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Wolfgang Giegerich

Animus-
ie

PETER LANG
Frankfurt am M a in •Berlin •Bern •New York •Paris •W ien
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Giegerich, Wolfgang:
Animus-Psychologie / Wolfgang Giegerich. - Frankfurt am
Main ; Berlin ; Bern ; New York ; Paris ; Wien : Lang, 1994
ISBN 3-631-46628-5

ISBN 3-631-46628-5
© Peter Lang GmbH
Europäischer Verlag der Wissenschaften
Frankfurt am Main 1994
Alle Rechte Vorbehalten.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich
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Printed in Germany 12 3 567


Inhalt

Einleitung ............................................................................................................. 7
I. Die Psychologie und der Animus, der Animus und die Psychologie ................ 13

Die Legitimität des Animus.................................................................................. 13


Horizont.............................................................................................................. 23
Die Hauptfrage.............................................................................................. 23
Das Paradigma.............................................................................................. 30
Die Haltung................................................................................................... 34
Das Element.................................................................................................. 34
Vorbegriff................................................................ 37
Die Syzygie....................................................... 37
Negativität......................................................... 43
Einheit von Einheit und Differenz der Gegensätze 46
Die Syzygie als Selbstauslegung der Seele.......... 51
Westliche Geschichte als Geschichte des Animus 53
Hindernisse. Oder: Von der Psychologie, die außer sich ist ................................... 61
Trennungen ................................................................................................... 61
Positivität. Oder: Die »anthropological fallacy« ............................................. 74
Die psychologische Differenz.................................................................. 75
Das dogmatische Vorurteil und
der mittelalterliche Zustand der Psychologie......................................... 80
Bodenlosigkeit und gewachsener Fels ...................................................... 83
Hinaussetzung der Bodenlosigkeit der Seele aus ihr selbst ........................ 88
Hinaussetzung der Männer und Frauen aus der Negativität
der Seele in die Positivität der Beziehungskiste.................................... 92
Die Seele als Schwarzer Kasten oder Goldgrund....................................... 96
Die Seele als Haus der wirklichen W elt.................................................. 103
Das Problem der Projektion und das Beispiel der
Entwicklungspsychologie.................................................................. 106
Externe Interessen........................................................................................ 115
Psychologie »mit Animus«................................................................................. 125
Die Not der Psychologie.............................................................................. 125
Unwirkliche Psychologie............................................................................. 129
Das Andere der Psychologie......................................................................... 135
Die logische Form als Kriterium der Wirklichkeit.............................. 140
Die Selbstaufhebung der Psychologie.........................................^.-...^...p.... T49
Exkurs: Was ist Psychologie?............................................... .y.....X. . . 162
Beisichsein im Anderen: Hölderlin......................................./................... . 170
s'
6 Inhalt

II. Wesen und Erscheinung des Animus (Animus-Phänomenologie) ........... 175

Der Animus als Negation und als das Andere der Seele -
Die dreifache Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen...................... 175
I. Stellung: Verschwinden und Hochzeit mit dem Tode................................. 176
II. Stellung: Der Frauenmörder und das Zurückschrecken in Todesangst ....... 185
III. Stellung: Standfestigkeit angesichts des Todes ........................................ 202
Die »IV. Stellung« der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen ..................... 213

Der Animus als Geist und Liebe ......................................................................... 219


I. Der Geist gegenständlich vorgestellt.......................................................... 219
Gestalt (219); Geistiges (220); Weltgeist (220)
II. Der Geist als A kt..................................................................................... 221
A. Das logische Wesen der Akte.............................................................. 222
1. Position und Negation (222); 2. Scheiden und Zusammenhalten (225);
3. Reflexion und Selbstverhältnis (226)
B. Die »Aggregatzustände« der Akte oder die Medien des Geistes ........... 232
1. Die rituelle Tat (232); 2. Das Dingsymbol (234);
3. Der spontane Affekt oder Impuls, die psychische Emotion (234);
4. Die Verstandeshandlung (234); 5. Geistigkeit (235)
III. Der Geist als Stufe, logischer Charakter des Inderweltseins..................... 235
IV. Der Geist als Liebe ................................................................................ 240

Der Animus als transzendente Funktion und Geschichte...................................... 255


Geschichte: Fortbestimmung zu neuer Stufe............................................ .... 255
Die Syzygie als die Differenz von Coniunctio (Inzest, Initiation)
und Syzygie (transzendente Funktion).................................................... 269
Die transzendente Funktion, die nicht transzendiert. Oder: Das unendliche
Streben nach dem Ziel als die Weigerung, es zu erreichen....................... 297

Der Animus als der dreieinige Gott und die Trinität als
das Gefäß und die Substanz der Geschichte der abendländischen Seele ............... 323
Die Quatemität —eine Lösung der Trinitätsproblematik? .............................. 323
Die Trinität - ein Problem des persönlichen Glaubens oder
der öffentlichen Erkenntnis? .................................................................. 326
Die Trinität als Kristallisationspunkt der Animusthematik............................ 331
Die Gebundenheit durch die Trinität und ihre Verleugnung.
Oder die Neurose des Abendlandes ........................................................ 334
Die Unvollständigkeit der Trinität oder
die (negative) Er-inncrung in ihre Bodenlosigkeit................................... 344

Literatur............................................................................................................ 359
Einleitung

Der Titel Animus-Psychologie ist doppeldeutig. Er kann im Sinn des ge-


nitivus objectivus verstanden werden (psychologische Lehre über den besonde­
ren Gegenstand »Animus«), genausogut aber auch im Sinn des genitivus subjec-
tivus (vom »Animus« inspirierte Psychologie, Psychologie im Geiste des »Ani­
mus« oder auch: Psychologie, die den »Animus« nicht nur als einen ihrer - in
den Menschen oder in den Produkten der Seele wie etwa den Träumen zu beob­
achtenden - Gegenstände betrachtet, sondern ihn auch in ihr eigenes Bewußt­
sein, d.h. in die Konzeption ihrer selbst oder ihren Ansatz hineinläßt). Die Dop­
peldeutigkeit ist beabsichtigt. Die für die Wissenschaften geltende Alternative
von empirischer Forschung über Gegenstände und vor- oder nachgeschalteter
Wissenschaftstheorie geht am Wesen der Psychologie vorbei. Wenn ich dies be­
haupte, dann ist damit auch gesagt, daß ich sehr viel von dem, was bisher unter
dem Titel Psychologie produziert wurde, nicht für eigentliche Psychologie hal­
ten kann. Die Psychologie hat ihren Existenzbeweis noch nicht erbracht. Und
ihn zu erbringen, ist eine ihrer Hauptaufgaben.
Das Gewöhnliche ist, daß die Psychologen sich ihren Gegenständen zu­
wenden. Man treibt empirische Forschung, beobachtet Säuglinge, stellt Experi­
mente mit Versuchspersonen an oder beschreibt und deutet die in der psychothe­
rapeutischen Praxis gewonnenen Erfahrungen. Selbst wenn von Analytikern
Mythen und Märchen oder religiöse, geistesgeschichtliche Phänomene wie z.B.
die Alchemie psychologisch untersucht werden, dann geschieht dies meist von
den Analysanden her und auf sie hin (was die Möglichkeit einschließt, daß der
Forscher auch auf sich selbst als möglichen Analysanden ausgerichtet sein
kann). Die Fragestellung bleibt gegenständlich: was trägt das Gesehene zum
Verständnis psychischer Prozesse und komplexhafter Verstrickungen beim ein­
zelnen bei? Wie läßt sich von ihm her die Entwicklung der Patienten oder um
Selbsterfahrung Bemühten fördern? Das Denken verbleibt ganz in dem, was Ni­
colai Hartmann die »intentio recta«, die direkte Ausrichtung auf die Gegenstän­
de, genannt hat. Das heißt, der Denkduktus bleibt der (durch die systematische
Trennung von Wissenschaft und Wissenschaftstheorie konstituierten) Wissen­
schaft verpflichtet, selbst da, wo das Vorgehen selber so streng wissenschaftlich
gar nicht ist.
Man geht geradezu auf die sich stellenden Probleme zu. Die Frage nach
der Seele und nach dem, was Psychologie sei, wird zumeist einfach geschenkt,
womit dann ein unreflektiertes Verständnis von Seele und Psychologie still­
schweigend vorausgesetzt ist. ln weiten Bereichen der Psychologie wird die Fra­
ge nach der Seele sogar verboten, der Ausdruck »Psychologie« vermieden (ver­
drängt) und die Seele selbst in den berühmten »schwarzen Kasten« (jene »in
dem Geschehen Reiz - Reaktion« zwischengeschaltete und unbekannte, unkenn­
bare »intervenierende Variable«) gesteckt, in den man nicht hereinblicken darf.1
Oder man legt eine bestimmte Definition von Seele und Psychologie zugmnde,
und in dem beruhigenden Gefühl, damit dieser Pflicht Genüge getan zu haben,
d.h. mit dieser Voraussetzung hinter sich oder mit dieser verläßlichen Grundlage
unter sich, glaubt man dann dazu frei zu sein, sich unbesorgt in die »eigentliche«
psychologische Arbeit stürzen zu können, um auf der einmal gewählten Grund­
lage - der dann als längst bekannt gesetzten Seele und dem längst gesicherten
Wesen der Psychologie —einfach nur aufzubauen.
Aber die Psychologie hat keine Grundlage. Sie ist bodenlos.12*Sie baut
nicht auf irgendeinem festen Grand auf. Und sie hat keine Voraussetzungen. Sie
ist absolut voraussetzungslos. Sie hat nicht, wie die Wissenschaften, einfach nur
»Gegenstände«. Denn sie ist als Frage nach der Seele die Frage nach dem, was
allen etwaigen Gegenständen erst ihre Gegenständlichkeit und ihre Bestimmtheit
verleiht. Sofern die Psychologie mit sich selbst ernst macht, ist sie nicht als Wis­
senschaft möglich. Sie ist diejenige »Wissenschaft« in Anführungszeichen, die
das Kunststück vollbringen muß, das Aus- und Einatmen nicht in zwei durch das
Nacheinander getrennten Akten, sondern in ein und demselben Akt zu haben, al­
so im Ausatmen einzuatmen und im Einatmen auszuatmen. Sie muß sich als die
Einheit von intentio recta und intentio obliqua, von ihrer jeweiligen Gegenwart
als einer Mitte aus, gleichzeitig in entgegengesetzte Richtungen bewegen. Für
sie liegt die Unbekanntheit nicht lediglich vor ihr in ihren Objekten, sondern
ebensosehr hinter ihr (oder unter ihr) in ihr selbst, in ihrem eigenen Fragen und
Sehen und dem, was dieses motiviert und prägt. Das ist es, was ihre absolute
Voraussetzungslosigkeit und Bodenlosigkeit ausmacht, welche ebensosehr ihre
Not wie ihre Auszeichnung sind. Sie muß daher so erfahren, reden und denken,
daß sie zugleich auf den Gegenstand vor und auf sich selbst (die Psychologie
und die Frage nach dem Wesen der Seele) zurück strahlt.
Die Wissenschaften haben diese Schwierigkeit nicht. Zwar sind auch sie
letztlich genauso bodenlos. Aber sie haben ihre Bodenlosigkeit, in der auch sie
wie alles in der Welt gründen, als festen Grund aus sich heraus und sich voraus
gesetzt. Dadurch haben sie die Frage nach ihrem Grund als sie selbst nichts An­
gehendes ein für allemal außer sich gebracht, und daher müssen und können sie
jetzt innerhalb ihrer immer nur schnurstracks in eine Richtung blicken. Das er­
möglicht die (weitgehende) Eindeutigkeit, Verläßlichkeit und praktische Ver­
wertbarkeit ihrer Ergebnisse. Es gibt für sie nur eine Front, sie können sich mit
voller Kraft und in ungebremster Zielgerichtetheit auf ihr (als zu erledigendes
Problem oder zu stellenden Feind konzipiertes) Objekt einschießen. Die Psycho­
logie kann auf ihre Objekte nicht in dieser Weise »zielen« (wie mit dem Schieß­
1 Vgl. dazu Wolfgang Giegerich, »Die Alchemie der Geschichte«, Eranos 54-1985, Frankfurt (In­
sel) 1987, S. 325-395, hier S. 353-357.
2 Wolfgang Giegerich, »Die Bodenlosigkeit der Jungschen Psychologie: Über unsere Identität als
Jungianer«, GORGO 12, 1987, S. 43-62.
gewehr). Nicht etwa deswegen, weil sie es mit dem Menschen zu tun hat und es
sich nicht gehört, so eindeutig auf Menschen zu zeigen oder gar eine Waffe zu
richten und abzudrücken. Daß diese Rücksicht einen nicht bremsen muß, haben
die Wissenschaften vom Menschen (am deutlichsten die Medizin und der Beha­
viorismus) vorgeführt. Sondern einzig deswegen, weil die Psychologie sich da­
mit selbst vereitelte. Nur dann sind Aussagen psychologisch, wenn sie in dem,
was sie über ihren Gegenstand vor sich sagen, zugleich die Unendlichkeit ihres
Grundes, der Seele, haben. Nur dann sind Fragen psychologische Fragen, wenn
in den besonderen Gegenständen, denen sie gelten, zugleich nach dem gefragt
ist, was dieses Unbekannte, was Seele, was Psychologie selbst sei. Die unmittel­
bare Frage nach dem Wesen des Gegenstandes vor uns verbietet sich für die
Psychologie ebenso wie die unmittelbare Frage nach dem Wesen der Seele oder
dem Ansatz der Psychologie hinter uns, mithin das Entweder-Oder von direkter
Intention aufs Objekt oder zurückgebogener Intention auf das fragende Bewußt­
sein und seinen Grund.
Unser Gegenstand ist der Animus. Er ist dies nach dem Gesagten aber so,
daß das, was sich uns an ihm als einzelne Tatsachen zeigt, immer zugleich auch
auf das Selbstverständnis und die »Kategorien« der Psychologie, mit denen sie
die Tatsachen erfaßt, zurückstrahlt und umgekehrt das, was über den Ansatz
oder den geistigen Horizont der Psychologie zu sagen ist, den Animus in ein be­
stimmtes Licht rückt.
Dies hat Konsequenzen. Indem ich versuche, mich ohne Voraussetzungen
in mein Thema zu stürzen, können meine Darlegungen nicht die »Allgemeingül­
tigkeit« haben, die wissenschaftliche Aussagen aufgrund ihrer methodischen
Vermeidung der Bodenlosigkeit, aus der auch sie hervorkommen, legitimerwei­
se für sich beanspruchen können. Die »Objektivität«, die einem psychologischen
Text zukommt, ist eher, bei aller Anerkennung der Differenz sei dies gesagt, der
eines Werkes der Kunst ähnlich, wo ebenfalls die Objektivität die Subjektivität
nicht außer sich hat. Anders herum sind die Ausführungen, die in diesem Buch
gemacht werden, nicht rein subjektiv im Sinn von undisziplinierter Willkür. Die
bewußte Gründung in der Bodenlosigkeit der »persönlichen Gleichung« (C.G.
Jung), kraft der alles Gesagte immer auch »Bekenntnischarakter« hat - der Psy­
chologe »verrät« in allem, was er über andere und anderes sagt, immer auch sich
selbst - , erlaubt vielleicht eher, daß die menschliche Wirklichkeit erreicht wird,
als die wissenschaftliche Methodik, weil eine solche Forschung sich von ihrem
Ansatz her nicht vor ihrer Herkunft aus der eigenen menschlichen Wirklichkeit
scheut und diese, anstatt sie zu verleugnen oder herauszufiltem, vielmehr in ihr
eigenes Bewußtsein und so ihre Verantwortung aufnimmt.
Und sie hat auch ihre eigene Strenge und Konsequenz. Diese sind in dem
Maße wirklich, wie es gelingt, das geschaute psychische Phänomen zu begreifen
und in seinen Implikationen und Konsequenzen zuendezudenken. Wenn ich von
dem »geschauten« Phänomen, mithin von einer Schau spreche, dann ist damit
dem Umstand Rechnung getragen, daß im Unterschied zum Objekt der empiri­
schen Beobachtung das psychologische Phänomen immer schon die Einheit von
vor uns gesehenem Objekt und von das Sehen des Objekts leitender Vision ist.
Alle Ansprüche auf Vollständigkeit werden femgehalten. Ähnlich wie im
Kunstwerk keine kompendienhafte Vollständigkeit angestrebt wird, aber doch
das Bild die ganze Wahrheit dessen, was es darstellt, nämlich sein innerstes We­
sen, genauer und mit Hegel: seinen Begriff, zu zeigen versucht, so soll auch hier
nicht unbedingt ein umfassendes, enzyklopädisches Bild alles dessen, was bisher
in der Forschung über den Animus bekannt und in der Literatur zugänglich ge­
macht geworden ist, gegeben werden. Dies soll kein Lehrbuch oder Kompendi­
um über ein einzelnes Thema, den Animus, sein, so wie es offenbar C.A. Meier
mit seinem vierbändigen »Lehrbuch der komplexen Psychologie« in bezug auf
diese Psychologie im ganzen vorschwebte. Daher beansprucht es auch keines­
wegs, autoritativ zu sein. Schon gar nicht abgeschlossen oder (und sei es auch
nur für die Gegenwart) endgültig. Es bezieht die Autorität, die es allenfalls hat,
nicht aus der Summe des aus der Literatur über das Thema Bekannten, sondern
aus der Hingabe an das geschaute Phänomen und dem verbindlichen Eintritt in
den aus seiner Betrachtung folgenden Gedankenprozeß. Verbindlich wird das
Eintreten in den Gedanken dann und nur dann, wenn es sich von folgender Ein­
sicht leiten läßt: Der hier zu denkende Gedanke hat »alles in sich, dessen er be­
darf«. »Dabei hüte man sich vor allem, irgend etwas von außen, das nicht dazu
gehört, hereingelangen zu lassen«.3 Die Notwendigkeiten dieses Prozesses, die
Notwendigkeiten der Darstellung des Begriffs des Animus, bestimmen, was aus
der Literatur aufgegriffen wird und was nicht, was als Anhalt dienen kann und
was nicht. Eine ausgewogene, jedem Aspekt Gerechtigkeit widerfahren lassende
Darstellung der bisherigen Forschungsergebnisse ist nicht angestrebt.
Denn die Absicht ist ja ohnehin nicht, unmittelbar Erkenntnisse und Er­
gebnisse vorzulegen. Viel eher geht es darum, zu reflektieren, wie über den Ani­
mus und die Psychologie gedacht werden müsse; es geht darum, uns überhaupt
erst so etwas wie die Kategorien, Kriterien, Horizonte für die Frage nach dem
Animus zu erarbeiten.
Die Darstellung hat daher auch Abenteuer- oder Expeditionscharakter. Sie
vermeidet das Risiko des Ungerechtseins (im Urteil über andere Positionen) und
des Verfehlens nicht. Es wird nicht ein schon im Rohbau bestehendes Gebäude
weiter ausgebaut. Eher ist es so, daß ich mich der Dynamik des Gedankens des
Animus, wie er sich mir gezeigt hat, möglichst rückhaltlos anvertraue, mich
gleichsam auf ihn wie auf ein Pferd setze, um mich von ihm dahin tragen zu las­
sen, wohin es nun einmal führt. Mag sein, daß das Pferd einfach nur zu seinem
Stall zurückläuft, wenn es nämlich ein gezähmtes Tier ist; es mag aber auch
3 Vgl. C.G. Jung, GW 14/11 § 404. Jung spricht dort diese Worte mit bezug aufs »Phantasiebild«,
nicht auf den Gedanken.
sein, daß es als Wildpferd ins Offene führt. Was es sei, muß sich herausstellen;
und so ist die Frage, wohin es führt, in jedem Fall noch offen.
Unvermeidlich stellt sich in unserer Zeit ganz besonders dem psychologi­
schen Autor die Frage, warum er den nach Tausenden zählenden jährlich er­
scheinenden psychologischen Büchern und Artikeln ein weiteres hinzufugt. Tritt
er mit dem Anspruch auf, etwas zu sagen zu haben, was die Öffentlichkeit unbe­
dingt erfahren müsse? Glaubt er dem psychologiehungrigen und nach Sinnge­
bungen lechzenden Publikum einen »Sinn des Lebens« oder auch nur eine ein­
zelne Einsicht, an der man nicht Vorbeigehen dürfe, zu bieten zu haben? Schon
vor 200 Jahren ist Goethes Faust zu der unhintergehbaren Einsicht gekommen:
»Bilde mir nicht ein, ich könnte was lehren, / Die Menschen zu bessern und zu
bekehren« (371ff.). Heute ist uns oder ist mir wenigstens vollends die Möglich­
keit, allen Ernstes und guten Glaubens solche Absichten zu hegen, genommen.
Wegen des besonderen Gesichtspunktes, der hier in der Einleitung darge­
stellt wurde und der die nachfolgenden Ausführungen leitet, gehe ich zwar da­
von aus, daß meine »Animus-Psychologie« innerhalb des überkommenen psy­
chologischen Denkens durchaus etwas Neues zur Thematik beizutragen hat.
Aber ich kann mir auch nicht verhehlen, daß durch die Flut an oft dem Publi­
kumsbedürfnis nach unmittelbarem Sinnkonsum willfahrenden Büchern auf dem
Psychobuchmarkt und durch die unaufhaltsame Vermarktung psychologischer
Ideen faktisch ein Sumpf entstanden ist, der das Bücherschreiben heute ethisch
bedenklich macht. Der Sumpf zieht alles, was geschrieben wird, gleich welcher
Richtung und welchen Niveaus, unweigerlich in sich hinein. Das Bücherschrei­
ben wird so irgendwie absurd, denn es ruiniert seine eigene Voraussetzung: ein
echtes geistiges Klima. Die Inflation der Publikationen macht zwangsläufig alles
billig, weil sie eine rigoros intellektuelle Atmosphäre verhindert, in der allein
das einzelne Werk gedeihen könnte; statt bewußtzumachen, stehen psychologi­
sche Publikationen heute in der Gefahr, der Betäubung durch Konfirmation in ir­
gendeinem Glauben, in irgendeiner psychologischen (oder gar nicht so psycho­
logischen) Weltanschauung, zu dienen. Der Leser wird angeleitet, sich selbst
und sein Leben nach irgendeiner psychologischen Lehre zu stilisieren, und sucht
auch nach Lehren, in denen er sich einhausen kann. Mehr denn je wird daher das
alchemistische Wort heute ins Recht gesetzt: Rumpite libros, ne corda vestra
rumpantur - Zerreißt die Bücher, damit eure Herzen nicht zerrissen werden.
Es ist nicht konsequent, wenn ich dennoch dieses Buch vorlege. Ich habe
keine Rechtfertigung dafür - außer der Freude an der Sache und am Schreiben.
So kann ich mich denn nur mit einem von Goethe aufgegriffenen Wort eines
persischen Dichters über die eigene Inkonsequenz hmw&gtrösten: »Ins Wasser
wirf deine Kuchen, / Wer weiß, wer sie genießt.«4

4 J.W. v. Goethe, Westöstlicher Divan, Buch der Sprüche. Der Spruch beginnt mit folgenden Zei­
len: »Was wiUst du untersuchen, / Wohin die Milde fließt.« Bei Hafis heißt es: »Tue Gutes und
w irf s in die Fluten hinab.«
I. Teil
Die Psychologie und der Animus,
der Animus und die Psychologie

Die Legitimität des Animus

Wenn ich vom Animus rede, dann spreche ich aus einer bestimmten Tra­
dition heraus, der der Lehre Jungs. Keine andere Schulrichtung der Tiefenpsy­
chologie oder der akademischen Psychologie kennt den Begriff Animus. Und
wenn ich die die Animus-Thematik betreffenden Fragen und Probleme aufrolle,
dann spreche ich in diese Tradition hinein. Meine diesbezüglichen Fragen und
Überlegungen treten nicht in einem Freiraum auf. Ohne daß man das immer
merkt, bewegt sich unser Denken immer schon auf Bahnen, die es nicht selbst
gebahnt hat. Die Tradition, bestimmte aus dieser Tradition hervorgehende me­
thodische wie inhaltliche Grundüberzeugungen, vielleicht sogar so etwas wie ein
»Menschenbild« sind immer schon mit von der Partie, sind gewissermaßen stille
Ko-Autoren, wenn ich mich der Animus-Thematik zuwende. Es ist also gut, sich
das eigens zu vergegenwärtigen. Je mehr es im Bewußtsein bleibt, desto eher
könnte es möglich sein, etwas von den Bahnen, auf denen sich das Denken über
den Animus bewegt hat, selber zu reflektieren und dann auch in der Sache des
Animus ihrerseits weiterzukommen. Ich beginne mit einigen recht äußerlichen
Beobachtungen zu den Gefühlen, Affekten, der Atmosphäre und der Einstellung,
die sich mit dem Animus-Thema sei es unterschwellig, sei es ausgesprochener­
maßen verbinden oder die er innerhalb der Tradition der analytischen Psycholo­
gie mit sich gebracht hat.
Zunächst fällt auf, daß der Animus das Stiefkind der Psychologie Jungs
ist. Jung hat dieses Thema ziemlich vernachlässigt. Es hat ihn offenbar nicht um
seiner selbst willen interessiert. Er hat natürlich nicht versäumt, es anzusprechen
und abzuhandeln - wenn dem so wäre, hätten wir den Begriff Animus gar nicht
- , aber man bekommt den Eindruck, daß er dies mehr nur pflichtschuldigst getan
hat: wenn er, z.B. in einer Schrift über die Beziehungen zwischen dem Ich und
dem Unbewußten, von der Bedeutung der Anima für den Mann sprach, mußte
zwangsläufig auch etwas über die Frau und ihren Animus gesagt werden. Die
Anima hat von Jung eine ganz andere Anteilnahme erhalten. Bei dem, was er
über sie sagt, spürt man, daß es eigenes Leben in sich hat, daß es auch aus Jungs
persönlichem Erleben stammt - vor allem aber, daß Jungs Interesse dem Thema
Anima und der Anima-Welt, den Mythen und Symbolen, ganz natürlich zu­
strömt. Die Passagen über den Animus sind trockener und dürftiger. Sie erschei-
nen eher als Anhängsel an die Ausführungen über die Anima denn als Abhand­
lung über ein gleichgewichtiges und gleichwertiges Thema.
Auch aus der Feder von Jungs Schülern ist nicht viel über das Wenige
hinaus, das Jung selbst gesagt hat, über den Animus beigetragen worden. Eigen­
ständig und nicht uninteressant ist der Aufsatz von Emma Jung, auch bei Esther
Harding und anderen der frühen Schülerinnen Jungs finden sich solide zusam­
menfassende Darstellungen wie auch manche einzelne Ergänzungen zur Phäno­
menologie des Animus. Aber insgesamt verbleibt das Ausgeführte ganz auf der
von Jung vorgegebenen Linie. In dem, was Spätere dann über den Animus zu
sagen hatten, wurde zumeist nur das von C.G. Jung, Emma Jung, Esther Harding
u.a. gezeichnete Bild, in andere Worte gekleidet, wiederholt und vielleicht auch
etwas breitgetreten. Eine gründliche Monographie über den Animus, so wie
James Hillman sie über die Anima geliefert hat,1 wurde bisher nicht vorgelegt.
Immerhin finden sich in seiner Schrift auch einige entscheidende Hinweise für
die Psychologie des Animus, wenn er nämlich die Korrelation der Anima mit
dem Mann und des Animus mit der Frau (also die Gegengeschlechtlichkeit die­
ser Archetypen) kritisch beleuchtet, wenn er das Thema Syzygie anschneidet
und dabei auch auf die Abgrenzung der vom Wortstamm her identischen, aber in
ihrer psychologischen Bedeutung grundlegend differenzierten Wörter Animus
und Anima eingeht und z.B. den Zusammenhang von Animus und »dem Ich«
aufzeigt.
Die Kritik an der Verteilung von Anima und Animus auf die Geschlech­
ter, die Hillman zuerst vorgelegt und im Rahmen einer differenzierten Würdi­
gung der Gesamtproblematik begründet hatte, wurde dann auch besonders von
feministischen Autoren aufgegriffen, wobei das Jungsche Animus-Konzept
ziemlich kontrovers diskutiert wurde. Von vielen Feministinnen wurde das Kon­
zept sogar rundweg abgelehnt, die Existenz von so etwas wie Animus bestritten
und die Theorie als aus einem typisch männlichen Vorurteil stammend ver­
dammt. Diese Infragestellung der Gegengeschlechtlichkeit von Anima und Ani­
mus und die Bestreitung der Validität des Animus-Konzeptes überhaupt sind die
wirklichen Neuerung gegenüber der herkömmlichen Animus-Theorie, wohl die
einzigen.
An dieser Stelle soll uns die Gegengeschlechtlichkeits-Frage noch nicht
beschäftigen. Ich möchte hier noch nicht in eine inhaltliche Diskussion des
Animus-Konzeptes einsteigen. Es geht mir hier zunächst nur um die Herausstel­
lung einiger formaler und affektiver Züge der Animus-Theorie, um ihre Stellung
und ihren Stellenwert innerhalb der gesamten Jungschen Psychologie und um
die Frage nach ihrem theoretischen wie phänomenologischen Grund (Funda­
ment).
1 James Hillman, Anima. An Anatomy o fa Personified Notion, Dallas (Spring Publications) 1985.
Der erste ins Auge springende Zug der Animus-Theorie war der Mangel
an Interesse, das ihr zuteilwurde. Der zweite ist ihre negative Besetzung. Der
Animus hat, allen nachträglichen gegenteiligen Versicherungen zum Trotz, ei­
nen schlechten Ruf. Die Grunderfahrung, die zu dem Animuskonzept führte, ist
der negative Animus. Es ist die Erfahrung von der »animus-besessenen« Frau,
d.h. der Frau, die starre, dogmatische Meinungen hat, die nicht »auf ihrem eige­
nen Mist gewachsen« sind, sondern von irgendwelchen Autoritäten, vom Vater,
von Lehrern, von bewunderten Geistesgrößen »blind« übernommen wurden,
aber eben nur als tote Prinzipien, nicht zusammen mit der lebendigen Geistig­
keit, aus der sie bei jenen erwachsen sind und durch die sie allein ihre Berechti­
gung erhalten. Auch die Anima macht sich in der persönlichen Psychologie des
Mannes zunächst meist negativ bemerkbar, durch Launenhaftigkeit. Dennoch
überwiegt bei ihr die positive Bewertung. Selbst wenn die Gefährlichkeit der
Anima betont wird, so kann dies die wohlwollende Einschätzung ihrer und das
Fasziniertsein von ihr nicht wesentlich beeinträchtigen. Natürlich soll es auch ei­
nen positiven Animus geben. Wenn der anfangs negative Animus nämlich diffe­
renziert und entwickelt ist, wenn aus dem Komplex, von dem das Bewußtsein
der Frau »besessen« war, durch die Integration ins Bewußtsein eine psychische
Funktion geworden ist, dann soll daraus eine echte Geistigkeit, Pneuma, Sinn
entstehen. Aber man gewinnt doch den Eindruck, daß dies mehr nur ein Gerücht
bleibt oder eine Verheißung, deren Erfüllung noch nicht so recht gesichtet und
schon gar nicht glaubwürdig vorgeführt (dokumentiert) wurde.
Jeder Archetyp hat, wie man so sagt, eine positive und eine negative »Sei­
te«. Er kann heilbringend und unheilvoll wirken. Beim Animus jedoch scheint
das Prädikat »negativ« weniger einen von zwei grundsätzlichen Zuständen, in
denen der Animus auftreten kann, zu bezeichnen, als daß es seinen allgemeinen
Ruf beleuchtet. Mag man auch theoretisch noch so gut wissen, daß es auch einen
»positiven Animus« gibt, so verbindet sich affektiv das Wort Animus, allein
ausgesprochen, doch unwillkürlich und stillschweigend mit der Vorstellung vom
»negativen Animus«. Überspitzt gesagt ist es daher fast so, als ob die Formulie­
rung »negativer Animus« ein Pleonasmus, ein »schwarzer Rabe« wäre.
Zusätzlich zu der stiefmütterlichen Behandlung und der negativen Ein­
schätzung, die dem Animus-Konzept zuteilwurden, ist als drittes Merkmal das
Mechanische des Denkens zu nennen, mit dem der Animus der Anima entgegen­
gesetzt wird. Mit einer gewissen Automatik wird, so scheint es, der Animus aus
der Anima einzig durch ihre Verkehrung ins Gegenteil abgeleitet. »Da nun die
Anima ein beim Mann hervortretender Archetypus ist, so steht zu vermuten, daß
bei der Frau ein Äquivalent vorhanden sein muß, denn wie der Mann durch
Weibliches kompensiert ist, so die Frau durch Männliches.«2 Weil die Anima =
2 C.G. Jung, GW 9/II § 27. Jung fügt freilich hinzu: »Mit dieser Überlegung möchte ich allerdings
nicht den Anschein erwecken, als ob diese Kompensationsverhältnisse etwa deduziert worden
wären.«
Eros ist, ist der Animus = Logos. Dem Seelenbild im Mann muß (!) ein umge­
kehrtes Seelenbild in der Frau entsprechen. So wie biologisch Penis und Vagina
exklusiv an die Männer und an die Frauen verteilte Gegenstücke sind, so schei­
nen auch Anima und Animus komplementär auf die Geschlechter verteilt zu
sein. Man muß gewissermaßen nur das Vorzeichen an der Anima ändern, tun ei­
nen Animus aus ihr zu machen. Er hat sein Wesen nur durch den Kontrast zu
seinem Gegenstück, als Stelle in einem vorgegebenen System. Er ist offenbar
nicht eine eigenständige Wirklichkeit, die vorgefunden würde und erst nach und
nach aus ihr selbst heraus in ihrem Sosein erfahren werden müßte, sondern es ist
mehr so, als ob er aus der Anima deduziert werden könnte, da wie bei dem Pla­
tonischen Kugelmenschen ein in der Idee gegebenes Ganzes in seine gegensätz­
lichen Hälften auseinandergelegt und auf die Männer und die Frauen verteilt
worden zu sein scheint.
Viertens fällt auf, daß der Animus nicht nur als Thema der Psychologie
eher stiefmütterlich behandelt wird, sondern daß auch die Jungsche Psychologie
selbst in ihrem Stil des Vorgehens, in dem, worauf sie abhebt, und in ihren Ge­
danken sich nicht besonders von dem Animus inspirieren und leiten läßt. Der
Animus bleibt Bestandstück der Lehre, er wird in Patientinnen angesiedelt und
soll dort, in ihnen, behandelt, differenziert und von ihnen ins Bewußtsein aufge­
nommen werden, während die Psychologie sich in ihrem eigenen Tun und Ver­
halten nicht der Entwicklung ihres »eigenen« Animus annimmt. Es fragt sich, ob
er in den Frauen besser aufgehoben ist, als er es in der Psychologie selber wäre,
und ob es den Frauen überhaupt gelingen kann, den Animus zu »entwickeln«,
wenn die Psychologie, innerhalb von deren Rahmen sich die Entwicklung ab­
spielen soll, selber diese Aufgabe nicht geleistet hat und auch weiterhin von sich
weist.
Und sie weist diese Aufgabe von sich. Der Animus, soviel können wir
auch schon vor Eintritt in die eigentliche Untersuchung sagen, hat nun einmal
etwas mit Logos, d.h. mit Logik und Denken zu tun. Damit tut sich aber die
Jungsche Psychologie schwer. Sie pflegt (neben dem Gefühl) hauptsächlich die
Imagination. Es geht ihr um die Bilder, die Mythen und Märchen, die Phanta­
sien, kurz das Imaginale. Die Bilder haben für sie zwar durchaus Sinn, aber der
Sinn ist primär nicht zu denken, in streng denkender und disziplinierte begriffli­
che Arbeit nicht scheuender Weise anzueignen, sondern er muß teils in den
Bildern selber »angeschaut« und durch das Anschauen »erfahren« oder »erlebt«
werden, teils im realen Leben »praktisch umgesetzt« werden. In der Psychologie
zu denken ist unpopulär, ja sogar verpönt. Das Denken ist als »bloß theoretisch«,
als rein »intellektuell« verschrien. Kein Wunder, daß der Animus seinerseits in
der Psychologie so schlecht wegkommt. Denn er würde u.a. auch die anstren­
gende, entsagungsvolle Arbeit des Denkens von uns fordern. Aber wer will die­
se Arbeit schon auf sich nehmen? Es ist soviel schöner, Bilder anzuschauen
(einfach anzuschauen und mit Gefühl zu erleben), Vorstellungen zu entwickeln
und in der psychologischen Theorie wahmehmend an Vorstellungen und Gefüh­
len entlangzugehen, ohne je in den Prozeß des Denkens eintreten zu müssen.
Häufig hält sich sogar die Tätigkeit des Vorstellungen Entwickelns und Vorstel­
lungen Habens und Vorstellungen durch andere Vorstellungen Begründens
schon für ein Denken. Wenn aber schon der Begriff des Denkens in der Psycho­
logie konfus ist, wie sollte da der Animus, als die archetypische Gestalt, in deren
Zuständigkeit das Denken gehört, angemessen gewürdigt werden können?
Wenn der Animus so kontrovers ist, daß seine Existenz, wenn auch nur
von einigen radikalen Feministinnen, in Bausch und Bogen bestritten werden
kann, ganz abgesehen davon, daß keine andere Schule der Psychologie das
Animus-Konzept zur Kenntnis genommen oder gar übernommen hat, stellt sich
dringend die Frage nach der Legitimität des Animus-Konzeptes. Es macht kei­
nen Sinn, etwas untersuchen zu wollen, wenn es vielleicht nur ein Phantasma,
eine Ausgeburt der Jungschen Phantasie ist, dem in der Realität nichts ent­
spricht. Bevor wir die Frage nach dem Animus ernsthaft aufnehmen, müssen wir
uns Rechenschaft darüber ablegen, daß das Wort Animus überhaupt auf etwas
und nicht auf nichts hinweist. Sonst könnte das ganze Unterfangen ein selbstge­
fälliges, in sich selbst eingesponnenes Spiel sein ohne Bezug zur Wirklichkeit.
Wir müssen als erstes gewissermaßen einen Animus-Beweis, einen Beweis vom
Dasein des Animus, erbringen.
Dabei tun sich für uns folgende Fragen auf. Woher bekommen wir unse­
ren Animus-Begriff? Was ist seine Basis? Woher hatte Jung seinen Begriff vom
Animus? Oder genügt es, sich einfach auf Jung als Autorität zu berufen und, un­
abhängig davon, was ihm das Recht zur Rede vom Animus gegeben haben mag,
kurzerhand von der nun einmal bestehenden Lehre vom Animus aus weiterzuge­
hen? Was ist das Kriterium dafür, bestimmte Erfahrungen und Bilder in Traum
und Mythos als Animus-Manifestationen anzusprechen?
In der Krankheitslehre ist die Frage nach der Wirklichkeit von Krankhei­
ten gestellt worden, die Frage nach der »nosologischen Einheit«. Ist der Animus
in diesem Sinn eine »psychologische Einheit«, eine real existierende Entität, ein
Komplex oder eine Funktion? Das wäre von dem mittelalterlichen Universalien­
streit her gesehen die realistische Variante. Oder ist »Animus« nur nominali-
stisch eine Benennung als handliche Wortmünze für lediglich nach menschlich­
pragmatischen Gesichtspunkten, also mehr oder weniger willkürlich, aus der
Vielfalt der Wirklichkeit herausgeschnittene Aspekte, ein praktisches Mittel zur
Verständigung (ein Etikett), ohne eine eigene Realität zu besitzen, so etwa, wie
das Geld ein praktisches Mittel ist, mit dem es sich sehr viel leichter bezahlen
läßt als mit Eiern, Hühnern, Schweinen, Kühen oder Säcken von Kom, so je­
doch auch, wie das Geld, wenigstens das Papiergeld und das Plastikgeld, keinen
eigenen substantiellen Wert mehr besitzt. In anderen Worten, hat der Animus
ein »esse in re« oder nur ein »esse in intellectu«? Gibt es den Animus in der
Psyche so, wie es das Herz, die Lunge, den Magen im Organismus gibt? Woher
nehmen wir das Recht, aus der Vielfalt der Phänomene manche herauszugreifen
und zu sagen: das ist Animus, und woher das Recht, überhaupt von »dem« Ani­
mus zu sprechen?
Es ist klar, daß uns die Berufung auf die Autorität Jungs nicht genügen
kann. Dann wären wir noch im Mittelalter. Es muß für uns nachvollziehbar sein,
was die Basis des Animus in der Wirklichkeit ist. Es ist üblich, sich auf die em­
pirische oder phänomenologische Erfahrung zu berufen. Diese Erfahrung kann
ihrerseits von zweierlei ausgehen: von dem Verhalten des Organismus bzw. der
Persönlichkeit oder von den von der Psyche hervorgebrachten bildhaften Pro­
dukten. Aus beiden hier nicht separat behandelten Bereichen gibt es einige Phä­
nomene, die dem Animus zugeordnet werden. 1. Als Verhalten von Menschen
findet man das sture Meinungenhaben und -vertreten, was gewöhnlich als die er­
ste (negative) Manifestation des Animus gilt. 2. In Träumen, in der Mythologie,
in Sagen usw. kommen typische Gestalten vor, die Animus-Charakter haben sol­
len, etwa die Gestalt des »Schattengeliebten«. 3. Ebenfalls in der Mythologie
und in der metaphysischen Naturphilosophie kommen Paare vor, von denen der
eine, männliche Partner den Animus, der weibliche die Anima darstellen soll
(Götterpaare, Begriffe wie netkos und philia bei Empedokles, yin und yang in
der chinesischen Philosophie). Aber die Berufung auf die Phänomenologie hilft
uns nicht wirklich weiter. Diese scheint zwar dem Animus-Begriff einen reellen
Anhalt zu geben, aber nicht mehr als einen Anhalt. Denn diese Bilder und Ge­
stalten ebenso wie das animushafte Verhalten treten ja nicht mit einem Schild­
chen am Hals auf, auf dem zu lesen steht: ich bin ein Animus-Phänomen. Son­
dern es sind immer noch wir, die aus der ganzen Fülle der Phänomene diese be­
sonderen herausgreifen und ihnen die Zugehörigkeit zum Animus zuschreiben.
Die Frage, mit welchem Recht wir das tun, bleibt offen.
Es ist überhaupt fragwürdig, direkt mit der »empirischen Erfahrung« be­
ginnen und sie zugrunde legen zu wollen. Das große Problem mit der Empirie
ist, daß man dann seine Voraussetzungen im Rücken hat. Die Mitwirkung der ei­
genen Psyche beim Sehen dessen, was dann draußen vorgefunden wird, bleibt
verborgen. Auch wenn Jung sich immer wieder als Empiriker hingestellt hat, so
war er doch nicht naiv genug, diese Probleme nicht zu durchschauen. Er hat ver­
standen, »... daß insbesondere die Naturwissenschaften bestrebt sind, ihre For­
schungsresultate so darzustellen, als ob sie ohne die Intervention des Menschen
zustande gekommen wären, d.h. die unerläßliche Mitwirkung der Psyche bleibt
unsichtbar.«3 Jung konnte diese Einsicht auch auf eigene Hypothesen, die er für
empirisch erwiesen hielt, anwenden und so etwa von einer Hypothese sprechen,
»die sicherlich aus mir selber stammt —auch wenn ich mir einbilde, ich hätte sie
aus Erfahrung gefunden«.4 Der Begriff Animus stammt nicht aus der Erfahrung.
3 C.G. Jung, GW 10 § 498.
4 C.G. Jung, GW 4 § 778.
Wenn der Animus draußen im empirischen Material vorgefunden wird, stammt
er schon aus dem Sehen, das ihn vorfindet. »Bewiesen« ist damit also gar nichts.
Die Berufung auf die Empirie ist zirkulär, eine Petitio principii. Es ist immer
schon ein Vorbegriff vom Animus nötig, um bestimmte Bilder und Verhaltens­
weisen als Animus-Manifestationen zu identifizieren.
Es gibt einen zweiten Weg der Legitimierung von psychologischen Be­
griffen, die wir anwenden. Dieser Weg ist, soweit ich sehe, nur von Jung be­
schritten worden und ist ein wahrhaft psychologischer Weg. Daß Jung diesen
Weg erkannt und beschritten hat, zeichnet ihn als Psychologen aus. Der Grund­
gedanke hier ist, daß nur solche Begriffe in der psychologischen Theorie benutzt
werden dürfen, die aus dem, was Jung den »consensus omnium« oder »Consen­
sus gentium« nannte, stammen. Die Begriffe müssen aus der Tradition validiert
sein. Jung begründete so den Libido-Begriff mit den archaischen Vorstellungen
von »Energie«, die »überall« in der Welt Vorkommen (Mana, wakanda, churin-
ga, manitu usw.), den Begriff »Archetyp« aus dem Gebrauch dieses Begriffs in
der antiken Philosophie (Platonische Akademie, Augustin usw.), und für seine
typologischen Begriffe Extraversion und Introversion, Denken und Fühlen, griff
er auf eine iri seinem Typen-Buch breit dargelegte Tradition von den Kirchenvä­
tern über die Scholastik und den Abendmahlsstreit von Luther und Zwingli bis
zu Schiller, Nietzsche und noch modernere Autoren zurück.
Es ist wichtig zu eikennen, daß Jung dies nicht nur und nicht in erster Li­
nie in historischer Absicht tat. Diese historischen Ausführungen haben vielmehr
eine systematische Bedeutung: sie dienen der Fundierung (Legitimierung) seiner
Begriffe. Das ist für den an den modernen Wissenschaften Orientierten sicher
befremdlich. Was für einen Aufschluß über die Legitimation von in einer Wis­
senschaft zu benutzenden Begriffen soll die Tatsache geben können, daß analo­
ge Begriffe schon von anderen und anderswo benutzt wurden? Früher wurden ja
gerade auch allerlei abstmse Begriffe benutzt, die unsere Wissenschaft nicht
mehr verwenden kann, weil sie deren Berechtigung gerade widerlegt hat (z.B.
Äther, Sphärenmusik). Und doch hat Jung hier mit diesem Begründungsversuch
wenigstens grundsätzlich ins Schwarze getroffen. Dazu muß man nur im Ge­
dächtnis behalten, daß es hier um psychologische Begriffe geht. Die Begrün­
dung psychologischer Begriffe kann nur unter Berufung auf die Phänomenolo­
gie der Seele selbst geschehen. Genau dies liegt dem Jungschen Versuch, die
Begriffe in einer Tradition zu gründen, zugrunde. In der Tradition hat sich im­
mer schon die Seele selber artikuliert. Werden die Begriffe der Psychologie aus
den Selbstmanifestationen der Seele gewonnen, dann werden sie offenbar nicht
von außen und aus einer willkürlichen Position heraus an sie herangetragen. Die
Psychologie bleibt bei ihrem Leisten. Sie reflektiert ihren Gegenstand imma­
nent. Sie läßt sich ihre Kategorien, mit denen sie das Leben der Seele betrachten
will, von dem schon sichtbaren und bewährten Leben der Seele selber geben. Da
jedoch schlechterdings alle Begriffe aus der Psyche kommen, ist es noch wichtig
zu sehen, ob die Begriffe dem Alter und der weltweiten Verbreitung nach eine
gewisse Universalität haben, weil sonst irgendeine extravagante, ausgefallene
Seelenmanifestation zur Kategorie für das Seelenleben überhaupt erhoben wer­
den könnte. Daher das Kriterium des »consensus gentium«.
Nun ist freilich der »Animus« durch die Tradition kaum bewährt. »Der«
Animus kommt nicht vor. Das ist eine Jungsche Schöpfung unter geschicktem
Rückgriff auf die lateinischen Wörter anima und animus, lateinische Wörter der
normalen Sprache wohlgemerkt und meist keineswegs Begriffe von terminologi­
scher Bedeutung, wie das bei Jung der Fall ist. Der Glücksfall, daß im Lateini­
schen das Wort für Seele in zwei lautlich und grammatisch nur geringfügig dif­
ferenzierten Formen, nämlich einmal männlich und einmal weiblich, vorkam,
kam Jung offenbar bestens zupaß, um seine Theorie von einer Anima des Man­
nes und einem Animus der Frau mit ihrer komplementären Gegensätzlichkeit
ausdrücken zu können. Aber diese Theorie ist gerade nicht durch die Tradition
und den consensus gentium abgedeckt. Vor wenigen Jahren hat Thomas Moore
eine detaillierte Untersuchung über das Wort Animus im Lateinischen vorge­
legt.5 Er glaubte offenbar, aus dem Sprachgebrauch des Wortes animus im La­
teinischen den Begriff des Animus, wie er in der Jungschen Psychologie termi­
nologisch gebraucht wird, besser begründen und differenzieren zu können. Er
stieß dabei sogar auf einen »Animus mundi«, womit das Gegenstück zu der
schon lange besonders aus Jungs alchemistischen Studien bekannten »Anima
mundi« gefunden und dem Animus über seine Rolle in der persönlichen Psyche
hinaus auch eine kosmologische Dimension vindiziert wäre.
Aber diese Untersuchung vermag nicht zu überzeugen. Das große Pro­
blem, inwieweit der Sprachgebrauch des Wortes animus der gewöhnlichen latei­
nischen Sprache für »den« Animus im terminologischen Sinn in Anspruch ge­
nommen werden darf, bleibt ungeklärt. Besteht, wenn der Psychologe von Ani­
ma und Animus redet, eine echte Identität oder wengistens Kontinuität mit den
lateinischen Begriffen, die über die Wortgleichheit wesentlich hinausginge?
Ebenso bleibt die Frage ungeklärt, inwieweit in bestimmten lateinischen Sätzen
die Wortwahl animus statt anima zufällig sein könnte (vielleicht hätte genauso­
gut anima da stehen können) und inwieweit sie signifikant ist. Im Deutschen
kann man etwas in seinem »Herzen«, in seinem »Gemüt«, in seiner »Brust«, in
seinem »Busen«, in seinem »Sinn«, in seinem »Geist« oder in seinem »Bewußt­
sein« erwägen. Jedes dieser Wörter hat sicher verschiedene Assoziationen und
ist mit verschiedenen Gefühlstönen verbunden. Aber in bestimmten Sätzen
könnte das eine oder das andere Wort mit mehr oder weniger gleichem Recht
und in gleicher Bedeutung Verwendung finden. Vor allem müßte nicht unbe­
5 Thomas Moore, »Animus mundi: or the Bull at the Center of the World«, Spring 1987, S. 116-
131.
dingt auf eine je andere Sache, sozusagen ein je anderes Organ der Seele, hinge­
wiesen sein. Ich vermute, daß genauso auch lat. anima und animus in vielen Sät­
zen ohne allzugroßen Bedeutungsverlust austauschbar wären, trotz aller Bedeu­
tungsnuancen, und vor allem, daß nicht wirklich immer zwei verschiedene psy­
chologische »Organe« oder »Funktionen« damit gemeint sind. Ganz deutlich
scheint mir dies bei dem aus Ficino entnommenen Animus mundi, der bei die­
sem offensichtlich nicht, wie Moore annimmt, parallel zur Anima mundi auf ei­
nen zweiten Faktor in der Welt hinweist, sondern nur ein anderer, austauschba­
rer Name für Anima mundi ist. Denn Ficino benutzt oft beide Sprachformen in
ein und demselben Absatz für ein und denselben Sachverhalt ohne ersichtliche
Bedeutungsdifferenzierung, wie übrigens auch die einfachen Formen anima und
animus. Anima und animus können also durchaus Synonyma im strengen Sinn
sein, nur mit einer kleinen formalen Differenz, so wie im 18. Jahrhundert noch
im selben Sinn »das Erkenntnis« und »die Erkenntnis« gesagt werden konnte.
Es scheint keine externe (philologische, biologische, empirische) Recht­
fertigung für den Begriff Animus zu geben. Wir können ihn nicht wirklich an et­
was festmachen und so der eigenen Verantwortung für diesen Begriff enthoben
sein. Der Begriff ist nicht durch irgendwelche außerpsychologischen Begrün­
dungen (Autoritäten, Empirie, Phänomenologie, Tradition) zu sichern. Auch der
Rekurs auf den Geschlechtergegensatz und die Gene ist uns nicht möglich,
schon gar nicht die Berufung auf irgendeine Art von Eingebung oder Erleuch­
tung. Wir werden vielmehr auf uns selbst, auf unser eigenes Denken zurückge­
worfen. Wir müssen selber Farbe bekennen, gleichsam unseren Kopf hinhalten.
Der Animus bei Jung ist eine Intuition, eine Schau, ein Gedanke. Seine Recht­
fertigung steht oder fällt damit, daß wir vermögen, den Animus zu denken. Die
Frage muß sein: läßt sich aus dem, was in Jungs Intuition war, ein Begriff ent­
wickeln, aus dem sich das, was zur Phänomenologie und zum Charakter des
Animus gehören soll, als innerlich zusammenhängend entwickeln läßt und mit
dem gleichzeitig auch etwas begriffen wird, etwas vom Leben der Seele?
Wir müssen schon den Jungschen Gedanken des Animus, so wie er sich
unmittelbar darstellt, in seiner Unsicherheit und Grundlosigkeit aufgreifen und
das so Aufgegriffene konsequent (rigoros) entfalten. Wir müssen schon den feh­
lenden empirischen Beweis, das Fehlen jeglicher externen Rechtfertigung ertra­
gen. Genau in dieser Ungewißheit ob der Berechtigung des Animus-Konzeptes
gilt es auszuharren, bei seiner Bodenlosigkeit zu verweilen, anstatt wegen der
Unbehaglichkeit ob einer solchen Ungewißheit Reißaus zu nehmen und sie kur­
zerhand z.B. durch eine Entscheidung gegen das ganze Konzept zu beenden. Es
hilft uns nicht zu fragen: gibt es den Animus, ist das, was Jung gelehrt hat rich­
tig oder falsch? Von außen können wir keine Hilfe bekommen. Wir können da­
her auch nicht vorneweg bei irgendwelchen von außen herangebrachten Argu­
menten pro oder contra unsere Zuflucht nehmen. So leicht macht es der Animus
uns nicht. Wir müssen vielmehr Jungs Gedanken im eigenen Denken nachvoll­
ziehen, ihn erweitern, vertiefen, radikalisieren, weil sich erst in unserem Vollzie­
hen des Gedankens heraussteilen kann, ob ihm »Wahrheit« und »Autorität« in­
newohnt oder nicht - und ob unserem Denken Kraft innewohnt oder nicht. Es
braucht den Mut zum Begriff, zum eigenen Denken. Wie anders soll der Ani­
mus, der doch Logos sein soll, sein Dasein beweisen als einzig durch den Voll­
zug der Anstrengung des Begriffs durch uns selber? Nur Gleiches kann Gleiches
erkennen.
Der Animus ist nur als eigene Sinn-Erfahrung zu begründen. Ich selbst
muß den Sinn von »Animus« und den Sinn oder die Stimmigkeit des Unter­
schieds von Anima und Animus begriffen haben und aus der Mitte dieses Be­
griffs alles Weitere sei es entwickeln oder beurteilen —und dann dafür gerade­
stehen. Der Animus ist nur als ein (denkerischer) Ansatz (was von »Setzen«
kommt). Ich darf gerade nicht von vornherein auf Bilder ausweichen. Denn der
Geist ist niemals etwas wie ein vorhandenes, anschaubares Ding. Er ist kein sei­
endes Phänomen. Seiende Phänomene und Bilder können immer nur Anhalt für
die Konstatierung des Animus sein, nicht mehr. Und erst aus dem schon erfahre­
nen und begriffenen Sinn von »Animus« heraus können die wirklich für ihn rele­
vanten mythologischen Bilder ausgewählt werden und können diese zum Anhalt
der Erörterung des Animus werden.
Daher scheint mir auch der Rückgriff Jungs auf die Abälardsche Lösung
des Universalienproblems durch die Idee des esse in anima6 problematisch zu
sein. Viel hängt davon ob, wie man sie versteht. Legt man das naheliegende
Verständnis dieser Formel zugrunde, daß die Universalien ein Sein in der Seele
in demselben Sinn von Sein hätten, wie er in »esse in intellectu« oder »esse in
re« vorliegt, dann könnte und müßte man im Anschauen verharren, man könnte
sozusagen ruhig zuwarten, ob und wie der Animus »sich zeigt«, z.B. als Bild im
Traum. Er wäre (imaginaler) Gegenstand, draußen, uns gegenüber. Bei der Ani­
ma mag dies angemessen sein: anima habet »esse« in anima, die Seele hat ein
Sein in ihr selbst, in der Seele, und sie ist immer auch der Archetyp der Ontolo-
gisierung. Aber der Geist? »Ist« er?

