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Lektürenotiz zu: „The Apprentice’s Sorcerer: Liberal

Tradition and Fascism“ von Ishay Landa


Victor Sherazee

Es ist wohl nicht zu viel gesagt, dass die Monographie „The Apprentice’s Sorcerer: Liberal Traditi-
on and Fascism“ des israelischen Historikers Ishay Landa viele gängige Vorstellungen über den Fa-
schismus über den Haufen wirft. Das Anliegen von Landa ist es, mit seiner ideengeschichtlichen
Studie über faschistische und liberale Denker eine längst überfällige Korrektur des sogenannten
„neuen Konsenses“ in der Faschismusforschung zu leisten, der in der akademischen Welt derzeit
hegemonial ist und sich vor allem um den britischen Faschismusforscher Roger Griffin gruppiert.
Vertreter*innen des „neuen Konsenses“ orientieren sich methodologisch am ideenzentrierten oder
auch „ideozentrischen“ Ansatz. Im Gegensatz zu sozialgeschichtlichen und marxistischen Faschis-
musanalysen, die den Fokus auf die ökonomische und materielle „Basis“ des Faschismus legen,
rückt der ideozentrische Ansatz nämlich vor allem Ideen und Ideologien von Faschisten in das Zen-
trum seiner Analyse. Ideozentrische Analytiker*innen bestehen darauf, die Aussagen von Faschis-
ten wörtlich und ernst zu nehmen. Diese Prämisse hat entscheidende Konsequenzen bezüglich der
Frage, wo der Faschismus im politischen Spektrum einzuordnen ist und wie seine Beziehung zu den
anderen wichtigen großen politischen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts zu bewerten ist.
Klar sei, so Landa, dass unter den vom „Primat der Ideologie“ diktierten Bedingungen der Libera-
lismus deutlich besser abschneide als unter den alten „materialistischen“ beziehungsweise sozio-
ökonomischen Faschismusanalysen. Denn während insbesondere marxistische Ansätze die Konti-
nuität des Faschismus mit dem Liberalismus betonen unter Verweis auf die Tatsache, dass Faschis-
ten genau wie Liberale den Kapitalismus und das Privateigentum an den Produktionsmitteln beja-
hen, verweisen ideozentrische Analytiker*innen darauf, dass sich Faschisten oftmals zu Sozialisten
erklärten und dass das Adjektiv „sozialistisch“ sogar im Namen der bedeutendsten faschistischen
Partei überhaupt auftauchte, nämlich bei der „Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei“
(NSDAP). Umgekehrt waren Faschisten weitaus weniger anfällig, das Adjektiv „liberal“ als Selbst-
bezeichnung aufzunehmen. Faschisten sprachen meist schlecht über den Liberalismus und distan-
zierten sich von ihm mit Vehemenz. Als Folge dieser neuen Betonung der Ideologie wird der Fa-
schismus nicht mehr als eine im Wesentlichen rechtsgerichtete politische Bewegung begriffen, son-
dern entweder als eine Art „Dritter Weg“ zwischen Kapitalismus und Kommunismus oder gar als
eine direkte Ausgeburt des Sozialismus. Der Liberalismus wird in solchen Theorien nicht wie in
marxistischen Faschismusanalysen als mit dem Faschismus verwandt angesehen, sondern Faschis-
mus und Sozialismus werden als angeblich „kollektivistische“ und „totalitäre“ Ideologien dem Li-
beralismus als gemeinsamer Antagonist gegenübergestellt.

Nach Landas Auffassung kranke die ideozentrische Faschismusanalyse vor allem daran, dass diese
das Gerede von Faschisten für bare Münze nehme. Die Vertreter*innen des „neuen Konsenses“
übersehen dabei die machiavellistische und nietzscheanische Seite des Faschismus, d.h. die Tatsa-
che, dass faschistische Ideologie Manipulation und Suggestion als legitimes Mittel der egoistischen
Machtgewinnung explizit befürworte. Ein*e Historiker*in müsse dieser Tatsache Rechnung tragen,
so Landa, und Texte faschistischer Denker mit einem gewissen Maß an Skeptizismus begegnen.
Durch eine solche naive Exegese, die Faschisten wörtlich nehme, werde der Faschismus beträcht-
lich „sozialistischer“ dargestellt, als dieser tatsächlich gewesen war, und der historische Beitrag des
Liberalismus zum Faschismus verschleiert. Landa möchte hingegen aufzeigen, dass der Liberalis-
mus wesentlich zum Faschismus beigetragen und viele seiner weitreichenden Erscheinungsformen
geprägt habe, wie beispielsweise die Ablehnung der Demokratie, Diktatur, chauvinistischer Natio-
nalismus sowie Imperialismus und Rassenkrieg. Der Faschismus sei ein organisches Produkt von
Entwicklungen, die weitgehend (d.h. nicht vollständig) aus der liberalen Gesellschaft und Weltan-
schauung stammten, und ein extremer Versuch gewesen, die Krise des Liberalismus zu lösen und
aus seiner Ausweglosigkeit auszubrechen.

