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2020 Werden statt sein (Archiv)

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Werden statt sein


Gilles Deleuze über einsame Inseln

<em> Die Lehrveranstaltungen sind ein Teil meines Lebens gewesen, ich
habe sie mit Leidenschaft gemacht. Das hat nichts mit
Diskussionsveranstaltungen zu tun. Das ist wie ein
Forschungslaboratorium: Eine Veranstaltung macht man über etwas, das
man sucht und nicht über etwas, das man weiß. </em>

Klaus Englert

Denker des Werdens: Gilles Deleuze (AP)

Mit diesen Worten schilderte der französische Philosoph Gilles Deleuze seine
legendären Seminare in Paris-Vincennes. Ungewollt hat er damit auch den neuen Ton
angesprochen, den er in die Philosophie einführte. Kaum ein Thema ließ er in den
Künsten, den Geistes- und Naturwissenschaften aus. Und immer ging es ihm darum,
starre Strukturen zu verflüssigen: In den gesellschaftlichen Machtgefügen hielt er
Ausschau nach den Bruchstellen und Fluchtlinien; in der Psychoanalyse verfolgte er
die Befreiung des Wunsches aus den familiären Fesseln; in der Linguistik wandte er
sich ab vom allzu starren und in sich geschlossenen Sprachsystem; in der Literatur
spürte er den Einfluß außertextueller Phänomene auf; in der Musik interessierte ihn
das Aufbrechen traditioneller Klangstrukturen; in der Malerei erkundete er das
Spannungsfeld zwischen Figuration und Defiguration und im Kino entdeckte er das
Auftauchen neuer Bildtypen, die er mit neuen Begriffen beschrieb.

Gemeinsamer Ausgangspunkt all dieser Untersuchungen bildet die Erkenntnis: Es gibt


immer nur offene Systeme, es gibt Fluchtlinien und es gibt die Schaffung und
Besetzung neuer Systeme, die ebenfalls offen sind. Deswegen gibt es bei Deleuze ein
sehr unakademisches Verständnis von Philosophie:

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In der Philosophie zu bleiben, bedeutet auch, aus ihr herauszugehen. Doch aus der
Philosophie herauszugehen, heißt nicht einfach: etwas anderes machen. Es bedeutet:
Hinausgehen und dennoch drinnen bleiben (...). Ich möchte mit den Mitteln der
Philosophie das Terrain der Philosophie verlassen. Genau das interessiert mich.

Für den Sammelband Die einsame Insel, der acht Jahre nach Deleuzes Selbstmord
erschien, läßt sich ähnliches sagen. Auch in diesem Band, der kleinere Texte und
Gespräche zwischen 1953 und 1974 versammelt, finden sich zahlreiche Ausblicke auf
außerphilosophische Gebiete. Das Erstlingswerk „Die einsame Insel“, das dem Buch
den Titel gab, ist eine originelle Kritik der Insel-Literatur –von Daniel Defoes Robinson
Crusoe und Jean Giraudoux‘ Suzanne et le Pacifique. Seit diesem frühen Aufsatz von
1953, der nun zum ersten Mal publiziert wurde, hat Gilles Deleuze immer wieder die
Verbindung von Literatur und Philosophie betont:

Beide Aktivitäten, die große Literatur und die große Philosophie haben etwas
Gemeinsames: sie zeugen für das Leben. Das ist es, was ich die Kraft des Autors
nenne.

Bereits die kurzen Texte, die der 28-jährige Gilles Deleuze schrieb, enthalten
grundlegende Einsichten, die später in Hauptwerken wie Differenz und Wiederholung
oder Logik des Sinns ausgeführt werden. In einem dem Lehrer Jean Hyppolite
gewidmeten Aufsatz entwickelt er eine „Ontologie der Differenz“, die Hegels Dialektik
zu überwinden trachtet. Aber man sieht schnell, daß sich Deleuze nur sehr wenig für
die Hegelsche oder Marxsche Dialektik interessierte – ganz im Gegensatz zu den
Pariser Intellektuellen, die seinerzeit noch im Bann der marxistischen Orthodoxie
standen. Deleuze fand den Ausweg aus dem dialektischen Dualismus bei Henri
Bergson, über den er zwischen 1956 und 1966 umfangreiche Texte schrieb. Allerdings
handelt es sich bei diesen Schriften niemals um akademische Pflichtübungen. Stets
versucht Deleuze in ihnen das herauszufiltern, was seinem eigenen intellektuellen
Interesse entspricht: Die Begründung einer Differenz-Philosophie, die das Sein in
seiner zeitlichen Differenz faßt. Schließlich kommen die existentialistischen Ideen der
Neuheit, Zukunft und Freiheit hinzu. Schon 1956 konnte man bei Deleuze einen völlig
neuen Ton in der Philosophie vernehmen:

Philosophie treiben heißt, mit der Differenz zu beginnen. (...) Die Differenz ist der
wahre Anfang. (...) [Denn] die Sache erklärt sich durch die Differenz, nicht durch ihre
Ursachen.