6 Anima Wer = Seele im allgemeinen Sinn, nicht spezifisch: die Anima.


Horizont

Es hat sich als unsere Aufgabe gezeigt, uns in die in Jungs Werk und der
Jungschen Psychologie überhaupt enthaltene Intuition von dem Animus zu ver­
senken, um einen Begriff von ihm zu entwickeln. Es hat keinen Sinn, dies gera­
dezu zu tun. Denn dann bliebe ungeklärt, innerhalb von welchem Horizont unser
Bemühen, den Animus auf den Begriff zu bringen, sich vollzieht. Je nach dem,
wie weit oder eng und was genau der Horizont des Denkens ist, innerhalb von
dem die Frage nach dem Animus gestellt wird, kann das, was sich als Ergebnis
ergibt, oberflächlicher oder tiefer sein. Es gilt, den geistigen Horizont zu finden,
der dem Denken Jungs angemessen ist. Es wäre ungereimt, einen Terminus aus
Jungs Psychologie herauszugreifen und ihn dann innerhalb eines ganz anderen
geistigen Horizontes näher bestimmen zu wollen. Die einzelnen Konzepte einer
Psychologie sind immer die Einheit ihrer Definition im engeren Sinn und des
ganzen Geistes, der in der jeweiligen Psychologie weht. Auf diesen Geist
kommt es vielleicht noch sehr viel mehr an als auf die nähere inhaltliche Be­
stimmung der einzelnen Terme.
Nach vier Richtungen werde ich den für alles folgende zugmnde gelegten
Horizont erörtern. Ich frage erstens nach dem treibenden Anliegen hinter der
Jungschen Psychologie oder nach Jungs »Hauptfrage«. Was war, über all die
einzelnen Forschungen und Erkenntnisse hinaus, das, was Jung eigentlich wis­
sen und vielleicht auch erreichen wollte? Dies ist die Frage nach dem Motiv, der
Bewegkraft, des psychologischen Forschens. 2. Ich frage nach dem inhaltlichen
Referenzpunkt, »Modell« oder »Paradigma«, das bei der Betrachtung einzelner
Phänomene ausgesprochen oder unausgesprochen das Denken leitet. 3. Ich frage
nach der persönlichen »Haltung«, die eingenommen sein muß, um psychologi­
sche Themen angemessen in den Blick zu bekommen. Die 4. Frage betrifft
schon spezifisch den Animus. Es ist die Frage nach dem »Element«, innerhalb
von dem sich der Animus allein sinnvoll erörtern läßt.
Die Hauptfrage. Hier möchte ich etwas weiter ausholen. Vor zweitau­
send Jahren wurde die Frage aufgeworfen: »Was hülfe es dem Menschen, so er
die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« (Mt. 16,
26; vgl. Mk. 8, 36f.) In diesem Satz werden zwei Möglichkeiten gegeneinander
abgewogen. In die eine Waagschale wird die ganze Welt gelegt, in die andere
die psyche, das Leben bzw. die Seele des Menschen. Die Frage ist: Kann ein
noch so großer Nutzen, der Weltgewinn, einen bestimmten Schaden, den See­
lenverlust, aufwiegen? In der Konsequenz dieses gegeneinander Aufwiegens
liegt dann auch, daß Welt und Selbst als solche in eine schroffe Alternative ge­
bracht werden. Entweder kann man die Welt gewinnen und muß dafür zwangs­
läufig mit der Beschädigung der Seele bezahlen oder umgekehrt: so klingt der
Satz für ein unbefangenes Hören. Man kann nur eines haben, die Welt oder das
Heil der menschlichen Seele.
ln dieser Alternative scheinen wir auch heute zu leben. Der bei weitem
größere Teil der Gesellschaft in unseren Breiten dürfte dem Ziel des »Weltge­
winns« hingegeben und von einer wirklichen Sorge um das Heil der Seele weit­
gehend unberührt sein. In der großen Welt, der Welt der Wirtschaft und der In­
dustrie, aber auch der sonstigen Öffentlichkeit zählen Wachstum, Gewinn, be­
ruflicher Aufstieg, Lebensstandard und natürlich zum Ausgleich auch noch das,
was man heute »Kultur« nennt. Die Psyche und die Psychologie sind hier mehr
oder weniger unbekannt und uninteressant. Es darf nicht vergessen werden, daß
es sich bei der Tiefenpsychologie um eine vergleichsweise belanglose Rander­
scheinung des heutigen gesellschaftlichen Lebens handelt.
Dem steht freilich die andere Tatsache gegenüber, daß es bei einem klei­
neren Teil der Gesellschaft in den letzten Jahren einen regelrechten Psychologie-
Boom gegeben hat. In unterschiedlichem Ausmaß scheint hier das oben zitierte
Bibelwort, freilich in einem neuen, nicht mehr unbedingt auf Christus bezoge­
nen, sondern säkularen Sinn, befolgt zu werden. Mehr und mehr Menschen be­
mühen sich in verschiedensten analytischen, meditativen und sonstigen
Gruppen- oder Einzelverfahren wie auch durch Lektüre aus dem enorm an­
schwellenden Psycho-Büchermarkt um Selbstfindung, um Spontaneität und Kre­
ativität, um den Zugang zur eigenen Tiefe. Man wird sich bewußt, daß man
Schaden an der eigenen Seele genommen hat, sei es im Sinn regelrechter psy­
chischer Stömngen oder nur im Sinn einer fühlbaren Leere des Lebens. Die Auf­
merksamkeit wendet sich nach innen, oft in entschiedener Abkehr von äußeren,
materiellen Werten. Das muß hier nicht weiter ausgeführt werden.
Die Frage »Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne
und nähme doch Schaden an seiner Seele?« klingt heute freilich anders als vor
zweitausend Jahren, denn sie spricht in eine völlig veränderte Situation hinein.
Damals besaß die Welt eine selbstverständliche Unerschütterlichkeit. Die Ab­
wendung von der Welt und den äußeren Schätzen, die der Rost und die Motten
fressen, tat der Welt keinen Abbruch. Sie ruhte, so mußte es scheinen, für ewig
in sich selbst. Ob der Mensch sich ihr zuwandte und ihr gar verfiel oder ob er
sich von ihr abkehrte, ließ die Welt unberührt. Es machte nur für ihn persönlich
einen Unterschied. Damals war das Bibelwort offenbar eine gültige Antwort auf
die wirkliche Situation der Zeit, die Situation des spätantiken Menschen. Unser
heutiges Problem wird aber von der Abwägung, die in dem Bibelwort vorge­
nommen wird, nicht erreicht. Wir können uns nicht mehr auf die Unvergänglich­
keit der Welt verlassen. Wir müssen um ihren Bestand, den Bestand der Wälder,
Atmosphäre, Gewässer, Pflanzen- und Tierarten, ja, angesichts der modernen
Vernichtungswaffen, um den Bestand des ganzen Planeten Erde bangen. Wenn
man wirklich in unsere heutige Situation hineinsprechen wollte, müßte da die
Frage nicht eher genau umgekehrt lauten: »Was hülfe es dem Menschen, wenn
er seine Seele rettete, die Welt draußen aber kaputtginge?«? Und ferner, wenn
man bedenkt, daß in der Dritten Welt - und auch sie ist unsere Welt - Millionen
als Flüchtlinge oder Ärmste der Armen um das nackte Dasein einen nur zu oft
vergeblichen Kampf kämpfen, will dann nicht die Suche nach dem eigenen See­
lenheil als der unverschämte Luxus einer Überflußgesellschaft erscheinen? Rette
ich wirklich meine Seele, wenn ich sie nur dadurch retten kann, daß ich mich in
mein eigenes Inneres versenke und damit automatisch wegsehe von der Not, die
draußen in der Welt herrscht? Eine Seele, die ihr Heil nur im eigenen Inneren
hätte, hätte sich als gefühl- und seelenlos entlarvt. Sie müßte vor Scham zerge­
hen. Die Not der Welt draußen zeigt sich so zugleich als die ureigenste Not der
Seele.
So hatte auch Jung als Psychologe, der wie kein anderer den Weg nach in­
nen wies, dennoch immer schon den Bezug des Menschen zur Welt im Auge.
Wenn er sagt: »Die Seele ist leider kein Hormon, sondern eine Welt von sozusa­
gen kosmischen Ausmaßen«1, so könnte diese Welt noch als rein innerliche
Welt genommen werden. Aber schon das Wort »kosmisch« deutet darüber hin­
aus. Und die Not der Psychologie, d.h. hier die Not, der sich zu stellen die Psy­
chologie die Aufgabe hat, ist zwar die Neurose, die sich zunächst einmal als per­
sönliche Stömngen im einzelnen Menschen bemerkbar macht. Aber auch diese
individuelle Neurose sieht Jung letztlich in einem welthaften Kontext. Sie ist
nicht nur drinnen, sondern auch draußen, etwa in der großen weltpolitischen Si­
tuation. So stellt er sich und uns in seiner Schrift »Gegenwart und Zukunft« aus
dem Jahr 1957 die Frage: »Was will jener Riß, der durch den >eisemen Vor-
hang< verdeutlicht wird und der die Menschheit in zwei Hälften teilt, bedeu­
ten?«12 Das politische Problem des Kalten Krieges erscheint als Not der abend­
ländischen Seele. Und Jung weiß, daß die Neurose der einzelnen Patienten nicht
ausschließlich, aber doch in hohem Maße relativ zu unserer Zeit, zu dem moder­
nen Weltzustand ist. Er schreibt so etwa3:
Unter den sogenannten neurotischen Patienten unserer Tage gibt es nicht wenige, die
in früheren Zeiten nicht neurotisch, d.h. entzweit mit sich selber, geworden wären.
Hätten sie in einer Zeit und in einem Milieu gelebt, wo der Mensch noch durch den
Mythus mit der Ahnenwelt und dadurch mit der erlebten und nicht bloß von außen
gesehenen Natur verbunden war, so wäre ihnen das Uneinswerden mit sich selber er­
spart geblieben. Es handelt sich um Menschen, die den Verlust des Mythus nicht er­
tragen und weder den W eg zu einer nur äußeren Welt, d.h. zum Weltbild der Natur­
wissenschaft, finden, noch sich am intellektuellen Phantasiespiel mit Wörtern, das
mit Weisheit nicht das Geringste zu tun hat, sättigen können.

1 C.G. Jung, GW 10 § 366.


2 C.G. Jung, GW 10 § 488.
3 C.G. Jung, Erinnerungen, S. 149.
Und bekanntlich galt auch Jungs Hauptanliegen deijenigen Neurose, die aus
dem Verlust des Mythos hervorgeht. Von ihr, nicht von den rein persönlichen
Störungen ist hier die Rede.
Die Neurose in diesem weiten Sinn ist nach diesem Zitat ein Zustand der
Entzweiung, die Entzweiung von sich selbst. Aber eben gerade nicht nur von
sich selbst, sondern, wie das Zitat ebenfalls klarmacht, zugleich auch das Abge­
schnittensein von der Ahnenwelt und damit von der Tradition und Geschichte
des Volkes und drittens die Entfremdung von der Welt um uns herum, der Natur
oder dem Kosmos. Zu ergänzen wäre hier noch viertens die Entzweiung von der
menschlichen Gemeinschaft. Diese vier Hinsichten, nach denen uns die Neurose
entfremdet: vom Selbst, von der geschichtlichen Tradition, von der Gemein­
schaft und der Natur, sind freilich zusammen nur eine einzige Entzweiung, die
Jung in unserem Zitat auf den Verlust des Mythos zurückführt. Das Stichwort
Mythos meint hier nicht einzelne oder das Gesamt aller mythologischen Erzäh­
lungen. Es verweist auf einen ganzen Weltzustand, der durch ein völlig anderes,
eben das mythische Inderweltsein charakterisiert war. Um einen alten Ausdruck
aufzugreifen, den auch Jung einige Seiten vor der zitierten Stelle verwendet4: es
geht um den Zustand der »Sympathie aller Dinge«, um den sympathetischen
Weltzustand, in dem der Mensch eben mit sich, mit seiner Welt, seinen Ahnen
und seiner Gesellschaft zusammengeschlossen war. Er lebte (wenn auch nicht
unbedingt empirisch, so doch logisch) wirklich geborgen in der Welt.
Wenn die Aufgabe der Psychologie die Heilung der Neurose ist, dann
muß sie letztlich auch der Versuch sein, in unserer neuen Situation so etwas wie
einen sympathetischen Weltzustand wiederherzustellen. Man kann sagen, daß
dies das eine große zentrale Motiv ist, das die ganze Jungsche Psychologie her­
vorgetrieben hat. Es ging Jung nie nur um die ausschließlich privaten Nöte des
einzelnen; Jung wollte sich nicht mit dem Kranken »in kleine und kleinste Sei-
tengäßchen von zweifelhafter Reputation« »verirren«5, wenn es auch nicht um­
gekehrt ausschließlich um die großen Probleme unseres geschichtlichen Inder­
weltseins ging. Es war vielmehr so, daß Jung auch im Konsultationszimmer
nicht den »großen Zusammenhang«, den »Zusammenhang mit dem Ganzen der
Seele«6, letztlich also das Problem des sympathetischen Weltzustands, aus den
Augen verlieren wollte. Psychotherapie ist für Jung nicht die Behandlung der
Neurose, die a priori schon als ausschließlich persönliche Krankheit des Indivi­
duums angesetzt wäre. Psychotherapie ist vielmehr die »Behandlung« der Neu­
rose als der Versuch, die psychologische Gmndfrage unserer Zeit, die Grundfra­
ge, die sich mit der Problematik der Modernität stellt, zu beantworten: »wie ist
die tiefe Entzweiung in Mensch und Welt aufzufassen, zu beantworten und even-

4 C.G. Jung, Erinnerungen, S. 143.


5 C.G. Jung, GW 10 § 367.
6 Ebd.
tuell aufzuheben?«78»Wo sind die Antworten auf die seelischen Nöte und Be­
drängnisse einer neuen Zeit? Wo überhaupt das Wissen um die seelische Proble­
matik, welche die Entwicklung des modernen Bewußtseins aufgeworfen hat?
Nie zuvor stand solche Hybris des Wollens und Könnens der >ewigen< Wahrheit
herausfordernder gegenüber.«8 »Die letzten und höchsten Fragen der Psychothe­
rapie sind keine private Angelegenheit, sondern eine Verantwortlichkeit vor
höchster Instanz,« die Psychotherapie vollzieht sich auf einem Gebiet, in wel­
ches sich »das Schwergewicht der Menschheitsproblematik verlagert hat«.9
Die Idee von Psychotherapie, die sich von der »Grundfrage« her ergibt, ist
eine, die auch dann, wenn sie im Konsultationszimmer geschieht, doch nicht in
diesem ihren psychologischen oder logischen Ort hat. Denn das Konsultations­
zimmer würde das Erleben ja gerade in ein »Duodezformat« (Jung) hineinzwin­
gen, weil es dieses vorgibt und wie ein Filter alles Erfahrene nur insoweit es ihm
gemäß ist, durchließe. Die hier anvisierte Idee von Psychotherapie steht aller­
dings in krassem Gegensatz zu der Realität der Psychotherapie, wie sie heute
fast überall, auch in der Jungschen Richtung, praktiziert wird. Die geistige Frei­
heit und Weite, im Konsultationszimmer nicht im Konsultationszimmer zu sein,
in der Arbeit mit dem einzelnen Patienten nicht auf diesen selbst fixiert zu sein,
sondern den »großen Zusammenhang« im Blick zu behalten, ist meist nicht ge­
geben, ja es besteht wohl auch meist nicht einmal ahnungsweise ein Begriff da­
von, daß dies sein könnte und sollte. Als Kind lernt man, nicht mit Fingern auf
Menschen zu zeigen. Die real existierende Psychotherapie versucht jedoch den
Patienten ganz unmittelbar zu erreichen, gleichsam sich direkt auf ihn einzu­
schießen. Es fehlt ihr an psychologischem Takt und an dem, was Jung einmal
die »feinere Intelligenz«101oder auch die »intelligence du cceur«11 genannt hat.
Sie begreift nicht, daß das, was direkt erreicht wird und direkt erreicht werden
kann, immer nur der abstrakte Einzelne, der schon positivierte, auf ein Faktum
reduzierte Mensch ist: der kasuistische »Fall«, wie man mit Recht sagt; der, der
unter eine abstrakte Allgemeinheit, z.B. unter eine medizinisch-psychodynami­
sche Diagnose »fällt«,12 während der konkrete, wirkliche Einzelne als »indivi-
duum ineffabile« nur erreicht wird, wenn man, statt ihn unmittelbar anzupeilen,
sich ihm nur ihn circumambulierend, umsprechend, andeutend nähert und so ge­
rade dem »ineffabile« in der ausgesparten und umsprochenen Mitte Raum ein­
räumt, anwesend zu werden.
Es ist sicher aus diesem Grunde, daß Jung so gut wie keine Falldarstellun­
gen gegeben hat (oder nur solche, in denen er im Sprechen über diesen Men­
7 C.G. Jung, GW 16 § 534. Meine Hervorhebung.
8 C.G. Jung, GW 16 § 396.
9 C.G. Jung, GW 16 § 449.
10 Vgl. C. G. Jung, Briefe Bd. III, S. 148 (an L. Kling, 14.1.58).
11 C.G. Jung, GW 8 § 543.
12 Siehe James Hillman, Healing Fiction, Barrytown (Station Hill) 1983. Dt. Ders., Die Heilung er­
finden, Zürich (Schweizer Spiegel Verlag, Raben-Reihe) 1986.
sehen da zugleich nicht unmittelbar über ihn, sondern über seine »Geschichte«,
nämlich seinen Mythos, spricht). Jung handelt von den Visionen des Zosimos,
vom Buch Hiob, von der Psychologie der Alchemie, dem Mysterium coniunctio-
nis, den Symbolen der Wandlung, dem Wandlungssymbol in der Messe usw.
usf. Aber er plaudert nicht aus dem Nähkästchen des Psychotherapeuten. Er sagt
einmal: »Es will ihm [dem Psychologen] nämlich nicht gelingen, die Seele in
die Enge des Laboratoriums oder des ärztlichen Sprechzimmers zu bannen... «,13
und ein andermal heißt es (ganz speziell auf die Besprechung des Bildmaterials
aus innerer Erfahrung einer Frau bezogen): »Ich vermeide persönliche Einzel­
heiten mit Absicht, weil sie mir so wenig bedeuten. Wir sind alle gebannt von
diesen äußeren Umständen, und sie lenken unseren Sinn von der wahren Sache
ab, nämlich daß wir selbst innerlich gespalten sind.«1314 Diese Nichtkonzentration
auf die faktischen Details der Biographie hat nichts mit einer Vermeidung der
therapeutischen Aufgabe zu tun, sondern mit dem Wissen dämm, daß man mit
dem gebannten Blick auf die äußeren Lebensumstände an dem therapeutisch Ei­
gentlichen vorübergeht, indem man es in die Enge des Banalen zwängt.
Dem von dem faktischen Patienten aösehenden ///«sehen auf ihn ent­
spricht Jungs mangelndes Interesse an therapeutischer Technik. In jeder Tech­
nik, auch der Technik der psychologischen Behandlung, wird der Mensch eo ip­
so als positiviertes Objekt der Manipulation angesetzt. Da psychologische Mani­
pulation äußerst subtil sein kann, ist es leicht, dies zu übersehen oder auch ab­
sichtlich vor sich zu verbergen, zumal ja Analytiker in ihrer bewußten Gesin­
nung meist mit ehrlicher Überzeugung das Manpulative von sich weisen kön­
nen. Aber sobald es ein Interesse an Behandlungstechnik und die Frage nach
»Therapieplan«, »Therapieziel« und »anzuwendenden Techniken« gibt, wider­
spricht das Tatsächliche der Gesinnung. Von Fr.Th. Vischer (Auch Einer)
stammt der Satz: das Moralische versteht sich immer von selbst. Auch in der
Analyse versteht sich das therapeutisch-praktische Verhalten immer von selbst.
»Behandlungstechnik« ist kein Thema. Sondern sie ist ein psychologisches Ar­
mutszeugnis. Sie ist das Zeichen darauf, daß man sich nicht hat in der Weite des
logischen Lebens der Seele halten können, sondern in die Positivität des pragma­
tischen Hantierens abgestürzt ist und sich selbst in die Enge des Konsultations­
zimmers gesperrt hat.
Behandlungstechnik darf nicht direkt zum Thema gemacht werden, weil
das Werk dann nämlich in »Behandlung« (des schon positivierten Menschen
und seiner ebenso positivierten Psyche) ausartet. Wann und warum versteht das
therapeutische Verhalten sich immer von selbst? Wenn und weil es nur Hann
psychotherapeutisches Verhalten ist, wenn es sich mit absichtlicher Unabsicht­
lichkeit aus der lebendigen Einstellung des Therapeuten als dieses wirklichen
13 C.G. Jung, »Psychologie und Dichtung«, Vorrede, GW 15, S. 98.
14 C.G. Jung, The Visions Seminars, 2 Bde., Zürich, (Spring) 1976, Bd. 1, S. 2 (meine Übersetzung).
Menschen zu diesem wirklichen leidenden Menschen in seiner konkreten Situa­
tion und aus dem rückhaltlosen Einschwingen in den durch ihn konstellierten ar­
chetypischen Seelenhintergrund - bei gleichzeitiger wacher Bewußtheit - von
selbst ergibt. Die beste Ausbildung in psychologischer Technik ist daher die in
der Kunst der Indirektheit einerseits und in der Fähigkeit, Seelenhintergründe in
einiger Tiefe und mit Feingefühl erfassen zu können, andererseits.
Es wäre falsch zu sagen: »man braucht den Bezug z.B. des Traums zur
praktischen Lebensrealität des Patienten nicht auszubuchstabieren, weil er sich
von selbst versteht.« Es muß heißen: »Man darf diesen Bezug nicht ausbuchsta­
bieren, weil und damit er sich von selbst verstehen kann.« Das Ausbuchstabie-
renwollen, d.h. die direkte Beantwortung der Frage nach dem realen Leben, ist
Abwehr, weil es das Se/frerverstehenwollen bedeutet, wo es doch darum ginge,
den Traum sich von selbst verstehen zu lassen. Dies würde freilich zugleich be­
deuten: sich und die eigene Lebensrealität ganz von selbst von ihm umgreifen,
begreifen und durchwirken zu lassen. Das Selberverstehenwollen ist der Modus,
in dem sich das Bewußtsein, dem Leben der Seele entgegen, fest im natürlichen
Bewußtsein und der Metaphysik des gesunden Menschenverstandes ansiedelt
und sich an der positiven Realität festklammert, um ja dem Begriffenwerden und
so der Wandlung zu entgehen.
Darüber hinaus ist das Verlangen, daß der Traum einen berühren oder ei­
nem etwas sagen solle, ein Zeichen von dem, was man in der Kunst Banausen­
tum nennen könnte. Es entspricht dem Glauben von Theaterleuten heute, einer
klassischen Tragödie durch ein zeitgenössisches Bühnenbild, Anspielungen auf
Vietnam- oder Golfkrieg und Kostümierung der Schauspieler in Bluejeans »Ak­
tualität« verleihen und sie »relevant« machen zu können (und sollen). Die (häu­
fig von Patienten zu hörende) Frage: »Was bedeutet dieser Traum fü r mich?« er­
weist den Fragenden als Angehörigen des Medienzeitalters. Das Ich will sich an­
gesprochen fühlen, die Ware Traum soll »an den Mann gebracht«, durch (nun
allerdings therapeutisches) Marketing und (therapeutische) Werbemaschen an­
sprechend verpackt und aufbereitet werden (Stichwort »Präsentation«). Nur
wenn der Traum die persönliche »Aktualität« einer Live-Sendung bekommt und
der Patient sich hautnah dabei und beteiligt fühlt (»Bei ARD und ZDF sitzen Sie
in der ersten Reihe«), ist er bereit, »einzuschalten«. Wo nicht, ist seine Ein-
schaltquote gleich null: »Der Traum berührt mich nicht«, »Er sagt mir nichts«.
Das Verlangen, den Bezug des Traums zur eigenen Aktualität herzustel­
len, ist das Eingeständnis, daß der Traum längst als sinnlose Ware und Konsum­
gut angesetzt ist, die nur von dem subjektiven Nutzen oder Hochgefühl her al­
lenfalls noch einen sekundären Sinn bekommen kann. Es ist der Wille zur Aus­
beutung des Traums für eigene Zwecke und zur systematischen Stillstellung sei­
nes eigenen, uns vielleicht nicht zugänglichen Sinnes. Dieser hat nur eine Chan­
ce, wenn der Traum sich von selbst verstehen und von sich oder von der Seele
reden darf, weil er nur dann mit dem, was er zu sagen hat, überhaupt zu Wort
kommen darf. Dafür braucht es jedoch die »leidenschaftslose Stille der nur den­
kenden Erkenntnis« fern von allem »existentialistischen« (auf die eigene Exi­
stenz und Eigentlichkeit versessenen) Pathos und Begehren. Es braucht die lie­
bende Hingabe an die kalt fortschreitende Notwendigkeit der Sache.
Was hier ausgeführt wurde, bedeutet ganz praktisch für die folgenden
Erörterungen der Animus-Psychologie, daß sie nicht von der Konsultationszim­
mererfahrung ausgehen (obwohl sie auch nicht beziehungslos neben ihr stehen
oder an ihr Vorbeigehen). Ich werde nicht aus dem Nähkästchen des Analytikers
plaudern: keine Fälle, keine Träume bringen und das zu Besprechende nicht un­
ter dem Blickwinkel des Individuums betrachten.
Das Paradigma. Mit den vorangegangenen Ausführungen gelangen wir
schon in den Bereich des mehr inhaltlichen Rahmens, auf den sich die psycholo­
gische Forschung in der Psychologie Jungs bezieht. Jung gewinnt sein Paradig­
ma - vielleicht könnten wir auch sagen: seine Schau der psychotherapeutischen
Aufgabe - nicht aus der Konsultationszimmererfahrung. Sein Paradigma ist
nicht der Familienroman, nicht die Beziehungskiste, nicht die Triebwünsche,
nicht der Gegensatz Patriarchat und Matriarchat, nicht die Selbstentwicklung
(der seine Existenz, sein Fortkommen, seine Zufriedenheit sichernde und stei­
gernde Mensch). Jung holt sein Paradigma aus der Weite der Mythologie, Reli­
gionsgeschichte, Kulturgeschichte der ganzen Welt. Das daraus resultierende an­
dere Psychologie-Verständnis veranschaulichen wir uns an etwas scheinbar weit
Abliegendem, an Jungs Ausführung über literarische Werke. Jung erklärt er­
staunlicherweise, daß der psychologische Roman, der eine der Konsultations­
zimmerperspektive nicht ganz unähnliche Betrachtungsweise an den Tag legt,
für den Psychologen gerade nicht besonders ergiebig ist. Das widerspricht dem,
was der Alltagsverstand unter »Psychologie« versteht. Für ihn müßte selbstver­
ständlich vor aller anderen Romanliteratur der psychologische Roman als psy­
chologisch relevant gelten. Der psychologische Roman bewegt sich nach Jung
nur innerhalb der Grenzen des psychologisch (d.h. hier: des subjektiv, personali-
stisch) Versteh- und Erfaßbaren, er handelt vom »Urbekannten«. Man verbleibt
damit »im Gebiete durchschaubarer Psychologie«. »Nichts ist dunkel geblieben,
denn alles erklärt sich überzeugend aus sich selber.« Daher hat er nicht mehr als
eine vordergründige Bedeutung für die Psychologie; was einem hier begegnet,
ist Psychologie, aber nur uneigentliche. So weit der psychologisch uninteressan­
te »psychologische Roman«.
Man sieht schon an der widersprüchlichen Zusammenstellung (Attribuie-
rung) von »psychologisch uninteressant« mit »psychologischer Roman« in ei­
nem solchen Satz, daß für Jung Psychologie nicht einfach schon Psychologie ist.
Jung stößt sich und die Psychologie von einem gewöhnlichen Begriff von Psy­
chologie zu einem anderen ab. Er hat ein höheres, strengeres Verständnis von
Psychologie —und nicht etwa nur in methodischer Hinsicht (Wissenschaftlich­
keit), sondern in bezug darauf, was der wahre Gegenstand der Psychologie ist
und wodurch er konstituiert ist. Aber die so errichtete Differenz (ich nenne sie
die »psychologische Differenz«) verbleibt innerhalb des durch sie erweiterten,
gedehnten Psychologiebegriffs. Das Psychologische im gewöhnlichen Sinn wird
nicht aus dem neuen Psychologiebegriff gänzlich ausgeschieden. Es bleibt Mo­
ment in ihm, und zwar notwendiges, weil der tiefere (oder höhere) Begriff auf es
angewiesen bleibt, insofern er nur durch das Sich-Abstoßen von ihm zu sich
selbst findet.
Wir kommen nun zu dem anderen, eigentlichen Begriff von Psychologie,
wie er sich aus Jungs Ausführungen über die Dichtung ergibt. Jung sagt: »Um­
gekehrt gewährt der nichtpsychologische Roman der psychologischen Durch­
leuchtung im allgemeinen bessere Möglichkeiten...« Das ist wieder die schroffe
Zusammenstellung widersprüchlicher Begriffe, in welcher sich die Eröffnung
der psychologischen Differenz ereignet. Noch ergiebiger als der nichtpsycholo­
gische Roman ist (im Unterschied zur psychologischen Art des Kunstschaffens)
die visionäre Art des Kunstschaffens, wobei Jung an Werke wie z.B. Goethes
Faust II denkt. »Hier kehrt sich alles um: Der Stoff oder das Erlebnis, das der
Gestaltung zum Inhalt wird, ist nichts Bekanntes, es ist von fremdartiger Wesen­
heit, von hintergründiger Natur, wie aus Abgründen vormenschlicher Zeitläufte
oder wie aus Licht- und Dunkelwelten übermenschlicher Natur stammend, ein
Urerlebnis... Der Wert und die Wucht liegen auf der Ungeheuerlichkeit des Er­
lebnisses, das fremd und kalt oder bedeutend und erhaben aus zeitlosen Tiefen
auftaucht...« Es geht um »Urvision«.15 Psychologie ist Tie/enpsychologie, und
ihre Tiefe bezieht sich nicht auf tiefere »Schichten« im psychologischen »Appa­
rat« oder in der Persönlichkeit, sondern auf Erfahrungen, die aus einer »nicht­
menschlichen Welt« in das menschliche Leben hineinragen. Das eigentliche In­
teresse der Psychologie gilt also dem archetypischen Seelenhintergrund als der
wahren Ebene des Menschenlebens, nicht jenem Vordergründigen des Erlebens,
Strebens, Begehrens und Meinens, das selbst dann, wenn es sich um unbewußte
Regungen oder Inhalte handelt, doch immer das »Urbekannte«, »Menschlich-
Allzumenschliche« und als solches gerade nicht das Wahre, sondern etwas sich
einer methodischen Reduktion auf die praktisch-technische Ebene Verdanken­
des ist. Mit der Rede von »Seelenhintergrund« ist zugleich gesagt, daß die Psy­
chologie von Jung auf einer ganz anderen Ebene der Reflexion angesiedelt wird.
Um diese Ebene von der Ebene des gängigen Psychologieverständnisses abzu­
heben, können wir in bildhaft-gegenständlicher Rede sagen:
Die Position Jungs bestimmt sich dadurch, daß eine Differenz aufge­
spannt ist zwischen dem von jeher und weltweit Bekannten, dem Tagglauben,
dem, was in den Grenzen der wohlgeordneten, handlichen Bewußtseinswelt
bleibt, in welcher »Naturgesetze gelten wie menschliche Gesetze in einem ge­
ordneten Staat«, wir könnten auch sagen: dem Menschlich-Allzumenschlichen
15 Referiert und zitiert nach C.G. Jung, GW 15 § 136-143.
einerseits und andererseits einer fremdartigen Nachtwelt. »Sollten wir uns im
Besitze und in der Beherrschung unserer Seele bloß wähnen, während das, was
die Wissenschaft >Psyche< nennt und als ein in der Schädelkapsel eingeschlosse­
nes Fragezeichen versteht, am Ende ein offenes Tor sein, durch welches Unbe­
kanntes und unheimlich Wirkendes aus der Nichtmenschenwelt bisweilen her­
eintritt und auf nächtlichen Schwingen den Menschen der Menschlichkeit ent
rückt und zu überpersönlicher Frone und Bestimmung führt?«1617
Was ich hier referiert und zitiert habe, bezieht sich auf die psychologische
Betrachtung der Dichtung. Es zeigt aber auch in vorzüglicher Weise den Hori­
zont, in dem Jung überhaupt an psychologische Fragen herangeht. Was Jung
hier nur kurz andeutet, verweist deutlich auf »Urerfahrungen«, die wir mit den
Erlebnissen in der schamanischen Initiation, der Himmelsreise der Seele, oder
auch bei den initiatischen Erlebnissen in rituellen Kulturen in Verbindung brin­
gen können. Es geht Jung dementsprechend sogar beim viel späteren Christen­
tum und der Weiterentwicklung von dessen Mythos darum, dort anzuknüpfen,
»wo der Hl. Geist sich an die Apostel austeilte und sie zu Gottessöhnen machte,
und nicht nur sie, sondern alle anderen, die durch sie und nach ihnen die filiatio,
die Gotteskindschaft, empfingen und damit auch der Gewißheit teilhaftig wur­
den, daß sie nicht nur autochthone, erdentsprossene animalia waren, sondern
als zweimal Geborene in der Gottheit selber wurzelten.«11 »Im Ritual sind (die
Menschen) der Gottheit nahe; sie sind sogar göttlich. Man denke nur an den
Priester in der katholischen Kirche, der in der Gottheit ist. er trägt sich selber
zum Opfer auf den Altar; er bietet sich selber als Opfer dar.«18
Ich glaube, letztlich ist mit den Kategorien, in denen jene Urerlebnisse be­
schrieben werden, und mit den entsprechenden mythisch-rituellen Bezügen das
inhaltliche Paradigma benannt, von dem her - in seiner Distanz oder Nähe zu
ihm - alles Psychische zu verstehen, zu beurteilen und in seinem Rang zu mes­
sen ist: die Psychologie findet dort statt, wo die Differenz von dem Menschen
als Erdensohn und dem Menschen als Gottessohn (und das heißt: als selber
göttlich19) aufgespannt ist. Diese Differenz ist ihr Rahmen. Es ist eine Differenz,
die als gegenständlich formulierbare zugleich auch eine Differenz der Refle­
xionsebenen ist.
Besonders wichtig ist mir hier, daß Jung diese visionären Erlebnisse nicht
psychologistisch entwertet. Er sperrt sie gerade nicht in die Schädelkapsel oder
sonst ein Inneres im Subjekt ein: sie sind für ihn nicht bloß subjektive Vorstel­
16 C.G. Jung, GW 15 § 148.
17 C.G. Jung, Erinnerungen, S. 335, meine Hervorhebungen.
18 C.G. Jung, GW 18/1 § 627, meine Hervorhebungen.
19 Ich wähle »Gottessohn« statt »Gotteskind« nicht um die Frauen diskriminatorisch auszugrenzen,
sondern einzig wegen der brisanten Nähe von »Gottessohn« zu den sonst nur Jesus als dem Chri­
stus vorbehaltenen Prädikat »Sohn Gottes«. Vielleicht könnten wir auch den Ausdruck »Gott­
mensch« verwenden. »Kind Gottes« weckt dagegen ganz andere, harmlose Vorstellungen.
lungen. Er spricht in obigem Zitat, wenn auch vorsichtig und in Frageform, von
einem offenen Tor, durch welches Fremdes aus der Nichtmenschenwelt herein­
tritt. In der visionären Erfahrung begegnet etwas dem Menschen; etwas, das er
nicht selbst ist, das vielmehr »außer ihm« ist, kommt auf ihn zu. Jung raubt den
initiatischen und anderen visionären Erlebnissen also nicht den logischen Status
der Erkenntnis von Wirklichkeit, den Status von Wahrheit. In der gleichen
Schrift spricht er von der psychischen Realität [ich würde sagen: psychische
Wirklichkeit], »welche mindestens die gleiche Würde hat wie die physische«.20
»Gleiche Würde« besagt nichts Geringeres als: sie hat in bezug auf Wahrheit
und Wirklichkeit den gleichen logischen, mit einem altertümlichen Ausdruck
könnte man auch sagen: den gleichen metaphysischen Rang. Die Nichtmen­
schenwelt ist keine »bloße Metapher«, ihr wird gewissermaßen »ontologische«
Dignität zugemessen.21 Sie ist Welt, und nicht bloße Vorstellung im mensch­
lichen Bewußtsein oder Unbewußten, deren Bezug auf eine Wirklichkeit und de­
ren Objektivität fraglich oder sogar von vornherein ausgeschlossen wäre. Nur
weil im Rahmen der gegenständlichen Darstellungsweise dieser Nichtmenschen­
welt »ontologische« Dignität zugemessen wird, kann es Jung auch in methodi­
scher Hinsicht mit dem Einnehmen des ganz anderen Reflexionsniveaus ernst
sein. (Dagegen bleibt die Frage offen, wie die hier verwendeten mythologischen
Formulierungen wie »Nichtmenschenwelt« oder »etwas, das außer ihm ist« lo­
gisch begriffen werden müssen. Es versteht sich, daß sie nicht buchstäblich ge­
nommen und doch auch wieder nicht als »bloße Metapher« entschärft werden
dürfen. Was es mit diesem Widerspruch auf sich hat, ist hier noch nicht geklärt.)
Zum inhaltlichen Paradigma gehört also die transgressive Offenheit der
Seele nach »draußen«, die dadurch mögliche Begegnung mit einer anderen »ex-
tramundanen«, »metaphysischen«, »transzendenten« Dimension. Die Seele
bleibt nicht in sich eingeschlossen. Sie erfährt, daß es noch etwas außer ihr gibt,
aber diese Erfahrung zu machen, das ist es, was gerade zum Begriff der Seele
gehört. Die Seele ist in ihr selbst der Bezug zu dieser »metaphysischen« Dimen­
sion. Solche Rede ist schockierend und peinlich, zumal der Begriff »metaphy­
sisch« hier noch nicht logisch ausgewiesen ist, sondern einer mythologischen
Redeweise verhaftet bleibt und so den Verdacht des bloß Weltanschaulichen
weckt. Trotz der Gefahr dieses (mißverstehenden, wenn auch in Ermangelung
20 C.G. Jung, GW 15 § 148.
21 Ich setze den Ausdruck »ontologisch« mit vollem Bewußtsein, obwohl ich ihm nur eine sehr vor­
läufige Berechtigung zuerkenne. Er ist nötig, solange man sich gerade noch im Alltagsverständnis
der Psychologie als Lehre von subjektiven Vorstellung und Gefühlen aufhält und von ihm her das
Befremdliche einer »psychischen Wirklichkeit«, die die gleiche Würde hat wie die physische,
denkt. Richtiger wäre der Ausdruck »logisch«, der aber an dieser Stelle und für das genannte Be­
wußtsein nicht ausreicht, weil das Logische von diesem als »bloß« logisch verstanden wird. Erst
wenn die Zumutung, die in »ontologische Dignität« liegt, angenommen ist, kann man die Katego­
rie des Ontologischen überführen in die des Logischen, freilich so, daß damit jene Zumutung
nicht rückgängig gemacht wird.
logischer Ausweisung verständlichen) Verdachts muß ich noch anstößiger wer­
den, das hier zu Denkende noch rigoroser und unverblümter aussprechen, frei­
lich auch ohne es hier logisch auszuweisen:
Ohne Gott keine wahre Psychologie; ohne Bezug auf Gott läßt sich nicht
über den wirklichen Menschen, die Welt als Wirklichkeit (im Unterschied zu ihr
als positiver Außenwelt), nicht über Bewußtsein und Seele reden. (Ich setze da­
bei Gott bewußt nicht in Anführungszeichen und spreche auch nicht von Arche­
typen und nicht von »den Göttern«. Die Rede von den Archetypen ist schon
harmlose wissenschaftliche Rede; und die »polytheistische« Rede von den Göt­
tern geht uns leicht von den Lippen. Sie ist immer schon bloßes Bildungsgut.
Weil es ihr von vornherein gar nicht wirklich ernst ist, ist mit ihr auch nicht
wirklich etwas gesagt.)
Die Haltung. Wo muß ich mich selber hinstellen, um einen Standpunkt
einnehmen zu können, der das Prädikat psychologisch verdient? Was muß mit
oder an mir als Psychologen - methodisch - geschehen, damit ich wirklich eine
psychologische Betrachtungsweise haben kann? Ich muß rückhaltlos in die
Grundmetapher der Psychologie, »Seele«, hineingefallen sein oder mich hinein­
fallen lassen; »Seele« in ihrer Undefiniertheit und Unbekanntheit.
Sonderbarerweise hat sich die sich als Wissenschaft gerierende Psycholo­
gie zumeist bemüht, dieser Abgründigkeit der »Seele« zu entgehen, entweder
durch Ausweichen auf einen anderen Begriff wie »Verhalten des Organismus«
oder durch eine der psychologischen Theorie vorangeschickte Definition von
»Seele«. Es leuchtet ein, daß so gerade nicht Psychologie in einem irgendwie
wissenschaftlich fundierten Sinn entstehen kann. Denn die Definition der
Grundmetapher einer »Wissenschaft« darf nicht vorweggenommen werden, weil
diese Definition nichts anderes als der ganze Gang der wissenschaftlichen Erfor­
schung dieser Grundmetapher selbst ist. Meint man die Unbekanntheit der
Grundmetapher auf die eine oder andere Weise vermeiden zu müssen, dann gibt
man zu erkennen, daß Psychologie gar nicht sein soll.
Ich deute dies an dieser Stelle nur an. Die folgenden Kapitel werden sich
mit dem, was »Seele« ist, und mit dem, was es heißen würde, in die Unbekannt­
heit dieser Grundmetapher der Psychologie zu fallen, noch näher befassen.
Das Element. Was sieht man als das ureigenste Element des Animus an?
Woraufhin ist er zu deuten? Wir haben betont, daß der Animus für seine Be­
gründung auf unser eigenes Denken, den Vollzug des Begreifens seines Sinnes,
angewiesen ist und man nicht vorschnell auf mythologische Bilder zurückfallen
darf. Emma Jung hat Ansätze zu einer Differenzierung der Rollen von Anima
und Animus gemacht, die ja beide nach der herrschenden Theorie die gleiche
Funktion der Vermittlung zum Unbewußten haben sollen. Emma Jung führt aus,
daß beide diese Funktion nicht im gleichen Sinn und in gleicher Weise haben.
Die Anima macht die unbewußten Inhalte bewußt, sichtbar, stellt sie als Bild vor
uns hin. Der Animus demgegenüber hat die Aufgabe des Erkennens, Verstehens,
der Erfassung des Sinns. »Erst nachdem diese Inhalte ins Bewußtsein getreten
sind, ja vielleicht schon gestaltet wurden [das wäre die Animatätigkeit], soll der
Animus seine Wirkung entfalten.«22
Hier ist etwas Entscheidendes begriffen, das nur noch eigens herausgeho­
ben und radikalisiert werden muß. Das Element, innerhalb von dem die Erörte­
rung des Animus erfolgen muß, kann nicht die Imagination sein. Nicht das Bil­
derreich der Seele, nicht der Mythos, nicht die Welt der schönen Gestalten
(schon gar nicht das Erleben und Verhalten der Personen). Sondern sein Element
ist der kalte Begriff, das abstrakte »Wesen«, das Denken, die Philosophie - die
Logik. Nun doch bildlich gesprochen: sein Element ist die Feme, Leere und Ei­
seskälte des Weltraums - im Unterschied zur blutvollen menschlichen Realität
und zur Üppigkeit und Farbenpracht der irdischen Natur. Der Animus zieht, wie
wir noch näher hören werden, von der Realität ab, vom Leben weg. Er verweist
in die Welt des Todes, in »ghostlands«. Dem müssen der Stil und die Atmospäre
unserer Beschäftigung mit dem Animus von vornherein entsprechen. Ich bestrei­
te also Th. Moores Ansicht, daß »unless animus is given a voice and a face, he
remains abstract...«23 Dies ist eine abstrakte Idee von Konkretheit. Der Animus
wird nur dadurch konkret, daß ihm gestattet wird, sich in der Abstraktheit, die
sein Wesen ist, zu zeigen.
James Hillman, als er seine Anima-Arbeit vorlegte, mußte sich noch quasi
entschuldigen, daß er die Phänomenologie des Begriffs Anima darstellen wollte.
So antiintellektuell war das Klima in der Analytischen Psychologie damals. Sein
Buch hat sich inzwischen einen Platz in der Jungschen Psychologie erobert.
Dennoch hat sich an der Begriffsfeindschaft wohl nicht viel geändert. Aber im
Fall des Animus liegen die Dinge von vornherein anders als bei dem Versuch,
die Phänomenologie des Begriffs der Anima zu beschreiben. Hier bedarf es kei­
ner Entschuldigung, denn das Denken ist vom Thema Animus selbst her legiti­
miert, nein, gefordert. Da der Animus Logos, Geist, Pneuma ist, versteht es sich
von selbst, daß auch der primäre Zugang zu ihm über den Begriff gehen muß.

22 Emma Jung, Animus und Anima, Zürich und Stuttgart (Rascher) 1967, S. 36.
23 Th. Moore, »Animus mundi: or the Bull at the Center of the World«, Spring 1987, hier S. 126.
In diesem Kapitel geht es dämm, einen Einstieg in das Thema Animus zu
finden. Insofern als der Animus nicht einfach als Phänomen gegeben ist, so daß
man einfach auf ihn deuten und ihn betrachten, analysieren könnte, geht es bei
der Bemühung um die Gewinnung eines Standpunktes und die Findung eines
Anfangs in der Tat um so etwas wie eine Petitio principii. Man könnte auch sa­
gen: es geht, wie ähnlich schon im vorangegangenen Kapitel über denjenigen
Horizont, in dem in diesem Buch die Animus-Thematik betrachtet werden soll,
um eine Offenlegung der Voraussetzungen, von denen die weitere Untersuchung
ausgehen soll und deren nähere Entfaltung sie sein soll.
Die Syzygie. Wir wissen schon, daß man, wenn man in der Psychologie
weiterkommen oder überhaupt einmal in sie hineinkommen will, sich in die
Grandmetapher der Psychologie, die »Seele«, hineinfallen lassen muß. Aber was
heißt das, wie »macht« man das? In erster Linie heißt es, die Unbekanntheit der
»Seele« einzusehen und festzuhalten. Wir haben keine Antwort auf die Frage,
was »Seele« ist. Wir beginnen mit dem nicht Wissen und gründen uns in ihm.
Die Antwort auf die Frage nach dem, was »Seele« ist, könnte nur die Psycholo­
gie als ganze und das heißt als der wesenhaft unabgeschlossene, unabschließbare
Prozeß der psychologischen Erfahrung und »Forschung« sein. Wir setzen also
nicht eine wenn auch noch so allgemein gehaltene Definition an den Anfang.
Damit wäre schon ein fester Rahmen gesteckt und eine Voraus-setzung ge­
macht, so daß das voraus Gesetzte den Ausgangspunkt und den stabilen Grand
für alles weitere Fragen und Forschen abgäbe. Statt uns »fallen« zu lassen, stün­
den wir schon auf einem Boden und in einem abgesteckten Feld. Wir wären als
Ich hinzugetreten und hätten in einem eigenmächtigen Vorgriff der Unsicherheit
ein Ende gesetzt. Am Anfang wissen wir aber noch nichts von der Seele. Wir
wissen nicht, ob sie identisch mit oder etwas anderes ist als »Geist«, »Bewußt­
sein«, »Natur«, »Welt«, »Leben«, »Person«, »Individuum« usw. Wir wissen
auch nichts über ihre etwaigen Teile, Komponenten, Aspekte, nichts von Ich,
Selbst, Schatten, Überich, von Komplexen und Trieben. »Seele« ist zunächst ein
bloßes Wort. Ein Wort, nichts weiter. Wir wissen nicht einmal, ob es auf Etwas
hinweist oder auf nichts.
Wir lassen uns in die Grandmetapher »Seele« fallen, wenn wir die »See­
le« ein bloßes Wort sein lassen und darin ausharren. Soll dieses Wort eine be­
stimmte Bedeutung erhalten, dann nicht durch unsere eigenmächtige Festlegung,
sondern dadurch, daß wir uns die Bedeutung(en) von dem Wort, von der Spra­
che selbst geben lassen. Sprache heißt hier nicht schon positivierte Sprache im
Sinn der Sprachwissenschaft, insbesondere nicht »Wörterbuch«. Sprache meint
die geschichtliche Wirklichkeit des Sprechens. In der Geschichte des Sprechens
von der Seele hat sich »Seele« schon selber ausgelegt (oder begonnen sich aus-
zulegen, denn der Selbstauslegungsprozeß der »Seele« geht unabschließbar wei­
ter).
Eine der frühesten Selbstauslegungen der »Seele« ist ihre Indifferenz von
Seele und Geist und von Leben und Tod. Seele ist Lebensprinzip, aber auch To­
tenseele, Gespenst, Geist. Sie ist der den bloßen Körper belebende Atem, aber
auch der kalte Hauch, der aus der Unterwelt und dem Geisterreich in unser Da­
sein hereinweht.1 Die Zeugung des Lebens geschieht für dieses Welterleben ge­
rade aus der unterweltlichen psyche, aus dem Totenreich heraus.12 Im Lateini­
schen hat die »Seele« dann zwei Aspekte ihrer selbst ausdrücklich auseinan­
dergelegt als anima und animus, und Jung hat, auf diesen glücklichen Fund zu­
rückgreifend, gezeigt, daß die Seele von Hause aus in zwiefacher Gestalt auf-
tritt: als Anima und als Animus. Diese lateinischen Wörter deuten zweierlei an:
die Identität beider (ausgedrückt im Wortstamm anim-) und die Differenz beider
(ausgedrückt in den Endungen -a [weibl.j vs. -us [männl.] und damit in ihrer Ge­
gengeschlechtlichkeit). Unsere Grundmetapher »Seele« ist also nichts Eindeuti­
ges, sondern in ihr selbst different.
Will man diesen Aspekt eigens betonen, kann man auch statt Seele »Sy-
zygie« sagen oder die Seele als Syzygie begreifen. Unter der Syzygie ist zu­
nächst einmal ganz konkret das archetypische Bild des mannweiblichen Götter­
paares zu verstehen, in dem wir mit Jung psychologisch eben Anima und Ani­
mus oder auch, mehr philosophisch, Eros und Logos erkennen dürfen, wobei
freilich bei dem letzteren Paar die Gegengeschlechtlichkeit nicht mehr zum Aus­
druck kommt. Das Bild des Götterpaares erstreckt sich laut Jung von den Dun­
kelheiten primitiver Mythologie bis in die philosophische Spekulation des Gno­
stizismus und der klassischen chinesischen Philosophie, wo es als das kosmogo-
nische Begriffspaar von yin und yang auftritt.3 Es erstreckt sich darüber hinaus
auch, was nicht mehr bei Jung steht, zu solchen philosophischen Begriffspaaren
wie Anschauung und Denken, Rezeptivität und Spontaneität bei Kant, und - wie
dürfte man das vergessen - zu dem psychoanalytischen Begriffspaar Eros und
Thanatos, Lebens- und Todestrieb bei Freud. Jung sagt, daß die Imagination
durch dieses Motiv gebunden ist, so daß sie an allen Orten und zu allen Zeiten in
hohem Maße veranlaßt ist, immer wieder dasselbe zu projizieren.4 Das Syzy-
gienmotiv drückt nach Jung aus, »daß mit einem männlichen zugleich immer
auch ein entsprechendes Weibliches gegeben sei. Die ungemeine Verbreitung
und Emotionalität des Motivs beweisen, daß es sich um eine fundamentale und
1 Vgl. dazu die verstreuten Äußerungen Jungs (z.B. GW 9/1 § 385ff.) und die Schriften von Edgar
Herzog (Tod und Seele), Onians (Origins of European Thought), James Hillman (The Dream and
the Underworld).
2 Griechen: Onians, a.a.O. S. 109 ff.; Taoismus: Eliade, Geschichte der religiösen Ideen Bd. II, S.
361 f.; Ägypten: Heino Gehrts, »Die Opfemng des zeugerisch verbundenen Paares«, S. 26.
3 C.G. Jung, GW 9/1 § 120.
4 Ebd.
dämm praktisch wichtige Tatsache handelt, unbekümmert dämm, ob der einzel­
ne Psychotherapeut oder Psychologe versteht, wo und in welcher Weise dieser
seelische Faktor sein spezielles Arbeitsgebiet beeinflußt«.5 Im »Gebiet der Sy-
zygien, nämlich der Gegensatzpaamngen«, ist »das eine niemals vom anderen,
Entgegengesetzten, getrennt«.6
Zwei Dinge gilt es in unserem Zusammenhang noch einmal entschieden
hervorzuheben und festzuhalten. 1. Es handelt sich bei dem Syzygiemotiv nicht
um ein beliebiges archetypisches Motiv unter der Vielzahl der mythischen Bil­
der, sondern um dasjenige archetypische Motiv, das für die Konstitution der
Psychologie selber entscheidend ist. Es bezeichnet die Perspektive oder Grund­
metapher, die nicht nur, wie all die anderen archetypischen Bilder, ein Gegen­
stand der Psychologie ist, sondern unter deren Ägide die Psychologie ihrerseits
steht. 2. Diese Gmndmetapher, die also sowohl ein Objekt als auch das leitende
»Subjekt« der Psychologie ist, die Seele, ist zweideutig, zwiefaltig, in sich diffe­
rent. Sie erscheint in zwei distinkten, ja gegensätzlichen Gestalten, Anima und
Animus, Seele im engeren Sinn und Geist. Und streng genommen kann man die
Anima nicht losgelöst von ihrer Paarung mit ihrem eigenen Entgegengesetzten,
dem Animus, betrachten und verstehen und den Animus nicht getrennt von der
Anima. Sie involvieren jeweils ihren Gegensatz. Haben wir es mit der Anima zu
tun, dann ist unweigerlich »zugleich«, auch der Animus zur Stelle und umge­
kehrt, selbst dann, wenn der einzelne Psychotherapeut davon nichts bemerkt,
wie wir von Jung gerade hörten.
Wenn die Syzygie die die Psychologie konstituierende Grundmetapher ist
und wenn Anima und Animus unweigerlich einander implizieren, kann die Psy­
chologie der Syzygie nicht entgehen. In ihr, der Psychologie selbst (und nicht
nur draußen im Objekt: in der Seele des Menschen), werden immer Anima und
Animus wirksam sein. Die Frage, die mit Jung zu stellen ist, ist jedoch, ob die
Psychologie dies »bemerkt« oder ob ihr die Wirkung des je anderen nur de fac­
to, aber unbemerkt widerfährt. Ist sie sich, mit Faust zu reden, »nur des einen
Triebs bewußt«, oder nimmt sie beide in ihre Hut? Anders gewendet: wird die
Psychologie aus der ausgehaltenen Gegensatzspannung von Anima und Animus
heraus vollzogen, so wie J. Hillman sagt: »Eben dies ist Psychologie, die wech­
selseitige Durchdringung von Psyche und Logos im Rahmen der Syzygie«7? Es
läßt sich zeigen - wir werden in den nächsten Kapiteln darauf zurückkommen
- , daß bei der real existierenden Psychologie, so sehr sie sich auch in der Praxis
um die coniunctio oppositorum mühen mag und von der Syzygie als ihrem Ge­
genstand handelt, ihr eigenes Tun einem Entzweitsein der Syzygie entspringt.
Die Psychologie hält sich in ihrem Vollzug nicht in dieser.