Diese Ausweglosigkeit der liberalen Ordnung zu Beginn des 20. Jahrhunderts sei nach Landa be-
reits in der Entstehung des Liberalismus im 18. und 19. Jahrhundert angelegt gewesen. Die innere
Widersprüchlichkeit des Liberalismus liege in der letztlich nicht zu überwindenden Spannung zwi-
schen seiner politischen Dimension und seiner wirtschaftlichen Ordnung. Ausgangspunkt für Lan-
das Erzählung ist dabei die longue durée des „langen“ 19. Jahrhundert zwischen der Französischen
Revolution und dem Beginn des Ersten Weltkrieges als die europäische Bourgeoisie gegen die In-
teressen des Adels eine konstitutionelle und repräsentative Regierung durchsetzte, um die Märkte
von den antiquierten Lasten des feudalen und absolutistischen Protektionismus zu befreien. Landa
zitiert John Locke, der allgemein als Vater des Liberalismus gilt und für den „die Erhaltung des Ei-
gentums der Zweck der Regierung“1 war. Parlamentarismus und Rechtsstaatlichkeit erfüllten für ihn
also keinesfalls einen Selbstzweck, um z. B. politischen Pluralismus zu gewährleisten, sondern sie
waren nur Mittel zu einem anderen Zweck, nämlich um das Privateigentum zu schützen und folg-
lich den Kapitalismus zu erhalten. Für die frühen Liberalen galt, dass „[a]llein das Eigentum Men-
schen dazu befähigt, politische Rechte auszuüben“2 (so etwa der französische Liberale Benjamin
Constant). Durch das Prinzip der Volkssouveränität, das von den Liberalen geschaffen wurde und
von dem die Besitzlosen zunächst ausgeschlossen waren, sei eine Art „Zeitbombe“ im Herzen der
liberalen Ordnung installiert worden, die bald zu explodieren drohte. Denn der revolutionären Bour-
geoisie folgten später die besitzlosen Massen, die ihrerseits Partizipation am politischen Gemeinwe-
sen einforderten, um ihren eigenen Interessen politisch Gehör zu verschaffen. Mit dem Einbruch der
Massen in die Politik durch die sukzessive Ausweitung des Wahlrechts wurde der ökonomische Li-
beralismus aber kompromittiert. Denn die Unterschichten forderten Eingriffe in die „unternehmeri-
sche Freiheit“ und in das Privateigentum der Kapitalisten etwa in Form von Lohnerhöhungen und
Begrenzungen des Arbeitstages oder progressiver Besteuerung. Folglich machten sich Pessimismus
und Ernüchterung im Bürgertum breit. Die politische Seite des Liberalismus erschien für die besit-
zende Klasse nun nicht mehr in einem so rosigen Lichte und das Bürgertum begann sich langsam
vom politischen Liberalismus abzuwenden. Dieser Prozess der schrittweisen Abkehr von Demokra-
tie und politischem Liberalismus kann anhand des italienischen liberalen Ökonomen Vilfredo Pare-
to sehr gut exemplifiziert werden, dessen Werk später Benito Mussolini inspirieren sollte. Pareto
schrieb:

Das Werk der Liberalen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebnete den Weg für die Ära
der demagogischen Unterdrückung, die heute anbricht. Diejenigen, die vor dem Gesetz die
Gleichheit aller Bürger forderten, sahen sicherlich nicht die Privilegien, die die Massen heute
genießen. Die alten Sonderrechtsprechungen wurden abgeschafft, aber das Gleiche in einer neu-
en Form wieder eingeführt: ein System der Interessenvermittlung, das immer zugunsten der Ar-
beiter operiert.3

Und Pareto fährt fort und beschwert sich über die erdrückende Macht der Gewerkschaften und die
Schmach progressiver Besteuerung, die „von denen bestimmt wird, die sie nicht bezahlen“ 4. Ange-
sichts dieser unerträglichen Zustände löste sich Pareto von seiner vormaligen Unterstützung für De-
mokratie und politischen Liberalismus. Er wurde nun zu einer unermüdlichen Stimme, die die
Schwäche (in seinen Worten: „Degeneration“5) der bürgerlichen Eliten anprangerte und sie auffor-

1 Locke 1988, S. 360–361 zit. n. Landa, Ishay (2010): The Apprentice’s Sorcerer. Liberal Tradition and Fascism.
Leiden, Boston: Brill, S. 24, übersetzt von V. S.
2 Constant 1988, S. 214 zit. n. Landa a.a.O., S. 31, übersetzt von V. S.
3 Pareto 1966, S. 157 zit. n. Landa a.a.O., S. 47, übersetzt von V. S.
4 ebd., übersetzt von V. S.
5 Pareto 1966, S. 135 zit. n. Landa a.a.O., S. 48, übersetzt von V. S.

2
derte, zurückzuschlagen, um durch die Eliminierung der Demokratie das politische Gleichgewicht
wiederherzustellen. Es kommt zu dem, was Ishay Landa, die „liberale Spaltung“ nennt (the liberal
split). Der Liberalismus löst sich in seine Bestandteile auf: Auf der einen Seite lassen sich die Be-
fürworter des politischen Liberalismus auffinden, die Menschenrechte, Demokratie und politische
Gleichheit aller Staatsbürger erhalten wollen, und auf der anderen die kompromisslosen Verteidiger
des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die jede Einschränkung in seine freie Verfügung
durch die Massen mit autoritären Mitteln zu verhindern versuchen. Diese Aufspaltung ist ein wie-
derkehrendes Moment in der Ideengeschichte des Liberalismus. Man denke etwa an den Gegensatz
zwischen sozialliberalen Denkern wie John Rawls und neoliberalen Denkern wie Friedrich August
von Hayek, der immer wieder bekräftigte, dass „der Liberalismus mit der unbegrenzten Demokratie
unvereinbar“6 sei.

Diese autoritäre Wendung des Liberalismus hüllt Ishay Landa in eine geniale Metapher, auf die der
Titel seiner Monographie verweist: „The Apprentice’s Sorcerer“; übersetzt: Des Lehrlings Zaube-
rer. Der Titel ist wiederum eine Anspielung auf Goethes bekanntes Gedicht „Der Zauberlehrling“.
Demnach habe der Liberalismus, wie der Zauberlehrling, Kräfte ins Leben gerufen, die zunächst äu-
ßerst nützlich waren, die er aber später nicht kontrollieren konnte. Diese magischen Kräfte waren
etwa die parlamentarische Demokratie oder das Prinzip der Volkssouveränität, die zunächst scharfe
Waffen der revolutionären Bourgeoisie gegen den Adel waren, die aber später von den Massen ge-
gen das Bürgertum selbst gewendet wurden. Die Besen – die modernen Arbeiter – , die der liberale
Lehrling zum Leben erweckte, taten also zunächst ihre Arbeit, bevor sie sich weigerten, ihre Rolle
als bloße Werkzeuge im Produktionsprozess anzunehmen, und einen eigenen Willen entwickelten.
So beschwört der liberale Lehrling einen Zauberer, um die Ordnung wiederherzustellen, die ani-
mierten Besen wieder in einfaches Holz zu verwandeln. Der faschistische Zauberer, der zwar auf
den liberalen Lehrling schimpfte, agierte trotz aller Worte letztlich nicht gegen den Liberalismus,
sondern trat vor allem als sein Verbündeter auf, wenn auch als ein tyrannisierender und herablas-
sender. Der Zauberer – man denke hier an einen Mussolini, Hitler oder Pinochet – leistete seine Hil-
fe und machte die Besen unschädlich, indem er die Gewerkschaften und Arbeiterparteien zerschlug
und die Arbeiter wieder ihrer „natürlichen“ Bestimmung zuführte, sie nämlich unter das vollständi-
ge Kommando der Kapitalbesitzer und Großgrundbesitzer unterwarf.

