücke, die von steinernen feuerspeienden Füchsen, dem

Wahrzeichen der gräflichen Familie von Fox und Wood, bewacht wurde, war

ihnen nicht geheuer gewesen.

Grrrr, beim Gedanken an Kinder musste Eddie sich ein bisschen schütteln, um

den eisigen Schauer loszuwerden, der ihm über den Rücken lief.

„Die werden wir verjagen", beschloss Eddie. „Ich werde die so richtig in

Schrecken versetzen. Dann flüchten die wie die Hasen bei der Treibjagd.“

Tilla blickte erstaunt über den Rand ihrer dicken Brille hinweg. „In Schrecken

versetzen? Wie willst du das anstellen?"

Eddie warf sich entschlossen in die Pullunderbrust. „Indem ich es ein

bisschen in meiner Burg spuken lasse."

„Und was genau hast du vor, Eddie? Rufst du laut: Hui-buh, hui-buh, ich bin ein

Burggespenst? Oder setzt du dir eine scheußliche Werwolf-Maske auf und

heulst bösartig?" Tilla kicherte.

Eddie schnaubte verächtlich. In diesem Moment begann in der Burghalle die

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rote Frau wild gestikulierend auf die bärtigen Männer einzureden. Der eine

hatte eine glänzende Glatze, der andere war dürr und knorrig wie eine Fichte.

„Sacrebleu! Hier oben kann man kein Wort verstehen", brummte Eddie. Wenn
schon fluchen, dann bitte mit Stil, hatte er von seiner vornehmen
französischen Maman gelernt.

„Wir könnten uns runterschleichen und sie belauschen", schlug Tilla vor.

Eddie schüttelte den Kopf. „Nein, ich werde nicht schleichen, ich werde direkt

mit dem Spuk beginnen. Wozu Zeit verlieren?"

Und schon flitzte er los. Vom

Treppengeländer in einen langen Gang

und vorbei an vielen prächtigen

Ölporträts der Vorfahren und Adeligen,

die einst hier gelebt hatten.

„Was hast du vor?“, rief Tilla, während

sie hinter Eddie herflatterte. Doch Eddie antwortete nicht.

Am Ende des Ganges bremste er abrupt. Er klopfte die Holzvertäfelung nach

der Geheimtür ab, und als er sie fand, lächelte er zufrieden.

Mit einem leisen Knarren öffnete sich die Tür. Noch einmal tief Luft geholt,

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dann sauste Eddie die Wendeltreppe hinter der Tür hinunter. So schnell, dass

Tilla kaum hinterherkam und sich wunderte, dass Eddie von dem flinken Im-

Kreis-Laufen keinen Drehschwindel im Kopf bekam.

Unten angekommen, musste Eddie sich dann einen Moment gegen den rauen

kalten Stein lehnen und warten, bis sich seine Knie nicht mehr so weich wie

Johannisbeergelee anfühlten. Dann schob er die Tür vor sich vorsichtig einen

schmalen Spalt auf und lugte hindurch.

Die bärtigen Männer und die rote Frau standen mit dem Rücken zu Eddie in

der imposanten Eingangshalle.

„Oooooooooooooooooooooh!", jaulte Eddie mit der schaurigsten Stimme, die

er draufhatte. „Frisches Blut. Da läuft einem ja das Wasser … ähm, Bluuuuuut

im Mund zusammen.“

Tilla saß auf dem Treppengeländer und kicherte. Wirklich grausig hörte sich

sein schräges Wiehern nicht an. Eher komisch.

„Psst, sei still!", zischte Eddie ihr zu, um dann erneut gespenstisch zu jaulen.

„Herr Graaaaaaf, es ist angerichtet. Die Dame und die Herren warten in der

Burghalle darauf, von Ihnen gebissen zu werden. Uuuuaaarrrgh!“

Und mit tiefer Horrorstimme antwortete Eddie als blutrünstiger Graf: „Gut so,

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Blutiger James. Ich freue mich schon auf die köstlichen Leckerbissen."

Eddie sah durch den Türspalt, wie die drei in der Burghalle sich erschrocken

nach allen Seiten umschauten.

Wie leicht das ging. Ein bisschen schaurig geheult und dabei den

bluthungrigen Grafen imitiert, und schon war er das Problem los. Und dafür

hatte er nicht einmal seinen Zauberstab bemühen und zaubern müssen! Zur

Sicherheit setzte er dann noch einen drauf und schickte ein ganz besonders

grausiges Jaulen hinterher.

Die rote Frau begann langsam den Kopf zu schütteln. Eddie machte sich auf

einen grellen ängstlichen Schrei gefasst und wollte sich schon

vorsichtshalber die Ohren zuhalten.