5 C.G. Jung, GW 9/1 § 134.


6 C.G. Jung, GW 9/1 § 194.
7 James Hillman, Anima: An Anatomy of a Personifled Notion, Dallas (Spring) 1985, S. 171/173,
meine Übersetzung.
Es liegt nahe, besonders weil Anima und Animus den gleichen Namen
tragen, das Verhältnis des göttlichen Paares zueinander so aufzufassen, als ob es
wie die Paarheit eines Geschwisterpaares oder eines alten längst aneinander an­
geglichenen Ehepaars wäre. Dann wären Anima und Animus gleichsam zwei
Versionen des Selben, wenn auch ob ihrer Gegengeschlechtlichkeit nicht das
Gleiche. Das Selbe nämlich insofern, als es nach Jung die »natürliche Funktion
des Animus (so wie auch der Anima)« ist, »eine Verbindung zwischen dem indi­
viduellen Bewußtsein und dem kollektiven Unbewußten herzustellen... Anima
und Animus sollten als Brücke oder als Tor zu den Bildern des kollektiven Un­
bewußten funktionieren...«8 Stellen beide wirklich nur zwei verschiedene perso­
nifizierte Mächte im Theater archetypischer Gestalten dar, die durch die Gleich­
heit der Funktion miteinander verbunden sind? Stehen sie nebeneinander auf
derselben Bühne, demselben Boden, wie etwa die Idee nahelegen würde, daß im
Menschen der Anima im Manne der Animus in der Frau entspreche? Dann wä­
ren sie einfache Äquivalente oder Komplemente, wie rechts und links, also in ih­
rer Gegensätzlichkeit gerade gleich. Aber damit wäre die Gegensätzlichkeit bei­
der verharmlost. Schon das Begriffspaar yin und yang, wie es im chinesischen /
Ching vorkommt, ist grundsätzlich nicht mehr als rein komplementär zu sehen.
Das eine kann sogar in das andere Umschlagen.
Die Sicht der beiden Seiten der Syzygie als »Äquivalente«9 würde die Sy-
zygie nur von ihrem einen Glied, nämlich von der Änima her und durch ihre
Brille, sehen. Denn die Anima ist der Archetyp, unter dessen Perspektive die
psychische Wirklichkeit als das zeitlose Panorama der Bilder, der Ahnen, der
Götter erscheint. Das Paar muß aber auch von seinem eigenen anderen Glied
her, aus der Perspektive des Animus, gewürdigt werden. Dann müssen Animus
und Anima als füreinander wirklich andere und nicht nur als zwei miteinander
gepaarte Ungleiche verstanden werden. Die Andersheit, die Gegensätzlichkeit in
ihrer //eferosexualität, wird erst offenbar, wenn wir sie als heterogene Archety­
pen oder Funktionen verstehen, die verschiedenen Ordnungen angehören und als
solche in eine Syzygie zusammengespannt sind. Ich bestreite also, daß der Ani­
mus genau wie die Anima die Brücke (Beziehungsfunktion) zum Unbewußten
darstellt, nur eben für das andere Geschlecht. Anima und Animus unterscheiden
sich nicht durch den Ort ihres Auftretens (Mann oder Frau), sondern durch die
Funktion. Dies gilt es zu klären.
Im menschlichen Erleben ist die erste Manifestationsform des Animus das
»Meinungenhaben«, während sich die Anima primär in »Stimmungen« äußert.
Diese Feststellungen Jungs benutzen wir, um uns die Heterogeneität beider zu
vergegenwärtigen. Stimmungen sind die erste Unmittelbarkeit von Gehalten, In­

8 C.G. Jung, Unveröffentlicher Seminarbericht, Vol. 1, 1925. Zit. nach Erinnerungen, »Glossar«
s.v. Anima und Animus, S. 409.
9 Vgl. C.G. Jung, GW 9/1 § 27.
halten, von Bildern oder personifizierten Gestalten. Die Stimmung in ihrem prä­
zisen, wenn auch schwer faßbaren Gefühlston ist die erste noch undifferenzierte
Ahnung von dem, was in ihr an bildhaften Qualitäten geborgen liegt.
Beim animushaften Meinen könnten wir nun unsererseits der Meinung
sein, daß es auch in ihm um Inhalte ginge. Aber der Ton liegt hier nicht auf dem
Gehalt der Meinung, sondern auf dem Meinungen-//aöen, das als animushaftes
gegenüber dem spezifischen Gehalt weitgehend gleichgültig ist. Es ist mehr oder
weniger Zufall, welche Meinung der Animusbesessene gerade vertritt. Es hätte
unter Umständen auch die entgegengesetzte Meinung sein können. Jung betont
beim Animusgebaren den Machtaspekt, also das »Pochen auf«, das Rechthaben­
wollen, den dogmatischen Charakter der Meinung. In anderen Worten: es geht
um »das Prinzip«, genauer: um die Prinzipienhaftigkeit der jeweils behaupteten
Meinung. Der Animus als psychische Funktion verweist auf eine seelische Akti­
vität, die sich des besonderen Gehalts nur bedient, um an ihm sein eigenes Tun,
das Behaupten und einen Standpunkt Beziehen, auszuüben. Im animushaften
Meinungenhaben sind die Inhalte dessen, was jeweils gemeint wird, nur als auf­
gehobene Momente enthalten. Der Animus als psychische Funktion bewirkt so
die Aufhebung (im Hegelschen Sinn) der Bilder und ihrer unmittelbaren Quali­
täten oder Gehalte. Wenn die Animusreaktion dann, über das erste bloße Mei­
nungenhaben hinaus, voll entwickelt und differenziert ist, zeigt sie sich als Be­
griff. Sie zeigt sich als der begriffene, d.h. prinzipiell (als generelles Prinzip) er­
faßte Gehalt. Wir können demnach sagen: das Meinungenhaben ist die erste Un­
mittelbarkeit des Begriffs, der Prinzipien - der Reflektiertheit der unmittelbar
gegebenen bildhaften Inhalte.
So stehen sich also mit Anima und Animus von hier aus gesehen das
Reich der Inhalte, Bilder, Gestalten einerseits und das des Reflektiertseins und
der Erfassung des Bildes im Begriff andererseits gegenüber. Die Anima verweist
uns auf die ganze Phänomenologie der psychischen oder archetypischen Wirk­
lichkeit in ihrer Breite und Vielfalt, die Phänomenologie des Mythos oder des
Imaginalen. Sie ist die unerschöpfliche mythenschaffende Tätigkeit der Seele,
sie stellt plastische Gestalten vor uns hin, personifiziert, produziert Gehalte,
spinnt, dichtet, fabuliert und erzeugt so eine faszinierende Welt vor unsren inne­
ren Augen. Und als die Zauberin, die sie ist, verleiht sie dem, was sie aus sich
herausspinnt, schlechterdings überzeugendes Sein, Subtantialität, Gegenständ­
lichkeit, »Objektivität«, so daß sie, in dem Maße, wie sie die Bilder als Wirk­
lichkeiten aus sich herausspinnt, sich oder das Bewußtsein gleichzeitig auch in
sie einspinnt. Sie glaubt an ihre Bilder. Sie ist die Funktion des Fasziniertwer­
dens von ihnen, des für sie und von ihnen Eingenommenwerdens, ja möglicher­
weise des ihnen Verfallens. Der Animus bezieht dieser substantiell erlebten
Welt gegenüber Stellung. Er geht mit dem bildhaft und substantiell vor uns Ste­
henden um und verwandelt Substanz in Funktion oder Prinzip. Er entgegen-
ständlicht, abstrahiert, vergeistigt. Er nimmt dem Geschauten das schlechthinni-
ge Sein. Er ist die Funktion der alchemistischen putrefactio, destillatio, sublima-
tio, des psychoanalytischen Durcharbeitens, des analytischen Denkens, der kriti­
schen Reflexion. Er ermöglicht das Durchschauen der animahaften Projektion.
Er ist die Auflösung der »Ontologie« in »Logik«, in geistige Bewegung. Er ist
nicht nur, wie die Anima auch, Funktion; er ist der Archetyp des Funktionalen,
der Funktionalität (im Unterschied zur Anima als Archetyp der Substantialität),
der Archetyp der Operationen und Akte, des Eingriffs. Er steht somit in der Sy-
zygie nicht einfach neben der Anima wie ein schlichtes Komplement oder Pen­
dant, sondern gleichsam quer zu ihr als die Aufhebung der von der Anima pro­
duzierten Welt und als die Negation der Anima selbst. Seine Funktion ist die Tö­
tung der Unmittelbarkeit der Seele.
Animus und Anima sind veritable Gegensätze. Aber wie schon die Na­
mensgleichheit zu erkennen gibt, ist die Negation durch den Animus die der
Anima eigene Aufhebung der Anima. Im Animus hat die Anima ihr eigenes An­
deres. Die Aufhebung geschieht innerhalb der Syzygie, nicht von außen, als der
Anima völlig fremdes und willkürlich zugefügtes Geschehen.
Die Anima wird oft mit dem »Inneren« verbunden, weil sie mit den Bil­
dern des kollektiven Unbewußten verbindet. Man könnte dann denken, daß die
Anima aus der äußeren Welt abziehe und in das Innere hineinziehe. Aber das
wäre ein völliges Mißverständnis. Der Anima liegt von Hause aus am Außen.
Sie setzt aus dem Inneren hinaus, projiziert in die und bevölkert die Welt. Aber
sie spinnt auch in das Hinausprojizierte ein, verlockt und verstrickt in dessen
Tiefe hinein, die archetypische, bildhafte, Sinnes-Tiefe ist. Das ist ihre Innerlich­
keit, die dem modernen Gegensatz von Innenwelt und Außenwelt gegenüber in­
different ist. Es ist bei diesem Nachaußenprojizieren also gleichviel, ob das Au­
ßen ein »reales« oder ein »visionäres« ist. Letzteres ist nicht »in« uns, sondern
ebenfalls ein wirkliches Draußen. Der Schamane begab sich auf Seelenawrfahrt.
Mit Introversion hat die Anima nichts zu tun, ganz abgesehen davon, daß sie es
ist, die für das Erleben des Wirklichkeitscharakters der Realität zuständig ist (die
pathologischen Zustände der Depersonalisation und Derealisation sind Anima-
Störungen10).
Wenn schon, dann zielt der Animus auf das Innere, freilich nur wenn sei­
ne Idee von der Anima gerade in einem äußerlichen Sinn aufgegriffen und sub-
stantialisiert wird. Von Hause aus dagegen bringt der Animus das kritisch-
reflektive Zurückschrecken von dem, was die Anima nach draußen projiziert
hat. Er bringt, was wir noch als (absolut negative) Er-innerung näher kennenler­
nen werden. Aber so wenig das Außen der Anima identisch ist mit dem Außen
in dem Gegensatz Inneres - Außenwelt, so wenig das Zurückschrecken kraft des
Animus oder die Er-innerung mit dem Inneren in demselben Gegensatz.

10 James Hillman, Anima, Kap. »Anima and Depersonalization«.


Negativität. Anima und Animus gehören in der Tat in die Syzygie, weil
sie weder wie Bruder und Schwester komplementär noch wie Gatte und Gattin
»zufällig«, äußerlich zu einer Einheit zusammengeschlossen sind, sondern weil
es schon in ihrem Begriff liegt, als Gegensätze unlöslich miteinander verbunden
zu sein, was in der Namensgleichheit nur äußerlich angedeutet ist. Was beide in
die Syzygie zusammenzwingt, ist der Umstand, daß der eine die reine Negation
der anderen ist. Der Animus hat kein eigenes Sein oder qualitatives Wesen. Er
ist nur als die Aufhebung der Anima. Ein qualitatives Wesen und ein substan­
tielles Sein zu haben und das Bewußtsein mit dem Reich der Bilder zu verbin­
den, das ist gerade, was die Anima, und nur sie, auszeichnet. Beide gehören zu­
sammen wie Plus und Minus, wie Sein und Nichts. Der Animus ist nicht einfach
etwas anderes als die Anima, er ist das Andere der Anima schlechthin, nämlich
die ihr eigene Verneinung ihrer selbst, das Nichts der Anima. Die Anima kann
man vielleicht noch unabhängig von der Syzygie erörtern, weil sie der Archetyp
der Substantialiät ist. Beim Animus ist dies unmöglich, insofern er nur als die
Verneinung der Anima besteht.
Mit einem Rückgriff auf früher Gesagtes und einem Vorgriff auf Späteres
ist dieser Sachverhalt zu untermauern. Wir haben betont, daß der Animus nicht
einfach als phänomenologischer Gegenstand irgendwo aufgelesen und beobach­
tet werden kann. Vielmehr wird der, der sich ihm zuwendet, zunächst einmal auf
sich selbst zurückgeworfen. Es gibt für den Animus keine empirische Grundla­
ge, keinen theoretischen Beweis. Er gründet letztlich im eigenen Denken, im ei­
genen Begriff von ihm, als der letzten Autorität für alle Aussagen über sein We­
sen und als der Beweis seiner Existenz: er wird nur wirklich erfahrbar und ge­
genwärtig in der eigenen Aktivität des Denkens und kraft dieses Tuns, nur in der
eigenen Anstrengung des Begriffs. Sonst ist er nur ein Wort oder eine Vorstel­
lung, die gerade animahaft bleibt. Darin zeigt sich seine Negativität. Er ist nicht
ein positives Etwas, das sich anschauen und vorweisen ließe.
Ebenso fiel bereits ins Auge, wie stiefmütterlich der Animus von Jung be­
handelt wurde, wie schlecht sein Ruf ist und daß der Animus in der psychologi­
schen Literatur überwiegend nur als negativer Animus auftritt. Im Licht des hier
Herausgearbeiteten läßt sich nun dieser sonderbare Befund als zur Phänomeno­
logie des Animus selbst gehörig begreifen. Gewiß, dieser Befund weist auf ei­
nen Mangel, aber dieser Mangel ist selber charakteristisch für den Animus. Er
taucht eben nicht in gleicher Weise wie die Anima in berückenden Bildern und
Gestalten auf. Er lädt nicht in gleicher Weise zur Beschäftigung mit ihm ein.
Jetzt können wir mit Entschiedenheit bestätigen, was wir oben nur vage zu be­
denken gaben: Es macht keinen Sinn zu sagen, der Animus könne wie jeder Ar­
chetyp positiv oder negativ sein, wenn damit anderes gemeint wäre als die utili­
taristische Unterscheidung zwischen als angenehm und als unangenehm erlebten
Wirkungen seiner. Der Animus ist nicht in derselben Weise bald negativ, bald
positiv, wie ein Mensch mal gesund, mal krank ist. Die Negativität ist hier nicht
ein Zustand (Attribut) an einer sich durchhaltenden Substanz namens Animus.
Vielmehr ist es das Wesen (die Funktion) des Animus, negativ zu sein. Die Ne­
gativität gehört in die Definition des Animus. Er ist selber die Negativität. Bild­
lich und so gerade nicht angemessen ausgedrückt: Er betreibt nicht wie die Ani­
ma ein produktives Gewerbe, sondern ein wesenhaft negatives, so wie in der so­
zialen Wirklichkeit der Abdecker, der Anatom, der Müllabfuhrmann auch rein
negative (wenn auch keineswegs unwichtige oder abschätzig zu beurteilende!)
Tätigkeiten ausüben. »Negativer Animus« ist eine Wendung wie »schwarzer Ra­
be«. Das Adjektiv macht explizit, was implizit im Begriff Animus schon liegt.
Kathrin Asper stellt einen interessanten Zusammenhang zwischen der un­
günstigen Beurteilung des Animus bei Jung und der Gegenübertragung her. Sie
sagt: »Bekanntlich sprach Jung nicht besonders freundlich vom Animus. Darauf
wurde schon viel Tinte verwendet, und ich gehe deshalb nicht näher darauf ein.
Was mir aber im Zusammenhang mit meiner Beschäftigung mit dem Animus
und der Selbstwertstörung aufging, ist das folgende. Könnte es sein, so fragte
ich mich, daß Jung in seiner negativen Beschreibung des Animus seine Gegen­
übertragung formulierte, es aber unterließ, diese therapeutisch fruchtbar zu ma­
chen?«11 Der Zusammenhang leuchtet ein. Wenn wir diesen Gedanken psycho­
logisch fruchtbar machen wollen, dann dürfen wir freilich nicht einfach die Ge­
genübertragung als ein sich selbst verstehendes Phänomen stehen lassen. Wir
müssen genau umgekehrt diese Gegenübertragung als Niederschlag und Selbst­
manifestation des Animus würdigen und so für die Erkenntnis dessen, was Ani­
mus ist, nutzen. Ganz entsprechend darf man vielleicht sogar die Tatsache, daß
von feministischer Seite das Animus-Konzept rundweg abgelehnt worden ist, als
Ausdmck eines Animus-Geschehens deuten. Denn diese Verneinung des Ani­
mus in Bausch und Bogen ist selber eine Leistung, die sich der Funktion des
Animus verdankt. Der Animus ist nicht auf Selbstdarstellung bedacht. Nur die
Anima setzt sich in Szene, hat einen Drang zur anschaulichen Gestalt. Die Femi-
nistinnen konnten diesem Begriff nur in dieser radikalen Weise jegliche Berech­
tigung absprechen, weil und indem sie selber von dem, was wir Animus nennen,
Gebrauch machten, so daß sich der Animus gerade auch in der Verneinung sei­
ner selbst noch wirksam zeigt.
Man darf also, eben weil der Animus reine Funktion und nicht seiende
Gestalt, nicht substantielles Bild ist, nicht so sehr auf das, was gesagt wird, auf
das inhaltlich Gemeinte also, blicken. Der Animus zeigt sich viel eher in der lo­
gischen Form und im geistigen Stil der Rede. Und er bestätigt sich offenbar ge­
rade auch dann, wenn die Rede die Negation, die er ist, gegen ihn selbst wendet.
Gleichzeitig entnehmen wir diesen Beobachtungen die erste Einsicht in
eine wichtige Differenz, die beim Animus zu beachten ist. Es gibt nämlich zwei1
11 Kathrin Asper, »Animus - Gefühle und Gedanken - heute«, in: Dieselbe, Schritte ins Labyrinth:
Tagebuch einer Psychotherapeutin, Olten (Walter) 1992, S. 253-269, hierS. 264.
ganz verschiedene Weisen, wie der Animus erscheinen kann. Erstens: Die nega­
tive Beschreibung des Animus, die unfreundliche Behandlung, die ihm in der
Psychologie widerfährt, und die völlige Verneinung seiner Existenz sind zwar
Weisen, in denen sich der Animus manifestiert. Aber er wird dadurch nur agiert,
es wird die Funktion, die er ist, einfach ausgelebt und vollzogen. Er wird nicht
reflektiert, und das heißt, er weiß sich hier nicht als Animus. Denn wenn der
Animus sich im Vollzug der Leugnung seiner eigenen Existenz als Animus
wüßte, dann könnte er gerade nicht mehr geleugnet werden. Wir haben es hier
also mit der ersten Unmittelbarkeit des Animus oder dem Animus in seiner unei­
gentlichen Form zu tun, die noch unter der Ägide der Anima steht. Im Vernei­
nen seiner spinnt die Seele animahaft den Animus einfach aus sich heraus, sie
lebt ihn völlig unbedacht als ihr eigenes Anderes dar. Wir könnten auch sagen:
das Bewußtsein sitzt ihm, sitzt seiner Negativität auf; es interpretiert, was We­
sen des Animus ist (die Negativität), »positivierend« als schlechte Eigenschaft
an ihm, als fehlerhaft, Mangel. Die Anima macht aus der Negativität ein positi­
ves Etwas. Seine Negativität wird ihm vorgeworfen, angelastet. Dann gilt: Alles,
was der Animus ist, wird wie »vor Gericht« gegen ihn verwendet. Aber dieser
Vorwurf stammt aus ihm selbst, allerdings nur dann, wenn seine Negativität ein­
fach nur agiert wird. Dann verlangt er selber, daß er gefälligst positiv und ein­
deutig sein solle, und ist verärgert, daß dem nicht so ist. Der Animus, der doch
Logos sein soll, manifestiert sich dann in einem Ressentiment, einem animosen
Affekt, also in dem Gegenteil seiner selbst. Dabei ist er offenbar noch nicht zu
sich selbst gekommen. Weil er in seiner ersten Unmittelbarkeit erscheint, er­
scheint er, der die Negation ist, ganz folgerichtig in der Gestalt des Wider­
spruchs, ja des Selbstwiderspruchs: er manifestiert sich hier dadurch, daß er sei­
ne eigene Existenz verneint.
Es muß aber auch zweitens die Möglichkeit geben, daß der Animus sich
als solcher weiß. Denn das klare Wissen, das Durchsichtigwerdenlassen dessen,
was ist, die Reflexion, ist ja gerade seine Kraft. Wenn er sich als das, was er ist,
weiß, kann er sich seine Negativität nicht verübeln. Er weiß sie dann nicht ein­
fach nur als seine Auszeichnung und seinen Sinn, sondern vor allem auch als
sein Sein. Er ist rein negativ, kein Etwas, das zusätzlich zu seinem Sein dann
auch noch negative Eigenschaften oder Neigungen hätte. Das ist der Moment,
wo eben z.B. auch die Verleugnung seiner noch als sein Sich-Ereignen (ein
Sich-Ereignen in freilich vorläufiger, noch positivierender Form) gewürdigt
werden kann, womit aber zugleich die Notwendigkeit, ihn zu leugnen, beendet
ist. Der zu sich selbst gekommene Animus muß die Negativität nicht mehr ge­
gen ein Anderes, nicht einmal gegen sich selbst als ein Anderes, wenden und
ausüben, sondern er kann sie einfach ertragen, in ihr verweilen, selber Negativi­
tät »sein«. Das heißt, er kann als Nichtseiender »sein«. Dann ist er zum Geist im
eigentlichen Sinn geworden.
Marie-Louise von Franz sagt einmal im Vorübergehen über den Blaubart
als negativen Animus:
... Bluebeard is a minderer and nothing more; he cannot transform his wives or be
transformed himself. He embodies the death-like, ferocious aspects o f the animus in
his most diabolical form; from him only flight is possible.... The animus in his nega­
tive fo rm ... draws woman away from life and muiders life for her. He has to do with
ghostlands and the land of death. Indeed, he may appear as the personification of
death, as in the French tale of the Diederich Collection called »The W ife of
Death«...12

Ich greife damit weit voraus, denn sowohl die Blaubart-Geschichte als
auch die zitierten Sätze von Frau von Franz werden uns noch näher beschäfti­
gen. An dieser Stelle interessiert uns diese Thematik nur im Zusammenhang mit
dem Bemühen, einen Vorbegriff des Animus zu entwickeln. Blaubart ist sicher
die extremste Animus-Gestalt, die es gibt. Ich sehe in dieser Extremform nicht
das Extravagante und Exzentrische, das gerade femgehalten werden sollte, weil
es aus dem Rahmen fällt. Ich sehe in ihr vielmehr eine ganz zentrale Gestalt,
weil sie als Extrem den Animus in seiner letzten Konsequenz und in seinem äu­
ßersten Begriff zeigt. Blaubart wirft noch einmal ein entscheidendes Licht auf
die Negativität des Animus: auf den Animus als Töter und damit zugleich auch
auf sein syzygisches Zusammengespanntsein mit der Anima. Wenn der Animus
sein Wesen darin hat, Töter zu sein, dann ist er nichts ohne sein Opfer. Er ist auf
dieses, d.h. auf die Anima angewiesen, und diese Angewiesenheit des einen auf
die andere ist das Joch, das beide aneinander bindet. Vor dem Animus, sagt von
Franz, kann man nur fliehen. Darin würde sich wieder die agierte Negativität
zeigen: in der Flucht schlägt sich das negative Wesen des Animus selber nieder.
Der Animus als Mörder und als »Leichenfresser« vernichtet nur. Er verbreitet
einen kalten Hauch um sich. Er verweist aus dem Leben und der »Biologie« hin­
aus, ins ghostland, ins Unsinnliche: weg vom Empirischen und Anschaulichen
und hinaus aus Wahrnehmung und Vorstellung hin in die kalte Sphäre des rei­
nen Denkens.
Einheit von Einheit und Differenz der Gegensätze. Die beiden Seiten
der Syzygie stellen kein einheitliches Paar dar. Um das syzygische Verhältnis
beider zu erkennen, gehe ich von Jungs bekanntem geschichtspsychologischem
Diktum aus: »Der Stufe von Animus-Anima entspricht der Polytheismus, dem
Selbst aber der Monotheismus«.13 Dieser Satz ist problematisch. Zwei Dinge
verlangen unsere Aufmerksamkeit. Erstens fällt an Jungs Satz auf, daß er Ani­
mus und Anima als eine unkomplizierte Einheit nennt. Sie bilden hier ein Ge­
spann ohne innere Spannung und Gegensätzlichkeit. Ich kann nicht nachvollzie-

12 Marie-Louise von Franz, An Introduction to the Psychology of Fairytales, Zürich (Spring Publ.)
1973, S. 125.
13 C.G. Jung, GW 9/II § 427.
hen, wieso bei der Stufe des Polytheismus der Animus im gleichen Atemzug
und mit der gleichen Gewichtung wie die Anima genannt werden dürfte. Gewiß,
wenn zwischen beiden eine Syzygie besteht, dann ist immer da, wo die eine ist,
irgendwie auch der andere. Aber eben nur irgendwie. Charakteristisch für die
Stufe des Polytheismus und manifest in ihr ist allein die Anima, wenigstens im
Vergleich zu späteren Stufen und von diesen her gesehen. Diese Stufe ist ja in
ausgezeichneter Weise die Stufe der mythenschaffenden Psyche, die Stufe der
Bilder und der mit ihnen einhergehenden logischen Unschuld, die eine Voraus­
setzung des polytheistischen Erlebens sind. Logische Widersprüche oder Dis­
krepanzen werden hier nicht zum Problem. Über denselben Gott oder Helden
können verschiedene Geschichten über dasselbe, etwa über seine Geburt und
Genealogie, erzählt werden, ohne daß dies als Widerspruch erlebt werden wür­
de. Mit Recht, weil es eben nur, animahaft, Geschichten sind. Geschichten oder
Bilder ruhen in sich selbst. Verschiedene Versionen einer Geschichte können
sich gar nicht widersprechen, weil sie nicht miteinander konkurrieren. Jede ist
für sich, was sie ist. Der Animus als das Vermögen logischer Begriffe und des
Ordnens nach Prinzipien ist auf der Stufe des polytheistischen Mythos nicht
ganz abwesend, aber er ist nur latent, nur eingewickelt gegeben. Er schläft noch
gleichsam. Er kommt erst durch den Monotheismus zu sich selbst, durch die Set­
zung und Festhaltung des Einen, dem die Vielheit subsumiert wird, wodurch
dann a) die Widersprüche als solche erlebt, aber auch b) durch logische Unter­
ordnung und dergleichen entschärft bzw. vermieden werden können.
Ich sehe in der Tatsache, daß Jung Animus und Anima hier umstandslos
zusammennennt, eine Nichtbeachtung des Animus in seiner Eigenständigkeit.
Die Spannung der Syzygie ist nicht ausgehalten worden. Der Animus wird, sa­
lopp ausgedrückt, der Anima untergebuttert. Dem entspricht dann auch, worauf
schon kurz hingewiesen wurde, daß die Syzygie als der Rahmen der Psychologie
nicht ausgehalten worden ist. Der Gegensatz von Anima und Animus ist ja von
Jung in der Hauptsache aus der Psychologie in die Biologie und ins Personalisti-
sche abgedrängt, nämlich auf den Gegensatz der Männer und Frauen reduziert
worden. Jetzt ist er nicht mehr als der Rahmen der Psychologie selbst im Be­
wußtsein der Psychologie, als das Spannungsfeld, innerhalb von dem sich alles,
was Psychologie heißt, ereignet. Er gilt nur noch als ein Inhalt der Psychologie,
ein einzelnes Datum ihrer Erfahrung. Und Anima und Animus werden zu »ge­
gengeschlechtlichen Persönlichkeitskomponenten«.14 Jung sagt so gerade auch
auf derselben Seite, auf der der Satz über Poly- und Monotheismus steht, aus­
drücklich: »Ihr Gegensatz [der Gegensatz von Animus und Anima] ist derjenige
der Geschlechter«.15 Psychologisch müßte es demgegenüber heißen: Der biolo­
gische Gegensatz der Geschlechter ist das vorzügliche mythische Bild, in dem

14 C.G. Jung, GW 16 § 441.


15 C.G. Jung, GW 9/H § 425.
sich die innere Gegensätzlichkeit der Syzygie lediglich auf der Stufe der Anima
darstellt. Die psychologische Syzygie wird auf die biologischen, faktischen Ge­
schlechter projiziert. Diese dienen als geeignetes Ausdrucksmittel. Es so zu for­
mulieren, würde Jungs eigenem psychologischen Ansatz viel eher entsprechen.
Hillman schreibt dementsprechend: »As Jung shows all through the Mysterium
Coniunctionis (CW 14) and elsewhere, >male< and >female< are biological meta-
phors for the psychic conditions of conscious and unconscious«16 und, so möch­
te ich hinzufügen, insofern damit »male consciousness« und »personified female
unconsciousness« gemeint sind, auch Metaphern für Animus und Anima. Als
Gegensatz der Geschlechter oder als Götterpaar ist die Syzygie ihrerseits von ih­
rem einen Glied, der bilderschaffenden, projizierenden Anima, aus gesehen,
selbst da noch, wo der Animus, wie in der chinesischen Philosophie des yin und
yang, bereits Prinzip ist und als gleichwichtig neben der Anima anerkannt ist.
Denn eben das gleichrangige Nebeneinander zeigt den Blickwinkel der Anima.
Dabei findet sich bei Jung durchaus die Einsicht in die Notwendigkeit der
Überwindung der geschlechtlichen Fassung psychologischer Zusammenhänge.
Anläßlich des Sexualismus des Hermaphroditussymbols sagt Jung: »Der Sexua­
lismus dieser Inhalte bedeutet immer eine unbewußte Identität des Ich mit einer
unbewußten Gestalt (Anima und Animus)... Den Hermaphroditus habe ich nie
als Gestalt des Zieles beobachtet, wohl aber als Symbol des Anfangszustandes,
nämlich als Ausdruck einer Identität mit Anima oder Animus. Diese Bilder sind
natürlich Antizipationen ,..«17 Zieht man aus dieser Einsicht die Konsequenz,
dann müßte man auch die gegengeschlechtliche Deutung von Anima und Ani­
mus, durch die sie zu Komponenten der Persönlichkeit werden, ihrerseits als
Ausdruck einer unbewußten Identität der psychologischen Tlieorie mit der unbe­
wußten Gestalt der Anima oder als Ausdruck von dem, was ich die Anima-Stufe
des Bewußtseins oder der Kultur nenne, erkennen, so daß man hier auch schon
nicht mehr von einer »Identität mit Anima oder Animus« reden dürfte, weil die­
se Rede gerade wieder dem Sexualismus verhaftet und so in einer noch unerlö-
sten Antizipation stecken bleibt. Die Rede von »Anima oder Animus« meint
nämlich das, was ich mit Anima oder Anima-Stufe meine, muß aber, weil der
Gegensatz der Geschlechter zur Basis gemacht wurde, das, was in meiner Spra­
che als Anima-Stufe eines ist, in zweierlei, in die Identität des Bewußtseins beim
Manne mit der Anima und in die bei der Frau mit dem Animus aufteilen.
Wie sieht dagegen die Syzygie aus, wenn sie von ihrem anderen Glied her
gesehen wird? Von diesem her tritt anstelle der Paarheit der Gegensatz hervor,
der genauso zur Syzygie gehört wie die paarige Einheit. Die Syzygie ist die Ein­
heit von Einheit und Gegensätzlichkeit der Gegensätze. Entsprechend bedeutet
»Syzygie« übrigens in der Astronomie den Oberbegriff (hier gleich: die Einheit)

16 Hillman, Anima, S. 125.


17 C.G. Jung, GW 16 §534-536.
von Konjunktion und Opposition von Gestirnen. Und Hillman sagt: »The job is
to keep spirit and soul distinct (the spirit’s demand) and to keep them attached
(the demand of the soul).«18 Bei Jung selbst ist dieser Begriff von der Syzygie
ausgesprochen in dem Untertitel von Mysterium Coniunctionis, nach dem dieses
Mysterium die Einheit (oder Syzygie [coniunctio ist die lat. Übersetzung von
griech. syzygia]) von »Trennung und Zusammensetzung der seelischen Gegen­
sätze« ist. Nur wegen dieses widersprüchlichen Charakters ist die coniunctio
überhaupt ein Mysterium. Wäre sie eine einfache, d.h. eindeutige, Synthese, so
wie in der modernen Chemie, wäre nicht einzusehen, was daran geheimnisvoll
sein sollte. Zum Mysterium wird die Syzygie, weil sie gleichzeitig in ein und
demselben Akt trennt und verbindet. Wir haben also erstens zwei Gegensätze
(Anima und Animus). Diese können zweitens ihrerseits versöhnt und vereinigt
werden. Das ist das Interesse der Anima. Sie können aber auch getrennt oder ge­
spalten werden. Das ist das Anliegen des Animus. Und das Anliegen der Seele
als Syzygie ist drittens, beide Anliegen zugleich (ineins gesetzt) zu haben.
Der Animus als das eigene Andere der Anima und als das sie Aufhebende
erscheint als Bruch, als Zerrissenheit, Entzweiung. Geschichtlich gesehen als der
Bruch vom Mythos zum Logos, wie eine bekannte Formulierung lautet.19*So
bringt der Animus, wenn er aus seinem Dämmerzustand des Eingewickeltseins
aufwacht und seine eigene Deutung der Syzygie zu geben beginnt, mitten hinein
in das unschuldige Nebeneinander der Bilder oder Göttergestalten auf der
zeitlos-statischen Bühne des archetypischen Theaters ein Bewußtsein von Ge­
schichte als einschneidender Veränderung und lebendiger Bewegung, als Folge
von voneinander abgeschnittenen »Epochen« oder Stufen. Stufen deswegen,
weil das Bewußtsein sich unter dem Einfluß des Animus logisch abstößt von
dem von der Anima vorgegebenen Reich der Bilder zu den ihm gemäßen Prinzi­
pien und weil damit gleichzeitig jenes Reich zu einem untergeordneten Moment
innerhalb seiner Prinzipien niedergedrückt wird. Und abstößt deswegen, weil die
Prinzipien oder Allgemeinbegriffe nichts als die verwesentlichten, d.h. prinzi­
piell und abstrakt-generell gefaßten, ehemaligen Bilder sind. Es entsteht —ohne
daß die mythischen Bilder absolut verlassen würden - etwas wirklich Neues,
und so wird sogar auch dem Geschlechtergegensatz hier viel tiefer Rechnung
getragen, weil das Zeugerische des Gegensatzes nicht vernachlässigt wird.
Wird die Syzygie als Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit der Ge­
gensätze begriffen, dann erweist sie sich, logische Bewegung zu sein und nicht
die Verbindung zweier Seiender, die wie durch einen Ehering »zufällig« in ei­
nen ewigen Bund gezwungen worden sind. Anima und Animus sind keine fixen
Gegensätze, so wie Mann und Frau in der Biologie oder zwei Häuser auf entge-

18 Hillman, Anima, S. 183.


19 Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos: Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens, Stutt­
gart (Kröner) 21975 (1940).
gengesetzten Seiten der Straße es sind. Diese bleiben, was sie sind, auch wenn
das Gegenüberliegende sich verändert oder gar abgerissen wird. Der Bruder
oder der Ehepartner kann weiterleben, hat sein eigenes Leben, auch wenn die
Schwester oder die Gemahlin stirbt. Sie sind ontologische Gegensätze. Nicht so
Anima und Animus. Sie sind eine sich in ihr selbst in Gegensätze auseinan­
derlegende Einheit, etwa so wie positive und negative Elektrizität. Sie sind die
Seele mit ihrem eigenen Anderen, mit ihrem eigenen Widersprach. Die Syzygie
ist der Uroboros, der die Einheit von Zeugen und Empfangen, von Täter und
Opfer, von Anfang und Ende ist. Die Gegensätze gehen hier ineinander über. Sie
sind flüssig. Der Animus, so haben wir ja schon gesehen, kann selber noch ani­
mahaft sein, und die Anima, das hat sich andeutungsweise auch schon gezeigt,
kann animushaft reagieren: den Animus agieren. Jede Seite des Gegensatzes ist
in ihr selbst zugleich der ganze Gegensatz.20 Das ist nur möglich, wenn die gan­
ze Syzygie ihrerseits geistig ist, d.h. wenn sie schon von dem einen Pol ihrer
selbst, dem Animus her anvisiert wird. Denn von der immer zum Naturalismus
neigenden Anima aus ergäbe sich das mehr statische Bild eines seienden Paares,
dessen Interaktion und Beziehungsdynamik immer noch substantiellen Charak­
ter hätte. Denn die Anima setzt ja gerade die Bilder als seiende aus sich heraus.
Der uroborische Charakter der Seele wird in dem Wort von Pseudo-
Demokritos aufs deutlichste ausgedrückt: »Die Natur erfreut sich der Natur. Die
Natur besiegt die Natur. Die Natur herrscht über die Natur.« Natur ist in diesem
alchemistischen Wort soviel wie seelische Natur oder Seele. Die Seele ist die
Einheit von erstens selbstzufriedener Einhelligkeit mit sich, zweitens Widerstreit
oder Widersprach mit sich selbst und drittens eine solche neue Einhelligkeit mit
sich selbst, die den ausdrücklich gewordenen Widerstreit oder Widersprach in
sich hat und ihn erträgt, ohne deshalb mit sich uneins zu werden. Dies ist hier
mit Herrschaft gemeint: nicht Zwangsherrschaft, die alle Opposition mit Polizei­
gewalt unterdrücken muß, was immer ein Zeichen von usuipierter Macht und
damit eigentlicher Ohnmacht ist. Wahre Herrschaft zeigt sich in der Souveräni­
tät, die die Opposition gelassen gewähren lassen kann, weil das kraft der gewalt­
losen Macht der Wahrheit Herrschende sie gar nicht mehr als Bedrohung erlebt.
Die eigentliche Herrschaft ist negativen Wesens, nicht positive Gewaltherr­
schaft. Sie herrscht logisch.
Die Seele ist diese drei Zustände ihrer selbst nicht nacheinander, zu drei
verschiedenen Zeiten, bald so, bald so. Sondern was Demokritos hier in drei Sät­
zen gesagt hat, drückt aus, was die Seele als Syzygie mit einem Male ist. Es geht
also um die Konzeption einer Identität, die die Differenz in ihr hat und doch
Identität bleibt. Die Differenz wird nicht zum Einwand gegen die Identität ge-

20 Dieses Verhältnis ist heute im Begriff, auch in das Bewußtsein zu dringen, nämlich kraft der
Chaosforschung, wo man z.B. auf die sogenannten »Fraktale« gestoßen ist, bei denen jedes Teil­
element immer auch ein Bild des Ganzen ist.
nommen, wie dies da der Fall war, wo die Negativität des Animus gegen ihn
verwendet, d.h. ihm zum Vorwurf gemacht wurde.
Innerhalb der Syzygie gilt jedoch, was Hegel erkannt hat: »... nicht das
Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt,
sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält ist das Leben des Geistes. Er ge­
winnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst fin­
det. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen weg­
sieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit
fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese
Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.«21
Syzygisch oder uroborisch betrachtet scheint es - nicht ausschließlich,
aber auch - zum Wesen der Seele zu gehören, sich selbst Gewalt anzutun, sich
zu verwunden, sich ihre eigene Unschuld zu rauben, ihre pieromatische Einhel­
ligkeit mit sich zu zerstören, so freilich, daß diese Tötungsgewalt ihr nicht als
das absolut Fremde von außen, sondern von ihr selbst widerfährt und daß sie
durch das sich Zugefügte über sich hinausschreitet, wodurch sie dann gerade erst
zu ihrer höchsten Bestimmung gelangt.
Ich sprach von logischer Bewegung, nicht logischer Struktur. Die Gleich­
zeitigkeit oder Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit ist also nicht ein stati­
sches Nebeneinander, nicht die Einheit des Gattungsbegriffs in bezug auf die'
»unter« ihn »fallenden« Arten, sondern sie ist die Gleichzeitigkeit der Akte des
Trennens und Vereinigens. Die Uroboros-Schlange ist entsprechend die Bewe­
gung des Zeugens und Gebärens, des Eindringens und Ausspeiens, des ur­
sprünglichen Anfangens und des immer schon aus Bedingungen Hervorgegan­
genseins und zugleich als Kreis das ewig sich drehende Rad. Und das, wovon
Demokritos sprach, ist das pulsierende Leben des in »träumender Unschuld«
(Tillich) in sich Rühens, sich selbst Bekriegens und über sich Herrschens, so je­
doch, daß, weil dies nicht sauber getrennt nacheinander erfolgende Akte sind,
dieses Leben nicht natürliches Leben in oder an einem »Geist« oder »Seele« ge­
nannten Seienden, sondern nur logisches Leben, logische Bewegung schlechthin
sein kann.
Die Syzygie als Selbstauslegung der Seele. Wir sind von Jungs Satz über
den Zusammenhang von Anima-Animus und Polytheismus einerseits und von
Selbst und Monotheismus andererseits ausgegangen und haben das erste Pro­
blem, das für uns in der darin ausgesprochenen Sicht liegt, erörtert. Wir kom­
men nun zu dem zweiten Problem. Es ergibt keinen Sinn, zwei geschichtliche
Stufen zu unterscheiden, wenn für jede der beiden ein anderes Unterscheidungs­
kriterium oder ein anderer Gesichtspunkt gewählt wird. Man kann die Geschich­
te unter dem Aspekt der Gottesbilder betrachten und anhand der Wandlungen