Die Verwandlung der liberalen Ordnung zum Faschismus ist aber keinesfalls ein Automatismus.
Lässt sich für die Aufrechterhaltung der kapitalistischen Eigentumsordnung eine demokratische
Mehrheit finden oder ist diese gar nicht erst durch eine sozialrevolutionäre Bewegung bedroht, so
greift die herrschende Klasse auf „weichere“ Formen der Herrschaftsausübung zurück – ein Modus,
den Landa crypto-fascism oder das „englische Modell“ nennt, bei dem die Demokratie dem An-
schein nach weiter besteht, in Wirklichkeit aber von einer kleinen Clique von „Experten“ bestimmt
wird – die Parallele zu zeitgenössischen Technokratien im Neoliberalismus wird hier offensichtlich.
Kommt es hingegen zum Aufstand der Massen, suspendiert die Bourgeoisie das Mehrheitsprinzip
und errichtet eine Diktatur. Diese Inkonsistenz bezüglich des Mehrheitsprinzips verkörpert wie kein
anderer der bekannte französische Liberale Alexis de Tocqueville. Dieser schwankt im Laufe des
Jahres 1848 zwischen zwei Polen: Während er noch zu Anfang des Jahres, als die Sozialisten nach
der Februarrevolution an Boden gewannen, gegenüber der Mehrheit skeptisch bis ablehnend einge-
stellt war und vor der „Tyrannei der Mehrheit“ und der „Herrschaft des Mobs“ warnte, zeigte sich
Tocqueville im weiteren Verlauf des Jahres hingegen hellauf begeistert von den Wahlerfolgen der
Monarchisten, die nunmehr die Mehrheit stellten. War Tocqueville also ein elitistischer Aristokrat
oder eher ein populistischer Demokrat? Landa entschlüsselt Tocquevilles Haltung zum Mehrheits-
prinzip als gar nicht das entscheidende Kriterium: In Wirklichkeit geht es Tocqueville um die Wah-
rung der Eigentumsverhältnisse, was ihm auch an einer Stelle rausrutscht: Das Wahlrecht solle nur

6 Hayek zit. n. Landa a.a.O., S. 35, übersetzt von V. S.

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unter der Bedingung auf die Armen ausgeweitet werden, wenn dies „mit dem Bestehen des indivi-
duellen Eigentumsrechts und den damit verbundenen ungleichen Bedingungen vereinbar ist“ 7. Toc-
quevilles schwankende Position zur Mehrheit spiegelt ziemlich genau die Position der französi-
schen herrschenden Klasse gegenüber Demokratie und allgemeinen Wahlen während der Tage der
Zweiten Republik wider. Solange das allgemeine Wahlrecht dem Eigentum dient und den Sozialis-
mus zügelt, wie es seit den Wahlen vom April 1848 der Fall war, schließen sich die herrschenden
Klassen ihm an. Aber in dem Moment, in dem das allgemeine Wahlrecht die Gezeiten ändert und
den linken republikanischen Kräften neues Leben einhaucht, überlebt es seinen Nutzen und ein
(proto-)faschistischer Diktator wird in Person von Louis Napoléon Bonaparte installiert. Tocque-
ville ist für Landa in gewisser Weise ein sogenannter „Vernunftrepublikaner“ avant la lettre gewe-
sen, also jemand, dessen Zustimmung und Verteidigung der Republik von keinerlei republikani-
schem – geschweige denn von einem demokratischen – Eifer geprägt war, sondern von opportunis-
tischen Ad-hoc-Abwägungen und dem Mangel an Alternativen. Tocqueville habe die Haltung jener
deutschen Konservativen und Liberalen sehr genau vorweggenommen, die, obwohl sie Hitler nicht
unbedingt schätzten, ihm dennoch den Weg ebneten, indem sie den demokratischen Charakter der
Weimarer Republik immer weiter einschränkten aus Angst vor revolutionären Kräften von links.
Gemeinsam ist ihnen mit Tocqueville ein vorrangiges Anliegen, die Kräfte der Linken zu isolieren,
herauszudrängen und auszuschalten, während die Kräfte der Rechten allmählich eine immer größere
Rolle zuteil wird. Landa debunked damit den Mythos, dass der Faschismus eine „Tyrannei der
Mehrheit“ gewesen sei, indem er ihn als ein Projekt von Eliten entlarvt, sozialistische Mehrheiten
zu verhindern, um ihre eigene Machtposition abzusichern. Gibt es aber für die Aufrechterhaltung
der herrschenden Eigentumsordnung eine demokratische Mehrheit, lässt man die Tyrannei der –
wie sie Landa mit Verweis auf die Organisation der US-amerikanischen christlichen Rechten nennt,
die Ronald Reagan zum Wahlsieg verhalf – moral majority gerne gewähren.