„Ha, ha, Pia, sehr lustig, wirklich", sagte sie dann. „Aber jetzt hast du genug

den schaurigen Graf Dracula gespielt. Lass die Erwachsenen jetzt bitte ihre

Arbeit machen.“

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Ein Mädchen, etwa eine Handbreit

kleiner als Eddie, mit blonden lockigen

Haaren, die ihm wild vom Kopf

abstanden, war jäh und lautlos in der

Halle aufgetaucht.

„Hä?", machte sie – nicht besonders

vornehm. „Was für ’n Graf Dracula? Spukt es hier? Wäre ja mega-cool. Sonst

ist in dem alten Kasten ja nichts los! Hier ist es gähnend langweilig und

staubig.“

Eddie blieb der Mund fassungslos offen stehen, dann klappte er ihn rasch zu

– genauso eilig wie die Tür hinter sich.

Ein Kind! Ein schreckliches Kind. Und noch schrecklicher: ein Mädchen.

Mädchen hatte es in seiner Schule nicht gegeben – aber wenn er seinen

knalldoofen Klassenkameraden von damals glauben konnte, dann waren

Mädchen schlimmer als Monster! Grausig-gruselig-schrecklich.

ARGH!!! Und jetzt stand eines davon in seiner Burg. Auf Stormy Castle.
Sacrebleu, schlimmer konnte es nicht werden!

Kapitel 3: Die schreckliche Pia Plumbelly


Eddie saß schweigend und starr wie ein Eiszapfen in seinem Lieblingssessel

mit dem dicken Polster aus dunkelblauem Samt und den geschwungenen

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MahagoniholzArmlehnen. Er war weiß wie Milchschaum und gab bei jedem

dritten Atemzug ein merkwürdig rasselndes Geräusch von sich.

Tilla war auf den Bett-Baldachin gegenüber geflattert und beobachtete Eddie

besorgt. „Was ist denn passiert, Eddie?" So hatte sie ihn noch nie erlebt.

Selbst damals nicht, als sich eine wild gewordene Schafherde in den

Burggarten verirrt und mit ihren schwarzen Mäulern den Wilden Wein von der

Burgfassade gerupft hatte. „Was hast du denn so Schauriges gesehen, das

dich so starr und sprachlos werden lässt? Nun sag es mir doch."

Eddie würgte. „Ein Kind … Ein M-, ein M-, ein M-Mädchen … also ein Monster",

krächzte er.

„Haaach." Tilla verzog seufzend das Gesicht. „Damit war ja zu rechnen, Eddie.

Wenn die Menschen aus Stormy Castle eine Schule machen wollen, dann hat

das auch irgendwas mit Kindern zu tun.“

Eddie knurrte wie ein Grizzlybär. „Das weiß ich selbst, Tilla. Ich bin ja nicht mit

dem Kopf gegen eine rostige Ritterrüstung gelaufen. Genau deshalb muss ich

ja diese Schule unbedingt verhindern und …"

Eddie verstummte. Die Ritterrüstung! Das war die Lösung! Er sprang auf und

rannte zur Tür. Bevor Tilla vom Baldachin auf seine Schulter flattern konnte,

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war er aus dem Turmzimmer rausgehuscht und hatte die Tür hinter sich

zugeworfen. Das bemerkte die arme Tilla leider zu spät und prallte – DOING!

– mit voller Wucht gegen die Tür.

„Autsch“, jammerte sie, rieb sich mit der linken Flügelspitze die Stirn und

bekam prompt wieder einen Schluckauf.

Eddie flitzte nach unten in die Halle. Vorsichtig schob er die Tür auf. Die Luft

war rein. Schnell rüber zu einer Nische und sich ganz eng an die Wand

gepresst.

Niemand von den Eindringlingen war zu sehen, also schlich er weiter zur

Rüstung des ehrwürdigen Ritters Artur. Vor vielen Jahren war der Ritter auf

Stormy Castle zu Hause gewesen und hatte seine geliebte Burg mit Speer und

Schild mutig verteidigt – wenn es nötig war. Inzwischen wachte nur noch

seine Rüstung über Stormy Castle.

Geschickt schlüpfte Eddie in die Rüstung. Die Zeit und der Rost hatten

ordentlich daran genagt, aber das bescherte der alten Blechkluft einen noch

schaurigeren Anschein.

Entschlossen klappte er das Visier herunter und setzte sich in Bewegung. Es

knarrte und knirschte und erinnerte nicht im Entferntesten an den stolzen

Gang des Ritters Artur. Das hielt Eddie nicht davon ab, nach den ungebetenen

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Gästen zu suchen. Er würde ihnen einen solchen Schrecken einjagen, dass ihr

„Hilfe, wir werden vom rostigen Ritter verfolgt“-Gekreische erst unten im Dorf

allmählich abflauen würde und dass für alle Zeiten geklärt war: Wer an

seinem Leben hing, der verirrte sich besser nicht nach Stormy Castle!