21 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Theorie Werkausgabe, Frankfurt
(Suhikamp) 1970, S. 36.
und Symbole dieser Bilder z.B. die Stufe des Polytheismus und die des Mono­
theismus herauskristallisieren. Man kann die ganze Geschichte auch unter dem
Gesichtspunkt von Animus-Anima (also der Seele) betrachten und dann die
Wandlungen und Symbole von Animus-Anima herausarbeiten, um dementspre­
chend geschichtliche Stufen anzusetzen. Man kann dieselbe Geschichte auch un­
ter dem Blickwinkel des Selbst betrachten und entsprechend den Wandlungen
und Symbolen des Selbst unterschiedliche Stufen entdecken. Aber von der
Animus-Anima Perspektive zu der des Selbst zu springen und trotzdem eine
Stufenfolge zu behaupten, ist verfehlt (eine katäbasis eis ällo genos), weil Stu­
fen nur anhand der Wandlungen eines sich durchhaltenden Selben zu erkennen
sind. Die so postulierten Stufen sind dann nur das hypostasierte Resultat des ei­
genen Tuns, nämlich des Springens von einer zur anderen Perspektive.
Jungs Satz ist wieder ein kleiner Hinweis darauf, wie leicht es ist, aus der
Syzygie herauszuspringen und die Geschichte nicht durchgängig psychologisch,
als Syzygie-intemes Geschehen, zu begreifen. Anima und Selbst sind zwei völ­
lig verschiedene und so unbezogen nebeneinanderstehende Archetypen oder
Perspektiven. Es gibt keine Begründung, warum der Weg von der Anima zum
Selbst fuhren soll. Das Postulat einer solchen Folge wäre reine Willkür oder,
was im Grunde dasselbe ist, bloße Empirie. Doch gibt es eine solche Empirie,
die diese Folge bestätigen würde, gar nicht bzw. höchstens für dasjenige Be­
wußtsein, das eben bei seiner Betrachtung der Empirie seinerseits von der einen
zur anderen Perspektive springt.
Was für uns freilich noch schwerer wiegt, ist, daß mit dem Rekurs auf das
Selbst die Grundmetapher der Psychologie, die Seele, verlassen ist. Unsere Ein­
sicht war es jedoch, daß wir nur im Horizont dieser Grundmetapher weiter­
schreiten können. Es gilt, so sagten wir, sich rückhaltlos in diese Grundmetapher
und ihre Unbekanntheit hineinfallen zu lassen. Tun wir das, dann sind Begriffe
wie Ich, Selbst, Persönlichkeit, Mann, Frau, Mutter, Vater, Mutter-Kind-Dyade,
Libido als Grundbegriffe ausgeschlossen. Sie sind, selbst wenn, nein, gerade
wenn sie »empirische« Begriffe sind, sachfremde, von außen herangetragene
und insofern in einem gewissen Sinn innerhalb einer wirklichen Psychologie
ideologische Begriffe. Ganz anders ist es mit Anima und Animus. Sie treten von
Hause aus, ganz ohne unsere Zutat, als Selbstauslegung der Seele auf. Der Be­
griff Seele hat sich selbst in der Geschichte seines Lebens in die Begriffe Anima
und Animus ausgelegt und auseinandergelegt. Er hat sie aus sich heraus als See-
/enbegriffe generiert. Mit ihnen geht man nicht aus dem Begriff Seele hinaus zu
etwas anderem über, man bleibt bei ihm und innerhalb seiner. Denn Anima und
Animus heißen beide, mit unterschiedlichen Akzentuierungen, Seele, und des­
halb können, nein, müssen sie als Grundmetaphem der Psychologie dienen.
Damit ist natürlich nicht gesagt, daß jene hier abgewiesenen Begriffe
überhaupt keinen Platz in der Psychologie haben dürften. Gesagt ist nur, daß sie
nicht als Grundmetapher dienen können. Sie können immer nur als abgeleitete
Begriffe in das psychologische Denken Eingang finden, nur dann nämlich, wenn
sie aus dem Begriff der Seele (von der Seele her gesehen) generiert oder (von
uns aus gesehen) hergeleitet worden sind. »Empirie« genügt nicht. Man muß
zeigen können, ob, daß, wie und inwiefern von der »Seele« und aus der Syzygie
von Anima und Animus »Ich«, »Selbst«, »Libido«, »Mutter-Kind-Einheit«,
»Person«, »Triebwünsche« usw. tatsächlich gebildet werden oder nicht. Wo
nicht, haben sie in der Psychologie nichts zu suchen. Dann sind sie, gerade als
empirische, eingeschmuggelte »mythologisch« oder »metaphysisch« bleibende
Begriffe, so wie mutatis mutandis in der Physik der »Äther« oder die »Sphären­
harmonie« es waren. (Daß z.B. »das Ich« in der Tat von der Seele als Syzygie
selbst generiert wird, werde ich später in diesem Buch zeigen.)
Es scheint außerordentlich schwer zu sein zu begreifen, daß psychologi­
sche Begriffe nicht Seiendes benennen. Da ist nicht eine Anima, ein Animus, ein
Ich als Gegebenheiten, so wie Steine, Pflanzen, Tiere in der Natur und Herz,
Lunge, Leber im menschlichen Organismus sind. Herz, Lunge, Leber kann man
aus dem Körper herausschneiden und vorweisen. Diese Wörter haben ein gegen­
ständliches Substrat. Psychologische Wirklichkeiten jedoch nicht. Sie gibt es
nicht. »Syzygie« ist nicht ein formallogischer Oberbegriff für die angeblich rea­
len, empirischen Phänomene Anima und Animus. Unter ihr werden sie nicht
subsumiert. Vielmehr handelt es sich genau um das Umgekehrte: die Seele,
wenn sie sich selbst überlassen und nicht in ihrer imaginalen oder genauer logi­
schen Selbstentfaltung gestört wird, legt sich selbst in den syzygischen Gegen­
satz auseinander. Anima und Animus stammen nicht aus einer primären empiri­
schen Erfahrung, sondern umgekehrt aus dem sich selbst auslegenden und aus-
-ein-anderlegenden Begriff Seele. Diese setzt Anima und Animus, Seele und
Geist innerhalb ihrer aus sich heraus und einander entgegen. Und sie ist nichts
anderes als eben dieses aus sich Heraussetzen und einander Entgegensetzen ihrer
inneren (nicht seienden, sondern in dem Heraustreten erst gesetzten) Gegensät­
ze, mithin nichts anderes als diese (logische) Tätigkeit. Die Syzygie von Anima
und Animus ist die erste Selbstdifferenzierung von Seele. Bewußtsein, Herz,
Busen, Seele, Gemüt, engl, mind, Anima und Animus als psychologische Be­
griffe sind - so banal und evident dies ist, scheint es doch immer wieder gesagt
werden zu müssen - keine realen Seienden, nicht Namen für Etwasse, die als
Substrat empirisch gegeben wären. Sie sind Phantasien der Seele über sich
selbst, genauer: Selbstbestimmungen der Seele, wobei wir, der Leser wird es ge­
merkt haben, mit dem Ausdruck Seele seinerseits schon von einer Selbstbestim­
mung ihrer Gebrauch machen.
Westliche Geschichte als Geschichte des Animus. In der westlichen Ge­
schichte wird das erste manifeste Auftreten des Animus als des Anderen in der
Syzygie mit der ersten »Erfindung« und Entwicklung des philosophischen Den­
kens in der Zeit der Vorsokratiker, der griechischen Sophisten, des Sokrates und
des Plato sichtbar, was sich dann verschärft fortsetzte besonders in der »zwei­
ten« Aufklärung mit dem Beginn der Neuzeit.
Das gezielte Sich-Abstoßen von der Anima-Welt zeigt sich in der grie­
chischen Aufklärung schon ganz äußerlich in der Kritik am Mythos, anhand von
der sich das Denken allmählich die formale Logik und die reinen Begriffe er­
oberte. An Platos überhimmlischen Ideen ist noch deutlich zu sehen, daß sie auf­
gehobene mythische Bilder sind. In ihnen wird das, was einst in Götterbildern
und -geschichten ausgedrückt war, nach wie vor aufbewahrt. Von ihnen aus
wird dann auch sichtbar, daß die Ideen oder Allgemeinbegriffe immer schon im
mythischen Bild geschlummert haben. Aufbewahrt in den Ideen sind die mythi­
schen Bilder aber zweitens in nicht mehr mythischer Form, sondern in der Form
von Universalbegriffen, weil die Ideen eben auch die Aufhebung der mythischen
Bilder im Sinn ihrer Überwindung, d.h. Tötung, sind. Drittens sind die ehemali­
gen Bilder mit den Ideen auch aufgehoben worden im Sinn von »auf eine höhere
Stufe emporgehoben«.
Mit der Rede von einer höheren Stufe setze ich keine Hierarchie der Wer­
te an. Ich trage vielmehr nur der offensichtlichen Tatsache Rechnung, daß die
Platonische Idee, weil sie die Aufhebung des mythischen Bildes ist und dieses
als eines ihrer Momente in oder unter sich hat, von einer komplexeren, differen­
zierteren logischen Struktur ist als das logisch einfach strukturierte mythische
Bild. Die höhere Stufe wird aber mit einer größeren Primitivität und Armut be­
zahlt. Denn die Idee ist in ihrer abstrakten Blässe dem unerschöpflichen Bezie­
hungsreichtum des Bildes weit unterlegen. Noch leerer wird es mit dem fort­
schreitenden Prozeß der Abstraktion und Reduktion, wie wir heute sehen, wo
die ehemaligen platonischen Ideen auf bloße informationstheoretische Plus- und
Minuswerte reduziert sind. Der Gang nach oben zu höheren logischen Stufen ist
zugleich der Weg nach unten, in die größere Primitivität.
Die griechische Aufklärung und die ihr nachfolgende Philosophie erweist
sich als die Stufe des Animus, weil sie die erste Negation und Reflexion des
Mythos brachte. Das Ergebnis dieser Reflexion ist: Der Mythos ist bloßer
Schein. Es sind erfundene Geschichten. Während die Anima die ruchlose my­
thenschaffende Tätigkeit der Seele selber ist, bringt der Animus die Reflexion
darauf, daß die Mythen von der Seele geschaffen wurden. Die Anima verleiht
ihren Gebilden gewissermaßen objektiven, metaphysischen Charakter. Sie stellt
die Gestalten vergegenständlicht, personifiziert aus der Seele heraus, so daß sie
wirklich wie Dinge an sich draußen zu stehen scheinen. (So sieht sie auch sich
selbst, die Anima, im biologischen Mann, und ihr Anderes, den Animus, in der
biologischen Frau.) Der Animus durchschaut dies und macht bewußt, daß das
draußen Gesehene aus ihr, der Seele selber, stammt und in die Psychologie
(nicht die empirischen Personen) gehört. Er ist der Archetyp des »Erinnems« im
Gegensatz zum »Agieren«. Das ist die wichtige psychologische Bedeutung der
Aufklärung und ihrer reduktiven Deutungen.
Das Denken im Abendland begann im tragischen Zeitalter der Griechen.
Das ist kein Zufall. Das tragische Lebensgefühl, das der psychologische Ur­
sprung der Tragödie ist, entspringt dem und bezeugt den Verlust der unhinter-
gehbaren Einbettung in der pieromatischen Welt des Mythos und des Rituals.
Das philosophische Denken bewirkt die Vertreibung aus dem Pieroma ebenso,
wie es das Vertriebensein und Draußenstehen voraussetzt, um überhaupt mög­
lich zu sein. Es hebt an mit dem thaumäzein (sich wundem), als dem Zeichen
des Draußenstehens, und damit mit dem Fragen, Infragestellen. Die Urerfahrung
in der schamanischen wie rituellen Kultur war weder Frage, noch Antwort auf
eine Frage (z.B. auf eine angebliche »Frage nach dem Sinn«). Sie war fragloses
Wort (»mythos«), fraglose Wahrheit, schlechthin erfahrener Sinn. Weil das
Menschsein im Pieroma inständig war, mußte und konnte nicht nach einem Sinn
gefragt oder nach ihm gesucht werden, und weil man im Wunder lebte, konnte
es auch das Sich-Wundem nicht geben. In der Urerfahrung atmete man Sinn ein,
wie wir die Luft einatmen.
Die Grundfrage der griechischen Philosophie, die Frage nach dem Sein,
die sofort auch den Begriff des Nichts mit sich bringt, ist nichts anderes als das
aufgehobene Pieroma selbst (und zugleich die fortgesetzte Aufhebung seiner).
Es ist dasselbe Pleroma, in dem der Mensch der mythologisch-ritualistischen
Zeit eingebettet war, das er nun aber, im tragischen Zeitalter, nur noch von au­
ßen sieht, worin eben das Tragische dieses Zeitalters, aber auch die philosophi­
sche Chance besteht. Im Sein ist das Pleroma ebenso bewahrt wie negiert. Und
eben deswegen gibt es jetzt den Gegensatz von Sein und Nichts. In der Spaltung
beider voneinander drückt sich, psychologisch gesehen, noch einmal eigens das
Abgespaltensein des philosophisch fragenden Menschen von dem Pleroma der
Urerfahrung aus (das ebenso beides, seiend und nichtseiend, wie keines von bei­
den war). In der Einheit der philosophischen Begriffe »das Sein« und »das
Nichts« verbirgt sich die ganze Welterfahrung der schamanistisch-rituellen Kul­
turen. Sie ist die reflektierte und durch die Reflexion zur Abbreviatur kollabierte
vorangegangene ganze Kulturstufe, die jetzt nicht mehr das Element war, in dem
sich das Leben abspielte, sondern der Gegenstand oder das Thema des philoso­
phischen Inderweltseins ist. Wir könnten auch sagen: die Animawelt ist als gan­
ze nur noch Moment der Animus-Stufe.
(Anmerkungsweise sei bemerkt, daß sich von hier aus vermuten läßt, daß
sich Heideggers »Schritt zurück« zur Frage nach dem Seyn selbst als zu kurz er­
weist. Er meinte wohl, daß mit dem Seyn auch der Grund des Mythos und der
Götter benannt sei. Aber »das Seyn« ist gerade schon und nur die zugeschlagene
Tür zum Mythos und zu den Göttern. Das Seyn ist schon das Schwarze Loch, in
dem die ganze Farbigkeit der Welt und polytheistische Fülle der Wirklichkeit
verschluckt ist. - Mutatis mutandis dürfte dies für den Begriff des »absoluten
Nichts« der fernöstlichen Philosophie [z.B. Keiji Nishitani] gelten. Beidesmal
kommt man nur bis an die Grenze der ersten Reflexion, aber nicht über diese
Grenze hinaus, nicht zu der Wirklichkeit der Welt, die im Seyn selbst oder im
absoluten Nichts immer schon verschwunden ist und nur als verschwundene
noch darin bewahrt wird.)
Neben der Entwicklung der offiziellen Philosophie gibt es noch einen an­
deren Strang der abendländischen Geschichte als Geschichte des Animus, der
von nahöstlichen, iranischen Anstößen ausgehend über hellenistische Mysterien­
kulte, den spätantiken Synkretismus, gnostische Systeme, die mittelalterliche
Alchemie bis zur modernen Psychologie des Unbewußten verläuft. Dabei geht
es um ein Welterleben, das geprägt ist von der Idee eines seit der Schöpfung in
der Physis gefangenen »unteren« Geistes, verbildlicht als der kugelförmige,
zwiegeschlechtige in der Kreatur versenkte Urmensch (Anthropos), der aus der
Physis erlöst werden muß. In dem Auftauchen der Idee von der Gefangenschaft
des Geistes in der Natur manifestiert sich das Hereinbrechen des Animus in die
Welt des mythischen Erlebens. Für letzteres war die Wirklichkeit immer ganz
stofflich-konkretistisch und ganz geistig-symbolisch in einem, Gott-Natur, um
Goethes Chiffre zu benutzen. In diesem Rahmen hätte nie von einer Gefangen­
schaft des Geistes gesprochen werden können. Es bedarf dort keiner Erlösung
des Geistes aus der Natur, weil er immer schon in der Natur »erlöst« ist. Wenn
auf einmal mit einer kühnen, »willkürlichen« Setzung das, was ehedem die
Geistigkeit und Göttlichkeit der natürlichen Wirklichkeit war, als die Gefangen­
schaft eines unteren (dem oberen Geist des Schöpfers gegenüberstehenden)
Geistes behauptet wird, so bedeutet dies, daß ab damals das Menschentum vom
Animus in Anspruch genommen worden ist, und zwar für sein Projekt, die ani­
mahafte (mythische) Einheit von Natur und Geist radikal zu zerbrechen und den
Geist für sich zu setzen (herauszuisolieren) - um das Welterleben im ganzen auf
eine geistige Stufe zu haben.
Damit der Animus eigens zum Zuge kommen konnte, mußte er sich radi­
kal von dem Reich der Anima und damit von dieser abstoßen. Um dies zu ver­
mögen, mußte er die Syzygie gerade zerreißen. Er mußte reiner Animus sein
wollen, wie der Animus ja überhaupt der Trieb zur Reinheit unter der Führung
des Identitätsprinzips ist, der Trieb zur sauberen Trennung. Aber dieses Zerrei­
ßen der Syzygie vollzog sich immer noch innerhalb der Syzygie, ja als das ani­
musgemäße Walten der Syzygie. Unter der Dominante des Animus zeigt sich die
Paarheit der Syzygie eben nicht mehr als gleichrangiges Nebeneinander, sondern
als Bezogenheit in der Weise des Sich-Abstoßens-von, als Widersachertum. Der
Animus oder Logos hat sich so nicht tatsächlich von der Anima abgespalten, er
benutzt das Animareich nur um seiner Selbstermächtigung willen als Absprung­
basis. Er hat die Syzygie nur so zerrissen, daß er sein Bewußtsein von seiner Zu­
sammengehörigkeit mit der Anima und dem Mythos abgeschnitten hat. Um sich
recht eigentlich von dem Mythos abzustoßen, mußte er diesen verdammen. Der
Mythos gilt nicht nur als Schein, sondern als bloßer Schein, Lügenmärchen,
Aberglauben, dem die nunmehr »eigentliche« Wahrheit, die des Animus, gegen­
übersteht.
Weil der Animus nur in der Syzygie die Syzygie gespalten und sich von
der Anima abgeschnitten hat, ist die Anima jetzt keineswegs verschwunden,
sondern das Denken ist ihrer nur unbewußt geworden und ihr eben dadurch ge­
nau umgekehrt richtiggehend verfallen. Die Verfallenheit der Animusstufe an
die Anima zeigt sich darin, daß der Animus sein eigenes reflektierendes Tun
mythologisiert üild vergegenständlicht. Er macht eine Metaphysik daraus. Er
glaubt an die Ideen als an die eigentliche und höchste Wirklichkeit, er glaubt an
die formale Logik und 8n die Zahlen und Gesetze der Mathematik als an ewige,
gleichsäffi göttliche Ideen, er hypostasiert (d.h. »personifiziert« gleichsam) sein
eigenes Begreifen des Mythos zu metaphysischen Wesenheiten. Sein eigener
neuer Gott wird zum Höchsten Seienden (höchsten Wesen) verdinglicht. Auch
seine herabsetzenden Nichts-als-Erklärungen des Mythos ontologisiert er. So
sagt er etwa mit Euhemeros, die mythischen Götter seien bloß menschliche
Heroen gewesen, die von den Nachkommen in den Himmel gehoben worden
seien. In all dem ist eine Animawirkung innerhalb des Animus zu sehen.
Der Animus ist, eben weil er rein sein wollte (und wollen mußte), nicht
voll zu sich selbst gekommen. Als rein sein Wollender verfällt er in und mit sei­
ner rein logischen Tätigkeit der mythenbildenden Anima. Er könnte offenbar nur
dann wahrhafter, »reiner« Animus sein, wenn er nicht rein von seinem Anderen
bleiben wollte, sondern sich des Zusammengespanntseins mit der Anima gerade
bewußt bliebe. Das Denken wäre nur dann frei von der personifizierenden und
ontologisierenden Anima, wenn es sich bewußt in der Gebundenheit an die Ani­
ma hielte.
Kants kritische Philosophie bedeutet in der abendländischen Seelenge­
schichte das Ereignis der Selbstreflexion des Logos. Kant, wie vor allem Bruno
Liebmcks22 gezeigt hat, macht einen ersten großen Schritt in Richtung auf das
Durchschauen des Durchschauens und entdeckt dabei das Geheimnis der ersten
(das Erwachen des Animus markierenden) Reflexion, welche der Abstoß vom
Mythos war. Kant beginnt zu verstehen (so könnte man seine Leistung in unsere
Sprache und für unseren Zusammenhang einmal übersetzen), daß die Ideen Pla-
tos und der Metaphysik nicht Wirklichkeiten bezeichnen, sondern von dem
menschlichen Logos nur erstellt worden sind, um einem ganz bestimmten
Zweck zu dienen, dem nämlich, eine formallogisch widerspmchsfreie, konsi­
stente Erfahrung zu garantieren. Diese Erfahrung bezieht sich nach Kant dann
allerdings auch nur auf die Erscheinung, also eine zum Zwecke der Wider-
spruchslosigkeit und Behandelbarkeit eigens zubereitete, immer 'schon konstru­
ierte (positivierte) Welt, nicht auf die wirkliche Welt, das Ding an sich.

22 Bruno Liebmcks, Sprache und Bewußtsein, 7 in 9 Bänden, Frankfurt, jetzt Bern, 1964-79.
Kant zeigte damit, was der Preis war, den wir für die formallogische Ein­
helligkeit bezahlen. Der Preis für die Sicherheit der wissenschaftlich erfahrenen
Welt ist die Unwirklichkeit dieser Welt, die Unwirklichkeit der Welt also, in der
wir im Zeitalter der Wissenschaftlichkeit alle leben. Wir könnten hier sagen: es
beginnt dem Bewußtsein mit Kant zu dämmern, daß die Kritik, die vom Animus
aus an der Animawelt des Mythos als eines bloßen Scheins und eines Produktes
der Seele geübt wurde, ebenso auf den Animus seinerseits, d.h. auf die angeblich
wahre Welt, die aus der ersten Animusreflexion hervorging, zutrifft. Auch sie ist
nicht wirkliche Erkenntnis, sondern von der Seele, von Kants transzendentalem
Bewußtsein selbst erzeugt und dann als so erzeugte vergegenständlicht, also
gleichsam animahaft personifiziert, so freilich, daß das Erzeugen vergessen
bleibt. Die formale Logik hat ihre Götter ebensogut wie der Mythos und ist so
ihrerseits mythisch, nur daß der Mythos, der sie ist, in abstrakt-begrifflichem
Gewand vorgetragen wird.
Kant beginnt also damit, uns die Chance zu geben, die Animaverfallenheit
des Logos selber zu durchschauen. Mit Hegel tritt dies wirklich und ausdrück­
lich ins Bewußtsein, auch wenn Hegel das, was er zu sagen hatte, natürlich nicht
mit den Jungschen Begriffen Animus und Anima ausdrückte. Hegel klärt gewis­
sermaßen die Aufklärung (oder den Animus) in einer zweiten Aufklärung über
sich auf. Er durchschaut vollends die Gesetztheit dessen, was er »Wesen« (2.
Teil der Wissenschaft der Logik) nennt, also der ganzen formalen Logik und der
abstrakten Allgemeinbegriffe. Sie sind, modern gesagt, Konstrukte, die nicht der
Erkenntnis der Wahrheit dienen, sondern erfunden sind zu dem Zweck, die Welt
technisch-praktisch berechenbar und behandelbar zu machen. Weil die Allge­
meinbegriffe im Sinn der Tradition gar nicht wirklich »begreifen«, nicht die
wirkliche Welt erreichen, entzieht Hegels Sprache ihnen auch den Ehrennamen
Begriff. Der wirkliche Begriff entsteht nach Hegel erst durch das Zugrundege­
hen des formallogischen, reflexionsphilosophischen Begriffs an seinen eigenen
inneren Widersprüchen. Der zu sich selbst gekommene Animus ist erst der, der
sich seiner eigenen Animaverhaftung und Mythenbildung bewußt geworden ist
und damit die Syzygie wieder anerkennt.23
Als Gegenbewegung gegen die abstrakte Welt des Logos unter der Ägide
des Animus entsteht die Romantik. Von ihr her führt ein teils direkter, teils un­
tergründiger Weg zur modernen Psychologie des Unbewußten. Diese will uns
des anderen Pols der Syzygie, der Anima, wieder bewußt machen. Insbesondere
Jungs Psychologie darf insgesamt als ausdrückliche Wiederentdeckung der Ani­
ma gelten. Damit soll im Unterschied zur romantischen Position nicht eine ein­
fache Repristinierung versucht werden. Es ist kein Rückfall in die Welt vor der
ersten Reflexion. Die moderne Psychologie steht selbst dort, wo sie nicht sehr

23 Mein Hegel-Verständnis, das für dieses ganze Buch tragend ist, verdanke ich zum großen Teil
dem genannten Weik von Bruno Liebrucks.
wissenschaftlich ist, voll auf dem Boden der modernen Wissenschaftlichkeit und
damit auf dem vom Animus eroberten Terrain. Man könnte denken, daß damit
die Syzygie als Syzygie voll ins Bewußtsein getreten und Wirklichkeit gewor­
den wäre.
Aber ich glaube, daß dem nicht so ist. Die Psychologie, auch die von Jung
inaugurierte, hält sich nicht in der Syzygie und ist nicht wahrhaft als lebendige
Gespanntheit der Gegensätze.
Hindernisse. Oder: Von der Psychologie, die außer sich ist

Die Frage nach dem Animus kann nur innerhalb einer Psychologie ver­
nünftig gestellt und beantwortet werden, die den Animus in ihren eigenen An­
satz einbezieht, d.h. ihn nicht nur zu ihrem Gegenstand macht, sondern sich in
ihrem Vorgehen auch selber von ihm leiten läßt. Eine Psychologie jedoch, die
den Animus in ihren Ansatz einbezieht, muß sich auf der Höhe der Syzygie be­
wegen. Denn der Animus ist nur innerhalb der Syzygie und als diese. Und er er­
füllt sich geradezu in der Syzygie, in der Syzygiestufe, und nicht, wenn er für
sich genommen wird, weil er dann der Anima innerhalb der Syzygie verfällt. Er
ist nicht als isoliertes Phänomen, außerhalb seiner Bezogenheit auf und seiner
Verwicklung in seinen Gegensatz, zu fassen. Aber die Syzygie bringt in arge
Verlegenheit, weil sie uroborisch-widersprüchlich ist. Sie stört die Einhelligkeit
des Bewußtseins und damit ein Grundbedürfnis. Es gibt drei Haupthindernisse,
die einer Betrachtung des Animus aus der Syzygie heraus im Wege stehen. Statt
Hindernisse könnte man vielleicht auch Widerstände oder Abwehrformen (im
psychoanalytischen Sinn) sagen. Erstens kann die Syzygie dadurch vermieden
werden, daß man das in ihr Zusammengespannte durch Trennungen fein säuber­
lich auseinanderhält. Zweitens kann der sich dem Animus verdankende Charak­
ter der Syzygie als logische Bewegung und Negativität durch das Festmachen
der Seele an der Positivität eines soliden Substrats abgewehrt werden. Auch hier
wird die Einhelligkeit des Bewußtseins gerettet. Denn indem man die Gegensät­
ze als bloße Erscheinungsformen an einer ihrerseits außerhalb der Syzygie ste­
henden, ja sie eben nur an oder in ihr habenden Substanz festmacht, steht die
gru/wflegende Eindeutigkeit nicht in Frage. Drittens kann sich der subjektive
Wille oder der Eigensinn der Syzygie gegenüber behaupten, indem er mit exter­
nen Interessen an die Seele herantritt. Hier läßt sich das Bewußtsein schon gar
nicht mehr auf die Syzygie ein. Es steht völlig draußen. Inwiefern und wie ge­
nau auch die beiden ersten Abwehrformen eine Psychologie begründen, die au­
ßer sich ist, wird zu zeigen sein.

Trennungen.

Jung hat uns überhaupt erst auf Anima und Animus und ihr syzygisches
Zusammengespanntsein aufmerksam gemacht. Wie kein anderer hat er sich dar­
um bemüht, die Gegensätze sowohl auseinanderzuhalten als auch zu vereinigen.
Und doch gibt es Beispiele dafür, daß er den von der Syzygie erforderten logi­
schen Spannungsbogen: Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit der Gegen­
sätze, nicht immer durchgehalten hat. Dies ist sicher nicht ein Fehler, der ihm
persönlich anzulasten wäre; es ist vielmehr Ausdruck dafür, daß Jung trotz dem
erstaunlichen Maß, in dem er über die Beschränkungen, die das allgemeine Den-
ken des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allem darin sich
ereignenden Denken auferlegte, hinausgeschritten ist, diesem doch auch einen
Tribut entrichten mußte.
Ich habe schon davon gesprochen, daß Jung bei der Ansetzung von ge­
schichtlichen Stufen von der Animus-Anima-Perspektive zu der des Selbst
springt. Dasselbe geschieht auch bei ihm im Hinblick auf die große praktische
Aufgabe der Psychologie, der Heilung des »Risses« »zwischen dem Bewußtsein
[hier in etwa = Animus] und dem Unbewußten [hier in etwa = Anima]«. Sie soll
nach seiner Auffassung durch »Ganzheitssymbole« [also Selbstsymbole], die
das Unbewußte kompensatorisch herstellt, geschehen.1 Jung meint also, daß der
Riß durch die Ganzheit, der Gegensatz von Anima und Animus durch das Selbst
geheilt werden müsse. Das ist eine allopathische Medizin, der Sprung aus der
Syzygie zum Selbst. Homöopathisch müßten similia similibus, Gleiches durch
Gleiches, geheilt werden. Der Riß darf nicht bekämpft, abgewehrt, durch das
Ganz Andere der Ganzheit ersetzt werden. Es bedarf gegen die Gegensätze von
Animus und Anima nicht des Gegengiftes des Selbst. Die Heilung bestünde in
Wahrheit darin, daß der Riß sein darf und in unser Bewußtsein voll hereingelas­
sen, von ihm durchlitten würde, so daß wir uns in ihm hielten und er uns durch­
waltete: weil nämlich der Riß, die Entzweiung, nichts anderes als die freilich
noch negativ erlebte, abgewehrte Syzygie ist. Der Riß hat die Ganzheit nicht au­
ßer sich in einem anderen Archetyp, dem Selbst, sondern er ist als Syzygie
selbst die Ganzheit, so wie die Ganzheit nur als die aktiv ertragene Zerrissenheit
ist. Es genügt nicht, von der Vereinigung der Gegensätze zu sprechen. Syzygie
ist wie gesagt die Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit der Gegensätze.
Jung selber hat das im Grunde auch schon so gesehen, wenn er z.B. sagte:
»Nicht, wie man eine Neurose los wird, hat der Kranke zu lernen, sondern wie
man sie trägt.« Und: »Eine Neurose ist dann wirklich >erledigt<, wenn sie das
falsch eingestellte Ich erledigt hat. Nicht sie wird geheilt, sondern sie heilt
uns.«12 Wir könnten auch sagen: Sie ist schon die Heilung, die aber dadurch nicht
als solche erfahren wird, daß sie abgewehrt wird. Denn die Neurose als Dissozi­
ation ist in ihrem Wesen, so verkehrt ist die Welt der Seele, nichts anderes als
gerade die Abwehr ihrer selbst - und so auch die Abwehr ihrer Heilung. (Die
Abwehr von etwas schlechterdings anderem, irgendeinem »Feind«, wäre nicht
neurotisch. Sie wäre psychologisch unproblematische Feindschaft.)
Ebenfalls habe ich bereits darauf hingewiesen, daß Jung dazu neigte, den
psychologischen Gegensatz von Anima und Animus in den biologischen Gegen­
satz der Männer und Frauen abzudrängen. Wenn der syzygische Widerspruch
von Anima und Animus aus der Psychologie hinaus in die biologischen Fakten
Mann und Frau projiziert sind, dann hat sich die Psychologie erfolgreich seiner
1 GW 9HI § 428
2 C.G. Jung, GW 10 § 360f. (Jung hat das ganze erste Zitat im Druck hervorgehoben.).
entledigt. Die Syzygie kann jetzt höchstens noch ein Gegenstand der (dann mehr
oder weniger positivistischen, personalistischen) psychologischen Forschung
sein und nicht mehr ein Gegensatz, der die Psychologie selbst durchherrscht. Er
ist jetzt dort draußen, und die Psychologie scheint frei von ihm. Die Syzygie
wird vergegenständlicht, ontologisiert, aber nicht im eigenen Bewußtsein oder
als das eigene Bewußtsein durchlitten. Dies ist ein Zeichen dafür, daß die Psy­
chologie hier einer Animaverführung verfallen ist.
Aus der Syzygie wird ein moderner Mythos im pejorativen Sinn des
Wortes gemacht, wenn sie in das draußen außerhalb der Psychologie, außerhalb
des eigenen hier und jetzt denkenden Bewußtseins Gelegene projiziert wird, in
die Biologie oder die realen Männer und Frauen, wie sie dem Allerweltsbewußt-
sein gegeben sind. Warum wird sie ein bloßer Mythos? Weil sie dann an etwas
glaubt und etwas lehrt, was sie nur von außen als etwas empirisch Gegebenes
auf Treu und Glauben hinnehmen kann, wofür sie aber nicht selbst zuständig ist.
Wir kommen auf diese Problematik im nächsten Abschnitt über die Positivität
oder die »anthropological fallacy« noch ausführlich zu sprechen.
Durch die Hintertür macht sich die aus der Psychologie abgedrängte Paar-
heit freilich doch wieder bemerkbar, indem jetzt an die Stelle der eigentlichen
(psychologischen) Syzygie als unerkannte neue »Syzygie« die Beziehungen
zwischen der männlichen oder weiblichen Ichpersönlichkeit und ihrem gegenge­
schlechtlichen Seelenbild tritt (der Mann und seine Anima, die Frau und ihr Ani­
mus). Diese neue »Syzygie« ist freilich keine psychologische mehr, insofern ihr
eines Glied die empirische (d.h. außerpsychologischel) Ichpersönlichkeit ist.
Denn die Ichpersönlichkeit ist nach Jung der »empirische, gewöhnliche, bisheri­
ge Mensch«,3 sie ist der Mensch, wie er sich alltäglicherweise, als »natürliches
Bewußtsein«, also vor der Berührung durch »Psychologie« versteht. (Jung sagt
sowohl »das Ich, d.h. der empirische Mensch« als auch »der Mensch, d.h. sein
Ich«.4)
Die Syzygie wird dabei zwar anerkannt, aber ihre Glieder sind damit
komplementär auf zwei Verschiedene, faktisch Getrennte verteilt. Der Ge­
schlechtergegensatz hält beide Seiten sicher auseinander. Sie können einander
nicht mehr begegnen, weil sie sich in verschiedenen Leibern aufhalten. Das Dra­
ma, das zwischen Anima und Animus als Paar spielt, kann nicht mehr stattfin­
den, da die Anima in dem »Theater« auftritt, das »Mann« heißt, und der Animus
in einem gänzlich anderen »Theater«, das »Frau« heißt. Aus der einen innersee­
lischen Paarbeziehung sind zwei ganz andersartige Paarbeziehungen geworden,
weil beide Partner aus der Syzygie ausgebrochen sind und jetzt fremdgehen: Der
Mann muß seine Anima entwickeln, die Frau ihren Animus. Aber damit gehen
sie nicht nur fremd, sondern die jeweilige Beziehung ist dazu auch ein für alle-

3 Vgl. C.G. Jung, GW 11 § 233.


4 Jung, Erinnerungen, S. 349 bzw. 340.
mal unmöglich gemacht, weil die neuen Parter auf zwei ganz verschiedenen on­
tologischen oder logischen Ebenen stehen und sich so höchsten »per Telefon«
aufeinander beziehen können: gehört doch der eine Teil (die Frau oder der
Mann) in die empirische Realität, während der andere Teil (Animus oder Ani­
ma) imaginalen oder archetypischen Wesens ist. Zwischen beiden liegt so eine
sie grundsätzlich scheidende Grenze. Die neuen Paarbeziehungen kann man so
nur als Mesalliancen bezeichnen.
Die Syzygie ist damit nicht nur unwiderruflich auseinandergerissen, ihre
Glieder sind nicht nur erfolgreich gegeneinander isoliert: ihre Ehe nicht nur offi­
ziell geschieden. Es hat auch eine Veränderung des Begriffs von Beziehung
stattgefunden. Die Idee der Syzygie als uroborische, in ihr selbst widersprüchli­
che Beziehung ist auch logisch, a priori vernichtet. Statt dessen heißt Beziehung
jetzt: Beziehung über eine logische Grenze hinweg, Beziehung der unweigerlich
getrennt und für sich Bleibenden, weil a priori als getrennt Gesetzten, Beziehung
von zwei verschiedenen Ufern aus. Dieser Begriff von Beziehung herrscht fol­
gerichtig auch über die zwischenmenschlichen Beziehungen heute, und weil die,
die sich beziehen sollen, gleichwohl als für sich Bleibende und Getrennte gesetzt
sind, wird die Beziehung erstens zur »Arbeit« und läuft zweitens über die sub­
jektiven Gefühle als den Kitt, der das Unbezogene und unbezogen Bleibende
dennoch äußerlich zusammenkleben soll. Man muß an seiner Beziehung »arbei­
ten«; weil sie nicht schon von ihrem Begriff her ist, d.h. nicht mehr logische Be­
ziehung ist (Negativität), bedarf es ständiger Streitereien, Versöhnungen, Aus­
einandersetzungen, Partnertherapien, Beziehungsspiele usw., in denen die Be­
ziehung als positives Faktum und als greifbar vor Augen liegend dargestellt wer­
den soll. Die »Beziehung« der positivierten Einzelnen ist nur als spontanes
Agieren oder als methodisch betriebene »Beziehung«, d.h. als abstrakte und sel­
ber positivierte, möglich. Wobei die Arbeit an der Beziehung, indem sie »Bezie­
hung« herstellt, immer zugleich eigentliche, nämlich logische Beziehung verei­
telt (welche nur als das absichtslose Walten der Syzygie oder als das bewußte in
sie Einschwingen sein könnte).
Die Aufklappung der Syzygie, so daß die ursprünglich in ihr uroborisch
Bezogenen nun mit realen Partnern »draußen« gekoppelt werden, bedeutet tiefer
verstanden: Der Animus kommt innerhalb der Syzygie nicht mehr zum Zuge,
die Funktion also, die Anima und Animus reflektieren, in die Psychologie, d.h.
ins eigene Bewußtsein, ins eigene Denken, zurückbiegen würde. Die ganze Sy­
zygie ist der projizierenden, vergegenständlichenden Anima anheimgefallen.
Gleichzeitig bedeutet die Trennung von Anima und Animus durch ihre
Einhausung in den Männern bzw. den Frauen, daß es im Grande nicht eine Psy­
chologie, nicht eine seelische Wirklichkeit gibt, sondern zwei: eine weibliche
Psychologie, eine männliche Psychologie. Wenn man in diesem Punkt konse­
quent wäre, was man nicht ist, könnten Männer und Frauen gar nicht miteinan­
der reden. Sie säßen gar nicht in demselben Boot. Sie hätten auch nicht eine ge­
meinsame Welt, es gäbe nicht ein Denken, eine Wahrheit, eine Sprache, die für
sie beide gälte. Und es scheint fast, als ob die Gegenwart die Absicht verfolgte,
mit Hilfe von manchen Bestrebungen der feministischen Bewegung, besonders
dem unversöhnlichen Kampf gegen das sogenannte Patriarchat und ß r das Ma-
triachale, die Trennung der Syzygie voranzutreiben, indem sie ganz
pragmatisch-real die gemeinsame Welt, die gemeinsame Wahrheit und Sprache
der Menschheit nach Kräften in je zwei verschiedene auseinanderdividiert und
die eine gegen die andere ausspielt. Wenn es nach Jung »nur eine Erde gibt, und
Osten und Westen die eine Menschheit nicht in zwei verschiedene Hälften zu
zerreißen vermögen«^, dann tut doch unsere Zeit ihr Bestes, die eine Menschheit
entlang den Grenzen der biologischen Geschlechter auseinanderzureißen.
Eine gemeinsame Welt heißt nicht, daß ontisch jeder die gleichen Erfah­
rungen machen muß. Der, der in einem Dorf in den Anden geboren wird, macht
vermutlich völlig andere Erfahrungen als das Kind bürgerlicher Eltern in
Deutschland oder Kalifornien. So kann es auch sein, daß Mädchen und Frauen
in manchen Punkten andere Ausschnitte aus der Welt erleben als Jungen und
Männer, und diese untereinander jeweils wieder verschiedene. Und doch bedeu­
tet diese ontische Differenz der Lebenswelten nicht das Auseinanderfallen der
logisch einen Wirklichkeit der Welt in logisch verschiedene Welten. Freilich
scheint die Gegenwart auch bestrebt, in diesem Punkt mit Hilfe der Herstellung
von krassester sozialer Ungleichheit (etwa: Bewohner der Slums von Haarlem —
Mitglieder des »jet set«) ebenfalls ganz realiter in Richtung Spaltung der einen
Welt zu wirken. Die Gegensätze werden so auf die Spitze getrieben, daß die zu­
nächst nur ontische Differenz der Erfahrung nun auch logische Qualität bekom­
men kann.
In den Zusammenhang des biologischen Gegensatzes gehört auch die Nei­
gung der gegenwärtigen Psychologie, auf dem victimization-Komplex herumzu­
reiten. Ganz eindeutig wird die Gewalt auf die eine Seite gestellt, auf der ande­
ren finden sich die unschuldigen, harmlosen Opfer. Schuldige und jungfräuliche
Unschuld werden fein säuberlich gegeneinander isoliert. Der Übergriff des Ani­
mus als Töter wird abgewehrt. Die unberührt bleiben wollende Anima wird ge­
schützt. Das syzygische Berührtwerden der Anima durch den Animus wird so
erfolgreich verhindert. Mit größtem Eifer führt sich die populäre Psychologie
immer neue Horrorgeschichten von Vergewaltigungen und Grausamkeiten vor,
um sich an dieser psychology of blame (Paul Kugler) zu erbauen und das heißt
sich die Reinheit und Harmlosigkeit des Bewußtseins zu bewahren. Oder eigent­
lich nicht zu bewahren, denn die Verwundung ist längst geschehen. Sie soll ver­
drängt, geleugnet, ungeschehen gemacht werden. Die große therapeutische Auf­
gabe der Psychologie, nämlich immer beide Seiten (Ich und Schatten, Bewußt­
sein und Unbewußtes, Anima und Animus, Täter und Opfer) zusammenzuhal-
ten, ohne ihre Gegensätzlichkeit zu verwischen, wird dann nicht mehr wahrge-
nommen.
Das Versäumnis, den Animus als Animus walten zu lassen, zeigt sich
auch in buchstäblichen Trennungen, die wir bei Jung finden. Da ist - zunächst
ein ganz konkretistisches Beispiel - der Gegensatz von Küsnacht und Bollingen,
Persönlichkeit Nr. 1 und Persönlichkeit Nr. 2. Zusammen stellen sie die gelebte
Syzygie dar. Aber die Syzygie wird animahaft agiert, aus der Seele herausge­
stellt, vergegenständlicht. Jungs Turm in Bollingen ist der Versuch, sozusagen
eine reine Animawelt aufzubauen. Jung wollte eine »Wohnstätte, welche den
Urgefiihlen des Menschen entspricht«6, wo er »wie ausgebreitet in die Land­
schaft und die Dinge« sein konnte und »selber in jedem Baum, im Plätschern der
Wellen, in den Wolken, den Tieren, die kommen und gehen, und in den Dingen«
lebte.7 Das Heute blieb draußen. »Nichts stört die Toten, kein elektrisches Licht
und kein Telephon«.8 Dem stand sein Haus in Küsnacht gegenüber, das sozusa­
gen der buchstäblichen Animusexistenz in der modernen Welt und als Wissen­
schaftler Vorbehalten war. Die Syzygie ist sichtbar, aber sie wird wieder auf
zwei getrennte buchstäbliche Bereiche verteilt.
Durch die Verteilung muß der Widerspruch nicht erfahren, nicht durchlit­
ten werden. Animus und Anima werden wie in den gegensätzlichen Geschlech­
tern voneinander isoliert, sie dürfen sich nicht begegnen und vereinigen, was,
wenn es stattfinden würde, zum Untergang der ganzen Bewußtseinsstufe oder
des logischen Status, in dem sich das moderne Denken mitsamt Wissenschaften
und Psychologie eingehaust hat, führen müßte. So aber kann das Bewußtsein bei
Verstand bleiben. Seine Einhelligkeit ist durch die Trennung, die den Wider­
sprach vermeiden hilft, gerettet.
Wird uns mit diesen Trennungen nicht eine »Psychologie ä comparti-
ments« ad oculos demonstriert, bei der »die eine Hand nie [weiß], was die ande­
re tut«9? Es gibt zwei Welten, die der Persönlichkeit Nr. 2 in Bollingen und die
der Nr. 1 in Küsnacht. Gewiß, in Jung selbst sind beide vereinigt. Er weiß um
die Syzygie von Nr. 1 und Nr. 2 in sich. Er weiß, wenn er in Bollingen ist, daß
es auch Küsnacht gibt. So ist er der leibhafte Gattungsbegriff, der Nr. 1 und
Nr. 2 als Arten abstrakt unter sich subsumiert. Aber die Nr. 2 in ihm weiß nichts
von der Nr. 1 und umgekehrt, jede bleibt unberührt von der anderen für sich an
ihrem besonderen Ort.
Die Isolierung schlägt sich auch in der Theorie nieder, nämlich in dem
Begriff der Kompensation, der eine bedeutende Rolle in Jungs Denken spielt.
Die Einseitigkeit des modernen Bewußtseins wird nach Jung durch Bilder und

6 Erinnerungen S. 227.
7 Erinnerungen S. 229.
8 Erinnerungen S. 241.
9 Erinnerungen S. 150.
Impulse aus dem Unbewußten kompensiert. Und in der Kompensation sieht
Jung etwas Heilendes. Aber, so frage ich, was nützt der Ausgleich der Einseitig­
keit, wo doch das Kompensierende die Einseitigkeit dessen, was es ausgleicht,
gerade bestätigt? In dem Denken hinter diesem Begriff steht das Modell der
Waage. Kompensation besagt: Je mehr in der einen Waagschale ist, desto mehr
soll auch in der anderen sein. Die Gegensätze wiegen einander auf, aber eben
dadurch bleiben sie in ihrer jeweiligen Waagschale für sich. Die Theorie der
Kompensation läßt keinen Raum für die gegenseitige Durchdringung, für die le­
bendige Dialektik der Gegensätze, kraft welcher Dialektik sich der eine von dem
anderen abstoßen würde, und zwar so, daß er diesen gleichzeitig überwinden
und mit sich führen würde.
Wir brauchen keine Kompensation der Aufklärung durch Romantik oder
neuplatonische Renaissance und keine Kompensation der Romantik durch die
Aufklärung, weil die Kompensation das, was sie kompensiert, unverwandelt lie­
genläßt und ihm nur etwas anderes äußerlich entgegensetzt. Wir brauchen keine
Kompensation des Monotheismus des Bewußtseins durch einen Polytheismus
der Anima. Es genügt nicht in unserer rationalistischen, verwissenschaftlichten
Welt sich umstandslos den Träumen zuzuwenden, »einfach so« den Weg nach
innen zu gehen. Uns Modernen hilft nicht weiter, zu versuchen, uns unmittelbar
auf den Individuationsweg zu begeben und »Urerfahrang zu machen«, wie Jung
sagte.10 Als Kompensation des rationalistischen Geistes der Aufklärung bedeutet
die Romantik mitsamt der aus ihr hervorgegangenen Tiefenpsychologie den
kurzerhand vollzogenen Ausstieg aus unserer wirklichen Tradition durch den
Versuch, unmittelbar an einer alternativen Tradition anzuknüpfen, die jedoch
nicht (mehr) die unsere ist. Die Tiefenpsychologie geht nicht auf dem durch die
Stichworte Aufklärung, Kant, Hegel bezeichneten Weg weiter, sie stellt sich als
Kind der Romantik und/oder des wissenschaftlichen 19. Jahrhunderts einfach
nur daneben. Mit dem Jahr 1831, dem Jahr von Hegels Tod, ist unsere wirkliche
Geschichte, die Geschichte der abendländischen Seele, in einem tieferen Sinn
abgerissen, eingefroren worden. Was danach kommt, ist letztendlich geschichts­
los. Es hat die Tradition und das in ihr erreichte seelische Problemniveau nicht
aufgenommen und lebendig fortgeführt. Auch Jungs Rückgriff auf die unter­
gründigen neuplatonischen Traditionen wie die der Alchemie verknüpft uns
nicht mit unserer wirklichen Geschichte; er dient auch nur der allopathischen
Kompensation durch alternative Traditionen, die der offiziellen und wirklichen
Tradition entgegengesetzt werden. Der Rückgriff auf die Alchemie erreicht un­
sere Zeit und die Tiefe des Problems nicht.
Eine weitere Trennung im Denken Jungs, mit der die Syzygie abgewehrt
wurde, ist die von Erfahrung und Wissenschaft von dieser Erfahrung. Auf der
Seite der Erfahrung ließ Jung sich voll und ganz auf die seelische Wirklichkeit,
die Anima ein. Der Bilderwelt der Seele, der Mythologie, den phantastischen
Vorstellungen der Alchemie ließ Jung freien Raum in seinem Denken. Auf der
Seite der Wissenschaft beharrte er auf seiner Wissenschaftlichkeit im Sinne der
empirischen Forschung. Reine Anima hier, reiner Animus dort, in völliger Dis­
junktion, wenigstens was den ausdrücklichen Ansatz anlangt. Denn Jung war
viel zu sehr wirklicher Psychologe, als daß sich die Syzygie nicht auch entgegen
der aus dieser logischen Bewußtseinsstufe stammenden Trennungen in seiner
Arbeit, seinem Werk, ja sogar in seinem Stil fruchtbar durchgesetzt hätte. In sei­
nem expliziten Ansatz hält Jung aber an der Trennung fest. Ja, die Hartnäckig­
keit, mit der Jung entgegen aller Plausibilität auf seiner empirischen Wissen­
schaftlichkeit bestand, verrät in sich selber eine Animusreaktion im negativen
Sinn, das Festhalten an einer bloßen Meinung, einem Prinzip.
Ich glaube, dieses animushafte Pochen auf seiner Wissenschaftlichkeit
war die Kompensation dafür, daß der Animus nicht in die animahafte Urerfah-
rung selber hineingelassen wurde, so wie die Erfahrung des Individuationspro­
zesses, also der Entwicklung der seelischen Bilderwelt, die Kompensation dafür
war, daß Jung auf der Selbsterhaltung der Persönlichkeit Nr. 1 und ihrer an seine
Zeit angepaßten Wissenschaftlichkeit bestand. Die seelische Erfahrung war als
Inhalt der wissenschaftlichen Psychologie gegen diese immunisiert, wie die
Wissenschaftlichkeit gegen die Gehalte der seelischen Erfahrung immunisiert
war und die Beziehungen zwischen dem (außerpsychologischen) Ich und dem
Unbewußten sich an die Stelle der Beziehungen zwischen Animus und Anima
zu drängen neigten.
Jung betrieb also reine Psychologie. Und um die Psychologie rein zu hal­
ten, wurde das Zusammenkommen von Anima und Animus dadurch verhindert,
daß die Anima ihren ausschließlichen Ort in der Erfahrung und der Animus sei­
nen ausschließlichen Ort in der Wissenschaftlichkeit der psychologischen Lehre
erhielt. In der Erfahrung, d.h. im Erleben und als Inhalt oder Thema der Psycho­
logie, durfte und sollte die coniunctio stattfinden. Hier wurde der Syzygie breiter
Raum eingeräumt. Aber die Psychologie selber ist in ihrem eigenen Tun die
Auseinanderhaltung und Verhinderung der Syzygie durch die Verteilung von
Anima und Animus auf zwei getrennte Seiten, Theorie, empirische Wissenschaft
hier - Praxis, psychischer Erlebnisprozeß und Gehalte der Erfahrung dort. Die
reine Psychologie bleibt wie die vorangegangene Animus-Logos-Stufe, die sie
doch kompensieren will, einseitig der Anima verfallen, der Anima, die bewirkt,
daß die Psychologie die seelischen Inhalte, hier die Syzygie, nicht erinnert und
aushält, in sich austrägt, sondern sie aus sich herausstellt und agiert als selbstän­
dige objektivierte Gebilde draußen, außerhalb ihrer selbst als Subjekt: empiri­
sche Wissenschaft und Urerfahrung.
Aus Jungs verständlichem Wunsch heraus, daß seine Psychologie dem
Wissenschaftsbegriff seiner Zeit genügen möge, entsteht eine Trennung, die uns
bei der Diskussion der Syzygie ganz unmittelbar etwas angeht: die Trennung
zwischen »Seele« (»Anima«) und »Psyche«, die bezeichnender Weise in einem
»Definitionen« überschriebenen Kapitel des Typenbuches vorgenommen wird.
Es heißt dort sub voce Seele:
Ich habe mich ... veranlaßt gesehen, eine begriffliche Unterscheidung durchzuführen
zwischen S. [Seele] und Psyche. Unter Psyche verstehe ich die Gesamtheit aller psy­
chischen Vorgänge... Unter S. dagegen verstehe ich einen bestimmten, abgegrenzten
Funktionskomplex...11

Diese Unterscheidung macht die Seele als Syzygie innerhalb ihrer. Aber sie hebt
diese Unterscheidung innerhalb ihrer auch wieder auf. Denn Anima, Seele oder
Psyche ist gerade die Einheit von Identität und Differenz von Seele als Anima
(»Seelenbild«, »bestimmter, abgegrenzter Funktionskomplex«, »innere Persön­
lichkeit«) und Seele als Syzygie (»Psyche«, »Gesamtheit aller psychischen Vor­
gänge«, ja sogar »Anima mundi«), so, wie sie auch die Einheit von Seele als
»bestimmendem Selbst« und Seele als »bestimmbarem Selbst« ist, die Kant
trennen wollte.1112 Schreiben wir die Differenz oder Dissoziation definitorisch
fest, dann folgen wir zwar der einen Bewegungsrichtung der inneren Dialektik
des Seelenbegriffes, nämlich der zur Unterscheidung, verschließen jedoch uns
und die Psychologie der ihr ebenso wesentlichen anderen Richtung zur Aufhe­
bung dieser von der Seele selbst getroffenen Unterscheidung. Damit würde die
Psychologie zwar wissenschaftlich salonfähig, aber sie würde auch aufhören,
Psychologie zu sein.
Es ist bewegend zu sehen, daß Jung die psychologische Größe besessen
hat, sich gerade nicht an die von ihm selbst aufgestellten Definitionen zu halten,
die nämlich psychologisch haarsträubend wären, wenn sie als Definitionen die
Macht über das Denken ergriffen. Jung benutzt das Wort Seele indiscriminately
für »Seele«, Anima, »Seelenbild« (Anima oder Animus) und Psyche. Es bleibt
dem Leser überlassen, durch eigenes Mitdenken aus dem Zusammenhang zu er­
schließen, worauf gerade der Akzent liegt. Das hat der englische Übersetzer der
Werke Jungs zu spüren bekommen, aber er hat offenbar die wahrhaft psycholo­
gische Zumutung, die darin liegt, nicht ausgehalten und nicht an den englischen
Leser weitergeben wollen, sondern diesen durch eine sprachliche Unterschei­
dung von ihr entlasten wollen:
The translation o f ... Seele presents almost unsuperable difficulties ... because it com-
bines the two words >psyche< and >soul<...
... either Psyche or Seele - has been used with reference to the totality of all psychic
processes...13

11 GW 6 § 877.
12 KrV A 402.
13 CW 12 §9 Fußnote 2.
Nachdem Jung noch ohne explizite Begründung die eigene definitorische
Festlegung auf eine eindeutige Unterscheidung von Psyche und Seele / Anima in
seiner eigenen Praxis des Redens Lügen gestraft hatte, war es das nicht hoch ge­
nug zu schätzende Verdienst von James Hillman, auch theoretisch die Einheit
von Anima und Seele herausgestellt und sogar als aus Jungs eigenen Äußerun­
gen begründbar erwiesen zu haben.14 The »distinction between soul and the soul
or my soul did not bother the alchemists, and it was a distinction upon which
Neoplatonism refused to insist, for Plotinus was able to discuss psychology on
both levels at once...«15 Wir sollten ihm folgen. Die Uneindeutigkeit von »See­
le«, »Anima«, »Psyche« ist psychologisch unverzichtbar.
Die vielleicht entscheidendste Trennung im Denken Jungs kommt in sei­
nen folgenden Feststellungen zum Ausdruck:
Wenn ich daher als Psychologe sage, Gott sei ein Archetypus, so meine ich damit
den Typus in der Seele, was bekanntlich von typos = Schlag, Einprägung herkommt.
Psychologie als Wissenschaft von der Seele hat sich auf ihren Gegenstand zu be­
schränken und sich davor zu hüten, ihre Grenzen etwa durch metaphysische Behaup­
tungen oder sonstige Glaubensbekenntnisse zu überschreiten. ... Über eine mögliche
Existenz Gottes ist damit weder positiv noch negativ etwas ausgesagt...16

Jung übt hier die von Kant gelernte Scheidekunst zwischen phainomenon
und noumenon (freilich in einer Kant nicht gemäßen Weise); er praktiziert, ohne
Flusserl zur Kenntnis genommen zu haben, dessen Epoche. Die Frage der Wirk­
lichkeit und Wahrheit bleibt ausgeklammert. Die Psychologie muß rein bleiben,
sie darf sich nur mit dem bloßen Gottesbild in der Seele und mit der Phänome­
nologie von zeitlosen Wesenheiten befassen, dieses Bilderreich der Anima bleibt
aber jungfräulich unberührt. Das mag zwar die Tugend der Wissenschaftlichkeit
sein, aber es ist der Verzicht auf wirkliche Psychologie. (Daß Jung auch ganz
anders denken und reden konnte, habe ich oben in den Abschnitten über das Pa­
radigma der Psychologie anhand seiner Ausführungen über die visionäre Dich­
tung gezeigt, wo dem Erlebten gerade nicht die Wirklichkeit abgesprochen wur­
de.)
Hier waltet eine Arbeitsteilung. Die Psychologie betreibt empirische Phä­
nomenologie der zeitlosen Wesenheiten und hütet sich, die Wahrheitsfrage zu
stellen, die dann einem anderen Fach, der Theologie oder Metaphysik überlassen
14 James Hillman, Anima: An Anatomy ofa Personifled Notion, Dallas (Spring) 1985, S. 73ff. Siehe
auch ders., The Myth o f Analysis, Evanston (Northwestern University Press) 1972, S. 49-61. Al­
lerdings versucht er mehr einseitig, Psyche und Psychologie aus dem Archetyp der Anima abzu­
leiten, während ich von der Syzygie her kommend gleichermaßen auch die Setzung (und Heraus­
fällung) der »begrenzten« Anima durch die und aus der umfassenden Psyche (als Syzygie) beto­
ne: die Seele als »Psyche« gründet in den Anima-Stimmungen nur in dem Maße, wie auch umge­
kehrt die Anima die (eine Seite der) Selbstauslegung der Psyche ist.
15 James Hillman, Anima S. 79.
16 GW 12 §15.
bleibt, welche zwar ihrerseits die wirkliche Wahrheit Gottes behaupten mögen,
aber für die von ihnen behauptete Wahrheit nur subjektiven Glauben verlangen
können, weil sie, entsprechend, von der empirischen Phänomenologie des wirk­
lichen Erlebens logisch abgeschnitten sind. Das ist die festgeschriebene Neuro­
se, die sanktionierte Entzweiung, welche zu heilen die Psychologie doch eigent­
lich angetreten war. Jedes der beiden Fächer hat sein eigenes unverzichtbares
Anderes immer nur außer sich in dem je anderen Fach. Beide spielen zusammen
das Spiel von Hase und Igel. Wenn der Hase auf der einen Seite anlangt, ist der
Igel immer schon auf der anderen. Wenn die Rede von Gott sich nur auf das
Bild in der Seele bezieht (»nichts als«!) und für dieses keine Erkenntnisdignität
beansprucht, dann ist das nicht ein Zeichen von erkenntnistheoretischer Beschei­
dung, sondern die unerkannte und unfreiwillige Anmaßung, welche da vom
Höchsten (von Gott) zu reden vorgibt, wo sie doch selber eingestanden hat, von
gar nichts zu reden, insofern sie den Bezug des Bildes zur Wirklichkeit aus­
drücklich aus der Psychologie ausgesperrt (eingeklammert) hat.
Reine Psychologie, das heißt Psychologie rein unter der Ägide der Anima,
der Seele, ist keine wirkliche Psychologie. Wirklich würde die Psychologie erst,
wenn sie in ihr selber vom Animus infiziert würde, weil, wie wir von Hillman
hörten, die Psychologie eben die wechselseitige Durchdringung von Psyche und
Logos im Rahmen der Syzygie ist. Diese Durchdringung könnte sie aber nur
sein, wenn sie sich selber von der Syzygie durchdringen ließe. Erst durch ihr ei­
genes Anderes, den Logos, käme die Psychologie zu sich selbst. Wenn Jungs
Einsicht stimmt, daß jemand, »der die ... Bedeutung des Syzygienmotivs (Paa­
rungsmotiv) in der Psychologie ... nicht kennt,... in der Angelegenheit des Ani­
mabegriffes schwerlich mitreden« kann,17 dann müssen wir auch einsehen, daß
man der Anima nichts Gutes tut, wenn man sie für sich, also rein und unschul­
dig, zu fördern sucht. Die Anima findet sich selbst erst in ihrem eigenen Gegen­
satz, in dem, was sie nicht ist, dem Animus. Der Weg zu ihr führt von ihr weg.
Wir dürfen freilich nie vergessen, daß auch die Abwehr der Syzygie nur
wieder eine Manifestation eben der Syzygie ist. In der Psychologie rein unter
der Ägide der Anima macht sich gerade das Reinheitsstreben des Animus gel­
tend; dieses zeigt also gleichsam eine Animusverfallenheit der Anima, so wie
auf der reinen Animusstufe die Anima zur Hypostasierang der Ergebnisse des
animushaften Tuns verführte. Dies rührt daher, daß die Syzygie die Einheit von
Einheit und Gegensätzlichkeit ist und beide Seiten sich nicht als abstrakte Ge­
gensätze gegenüberstehen.
In der reinen Psychologie taucht das Thema der animushaften Reinheit
animahaft als das Inzestmotiv auf. Eine wirkliche Psychologie wäre nun die, die
die Überschreitung der Inzestschranke nicht nur dem Innenleben des Patienten
zumutete, sondern diesen Tabubruch in ihrem eigenen Ansatz selber wagte. Sie
würde sich nicht mit großbürgerlicher Entsagung auf »bloße Psychologie« zu­
rückziehen, sondern sie würde den Übergriff und die Überschreitung ihres zum
Zwecke ihres Harmlosbleibens säuberlich abgesteckten Fachbereichs in Rich­
tung auf Wirklichkeitserkenntnis und gnösis toü theoü zu begehen haben, frei­
lich nicht mir nichts dir nichts. »A psychology of transgression« (Hillman) darf
die Transgression nicht nur fordern oder ins Erleben abdrängen; sie muß auf ihr
als längst vollzogener beruhen, muß sie selbst sein, ganz so, wie auch der My­
thos diese Transgression immer schon war. Denn der Mythos, das waren nicht
nur unterhaltsame Geschichten, sondern Erkenntnis der wirklichen Welt, wie sie
an und für sich war. Jung: Der Primitive ist »noch träumend eingeschlossen in
seine Seele, in die Welt, wie sie wirklich ist, noch nicht verzerrt durch die Er­
kenntnisschwierigkeiten eines dämmernden Verstandes. « 18
Eine wirkliche Psychologie würde sich demnach nicht um die Frage der
Wirklichkeit und Wahrheit der Bilder drücken, aus bloßer Angst, den Wissen­
schaftsstatus zu verlieren, weil sie eingesehen hätte, daß wirklicher Mythos, der
uns mit den Ahnen verbindet, und wirkliche Urerfahrung nur dann gegeben ist,
wenn die Bilder der Seele wahrhaft unsere Weltwirklichkeit treffen. Die Psycho­
logie ist nur in dem Maße wirklich, wie sie Wirklichkeit erreicht. Gott als bloßes
Bild in der Seele gehörte, gerade wenn damit weder positiv noch negativ etwas
über eine mögliche (nicht einmal wirkliche!) Existenz Gottes ausgesagt ist, ins
Kino. Psychologie als Fach der bloßen Innerlichkeit wäre nichts als subjektivi-
stischer Ästhetizismus, dem dann natürlich durch den Appell an die ethische
Verantwortung die nötige Verbindlichkeit erst nachgeliefert werden muß. Die
Husserlsche Epoche ist das ins Philosophische gehobene Verhütungsmittel, die
sublimierte Enthaltsamkeit. Wirkliche Erkenntnis der Wahrheit darf weder für
Husserl noch für die sich wissenschaftlich gebende Psychologie sein. Aber Er­
kenntnis, besonders in dem Sinn von Erkenntnis, wie Adam sein Weib erkannte,
ist psychologisch nichts anderes als das Ereignis der coniunctio, der wirklichen
Begegnung von Mensch und Welt im Rahmen der Syzygie.
Mit der Wirklichkeit Gottes steht oder fällt die Wirklichkeit des Menschen
(als Menschen), steht oder fällt auch die Möglichkeit, wirkliche Psychologie zu
treiben. Genauso hängt an der Wirklichkeit Gottes die Wirklichkeit der Welt als
Welt des Menschen, im Unterschied zur positivierten Realität. Warum das so ist,
kann hier nicht näher gezeigt werden. Ich setze es wie schon in dem Kapitel
über das inhaltliche Paradigma der Psychologie einfach nur hierhin. Es hat aber
keinen Sinn, sich um das Aussprechen dieser Einsicht hemmzudrücken oder sei
es aus Rücksicht auf den Zeitgeschmack, sei es zur Schonung der Unschuld des
herrschenden Bewußtseins oder sei es aus Zärtlichkeit gegen sich selbst sie eu­
phemistisch zu verpacken, —auch wenn obige Sätze noch so peinlich sind. Das,
worum es geht, ist zu wichtig. Wir müssen, wohl oder übel, Farbe bekennen.
18 C.G. Jung, GW 8 § 682 (meine Hervorhebung).
Aber dies nicht im Sinn eines G/awbenjbekenntnisses oder »metaphysi­
scher Behauptungen«, die Jung mit vollem Recht von sich wies, die ihm aber
mich als so große Gefahren erschienen, daß er Gott meist in bis zur Unkenntlich­
keit entstellender wissenschaftlich-psychologischer Redeweise glaubte verstek-
ken zu müssen, sicher nicht nur aus Angst vor dem Geschrei der Böotier, son­
dern mehr wohl, weil er meist nur als einzige Alternative von »im Glauben be­
hauptetem Gott« den Gott als bloßes Bild in der Seele annahm. Aber das ist ge­
rade keine wirkliche Alternative. Beide gehören vielmehr auf dieselbe Seite in­
nerhalb der eigentlichen Alternative, welche jenen beiden den logisch angewie­
senen Gott gegenüberstellt und mit welcher der »mittelalterliche« Bewußtseins-
slulus, in dem jene beiden Seiten der ersten Alternative angesiedelt bleiben, zu­
gunsten einer neuen logischen Stufe überschritten wird. Damit wäre dann auch
Jungs großes, weil bereits die Wahrheit eines höheren logischen Bewußtseins-
slalus (wenn freilich immer noch nur behauptendes und sie so gerade noch von
der festgehaltenen obsoleten Stufe aus) benennendes Wort zum Thema Gott:
»Ich glaube nicht, ich weiß« ins Recht gesetzt. Jung vermochte vielfach bereits
auf der höheren Stufe zu erfahren, aber ihm fehlten die logischen Mittel, diesen
Slatus und die innerhalb seiner gemachten Erfahrungen in einer dem Status ge­
mäßen Sprache wirklich auszusprechen.
In einem Artikel über »Nietzsche’s Madness as Soul-Making« 19 werden
Jungs und Nietzsches Grundhaltung und Grundanliegen verglichen.
Unlike Nietzsche, Jung was committed finally not to the soul but to spirit Nietzsche
used spirit as he used matter: he mined it for soul. W hat Nietzsche was after was not
gold but silver. Jung was after the gold. His real object was God.