Kommen wir jetzt zum Faschismus: Von liberaler Seite aus wird gerne und oft behauptet, dass der
Faschismus einen „Dritten Weg“ zwischen Kommunismus und Kapitalismus habe schaffen wollen.
Nach Ansicht etwa des liberalen Historikers Heinrich August Winkler sei insbesondere die Konzep-
tion des „preußischen Sozialismus“ von Oswald Spengler, der als ein intellektueller Wegbereiter
des Nazifaschismus gilt, ein geradezu idealtypisches Beispiel für ein antiliberales Projekt der „ge-
mischten Ökonomie“ gewesen, eine völkische und autoritäre Antizipation der sozialdemokra-
tisch-keynesianischen Wirtschaftsordnung der Nachkriegszeit, die darauf abgezielt habe, auf der
Grundlage kapitalistischer Produktions- und Eigentumsbeziehungen eine Form des staatsinterventi-
onistischen Wohlfahrtsstaates zu errichten, eine Art paternalistischer Sozialismus, der den Arbeit-
nehmern grundlegende Arbeits- und Lebensstandards garantiere. Doch was findet man vor, wenn
man sich Spenglers Texte genauer anschaut? Man findet nichts dergleichen! Spengler spricht sich
explizit für eine strikte Trennung zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Sphäre aus und
in seinem „preußischen Sozialismus“ würden Streiks verboten sein. Er lamentiert, dass die Gewerk-
schaften durch die Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen eine „Lohndiktatur“ und „Lohn-
bolschewismus“ errichtet hätten. Nostalgisch blickt er angesichts des 8-Stunden-Tages zurück in die
Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Arbeiter noch die volle, „natürliche“ Menge an Arbeit von zwölf
(!) Stunden am Tag verrichten mussten. Selbst Versicherungen gegen Krankheit, Alter und Unfälle
am Arbeitsplatz lehnt Spengler ab. Demnach habe sich jeder Mensch „wie jedes Tier, gegen das un-
berechenbare Schicksal zu wehren oder es zu tragen. […] So ist das Leben.“ 8 „Die Sucht des Versi-
chertseinwollens“9 sei „ein Zeichen sinkender Lebenskraft“10. Spenglers sozialpolitisches Pro-
gramm entpuppt sich in Wirklichkeit als eine entschiedene Absage an alle großen und kleinen Er-
7 Tocqueville 1866, S. 518–519 zit. n. Landa a.a.O., S. 229, übersetzt von V. S.
8 Spengler, Oswald (1980): Jahre der Entscheidung. München: C. H. Beck, S.151. Zitiert von Landa a.a.O. in seiner
englischen Übersetzung auf S. 63.
9 ebd.
10 ebd.

4
rungenschaften, die sich die sozialistische Arbeiterbewegung in Deutschland und Europa bis dato
erkämpft hatte. In einer Sprache, die den Bund der Steuerzahler hätte blass aussehen lassen, be-
hauptet Spengler, dass die Gefahr bestehe, dass die derzeitige Steuerpolitik „in einen trockenen Bol-
schewismus ausartet, der alles einzuebnen droht, was über die Masse hervorragt“ 11. Stattdessen
schlägt er vor, die politisch-demokratische Verwaltung der Besteuerung zu beseitigen und – neoli-
berale Organisationen wie die Welthandelsorganisation oder den Internationalen Währungsfonds in
gewisser Weise antizipierend – alle Entscheidungen in solchen Angelegenheiten Wirtschaftsexper-
ten anzuvertrauen, einem „Weltkongreß von Kennern des Wirtschaftslebens.“12 Der einzige Unter-
schied zur liberalen Klassengesellschaft ist die Tatsache, dass der Arbeiter sich im Spengler’schen
„Sozialismus“ nicht schämen müsse, zwölf Stunden am Tag arbeiten zu müssen. Der „preußische
Sozialismus“ läuft also auf den englischen Manchester-Kapitalismus hinaus, befreit von der symbo-
lischen (nicht aber materiellen) Herabwürdigung der Arbeiter.

Der Sozialdarwinismus, der sich bei Spenglers Ablehnung von Versicherungen offenbart, erfüllt
nach Landa eine zentrale Scharnierfunktion zwischen der liberalen Affirmation der gnadenlosen ka-
pitalistischen Logik des Wettbewerbs und faschistischem Denken, das dieses Prinzip als Survival of
the Fittest biologisiert. Während liberale Historiker wie Henry A. Turner behaupten, dass Adolf
Hitler einer „kollektivistische[n], österreichische[n] Version“13 der sozialdarwinistischen Doktrin
angehangen habe und die angelsächsische, individualistische Version abgelehnt habe, belehrt ihn
Landa eines Besseren: Hitler offenbart sich in Wirklichkeit als idealtypischer Vertreter des libe-
ral-individualistischen Leistungsprinzips: „[…] weil die Leistungen der Menschen verschieden sind,
sind auch die Ergebnisse der Leistungen verschieden.“14 Er hält es daher für „unlogisch […], an
eine Persönlichkeit gebundene Leistung dem nächstbesten Minderleistungsfähigen oder einer Ge-
samtheit zu übertragen“15. Die Gegenüberstellung eines angeblich deutsch-österreichischen Kollek-
tivismus mit einem angelsächsischen Individualismus stellt sich als Farce heraus. Tatsächlich er-
weist sich diese Form der Glorifizierung des einzelnen Individuums als eine wesentliche Gemein-
samkeit von liberalem und faschistischem Denken. Adolf Hitler: „Der Fortschritt und die Kultur der
Menschheit sind nicht ein Produkt der Majorität, sondern beruhen ausschließlich auf der Genialität
und der Tatkraft der Persönlichkeit.“16 Man vergleiche diese Aussage etwa mit der Position des eng-
lischen Liberalen John Stuart Mill, aus dessen Sicht ebenfalls einzelne Genies „Gutes erfinden“ 17
und „das Salz der Erde“18 sind, ohne die „das menschliche Leben zu einem stillstehenden Tümpel
werden“19 würde. Diese Genies, die „immer eine kleine Minderheit“ 20 sein werden, sind nach Mill
aber in Gefahr vor einer „allgemeine[n] Tendenz“21, die „die Mittelmäßigkeit zur aufsteigenden
Macht der Menschheit“22 mache durch den zunehmenden Einfluss der Mehrzahl auf die Regierun-
gen, die sich wiederum „zum Organ der Neigungen und Instinkte der Massen machen.“ 23 Zum Ver-
11 Spengler, Oswald (1933): Das Verhältnis von Wirtschaft und Steuerpolitik seit 1750. In: Oswald Spengler:
Politische Schriften. Volksausgabe. München: C. H. Beck, S. 297–310; hier S. 309. Zitiert von Landa a.a.O. in
seiner englischen Übersetzung auf S. 62.
12 ebd., S. 310. Zitiert von Landa a.a.O. in seiner englischen Übersetzung auf S. 62.
13 Turner 1987, S. 72 zit. n. Landa a.a.O., S. 76, übersetzt von V. S.
14 Hitler zit. n. Domarus, Max (1988): Hitler. Reden und Proklamationen 1932–1945. Kommentiert von einem
deutschen Zeitgenossen. Erster Band 1932–1934. 4. Aufl. Leonberg: Pamminger & Partner Verlagsgesellschaft, S.
72. Zitiert von Landa a.a.O. in seiner englischen Übersetzung auf S. 79.
15 Hitler zit. n. Domarus a.a.O., S. 73. Zitiert von Landa a.a.O. in seiner englischen Übersetzung auf S. 79.
16 Hitler, Adolf (1943): Mein Kampf. Zwei Bände in einem Band. Ungekürzte Ausgabe. 851–855. Aufl. München:
Zentralverlag der NSDAP, S. 379
17 Mill 1905, S. 120 zit. n. Landa a.a.O., S. 260, übersetzt von V. S.
18 ebd., übersetzt von V. S.
19 ebd., übersetzt von V. S.
20 Mill 1905, S. 123 zit. n. Landa a.a.O., S. 260, übersetzt von V. S.
21 ebd., übersetzt von V. S.
22 ebd., übersetzt von V. S.
23 ebd., übersetzt von V. S.