In diesem Moment kam die rote Frau wie aus dem Nichts anstolziert. Sie

steuerte auf den Raum zu, in dem früher der Burgverwalter sein Reich hatte.

Die beiden Bärtigen marschierten ihr wie zwei Dackel einer köstlich duftenden

Leberwurst hinterher.

„Meinen Schreibtisch stellen Sie mir bitte direkt unters Fenster", sagte sie. „An

diese Wand die beiden Bücherregale und links davon den kleinen Tisch mit

den drei Sesseln.“

„Aber, Mrs Plumbelly, dann sitzen Sie ja mit dem Rücken zur Tür", merkte der

dürre Bärtige an.

„Das lassen Sie bitte schön meine Sorge sein, Jeffrey", raunzte die rote Frau

ihn an.

„Ich wollte Ihnen nicht reinreden“, gab Jeffrey zerknirscht zurück.

Mrs Plumbelly hob entschuldigend die Hände. „Und ich wollte Sie nicht so

zurechtweisen, bitte verzeihen Sie mir. Mir geht gerade so viel durch den

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Kopf. Die Küche und der Speisesaal müssen eingerichtet werden, die

Klassenräume und natürlich die Zimmer für die Schüler und das Kollegium.

Und für all das bleibt uns weniger als zwei Wochen Zeit. Außerdem haben wir

noch immer keine Köchin gefunden." Sie seufzte tief. „Tja, und mein treuer

Hausmeister Quitte ist auch immer noch nicht eingetroffen.“

Jeffrey nickte verständnisvoll. „Schon gut, Mrs Plumbelly, ich bin ja nicht aus

Zucker. Und tauschen möchte ich mit Ihnen auch nicht, als Schulleiterin trägt

man schließlich eine enorme Verantwortung."

Ein eisiger Schauer lief Eddie über den Rücken. Wie bitte? Mrs Plumbelly war

die Schulleiterin? Das wurde ja immer noch schlimmer. Schließlich war die

schreckliche Pia ihre Tochter. Das bedeutete, das Kind schlich fortan immer

und ständig in Eddies schöner Burg herum.

Vor Schreck schüttelte Eddie sich leicht, was ein rostiges Rasseln zur Folge

hatte. Prompt fuhren die beiden Bärtigen und Mrs Plumbelly zu ihm herum.

„Ruuuuuaaahhhhhhrrrr!“, knurrte Eddie schaurig und angsteinflößend. Die

beiden Bärtigen starrten ihn mit aufgerissenen Augen an.

Mrs Plumbelly hingegen verzog genervt ihren roten Mund und schimpfte: „Pia,

wo hast du nur diese staubige Rüstung her? Bestimmt sind deine Klamotten

jetzt ganz schmutzig."

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Kopfschüttelnd wandte sie Eddie wieder den Rücken zu und murmelte:

„Hoffentlich taucht Hausmeister Quitte bald auf. Dann kann sich das Kind

wenigstens mit seinem Hund beschäftigen und kommt nicht dauernd auf

dumme Ideen."

Eddie trat umgehend den Rückzug an.

Kaum in Deckung, schlüpfte er aus der

rostigen Rüstung, stellte fest, dass

Mrs Plumbelly recht hatte, was die

schmutzige Kleidung betraf, und

verzog sich in sein Turmzimmer.

„Tilla, ich weiß, dass ich lange nicht

geübt habe, aber mir bleibt keine

andere Wahl!", rief er, als er durch die

Tür stürmte.

Tilla ließ vor Schreck den kühlenden Umschlag auf den Boden klatschen, den

sie sich für ihre schmerzende Stirn gemacht hatte.

„Was hast du vor?“, fragte sie mit dünner Fledermausstimme, obwohl Eddies

Pläne ihr so klar waren wie Klößchen-Suppe ohne Klößchen. Der junge Graf

steuerte nämlich direkt auf den Sekretär zu und zog, ohne zu zögern, die

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untere linke Schublade auf.

Da lag er, liebevoll in ein dunkelblaues Samttuch gehüllt, in seiner sicheren

Schatulle: sein Zauberstab Fidelius!

Das war der erste Teil der Geschichte. Wird Eddie seinen Zauberstab Fidelius
tatsächlich benutzen? Das erfahrt ihr im zweiten Teil der Geschichte.

Eddie Fox und der Spuk von Stormy Castle - Teil 1


Autor: Antje Szillat
Illustration: Susanne Göhlich
Verlag: arsEdition
Alterseinstufung: ab 7 Jahren
ISBN: 978-3-8458-3441-2

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