Uns braucht hier nicht die Frage nach der Stimmigkeit der (fragwürdigen)
Nietzsche- und Jungdeutungen zu beschäftigen, auch nicht die Frage, ob dann,
wenn sei es »spirit«, sei es »matter« benutzt oder verwendet (»used«) wird, man
überhaupt erwarten darf, am Ende bei »soul« anzukommen. In diesem Kapitel
(Iber die Trennungen interessiert nur, daß hier soul und spirit, Silber und Gold
gegeneinander ausgespielt werden. Das ist ein Topos, dem man in der Archety-
pischen Psychologie öfter begegnen kann. Die ungeheuer wichtige Differenzie­
rung von Seele und Geist (und damit indirekt auch von Anima und Animus), die
Hillman besonders in seinem Aufsatz »Peaks and Vales« 20 herausgearbeitet hat,
wird einseitig zum Entweder-Oder festgeklopft und auf zwei Denker verteilt.
Die für die Syzygie genauso wie die Trennung unverzichtbare Seite der Vereini­
gung der Gegensätze fällt aus. So wie der frühe Jung die Anima auf die Seite der
Männer, den Animus auf die der Frauen gebracht hat, so wird die Seele hier in

I*) Ross Woodman, »Nietzsche’s Madness as Soul-Making«, Spring 1986, S. 101-118, hier S. 111.
James Hillman, »Peaks and Vales«, in: Ders. u.a., Puer Papers, Irving (Spring Publications)
1979, S. 54-74.
die »Nietzsche« beschriftete Schublade und der Geist in die »Jung« beschriftete
Schublade eingesperrt, so daß die coniunctio von vorherein ausgeschlossen ist.
Jetzt muß man wählen: entweder Gold oder Silber, entweder Sol oder Luna, ent­
weder Jung oder Nietzsche, entweder Gott oder die Seele. Die Psychologie, die
sich der Seele verschreibt, bleibt dann in ewiger Unschuld und Unberührtheit in
einem reinen Bilderreich eingeschlossen. Sie wird zu einem Hesseschen Glas­
perlenspiel. Die Seele spiegelt sich unendlich in ihr selbst, ohne je die Wirklich­
keit zu berühren oder von ihr berührt zu werden. Und umgekehrt die Seele, die
sich dem Geist verschreibt, wird rein spirituell; sie hebt ab und berührt die Wirk­
lichkeit ebenfalls nicht mehr. Aber eine wirkliche Psychologie verschreibt sich
weder der Seele noch dem Geist, sondern beiden (was freilich ein Widersprach
ist). Denn: »Eben dies ist Psychologie, die wechselseitige Durchdringung von
Psyche und Logos [Anima und Animus, Sol und Luna, Silber und Gold] im
Rahmen der Syzygie.« Die Frage nach Gott, die Jung in der Tat stellte, kann
nicht als rein spirituell abgetan und aus der Psychologie verdrängt werden. Sie
drückt das ureigenste, unverzichtbare Verlangen der Seele aus, so wie es die ur­
eigenste Sehnsucht des Geistes ist, Seele zu werden, ja sogar konkrete, »leibhaf­
te« Wirklichkeit zu werden (Inkarnation). Die saubere Trennung (Spaltung) die­
ses einen, in sich widersprüchlichen Ganzen wird veranstaltet, um das herr­
schende Bewußtsein in Sicherheit zu wiegen und das Leben in der (alles andere
als harmlosen) Harmlosigkeit und Beliebigkeit von Nietzsches Letztem Men­
schen anzusiedeln, jenem Menschen, der sich heute selbst als »postmodem« ver­
steht.

Positivität. Oder: Die »anthropologicalfallacy«.

Eine Psychologie, die durch Trennung konstituiert wird, ist außer sich,
aber nicht weil sie sich von der Syzygie entfernt hätte, sondern weil sie im Ge­
genteil zu tief in die Syzygie eingetreten ist, so tief, daß sie diese ganz hinter
sich und vor sich nur noch ihre gegensätzlichen »Seiten« oder »Teile« hat, in die
die Syzygie dann zerfallen ist. Eine solche Psychologie sieht gleichsam den
Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. In dem Augenblick, wo sie die Gegensätze
sauber getrennt vor sich hat, sind diese auch schon zu Positivitäten geworden,
während sie von Hause aus flüssige Momente im syzygischen Leben der Seele
gewesen wären. Mit dem Stichwort Positivität sind wir bereits bei dem Spezifi­
kum der zweiten Form der Abwehr der Syzygie, nämlich ihres rein logischen
(und nicht seienden) Charakters, angelangt. Für die Erörterung dieses Aspekts
nehmen wir einen Satz aus dem oben gebrachten Zitat von M.-L. von Franz über
den Blaubart als Ausgangspunkt: »He draws woman away from life and murders
life for her«. Woman? Die Frau? Nein, nicht die Frau. Nicht diese ist Partnerin,
Gegenspielerin oder Opfer des Blaubart. Zumindest nicht, wenn aus der Syzygie
heraus gedacht wird. Es wäre dies so, wie wenn man das chinesische yang, weil
es männlich ist, zum Partner der empirischen Frau, das yin, weil es weiblich ist,
zum Partner des empirischen Mannes machen wollte. Natürlich sind yin und
yang ihre eigenen Partner oder Gegenspieler, und Animus und Anima genauso.
Wir müssen also sagen: Der Animus in der Gestalt des Blaubart zieht die Anima
aus dem Leben heraus und tötet das Leben für sie.
Die psychologische Differenz. Es ist schon rein methodisch zu fragen:
Mit welchem Recht wird innerhalb des Märchens die eine Gestalt als Archetyp,
nämlich als Animus, genommen, die andere jedoch mit der realen Frau gleichge­
setzt? Wenn die Frau die Partnerin des Animus ist, dann ist primär sie zuständig
für seine Erfahrung, und er gehört nur oder zumindest hauptsächlich in die weib­
liche Psychologie. Die reale Frau mit ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Konflik­
ten wird damit nicht nur zum Bezugspunkt, sondern auch zu dem Horizont, in
dem dann die Frage nach dem Animus einzig noch sinnvollerweise gestellt wer­
den kann. Wir haben schon erörtert, was die Kuppelung des Animus mit der
realen Frau unter dem Aspekt der sauberen Trennungen bedeutet. Hier beschäf­
tigt uns nun ein anderer Gesichtspunkt dieser Paarung: Die Angst vor dem Ab­
sturz in die Grundmetapher der Psychologie und damit in die Psychologie selbst,
ein Absturz, der der freie Fall ins Bodenlose des Logischen ist. Indem die Frau
zuständig für die Erfahrung des Animus gemacht wird (wie umgekehrt der
Mann für die Erfahrung der Anima), gerät die Psychologie außer sich, ganz
buchstäblich. Die Ansetzung der Frau als des Ortes des Erscheinens des Animus
wirft grundsätzliche Fragen über die Konzeption der Psychologie im ganzen auf.
Es ist freilich ein Gemeinplatz, daß die Psychologie es mit den Menschen
und so auch mit den Männern und Frauen, mit den Müttern und Vätern und vor
allem natürlich auch mit den Kindern und Säuglingen zu tun habe. Psychologie
soll das Fach sein, das die Aufgabe hat, das, was »im Innern« der realen
Menschen vorgeht, zu erforschen. So ist es auch nichts Besonderes, wenn M.-L.
von Franz den Animus aus dem Blaubart-Märchen die Frau aus dem Leben zie­
hen läßt. Mehr oder weniger alle Jungianer, die sich über den Märchentypus
vom Blaubart (um jetzt nur einmal bei diesem zu bleiben) geäußert haben, ganz
gleich ob Helmut Barz, Verena Käst, Kathrin Asper oder wer immer, machen
soweit ich sehe das Geschehen in der einen oder anderen Weise am realen
Menschen fest und gehen vom realen Menschen aus. Ganz selbstverständlich
setzen sie voraus, daß das Märchen von den Frauen, ihrer Entwicklung, ihren
Erfahrungen (Barz nennt es sogar ein »feministisches Märchen«!) oder auch um­
gekehrt von den Männern und ihrer Blaubarthaftigkeit handele (Theodor Seifert:
»Ritter Blaubart lebt in jedem Manne, lebt in mir«. Barz: »Blaubart: Wenn einer
vernichtet, was er liebt«). Jetzt ist, anders als bei von Franz, der Blaubart nicht
einmal mehr der archetypische Animus, sondern so etwas wie eine Eigenschaft
der Männer, und das Märchen spielt jetzt in dem, was man beziehungsreich die
»Beziehungskiste« nennt. Anderswo wird die Psychologie sogar ganz ungeniert
als »humanistische Psychologie« definiert.212Die Psychologie scheint eine Un­
terabteilung der Anthropologie zu sein: spricht man als Psychologe, dann spricht
man, so sieht es jetzt aus, eo ipso vom Menschen. Die »psychologische Diffe­
renz«22, die Differenz zwischen Mensch und Seele, zwischen Anthropologie
(Menschenkunde) und Psychologie (Seelenkunde), wird nicht beherzigt.
Ich behaupte: Das ist ein perverses, neurotisches Verständnis von Psycho­
logie; wobei ich mit pervers und neurotisch nicht auf eine persönliche Patholo­
gie der Menschen, die ein solches Verständnis haben, anspiele, sondern aus­
schließlich eine logische, theoretische Perversität des methodischen Ansatzes der
Psychologie selbst meine. Ich setze ihm zunächst einmal ganz unvermittelt, ohne
nähere Begründung, ein anderes Verständnis entgegen, indem ich von einem
Wort Jungs ausgehe:
In Mythen und Märchen wie im Traum sagt die Seele über sich selbst aus, und die
Archetypen offenbaren sich in ihrem natürlichen Zusammenspiel, als »Gestaltung,
Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung«.23

Es ist dies ein Wort, das den menschlichen Rang und die Größe des Psychologen
Jung sichtbar werden läßt. Träume, Mythen, Märchen sprechen nicht über den
realen Träumer, den Patienten oder den Menschen im allgemeinen. Sie handeln
- primär oder letztlich - nicht von dem, was in diesen vorgeht, auch nicht von
seinen Störungen oder den Möglichkeiten seiner inneren Entwicklung. Es ist die
Seele, die mit sich selbst über sich selbst redet, mit Plato zu reden: der lögos
oder diälogos tes psychis prös hauten24. Es ist ein sich selbst genügendes, in
sich geschlossenes Spiel. Ein »objektives« Spiel der Seele mit sich selbst, zu ih­
rer »ewigen« »Unterhaltung«, nicht zu unserem Nutzen, nicht für die Lösung
unserer Probleme und Störungen oder für die Förderung unserer »Selbstentwick­
lung«. Und es ist, im Rahmen unseres Zusammenhangs, das »natürliche Zusam­
menspiel« der Archetypen Anima und Animus innerhalb der und als die Syzy-
gie. Es ist als Gestaltung, Umgestaltung jenes Spiel, das auch Pseudo-Demokri-
tos im Sinn hatte, wenn er von der Natur, die sich erstens ihrer selbst erfreut, die
21 Eine tiefgreifende Diskussion der ganzen Problematik der als »humanistisch« konzipierten Psy­
chologie (im Unterschied zu einer archetypischen Psychologie »mit Göttern«) fmdet sich in
James Hillman, Re-Visioning Psychology, New York u.a. (Harper & Row) 1975.
22 Diesen Ausdruck habe ich zum erstenmal benutzt in W. Giegerich, »Die Gegenwart als Dimen­
sion der Seele - Aktualkonflikt und archetypische Psychotherapie«, Anatyt. Psychol. 9 (1978), S.
99-110. Die psychologische Differenz ist nicht einfach identisch mit der Differenz, die oben bei
der Diskussion des Paradigmas der Psychologie vor uns trat: der Differenz von dem Menschen
als Erdensohn und dem Menschen als Gottessohn. Aber letztere Differenz tut sich nur dann auf,
wenn die psychologische Differenz eröffnet ist, oder sie ist eine Weise, wie sich die psychologi­
sche Differenz darstellen kann.
23 C.G. Jung, GW 9/1 § 400, mit einem Zitat aus Faust II, V. 6287f.
24 Vgl. Plato Theaitetos (189e: Ldgon hön autö prös hautön he psychö diexörchetai ...), Sophistes
(263e:... entös tfis psychös prös hautön diälogos äneu phonös ...). Was genau Plato selbst mit die­
sen Formulierungen im Sinn hatte, braucht uns hier nicht zu interessieren.
sich zweitens selbst besiegt, die drittens über sich herrscht, sprach. Es ist das lo­
gische Leben der Seele.
Hier wird sich natürlich sofort der abstrakte Verstand melden und mit
wegwerfender Geste fragen, wofür die Psychologie, wenn die Träume und My­
then, die sie untersucht, gar nichts über den realen Menschen aussagen, dann
überhaupt noch gut sein solle. Aus dem sich selbst genügenden Spiel falle der
Mensch offenbar ganz heraus, und so habe dieses Spiel uns auch nichts zu sa­
gen. Wir lassen diesen Einwand des gesunden Menschenverstandes hier auf sich
beruhen, werden ihn aber im Sinn behalten und zu gegebener Zeit auf ihn ant­
worten.
Von dem her, was über das sich selbst genügende Spiel der Syzygie ge­
sagt wurde, können wir sagen: das Blaubart-Märchen handelt nicht davon, was
der Animus mit der Frau, schon gar nicht davon, was die Männer mit den Frauen
machen; Goethes »Fischer« (»halb zog sie ihn, halb sank er hin«) handelt nicht
davon, was die Anima (oder die Frau) mit dem Mann macht. Beide handeln da­
von, was die Seele in ihrer »Gestaltung, Umgestaltung« sich selbst antut. Es ist
jeweils ein wahrhaft 'maexseelisches Geschehen (im Unterschied zum subjektiv­
inneren [subjektstufigen] oder intrapersonellen Geschehen).
Da sind auch nicht zwei verschiedene Seelenteile, Aspekte, Komponen­
ten, innere Persönlichkeiten als eigenständige Substanzen oder Wesenheiten, de­
ren Interaktion oder Beziehung in dem syzygischen Drama dargestellt würde. Es
geht auch nicht darum, was das Männliche mit dem Weiblichen und umgekehrt
macht. Sondern es ist ein und dieselbe »Seele«, die, wenn es ihr um ihre Vergei­
stigung, um die erschreckende Kälte des Begriffs (des von ihr selbst Begriffen­
werdens), um die schonungslose Analyse und Reflexion ihrer selbst geht, sich
z.B. als die vom männlichen Animus vergewaltigte oder bedrohte Anima dar­
stellt und die ein anderes Mal, wenn es ihr um den Sog in ihre eigene mythische
Tiefe geht, sich selbst z.B. als den Fischer und die ihn verführende und hinabzie­
hende Nixe imaginiert. In beiden Fällen handelt es sich nicht um eine Auseinan­
dersetzung zwischen buchstäblich »Zweien«. Vielmehr sind sowohl die beiden
jeweiligen Gegenspieler als auch das sich zwischen ihnen abspielende Gesche­
hen im ganzen die Gestalt, die sich die Seele gibt, um sich, also nicht »das
Weibliche« und »das Männliche«, nicht irgendwelche Teile oder Aspekte von
sich, sondern wirklich sich selbst als ganze in einem der vielen, aber bestimmten
Augenblicke ihres Spiels (ihrer archetypischen Situationen und seelischen An­
liegen) darzustellen. Sie faltet sich selbst in die Zweiheit von Anima und Ani­
mus auseinander, kleidet sich in die Kostüme von z.B. Nixe und Fischer oder
Blaubart und Mädchen und legt so die logische Komplexität und die innere Be­
wegtheit je eines einzigen archetypischen Momentes oder Status ihres Lebens in
das narrative oder rituelle Nacheinander einer dramatischen Handlung auseinan­
der. Ganz ähnlich, wie sich die Seele in ihrem einen archetypischen Moment als
»christliche Seele« in das Nacheinander von Geburt, Kreuzigung, Auferstehung,
Himmelfahrt, Zweites Kommen auseinanderlegt, was zusammen auch nur ein
einziges Mysterium ist, das seine Erfüllung, seinen Sinn, seine Grausamkeit und
seine Legitimität in sich selbst hat. Auch in diesem Spiel gibt es, bei der Kreuzi­
gung, nicht wirklich »zwei«, nicht wirklich Täter und Opfer, kein Tun als mora­
lischen Übergriff, sondern das rituelle Handeln der Seele an ihr selbst.
Dieses Handeln jedoch ist logisches Handeln, nicht, wie es der narrativen
oder rituell-dramatischen Auseinanderlegung entsprechen würde, Handeln in der
Zeit, im Nacheinander einzelner Akte. Und die Gewalttat ist nicht buchstäbliche
Gewalttat, sondern logische - selbst wenn dieses logische Drama sich (eben des­
wegen, weil es noch nicht als logisches aufgenommen, d.h. noch nicht gedacht
und begriffen werden kann, sondern noch auf die Hilfe der Anschauung ange­
wiesen ist) als rituelles oder geschichtliches Drama in der Zeit darstellt und dann
eo ipso auch als faktische Gewalttat auftritt. >Logisch< ist genauer als >imaginal<.
Mit beiden Wörtern wird eine Abgrenzung gegenüber dem Buchstäblich-
Natürlichen vorgenommen. Aber >imaginal< bleibt noch zu sehr der Vorstellung
und Anschauung und damit dem natürlichen Bewußtsein verhaftet.
Aus dem logischen Leben der Seele bricht die Denkweise aus, die den
Animus mit der realen Frau und die Anima mit dem realen Mann korreliert. Wir
haben schon gezeigt, daß die Paare gar nicht Zusammenkommen können, wenn
ihre Glieder verschiedenen Seins- oder logischen Ebenen angehören. Vereinigen
könnten sich Mann und Frau, aber nicht Frau und Animus. Der rechtmäßige
Partner des Animus ist die Anima. Die psychologische Vereinigung wäre daher
die Vereinigung von Anima und Logos, Seele und Denken, Urerfahrung und
wacher Vernunft in einem jeden von uns und in dem Inderweltsein des Men­
schen. Die Beziehungen von uns zur Anima, die »Beziehungen zwischen dem
Ich und dem Unbewußten« dagegen gehören als ichhaft bestenfalls in eine psy­
chologische Propädeutik, nicht in die Psychologie selbst. Jung selbst hat diese
Problematik an einer Stelle klar ausgesprochen, in der er sich über Goethes
Faust äußert.
Was im >Faust< geschieht, drückt sich wohl am deutlichsten in der Paris-Helena-
Szene aus. Für den mittelalterlichen Alchemisten hätte diese Szene die geheimnis­
volle >coniunctio< von Sol und Luna in der Retorte bedeutet..,; der Mensch der neue­
ren Zeit aber, verkleidet in der Figur des Faust, erkennt die Projektion und setzt sich
an Stelle des Paris oder Sol und bemächtigt sich der Helena oder Luna, seines inne­
ren weiblichen Gegenstückes. Damit wird nämlich der an sich objektive Vorgang der
Vereinigung zum subjektiven Erlebnis des >artifex<, d.h. des Alchemisten. Anstatt es
zu erkennen, wird er selber zu einer Figur des Dramas. Die subjektive Einmischung
Fausts hat den Nachteil, das eigentliche Ziel des Prozesses, nämlich die Herstellung
des Inkomiptibeln, zu versäumen ... - ein Mißgeschick für den Alchemisten und ein
Anlaß für den Psychologen, Faust zu kritisieren... (Faust kann) es nicht lassen, Paris
bei Helena zu verdrängen ,..25

Indirekt distanziert sich Jung mit seiner Äußerung über Faust und Paris
auch von seiner frühen Idee der »Beziehungen zwischen dem Ich und dem Un­
bewußten«, in denen sich ja ebenfalls die subjektive Einmischung, die Verdrän­
gung des »Paris« durch das Ich bemerkbar macht, während es doch eigentlich
dämm ginge, das »an sich objektive« Drama oder das sich selbst genügende
Spiel der Syzygie zu »erkennen«, zu begreifen (was freilich immer auch soviel
heißt wie: sich im Begreifen seiner auch von ihm eikennen und begreifen zu las­
sen!).
Warum muß der Psychologe Faust wegen seiner subjektiven Einmischung
kritisieren? Sol oder Paris und Helena oder Luna können, wie wir schon gezeigt
haben, einander nicht mehr begegnen, sitzen sie jetzt doch gleichsam in zwei
verschiedenen Käfigen, in dem Mann einerseits und der Frau andererseits, und
sind die in einer fundamentalen, nämlich ontologischen Mesalliance verbunde­
nen neuen Partner a priori durch ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Seinsebe­
nen unwiderruflich voneinander geschieden, so daß der ganze eigentliche Vor­
gang der Vereinigung unmöglich wird. Die Herstellung des Inkorrubtibeln
scheitert zwangsläufig. Und vielleicht ist daraus, daß sich Anima und Animus
heute nicht mehr im objektiven Vorgang der Vereinigung begegnen dürfen und
statt dessen das Ich auf seinem subjektiven Erleben und auf der persönlichen Be­
ziehung besteht, auch die Entartung der geschlechtlichen Begegnung zwischen
Mann und Frau zum Sex und zur sexuellen Technik zu verstehen. Die reale ge­
schlechtliche Begegnung könnte nur seelische Tiefe haben, wenn sie von dem
»objektiven« com'wncfio-Geschehen zwischen Sol und Luna umgriffen, in ihm
einbegriffen wäre und dann auch von ihm durchwirkt würde, aber es nicht erset­
zen wollte. Hier ist daran zu erinnern, daß im Zaubermärchen vom Goldvogel-
und vom Nachtwachenabenteuer-Typus der Held zu der »Prinzessin«, einer Jen­
seitigen, in einer Seelenfahrt gelangt und ihr in einem trancehaften Zustand bei­
wohnt. Gehrts bemerkt dazu: »Insofern die Zeugung im Schlafe stattfindet, be­
zeichnet dieses Märchenbild überhaupt den tieferen Sinn der zeugerischen Be­
gegnung und des Wortes Beischlaf. Es bezieht sich keineswegs allein auf Zeit
und Stätte des Liebesschlafes, sondern weit mehr darauf, daß die eigentliche
Verwebung und Verschmelzung des Paares sich in den niemals erwachenden
Zonen ihrer Leibseele vollzieht.«26 Damit ist schon eine erste andeutungsweise
Antwort auf die oben zurückgestellte Frage gegeben, wofür das syzygische Spiel
denn überhaupt gut sei, wenn es ein sich selbst genügendes und nicht direkt auf
den Menschen bezogenes sei.

25 GW 12 §558.
26 Heino Gehrts, »Vom Beischlaf im Zaubermärchen«, in: Liebe und Eros im Märchen, Kassel
(Röth) 1988, S. 61-78, hier S. 70.
Das dogmatische Vorurteil und der mittelalterliche Zustand der Psy­
chologie. Ein Gemälde, sagen wir eine Kreuzigung von Rembrandt, kann Ge­
genstand verschiedener Disziplinen sein. Es kann vom Kunstkenner unter rein
künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Es kann vom
Theologen auf die in ihm sich niederschlagende Christologie hin untersucht wer­
den. Es kann vom Kultur- oder Sozialgeschichtler vorgenommen werden, um
aus ihm Rückschlüsse auf ideengeschichtliche Zusammenhänge und soziologi­
sche Zeitumstände zu gewinnen. Es kann auch dem Chemiker vorgelegt werden,
damit er es auf das Alter der Leinwand, die Zusammensetzung der Pigmente und
Bindemittel analysiere. Man sieht, der faktische Gegenstand determiniert nicht
automatisch das wissenschaftliche Fach, in das er zu »gehören« scheint. Kunst­
gegenstände rufen nicht ausschließlich die Kunstwissenschaft auf den Plan.
Theologie ist nicht einfach die Wissenschaft von der Bibel und den Dogmen,
und die Bibel kann auch den Literaturwissenschaftler oder den Archäologen in­
teressieren. Wissenschaftliche Disziplinen liegen nicht tatsächlich kraft ihrer
Ausrichtung auf unterschiedliche Bereiche der Wirklichkeit wie »Fächer« ne­
beneinander, sie werden vielmehr durch ihre Grundmetapher bestimmt, an die
sie sich gebunden haben, und ihre Wissenschaftlichkeit hängt wesentlich von
der Strenge der Bindung an die Grundmetapher ab. Nichts darf von außen in die
Grundmetapher eindringen, was nicht hineingehört, nichts darf außerhalb der
Grundmetapher belassen werden, was als Gegenstand der betreffenden wissen­
schaftlichen Disziplin anerkannt wird. Jede Wissenschaft ist dadurch Wissen­
schaft, daß sie sich auf Gedeih und Verderb in ihre Grundmetapher stürzt und in
ihrer ganzen Forschung nichts anderes betreibt als die Entfaltung dieser.
Der Chemiker, der das Kreuzigungsgemälde von Rembrandt zu analysie­
ren hat, mag zusätzlich zu seinem Chemikersein als Privatmann auch ein kunst­
sinniger und ein religiös eingestellter Mensch sein. Aber insofern er das Bild
chemisch analysiert, sieht er darin kein »Bild«, weiß er nicht, was »Kreuzigung«
bedeutet, und ist ihm gänzlich unzugänglich, daß es sich um ein »Werk« von
»Rembrandt« handelt. »Kreuzigung« und »Rembrandt« sind keine Begriffe der
Chemie. Das Gemälde ist für ihn, und muß für ihn sein, nichts als toter Stoff.
Gelingt es ihm nicht, von seinem sonstigen Wissen als gesunder Menschenver­
stand, gebildeter Bürger, Kunstliebhaber, religiöser Mensch zu abstrahieren,
kann er keine chemische Analyse vornehmen. Alles, was er in die Finger kriegt,
muß ihm als toter Stoff und nichts weiter gelten. Und was sich nicht als chemi­
sche Substanz ansehen läßt, das darf cs für ihn qua Chemiker nicht geben.
Wie der Chemiker die auf Leinwand geschmierten Farbpigmente nicht als
Werk und Ausdruck von Rembrandt, Rembrandt nicht als ihr Substrat ansehen
darf, weil er sie dann gar nicht mehr als rein chemische Substanzen apperzipie-
ren könnte, so darf auch der Psychologe das seelische Geschehen nicht an
Menschen als seinem Substrat festmachen. Als Psychologe weiß er nichts von
Menschen, nichts von Männern und Frauen, von Müttern und Kindern, auch
nichts von Sexualität - wenigstens nicht, insofern diese Wörter als auf das hin­
weisend genommen werden, worauf sie im Alltagsleben, in der Biologie, in der
Soziologie hinweisen. Purusha, dnthropos, homo maximus, homunculus, adam
Icadmon sind psychologische Begriffe. Aber der Mensch als positiver Gegen­
stand, als Exemplar der Art Homo sapiens, nicht. Die Lebensäußerungen der
Seele als Äußerungen des Menschen anzusehen ist psychologisch Schmu. Es ist
eine dogmatische, metaphysische Setzung. Es ist so unverträglich mit Psycholo­
gie, wie es mit Physik unvereinbar wäre, das Wirken Gottes als mögliche Ursa­
che von Naturereignissen in Betracht zu ziehen. Täte der Physiker das doch,
müßte seine Forschung überall, wo er an etwas Unbekanntes stößt, aufhören,
weil er immer mit einem göttlichen Eingriff würde rechnen müssen, den er aber
per definitionem als Wissenschaftler nicht erforschen könnte. Kepler wurde erst
da wirklich zum Wissenschaftler, als er nach schweren inneren Kämpfen die aus
der natürlichen Theologie stammende Idee von der Kreisbahn der Planeten und
damit die Idee der Göttlichkeit des Universums zur Disposition zu stellen bereit
war, um sich einzig von den Befunden und den mathematischen Notwendigkei­
ten, d.h. von der Grandmetapher der »rein physikalisch begriffenen Natur« lei­
ten zu lassen. »Gott« könnte nur ein Begriff innerhalb der Physik sein, wenn der
erste rassische Sputnik-Kosmonaut ihn als physisches Faktum im Weltraum ent­
deckt hätte, was freilich, weil mit dem Sinn von »Gott« unvereinbar, widersin­
nig wäre.
Daß die Psychologie gewöhnlich jedoch dem anthropologischen Vorurteil
ohne den mindesten Zweifel erliegt, zeigt, daß sie sich noch in einem unkriti­
schen, »mittelalterlichen« Zustand der Ausbildung ihrer selbst zur methodisch
geklärten Disziplin befindet. Sie ist zwar nicht, wie die mittelalterliche Physik,
eine Magd der Theologie, sehr wohl aber eine Magd der Metaphysik des Alltags
(die in der »Physik« ihre höchste Formulierung findet). Unbesehen wird aus
dem Vorstellen und Meinen des »Manns auf der Straße« der Begriff des
Menschen (oder »Person«, »Mann«, »Frau«) aufgelesen und an diesem als ei­
nem schlechterdings Gegebenen und so Unhinterfragbaren das Seelische aufge­
hängt, wie an einem Kleiderbutler ein .Jackett. Dieser »Mensch« ist in der Tat
ein dogmatisches Vorurteil, weil er innerhalb der Psychologie erschlichen ist.
Die Psychologie setzt dann ein Substrat des Psychischen an, für das sie
nicht selbst zuständig ist. Sie kann mit ihren eigenen Methoden nichts dazu sa­
gen, sie muß diese Substratgegenständlichkeit blindlings, d.h. auf Treu und
Glauben, hinnehmen. Dieses Substrat soll in der Psychologie gelten, bleibt aber
gleichwohl ein ihr externer Tatbestand. Die Psychologie bleibt in der äußerli­
chen Reflexion stecken. Sie behält für sich im »Menschen« ihren geheimen ex-
tramundanen Gott: extramundan (in einem methodischen, nicht metaphysischen
Sinn), weil er außerhalb des von der Psychologie konstituierten Mundus seinen
Ort hat. Der »Mensch« in der Psychologie ist ein Stück Mythologie oder Ideolo­
gie. Er ist der berüchtigte Schwarze Kasten (black box) der Psychologie, in den
man als Psychologe bei Strafe des Verlusts der Wissenschaftsehre nicht hinein­
blicken darf.
Das gilt überhaupt für den anthropologischen Begriff des Menschen. Hei­
degger sagt: »Anthropologie ist jene Deutung des Menschen, die im Grunde
schon weiß, was der Mensch ist und daher nicht fragen kann, wer er sei. Denn
mit dieser Frage müßte sie sich selbst als erschüttert und überwunden bekennen.
Wie soll dies der Anthropologie zugemutet werden, wo sie doch eigens und nur
die nachträgliche Sicherung der Selbstsicherheit des Subjectum zu leisten
hat?«27 Von dieser Einsicht her läßt sich auch die Frage stellen, warum die Na­
turwissenschaften einerseits es vermocht haben, sich in ihre jeweiligen Grund-
metaphem rückhaltlos hineinfallen zu lassen, wodurch sie in den sicheren Gang
der Wissenschaft gekommen sind, während es die Psychologie andererseits sy­
stematisch vermieden hat, sich auf ihre Grundmetapher einzulassen, und zwar
gerade und umso mehr dann, wenn es ihr um strenge Wissenschaftlichkeit ging.
Wamm ist es möglich gewesen, daß kluge, mit allen Wassern der Wissen­
schaftstheorie gewaschene Psychologen eine Psychologie konzipieren konnten,
die ausdrücklich aus der Grundmetapher der Psychologie herausgesetzt sein
sollte, wie ein Fisch aus dem Wasser: eine »Psychologie ohne Seele«, eine Psy­
chologie als Wissenschaft vom »Verhalten des Organismus« oder auch von dem
Innenleben des »Menschen«? Das ist so offensichtlich schizophren im Alltags­
sinn des Wortes, daß man es nicht für möglich halten würde. Und doch ist es
nicht nur möglich, sondern wirklich. Es mußte also notwendig sein.
Wie wenig das Festhalten an dem Menschen als Substrat der Psychologie
auf der Höhe der Zeit ist, nämlich auf der Höhe des in den Institutionen der ge­
sellschaftlichen Wirklichkeit bereits inkarnierten und gegenständlich sichtbar
gewordenen objektiven Bewußtseinsstufe, wird an der Logik des Fernsehens
deutlich. Wir sind alle von Femsehwellen allseits umgeben. Der Femsehbild-
schirm ist nur der gleichgültige Ort, wo sie zufällig für uns sichtbar werden.
Aber gleichzeitig werden sie auch an Millionen anderen Bildschirmen anderswo
sichtbar. Damit ist die Logik der Einzeldinge, die hinter der »anthropologischen
Substrat-Psychologie« steht, als obsolet vorgeführt. In der Psychologie noch von
Persönlichkeiten (Individuen) als Substrat des Seelenlebens auszugehen, ist das
Mißverständnis, das die Fernsehbilder als Selbstausdruck des individuellen
Fernsehapparates ansehen würde. Die Bilder redeten dann über die inneren Pro­
bleme, Gedanken und Gefühle des Fernsehapparats. Verrückt. Aber so verrückt
ist die Konsultationszimmer-Psychologie. Ich sage: die Seele spricht über sich
selbst, und »das Phantasiebild hat alles in sich, dessen es bedarf« (Jung), ganz
ähnlich wie Fernsehbilder sich selbst ausdrücken und die Femsehwellen sichtbar
werden lassen. Die Differenzen zwischen dem Seelenleben verschiedener
Menschen kann verdeutlicht werden durch die Analogie der Differenzen, die

27 Martin Heidegger, Holzwege, Frankfurt/Main (Klostermann) 51972, S. 103.


sich durch verschiedene Einstellungen der Antennen und durch die Einstellung
der Fernsehapparate auf verschiedene Sender sowie durch die unterschiedliche
Qualität und technische Ausstattung der Empfangsgeräte ergeben.
Nim muß ich mich aber beeilen, sogleich zu betonen, daß ich hier nicht
ein Modell dessen, wie das Verhältnis von Seele und Mensch vorzustellen sei,
vorgetragen habe: Das Seelenleben als ein Fluidum von so etwas wie »Wellen«
oder »Energie« (ein sehr modischer Begriff), die man anzapfen müsse, und der
Mensch als Empfangsgerät, und hinter dem ganzen womöglich noch ein ge­
heimnisvoller Sender. Gott behüte! Mir geht es nur darum, zu zeigen, daß in der
technischen Femsehrealität eine Logik längst real zum Tragen gekommen ist,
die über die der der »mittelalterlichen« Bewußtseinsstufe korrespondierenden
Logik von dem Bild als Produkt oder Ausdruck eines Malers oder von Gott als
dem außerweltlichen Schöpfer der Welt weit hinausgeschritten ist.
Bodenlosigkeit und gewachsener Fels. Warum mußte die Psychologie
mit systematischer Absicht außer sich sein? Warum diese Entfremdung? Die
Antwort auf diese Frage hat zwei Teile. Der erste Teil besteht in der Erkenntnis
der Unterschiede zwischen den Grundmetaphem der Wissenschaften einerseits
und der Gmndmetapher der Psychologie andererseits. Die Grundmetaphem der
Naturwissenschaften haben das Subjectum Heideggers, das Substrat, als selbst­
verständliche Voraussetzung in ihnen selbst. Sie gehören in die Substanzmeta­
physik und befestigen sie daher. Daß z.B. die »Natur« der Physik etwas Seien­
des ist, gehört unverzichtbar zu der Gmndmetapher Natur. In dem Begriff der
Natur selbst ist gesetzt, daß das, was als zur Natur gehörig begriffen wird, außer­
halb dieser Begriffe selbst als ein Etwas faktisch existiert. Wie sehr auch die
moderne Physik die Dinglichkeit der Natur immer mehr auflösen mag, wie sehr
sie auch den Einfluß des Subjekts auf die Ergebnisse von Beobachtungen erken­
nen mag, wie sehr sie auch den Modellcharakter wissenschaftlicher Theorien be­
haupten mag - ihre Resultate und Modelle bleiben logisch immer noch (und un­
weigerlich) positiv. Auch die abstraktesten Formeln der Physik handeln immer
noch von Etwas, auch die Modelle sollen die Modelle von Etwas sein.
Die Gmndmetapher der Psychologie, »die Seele«, jedoch hat an dieser
Positivität nicht mehr teil. Mit »Seele« ist gerade nicht gesetzt, daß sie und die
in ihr vorkommenden »Inhalte« ein substantielles Sein haben. Nur deswegen
fühlt sich die Psychologie so unbehaglich bei dem Wort Seele und möchte es
durch unverfänglichere (d.h. positivierbare) Wörter (Psyche, Verhalten des Or­
ganismus usw.) ersetzt sehen. »Seele« widersetzt sich der Positivierung. »Seele«
verweist einerseits in die Bodenlosigkeit der »Metaphysik« und »Spekulation« -
daher die Fragen nach der »Unsterblichkeit der Seele«, nach »Seelenwande-
mng«, »Seelenheil« - , andererseits in die Abgründe des romantischen Sentiment
(z.B. die »schöne Seele«). Der indische purusha verweist auf keine Substratge­
genständlichkeit. Die »Jungfrauengeburt« ist kein biologischer Tatbestand. Die
»Trinität« ist nicht etwas in der Realität Vorhandenes. Das Gold der Alchemie
ist »aurum non vulgum«; der lapis keine empirische Realität (»lithos ou lfthos«).
Wenn in der psychologisch bedeutsamen »Zauberflöte« die Königin der Nacht
singt: »Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen«, dann ist mit »Herz«, »Ko­
chen«, »Hölle«, ja sogar mit der Königin der Nacht selber auf nichts hingewie­
sen, zwar nicht auf gar nichts überhaupt, aber nicht auf irgendeine faktische
Realität, die draußen außerhalb dieser Begriffe oder Sätze bestünde. (Das »Ko­
chen« z.B. ist nicht einfach nur ein blumiger Ausdruck für so etwas wie »erhöh­
ter Blutdruck oder Adrenalinspiegel«.) Psychologische Begriffe und Bilder ha­
ben, da sie »alles in sich haben, dessen sie bedürfen«, auch ihren »Referenten«
(die Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen) in ihnen selbst. Das ist es, was ihnen
ihre »Innerlichkeit« gibt, eine Innerlichkeit, die nicht auf im sogenannten »Inne­
ren« liegende Tatbestände verweist, sondern sich der Negativität psychologi­
scher Begriffe verdankt. Diese sind bodenlos, haltlos, weil sie an keinem ihnen
von außen gegebenen Substrat einen Halt haben. Und genau das ist es, was das
Psychische zum Psychischen macht und vom Physischen unterscheidet. Die Psy­
chologie ist die Wissenschaft von »nichts«, nämlich von nichts Seiendem, nichts
Vorhandenem, oder sie ist die Wissenschaft von der inneren »Schwärze« des
Schwarzen Kastens, - von der (nicht seienden, sondern nur) logischen Bewe­
gung der Seele. Jung handelte von den »Symbolen der Wandlung«, nicht von
den Wandlungen der Personen; von dem »Mysterium coniunctionis«, nicht von
der Ganzwerdung von Menschen; von dem seelischen opus, nicht von der Arbeit
im Konsulationszimmer; von dem Individuationsprozeß, nicht von der Selbst­
entwicklung von Individuen, und er wußte eigentliche Psychologie von dem,
was landläufig Psychologie heißt, zu unterscheiden.28
Was heißt Wissenschaft von der inneren Schwärze des Schwarzen Ka­
stens? Es heißt: »Wissenschaft« aus dem Schwarzen Kasten heraus oder anders
gewendet: »Wissenschaft« aus dem Standpunkt der immanenten Reflexion. Dies
erklärt auch, warum sie Wissenschaft von »nichts« ist: weil es nämlich »etwas«
(ein Vorhandenes, Seiendes) nur für die äußerliche Reflexion und von ihr aus
gibt, also für die Haltung, die sich systematisch außerhalb des Schwarzen Ka­
stens gestellt hat. Die Bodenlosigkeit oder Negativität der »Seele« ist nicht eine
sonderbare Eigenschaft, mit der die »Seele« ausgestattet ist. Sie folgt einfach
aus der immanenten Reflexion: aus der Haltung, die sich in das zu Betrachtende
hineinstellt, um es aus diesem selbst heraus zu begreifen, wodurch das zu Be­
trachtende eo ipso aufhört, eine Substratgegenständlichkeit zu sein und das Den­
ken jeglichen äußeren Halt verliert. Jetzt können wir sogar genauer angeben,
was die Grundmetapher der Psychologie, »Seele«, ist. Sie ist immanente Refle­
xion, immanentes Erleben der Wirklichkeit. Sie ist nicht die Wissenschaft von

28 Vgl. z.B. folgende Äußerung: »... anstelle von Psychologie die Anwendung psychologischer Me­
thoden ...« (Briefe II, S. 163, an Dorothy Thomson, 23. IX. 49). Siehe auch unsere obigen Aus­
führungen über die Differenz von Psychologie und Psychologie im Abschnitt über »Das Paradig­
ma«.
»dem Inneren«. Denn alle Forschung über das Innere hat sich immer schon aus
der immanenten Reflexion hinausgesetzt und sich in der äußerlichen Reflexion
etabliert. Nur für das von außen Blicken gibt es das Innere, welches immer das
Innere von einem Substrat, von einem stabilen Etwas ist.
Damit sind wir in der Lage, auch die zweite Hälfte der Antwort (und da­
mit zugleich die ganze Antwort) auf die Frage nach der Notwendigkeit des Au-
ßersichseins der Psychologie zu geben. Dafür greifen wir auf Heideggers Aussa­
ge zurück, daß die Anthropologie doch eigens und nur die nachträgliche Siche­
rang der Selbstsicherheit des Subjectum zu leisten habe. Die anthropologisch
begründete Psychologie dient der Abwehr der Bodenlosigkeit ihrer Grandmeta­
pher, der Abgründigkeit und inneren Unendlichkeit jener black box, die Seele
heißt. Es darf einfach nicht wahr sein, daß Psychologie keinen festen Boden hat.
Das würde der ganzen herrschenden Metaphysik (die aber natürlich vermeint,
keine Metaphysik zu sein) den Garaus machen. Und da es nun doch wahr ist,
muß man der Psychologie wenigstens mit einem methodischen Trick einen sta­
bilen Grund von außen beschaffen. Es braucht einen Rettungsanker, an dem man
sich halten kann, eine seiende Grundlage (obwohl wissenschaftstheoretisch na­
türlich klar ist, daß es keine von außerhalb des eigenen Gebietes stammenden
Annahmen geben darf, die nicht innerhalb dieses Fachgebietes und mit den aus
ihm entwickelten Methoden kritisch reflektiert werden können).
Das Motiv für die Setzung eines unerschütterlich festen Fundamentes
oder eines realen Substrats ist das Verlangen des natürlichen oder Alltagsbe­
wußtseins nach seiner Selbsterhaltung. Es möchte nicht abstürzen müssen in die
Psychologie oder immanente Reflexion, nicht einem grundstürzenden Perspek­
tivwechsel oder Paradigmenwechsel ausgesetzt sein. Es will unbedingt vor der
Psychologie als Außebung des gewöhnlichen Inderweltseins bewahrt bleiben.
Daß es den Menschen als Substrat des Psychischen gibt, garantiert, daß im Ent­
scheidenden alles beim alten bleiben darf. Die Anthropologie stellt in dem rea­
len Menschen als Substrat dem Bewußtsein das Bild seiner (des Bewußtseins)
eigenen Unerschütterlichkeit vor Augen. Darin liegt die eigens besorgte und
nachträgliche Sicherung der Selbstsicherheit des Subjectum.
Jetzt kann es zwar immer noch Entwicklungen oder gar sogenannte
Wandlungen geben —aber immer nur als wesenhaft akzidentelle an oder in einer
wesenhaft unberührt bleibenden Substanz. Genau dieses Verhältnis ist mit dem
Bild des Schwarzen Kastens ausgesprochen. Von der Seele als einer »autono­
men« Wirklichkeit kann nicht mehr ernsthaft die Rede sein. Das Seelische ist in
der anthropologisch gegründeten Psychologie logisch längst zum Epiphänomen,
zu etwas Sekundärem reduziert. Wenn dann von Psychologen die Rede Jungs
von der »autonomen« oder »objektiven« Wirklichkeit der Seele trotzdem über­
nommen wird, wird diese Rede zur Farce.
Die subjektstufige Deutung gewährleistet nach dem über äußerliche und
immanente Reflexion Gesagten noch lange nicht, daß die Deutung wahrhaft psy-
chologisch sei. Wenn Blaubart z.B. als innere Möglichkeit genommen wird
(»wir alle haben unsere Frauenleichen im Keller«, »eine destruktiv gewordene
eigene Männlichkeit der Frau«), ist im Grande und gerade nur das nach wie vor
äußerliche Verstehen verinnerlicht, der biologisch-faktische Geschlechtergegen­
satz nur introjiziert worden, ohne daß das Verstehen in ein wahrhaft seelisches
verwandelt worden wäre. Der Gesichtspunkt bleibt immer noch der von »den
Männern« und »den Frauen« her (beides anthropologisch).
Wenn der Animus als Blaubart, wie von Franz sagte, vom Leben wegzieht
und mit ghostlands zu tun hat, dann ist das Festhalten an einem Substrat für die
Psychologie ein Zeichen für die Abwehr des Animus.
Die Logik eines die Psychologie von außen begründenden stabilen Bo­
dens, der eben wegen seines Außerhalbseins für die psychologische Forschung
imerreichbar bleibt, kommt in größter Klarheit bei Freud zum Ausdruck. Freud
glaubte (in seiner Reflexion über die endliche und die unendliche Analyse), mit
bestimmten auf Biologisches verweisenden Themen, die uns hier nicht näher in­
teressieren, »durch alle psychologische Schichtung hindurch zum gewachsenen
Fels< durchgedrungen und so am Ende der Tätigkeit« zu sein. »Das muß wohl so
sein, denn für das Psychische spielt das Biologische wirklich die Rolle des un­
terliegenden gewachsenen Felsens.« 29 Mit diesem Bild gibt sich die Psycholo­
gie, die außer sich ist, selbst zu erkennen. Da ist der gewachsene Fels, die seien­
de Grundlage. Als Grundlage ist er »unterliegend«, der Psychologie selbst vor­
aus liegend, weswegen dann, wenn man sich bis an ihn vorgearbeitet hat, die
psychologische Tätigkeit unweigerlich an ihr Ende kommt. Hier stößt sie an ihre
Grenze, die sie schweigend respektieren muß, und jenseits von ihr liegt das, was
für sie grundsätzlich unerreichbar ist, aber gleichzeitig mit Allmacht das, was in­
nerhalb des Psychischen geschieht, bestimmt. Es ist offensichtlich, daß sich in
dieser Gestalt des Biologischen als Grand des Psychischen der (freilich materia­
listisch gewordene) Gott der klassischen Substanzmetaphysik verbirgt, ein ver­
borgener Gott, der als Schöpfer und Erhalter der Welt grundsätzlich außerhalb
und über der Welt stand und für den Menschen als das schlechterdings Uner-
forschliche nur im Glauben zugänglich war. Innerhalb der Psychologie kann ich
an das Biologische wie genauso an den »Menschen« auch nur »glauben«, da ich
in ihr eben nichts von ihnen wissen kann, weil sie methodisch als unerreichbar
außerhalb der Psychologie anzusiedeln gesetzt sind. An sie zu glauben ist psy­
chologischer Fundamentalismus, und als psychologischer ist dieser wohl auch
das psychologische »Fundament« des heute auf vielen Lebensgebieten (Reli­
gion, Moral, Politik) überall in der Welt grassierenden Fundamentalismus.
Freud hat die psychoanalytische Grundregel als für die Therapie unum­
stößliche Regel aufgestellt. Er erkannte: »Es ist sehr merkwürdig, daß die ganze