5
gleich Hitler: „Der Marxismus aber stellt sich als den in Reinkultur gebrachten Versuch des Juden
dar, auf allen Gebieten des menschlichen Lebens die überragende Bedeutung der Persönlichkeit
auszuschalten und durch die Zahl der Masse zu ersetzen.“ 24 Im Gegensatz zum horizontal-egalitären
Individualismus, wie er z. B. durch Adornos Forderung nach einer Welt, in der jeder Mensch „ohne
Angst verschieden sein kann“,25 zum Ausdruck kommt, wird im vertikal-hierarchischen Individua-
lismus die Masse zur Gefahr für das einzelne Individuum. Der faschistische Kult des Führers und
die liberale Verehrung des Individuums sind sich darin einig, dass Einzigartigkeit nur für eine klei-
ne Elite existieren kann, die die große Mehrheit unberührt lässt. „Genies sind, ex vi termini [per de-
finitionem], individueller als alle anderen Menschen“26 (J. S. Mill). Liberalismus und Faschismus
wollen das solipsistische Individuum vor den als bedrohlich und pöbelhaft empfundenen Massen
retten. Beide politischen Strömungen entpuppen sich als elitistische Reaktionen auf den Prozess der
Selbstermächtigung der unteren Schichten, die den Großteil der Bevölkerung ausmachen. Deshalb
ist auch der liberale Narrativ falsch, dass die faschistische „Volksgemeinschaft“ und die Herrschaft
der Massen zwei Spielarten der „Tyrannei der Mehrheit“ seien. Das Volk, die Volksgemeinschaft,
die Nation oder die Rasse waren im faschistischen Denken nämlich semantisch ganz anders besetzt
als der Begriff der Massen. Während die Massen für Egalitarismus, Demokratie oder Bolschewis-
mus standen, wurden solche faschistischen Kollektive mit Loyalität zur Obrigkeit verbunden etwa
in Form von Aufopferungsbereitschaft für „Volk und Vaterland“ in imperialistischen Kriegen. Es
handelte sich bei Konzepten wie der Volksgemeinschaft also um eine gänzlich andere Art der kol-
lektiven Organisation, die im Gegensatz zum Aggregatzustand der Masse kompatibel mit Eliten-
herrschaft war und aus Sicht der Faschisten das heroische Individuum, das Genie, den großen Mann
oder Führer vor der Nivellierung durch die Massengesellschaft bewahren sollte.

Aber zurück zu Spengler: Worin bestanden Spenglers Invektiven gegen den Liberalismus? Speng-
lers Angriffe auf den Liberalismus zielten nicht auf die wirtschaftliche „Basis“ des Liberalismus,
also auf das Privateigentum an den Produktionsmitteln. Ganz im Gegenteil: Spengler schwafelt gar
davon, dass „keine Rasse einen so starken Instinkt für Besitz hat wie die germanische“ 27 und dass
„[d]er Wille zum Eigentum […] der nordische Sinn des Lebens“ 28 sei. Spenglers Klage gegen den
Liberalismus hat vielmehr mit seinem politischen und kulturellen Überbau zu tun. Nach Spengler
sei der „materialistische Sozialismus“29 und der „Bolschewismus“30 Produkt der „materialistischen
Wissenschaft“31 des Nationalökonomen Adam Smith, die sich anmaßte, „die Menschen als Zubehör
zur wirtschaftlichen Lage zu betrachten und die Geschichte von den Begriffen Preis, Markt und
Ware aus zu ‚erklären‘.“32 Adam Smith – ein Vertreter des Kapitalismus beziehungsweise wirt-
schaftlichen Liberalismus – wird in Spenglers Worten zum Gründervater des „Bolschewismus“.
Wie ist dieser Gedankengang zu erklären? Die materialistische Welterklärung der liberalen Natio-
nalökonomen ebnete den ideengeschichtlichen Weg für den marxschen Materialismus. Indem die
Liberalen den Markt und den Kapitalismus mit den Mitteln der Vernunft analysierten – freilich um
ihn zu stützen und zu legitimieren – statteten sie damit zugleich die Sozialisten mit dem analyti-
schen Werkzeugen aus, die sie brauchten, um den Kapitalismus als ungerecht zu kritisieren. Dieser
rationale Impuls führe unweigerlich zum Sozialismus. Es handelt sich bei Spenglers Antiliberalis-
mus also um einen Angriff auf den Liberalismus von einer pro-kapitalistischen Perspektive aus!