Aber noch ein anderer Philosoph taucht immer wieder in dem Sammelband auf. Es ist
Friedrich Nietzsche, dem Deleuze 1962 mit seinem Buch Nietzsche und die
Philosophie eine leidenschaftliche Huldigung schrieb, die über viele Jahre einen
fulminanten Einfluß auf die französische Nietzsche-Rezeption hatte. Während man in
Deutschland den ungeliebten Philosophen mit Samthandschuhen anfaßte, heißt es bei
Deleuze:

Nietzsche ist ein Philosoph, dessen kritische und zerstörerische Macht unvergleichlich
ist, aber diese Macht entspringt immer einer Bejahung, einer Freude, einem Kult der
Bejahung und der Freude, einem Anspruch des Lebens gegen diejenigen, die es
verstümmeln und martern.

Deleuze ist ein Philosoph des Werdens, des Ereignisses. Nur sie öffnen die
Gegenwart und machen sie empfänglich für ein zukünftiges Geschehen, für das

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unerwartet Neue. Aus diesem Grund stand ihm Nietzsche näher als Marx. Näher auch
als die ganze Phalanx der Historiker, die sich zwar für die Geschichte, nicht aber für
das Werden interessieren. Nietzsche stand schließlich auch für den Anti-Ödipus Pate –
das Kultbuch der anti-autoritären Bewegung der siebziger. Interviews, Diskussionen,
Manifeste und sonstige Texte bekunden den Einfluß, den das Buch von Gilles Deleuze
und Félix Guattari vor dreißig Jahren ausübte. In der Folge des Pariser Mai 68 gehen
sie den Wünschen nach, die zu politischen Manifestationen auswuchsen; sie verfolgen
die allmähliche Aufweichung einer erstarrten Geschlechtertrennung; sie registrieren die
befreiten Stimmen der ethnischen Minderheiten; sie artikulieren die verstärkte Kritik an
den geschlossenen psychiatrischen Anstalten; sie demaskieren die schleichende Krise
der Familie. Der Anti-Ödipus ist eine Eloge auf die Bewegung und den Prozeß, auf
Intensitäten und Grenzerfahrungen, auf Übergänge und Transgressionen. Schließlich
eine Eloge auf alles Strömende, allem voran die Wunschströme.

Es mag überraschen, daß im Anti-Ödipus ausgerechnet Sigmund Freud als Feindbild


auftaucht. So werfen ihm Deleuze und Guattari vor, die Psychoanalyse als ein
Unternehmen gegen das Leben gegründet zu haben. Als eine systemkonforme
Wissenschaft, die die gesellschaftliche Ausrichtung der Wunschproduktion ignoriert.
Auf die Anklagebank sitzt die Familie, der Agent der Sexualverdrängung, aber auch
Ödipus, der Feind der freien Wunschproduktion. Denn bei Ödipus fließt alles nur in die
Sackgasse des familialen Dreiecks.

Die Psychoanalyse redet vom Wunsch wie ein Priester. Doch das Unbewußte ist kein
Theater, es ist nicht dort zu suchen, wo Ödipus und Hamlet ihr immergleiches
Schauspiel aufführen. Das Unbewußte ist eine Fabrik, eine Produktion – ganz im
Gegensatz zur psychoanalytischen Auffassung vom Unbewußten als Theater. Das
zweite Thema ist das Delirium, das mit dem Wunsch verbunden ist. Wünschen
bedeutet im gewissen Sinne Delirieren. Man deliriert nicht über Papa und Mama (...),
man deliriert über die ganze Welt, nämlich über die Geschichte, die Geographie, die
Stämme, die Wüsten, die Völker, die Rassen, die Klimazonen (...). Das Delirium ist
geographisch und politisch, dagegen führt es die Psychoanalyse jedesmal in die
Sackgasse der Familie zurück. Schließlich der dritte Punkt: der Wunsch ist aus
Gefügen, aus Vielheiten gebildet (...). Entsprechend gibt es immer mehrere Faktoren.
Doch die Psychoanalyse reduziert ihn stets auf den gleichen Faktor: den Vater, die
Mutter oder den Phallus.

Gilles Deleuze
Die einsame Insel. Texte und Gespräche – 1953 bis 1974
Suhrkamp, 435 S., EUR 34,90

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