29 Sigmund Freud, Die endliche und die unendliche Analyse, Studienausgabe, Ergänzungsband,
Frankfurt (S. Fischer) 1975, S. 392.
Aufgabe [der Analyse] unlösbar wird, sowie man die Reserve an einer einzigen
Stelle gestattet hat. Aber man bedenke, wenn bei uns ein Asylrecht, zum Bei­
spiel für einen einzigen Platz in der Stadt, bestände, wie lange es brauchen wür­
de, bis alles Gesindel der Stadt auf diesem Platze zusammenträfe.« 30 Sind nun
aber nicht der gewachsene Fels des Biologischen sowie allgemein »der Mensch«
als Substratgegenständlichkeit in der Theorie genau das, was Freud für die Pra­
xis versagt hat: die nicht nur gestattete, sondern systematisch festgeschriebene
Reserve, der Asylplatz, auf dem sich alles »Gesindel«, nämlich allerlei unge­
prüfte und (weil durch das Asyl geschützt) unüberprüfbare weltanschauliche
Voraussetzungen, sammeln können? So wie die Reserve in der Therapie nicht
gestattet werden kann, weil dann die Aufgabe der Analyse unlösbar wird, so ist
es auch einfach aus wissenschaftstheoretischen Gründen unhaltbar, wenn der
Grand der Psychologie aus ihr herausgesetzt wird.
Die Psychologie muß ihren Grund in sich haben, im Bereich ihrer eigenen
Zuständigkeit, weil diese Innerlichkeit einfach zum Begriff ihrer Grandmeta­
pher, zum Begriff der »Seele« gehört, im Unterschied zur Grandmetapher der
Physik, zum Begriff der physikalischen Natur. Wird der Grand (und damit »die
Realität«) jedoch in sie (in das »Phantasiebild«) hereingelassen, dann wird er
zwangsläufig zum Abgrund, zur Bodenlosigkeit. Man kann nicht darauf stehen,
man gerät ins Schwimmen. Denn Fels kann der Grund nur sein, wenn er hinaus­
komplementiert wurde: das Felssein des Grandes liegt einzig darin, daß durch
die Hinaussetzung des inneren (Ab-) Grundes der Phantasiebilder aus ihnen hin­
aus in der Gestalt der Idee des Menschen oder der Biologie (des Organismus)
für die als Wissenschaft konzipierte Psychologie eine methodische Grenze ge­
setzt wurde, die sie nicht überschreiten darf; wegen dieses systematischen Hin­
ausgesetzseins des Grundes stößt sich die verwissenschaftlichte Psychologie
notwendig an dem nun außer ihr liegenden Grund als an ihrer Grenze wie an ei­
ner Betonmauer. Das erzeugt das Felssein des Grundes. Der gewachsene Fels
bedeutet aber natürlich nicht, daß das Biologische oder das Anthropologische
tatsächlich so etwas wie ein Fels oder eine Betonmauer (als Vorhandenes) wäre:
daß es so erscheint, verdankt sich nur der Tatsache, daß es methodisch gesetzt
wurde, draußen und so absolut unerreichbar zu sein.
Die Physik hat jedoch dieses Problem nicht, nicht etwa, weil bei ihr der
Grund nicht aus den Phantasiebildem, mit denen sie arbeitet, herausgesetzt wä­
re, sondern genau umgekehrt, weil ihre Grandmetapher das Herausgesetztsein
des Grundes vorschreibt und immer schon vollzogen hat, so daß dieser sie mit
methodischer Notwendigkeit schlechterdings nichts mehr angeht. Er ist einfach
kein Thema für sie; die Frage nach ihm, z.B. in der Gestalt der Frage nach Gott
als Grund der Natur, wäre unwissenschaftlich, »irrational«. Und so kann sie sich

30 Sigmund Freud, Zur Einleitung der Behandlung, Studienausgabe, Ergänzungsbd., Frankfurt (S.
Fischer) 1975, S. 195, Arun.
an ihm auch nicht wie an einer Betonmauer stoßen. Sie hat diese Frage immer
schon abgetan und hinter sich, so daß sie auf dem, was sie hinter sich hat, als auf
einem sicheren Fundament stehen kann, ohne zu wissen und wissen zu müssen,
ja wissen zu dürfen, worauf sie steht und daß sie darauf steht. Die Gewißheit ih­
rer Erkenntnisse beruht gerade auf diesem nicht Wissen, auf der unerbittlichen
Strenge, mit der die Frage nach ihrem Grund oder dem Grand ihrer Phantasien
und Begriffe a priori als nicht stellbar ausgeschieden und hinter sich gebracht
ist.
Hinaussetzung der Bodenlosigkeit der Seele aus ihr selbst Die herr­
schende Psychologie ist außer sich, von ihr selbst entfremdet. Unsere Antwort
auf die Frage nach der Notwendigkeit dafür war sozusagen der »horror vacui«,
die Angst vor der Bodenlosigkeit der Psychologie. Diese Antwort ist jedoch nur
vorläufig. Sie rekurriert selber noch auf den Menschen als das Subjectum, näm­
lich auf seine Angstgefühle. Es gilt aber, die Notwendigkeit auch aus der Seele
selber zu begreifen. Dies bedeutet, die Angst als von der Seele gesetzt zu verste­
hen. Es ist ja nicht selbstverständlich, vor der Bodenlosigkeit Angst zu haben.
Wenn wir diese Angst hätten, von Natur aus haben müßten, dann könnten wir
alle nicht einschlafen, weil das Einschlafen das Fallen in die Bodenlosigkeit der
Nacht, in den Schwarzen Kasten der Seele ist (to fall asleep). In der Regel aber
macht dies dem Menschen keine Angst, sondern eher sogar Lust. Auch die Men­
schen früherer Zeiten, die unbekümmert Mythologie und Alchemie ersonnen,
hatten keine Angst vor der darin liegenden Bodenlosigkeit. Sie lebten, insofern
sie im Mythos und Ritual lebten, eo ipso auch in der Bodenlosigkeit, weswegen
wir heute Mythologie und Alchemie mit Recht als frühe (ansichseiende) Formen
von Psychologie verstehen können. Denn das, was die Bodenlosigkeit der Seele
artikuliert, gibt den Logos der Seele (Psycho-logie). Erst in neuerer Zeit entsteht
Angst vor der Haltlosigkeit. Daß die Haltlosigkeit unerträglich und unzumutbar
sei, ist ein Gefühl, das von der Seele für ihre Zwecke gleichsam künstlich er­
zeugt wird. Es verdankt sich dem Animus.
Es gehört zu den Zwecken der Seele als Syzygie, daß sich der Animus in
ihr gegen die pieromatische Harmonie innerhalb der Syzygie wendet. Als der
Töter, als der Geist der Negation, zielt er auf Trennung. Er will die Seele von ihr
selbst entfremden und ihr ermöglichen, sich von außen zu reflektieren. Ihr in
sich Eingesponnensein soll beendet werden. Die projizierende und substantiali-
sierende Anima greift jedoch, da Anima und Animus unweigerlich Zusammen­
wirken, diesen Impuls ihres Gegenspielers auf. Sie bemächtigt sich seiner. Der
Animus in seiner ersten Unmittelbarkeit steht immer noch unter dem Bann der
Anima. Sie verleiht dem Hinaussetzen aus der Syzygie, das in Wahrheit ein Hin­
aussetzen immer nur innerhalb der Syzygie aus der Syzygie hinaus ist, den Ein­
druck der Buchstäblichkeit des Draußen. Sie gibt dem »Hinaus« oder »Drau­
ßen« Substantialität, die Solidität des Faktischen. Jetzt sieht es so aus, als ob da
tatsächlich eine Faktenaußenwelt wäre und ein selbstidentisches Ich, das als
»das Ich« buchstäblich da draußen, dem Imaginalen (Unbewußten) einerseits
wie der Welt andererseits gegenüberstünde und nichts als gegenüber. Das heißt,
die Anima agiert das animushafte Hinaussetzen. Sie macht es konkretistisch und
veranlaßt die Seele, sich immer mehr in das Hinausprojizierte einzuspinnen, im­
mer mehr von sich in das (so erst entstandene) Äußere zu investieren. Der Ort
des Lebens der Seele wird aus ihr selbst hinausverlagert in das (oder als das) so
erst entstehende Außen.
Es ist die Anima, die den Horror vacui hat und die die Angst vor dem
nichtseienden, rein logischen Leben der Syzygie erzeugt (so wie die Anima auf
eine leere Wand sofort irgendwelche Gestalten oder Bilder projiziert). Diese
Angst entspricht keineswegs dem Animus, der das Heraussetzen eigentlich ur­
sprünglich betreibt. Denn er ist immer auch Todesdämon, Geist, Gespenst, dem
Sinnlichen und Substantiellen abhold. Er ist gerade in der Abwesenheit und Un­
anschaulichkeit in seinem Element. Aber er ist dennoch auf diese von der Anima
erzeugte Angst vor der Leere angewiesen. Warum? Ohne sie bliebe das Heraus­
setzen aus der Syzygie seinerseits immer noch eingesponnen in das immanente,
gleichsam träumende logische Leben der Syzygie. Es hätte keine Schärfe, ver­
möchte keinen radikalen Einschnitt oder Brach zu bewirken, so wenig wie der
Tod oder wie Naturkatastrophen im Strom des natürlichen Geschehens einen
wirklichen Unterschied machen. In der Animawelt, der Welt der ruchlosen Na­
tur, sind Geburt und Tod, Wachsen und Welken, Sonne und Regen, Stillstand
und Katastrophe einerlei: nur je andere Naturereignisse. Erst mit der abgründi­
gen Angst vor der Abgründigkeit der Seele und mit dem buchstäblich genomme­
nen Draußen als Positivität treibt sich die Seele selber wirklich (wirksam) aus ihr
selbst hinaus. Sie kommt so erst in eine merkliche Gegenstellung zu ihr selbst
hinein und kann sich selbst von außen gegenübertreten.
Die animahafte Täuschung ist also nötig. Die Seele schafft sich selbst den
Schein eines Außerhalb der Syzygie oder Seele.
Das kausal begründende Denken gerät bei konsequenter Fortsetzung be­
kanntlich in einen unendlichen Regreß. Die Unerträglichkeit der Unabschließ-
baikeit des Begründungsvorgangs kann dadurch beendet werden, daß man die
Unendlichkeit des Regresses aus dem Denken hinaus und ihm voraus als die
(seiende) Erste Ursache setzt: als das Unendliche, Unbedingte: die causa sui,
den Ersten Beweger. Genauso hat sich die Seele aus der Haltlosigkeit und Ab­
gründigkeit ihres logischen Lebens diese ihre Abgründigkeit aus ihr hinaus und
sich voraus als ihren festen Grund gesetzt, auf dem sie selbst aufrahe. Dieser
Grund ist rein positiv, nicht weil er tatsächlich (»objektiv«) positiv wäre, son­
dern nur deswegen, weil er per definitionem aus der Negativität des syzygischen
Lebens hinausgesetzt ist, d.h. gesetzt ist, von dem Zusammenhang mit dem pul­
sierenden logischen Leben in seiner Bodenlosigkeit abgeschnitten zu sein. So
entsteht die »Realität«, die undurchdringliche Substanz, die Faktizität, die reale
Außenwelt. Wir sehen: Die Außenwelt ist generiert. Sie ist ein Kunstprodukt.
Da ist nicht wirklich ein Außen außerhalb der Syzygie. Sondern die Fiktion ei­
nes Außen entsteht innerhalb der Syzygie dadurch, daß die Seele in ihrem logi­
schen Leben die Haltlosigkeit dieses ihres Lebens diesem selbst (diesem ihrem
logischen Leben, das eigentlich alle Wirklichkeit ist) als Voraussetzung voraus
setzt, und daß sie sich in die so gesetzte Fiktion eingesponnen hat, so daß diese
mit sekundärem Leben erfüllt wurde. Die Hinaussetzung erfolgte ins »Leere«
hinein, in den »luftleeren Raum«, das Nichts, weil es in Wahrheit ja gar kein
Außerhalb der Syzygie gibt. Insofern jedoch die Seele sich in ihr fiktives, aber
felsenfest geglaubtes Außerhalb eingesponnen hat, ist auch der Mensch, in dem
diese Seele wirksam ist, aus dem Leben der Seele heraus und diesem voraus ge­
setzt in das fiktive Nichts. Dieses ist der »reale, empirische Mensch«, der
Mensch der Anthropologie. Dieser Mensch ist wesenhaft »the man who came in
from the cold«, ein Fremder in der Welt, die ihrerseits, als in dem gesetzten
Nichts angesiedelte, eine nihilistische ist.
Der »luftleere Raum« »da draußen« ist freilich innerhalb der Syzygie ge­
setzter luftleerer Raum und innerhalb der Syzygie gesetztes Draußen. Und er ist
nichts anderes als die positiv gesetzte Bodenlosigkeit selbst. Aber daß er nur in­
nerhalb ist, wird nicht durchschaut, weil er ja innerhalb der Syzygie gerade ge­
setzt ist, außerhalb der Syzygie zu sein. Indem die Seele als Syzygie ihre Ab-
gründigkeit setzt, außerhalb ihrer und deswegen fester Grund zu sein, schafft sie
sich zwei Möglichkeiten: sie kann den Akzent darauf legen, daß der Grund als
außerhalb seiend gesetzt ist. Dann fällt sie sozusagen auf ihre Setzung herein.
Sie spinnt sich tiefer und tiefer in eine Illusion, die sie sich gemacht hat, ein. Das
ist die Situation der »Physik« (der Naturwissenschaften und des heute in das Le­
bensgefühl des Mannes auf der Straße abgesunkenen naturwissenschaftlichen
Weltbildes) - aber auch der »Psychologie, die außer sich ist« (die ja dasselbe
Steckenpferd reitet wie der Mann auf der Straße oder wie dessen Metaphysik).
Daß dies eine unverzichtbare Stufe ist, wurde schon ausgeführt.
Sie kann aber auch den Ton darauf legen, daß der Grund (als außerhalb
seiend) gerade nur gesetzt ist. Dann »erinnert« sie ihr eigenes Tun. Das ist der
Anfang der »Psychologie«.
Der Mensch war wie gesagt nicht immer »der reale, empirische Mensch«,
der als ein Fremder in der Welt der Welt gegenübersteht. Zu Zeiten der Anima­
stufe der Syzygie hatte die Seele sich selbst und damit die Welt noch nicht aus
sich hinausimaginiert. Die ganze Welt einschließlich des Menschen war einbe­
halten in der Flüssigkeit des syzygischen Lebens der Seele und deswegen von
seiner Geistigkeit durchpulst. Alles war »innen« (was natürlich gerade nicht, im
Sinn der personalistischen Psychologie, heißt: im Innern des schon positivierten,
also aus der Seele herausgesetzten Menschen, etwa in seinem »Schädel«). Es
hatte noch teil an der Negativität des Geistes und seiner Unendlichkeit. Dies ist
der Zustand des Mythos und der rituellen Kulturen, der Zustand, den wir den
sympathetischen Weltzustand nennen. Es ist auch die Befindlichkeit, die Levy-
Bruhl unter dem Titel »participation mystique« angesprochen hat, worunter eben
kein ontisch-emotionaler, wie das meist geschieht, sondern ein logischer Zu­
stand verstanden werden muß. So wie wir heute noch immer in den Schlaf »fal­
len«, so hatte sich die Seele auf dieser Stufe in das, was wir heute den »Schwar­
zen Kasten« nennen, fallen lassen. Nur wenn Gott, Welt und Mensch in diesem
»Schwarzen Kasten« ihren logischen Ort haben, sind sie nicht positiviert und
kann der Mensch in dem, was er sich gegenüber in der Welt findet, sich selbst
begegnen. Nur wenn die Welt und der Mensch innerhalb der Syzygie ihren logi­
schen Ort haben, kann erkennend und handelnd Wirklichkeit - als beseelte
Wirklichkeit und Wirklichkeit des Menschen - wirklich erreicht werden. Aber
wenn Gott, Welt und Mensch im Schwarzen Kasten ihren logischen Ort haben,
dann ist der Schwarze Kasten nicht Schwarzer Kasten, sondern »Mythos«, »Ri­
tual«.
In der positivierten Welt dagegen ist Wirklichkeit nicht zu erreichen. In
ihr Wirklichkeit erreichen zu wollen ist, wie wenn jemand mit ausgestrecktem
Arm eine Fackel vor sich hielte und dann im Schneilauf sich ihr zu nähern such­
te. Mit dieser Haltung macht sich die Seele das Erstrebte auf ewig unerreichbar,
weil sie es selbst fortwährend von sich weg hält (aus sich hinausprojiziert, ob­
wohl sie in Wahrheit doch schon längst bei ihm ist und dieses der Projektion
zum Trotz auch weiterhin bei ihr bleibt).
Wir sind von dem Satz ausgegangen, daß der Animus als Blaubart die
Frau aus dem Leben herausziehe, und haben ihm entgegengesetzt, daß er die
Anima aus dem Leben herausziehe. Wir haben auch den Einwand des gesunden
Menschenverstandes gegen die Konzeption der Psychologie im Sinn des Spre­
chens oder des Spiels der Seele mit sich selbst vernommen und sind bei unserer
Erörterung inzwischen zu einem Verständnis des syzygischen Spiels der Seele
mit ihr selbst gelangt, das uns zeigt, daß mit jener Konzeption durchaus nicht die
wirklichen Menschen aus der Betrachtung herausfallen. Im Gegenteil. Nur in ihr
besteht eine Chance, daß überhaupt die Rede vom Menschen, von dem Mann
und der Frau, die wirklichen Menschen trifft. Je mehr man die logische Bewe­
gung in den Patienten (oder allgemeiner: in die reale Person) hineinstopft, desto
mehr veräußerlicht und positiviert man sie. Statt sich in die Positivität zu ver­
hohlen, kann man aber auch genau umgekehrt von dem sich selbst genügenden
Spiel der Seele mit ihr selbst berührt und für dieses, in dieses eingenommen
werden. Statt zu sagen: der Ort der Syzygie ist das Innere des Menschen (sein
inneres Erleben), kann man auch sagen: der Ort der Syzygie ist die Psychologie
selbst, und statt der Syzygie in uns ihren Ort anzuweisen, können wir auch be­
greifen, daß wir und unser ganzes Leben in der Syzygie, als welche die Psycho­
logie ist, ihren Ort haben. Dann kann man sich auch bewußt in dem sich selbst
genügenden Reden der Seele mit sich selbst ansiedeln und ihm die Führung
überlassen. Dann wird auch dem wirklich gelebten, wirklich erlebten Leben Ge­
nüge getan. Dieses kann in diesem Eingenommensein für die syzygische Bewe­
gung der Seele zu sich selbst kommen, seine Offenbarkeit (Wahrheit) und Erfül­
lung finden.
Genau dies ist auch, was in den polytheistischen Religionen und in der
Alchemie geschah. Sie redeten nicht direkt vom Menschen. Sie versuchten ihn
und seine Situation nicht unmittelbar zu erfassen. Die Alchemie sprach vom
Menschen und von der Seele, indem sie nicht vom Menschen, sondern von che­
mischen Stoffen und Prozessen sprach. Die polytheistischen Religionen sahen
das wirkliche Dasein auf der Erde vom sich selbst genügenden Spiel der Götter
getragen. Der Baum war nicht einfach faktischer Baum, sondern auch Dryade.
Mein Verliebtsein, das war nicht »meine« Emotion, es war Aphrodite. Und gera­
de wegen dieser Indirektheit vermochten sie den Menschen und seine Not in sei­
ner Wirklichkeit zu erreichen. »Der Herrscher, dem das Orakel in Delphi gehört,
verkündet nichts und verbirgt nichts, sondern er deutet nur an« (Heraklit, Fr.
93). In dem Absehen von der Unmittelbarkeit des eigenen Daseins und in dem
Begriffenwerden von dem sich selbst genügenden Reden der Seele mit ihr selbst
findet der Mensch sich selbst, während er dann, wenn er nur bei sich bleiben
will, sich selbst verpaßt.
Die ganze Alternative von »Im Traum redet die Seele von sich selbst«
oder »Der Traum redet über den Träumer« ist schon falsch, wenn sie nämlich ei­
ne echte Alternative im Sinn eines Entweder-Oder sein soll. Es geht demgegen­
über dämm, eine ganz andere Grundstellung zu bekommen, wo der Traum gera­
de und nur dann von m s (als wirklichen Menschen) und zu uns spricht, wenn er
von sich selbst, von der Seele selbst, z.B. von Tieren und Göttern, Steinen und
Stoffen und nicht von uns spricht.
Die Vorstellung, daß die Syzygie, die ich in der Tat als ein sich selbst ge­
nügendes Spiel ansehe, ein von der Wirklichkeit abgetrenntes Spiel sei, verdankt
sich dem Festhalten an dem durch das Sich-Hinausdenken der Seele aus ihr
selbst geschaffenen Spaltungszustand. Man glaubt dann - der Setzung der Seele
aufsitzend - tatsächlich, außerhalb des schwarzen Kastens zu sein und außerhalb
seiner die Wirklichkeit zu finden, während innerhalb seiner nur das Nichtige, Ir­
reale sei. Aber in dieser Sicht spiegelt sich nur die Abgespaltenheit zusammen
mit dem Bestehen auf Positivität und dem Verbot, sich in das »Nichtige« des lo­
gischen Lebens der Seele fallen zu lassen.
Die Hinaussetzung der M änner und Frauen aus der Negativität der
Seele in die Positivität der >Beziehungskiste<. Es gibt eine frühe Theorie der
Archetypen bei Jung, die von der Idee der Erfahrung ausgeht, die der Mensch an
der Realität gemacht habe. Die Anima z.B. soll »ein >Typus< (>Archetypus<) von
allen Erfahrungen der Ahnenreihe am weiblichen Wesen, ein Niederschlag aller
Eindrücke vom Weibe« sein.31 Das läßt sich so nicht halten. Die Ahnenreihe
konnte vor dem Wirken der Syzygie (und damit vor dem Wechselspiel von Ani­

31 C.G. Jung, GW 17 § 338.


ma und Animus) und außerhalb der Syzygie überhaupt keine Erfahrungen von
Männern und vom Weibe machen, weil es nur kraft Anima und Animus über­
haupt die Möglichkeit gibt, ein Wesen als Mann oder als Weib wahrzunehmen.
Männer und Frauen gibt es nur kraft und innerhalb der Syzygie. Der Ge­
schlechtsunterschied - als bewußt erlebter - verdankt sich der Syzygie und nicht
die Syzygie dem »Faktum« des Geschlechtsunterschieds. Was Männer und
Frauen sind, hat sich ganz offensichtlich in aller Vergangenheit aus der Phanta­
sie der Seele bestimmt. Sie gab den natürlichen Menschen ihre besondere Rolle
und die dazu gehörige Metaphysik. Nur weil die Menschen in der Syzygie und
in dem Wechselspiel von Anima und Animus ihren logischen Ort hatten, tragen
die realen Menschen in ihrer konkreten sozialen Wirklichkeit immer schon eines
der vielen archetypischen Gewänder »der Frau« und »des Mannes«. Und nur,
weil es der Psyche immer mehr gelingt, sich aus ihrer Syzygie hinauszudenken
und weil heute dieses sich Hinausprojizieren soweit vorangeschritten ist, daß es
auch auf die Geschlechtsrollen selber übergreifen kann, beginnen die Männer
und Frauen ihre mythischen Gewänder abzulegen und in ihrer empirischen
Nacktheit hervorzutreten, wie Adam und Eva nach dem Sündenfall. Sie tun dies
zwar auch noch innerhalb der Syzygie, aber mit der Fiktion, buchstäblich außer
ihr zu sein und die »faktische Realität« der Frau und des Mannes zu erfahren.
In vielen Kulturen wurden Frauen verschleiert und in die Frauengemächer
verbannt. Weil die Psyche heute die äußerliche Reflexion liebt, wird dies gerne
positiviert unter dem Aspekt von männlicher Macht und Unterdrückung gese­
hen. Die Männer sollen unter anderem wegen großer Angst vor dem Weiblichen
über die Frauen herrschen gewollt haben. Aber das ist das Pferd am Schwanz
aufgezäumt. Gewiß, Unterdrückung spielt dabei sicher auch eine gewichtige
Rolle. Aber sie kann es nur spielen innerhalb der schon so geordneten sozialen
Wirklichkeit und unter Ausnutzung ihrer. Der Machtgedanke vermag aber nicht
zu erklären, wie es zu diesen Institutionen überhaupt gekommen ist. Auch dies
ist aus der Syzygie heraus zu begreifen. Die syzygische Seele selber hat sich
selbst in ihr selbst auseinandergelegt, hat in sich zwei Aspekte ihrer selbst zuerst
unterschieden und dann gegeneinandergesetzt: auf der einen Seite einen »inner­
sten Kern«, der unbedingt unberührt, im Verborgenen bleiben und unbedingt als
jungfräulich unberührter behütet werden mußte, und einen Teil, der die Aufgabe
des Schützens und Bergens des ersteren hatte. Dieses innerpsychische Drama
oder Mysterium wurde in der sozialen Wirklichkeit mit verteilten Rollen von
den Frauen und den Männern gespielt oder richtiger: dargelebt, denn daß es ein
Spiel der Seele mit sich selbst war, blieb verborgen. Es erschien als schlechthin-
nige Wahrheit, als Naturnotwendigkeit. Dies ist die Wirkung der Anima in der
Syzygie, die das Drama der Seele mit absoluter Realität und Substantialität aus­
zustatten vermag. Die realen Menschen gingen ganz in dieser Rolle auf und ver­
schwanden in ihrer empirischen (und das heißt immer auch: individuell ver­
schiedenen) geschlechtlichen Eigenart weitgehend dahinter. Heute dagegen be­
ginnt sich die Psyche aus diesem Drama hinauszusetzen. Wir erfahren diesen
Vorgang positiv als Emanzipation einerseits und negativ als Sinnverlust anderer­
seits. Beides sind die zwei Seiten einer Medaille.
Geht man umgekehrt von den schon positivierten Männern und Frauen
aus, d.h. von solchen, die bereits aus der Syzygie hinausgetreten gewesen sein
sollen und dann als im Grunde immer schon Emanzipierte nur aus ichhaften
Gründen solche unterdrückenden Institutionen geschaffen haben sollen, dann
projiziert man das erst im Entstehen begriffene Resultat einer späten Entwick­
lung hin zur Emanzipation an den Anfang zurück und setzt es dem Entstehenden
als seinen Ursprung voraus. Man spinnt sich weiter in die Entfremdung ein und
treibt die Entwicklung tiefer in die Positivität. Wenn wirklich eine Angst der
Männer vor dem Weiblichen besteht, dann deswegen, weil in einer positivierten
Welt eine Angst vor der Negativität der Seele besteht und durch die Positivie-
rung die Frauen zu positiven Trägem jener Negativität geworden sind, die nun
ganz die Ihre ist. Man fällt ganz auf eine Animaverführung herein. Indem die
Männer und die Frauen, Patriarchat und Matriarchat gegeneinander ausgespielt
werden und dieses Spiel ganz buchstäblich genommen, ohne jeden Zweifel ge­
glaubt wird, wird der Mensch aus dem flüssigen Medium der logischen Bewe­
gung in die harte Faktizität der durch ihre Selbstidentität definierten »Männer«
und »Frauen« versenkt. Es ist dies eine harte Identität von Männern und Frauen,
wie es sie noch niemals in der Geschichte gegeben hat. Das Menschsein wird
immer mehr in die Beziehungskiste gesperrt, jenen Käfig, in dem der einzelne
zur Emanzipation-und-Entfremdung dressiert wird.
Es wird dabei nicht im Bewußtsein gehalten, daß das gesetzte Außerhalb
nur innerhalb als außerhalb seiend gesetzt ist und daß diese Männer und Frauen,
gerade weil sie als positive und faktische gesetzt sind, ihrerseits doch nur haltlo­
se Projektionen sind: mythisch-metaphysische Gebilde im pejorativen Sinn. Der
Mensch wird mehr und mehr zu einem Bestandteil der Außenwelt gemacht. Je
mehr die Haltlosigkeit und Flüssigkeit innerhalb der Syzygie oder des Schwar­
zen Kastens geflohen wird, desto mehr stürzt sich das Leben in die geflohene
(und qua Flucht aus der Seele herausgesetzte und qua Heraussetzung aus der Ne­
gativität der Seele zum angeblichen gewachsenen Fels positivierte) Haltlosigkeit
hinein. Denn der positivierte »reale Mensch« und die ihm entsprechende Fakten­
außenwelt sind die Haltlosigkeit selber, die jetzt eben nur herausgestellt, »reali­
siert« und zum neuen Ort des Lebens gemacht worden ist und daher als positive
Faktizität erscheint. Die wahre Gründung des Lebens geschieht in der Abgrün-
digkeit des logischen Lebens; dadurch, daß man in seiner Bodenlosigkeit aus­
hält, nein, mehr noch: sich in sie fallen läßt, sich in ihr bettet. Dieses Sich-Betten
des Menschseins in der Bodenlosigkeit war Aufgabe und Leistung der Rituale
und Initiationen in den alten Kulturen. Die Wahrheit der Positivität ist nur inner­
halb der Negativität, also als nicht selber positiv-buchstäbliche, zu finden. Der
direkte, positive Griff nach dem Positiven realisiert nur die gemiedene Bodenlo-
sigkeit als nunmehr positive draußen vor einem, und zwar als den neuen logi­
schen Status der ganzen Welt.
Ich kritisierte oben an Jungs Position zum Gottesbild in der Seele, daß der
Bezug zur Wirklichkeit ausgesperrt sei. So formuliert, ist es falsch herum. Damit
wird der Eindruck erweckt, als ob es draußen einen Referenten für den Begriff
Gott gebe. Diese Formulierung setzt noch einmal mehr die Wirklichkeit als eine
äußere an, auf die sich das Bild erst noch beziehen müsse: die Formulierung ist
selber gerade das Heraussetzen und Voraus-Setzen. Es gilt zu begreifen, daß das
Gottesbild als im heute sogenannten Schwarzen Kasten wesend immer schon
seine Wahrheit und Wirklichkeit bei sich hat, diese Wahrheit und Wirklichkeit
längst ist und diese erst sekundär, durch eben solche Hinaussetzungen in das
Niemandsland außerhalb der Syzygie, zusammen mit seiner Negativität verlie­
ren kann, und daß es sie genauso verliert, wenn der Bezug zu einem draußen sei­
enden Gott geleugnet, wie wenn er gerade - fundamentalistisch - behauptet
wird.
Die archetypische Psychologie hat sich von der Positivität zum Imagina-
len abgestoßen. Damit wird dem Animus in der Syzygie wieder mehr Tribut ge­
zollt, das sich selbst genügende Spiel der Archetypen tritt wieder ins Blickfeld.
Dennoch haftet dem Imaginalen noch zu sehr das »Sein« an. Es soll, nach plato­
nischer Tradition, ein »mittlerer Grund« sein. So wird es noch irgendwie in einer
(wenn auch viel schwächeren) Positivität festgehalten, nicht völlig fallengelas­
sen in seine eigene Bodenlosigkeit, wo es sich dann erweisen könnte, immer
schon rein logisches Leben der Seele gewesen zu sein. Es bleibt seinem logi­
schen Status nach noch ästhetisch, im Modus der Vorstellung und der Anschau­
ung, die eo ipso dem Angeschauten den Status der Dinglichkeit geben, auch
wenn es expressis verbis von aller Dinglichkeit (»Buchstäblichkeit«) befreit sein
soll. Die imagistisch verstandenen Bilder gegenüber dem Buchstäblich-Fakti­
schen in den Mittelpunkt zu rücken, heißt nicht unbedingt, die Ontologie der
Vorhandenheit zu verlassen. Es kann auch heißen, daß man der Kritik an dem
Ontologischen nur halbwegs entgegenkommt, ohne wirklich in das Element des
Logischen einzutreten, und vielleicht auch nur diese Konzession macht, um
nicht wirklich in es eintreten zu müssen. Was bedeuten Vorstellung und An­
schauung psychologisch? Sie bedeuten, daß sich alle Wandlung, hier vom Cha­
rakter des Buchstäblichen zu dem des Imagistischen, nur auf der objektiv­
inhaltlichen Seite, also in dem, was angeschaut wird, sozusagen auf der Kino­
leinwand, ereignen soll, während das anschauende Bewußtsein selber im Zu­
schauersessel hocken bleiben, d.h. natürliches Bewußtsein bleiben kann. Das
denkende, begreifende Bewußtsein dagegen ist aufgesprungen und hat sich in
das Geschehen auf der Leinwand hineinbegeben (immanente Reflexion).
Man könnte denken, daß die aktive Imagination im Sinn Jungs gerade die­
se Forderung in vorbildlicher Weise erfülle. Doch scheint mir das nicht der Fall
zu sein. Gewiß, hier tritt das Ich in die Szene ein, aber da das Ganze Imagination
bleibt, ereignet sich hier auch das Eintreten und nun Darinsein selber auf der
Ebene der Anschauung. Die seienden Gestalten und das Gegenüber von Ich und
ihnen bleiben erhalten. Der Eintritt des Ichs verflüssigt nicht das Ontologische in
reine logische Bewegung.
Die Seele als Schwarzer Kasten oder Goldgrund. Seit Jahrhunderten
oder eigentlich schon seit 2500 Jahren ist die Seele im christlichen Abendland
bemüht, sich (und damit immer auch uns) aus ihr selbst hinauszusetzen. Dieses
Hinaussetzen erfolgt freilich nur innerhalb ihrer. Da dieses Bemühen außeror­
dentlich erfolgreich war und wir daher zunächst einmal draußen sind (oder zu
sein vermeinen, insofern wir gläubig der Fiktion des Draußenseins, die sich die
Seele gemacht hat, getraut haben und dem Heraussetzungsprozeß treu gefolgt
sind), ist es ungeheuer schwer für uns, diese Zusammenhänge zu durchschauen;
ebenso schwer wie unabdingbar notwendig. Denn für die Psychologie hängt al­
les davon ab, daß diese Zusammenhänge begriffen sind. Daher möchte ich die­
ses Thema noch weiter vertiefen, indem ich mich in die Problematik des einfa­
chen Bildes, das die Seele sich heute von ihr selbst macht, des Bildes vom
Schwarzen Kasten, versenke.
Ich treffe zunächst die Feststellung: Der Schwarze Kasten und der Gold­
grund frühmittelalterlicher Gemälde sind das Selbe (wenn auch nicht das Glei­
che). Das gilt es als erstes einzuseheri. Im Goldgrund stellte die Psyche des früh­
mittelalterlichen Menschen ihren eigenen Seelenhintergrund, den pleromati-
schen Hintergrand des ganzen Seins von Mensch und Welt dar. Der Goldgrund
ist das stille und imbestechliche Zeugnis dafür, daß sich das Leben zu dieser Zeit
in der Syzygie und als die von Jung angesprochene »Gestaltung-Umgestaltung,
des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung« abspielte. Der Goldgrund ist durch zwei
Merkmale gekennzeichnet. Erstens ist seine Ausdehnung (der Potenz nach) un­
endlich. Alles, was ist, spielt sich als Besonderes vor diesem unendlichen Hin­
tergrund ab. In erster Linie wurden natürlich die archetypisch-religiösen Myste­
rien (hier speziell: Bilder des christlichen Heilsgeschehens) von den Malern vor
diesem Goldgrund dargestellt. Etwas anderes wäre ja auch gar nicht möglicher
Gegenstand des Malens gewesen als das sich selbst genügende Spiel der
Gestaltung-Umgestaltung, mit dem sich die Seele selbst »unterhält«. Aber so,
wie der Goldgrund zunächst der Hintergrund für die einzelnen Bilder des christ­
lichen Mysteriums war, so waren diese wiederum der Hintergrund für die ganze
»profane« Wirklichkeit. Der reale Mensch mit seinen alltäglichen Nöten und Er­
fahrungen war eingenommen in das und für das in den Bildern gestaltete Myste­
rium. Insofern war alles Wirkliche umfaßt und einbehalten von dem goldenen
Hintergrund der Welt, in welchem sich die Seele selber dargestellt hat. Der
Goldgrund ist das von der Seele hervorgebrachte Bild, in dem sie sich eigens
selber imaginiert und sich selber in ihrem Hintergrund- oder Behältnischarakter
anschaubar wird. Das zweite Merkmal des Goldgrundes ist, daß mit dem Gold
die Seele als strahlendes Licht erglänzt. Beides zusammen macht die Negativität
oder Abgründigkeit der Seele deutlich, denn diesen Hintergrund und jenes gol­
dene Leuchten gibt es natürlich nicht als positive Tatsachen, sondern nur als den
»metaphysischen« Hintergrund des Seins, der »Seele« heißt. Wären sie positive
Tatsachen oder Gehalte, dann müßten sie ja ihrerseits vor einem Hintergrund er­
scheinen und könnten nicht selber der Hintergrund (das Behältnis oder das Me­
dium, Element) sein. Die aufhahmebereite Leere des Hintergrunds oder Behält­
nisses ist das Bild für die Negativität im Unterschied zur Positivität der in ihr be­
findlichen Inhalte.
Beim Schwarzen Kasten sind beide Merkmale umgekehrt. Was der un­
endliche Goldgrund war, ist bei ihm zu einem kleinen umgrenzten Behälter ge­
worden. Als Behälter bewahrt er zwar noch immer die Funktion des Umfassens
und Einbehaltens. Aber die unendliche ausgedehnte Fläche hat sich zum dreidi­
mensionalen und damit umgrenzten Kasten zusammengefaltet, die unendliche
Ausdehnung ist dabei zusammengeschrampft. Was Hintergrund und selbst der
»Raum« für alles, was wirklich geschah, war, ist nun ein einzelnes überschau­
bares positives Ding geworden, das dann seinerseits im nunmehr geometrisch
vorgestellten leeren Raum, vor einem neuen, noch ungenannten Hintergrund ste­
hen muß. Dieser neue Hintergrund ist die Natur im neuen Sinn von faktischer,
physikalischer Außenwelt. Dem entspricht heute methodisch, daß die wissen­
schaftliche Psychologie vor dem »absolut gültigen« Hintergrund der Physik auf­
gezogen wird. Sie nimmt innerhalb dieser einen gewissen Freiraum (mit der da­
mit einhergehenden Narrenfreiheit) ein, einen Freiraum, der den weißen Flecken
auf den Landkarten Afrikas des 19. Jahrhunderts gleicht, die das noch nicht er­
forschte und nicht kolonisierte Innere des Kontinents Afrika darstellten, in dem
sich »die Wilden« oder »Primitiven« noch austoben durften. Die faktische Au­
ßenwelt gab es zu der Zeit, als Goldgrandgemälde gemalt wurden, gerade nicht,
und es konnte sie auch gar nicht geben - oder, wenn es sie schon hätte geben
können, dann hätte' es keine Goldgrundgemälde geben können. Denn zur
Goldgrund-Situation gehört, daß alles, also auch das, was wir heute die physika­
lische Außenwelt nennen, in der im Goldgrund sichtbar gewordenen Seele ein­
behalten und rings von ihr umschlossen war. Daß wir heute eine Faktenaußen­
welt haben, zeigt, daß das, was einst innen war, aus der Seele herausgesetzt wor­
den ist. Weil es herausgesetzt worden ist und also draußen ist, ist es nicht mehr
in dem Goldgrund oder in dem Kasten, als welcher jener Grand nunmehr er­
scheint. Der Hintergrund oder jetzt vielmehr der Behälter ist, weil er das, was er
einst einbehalten hätte, außer sich hat, heute leer. Er behält nur noch sich selbst,
den goldenen Hintergrund der Welt, als welcher die Seele ist, genauer: sein
Licht, sein goldenes Leuchten, in sich ein.
Diese Leere führt schon über zur Schwärze des schwarzen Kastens. Der
Kasten ist schwarz, absolut schwarz, weil die Seele alles Sein aus ihr selbst, d.h.
aus ihm, hinausverlagert hat, so daß der Kasten jetzt von außen gesehen wird
und sein goldenes Licht, das ganz in ihm einbehalten ist, gerade nicht mehr ge­
sehen wird. Wäre es noch sichtbar, d.h. würde es noch hervorstrahlen, dann wä­
ren die Dinge dieser Faktenaußenwelt in dem gleichen Maße, wie sie von die­
sem Licht erreicht würden, nicht wirklich draußen. Das Draußensein der positiv­
faktischen Realität beruht einzig darauf oder ist gleichbedeutend damit, daß der
Goldgrund aufhört, sichtbarer Hintergrund der Welt zu sein, und sich in sich,
d.h. zum Kasten, verschließt. Das frühmittelalterliche, auf eine Holztafel gemalte
Goldgrundgemälde ist gleichsam zu einem absolut verschlossenen Kasten, in
den kein Licht fällt, verarbeitet worden, und zwar so, daß die Gemäldeseite in­
nen ist und wir nur die schale Gemälderückseite zu sehen bekommen. Die
Schwärze beruhte nicht nur und nicht so sehr auf dem Umstand, daß von außen
kein Licht hereinfällt, sondern noch mehr auf dem Umstand, daß wir als Drau­
ßenstehende das drinnen befindliche nach wie vor glänzende Gold nicht mehr
sehen können, weil wir den Kasten nur von außen sehen: daß der leuchtende
Hintergrund sich verborgen oder abgewandt hat und sein Glanz so okkludiert ist.
Die Schwärze ist der unzugänglich gewordene goldene Hintergrund der Welt.
Jetzt gibt es eine dreifache Doppelheit. Die erste Doppelheit ist die von
Goldgrund und Schwarzer Kasten, von Anima-Welt und kraft des Animus aus
der Seele herausgesetzter Welt. Ein auch geschichtlicher Bruch trennt die beiden
als zwei Weltsituationen. Für beide gilt das Wort von der »Gestaltung, Umge­
staltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung«, das aber entsprechend der
Doppelheit zwei ganz verschiedene Bedeutungen erhält. In der von dem golde­
nen Hintergrund umschlossenen Welt spielte sich das syzygische Spiel der
Gestaltung-Umgestaltung ganz ungestört innerhalb dieses Hintergrunds ab und
verblieb in seinem Pieroma. Ihm dienten die alle Bereiche und Aspekte des Le­
bens direkt oder auch nur indirekt umfangenden Rituale, der das Jahr bestim­
mende Festkalender und das im ganzen als Gottesdienst zu begreifende Dasein,
und für dieses sich selbst genügende Spiel der Seele mit sich selbst wurde die
»Libido« eingesetzt und verbraucht, in ihm gewann sie ihre Erfüllung. Der Ani­
mus wurde erfahren, ohne jedoch die Animastufe fundamental zu durchbrechen.
Mit dem Brach aber hat die »Gestaltung, Umgestaltung« einen fundamental
neuen Sinn bekommen. Jetzt nämlich bedeutet sie gerade diejenige Umgestal­
tung, in der die Seele aus ihr selbst, aus der Animastufe, ausbricht und sich im­
mer weiter über sich selbst zu je neuen Stufen ihrer selbst hinaustreibt: der Ani­
mus innerhalb der Syzygie übernimmt die Führung.
Die zweite Doppelheit ist die, die sich mit der neuen Schwarzer-Kasten-
Situation ergibt: die Doppelheit von »dem Inneren« und »der Außenwelt«, von
bloß subjektiver Vorstellung und objektiver Realität, von »Psychologie« und
»Physik«. Die dritte Doppelheit bezieht sich wieder nur auf die eine Seite der
vorigen Doppelheit. Es ist die Doppelheit innerhalb von »Psychologie«, nämlich
die von »Aufsitzen« und »Durchschauen«, von »Agieren« und »Erinnern« oder
von »Psychologie, die außer sich ist« und »Psychologie, die bei sich selbst ist«.
Die letzte Doppelheit muß näher besprochen werden.
Wir sagten schon, daß die Seele sich die Täuschung machen muß, tatsäch­
lich außer ihr zu sein. Wenn es die Täuschung und das dieser Aufsitzen, d.h. ihr
blind Glauben, nicht gegeben hätte, hätte das Heraustreten aus der Goldgrand-
Situation gar nicht erfolgen können. Zwar wäre innerhalb der ursprünglichen Si­
tuation das syzygische Spiel von Anima und diese tötendem Animus gerade vor
sich gegangen, aber das Töten der Anima wäre selber ganz innerhalb der anima­
haften Goldgrund-Situation einbehalten geblieben, ohne daß diese über sich
selbst zu einer ganz neuen Stufe hinausgetrieben worden wäre. Nur in dem fe­
sten Glauben, daß das Heraussetzen buchstäblich nach draußen führt, konnte die
Seele sich von ihrem Eingesponnensein in ihr selbst wirklich befreien. Deswe­
gen muß es den unbedingten Glauben an eine Faktenaußenwelt als die Realität
geben, und es muß eine Psychologie, die außer sich ist, geben, also eine Psycho­
logie, die sich immer mehr hineinbohrt in das Positiv-Faktische: indem sie den
»realen« Menschen zum Substrat der Seele macht; indem sie so, wie man sich
während des Stellungskrieges im Ersten Weltkrieg in die Schützengräben ein­
grub, sich eingräbt in die Phantasie von dem Säugling und der Mutter oder von
Kleinkind und ödipalem Konflikt; und sich einschießt auf die als positive Reali­
tät genommene Psyche des Patienten und auf die Traumata, die jener als Opfer
von sexuellem Mißbrauch und elterlicher Gewalt erfahren hat. Das eben ist die
Weise, wie immer mehr Libido (d.h. Glaubwürdigkeit, Überzeugungskraft,
»Realität«) aus dem Goldgrund der Seele heraus in jene Phantasie der Seele, die
»positive Realität« heißt, hineinverlagert werden und diese immer mehr und im­
mer solider zu ihr selbst erbaut werden kann. Sie wird immer glaubwürdiger,
immer realer, immer mehr zur wahren Substanz.
Die Psychologie, die außer ihr ist, gräbt der Seele das Wasser ab und führt
es der »Physik« zu. (Die beste »Psychologie, die außer ihr ist« ist natürlich die
»Physik« selbst.) Indem sie die Seele an dem anthropologisch verstandenen
Menschen als Substrat festmacht, bestätigt und untermauert sie die moderne Me­
taphysik der »Physik« und schafft an der immer weitergehenden Verdunkelung
des Schwarzen Kastens. Aber eben dieser Vorgang, in dem sich die Seele selber
das Wasser abgräbt und sich ihren eigenen Goldgrund okkludiert, ist eine Illu­
sion, die die Seele sich macht, wobei in »Illusion« lateinisch »ludere«, spielen,
mitgehört werden muß. Denn diese Illusion ist nichts anderes als das neue Spiel
der Gestaltung-Umgestaltung der Seele selber, in welchem Spiel sie sich freilich
nicht mehr wie in der Animawelt einfach an ihre Selbsterfüllung hingibt und da­
für verausgabt, sondern animushaft in sich einschneidet und aus sich ausbricht.
Freilich nach wie vor innerhalb dieser ihrer Illusion, innerhalb dieses ihres eige­
nen Spiels. Dies zu »erinnern«, ist die eigentliche Aufgabe der Psychologie,
durch deren Erfüllung sie zur Psychologie, die bei sich ist, wird. Es ist dies je­
doch eine Aufgabe, die die Psychologie nicht nur um ihres methodischen Gewis­
sens willen, sondern auch für das Inderweltsein des Menschen überhaupt zu er­
füllen hat.
»Erinnern« heißt nicht, jenes gesetzte Draußen zurückzuholen, die Set­
zung seiner ungeschehen zu machen und den alten Zustand wiederherzustellen.
Das wäre konservativistisches (»reaktionäres«) und nostalgisches Erinnern. Es
heißt vielmehr, im entschiedenen Mitgehen mit der unwiderruflichen Herausset­
zung der Bodenlosigkeit der Seele aus ihr hinaus zum substantiellen Grund
draußen sich dessen bewußt bleiben, daß es sich um Setzung, tun »Illusion« als
syzygisches Spiel der Seele mit ihr selbst handelt, ein Spiel, in dem wir als acto-
res partizipieren, sowohl wenn wir es blind agieren, als auch, wenn wir es erin­
nern. Es heißt, das Draußen als inneres Draußen zu durchschauen (womit das
Gegenteil von dem, was Freud das »innere Ausland« nannte, benannt ist: Freud
meinte ein nur metaphorisch als Ausland zu bezeichnendes Gebiet innerhalb des
Inneren, ich meine das reale Draußen, das aber als an ihm selbst seelisch begrif­
fen werden soll).
Wenn wir »erinnern«, dann geschieht etwas Unerwartetes. Es zeigt sich
dann, daß der Schwarze Kasten gar nicht der besondere kleine, sowohl von un­
seren Blicken wie von der Realität der Natur umgrenzte Behälter ist, den man
nicht einsehen kann, sondern daß er immer noch, wie einst der mittelalterliche
Goldgrund, der unendliche Hintergrund des ganzen Lebens einschließlich unse­
rer selbst und der Natur als Faktenaußenwelt ist. Das, was wir aufsitzend für au­
ßerhalb seiner seiend halten, die ganze Faktenaußenwelt, ist in Wahrheit von
ihm umfaßt, ist in ihm drin. Denn daß es draußen sei, ist eben die Illusion, die
die Seele sich auf dieser Stufe ihrer Selbstdarstellung macht. Wir sitzen immer
noch mitsamt der ganzen Natur vollständig einbehalten in dem »Kasten«, der
Seele heißt. Und wir sitzen gerade umso mehr darin (in ihm als Schwarzem Ka­
sten), wie wir vermeinen, draußen zu sein und es mit einer objektiven Realität
zu tun zu haben, weil ja dieses Vermeinen, draußen zu sein, nichts anderes als
die Schwarze-Kasten-Situation selbst ist. Es geht nicht darum, daß dieses Ver­
meinen nicht sein dürfe. Es geht vielmehr darum: Je mehr man draußen zu sein
glaubt und an eine Außenwelt außerhalb der Seele glaubt, desto mehr spinnt das
Leben sich in die Seele als die total verdunkelte ein. Wir blicken in Wahrheit
sehr wohl in das Innere des Schwarzen Kastens, nur sehen wir das Innere des
Kastens, dank der Täuschung und dank der damit gleichbedeutenden Herausset­
zung, als ein Äußeres draußen, als die naturwissenschaftlich verstandene Reali­
tät. Diese ist der Inhalt des Schwarzen Kastens, und die Schwärze des Kastens
ist überall um sie und um uns hemm: als die glanzlose, sinnlose Faktizität der
positiven Fakten, aus denen diese Welt besteht. Es gibt in Wahrheit gar nicht ei­
nen unsichtbaren Inhalt des Kastens noch zusätzlich zur Außenwelt, sondern die
Fiktion von einem zusätzlichen begrenzten Kasten und seinem Inhalt ist nur da­
zu nötig, um die Außenwelt zur Außenwelt zu machen. Der Schwarze Kasten ist
demnach eine in sich widersprüchliche Phantasie.32
32 Das hier Aufgezeigte läßt sich mit der Idee der »Umstülpung des Seins«, wie ich sie in meinem
Buch Die Atombombe als seelische Wirklichkeit dargelegt habe, verbinden.
Der »Schwarze Kasten« und der »Goldgmnd« sind Bilder. Die Gefahr
von Bildern ist, daß sie uns im Anschauen und Vorstellen festhalten. Die logi­
schen Verhältnisse, die wir hier zu begreifen suchen, können aber nicht mehr
vorgestellt werden. Ein Kasten, der als Behältnis des absolut Irrealen per defini-
tionem die ganze Realität außer sich hat und gleichwohl dieselbe Realität völlig
umfaßt, ist für das an der Vorstellung und Wahrnehmung orientierte Denken
blanker Unsinn. Wir müssen hier das Vorstellen gerade hinter uns lassen und
zum denkenden Denken fortschreiten. Dann erkennen wir, daß gerade in dem
Maße, wie es eine Faktenaußenwelt außerhalb der Seele als dem Schwarzen Ka­
sten gibt, eben diese Faktenaußenwelt in dem Schwarzen Kasten sitzt und dieser
mit seiner Verschlossenheit total über sie herrscht. Was für das alltägliche Vor­
stellen das Allerselbstverständlichste ist, die »objektive Außenwelt«, erweist
sich logisch, der Selbstwiderspruch zu sein, nur dadurch als außerhalb des
Schwarzen Kastens seiend gesetzt zu sein, daß sie als in ihm seiend gesetzt ist,
oder nur in dem Maße im Schwarzen Kasten zu sein, wie sie als außerhalb seiner
seiend gesetzt ist. Für die Vorstellung ist die »Außenwelt« ein schlechterdings
einfacher Begriff, den man gedankenlos (ohne sich weiter etwas dabei denken
zu müssen) so aufnehmen muß, wie man ihn (sie) einfach vorfindet. Logisch be­
griffen aber ist sie als Begriff die Bewegung (das in sich Bewegte) des sich aus
sich selbst Heraussetzens. Sie ist nur als das fortwährende Verleugnen ihres Dar­
inseins in dem, als worin seiend sie doch zugleich gesetzt ist: ohne diese Ver­
leugnung »gäbe es« die Außenwelt nicht; sie wäre als Mythos im pejorativen
Sinn des Wortes durchschaut. Aber eben damit wäre das Denken (auf neuer, hö­
herer Stufe) wieder in den Mythos im nicht-pejorativen Sinn eingekehrt. Die
ganze Welt, alle Wirklichkeit, wäre in ihr selbst mythisch, seelisch: Denn ohne
die Verleugnung des Darinseins würde eben das uroborische Darinsein walten,
womit der »objektiven Außenwelt« das Ende bereitet wäre.
Ich habe den Goldgmnd und den Schwarzen Kasten als zwei Weisen des
Verfaßtseins von Welt oder zwei Situationen des Inderweltseins einander gegen­
übergestellt. Jetzt müssen wir, um den geschichtlichen Wandlungen besser ge­
recht zu werden, diesen einfachen Gegensatz durch zwei weitere Bilder ergän­
zen und verkomplizieren. Als Zwischenglied zwischen Goldgmnd und Schwar­
zem Kasten setze ich das vas hermeticum (die alchemistische Retorte) und zeit­
lich vor den Goldgrand setze ich den »Mythos« (einschließlich Ritual), so daß
sich die Reihe ergibt: Mythos - Goldgmnd - vas - Schwarzer Kasten. Das alche­
mistische Gefäß ist schon wie der Kasten buchstäbliches Behältnis und um­
grenzt. Es ist ein Gegenstand in der Außenwelt. Der Alchemist hat das Gefäß als
kleinen Gegenstand vor sich und sich gegenüber. Er steht draußen. Und wie in
der modernen Situation ist die Haltung des Adepten seinem Inhalt gegenüber
auch schon eine systematisch-experimentelle, also nähemngsweise technische.
Ebenso drückt das trennende Glas bereits den animushaften Scheidungsakt, mit
dem die Seele ihr reines animahaftes Eingesponnensein in ihr selbst beendet und
eine Trennung zwischen innen und außen setzt, aus. Aber anders als der Kasten
ist das Vas durchsichtig, man kann und soll gerade hineinschauen, und aus ihm
kann ein Glanz hervorleuchten, in ihm sich ein Mysterium ereignen. Dies ver­
bindet es mit dem Goldgrand. Genauso ist es ganz und gar nicht wie der Kasten
als nur begrenzt konzipiert. Das vas hermeticum stellt vielmehr gerade »das
Weltall, in welchem die Erde geschaffen wurde,« dar. Die »alchemistische Re­
torte ist daher gleichbedeutend mit der anima mundi, welche das Weltall um­
hüllt«.33 Und das Mysterium, das sich in ihr ereignete, vermochte noch den
Adepten und seine ganze Welt zu ergreifen und verwandeln. Offenbar drückte
sie noch das logische Leben wirklich aus. Die Alchemie, obwohl bereits vom
Animus als Töter erreicht, vermochte noch zu »erinnern«. Sie hielt die Dialektik
von kleinem Gefäß und Unendlichkeit der Welt und von Draußenstehen und
Rings-Einbehaltensein aus. Aber eben deswegen konnte die Alchemie auch
nicht die technisch-praktischen Erfolge erzielen, die die Naturwissenschaft, wel­
che nicht mehr nur draußen steht, sondern sich auch entschieden und unwider­
ruflich von dem Vas abgekehrt hat, so daß dieses zum nicht einzusehenden
Schwarzen Kasten geworden ist, vollbracht hat. Die Alchemie ist so gerade ein
Beispiel, wie der trennende Animus wirksam sein kann, ohne die Seele schon
wirklich aus ihr hinaus zu setzen. Die Alchemie blieb letztlich in die animahafte
Imagination einbehalten. Das dürfte der Grand für ihren sang- und klanglosen
Untergang gewesen sein. Sie vermochte den geschichtlich im Abendland offen­
bar fällig gewordenen Schritt aus ihr selbst hinaus und über sich hinaus zu einer
radikal neuen logischen Stufe nicht zu tun. Deswegen geriet sie ins geschichtli­
che Abseits und ist nur noch allegorisch-metaphorisch oder historisch oder aber
nostalgisch von Bedeutung.
Der Goldgrund, den ich anfangs als das Ursprüngliche dem modernen
Schwarzen Kasten gegenübergestellt habe, ist nicht das Ursprüngliche. Er verge­
genständlicht (verdinglicht) den Seelenhintergrand schon etwas. Einerseits ist er
schon weitgehend mittelalterlich-transzendent im Sinn von außerweltlich, über­
weltlich, jenseitig. Er ist im Begriff, in die reine Idealität abzuheben. Anderer­
seits und umgekehrt ist er als Vergegenständlichung des Seelenhintergrundes
schon auf dem Weg dazu, ein >Etwas< zu werden, das dann in der Folge auch
zum alchemistischen Gefäß und weiter zum Kasten schrumpfen konnte. Der
Charakter der Seele als logisches Leben, das alles durchwirkt und nicht eigens
sichtbar ist, sondern immer nur im wirklichen menschlichen Leben, Erfahren
und Tun lebendig webt, wird schon ein wenig verdunkelt - gerade indem es
buchstäblich als leuchtendes Gold erscheint.
Das syzygische Leben der Seele selber artikuliert sich angemessener im
»Mythos«, mit welcher Chiffre hier nicht einzelne Erzählungen, sondern die