24 Hitler a.a.O., S. 498. Zitiert von Landa a.a.O. in seiner englischen Übersetzung auf S. 82.
25 Adorno GS 4, S. 114
26 Mill 1905, S. 121 zit. n. Landa a.a.O., S. 269, übersetzt von V. S.
27 Spengler 1980 a.a.O., S. 176. Zitiert von Landa a.a.O. in seiner englischen Übersetzung auf S. 64.
28 ebd.
29 Spengler 1980 a.a.O., S. 112–113. Zitiert von Landa a.a.O. in seiner englischen Übersetzung auf S. 66.
30 ebd.
31 ebd.
32 ebd.

6
Aber waren die faschistischen Ökonomien nicht staatsinterventionistisch? Standen sie nicht durch
ihren uneingeschränkten Etatismus im direkten Gegensatz zur liberal-kapitalistischen Marktgesell-
schaft? Dieser Ansicht kann man allerdings nur sein, wenn man die beiden polaren Sphären moder-
ner Gesellschaft – nämlich Markt und Staat – als Gegensätze betrachtet und nicht als harmonisches
Zusammenspiel im Sinne kapitalistischer Profitmaximierung. In dieser Hinsicht offenbaren sich die
Faschisten nämlich als sehr kluge Kapitalisten: „Die Wirtschaft ist kein Reich für sich; sie ist mit
der großen Politik unauflöslich verbunden; sie ist ohne starke Außenpolitik nicht denkbar und damit
letzten Endes abhängig von der militärischen Macht des Landes, in dem sie lebt oder stirbt.“33 Der
faschistische Etatismus, Spenglers „große Politik“, ist also vor allem Imperialismus im Dienste der
eigenen Bourgeoisie, was ihn wiederum sehr viel näher an den Liberalismus als an den Sozialismus
rückt. So verweist Landa etwa auf die Rechtfertigung der britischen Beteiligung am Zweiten Opi-
umkrieg durch John Stuart Mill. Für Mill war die Weigerung der Chinesen Opium zu importieren
„infringements on the liberty […] of the buyer“ 34 – eine Aussage die angesichts von Millionen und
Abermillionen suchterkrankter Chinesen vor Naivität nur so strotzt. Generell befürworteten Libera-
le im 19. Jahrhundert den Imperialismus als Mittel um „westliche Zivilisation“ und Freihandel auf
den gesamten Erdball zu verbreiten. Und wenn der Rest der Welt von den Segnungen des Freihan-
dels und des Privateigentums partout nichts wissen wollte, dann musste eben (wie im chinesischen
Fall) mit Kanonenbooten nachgeholfen werden. Dieses harmonische Zusammenspiel von staat-
lich-politischer Gewaltausübung und marktwirtschaftlicher Profitgenerierung fand auch großen An-
klang bei keinem Geringeren als Adolf Hitler: „Ein berühmter Engländer schrieb einmal, das Cha-
rakteristische der englischen Politik sei diese wunderbare Vermählung von wirtschaftlichen Erwer-
bungen mit politischer Machtbefestigung, und umgekehrt der politischen Machterweiterung mit so-
fortiger wirtschaftlicher Inbesitznahme.“35 Ein Paradebeispiel für eine solche „wunderbare Vermäh-
lung“ ist die Kriegswirtschaft des NS-Regimes. Die Vierjahrespläne und die staatlichen Produkti-
onsbestimmungen der NS-Zeit waren zwar planwirtschaftliche Elemente, die aber paradoxerweise
einem kapitalistischen Zweck dienten. Es handelte sich nämlich um eine vorübergehende Planwirt-
schaft, die nicht dem Aufbau des Sozialismus, sondern der Sicherung der Interessen der deutschen
Bourgeoisie diente. Eine solche zeitlich begrenzte Planwirtschaft stellte aber keineswegs eine Be-
sonderheit des Faschismus dar, sondern alle kapitalistischen Großmächte sahen sich in den beiden
Weltkriegen der Notwendigkeit gegenübergestellt, in kürzester Zeit ihre Produktion völlig umzuge-
stalten, um von einer Zivilwirtschaft zu einer Kriegswirtschaft überzugehen, die in der Lage war,
unter Anspannung aller verfügbaren Ressourcen und Arbeitskräfte schnellstmöglich große Mengen
an Kriegsmaterial zu produzieren. Es war unmöglich, einen solchen Kraftakt unter den Bedingun-
gen einer von Millionen vereinzelter Kapitalisten geleiteten Marktwirtschaft zu meistern, die nur
ihre jeweils individuellen Geschäftsinteressen verfolgten. Der Aufbau vorübergehender de fac-
to-Planwirtschaften diente dem Ziel, eine effiziente, zentrale staatliche Planung sicherzustellen, um
den Krieg zu gewinnen und dann wieder zur Marktwirtschaft zurückkehren zu können. Ziel war bei
allen modernen Kriegen nicht, die Marktwirtschaft zu ersetzen, sondern sie aufgrund ihrer offen-
kundigen Unfähigkeit zur schnellen Reorganisation kurzzeitig zu suspendieren und erst wiederher-
zustellen, wenn der Staat es geschafft hatte, das nationale Gesamtkapital vor dem Zugriff des impe-
rialistischen Konkurrenten zu retten und der eigenen Wirtschaft eine verbesserte Ausgangsbasis zu
erkämpfen. Das war auch beim Nazifaschismus nicht anders. Die Nazis wollten, nachdem der „End-
sieg“ erkämpft sein würde, wieder zu einer liberal-kapitalistischen Marktwirtschaft zurückkehren.
Welchen Beleg gibt es dafür? Warum ist sich Ishay Landa so sicher darüber, dass die Nazis den So-
zialismus nicht doch durch die Hintertür hätten einführen können? Tatsächlich gab es ja gar keine
Garantie dafür, dass die NS-Führung, wenn sie einmal die wirtschaftliche Macht in den Händen des
Staates zentralisiert hatte, sie wieder nach dem Krieg an die Kapitalisten aushändigen würde. Hier

33 Spengler 1980 a.a.O., S. 170–171. Zitiert von Landa a.a.O. in seiner englischen Übersetzung auf S. 69.
34 Mill 1905, S. 180–181 zit. n. Landa a.a.O., S. 71, übersetzt von V. S.
35 Hitler zit. n. Domarus a.a.O., S. 75. Zitiert von Landa a.a.O. in seiner englischen Übersetzung auf S. 88.