33 C.G. Jung, GW 13 § 245.


Stufe von Mythos und Märchen ebenso wie von dem rituellen Leben in den ritu­
ellen Kulturen und der visionären Erfahrung des Schamanen ebenso wie der
Sprache überhaupt (»mythos« heißt auch Wort, Erzählung) benannt seien. My­
thos, Ritual und Sprache: das ist die ursprüngliche Selbstdarstellung des sich
selbst genügenden Spiels der Seele mit ihr selbst. Zu der Zeit, als Mythos und
Ritual galten, wohnte der Mensch, wohnte die ganze Welt in ihnen. Wie der
Goldgrund war der »Mythos« kein buchstäbliches Gefäß, sehr wohl aber ein Be­
hältnis oder der Seelenhintergrund. Da war nicht eine Außenwelt, die dann
durch Mythen »erklärt« oder »verklärt«, »überhöht« werden sollte. Alles, was
ist, hatte im Mythos seinen logischen Ort, und dieser durchwebte alles. Das ver­
mochte der Mythos gerade durch seine noch über die des Goldgrundes hinausge­
hende Negativität (oder Bodenlosigkeit). Denn während im Goldgrund der Welt
der seelische Hintergrund als solcher schon gegenständlich dargestellt wurde, ist
dies beim Mythos im weiten Sinn nicht der Fall. Den Mythos gibt es nicht. Er ist
nur (und geht völlig auf) im Vortrag je einzelner mythischer Erzählungen, ohne
sich diesen gegenüber noch einmal eigens zu behaupten. Das Ritual ist nur im
Vollzug bestimmter Rituale und gibt sich völlig an ihn hin. Die Sprache ist nur
in der jeweiligen Rede.
Die Seele als Haus der wirklichen Welt. Alle vier, Mythos, Goldgrund,
Vas, Schwarzer Kasten, sind das Selbe, wenn auch nicht das Gleiche. Sie sind
das Bild der Seele selbst, der Seele in ihrer Negativität als selber »leeres« »Be­
hältnis« oder »Grund«, aber so, wie das Bild je nach der Stellung des Menschen
zur oder in der Seele sich anders darbietet. Es sind vier grundlegend verschiede­
ne Weisen (Verfaßtheiten) des ganzen Inderweltseins und der Welt selbst. Was
ich hier sage, berührt das Problem der »Realität der Außenwelt« nicht, weder so
noch so. Ich behaupte nicht, wenn ich davon spreche, daß die Welt, Gott, wir
selbst und alles, was ist, in der Seele (als Mythos, Goldgrund, Vas oder
Schwarzer Kasten) einbehalten seien, daß es die Welt gar nicht gebe und alles
nur Schein oder Traum oder Vorstellung in unserem Bewußtsein sei. Diese ab­
surde Variante von Idealismus steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Die ganze
Alternative von (so begriffenem) Idealismus und Materialismus gehört ihrerseits
in das »Aufsitzen«, in die Situation des Herausgesetztseins hinein. Denn da soll
über das faktische »Sein« der Welt entschieden werden: das Denken bleibt der
Ontologie verhaftet, d.h. es agiert den einer Animaverführung verfallenen Ani­
mus. Es ist ja der Animus, der die Seele unerbittlich von ihr selbst unterscheidet;
und es ist die Anima, die den imaginalen oder logischen Produkten der Seele
Substanz und Sein verleihen möchte, die also den vom Animus gemachten Un­
terschied beim Wort nimmt und als substantielle Realität aus der Seele heraus­
setzt.
Die Frage nach dem »tatsächlichen Sein« der Welt kann man gar nicht
emstnehmen. Die Ontologie ist als in die Illusion, die die Seele sich macht, hin­
eingehörig erkannt. »Sein«, »Existenz«, »es gibt«, »Realität«, »Wirklichkeit«
sind immer schon sprachlich-seelische Bilder und Begriffe. Mit ihnen sind wir
immer schon in der Seele. Die Frage, ob die Welt real sei oder nicht, ist insofern
keine theoretische (das Erkennen der Wirklichkeit betreffende) Frage. Sie ist
vielmehr ein ritueller Akt, eine alchemistische Operation, mit der wir etwas be­
wirken, verändern. Fragen wir sie, dann siedeln wir uns —ganz gleich, wie wir
antworten! - nur weiter außerhalb des Schwarzen Kastens an und hausen uns eo
ipso tiefer in ihm und seiner Buchstäblichkeit ein. Sie dienen der Verlagemng
des Inderweltseins aus dem Goldgrund oder aus der Retorte in den Schwarzen
Kasten. Die ganze Frage nach tatsächlichem Sein oder Nichtsein der Welt müs­
sen wir einfach sich selbst überlassen. Wir schenken sie uns nicht einfach, wir
klammem sie auch nicht im Sinn der Husserlschen Epoche ein, womit Psycholo­
gie reine Wesensschau wäre. Sie gilt uns auch nicht einfach als nicht beantwort­
bar, womit sie immer noch als gmndsätzlich berechtigt oder stellbar anerkannt
und unverwandelt stehengelassen wäre. Sie wird vielmehr als nicht stellbar, als
ohne logischen Sinn seiend durchschaut. Wir bestreiten die Wirklichkeit der
Welt nicht, und wir behaupten die Wirklichkeit der Welt nicht in einem naturali­
stischen oder materialistischen Sinn. Diese Wirklichkeit ist vielmehr die selbst­
verständliche, uns immer schon vorausliegende reale Voraussetzung allen unse­
ren Denkens und Lebens. Die Voraussetzung der wirklichen Welt haben wir im­
mer schon gemacht, schon als biologischer Organismus. Sie liegt all unserem
Denken voraus. Wir sind nicht frei, sie zu machen oder nicht zu machen, weil
wir diese Voraussetzung sind und weil wir nur als diese Voraussetzung sind.
Würden wir diese Voraussetzung nicht machen, dann wäre dieses Nichtvoraus­
setzen entweder bloß eitles Gerede, oder, wenn es wirklich wäre, dann wären
wir in demselben Augenblick tot. - Wir nehmen also »Wirklichkeit«, »Exi­
stenz«, »Sein«, »Realität« im Gegenzug zu Husserl gerade eigens in die Seele
hinein, wodurch sich allerdings die Ontologie in Logik übersetzt und die Psycho­
logie aufhört, die Lehre von dem Bloß-Subjektiven, von bloßen Bildern ohne
Wahrheit, Wirklichkeit, Erkenntnisdignität zu sein.
Das Wirkliche, das immer schon vorausgesetzt ist, ist eo ipso reine aristo­
telische Hyle, reines X. Über es läßt sich nicht reden. Es läßt sich nicht denken.
Überall, wo schon etwas gedacht und gesagt wird, ja selbst da, wo der Gedanke
des X gedacht wird, ist man schon in der Seele, die das X als ihre eigene Vor­
aussetzung innerhalb ihrer hat und auf dem Grund dieser Voraussetzung die
Auseinanderlegungen ihrer Bilder und Begriffe vomimmt.
Daß die Welt im Mythos oder in der Sprache wohne, besagt also nicht,
daß sie nur »fiktiv« und »subjektiv« im Gegensatz zu »real« und »objektiv« sei.
Der Unterschied zwischen subjektiv und objektiv ist selbst schon ein innerseeli­
scher Unterschied. Die Seele als logische Bewegung und als Mythos und Spra­
che ist unhintergehbar. Auch das »Außerseelische«, auch der »tote Stoff«, auch
die »Realität« ist eine seelische Phantasie. Auch die Sinnlichkeit, auch der Leib
und die Sexualität des Menschen wohnen in der Seele, selbst wenn es gerade zu
diesen Vorstellungen in der Schwarzer-Kasten-Situation gehört, so gemeint zu
sein, daß sie außerhalb der Seele seien. Es ist eben das Vermögen (und die Not­
wendigkeit) der Seele, sich innerhalb ihrer die Vorstellung von etwas außerhalb
ihrer zu machen. Und sie hat auch die Kraft, dieser (nicht abschätzig zu beurtei­
lenden) Illusion von einem von der Seele unabhängigen, ja die Seele erst be­
gründenden Sein, die sie sich macht, so viel Überzeugungskraft zu verleihen,
daß wir Menschen ihr blind aufsitzen können. Die ganze Unterscheidung von
Fiktion und Realität ist ihrerseits eine innerhalb der Seele vorgenommene Unter­
scheidung. Weil das durchschaut ist, können wir nicht mehr Ontologie treiben.
Wir können nur die Logik der Vorstellungen, Begriffe und Differenzierungen,
die die Seele sich macht, geben.
Wenn ich von Welt und Mythos rede, geht es also gerade nicht darum, ei­
ne schon längst als buchstäblich seiend gesetzte Außenwelt dann, obwohl sie
doch als faktische Außenwelt bestimmt ist, plötzlich dennoch im Mythos, also in
menschlichen Erzählungen über die Welt oder in sonst irgendeinem Inneren
(Seele) anzusiedeln. Es macht keinen Sinn, in der Haltung des sich aus der Seele
Hinausimaginierens zu verharren und in dem Inhalt seiner Sätze die Außenwelt
dann doch wieder im Inneren der Seele anzusiedeln, womit dann die sogenannte
Außenwelt ihrer Stofflichkeit, Sinnenhaftigkeit, Realität beraubt würde. Ich ma­
che genau das Gegenteil. Ich versuche zu zeigen, daß diese unsere Außenwelt in
ihrer physikalischen Faktizität, mitsamt ihrer Sinnlichkeit und Materialität, die
Welt also, wie wir sie heute tatsächlich erleben und meinen, die Welt gerade in
ihrem unerschütterten Realsein, aus dem Schwarzen Kasten als der modernen
Form der Seele heraus erfahren ist. Der Schwarze Kasten, als den wir die Seele
heute imaginieren müssen, soll zwar in uns oder unser »Inneres« sein, aber er ist
in Wahrheit unendlich groß und erstreckt sich über die ganze Welt, über alles,
was tatsächlich für uns geschieht, ja über es hinaus. Ich rede nicht metaphysisch
über die Welt als Kantisches Ding-an-sich und behaupte nicht anschließend, die­
ses sei im Schwarzen Kasten. Ich rede von den Verschiebungen in dem logi­
schen Verfaßtsein von Welt, also von »Verfassungen«, innerhalb von denen das
tatsächliche Geschehen erfahren wird.
Die Seele legt sich immer schon innerhalb ihrer auseinander in: sie selbst
in ihrer Negativität als Behältnis oder Grand und eine ihr gegenüberstehende
Wirklichkeit als der »Inhalt« des Behältnisses, und diese Auseinanderlegung zu
sein, das ist, was wir Seele nennen. Aber wie sie sich je spezifisch auslegt, d.h.
welche Gestalt der Grand hat und welche dem entsprechende Form die aus ihm
heraus erfahrene (von ihm gefaßte) Welt hat, ist zu verschiedenen Zeiten ver­
schiedenen. Die Seele kann sich die Welt z.B. als die äußere »Realität« im Sinn
der Naturwissenschaften imaginieren, wo dann die Wissenschaft derjenige My­
thos ist, zu dessen Aussage es gehört, gerade kein bloßer Mythos/Sondern die
Lehre über die objektive Wirklichkeit »außerhalb« des Schwarzen Kastens zu
sein. So kann sie auch eine Idee von Körper und Sexualität und Trieb entwik-
kein, die außerhalb der Seele und der Sprache, nämlich »rein biologisch« sein
sollen. Dann wird das, was im Leben geschieht, von diesen Ideen her erlebt. Sie
kann sich aber zu einer anderen Zeit »dasselbe« Geschehen auch als im vas her-
meticum oder im Goldgrund oder im Ritual seinen Ort habend imaginieren, wo­
durch es aber gerade aufhört, »dasselbe« zu sein. So verschieden die dadurch
entstehenden Verfassungen von Welt und die Weisen des Inderweltseins und
Welterlebens sind, immer ist es die Seele, die innerhalb ihrer dem Geschehen ei­
nen bestimmten logischen Ort und so die jeweilige Verfassung gibt.
Wenn man will, könnte man sagen: ich rede wie Jung von den »Wandlun­
gen und Symbolen der Libido«, wenn man für »Libido« bereit wäre »die Rede
der Seele zu ihr selbst« oder »das grundlose Spiel der Seele mit ihr selbst« ein­
zusetzen und für »Symbol« die »Selbstdarstellung der Seele«, was dann zusam-
mengenommen etwa ergäbe: ich rede von den Wandlungen der Selbstdarstel­
lung des grundlosen Spiels der Seele mit ihr selbst oder von der Geschichte der
diversen Formen, die dieses Spiel aus sich erzeugt und in denen es sich abspielt.
Die Formen, die das grundlose Reden der Seele mit ihr selbst geschichtlich an­
nimmt, sind jeweils das Behältnis oder Haus von allem, was ist. Ich rede mit den
Bildern von Mythos, Goldgrund, Vas und Schwarzem Kasten von den Wandlun­
gen in der Logik der Seele, von den Verschiebungen von einem zum anderen lo­
gischen Status, welche logischen Status bestimmen, als was das wirklich Ge­
schehende erlebt wird.
Die Selbstauslegung und Auseinanderlegung der Seele geschieht nicht
nur, ja nicht einmal in erster Linie im Menschen, sozusagen in unseren »Schä­
deln«. Dann wäre ja die Seele noch einseitig und buchstäblich in uns angesiedelt
und hätte notwendig die äußere Realität sich gegenüber. Die Selbstauseinander-
legung der Seele geschieht vielmehr in erster Linie in der ganzen Lebenswirk­
lichkeit und als dieselbe, und sie artikuliert sich vornehmlich in den und als die
sozialen, politischen, kulturellen Institutionen, in der Wirtschaftsform, in den
Werken der Kunst und Wissenschaft, in Religion und Philosophie und in deren
jeweiligen Wandlungen.
Das Problem der Projektion und das Beispiel der Entwicklungspsy­
chologie. Die ganze Problematik möchte ich jetzt noch näher am Beispiel der
Entwicklungspsychologie verdeutlichen. Andrew Samuels bemerkt kritisch ge­
gen Hillman und dessen archetypische Psychologie, daß dieser zwar mit Recht
die Theorien des entwicklungspsychologischen Ansatzes als Phantasien im Be­
wußtsein des Theoretikers betrachtet habe, aber daß dies - was seltsam sei für
einen so sehr an Phantasien interessierten Forscher —bei Hillman offenbar soviel
heiße wie daß sie »unwirklich, wahnhaft, falsch« seien. So dürfe man aber nicht
denken. Die Seele selber spreche vielmehr durch die Entwicklungspsychologen
hindurch. Das Kleinkind und seine Eltern seien nämlich nicht nur Projektions­
schirme für die Phantasien des Psychologen, sondern auch für die Psyche sel­
ber.34
So einfach ist das: In der Entwicklungspsychologie drückt sich die Seele
selber aus, also müssen wir sie auch genauso und in demselben Sinn ernst neh­
men wie die archetypischen Phantasien. Es gibt offenbar keine fundamentalen
Unterschiede für Samuels, oder sie werden nivelliert.35*Er hat natürlich völlig
recht, daß sich auch in der Entwicklungspsychologie die Seele darstellt. Aber
die Seele stellt sich in schlechterdings allem von Menschen Gesehenen, Gedach­
ten, Gefühlten, Erlebten dar. Auch in den Grundbegriffen und Ergebnissen der
Physik, Biologie und Soziologie drückt sich die Seele aus, was diese Grundbe­
griffe aber noch keineswegs dazu geschickt macht, als Basis einer psychologi­
schen Lehre zu dienen. Daß vollends auch aller Irrtum, die Lüge, der Unsinn aus
der Seele stammen, ist ganz ausgeblendet. Der bloße Charakter, Selbstausdruck
der Seele zu sein, insofern er unterschiedslos für alles gilt, besagt also noch gar
nichts, dann nämlich, wenn es darum geht, die für eine psychologische und the­
rapeutische Theorie geeigneten Leitphantasien auszuwählen. So wird z.B. mit
Recht seit langem das früher in der Tiefenpsychologie benutzte hydraulische
Modell als ungeeignet kritisiert. Es ist ein Witz, die entwicklungspsychologische
Richtung innerhalb der Jungschen Schule auf eine Stufe mit der archetypischen
Psychologie zu stellen. Der logische Abgrund, der zwischen ihnen besteht, wird
damit übersehen oder zugekleistert.
Samuels betätigt sich als geschickter Apologet des common sense, der
hier nicht mit Jungs consensus gentium oder dem sensus communis der Tradition
zusammengebracht werden darf, sondern das gewöhnliche (natürliche) Bewußt­
sein des modernen Alltagsmenschen oder den gesunden Menschenverstand
meint. Wie kann am besten verhindert werden, daß das Bewußtsein aus seinem
Alltagsstatus in den Abgrund der Psychologie abstürzt? Nicht dadurch, das
scheint Samuels erkannt zu haben, daß man Bollwerke errichtet, sich einbunkert
und polemisiert. Sondern dadurch, daß man sich offensiv zu zeigen bemüht, daß
gar keine Kluft bestehe. Was an der Oberfläche durchaus wie Gegensätze er­
scheint, ist in der Tiefe durch ein gemeinsames Anliegen (»a shared vertex«, »a

34 Andrew Samuels, The Plural Psyche: Personality, Morality and the Father, London und New
York (Routledge) 1989, S. 17.
35 Samuels wehrt sich vehement gegen den Vorwurf der Nivellierung. Er wolle durchaus nicht die
Differenzen zwischen den verschiedenen Schulen übergehen. Das kann ihm zugestanden werden.
Er stellt in der Tat die Differenzen zwischen den verschiedenen Richtung deutlich heraus. Aber
da er nur inhaltliche Differenzen behandelt und insofern, als er sie dann doch »pluralistisch« ver­
rechnet, zeigt sich, daß sein Ansatz in einem fundamentaleren Sinn differenzlos ist: der Pluralis­
mus kennt nicht den logischen Unterschied zwischen grundlegend verschiedenen Reflexionsstu­
fen, auf denen die Schulrichtungen angesiedelt sind. Samuels behandelt sie alle (stillschweigend,
weil dieser Unterschied nicht in seinem Horizont liegt) als auf derselben logischen Ebene ste­
hend. So ist sein Pluralismus in der Tat die Nivellierung, nur in einem tieferen Sinn. Ich meine, er
ist tödlich.
common process«36) bestimmt. So ganz entsprechend sagt Samuels in der refe­
rierten Stelle im Grunde, daß Hillman offene Türen einrenne: die Forderung, die
in Hillmans Vorwurf an die Adresse der Entwicklungspsychologie liegt, ist nach
Samuels von dieser längst erfüllt. Streiten kann man sich höchstens noch über
die Details. Das ist die Heilsbotschaft des Pluralismus.
Von unserem Zusammenhang her läßt sich sagen, daß die entwicklungs­
psychologische Fixierung auf Kleinkind und Eltern ein Paradebeispiel für den
Vorgang ist, in dem die Seele ihre eigene Bodenlosigkeit aus sich hinausproji­
ziert und sich dann in die so erzeugte Positivität einspinnt. Sie stellt diese ihre
Bodenlosigkeit selbst aus ihr hinaus, so daß sie qua empirisch beobachtbares
Kind als stabiles Fundament erscheint. Das seelische Geschehen wird aus der
Seele hinausgeschafft und so zu einer »äußeren Faktizität« gemacht.
Hier ist es nun entscheidend, nicht zu sagen: das aus der Seele Herausge­
setzte wird auf das empirische Kind projiziert und in dieses hineingestopft.
Denn das bedeutete, daß da zunächst das reale Kind wäre, das als Projektions­
schirm dient (kraft der Projektionen aber nicht »real« gesehen werden kann),
und daß da zusätzlich innere Bilder oder Phantasien der Seele wären, die auf das
Kind projiziert würden. Das »reale Kind«, das Projektionsschirm wäre, gibt es
gar nicht. Es ist ein Konstrukt. Ganz allgemein gesagt: das Phänomen der Pro­
jektion oder auch der Übertragung hat es nicht wirklich mit zweien zu tun, dem
als Projektionsschirm dienenden Realen hie und den inneren Bildern dort, oder
in einer anderen Sprache: mit dem Ding-an-sich hie und dem, wie dieses er­
scheint, da. Sondern da ist nur eines, die Wirklichkeit der unmittelbaren Erfah­
rung oder des Phänomens des so oder so erfahrenen Kindes. Es ist das Bewußt­
sein oder die Seele, die (kraft des Animus) innerhalb dieses einen einzig Wirkli­
chen eine Unterscheidung zwischen der »Phantasie von dem Kind« und dem
»Kind selbst« (quasi als Ding-an-sich) setzt. Dieses Kind selbst, auf das die Pro­
jektion erfolgt sein soll, ist nicht wirklich vorhanden. Es verdankt sich nicht ei­
ner Wahrnehmung oder einer Erkenntnis. Sondern es verdankt sich einem logi­
schen (dann aber dazu noch hypostasierten) Unterscheidungsakt (also einer
Operation) der Seele, die ein und dasselbe, das wirklich erfahrene Kind, ein­
mal als das Ding-an-sich vor aller Erfahrung und dann noch einmal als seine Er­
scheinung oder unsere Erfahrung von ihm ansetzt.
Diese Unterscheidung zu machen, das nennen wir Bewußtsein. Das Be­
wußtsein ist als dieses Unterscheiden. »Es ist in ihm [dem Bewußtsein] eines für
ein anderes, oder es hat überhaupt die Bestimmtheit des Moments des Wissens
[wir könnten auch sagen: des so oder so Erfahrenseins, der Erscheinung]; zu­
gleich ist ihm dies andere nicht nur für es, sondern auch außer dieser Beziehung

36 Andrew Samuels, »Pluralism and the Post-Jungians: A Reply to Peter Bishop«, Spring 1988, S.
189-196.
oder an sich; das Moment der Wahrheit.«37 Aber, so müssen wir betonen, außer
dieser Beziehung ist dies andere gerade auch nur ihm, dem Bewußtsein selbst.
Das heißt, es ist nur in ihm (innerhalb seiner) gesetzt, außer ihm zu sein. Es ist
nicht »tatsächlich« außer ihm. Das ist die verkehrte Welt, als welche das Be­
wußtsein ist.
Die Anima, die ja in das Unbewußte verführt, hat diese, seit wir Bewußt­
sein sind, immer schon gemachte Unterscheidung unterbelichtet, so daß das er­
fahrene Kind einfach das Kind ist, wie es wirklich, also als schlechthinnige Sub­
stanz, ist. Innen und außen sind nicht eigens geschieden. Die Wirklichkeit ist
»sakramentalisch«, mit einem Male natürlich und psychisch (archetypisch, gött­
lich). Die Unterscheidung ist wirksam, aber sie wird nicht durchschaut. Das war
die Anima-Stufe, und das ist auch heute noch der Charakter der unmittelbaren
Erfahrung. Das wirkliche Phänomen ist so verfaßt. Tritt nun der kritische Ani­
mus erneut in Aktion, um die Anima aus ihrer Einbettung in ihr selbst zu brin­
gen und damit dem Bewußtsein ein Bewußtsein von dem Bewußtsein selbst zu
geben, dann wird jene Unterscheidung ausdrücklich. Bei Kant tritt sie wie er­
wähnt als die von Ding-an-sich und Erscheinung und in der Psychologie als Dif­
ferenz von Projektion und Projektionsträger auf. Was für den Animus eigentlich
nur eine logische Unterscheidung innerhalb der Seele oder des Bewußtseins
selbst ist, wird, wenn es wiederum unter den Bann der Anima oder des vorstel­
lenden Denkens gerät, buchstäblich genommen. Aus der logischen Unterschei­
dung wird eine ontologische. Aus internen Momenten des Bewußtseins wird
jetzt der Gegensatz von innerem Bild und realem Seienden, das als Projektions-
schirm tatsächlich und buchstäblich außerhalb des Bewußtseins sein soll. Jetzt
erst kann gesagt werden: »die und die Phantasien werden auf das empirische
Kind projiziert; der Patient hat eine Mutterübertragung auf den Analytiker; die
Primitiven haben das archetypische Bild der Dryade auf den realen Baum proji­
ziert; der psychische Inhalt >Mut< oder >Beherztheit< wurde früher auf das Kör­
perorgan Herz projiziert.«
Die Vorstellung von der Projektion auf das reale Kind ist jedoch die Her­
aussetzung des wirklichen Kindes aus der Seele / Psychologie in die positive
Außenwelt / »Physik«. Und diese Heraussetzung des Kindes in die Außenwelt
ist die Hineinsetzung seiner in den Schwarzen Kasten. Da ist eben nicht zuerst
(vor der Projektion) das von der Projektion freie empirische Kind, das dann
noch mit der Projektion befrachtet und von ihr in seiner wahren Wirklichkeit
verzerrt wird. Sondern dieses projektionsfreie, von der Seele des es Wahmeh-
menden noch unberührte, (im gnoseologischen Sinn) »reine« Kind ist eine Chi­
märe, eine mythologische Idee. Es ist aus der bewußtseinsintemen logischen
Unterscheidung herausgeklaubt und dem Bewußtsein buchstäblich voraus ge-

37 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Theorie Werkausgabe, Frankfurt, Suhr-
kamp, Bd. 3,1970, S. 76f.
setzt worden als Ding-an-sich, das vor (unabhängig von) und nur außer der Be­
ziehung, als welche das Bewußtsein ist, sein soll. Die Heraussetzung dient der
immer neuen Bestätigung oder auch immer neuen Erzeugung des Weltbildes der
»Physik«. Wenn die Psychologie von der Projektion a u f... redet, redet sie sich
selbst aus ihr selbst hinaus und in die neuzeitliche Metaphysik der Vorhanden-
heit oder die Physik hinein. Sie hat sich selbst von der psychologischen Betrach­
tungsweise verabschiedet.
Wie müßten wir psychologisch sagen?: In der Entwicklungspsychologie
setzt (projiziert) die Seele das wirkliche (sichtbare, greifbare) Kind selbst,
das von Hause aus nicht positiv-faktisches ist, sondern als dieses wirkliche Kind
gerade seelisches Kind ist (nämlich ein Goldkind; ein Engel; ein Schatz; ein
Sonnenschein; ein Geschenk Gottes; vielleicht auch der wiedergeborene Ahne,
der ersehnte Stammhalter, noch ein durchzufüttemder Esser mehr usw.), logisch
aus sich hinaus, so daß es dadurch erst zum positivierten, empirisch­
gegenständlich beobachtbaren Kind der Entwicklungspsychologie wird. Der Pa­
tient mit der Mutterübertragung hat den wirklichen, da vor ihm sitzenden Ana­
lytiker immer schon in den seelischen Topos der archetypischen oder persönli­
chen Mutter hinüber getragen (das ist der eigentliche Sinn von griechisch meta-
phorä). Er projiziert nichts von innen nach draußen auf ihn. Sondern er weist
ihm innerhalb der Seele einen bestimmten logischen Ort an, und in dem Maße,
wie er das tut, wird auch umgekehrt der Analytiker zum Ort der »Mutter«. In
den alten Kulturen wurde der wirkliche Baum, der nicht rein innen, nicht rein
außen ist, innerhalb der Seele in den Mythos und in das Bild der Dryade einge­
sponnen, nicht etwas Inneres auf den »realen« Baum »draußen«, den es ja gar
nicht gab, projiziert, und in einem Zug damit erhielt dann auch die Dryade ihren
Wohnsitz in dem Baum. Dem wirklichen Herzen wurde sein logischer Ort in
der Beherztheit gegeben, wie umgekehrt eodem actu der Beherztheit als logi­
scher Ort dieses Herz, das noch nicht »somatisches« Herz war, zugewiesen wur­
de.
Das Wirkliche ist immer die ursprüngliche Einheit von dem, was erst von
der Spaltung der Einheit her als die Zweiheit von projizierter Phantasie und
»Projektionsschirm« erscheint, so, daß beides gleichzeitig gegeben ist und man
nicht sagen kann, was früher und was später ist. Wenn projiziert wird, dann pro­
jiziert sich folglich die Projektion zusammen mit den projizierten Bildern ihre
eigene »Kinoleinwand« immer selbst gleich mit, auf die sie erfolgt. Diese ist ihr
nicht als ihr voraus bestehende (also physikalisch vorgestellte) Realität gegeben.
Projiziert wird die unhintergehbare Einheit von Phantasie und »Projektions­
schirm« als diese Einheit, und sie wird projiziert aus einem logischen Status
oder Topos der Seele in einen anderen. Als einbehalten in die Einheit ist der
Projektionsschirm oder das »Ding-an-sich« genauso sehr phantastisch wie die
Phantasie, die angeblich auf ihn projiziert wird. Darin, daß beide Seiten seelisch
oder »fiktiv« sind, liegt die Bodenlosigkeit. Aus der gleichursprünglichen Ein­
heit macht die empirische Psychologie aber die Zweiheit von einem unerschüt­
terlich festen Gegebenen, das außerpsychisch sein soll, auf der einen Seite und
dem darauf nur projizierten Phantasieanteil auf der anderen. Damit hat die Pro­
jektion ein »Substrat« und ist die Sicherheit des Subjectum gewährleistet, die
Bodenlosigkeit abgeschafft. Der gesunde Menschenverstand ist gerettet. Denn
jetzt gibt es etwas, was, da es allem psychischen Erfahren vorausgesetzt ist, un-
hinterfragbares Fundament alles psychischen Erfahrens ist und gegen den Vor­
wurf des bloß Imaginierten immun ist. Die Operation der Aufspaltung des mit
einem Mal Gegebenen (»Konstellierten«) der wirklichen Erfahrung in die Zwei­
heit von »Kinoleinwand« und »Spielfilm« oder von empirischer Realität und
dem Irrealen oder Irrationalen ist stehendes Bild geworden in dem »Schwarzen
Kasten«.
Es ergibt sich demnach, daß die psychologische Theorie der Projektion
selber eine Projektion darstellt. Diese gängige Imagination von Projektion ist
nichts anderes als die vorzügliche Methode, mit der die Seele - nicht ihre Bo­
denlosigkeit, sondern: die ganze Wirklichkeit oder die wirkliche Welt sowie die
Psychologie und den Psychologen selber innerhalb ihrer aus sich und ihrer Bo­
denlosigkeit hinaus in ein (durch diese Imagination erst erstehendes) buchstäbli­
ches, positives Außen hinaussetzt, womit sie sich aber gerade nur in den
Schwarzen Kasten als das von ihr selbst bereitgestellte neue Haus der Welt hin­
einprojiziert. Warum tut sie das? Um zusammen mit dem fixen Gegensatz von
innen und außen die Metaphysik der »Physik« oder des Alltagsbewußtseins im­
mer neu zu bestätigen: den Glauben an ein positives Fundament.
Jetzt hat sich die Seele einen Baum erzeugt, der seelenloser Baum ist und
auf den dann die Dryade oder Baumnymphe erst projiziert worden sein soll. Und
sie hat sich ein Herz erfunden, das ein bloßes Körperorgan ist, auf das aber in
frühen Zeiten Mut und Innigkeit projiziert worden sein sollen. Und sie hat jetzt
ein Kind vor sich, das bloß-empirisches Kind ist, auf das der Psychologe die
Phantasien der Seele projiziert. Das Kind ist nicht mehr in Wahrheit ein Kind
Gottes, sondern »in Wahrheit« ist es jetzt ein Exemplar der Spezies Homo sa­
piens, ein menschlicher Organismus und dergleichen, in den dann, was völlig
absurd ist, in der Tat eine »Seele« von den Psychologen hineinprojiziert wird.
Jetzt ist nicht mehr das Kind in der Seele (im Mythos oder Goldgrund),
die Seele soll jetzt angeblich in dem Kind selbst sein. Deswegen ist auch die mi­
nutiöse empirische Beobachtung des Kindes so wichtig, weil man nämlich jetzt
die Seele nur noch in ihm (und in den Erzählungen der Erwachsenen von ihrer
Kindheit) auffmden kann. Sie ist nicht mehr das Medium oder Element der
Menschenwelt, des Lebens, und nicht mehr das Medium der Psychologie selber.
Damit ist das wirkliche Kind selber zum Schwarzen Kasten gemacht worden. Es
ist, wie alles in der Welt, aus dem Goldgmnd der Seele vertrieben und in den
Schwarzen Kasten hineingesetzt worden, wo alles, was darin ist, selber den Cha­
rakter des Schwarzen Kastens annimmt, ganz so, wie alles, was vor dem Gold­
grund aufleuchtet, selber die Goldgrundnatur hat. Alle Forschung über »innere
Vorgänge« im Menschen hat sich immer schon aus dem Goldgmnd der Seele
und aus der Psychologie hinaus- und in die äußerliche Reflexion, in die »Phy­
sik« hineingesetzt. Psychologie hat aber gerade die Aufgabe, nicht ein »Fach«
(das den »subjektiven« Aspekt der aufgefächerten positivierten Gesamtwirklich­
keit erforscht) zu sein, sondern die Aufgabe, die Betrachtung von allem in der
Welt aus dem Standpunkt der immanenten Reflexion zu sein: aus dem Stand­
punkt des auf allen Seiten von Seele Umgebenseins.
Der Schwarze Kasten, das haben wir gesehen, besitzt die Widersprüch­
lichkeit, daß man gerade dann in ihm sitzt, wenn man sich außerhalb seiner
dünkt und meint, unmöglich in ihn hineinschauen zu können. Er ist die Verkeh­
rung der verkehrten Welt, der unmenschliche und unpsychologische Versuch,
die Welt »normal«, »richtig«, nicht-verkehrt zu sehen.
Die gängig-psychologisch verstandene Projektion erfolgt immer schon im
Schwarzen Kasten und aus der ihm entsprechenden Erlebnisweise heraus. Man
geht von dem tatsächlichen Gegenüber von zwei fixen Größen aus. Es wird nach
dieser Konzeption immer schon Psychologisiertes (»Vorstellungen«, »Affekte«,
»Wünsche«) auf als längst draußen objektiv-real gegeben Verstandenes proji­
ziert. Hier dagegen bei der logisch verstandenen Projektion wird z.B. das Kind
selbst als wirkliches projiziert! Und mit ihm zugleich die ganze Grundstellung
des Menschen. Die Seele bewegt sich selbst aus einem bestimmten logischen
Gefäß oder Haus, in dem sie sich selbst imaginiert, in ein anderes, indem sie das
Wirkliche aus dem einen in das andere übersetzt, so daß sich das ganze Sosein
der Wirklichkeit verändert. Wir könnten statt Gefäß und Haus auch sagen: logi­
scher Status, logisches Verfaßtsein. Aber es ist nicht so, daß etwas Innerseeli­
sches in eine imaginäre Außenwelt einträte. Vielmehr gibt es - so verrückt geht
es in der »verkehrten Welt« zu - die ganze Außenwelt nur in dem Haus der See­
le für uns, nur innerhalb der Sprache, innerhalb des Mythos oder Goldgrundes
oder aber des Schwarzen Kastens. Und alle Projektion bewegt sich innerhalb
solcher logischer Behältnisse oder zwischen ihnen. Nie jedoch aus einem Be­
hältnis hinaus auf ein Draußen. Aber weil die wirkliche Welt, ja sogar alle Wirk­
lichkeit in dem Haus der Seele ist, konnten wir oben mit Recht die Idee eines
»schlechten« Idealismus zurückweisen, nach der die Wirklichkeit der Welt auf
Seelisches als Inneres (bloße subjektive Vorstellungen) reduziert würde.
Die Entwicklungspsychologie nistet sich (und so auch uns) mehr und
mehr ein in etwas, was draußen »an sich« sein soll (aber - undurchschauterma­
ßen - gerade nur von ihr als »an sich« gesetzt wurde). Sie tut auf der Ebene der
psychologischen Theorie das, was im psychosomatisch Kranken auf der Ebene
des persönlichen Lebens geschieht: sie »somatisiert« ihre eigene logische Bewe­
gung, übersetzt sie aus dem Seele-Sein in äußere Realität und Faktizität. Darauf
die Psychologie aufzubauen, wäre dasselbe, wie wenn man in der Therapie auf
Somatisierungen (auf die Übersetzung von seelisch erlebten Konflikten in die
Dumpfheit körperlicher Symptome) hinarbeiten würde. Je mehr die Entwick­
lungspsychologie sich auf das Kind und die Mutter-Kind-Beziehung einschießt,
desto mehr Seele wird aus der Seele als Seele abgedrängt und in die so erst er­
zeugte äußere Realität (in die Seele in ihrer Gestalt als verschlossener Schwarzer
Kasten) hineingestopft. Ob Beziehungskiste, ob Geschlechter-Machtkampf, ob
Kinderstube - es ist jedesmal die gleiche Selbstprojektion hinaus aus der logi­
schen Bewegung der Seele in etwas, was faktisch gegeben sein soll. Insofern
auch das Sich-aus-sich-Hinausimaginieren zum syzygischen Leben der Seele ge­
hört, ist es psychologisch legitim. Aber insofern es ein diesem Hinausimaginie-
ren Aufsitzen und es Agieren ist, ist es gänzlich ungeeignet, den Rahmen ausge­
rechnet einer wirklichen Psychologie abzugeben. Gewiß, auch eine so konzipier­
te Psychologie wäre immer noch »Psychologie«. Aber nur Psychologie in An­
führungszeichen, d.h. uneigentliche Psychologie, Psychologie, die außer ihr ist
und mit sich im Streit liegt. Denn sie sucht ihrem Gegenstand und ihrem Funda­
ment, derjenigen Bodenlosigkeit, die Seele heißt, zu entkommen, verschafft sich
aber zugleich dafür ein Alibi, ist doch das positiv genommene Kleinkind nicht
mehr ein eigentlicher Ausdruck der Seele selbst. Es ist das Alibi (das »Anders­
wo«) der Seele, oder - die Seele in ihrem äußeren Exil.
Daß man sich mit dem empirisch-entwicklungspsychologischen Ansatz
auch aus der Psychologie Jungs hinausimaginiert, sei nur am Rande erwähnt.38
Dagegen möchte ich noch durch einige Zitate belegen, daß Jung seine Psycholo­
gie wirklich in der Bodenlosigkeit der Seele gründete. Die Seele ist für ihn »ein
in letzter Linie unerfaßbares Etwas«39, sie »könnte ein mathematischer Punkt
sein und zugleich eine ganze Fixstemwelt.«40 Genau dieses ob seiner Wider­
sprüchlichkeit Bodenlose nennt Jung aber »die Realität des Psychischen«41, und
er sagt: »Wenn ich meinen Begriff von Realität42 auf die Psyche verschiebe, wo
er einzig wirklich am Platz ist, so hört damit auch der Konflikt zwischen Natur
und Geist als Erklärungsgründen auf. Sie werden zu bloßen Herkunftsbezeich­
nungen ß r die psychischen Inhalte, die sich in mein Bewußtsein drängen.« Die
Verschiebung des Begriffs von Realität auf die Psyche ist genau die Gegenbe­

38 Vgl. z.B. GW 18/1 § 296: »Was die Frage nach den Kindern angeht, so hat man in den letzten
Jahrzehnten derart viel über Kinder geredet, daß ich mir bei solchen Zusammenkünften manch­
mal an den Kopf greife und mich frage: >Sind das alles Hebammen und Kindermädchen?<... Las­
sen wir doch die am en Kinder aus dem Spiel.« Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob man
(mit einer seelischen Fragestellung) die Mythen und die Alchemie oder das Wandlungssymbol in
der Messe und den Geist Mercurius studiert und damit diese Welten und Themen zum Horizont
der Psychologie macht, oder ob man das empirische Kind zum Horizont macht und dann allen­
falls mythische und alchemistische Bilder in diesen Horizont hineinzieht.
39 GW 8 § 680. »Etwas« ist freilich schon zu bestimmt.
40 Ebd. §671.
41 § 680.
42 Jung meint, wenn man den Hegelschen Sprachgebrauch zugrundelegen woUte, »Wirklichkeit«,
nicht »Realität«.
wegung zu dem Hinaussetzen der erlebten Wirklichkeit aus dem Seelischen in
ein Außen, also das »Erinnern« oder Heimholen der Seele aus ihrem Exil zu ihr
selbst (und damit zugleich das Zurückholen der Welt in ihr Heim, die Seele).
Diese Verschiebung ist damit auch der Gründungsakt der Psychologie. Natur
und Geist sind Distinktionen, die die Seele in ihr selbst (als das Reden der Seele
mit ihr selbst) macht. Die Dinge der Außenwelt haben genauso wie die psy­
chischen Erlebnisse im engeren Sinn ihren Ort in der Seele.
Das sagt auch das folgende Zitat: »Versuchen wir tiefer in diesen Begriff
[Realität des Psychischen] einzudringen, so erscheint es uns, als ob gewisse In­
halte oder Bilder von einer sogenannten physischen Umwelt, zu der auch mein
Körper gehört, herrührten, andere kommen aus einer sogenannten geistigen
Quelle, die von den physischen Dingen verschieden zu sein scheint, aber sie sind
deshalb nicht minder real.«43 Jung setzt weder die physische Umwelt als
schlechthinnige Wirklichkeit, noch den Geist. Er begreift, daß »Umwelt« und
»geistiger Ursprung« zwei Benennungen für Eindrücke sind, mit denen die See­
le je nachdem ihre Erlebnisse ausstattet. Wir haben schon von Jung gehört: Der
Primitive ist »noch träumend eingeschlossen in seine Seele, in die Welt, wie sie
wirklich ist...«4445Dies besagt: Dann, wenn der Mensch sich noch nicht aus der
Seele hinausimaginiert hat, sondern in der Seele die Welt erfährt, dann ist die
Welt so, wie sie wirklich ist. Das In-der-Seele-Sein der Welt ist dort noch nicht
verschleiert. Dann ist der Mensch zwar noch träumend, naiv, aber er ist dafür
auch nicht einer Fiktion von einer buchstäblich ansichseienden Außenwelt ver­
fallen, wie der nicht mehr so naive moderne Mensch es ist.
»Ich möchte weder die relative Gültigkeit des realistischen, des esse in re,
noch die des idealistischen Standpunktes, des esse in intellectu solo, bestreiten,
sondern ich möchte diese äußersten Gegensätze durch ein esse in anima, eben
durch den psychologischen Gesichtspunkt vereinigen. Wir leben unmittelbar nur
in der Bilderwelt.«4* Oben hatte ich kritisiert, daß in dem »esse in anima« noch
das Sein steckt. Als vorläufige Formel mag es genügen - sofern man nur mit
ihm ernst macht. Sind nämlich Realität und Idealität in die Seele als syzygisches
Leben /jeremgenommen, erinnert, dann wirkt das, wohinein sie hereingenom­
men sind, sofort auf sie zurück. Es zersetzt ihren festen ontologischen Charakter,
der sich der Hinaussetzung aus der Bodenlosigkeit der Seele und der Substantia-
lisierungstendenz der Anima verdankt, und löst sie (kraft des Animus innerhalb
der Syzygie) in das flüssige Medium des Geistes, der Logik, auf. Dann wäre das
»esse« in esse in anima zu übersetzen als: wohnen, angesiedelt sein, seinen logi­
schen Ort haben. Heidegger sagt ganz in diesem Sinn: die Sprache ist das Haus

43 §681.
44 § 682. (Meine Hervorhebung.)
45 §624.
des Seins. Wir würden wie schon oben sagen: Die Sprache oder die Seele ist das
Haus der Welt. Das ist ontologisch nicht mehr zu verstehen. Es ist poetisch. Psy­
chologisch.

Externe Interessen.