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bezieht sich Landa auf die Wirtschaftshistoriker Christoph Buchheim und Jonas Scherner, die nach-
wiesen, dass es aus Sicht der deutschen Kapitalistenklasse für ein solches Manöver der NS-Füh-
rung, den Sozialismus durch die Hintertür einzuführen, keinerlei Anhaltspunkte gab. Die Textpassa-
ge ist so niederschmetternd für Propagandist*innen der These, dass der Nationalsozialismus – etwa
in den Worten von Peter Sloterdijk – ein „Quasi-Sozialismus von rechts“ 36 gewesen sei, dass ich
nicht umhin komme, sie hier in voller Länge zu rezitieren:

Die vorangegangene Analyse beweist einmal mehr, dass Unternehmen in der NS-Zeit ihr Han-
deln weiterhin nach ihren Vorstellungen gestalteten und dass die staatlichen Behörden dieses
Verhalten nicht nur tolerierten, sondern sich ihm auch beugten, indem sie ihre Vertragsangebo-
te an die Wünsche der Wirtschaft anpassten. [...] Das Verhalten der Unternehmen in all diesen
Fällen zeigte auch, dass sie eine mögliche Reduzierung des Interventionismus und der staatli-
chen Nachfrage voraussahen, was zum Wiederaufleben einer Marktwirtschaft und zu einer grö-
ßeren ausländischen Konkurrenz führen würde. [...] Folglich betrachtete die Industrie selbst die
Entwicklung des nationalsozialistischen Wirtschaftssystems nicht als Weg in Richtung Zentral-
planung und Sozialismus. Vielmehr wurde die sehr wichtige Rolle des Staates in der Vorkriegs-
und Kriegswirtschaft als kriegsbezogen und damit temporär angesehen. Obwohl es keine Ga-
rantie dafür gab, dass eine deutsche Nachkriegswirtschaft zu einer marktgerechteren Ordnung
zurückkehren würde – tatsächlich konnte in einer Diktatur wie der des NS-Regimes keine sol-
che Garantie wirklich zuverlässig sein –, führte die tägliche Erfahrung von Unternehmern und
Managern im Umgang mit der Bürokratie des NS-Staates sie offensichtlich zu dieser Überzeu-
gung. Daraufhin handelten sie entsprechend und fanden dadurch diese Überzeugung immer wie-
der bestätigt. Denn das Regime tolerierte im Allgemeinen ihr Verhalten, das von der Orientie-
rung auf die langfristige Profitabilität ihrer Unternehmen bestimmt war. 37

Hitler und die NS-Führung hatten die deutsche Kapitalistenklasse anscheinend so restlos davon
überzeugt, dass sie keinerlei Absichten hegten, irgendeine Form von Sozialismus einzuführen, dass
die Eigentümer und Unternehmensführer jede Skepsis verloren. Und Hitler hatte sich ja auch reich-
lich Mühe damit gegeben, diese allerletzten Zweifel über seine pro-kapitalistische Gesinnung aus-
zuräumen: Der, wie auch immer geartete, „linke“ Strasser-Flügel der NSDAP wurde vom rechten
Münchener Flügel aus der Partei herausgedrängt und die „plebejische“ SA durch die SS eliminiert.
Damit wäre der Einwand widerlegt, dass die staatsinterventionistische Kriegswirtschaft des NS eine
Abkehr vom liberalen Kapitalismus gewesen sei.

Hitlers Hochachtung gegenüber dem britischen Empire, wie sie oben bereits im Zitat anklang, in
dem Hitler der englischen Politik eine „wunderbare Vermählung“ von staatlich-politischer und öko-
nomischer Sphäre attestiert, ging so weit, dass er in der Kolonialherrschaft der Briten über Indien
ein Vorbild für seinen „Lebensraum im Osten“ sah: „Was für England Indien war, wird für uns der
Ostraum sein.“38 Die Parallelen hören hier nicht auf; lassen wir etwa Winston Churchill sprechen:

Ich gebe zum Beispiel nicht zu, dass den amerikanischen Rothäuten oder den Schwarzen in
Australien ein großes Unrecht angetan wurde. Ich gebe nicht zu, dass diesen Menschen ein Un -
recht angetan wurde, weil eine stärkere Rasse, eine höherrangige Rasse, eine welterfahrenere
Rasse, um es so auszudrücken, eingetroffen und an ihre Stelle getreten ist. 39

Könnte man von einem solchen Standpunkt aus nicht auch argumentieren, dass den Slawen in Ost-
europa „kein großes Unrecht“ durch die Tatsache widerfahren wäre, wenn die „arische
36 Sloterdijk 2000, S. 21 zit. n. Landa a.a.O., S. 3, übersetzt von V. S.
37 Buchheim; Scherner 2006, S. 405 zit. n. Landa a.a.O., S. 307, übersetzt von V. S. Die Hervorhebungen stammen
von Landa.
38 Hitler zit. n. Picker, Henry (2003): Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier 1941–1942. München: Propyläen
Verlag, S. 93. Zitiert von Landa a.a.O. in seiner englischen Übersetzung auf S. 316.
39 Churchill zit. n. Landa a.a.O., S. 343, übersetzt von V. S.

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Herrenrasse“ „eingetroffen und an ihre Stelle getreten“ wäre? Der Unterschied zwischen den An-
sichten eines britischen Imperialisten und Liberalen wie Churchill zu Imperialismus und Rassen-
krieg und denen von Hitler dürfte allerhöchstens ein marginaler sein.

Die große Bewunderung Hitlers für das britische Empire und die Tatsache, dass er dieses Imperium
gar als Modell für sein Deutschland ansah, widerlegt einen weiteren Mythos liberaler Geschichts-
schreibung, nämlich die These, dass der Faschismus ein anti-westliches Projekt gewesen sei. Nach
Auffassung liberaler Historiker, wie dem oben bereits erwähnten Heinrich August Winkler, sei die
NS-Herrschaft Ausdruck eines deutschen „Sonderwegs“ gewesen in scharfer Abgrenzung zum libe-
ralen und demokratischen Westen. Landa hingegen bürstet die Sonderwegsthese gehörig gegen den
Strich: Mit der Machtergreifung der Nazis schlug Deutschland keinesfalls einen Sonderweges ein,
sondern habe damit an den liberal-kapitalistischen Westen aufgeschlossen. Der wahre Sonderweg
besteht für Landa im sozialpartnerschaftlichen Wohlfahrtsstaat, der wesentlich von der deutschen
Sozialdemokratie geprägt war. Der Nordwesten (Großbritannien und die USA) übernahm nach dem
Zweiten Weltkrieg durch die Ausweitung sozialpolitischer Maßnahmen, etwa in den USA durch
Lyndon B. Johnsons „Great Society“-Programm, ebenfalls den deutschen, sozialdemokratischen
Sonderweg, um schließlich mit Reagan und Thatcher in den 1980er Jahren zur brutalen „Normali-
tät“ des ungezügelten Kapitalismus zurückzukehren.

Warum aber bezeichnete Spengler sich wie viele andere Faschisten als „Sozialist“? Es sei nicht
schwer, so Landa, die Antwort darauf zu erraten, es sei denn, man verfolge einen Ansatz, der
glaubt, dass Faschisten aufrichtige und ehrliche Zeitgenossen waren und man sie folglich wörtlich
nehmen könne (wie es die ideozentrische Schule in der Faschismusforschung tut!). Der Kapitalis-
mus hatte nach dem Ersten Weltkrieg und inmitten der anhaltenden Weltwirtschaftskrise wenig An-
klang in der Bevölkerung. Eine viel bessere Aussicht auf Erfolg bestand für die Anhänger des Kapi-
talismus darin, so zu tun, als wollten sie den Sozialismus umsetzen, um ihn mittels eines ideologi-
schen trojanischen Pferdes zu infiltrieren und den Sozialismus von innen heraus zu besiegen. Was
wäre unter solchen historischen Umständen besser gewesen, als den Kapitalismus zu befürworten,
jedoch ohne die Bürde seines unbeliebten Rufs tragen zu müssen? Das ist die Erklärung für die al-
lermeisten faschistischen Koketterien mit dem „Sozialismus“ und für ihre Abscheu gegen alle Arten
von Liberalismen.

Ishay Landa verfolgt mit seiner eindrucksvollen Publikation vor allem das Ziel, den Faschismus be-
trächtlich näher an die alltägliche Wirklichkeit des neoliberalen Kapitalismus zu rücken, als die ver-
meintlich fernliegende Vergangenheit des Faschismus auf uns wirken mag. Durch die Parallelen,
die Landa zwischen den Phänomenen des zeitgenössischen Neoliberalismus und dem Faschismus
zieht, wird dem Leser die unterschwellige Botschaft vermittelt, dass es wieder geschehen könnte
und dass – mit den Worten von Fritz Bauer gesprochen – „die Zivilisation nur eine sehr dünne De-
cke ist, die sehr schnell abblättert.“ Zuletzt komme ich nicht umhin, zu bemerken, dass ein großer
Teil der sogenannten „antideutschen“ Linken40 vielen liberalen Mythen über den Faschismus, die
Landa in seiner Studie widerlegt, aufgesessen ist. Ich denke da etwa an die These, dass der sozialde-
mokratische, „etatistische“ Kapitalismus deutscher und europäischer Provenienz anfälliger für Fa-

40 Die Antideutschen sind eine in sich widersprüchliche und vielgestaltige Strömung innerhalb der radikalen Linken in
Deutschland und Österreich. Die Strömung entstand im Zuge einer tiefgründigen intellektuellen Auseinandersetzung
mit der historischen Katastrophe des Nazifaschismus, die durch das Entsetzen über die rassistische Pogrom-Welle
nach der deutschen Einheit 1989/90 ausgelöst wurde. Die Antideutschen haben durch ihre Wiederbelebung der Kri-
tischen Theorie und durch ihre Hervorhebung des Antisemitismus und des Völkermords an den Juden Europas als
zentrales Element des deutschen Faschismus ohne Zweifel wertvolle Impulse für eine radikale und gesellschaftskri-
tische Faschismustheorie gegeben. Es kann allerdings auch nicht geleugnet werden, dass sich einige Protagonisten
des antideutschen Spektrums zu Apologeten der herrschenden Ordnung im globalen Norden und Westen gewandelt
haben und unablässig rassistische sowie sexistische Provokationen von sich geben.

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schismus sei als der liberal-„individualistische“ Wild-West-Marktkapitalismus US-amerikanischer
Prägung, auf den sich zu allem Überfluss einige Antideutsche auch noch positiv beziehen. Diese
These bedarf daher einer dringenden Revision.41

41 Eine hervorragende Kritik an der antideutschen Affirmation neoliberaler Marktideologie übte Gerhard Hanloser
(siehe: Hanloser, Gerhard (2005): Antikollektivismus. Der neue Geist „linker“ Sozialstaatskritik. trend onlinezei-
tung. Online verfügbar unter: http://www.trend.infopartisan.net/trd1205/t251205.html, zuletzt geprüft am
21.06.2019).

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