Die Syzygie kann auch dadurch abgewehrt werden, daß sich ein eigener
Wille oder Sinn der Syzygie zuwider aufspreizt. Wo das geschieht, hat man sich
ganz auf den Boden der aus sich herausgesetzten Seele, nämlich den Boden des
anthropologisch verstandenen Menschen, gestellt und trägt von dort aus dessen
der Seele äußerliche Interessen an die Seele heran. Man ist der Bewegung der
Heraussetzung aus der Seele so konsequent gefolgt, daß man sich draußen ange­
siedelt hat. Und man hat draußen so fest Wurzeln geschlagen, daß man dort
nicht länger in der Richtung weg von der Seele blicken muß, sondern mit einer
Kehrtwendung sich ihr jetzt gerade wieder zuwenden kann, aber aus der neuge­
wonnenen, absolut stabil gewordenen äußerlichen Reflexion heraus. Der neue
Standpunkt hat sich so sehr seiner selbst versichert, daß er von dem, von dem er
sich bisher hat radikal abstoßen und abgrenzen müssen, um selber äußerliche
Reflexion werden zu können, nicht mehr erschüttert werden kann.
Um diese Form der Abwehr zu beschreiben, nehme ich wieder ein Stück
aus dem Zitat von Frau von Franz über den Blaubart zum Ausgangspunkt und
Aufhänger. Bluebeard »embodies the death-like, ferocious aspects of the animus
in his most diabolical form; from him only flight is possible.« Vor Blaubart kann
man also nur fliehen. Was ist das für eine Reaktion? Es ist eine, bei der das Be­
wußtsein dem Blaubart-Motiv aufsitzt. Es nimmt den Animus, der in der Tat das
Andere ist, als das abstrakt Andere, und den Animus, der der Töter ist, ebenso
abstrakt als Mörder und nichts weiter. Weil er so der abstrakt Andere ist, muß
die Frau, für die er nach von Franz das Andere ist, gleichermaßen ganz getrennt
von ihm auf der anderen Seite stehen. Wenn dieses total Andere sich nun nähert,
dann bleibt selbstverständlich nichts als die Flucht. Denn sich dem eigenen
schlechterdings inkompatiblen Gegensatz auszusetzen oder ihm standzuhalten,
wäre eine Katastrophe.
Das Bewußtsein, das die Dinge so sieht, nimmt das Verhältnis beider
nicht von der Syzygie aus wahr, sondern sitzt der Syzygie auf, so daß es das sy-
zygische Drama nur innerhalb und unterhalb ihrer (nämlich auf der Ebene der
Gegensätze, in die sich die Syzygie auseinandergelegt hat) als Tragödie zwi­
schen Täter und Opfer apperzipiert. Es ist identifiziert mit der einen Seite in der
Syzygie, nämlich der des Opfers, der Frau, der Anima, und hat die andere Seite
als das absolut Fremde und Bedrohliche nur sich gegenüber. Es kann nicht
mehr durchschauen, daß das Fremde das eigene Fremde ist und daß das »Be-
wußtsein ... also diese Gewalt ... von ihm selbst (leidet)« (Hegel46*). Das Spiel
der Seele als Syzygie, als fortwährende »Gestaltung, Umgestaltung« ihres inter­
nen Verhältnisses von yin und yang oder von Anima und Animus, in dem die
Negation der einen durch die andere Seite eine notwendige und gerade nicht zu
vermeidende, ja, eine gar nicht hoch genug zu schätzende Rolle spielt, bleibt un-
erahnt. Die Psychologie kommt hier an ihre Grenze. Jetzt gilt nur noch: Rette
sich, wer kann. Die nackte Notwendigkeit des »survival« setzt das seelische
opus außer Kraft.
Dieses Bewußtsein, so sagte ich, ist mit der einen Seite innerhalb der Sy­
zygie identifiziert. Das heißt freilich gerade nicht, daß es innerhalb der Syzygie
(auf dem Niveau der Syzygie) seinen Ort hätte. Vielmehr verdankt sich dieses
Sehen, für das beide Protagonisten als abstrakte, fixe Gegensätze auf total ge­
trennten Seiten stehen, dem Umstand, daß das syzygische Spiel aus der Syzygie
hinausgesetzt worden ist. Nur deswegen, nur weil sie draußen und d.h. äußere
sind, sind die Gegner füreinander das abstrakt Andere. Nur weil das Leiden der
Gewalt von dem Blaubart der realen Frau aufgebürdet wird und nicht bei der
Anima belassen werden kann, weil ferner mit der realen Frau auch das Ich kon-
stelliert ist, zu dessen Natur es ja gehört, das aus der Syzygie Hinausgesetzte zu
sein, muß sich das Bewußtsein ichhaft mit dem Opfer identifizieren und sich ge­
gen das Opfersein durch Flucht wehren. Das ganze Geschehen wird aus dem
Gesichtspunkt des aus der Syzygie herausgestellten Menschen gesehen. Nur weil
das Bewußtsein draußen steht und sich fest auf den Boden des anthropologisch
verstandenen Menschen gestellt hat, kann und muß es sich mit seinen subjekti­
ven Interessen, insbesondere dem der Selbsterhaltung, der Rettung der eigenen
Existenz, in das Reden der Seele über sie selbst einmischen, denn die Einmi­
schung erfolgt immer von außen. Man sitzt umso leichter der Abspaltung der
Gegensätze (neurotische Dissoziation) auf und verfällt der Identifikation mit
dem einen der beiden innerhalb der Syzygie, je mehr die Gegensätze aus der Sy­
zygie herausgesetzt und so einander äußerlich gegenüberstehende sind.
Umgekehrt verleiht erst das Gefühl der absoluten Notwendigkeit sich zu
retten dem ganzen Unternehmen der Heraussetzung der Seele aus ihr selbst den
nötigen Druck. Die gestiftete Angst vor dem Nichtüberleben mobilisiert letzte
Kräfte, durch die das Heraustreten aus dem Pieroma real werden kann.
Eine besondere und hauptsächliche Form der subjektiven Einmischung
(Jung sprach von der subjektiven Einmischung Fausts in das mythische Drama
von Paris und Helena durch Verdrängung des Paris) in die inneren Angelegen­
heiten des logischen Prozesses der Syzygie ist die moralistische Bewertung. Im
Sinn dieser Bewertung ist Blaubart der Animus in seiner »diabolischsten Form«.
Es liegt auf der Hand, daß diese moralische Verdammung des Animus ebenso­

46 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Theorie Werkausgabe, Bd. 3, Frankfurt
(Suhrkamp) 1970, S. 74.
sehr aus der Todesangst des mit der Rolle der Anima identifizierten Ichs hervor­
geht wie umgekehrt diese Todesangst aus der Wahrnehmung des Blaubart als
des absolut Diabolischen. Beides sind die zwei gleichursprünglichen Seiten ei­
ner psychologischen Wirklichkeit. Gut und böse, positiv und negativ als Prädi­
kate für archetypische Gestalten bezeugen, daß die herrschende Perspektive die
des praktischen, persönlichen Nutzens für das Ich ist (Lebenssteigerung, Stö­
rungsfreiheit). Das Moralische dient der technischen Lebensbewältigung. Das
gehört so wenig in eine Psychologie, wie die moralisierende Rede von »Un­
kraut« oder »Raubvögeln« in einer wissenschaftlichen Biologie Platz hat.
Das Bewußtsein ist bei dieser Haltung ganz auf den abstrakten Stand­
punkt der Realität und der technischen Lebensbewältigung festgelegt. Der Blau­
bart erscheint nur noch als »Störung« des Status quo bzw. als dessen furchtbare
Gefährdung. Wenn er diabolisch ist, dann ist damit im Grunde dies gesagt, daß
er bzw. seine Manifestation absolut sinnlos ist und uns nichts mehr zu sagen und
zu bringen hat - oder andersherum gesagt: daß wir uns unter keinen Umständen
auf ihn - seinen Gehalt, seinen Sinn, seine Notwendigkeit - einlassen oder für
ihn öffnen wollen: Er darf uns nichts mehr zu sagen haben! So wie Blaubart als
jeglicher Wandlung unfähig und Wandlungsermöglichung abhold beschrieben
wird, so kann er auch kein möglicher Sinnbringer sein. Und wenn er ein Mörder
und nichts weiter ist, dann ist er als psychologisches Phänomen längst totge­
schlagen. Das Einzige, was bleibt, ist: Wir müssen ihn loswerden. Daher Augen
zu und weg. Wir werden auf die Abwehr festgelegt. Die Abstempelung seiner
als absolut böse ist in ihr selbst schon der Vollzug der ausdrücklich propagierten
Flucht. Und die Flucht ist nicht nur eine Flucht vor dem schrecklichen Blaubart,
sie ist auch die Flucht aus Sprache und Bewußtsein als Medium der Begegnung
mit dem Anderen und des Austrags der Begegnung in die nackte (sprachlose)
Aktion (des Fliehens). Aber genau dies dient der Hinaussetzung der Seele aus
ihrer syzygischen Bewegung.
Das Bewußtsein sympathisiert mit dem Ich. Damit ist der Standpunkt der
Psychologie längst verlassen. Die Seele hat ausgespielt. Es geht nur noch um
ichhafte Interessen, die immer, von der Seele her gesehen, externe Interessen
sind. Es ist dies, wenn man überhaupt noch von Psychologie sprechen will, eine
sei es »pädagogische«, sei es »politische« Psychologie; eine Psychologie, die
noch etwas will, parteiliche Psychologie im Dienst der Lobby des Ichs und im
Dienst der Metaphysik des gewöhnlichen Inderweltseins. Der habituelle Be­
wußtseinsstatus soll gegen alle Anstrengungen der Seele konserviert werden.
Das Ichbewußtsein darf nicht sterben! Es darf keine Negation, keine Aufhebung
des am Alltag und am Überleben orientierten Bewußtseins geben! Als Alibi muß
man dann »an sich arbeiten«, »sich entwickeln«, man muß »bewußt machen«:
diese ontischen Veränderungen und Mühen sollen einen der logischen Verände­
rung entheben. Psychisches Mobiliar wird innerhalb des Hauses verrückt, damit
das Haus und die Fundamente (die Metaphysik) nicht ins Wanken kommen.
Selbstverständlich wollen wir alle überleben, gesund und glücklich sein,
Erfolg haben. Und gegen diese Wünsche ist auch überhaupt nichts einzuwenden.
Es wäre sogar verlogen, wollte man sich gegen sie stellen - weil man dies, so­
lange man Lebewesen ist, gar nicht kann. Man könnte nur so tun als ob, könnte
nur sich selbst und anderen eine entsprechende Attitüde vormachen. Aber eine
ganz andere Frage ist, ob diese natürlichen Wünsche einfach so zum Maßstab
und Standpunkt der Psychologie erhoben werden dürfen. Kann man als der na­
türliche Mensch, der man ist, einfach so schon Psychologie treiben? Kann man
die Werte und Ziele, die uns im natürlichen Alltagsleben bewegen, kurzerhand
über das Alltagsleben hinaus in die Psychologie hinein extrapolieren? - Man
darf selbstredend in einer wirklichen Psychologie psychische Vorgänge nicht
von den aus den natürlichen Lebensinteressen genommenen Präjudizien beurtei­
len wollen. Man muß sich die psychologischen Maßstäbe, so wie alle Grundbe­
griffe, erst von der Grundmetapher der Psychologie, der Seele, geben lassen.
Der enge Zusammenhang von Seele und Tod, Seele und Unterwelt47 legt nahe,
daß nur dem der Eintritt in die Psychologie gelingt, der, wenigstens insoweit er
Psychologe sein will, ein als natürliches Bewußtsein Gestorbener ist.
In psychologischen Schriften, wobei ich jetzt nur Beispiele aus Publika­
tionen zum Blaubart-Thema herausgreife, kann man heute Sätze lesen wie:
»Wenn aber das Patriarchat überwunden werden soll, dann kann das kaum ... (so
oder so) geschehen, sondern es bedarf ... (dieses oder jenes).« Es wird also als
ganz selbstverständlich angesetzt, daß das patriarchale Denken überwunden
werden solle. Ich frage: was geht die subjektive Zielsetzung der Überwindung
des Patriarchats den Psychologen an? Kann die Psychologie mit einem (dann
auch noch quasi gesellschaftspolitischen) Programm auftreten? - Nimmermehr,
außer mit dem Programm, gute Psychologie zu treiben. Es ist offensichtlich un-
professionell, solche utilitaristischen Zwecke von außen in die Psychologie hin­
einzutragen. Hier will jemand - unausgesprochenerweise - sein eigenes Süpp­
chen kochen, oder eines, das zu kochen ihm vom Zeitgeist oder einer einzelnen
Modeströmung aufgegeben wurde. Ob das Patriarchat überwunden wird oder
nicht, muß dem Psychologen - als Psychologen - gleich viel gelten; und er muß
sich das Ob und Daß von dem Leben der Seele selber geben lassen, ohne subjek­
tive, »populistische« Parteinahme für oder gegen. Von einem »Sollen« weiß er
ohnehin nichts. Mit der Rede von Patriarchat und Feminismus werden wir nur
tiefer in einen völlig unbewußten Mythos unserer Tage (also in eine Ideologie)
hineingeritten. Diese Rede trägt zur Verdummung, nicht zur Bewußtmachung
bei; sie hilft, dem syzygischen Drama der Seele seinen Charakter als seelisches
Drama zu nehmen und es zu einem nur noch menschlichen, zwischenmenschli-

47 Edgar Herzog, Psyche und Tod, Zürich u. Stuttgart (Rascher) 1960; James Hillman, Suicide and
the Soul, New York u.a., Harper & Row, 1964 (Dt. Selbstmord und seelische Wandlung, Zürich
[Daimon-Verlag] 21980); ders., The Dream and the Underworld, New York (Harper & Row)
1979 (Dt. Am Anfang war das Bild, München [Kösel] 1983).
chen Drama des buchstäblichen Geschlechterkampfes zu reduzieren. So werden
wir aus dem logischen Leben der Seele immer entschiedener in die Enge des
Bloß-Pragmatischen eingesperrt.
Man kann auch Sätze wie diesen lesen: »Wie können sie [die im Schatten­
geliebten steckenden Werte] in die eigene Seele zurückgeholt werden, und wie
kann ihre Kraft für die bewußte Selbstentwicklung nutzbar gemacht werden?«
Auch das ist nicht Psychologie, es ist Pädagogik, Pragmatismus, Lebenstechnik:
technische Ausbeutung der seelischen Produkte für ichhafte Zwecke. Der Ani­
mus wird im Licht der biologischen und realistischen Alltagsinteressen der em­
pirischen Persönlichkeit gesehen. Von hier aus können Animus-Phänomene wie
der Rückzug in die Traumwelt und das Abgezogenwerden von der Realität nicht
mehr psychologisch gewürdigt werden. Sie müssen negativ bewertet, abgelehnt,
bekämpft werden.
»Man muß sich diese Bilder [gemeint sind die Bilder der scheinenden
Sonne und des grünenden Grases gegen Ende des Blaubartmärchens] selber in­
nerlich vergegenwärtigen, um sie in ihrem tröstlichen Gegengewicht [zu dem
messerwetzenden Blaubart] zu erfahren.« Auch solche Sätze finden sich des öf­
teren in sogenannten psychologischen Texten. Aber hat die Psychologie die
Aufgabe, erbaulich zu sein? Soll sie trösten? Ist sie ein Religionsersatz? Dient
sie der Bedürfnisbefriedigung der Iche? Leider scheint sie dies in ihrer Form als
real existierende Psychologie zu sein. Aber ihrer Bestimmung nach ist sie dies
nicht. Sie ist vielmehr ein ernsthaftes Unterfangen.
Psychologie und Psychotherapie haben grundsätzlich nicht die Aufgabe
der Veränderung oder des Korrigierens der Zustände, der Weltrettung und
Menschenverbesserung, streng genommen nicht einmal die Aufgabe des Helfens
und Heilens sei es im religiösen oder modem-medizinischen Sinn. Psychothera­
pie ist kein Fach der Medizin.
Man muß wohl die weitverbreiteten Bedürfnisse, zu erbauen und zu bes­
sern, sowie die ganze Psychologie, die selbst noch etwas will, sich selbst über­
lassen. Sein eigenes Süppchen zu kochen ist ein zu mächtiges Bedürfnis, als daß
es Sinn hätte, dagegen anzureden. Ich möchte jedoch durch einfache Anführung
von vier ganz verschiedenen und z.T. gar nicht direkt auf Psychologie bezügli­
chen Zitaten die Richtung andeuten, in der die Haltung zu suchen ist, deren sich
der Psychologe, wenn er sie eingenommen hätte, nicht schämen müßte.
1) Im Zusammenhang mit den verschiedenen Schulrichtungen der Tiefen­
psychologie sagte Jung einmal: »Einige suchen Wunscherfüllung [das geht ge­
gen Freud], andere Machterfüllung [das geht gegen Adler], und wieder andere
[das bezieht sich auf Jung selbst] wollen die Welt so sehen, wie sie ist, und die
Dinge in Ruhe lassen. Wir wollen nichts ändern. Die Welt ist gut, so wie sie
ist.«48* Nichts ändern, überhaupt nichts wollenl Einfach nur erkennen. »Der
48 C.G. Jung, GW 18/1 § 278. Ich habe das abschwächende »Die Welt ist recht« der Übersetzerin
(das englische Original hat »good«) durch »Die Welt ist gut« ersetzt.
moralisch-hygienische Standpunkt unserer Zeit will natürlich immer wissen, ob
ein solches Ding [Jung spricht über das Symbol] schädlich oder nützlich, richtig
oder unrichtig sei. Eine wirkliche Psychologie kann sich darum nicht kümmern;
ihr genügt es zu erkennen, wie die Dinge an und für sich sind.«49 So spricht ein
wirklicher Therapeut. Denn das eigentlich Therapeutische ist nichts anderes als
das Einschwingen in die erkannte Wahrheit der Wirklichkeit, der eigenen wie
der der Welt. Das Ändemwollen muß er den Behavioristen und den Predigern
überlassen.
Auch der schlimmsten Pathologie gegenüber kann der Therapeut nicht mit
dem Willen zur Änderung auftreten. Ändemwollen heißt Weghabenwollen.
Weghabenwollen jedoch bedeutet Seelenverlust. Wenn Jung sagt: »Die Welt ist
gut, so wie sie ist«, spricht daraus nicht die Naivität desjenigen, der alle Not,
Krankheit, Ungerechtigkeit, alles Böse und alles Leiden verleugnet. Es spricht
vielmehr nichts anderes als das therapeutische Temperament und die therapeu­
tisch notwendige methodische Prämisse daraus, die sogar dem argen Symptom
eine letzte »Gutheit« ansinnen, weil nur so der in ihm verborgene und geborgene
Gehalt an Seele und Sinn im Sinn einer »Rettung des Phänomens« entfaltet wer­
den kann. Es ist in diesem Geist, daß Jung davon sprach, daß man seiner Neuro­
se sogar dankbar sein könne.
Man darf »Die Welt ist gut, so wie sie ist« und »wir wollen nichts än­
dern« auch nicht imdialektisch als den Willen zu ihrem einfachen Gegenteil
mißverstehen, so daß das quietistische »wir wollen, daß alles beim alten bleibt«
herauskäme. Es geht nicht um die Konservierung der bestehenden Verhältnisse,
weder im Individuum, noch in der Gesellschaft. Sondern die Gutheit, von der
hier die Rede ist, ist nichts als der positive Ausdruck für das Negative des Abge­
tretenseins als wollendes Ich, das die Wirklichkeit an seinen subjektiven
Wunschvorstellungen mißt. Da das wollende Ich abgetreten ist, kann auch nicht
gewollt werden, daß alles so bleibe, wie es ist. Es wird überhaupt nicht mehr ge­
wollt, sondern die »Welt wird so gelassen, wie sie ist«. Es wird ihr, oder dem
Ablauf des Geschehens, oder dem inneren Prozeß der Therapie überlassen, ob
eine Änderung und was für eine eintritt. Wenn es nämlich eine Änderung geben
soll - das ist hier verstanden - , dann muß »es« sich ändern, nicht wir es. Die so­
gar der Symptomatik »objektiv« angesonnene »Gutheit« bedeutet »subjektiv«
die Gelassenheit, kraft der der wirklichen Symptomatik die Freiheit (die Freiheit
von dem Druck unserer willensmäßigen Forderungen) gegeben wird, sich zu än­
dern - oder eben auch nicht. Die Naivität der Meinung oder Hoffnung, daß sich
die Welt von oben herab, vom grünen Tisch aus, durch unser »Machen« ändern
ließe, und das eifernde darauf Bestehen, daß sie sich doch unseren Vorstellun­
gen und Wünschen bequemen müsse, ist zurückgelassen.

49 C.G. Jung, GW 6 § 188.


Auch dabei ist der Therapeut allerdings nicht untätig und ohne Engage­
ment. Im Gegenteil, er ist mit ganzer Kraft gefordert. Aber was er tun kann und
tun muß, ist immer schon aufgehobenes Tun, also nicht mehr pragmatisches,
technisches Handeln. Es ist die Indirektheit desjenigen Tuns, in dem der Patho­
logie eben jene Freiheit und die Weite des geistigen Horizontes und so der
Spielraum gegeben wird, in dem allein sie sich ändern kann.50
Dies Zurücktieten vom Handeln und Ändemwollen in der Therapie ge­
schieht aus einer Einsicht, die Jung in folgender Stelle formuliert hat.
Dabei muß ich es meinem Patienten überlassen, sich so zu entscheiden, wie es seinen
Voraussetzungen, seiner geistigen Reife, seiner Bildung, seinem Herkommen und
seinem Temperament entspricht... Über seine letzten Entscheidungen kann ich mir
darum kein Urteil anmaßen, weil ich aus Erfahrung weiß, daß jeder Zwang, sei es
leise Suggestion oder Zureden oder sonstige Alterierungsmethoden, letzten Endes
nichts bewirken, als eine Verhinderung des höchsten und entscheidenden Erlebnis­
ses, nämlich des Alleinseins m it seinem Selbst, oder was für einen Namen man im­
mer der Objektivität der Seele beilegen mag. Er muß schon allein sein, um zu erfah­
ren, was ihn trägt, wenn er sich nicht mehr tragen kann. Einzig diese Erfahrung gibt
ihm unzerstörbare Grundlage.51

2) Besonders aussagekräftig ist das Plädoyer für ein psychologisches Tun,


das »unconcemed about results« (unbekümmert um Erfolg oder Mißerfolg) ist,
also das Plädoyer für die absichtsvolle Absichtslosigkeit, wenn es aus dem
Mund eines Psychologen kommt, der sich gerade nicht nur dem Inneren der In­
dividuen zuwendet, sondern aus dem Konsultationszimmer hinaustritt, um sich
draußen im Dialog mit Politikern, Militärs und anderen Persönlichkeiten des öf­
fentlichen Lebens der (politischen oder kulturellen) Psychologie solcher »apoka­
lyptischen« Probleme wie Welthunger, nukleare Bedrohung, ökologische Zer­
störung, ethnische Konflikte anzunehmen. Dies ist bei Robert E. Bosnak der
Fall. Dieser nimmt auch für sein psychologisch-politisches Engagement den
Umgang mit dem Traum als Modell. In einem von Daniel Noel im Lyonesse
Letter # 5 zitierten Text erläutert er, warum er bei seiner Arbeit der Hoffnung
keinen Raum gibt. »Hoffnung ist eine Schau [vision] der Zukunft, die man ver­
wirklichen möchte. Ein [politischer] Traum ist das Bild, das unsere Handlungen
prägt, aber so, daß man nicht besonders auf seine Realisierung aus ist. Wie bei
aller Arbeit mit dem Traum ist das Resultat völlig irrelevant. Worauf es an­
kommt, ist das Arbeiten am Bild. Das kommt dem buddhistischen Begriff des
non-attachment nahe.... in der Politik am Traum arbeiten heißt, die eigenen Lei­
denschaften bezüglich bestimmter Themen in sich zuzulassen bei gleichzeitiger

50 Das pragmatische, technische Handeln wie auch den tatkräftigen politischen Einsatz scheide ich
mit diesen Bemerkungen nicht aus dem Leben überhaupt aus: nur aus der wahrhaft therapeuti­
schen Sphäre.
51 C.G. Jung, GW 12 § 32 (meine Hervorhebung).
Vermeidung [des Strebens nach] Lösungen. Es ist das Verlangen nach Lösun­
gen, das so sehr destruktiv ist.«52
3) Als Jonathan Z. Smith in einer Diskussion gefragt wurde, ob er je auf
eine bestimmte Form von Opferritual mit einer normativen Wertung würde rea­
gieren und etwa sagen können: »I object to this because I feel that it threatens
the continued existence of our species«, antwortete er: »I have no interest in the
continued existence of our species. I have a deep interest in the continuing exi­
stence of the academe. What I’m interested in is the health of academic discour-
se.«53 Diese (in Bosnaks Sinn »apokalyptische«) Haltung verdient Respekt. Das
Interesse des Wissenschaftlers an dem Gesundbleiben des akademischen Diskur­
ses - unbekümmert um die Frage der Erhaltung der Spezies Mensch - entspricht
des Psychologen Bosnaks Hingabe an die unbekümmert um Lösungen und Er­
folge vollzogene Arbeit mit dem Traumbild. Der Wissenschaftler als Wissen­
schaftler kann sich nicht mit einem subjektiv-ideologischen Interesse in den
Gang der Erkenntnis einmischen, selbst wenn es das Interesse an der Erhaltung
der Menschheit ist. Eine Frage wie die Nietzsches: »Vom Nutzen und Nachteil
der Historie für das Leben« und die - heute allerdings weitverbreitete und sich
selbst beweihräuchernde - Perversion, sich erkenntnisfremde Interessen wie z.B.
das an der »Ethik« der Wissenschaft innerhalb der Wissenschaft und innerhalb
der Psychologie zu leisten, können auch nur sich selbst überlassen werden.
4) Hegel sagt mit Bezug auf das philosophische Denken: »In den stillen
Räumen des zu sich selbst gekommenen und nur in sich seienden Denkens
schweigen die Interessen, welche das Leben der Völker und der Individuen be­
wegen.« Nach Hegel fragt es sich, »ob der laute Lärm des Tages und die betäu­
bende Geschwätzigkeit der Einbildung, die auf denselben sich zu beschränken
eitel ist, noch Raum für die Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur
denkenden Erkenntnis offen lasse.«54 Und: »Wenn die Philosophie ihr Grau in
Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau
läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva be­
ginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«55
Was Hegel für die Philosophie sagte, gilt mutatis mutandis auch für die
Psychologie: nur erkennen, nicht verjüngen wollen, nicht verändern wollen. Die
Psychologie tut einfach ihre Arbeit an der schon längst gegebenen Wirklichkeit,
dem schon längst (so weit) gelebten Leben. Die Zukunft ist kein Thema. Aber
indem die Psychologie ihre Arbeit an der Gegenwart als der Vergangenheit des

52 Robert E. Bosnak, Briefliche Mitteilung an Daniel C. Noel, zitiert von diesem in: Lyonesse Letter
#5,11. August 1992 (privat vervielfältigt und verteilt), S. 9. (Meine Übersetzung.)
53 In: R.G. Hamerton-Kelly (Hg.), Violent Origins, Stanford (Stanford Univ. Pr.) 1987, S. 222.
54 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke, Theorie Werkausgabe, Frankfurt (Suhrkamp)
1969-71, Bd. 5, S. 23 u. 34. Meine Hervorhebungen.
55 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Theorie Werkausgabe, Frankfurt
(Suhrkamp) 1969-71, Bd. 7, S. 28.
Vergangenen tut und die Zukunft sich selbst überläßt, baut sie keine Widerstän­
de gegen die Ankunft der Zukunft auf, Widerstände, die würden verhindern sol­
len, daß die wirklich offene, unbekannte (also auch vielleicht erschreckende)
Zukunft zur neuen Gegenwart als der neuen Vergangenheit des Vergangenen
wird.
Ebenso ist Psychologie (insbesondere als therapeutische Psychologie) wie
die Philosophie »ihre Zeit in Gedanken gefaßt«; ist sie die Form, die die »Ge­
staltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung« in ihrer Zeit an­
nimmt, in Gedanken gefaßt. Auch die Psychotherapie hat es mit der »kalt fort­
schreitenden Notwendigkeit der Sache« zu tun, nämlich mit dem wirklichen lo­
gischen Leben der Seele. Sie muß fern aller Aufgeregtheit und fern allen persön­
lichen Eifers um externer Ziele willen betrieben werden. Sie hat ihre eigene
Würde. Ihr Ziel ist Wahrheit (Erkenntnis der Wahrheit und Leben in der Wahr­
heit).
Nach diesen Zitaten wird sich wieder der Widersprach regen, damit sei
die Psychologie als ein Luxusuntemehmen für im Elfenbeinturm vom Leben ab­
geschirmte Forscher konzipiert. Aber wir durchschauen längst das Mißverständ­
nis. Dieser Widersprach stammt aus der äußerlichen Reflexion, das heißt: aus
der aus ihr selbst herausgesetzten Syzygie. Die Alternative, um die es hier in
Wahrheit geht, ist gerade nicht die von »Elfenbeinturm« und »im Leben Ste­
hen«. Sie ist vielmehr die, ob man draußen in dem von der Seele abgespaltenen
Standpunkt verharrt und ihn als für die Erfahrung von Leben und Welt maßgeb­
lich beibehält, um nur noch technisch und manipulativ auf die Seele zu reagie­
ren, oder ob man die Welt und das Leben als in dem logischen Leben der Seele,
d.h. in der Retorte ihren Ort habend erkennt, der Retorte, die von außen der
schwarze Kasten, von innen jedoch der goldene Hintergrund der Welt ist; ob
man sich in die Retorte einnehmen läßt oder nicht; ob man in der schlichten,
aber tiefen denkenden Erkenntnis des logischen Lebens der Seele an diesem Le­
ben partizipiert oder sich ihm gegenüber als Ich aufspreizt und in Szene setzt.
Die subjektive Parteilichkeit für ichhafte Zwecke ist die emotionale Energie,
durch die das Leben mehr und mehr aus der Syzygie ausgesiedelt und immer
weiter in der Entfremdung gehalten wird.
Die Not der Psychologie. Wir verdanken Jung sowohl das Konzept des
Animus überhaupt, als auch das Wissen um die Syzygie. Jung hat auch in dem
Vollzug seines eigenen psychologischen Denkens in hohem Maße »syzygisch«
gedacht. Jene »feinere Intelligenz«1, die man ansonsten in der Psychologie so
schmerzlich vermissen muß, jene Kraft des Denkens, die es nicht nötig hat, um
der Vermeidung von Widersprüchen willen vor der logischen Komplexität aus­
zureißen und bei Simplifikationen und Reduktionen ihre Zuflucht zu suchen,
zeigt sich immer wieder bei ihm. Und doch hat sich auch seine Psychologie, so
wie sie konzipiert ist, nicht immer wirklich in der Syzygie zu halten vermocht.
Wenn Jung syzygisch denkt und spricht, dann kommt dies aus der Tiefe seines
eigenen Ingeniums. Doch wo Jung mehr systematisch reflektiert und zum Theo­
retiker wird, da, wo er so etwas wie eine psychologische Lehre vor uns hinstellt,
kommt die syzygische Verschränkung nicht voll zum Tragen. Wir haben uns
schon mit den »Trennungen« befaßt.
Darüber hinaus gibt es noch ein zentrales Problem, dessen Lösung nur in­
nerhalb der Syzygie, also nur in einer diese zu ihrem systematischen Gmnd ma­
chenden Psychologie möglich sein dürfte, dessen Lösung aber in der Jungschen
Psychologie nicht wirklich gelungen ist. Es ging Jung ja um die Wiederherstel­
lung des sympathetischen Zusammenhangs von Mensch und Welt, worin eben
die Hauptaufgabe der Psychologie: die Behebung der Neurose, bestünde. Schon
1912 hatte er geschrieben:
W ir finden im Kranken immer einen Konflikt, der an einem gewissen Punkt mit den
großen Problemen der Sozietät zusammenhängt, so daß, wenn die Analyse zu diesem
Punkt vorgedrungen ist, der anscheinend individuelle Konflikt des Kranken sich als
ein allgemeiner Konflikt seiner Umgebung und seiner Zeit enthüllt. Die Neurose ist
somit eigentlich nichts anderes, als ein individueller (zwar mißglückter) Lösungsver­
such eines allgemeinen Problems...12

Für Jung kann trotzdem eine wirkliche »Wandlung aber nur beim Einzel­
nen anfangen«3. Er grenzt sich entschieden von solchen Versuchen, die Not der
Zeit zu heilen, ab, die bei der Gesellschaft ansetzen, wie dem Marxismus. Auch,
ja gerade angesichts der Frage nach der Wiedergewinnung eines sympatheti­
schen Weltzustands muß Jung »den individuellen Menschen als Maß aller Dinge
ins Zentrum« setzen4, den Menschen in seiner Einmaligkeit.
Der Individuationsweg jedoch schließt nach Jung »die Welt nicht aus,
sondern ein«5. Indem der Einzelne seinen ganz individuellen Weg nach innen
1 Vgl. C.G. Jung, Briefe Bd. III, S. 14S (an L. Kling, 14.1. 58).
2 C.G. Jung, GW 7, S. 289, meine Hervorhebung.
3 C.G. Jung, GW 12 § 563.
4 C.G. Jung, GW 10 § 523.
5 C.G. Jung, GW 8 § 432.
geht, stößt er in sich auf ein Zentrum, das Jung das Selbst nannte, welches nicht
mehr ein bloßes Ich ist, sondern »ebenso der oder die anderen wie das Ich«6. Im
Selbst ist der Mensch nach Jung mit seinen Mitmenschen und mit dem consen­
sus gentium zusammengeschlossen. Im Selbst ist das kollektive Unbewußte er­
reicht, das ihn auch mit seiner Welt als Natur wieder zusammenschließt, wie
Jung mit seinen Arbeiten über die Synchronizität, also den akausalen Zusam­
menhang eines inneren und eines äußeren Ereignisses, und über den unus mun-
dus und die anima mundi zeigte. Auf dem Weg zum Selbst findet er auch den
Anschluß an die Tradition, so wie für Jung selbst sein eigener Individuationsweg
ihn über seine Träume auf die Alchemie stoßen ließ, in der er das geschichtliche
Bindeglied zwischen unserer modernen Welt und der mythischen Welt des Al­
tertums fand.
Dieser ganze Ansatz Jungs darf als gescheitert gelten, sofern er den An­
sprach erhebt, in der Hauptsache der Psychologie, der Wiederherstellung des
großen Zusammenhangs, wirklich etwas zu bewegen.
Ich sage dies nicht, weil ich dächte, daß all das, was Jung erarbeitet hat,
einfach falsch wäre und daß Jung uns in die verkehrte Richtung führe, weil etwa
doch der Weg der gesellschaftlichen Veränderung der richtige wäre; oder weil
ich dächte, daß derjenige, der sich auf den Individuationsweg begibt, nicht wirk­
lich genau solche Erfahrungen machen könnte, wie Jung sie beschrieben hat,
und daß er nicht dadurch so sehr bereichert und belebt werden könnte, daß er ei­
ne wirkliche, ins Archetypische sich erstreckende Erweiterung über die engen
Grenzen seiner Ichpersönlichkeit hinaus erführe. All dies muß Jung vielmehr ge­
rade zugestanden werden. Ich darf sogar sagen, daß eben dann, wenn ich von
dem Scheitern des Jungschen Ansatzes spreche, ich gleichwohl, wie aus allem
schon Gesagten zu sehen ist, Jungs Ansatz inhaltlich voll mittrage, von Einzel­
heiten und gewissen Akzentsetzungen vielleicht abgesehen. Ich bestreite Jung
mit meiner Rede von dem Scheitern des ganzen Ansatzes also nicht die Gültig­
keit dessen, was er entdeckt und vorgetragen hat. Ich bestreite lediglich, daß das,
was er positiv bietet, in Ansehung seines großen Ziels genügt. Oder noch deut­
licher: ich bestreite, daß Jung seinen eigenen Ansatz wirklich durchgeführt hat
und daß Jung die Mittel hatte, das, was er selbst mit seiner ganzen Psychologie
anstrebte und was er mit seiner Idee und der Praxis des Individuationsprozesses
auch erreicht zu haben glaubte, wirklich zu erreichen.
Der Boden, von dem aus Jung seinen durchaus »richtigen« Ansatz unter­
nahm, ist zu schmal, um diesen Ansatz tragen zu können. Oder richtiger: Jungs
Psychologie des Individuationsprozesses hat eigentlich keinen wirklichen Bo­
den, weil Jung sofort und immittelbar in den Individuationsprozeß einstieg, ohne
sich um die Frage nach seinem »Boden« zu kümmern. Er wollte also nur den

6 Ebd.
»zweiten« Schritt tun, ohne den ersten getan zu haben. Dadurch bleibt auch bei
ihm der Einzelne, zumindest so, wie er in Jungs Psychologie theoretisch gefaßt
ist (wohl nicht, wie Jung ihm aufgrund seiner in seiner persönlichen Natur ver­
wurzelten psychologischen Haltung begegnete), abstrakter Einzelner. Jung hatte
nicht die logischen Mittel, den konkreten Einzelnen zu denken. Er hatte nicht die
Mittel, das Problem wirklich auf die Ebene der Syzygie zu heben, so sehr ihm
dies auch vorschwebte. Mit seinen Forschungen über die Synchronizität hatte er
das ausdrückliche Ziel, die Kluft zwischen »Psychologie« und »Physik«, beide
Begriffe als Chiffren, den einen für die subjektive Welt des inneren Erlebens
und den anderen für die objektive Welt der äußeren Natur, genommen, zu über­
winden. Doch weil er dies auf einer noch immer dem naturwissenschaftlichen
Denkduktus verhafteten Ebene nur inhaltlich versuchte, während es eigentlich
darum ginge, diesen (selber »neurotischen« Denkduktus oder logischen Status)
zu überwinden, blieb er in dem, wie er es sagte, hinter dem zurück, was er sagen
und erreichen wollte. Und so vermag auch der Individuationsprozeß, so sehr er
intendiert ist, die Spaltung von Innen und Außen, von Individuell und Allge­
mein, von subjektivem Erleben und wirklicher Welt aufzuheben, nicht wirklich
aus der subjektiven Ecke herauszukommen.
Jung sagt einmal (1929), und diesen Satz hat er selbst im Druck hervorge­
hoben: »Wir Modernen sind darauf angewiesen, den Geist wieder zu beleben,
das heißt Urerfahrung zu machen«7. Geist steht hier nicht im Gegensatz zu See­
le, denn Jung weiß, daß der Geist heute »aus seiner feurigen Höhe herunterge­
stiegen« und zu seelischem Wasser geworden ist8. Auf der zweiten Eranos-
Tagung 1934 und später in anderen Schriften hat Jung als Beispiel dazu den Fall
eines protestantischen Theologen vorgetragen, der wiederholt träumte, »er stehe
an einem Abhang, von wo aus er eine schöne Aussicht auf ein tiefes Tal mit
dichten Wäldern hat. Er weiß, daß ihn bisher immer etwas davon abgehalten hat­
te, dorthin zu gehen. Dieses Mal aber will er seinen Plan durchführen. Wie er
sich dem See nähert, wird es unheimlich, und plötzlich huscht ein leiser Wind­
stoß über die Fläche des Wassers, das sich dunkel kräuselt. Er erwacht mit ei­
nem Angstschrei«.9
Der Träumer steigt in diesem Traum in seine eigene Tiefe hinunter. Der
Weg führt ihn zum geheimnisvollen Wasser. Da geschieht das Wunder des Tei­
ches von Bethesda: ein Wind, das Pneuma, weht und belebt das Wasser. Dieses
Geschehen macht dem Träumer aber eine unheimliche Angst. Wie Jung in sei­
nen Erinnerungen berichtet,10 überwand nun dieser Theologe seinen Schrecken
nicht, so daß er seinen eigenen Weg nicht weiterging. Das ist vom psychologi­
schen Standpunkt aus für ihn persönlich gewiß höchst bedauerlich. Aber ich

7 C.G. Jung, GW 4 § 780.


8 C.G. Jung, GW 9/1 § 32.
9 C.G. Jung, Erinnerungen S. 146.
10 Ebd. S. 147.
möchte sagen, daß selbst dann, wenn er diesen seinen Weg weitergegangen wäre
und er auf diesem Weg bis zur Ebene des sog. kollektiven Unbewußten wirklich
vorgedrungen wäre, in Ansehung des Hauptproblems, des Erreichens von Welt,
nicht viel gewonnen wäre. Es ist Jungs Intum zu glauben, daß - einfach so -
»die Rettung der Welt in der Rettung seiner [des Einzelmenschen] eigenen See­
le« bestehe11, wobei der Ton hier auf dem »einfach so« liegt und auf das Ver­
säumnis des »ersten Schrittes« angespielt wird.
Auch das schönste und authentischste Zusammengeschlossenwerden mit
der Welt auf der Ebene des Selbst und durch archetypisch-kollektive Träume
ebenso wie durch synchronistische Erlebnisse ist nach wie vor nur ein Zusam­
mengeschlossenwerden auf der Seite des persönlichen Erlebens oder subjektiver
Vorstellungen von einem u m s mundus. Innerhalb des Subjekts findet wirklich
eine Transzendierung hin zu einem größeren Zusammenhang statt. Aber der Be­
reich des Subjekts wird nicht seinerseits überschritten. Es bleibt bei einem Ge­
schehen, das ein für allemal eingeschlossen ist in die eine Hälfte der Welt, der
die andere Hälfte nach wie vor unerreicht und unerreichbar gegenübersteht. Der
psychologische Weg findet als rein psychologischer a priori innerhalb der Ent­
zweiung der ganzen Welt in die zwei Hälften »Psychologie« und »Physik« statt.
Jung meinte zwar: »Der Riß, der durch die Metaphysik geht, kommt langsam
zum Bewußtsein als eine Spaltung der menschlichen Seele, und der Kampf des
Lichtes gegen die Finsternis verlegt seinen Schauplatz ins Innere derselben.«1112
Aber jenes »Innere derselben«, in das der ganze Gegensatz übergewandert sein
soll, ist offenkundig selber nur die eine Seite eben dieses Gegensatzes. Jung
wußte das im Grunde auch; er wußte, daß »der naive Primitive« »in einer Welt«
lebt, »wir aber nur in der einen Hälfte und glauben bloß, oder auch nicht, an die
andere.«13 Jung spricht von dem »sonderbare(n) Schauspiel zweier gleichzeitig
nebeneinander herlaufenden Weltanschauungen, die voneinander nichts wissen
wollen oder können«; dieses Schauspiel hätte die Welt nicht erlebt, wenn der al-
chemistische Versuch, die physika und die mystika in einer umfassenden Welt­
anschauung zu vereinen, gelungen wäre. So aber kam es »im Laufe des 18. Jahr­
hunderts zu der wohlbekannten Unvereinbarkeit von Glauben und Wissen. Dem
Glauben fehlte die Erfahrung und dem Wissen die Seele.« »Der Glaube ist, so
gut wie die herkömmliche Objektivität der Naturwissenschaft, absolut, und dar­
um können sich weder Glauben und Wissen, noch die Christen unter sich eini­
gen.«14
Es ist auch, wenn man um sich schaut, zumindest nicht zu erkennen, daß
es bestimmte Einzelne gäbe, die den Individuationsweg im Sinne Jungs beschrit­
ten haben, bei denen eine wirkliche Überwindung der Aufteilung der Welt in

11 C.G. Jung, GW 10 § 536.


12 C.G. Jung, GW 13 § 293.
13 C.G. Jung, Briefe Bd. II, S. 209 (an Beatrice Hinkle, 6.II.1951).
14 C.G. Jung, GW 9/11 § 267-269.
zwei Hälften stattgefunden hätte. Gewiß, die Idee dieser Überwindung im Sinne
des unus mundus, der verkündete Glaube an sie, ist oft zu finden. Aber die Idee
und der Glaube daran sind noch nicht die Wirklichkeit. Die Physik (oder die
Wissenschaft im allgemeinen) und das wirkliche Weltgeschehen draußen blei­
ben unberührt und unerfaßt außerhalb des psychologischen Geschehens.
Wenn dem so ist, sehen wir uns zu der Einsicht genötigt, daß die Psycho­
logie als solche nicht die Antwort auf die, oder die Heilung der, Entzweiung be­
deutet, sondern selber eine Manifestation, ja eine Bestätigung der Entzweiung
ist. Sie gehört mitsamt ihren Bemühungen um die Heilung der Neurose (im wei­
ten Sinn des Wortes) in die Neurose hinein.15 Darin besteht die Hilflosigkeit der
Psychologie als solcher angesichts ihrer eigentlichen Aufgabe und einzigen
Zweckbestimmung. Und darin liegt die wahre Not der Psychologie, daß sie
nämlich die Not, auf die sie helfend antworten soll, das Abgespaltensein vom
größeren Zusammenhang, selber in sich trägt, ja selber ist und daß sie sie deswe­
gen auch in all ihrem Tun perpetuiert. Die Existenz der Psychologie ist ein Sym­
ptom der Neurose, nicht schon ihre Heilung.
An diesem Punkt wäre man versucht, die Konsequenz zu ziehen, daß dann
die Psychologie als Irrweg ganz abgetan werden müsse und wir außerhalb der
Psychologie nach einem völlig anderen Weg suchen müßten. Aber damit wäre
nur eine Abspaltung mehr vorgenommen. Der Irrweg darf nicht, weil er Irrweg
ist, verworfen werden, insofern es einen abstrakt richtigen Weg nicht gibt. Wir
kommen nur auf dem jeweiligen Irrweg oder Holzweg weiter, freilich nur dann,
wenn wir ihn im Beschreiten als Irrweg begreifen. Ich kehre mich also nicht von
Jung und seinen Eikenntnissen ab, sondern stelle mich gerade dankbar auf seine
Schultern, um in seinem Sinn weiterzudenken. Aber als so in seinem Sinn Wei­
terdenkender würde ich es Jung schlecht verdenken, wenn ich verschweigen
würde, wo und wie er hinter seinem eigenen Anliegen zurückgeblieben ist. Sei­
ne Psychologie ist an ihren eigenen Kriterien zu messen. Ich trage also nicht von
außen eine Kritik an sie heran.
Weil die Psychologie das eine Glied der Entzweiten ist und in dem Ver­
hältnis der Entzweiung von Mensch und Welt steht, muß die Entzweiung auch
in der und an der Psychologie selbst wirksam und sichtbar sein. Die Entzweiung
zwischen Psychologie (oder Mensch) und Welt spiegelt sich in der intrapsycho­
logischen Entzweiung, die wir bereits unter den Überschriften »Trennungen«
und »Positivität. Oder: Die <anthropological fallacy<« besprochen haben.
Unwirkliche Psychologie. Ich greife auf bereits Gesagtes zurück: Reine
Psychologie, das heißt Psychologie rein unter der Ägide der Anima, der Seele,
ist keine wirkliche Psychologie. Wirklich würde die Psychologie erst, wenn sie
in ihr selber vom Animus infiziert würde, weil, wie wir von Hillman hörten, die

15 Siehe dazu W. Giegerich, »Über die Neurose der Psychologie oder das Dritte der Zwei«, Analyt.
Psychol. 9 :99-110 (1978).
Psychologie eben die wechselseitige Durchdringung von Psyche und Logos im
Rahmen der Syzygie ist. Diese Durchdringung könnte sie aber nur sein, wenn
sie sich selber von der Syzygie durchdringen ließe. Erst durch ihr eigenes Ande­
res, den Logos, käme die Psychologie zu sich selbst. Die Anima fmdet sich
selbst erst in ihrem eigenen Gegensatz, in dem, was sie nicht ist, dem Animus.
Der Weg zu ihr führt von ihr weg. Der Animus müßte in den Ansatz der Psycho­
logie eingelassen sein. Und die Überschreitung ihrer eigenen Fachgrenzen —hier
ist an das zu denken, was wir oben kritisch gegen Jungs Selbstbeschränkung be­
züglich der Rede von Gott auf das bloße Gottesbild in der Seele einwendeten -
ist nicht die Selbstverabschiedung der Psychologie und ihr Sichverlieren in den
Gefilden der »schlechten« Metaphysik, sondern sie ist ihr Anfang.
Wenn Jung davon gesprochen hatte, daß der moderne Mensch wieder Ur­
erfahrung machen müsse und den Verlust des Mythus nicht ertragen könne,
dann klingt das so, als ob es die Urerfahrung als gesonderte Erfahrung neben der
sonstigen Erfahrung gebe und der Mythos als ein eigenständiges Gebilde irgend­
wo aufzusuchen wäre. Das wäre im Grunde reiner Platonismus, die Hypostasie­
rung des Mythos oder der Urerfahrung als einer zweiten Welt ewiger höherer
Wahrheiten, so wie ja auch die Setzung der Archetypen als »Archetypen an
sich« Platonismus ist. Aber der Mythos ist nichts, was wie eine für sich beste­
hende höhere Wahrheit, wie ein schwer zu findender Schatz aufzusuchen wäre.
Er ist in Wahrheit nur die gestalthaft wahrgenommene Sphäre und so das »Be­
hältnis« unserer wirklichen Weltbegegnung selber. Wenn der Mythos zu einem
selbständigen Gebilde vergegenständlicht wird, das durch Introspektion in ei­
nem besonderen Prozeß erfahren werden soll, dann geht diese Erfahrung gezielt
an der wirklichen Welt vorbei. Sie ist, um es nochmals zu sagen, im Grunde blo­
ßes, wenn auch erhabenes, Kino.
Solcher »Mythos« ist auch gar nicht wirklicher Mythos, und er verbindet
uns auch nicht mit der Ahnenwelt, sondern mit einem caput mortuum. Denn die­
ser Mythos und seine »ewigen Wahrheiten« sind relativ auf eine vergangene
Welt, sie sind, um es mit einer Chiffre zu sagen, die Welt zur Zeit Homers in ih­
rer Tiefe gestalthaft erfaßt, dann aber platonisierend in zeitlose wesenhafte Bil­
der übersetzt und diese in der Psyche unterschwellig aufbewahrt und als solche
in spätere, ganz andere Zeiten hinübergerettet, was dann zum Begriff des Arche­
typischen verführte. Die Welt Homers war seinerzeit die wirkliche Welt, und der
Mythos war »state of the art«, weil er die wirkliche Erkenntnis der wirklichen
Welt war. Das sind die Welt Homers und der Mythos aber heute nicht mehr. Wir
leben in einer anderen Welt. Die wirkliche Welt der Ahnen ist nicht das Anti­
quariat, nicht die Gegenwart des Vergangenen, Toten. Sie ist vielmehr die Ge­
genwart der Vergangenheit des Vergangenen, was man erst von Hegel her wirk­
lich begreifen kann, was aber auch Jung wenigstens andeutete, wenn er einer­
seits sagte, daß das Unbewußte »die jeweilige geistige Vergangenheit dar­
stell(e)« und »jene Vergangenheit« ausdrücke, »die in uns aufbewahrt ist«,16
und andererseits wußte, daß »der Mythus [also eben jene je kulturspezifische in
uns aufbewahrte geistige Vergangenheit] in jedem erneuerten Äon eines neuen
Gewandes bedarf«.17 Die Gegenwart der Vergangenheit des Vergangenen kann
freilich nur sein, wenn nicht die Anima unmittelbar für sich waltet, denn die
Anima ist von Hause aus »positivistisch« und führt als solche nur zu Antiquitä­
ten, sondern wenn der Animus hinzutritt und ihrer Unschuld Gewalt antut. Er ist
es, der den Mythos seinem alten Gewand entfremdet und die Gewinnung eines
neuen Gewandes für ihn nötig macht.
Daher brauchen wir, was die große Aufgabe der Psychologie anlangt,
nicht mehr Animaprodukte, mehr Träume, Mythen, alchemistische Bilder, mehr
inneren Prozeß. Sie gehen an der wirklichen Not der Zeit vorbei und lenken so­
gar von ihr ab. Sie heilen zwar durchaus, aber nur in der Weise der Erbaulich­
keit, nur »archäologisch« sozusagen. Sie erreichen nur den vormodemen, ver­
gangenen, bloß persönlichen »Teil« in uns,18 trotz »kollektivem« Unbewußtem.
Denn sie sprechen uns nur auf einer Ebene an, die wir zwar wirklich in uns ha­
ben, aber eben in uns und so unter uns, als bloßes aufgehobenes Moment unserer
heutigen vollen Wirklichkeit. Dieses kollektive Unbewußte ist nur die zum Mo­
ment in jedem Individuum herabgesunkene und als solche vergessene, seinerzeit
freilich modernste Erfahrung des archaischen Menschen. Wenden wir uns ihm
zu, dann versteht die Anima als Führerin zu den Ahnen sich selbst allzu wört­
lich, allzu animahaft, wie immer, wenn sie sich selbst verstehen will, anstatt sich
von ihrem Anderen, dem Animus, in Liebe umgreifen und begreifen zu lassen.
Gerade in solcher Animaverfallenheit verpassen wir die Anima, so wie der rein
sein wollende Animus sich selbst verpaßt hat und der unmittelbare Mythos heute
nichts als (durch die Intensität des Erlebens vielleicht mit dem Schein psy­
chischer Kraft aufgeladene) schlechte Metaphysik ist, die die wirkliche Welt
überfliegt.
Unserer wirklichen heutigen Anima würden wir nur begegnen, und wirk­
licher Mythos wäre nur dann, wenn wir die ganze Sphäre unseres modernsten
Wissens-und-Nichtwissens und unseres wirklichen Weltumgangs als Gott erfüh­
ren. Was in unserem Inneren ist, ist immer nur abgesunkenes Kulturgut, das sich
in der Seele über Jahrhunderte und Jahrtausende als vergessenes bewahren
kann,19 wodurch, wie gesagt, der Schein des Archetypischen entsteht. Das wirk­
lich Mythische dagegen ist immer an der vordersten Front unseres Denkens, Er-
fahrens und Tuns. Nur dort, wo wir der je heutigen Unbekanntheit des wirkli­
chen Weltumgangs als unserer Sphäre begegnen, erreichen wir auch unsere
16 C.G. Jung, GW 9/II § 272. Meine Hervorhebungen.
17 C.G. Jung, GW 9/II § 281.
18 Das »Persönliche« ist wesenhaft Vergangenheit, die wir in uns tragen.
19 Ich propagiere damit keine Vererbungstheorie im Sinn von Lamarck. Das sich selbst vergessende
Bewahren ereignet sich vielmehr als die Sprachlichkeit des Menschen.
Ganzheit, die, wie leicht einzusehen ist, grundsätzlich nicht in uns erreicht wer­
den kann. Natürlich ist es, durchaus auch im positiven Sinn, erbaulich, ja per­
sönlich heilsam und insofern notwendig, an das vergessene abgesunkene Kultur­
gut, das wir in uns tragen, also an den Sinn vergangener Epochen, wieder ange­
schlossen zu werden. Aber dieser vergangene Sinn ist, weil er in jeden von uns
abgesunken ist, als solches kollektives Unbewußtes doch gerade nur persönli­
ches Unbewußtes. Und indem die Erbauung durch es uns ermöglicht, uns sub­
jektiv wohler zu fühlen inmitten unserer Zeit, enthebt sie uns der Aufgabe, unse­
re wirkliche Zeit wirklich zu erfahren, so tief, bis sie gestalthaft als neuer My­
thos begegnen würde. Die Wirklichkeit unserer Welt erreichen wir so nicht.
Jung wußte um die zwei großen Probleme, die den abendländischen
Menschen von seiner wirklichen Welt abschneiden und damit die Neurose im
großen Sinn verursachen. Jung hat sie beide als persönliche Aufgabe auf sich
genommmen. Aber weil er unvermittelt Psychologie treiben wollte und den Ani­
mus extra portam hielt, konnte dieser ihm auch nicht die logischen Mittel in die
Hand geben, wie er diese Probleme hätte überwinden können. Das erste Problem
ist das von Plato her zu benennende Methexis-Problem, das heißt das Verhältnis
von Idealität und Realität. In einem Brief berichtet Jung von einem Gespräch
über das Archetypenkonzept, das er einmal mit dem Paracelsus-Forscher Pater
Betschart geführt hatte20:
Die Platonische Philosophie gab uns eine willkommene gemeinsame Grundlage, auf
der wir uns relativ leicht über die ideelle Seite des Problems verständigen konnten.
Von da aus konnten wir uns mit Erfolg auch der Diskussion des naturwissenschaftli­
chen Aspektes zuwenden. Die Schwierigkeit dieses Aspektes besteht hauptsächlich
darin, daß die ewigen Ideen aus ihrem »überhimmlischen Orte« heruntergeholt wer­
den in eine biologische Umgebung...

Dieses Herunterholen war nicht nur ein theoretisches Anliegen, sondern


Jungs ganz persönliches Bedürfnis. Er brauchte, nicht allein zu der Zeit, als er
von mächtigen archetypischen Phantasien umgetrieben wurde, das Wissen,
daß ich wirklich existierte und nicht nur ein vom Geistwind umgetriebenes Blatt war
wie Nietzsche. Nietzsche hatte den Boden unter den Füßen verloren, weil er nichts
anderes besaß als die innere W elt seiner Gedanken - die überdies ihn mehr besaß als
er sie. Er war entwurzelt und schwebte über der Erde... Diese Unrealität war für mich
der Inbegriff des Grauens, denn ich meinte ja diese W elt und dieses Leben.21

Auch der Individuationsprozeß hatte entscheidend die Aufgabe, den Menschen


aus dem »Wölkenkuckucksheim«, wie Jung einmal sagt, herunterzuholen und
ihn zu einem wirklichen Einzelmenschen zu machen.

20 C.G. Jung, Briefe III, S. 304, an Dr. E. Herbrich, 30. V. 1960.


21 C.G. Jung, Erinnerungen S. 193.
Weder die »biologische Umgebung« noch der Individuationsprozeß noch
das Festhalten an der Persönlichkeit Nr. 1 vermögen wirklich auf die wirkliche
Erde herabzuholen. Seit Hegel wissen wir, daß alle empirisch-wissenschaftliche
Erfahrung und so auch das Biologische die Wirklichkeit überfliegt. Wissen­
schaft erreicht zwar die Welt, aber nur insoweit sie manipulierbar ist, d.h. Welt
als Realität im Sprachgebrauch Hegels, nicht sie als Wirklichkeit.22 Und es trifft
zu, daß der Individuationsprozeß einen Weg nach unten in die Wirklichkeit
meint. Aber Jung hat nicht gezeigt, daß dieser Weg selber »Boden« unter sich
hat. Jung hat nur »empirisch« gezeigt, daß er vorkommt und was seine Gehalte
sind. Diese Gehalte sind archetypisch-zeitlos, sie sind semper et ubique nachzu­
weisen. Als solche zeitlosen Gehalte bleiben sie insgesamt animahaft eingespon­
nen in das Platonische Wesen, in das »Reich« bloßer Möglichkeiten. Sie können
zwar zu einem Sinnerleben führen, so wie die Bilder im Museum zum Anlaß
und Anhalt eines tiefen Erlebens dienen können, aber nicht zur Sümerfahrung,
wenn darunter zu verstehen ist die Erfahrung der Wirklichkeit als sinnhaft. Bo­
den hätte der Individuationsweg erst, wenn gezeigt würde, wie die archetypi­
schen Bilder als Möglichkeiten diese unsere Weltwirklichkeit hier und jetzt
wirklich berühren. Diese Frage, die Wahrheitsfrage, bleibt jedoch ausgespart,
oder ihre positive Beantwortung wird, dank der Verführung durch den Über­
schwang des Gefühls, kurzerhand vorausgesetzt. Die Psychologie begnügt sich,
mit dem Erleben, das auch, ja gerade dann, wenn es das Erleben zeitloser Bilder
und Sinngehalte oder »Archetypen an sich« ist, autistisch bleibt. In der Idee des
Individuationsprozesses gibt es auch keine Berührung durch das Geschehen der
Geschichte, keinen Einbruch der Problematik der modernen Welt schon in den
Begriff des Individuationsprozesses als eines solchen hinein. Dieser bleibt rein.
Wir können sagen, daß innerhalb des Prozesses der Boden zwar erreicht
werden kann, der Prozeß selber aber mitsamt diesem durchaus erreichbaren Bo­
den an einem »überhimmlischen Ort« schweben bleibt, nicht etwa obwohl, son­
dern gerade weil Jung jedes bloß ästhetische und intellektuelle Auffassen der
Bilder verabscheut und auf dem ethischen Konsequenzenziehen besteht und weil
die Jungianer die Traumbilder auf die Tagesrealität des Träumers und seine Ich-
funktionen, sein Verhalten, sein Erleben zu beziehen suchen. Die Forderang
nach ethischer Verantwortung im Sinn des Praktischwerdens macht gerade die
wirkliche Kluft zwischen der Welt der Möglichkeit (archetypische Bilder) und
der Wirklichkeit deutlich, indem hier ja die (ontologische) Kluft durch das un­
vermittelte Praktischwerden gewaltsam übersprangen werden soll, womit aber
nur der Schein des Ankommens bei der Wirklichkeit erweckt wird. Das ethische
Sollen gehört genauso in die Wesenslogik (Bereich bloßer Möglichkeiten) wie
die ästhetischen Bilder, und der Sprang in das Praktische der Handlung über-
22 »Realität« bei Hegel meint das, was der Physiker Herbert Pietschmann einmal den »meßbaren,
reproduzierbaren, analysierbaren Teil der Wirklichkeit« genannt hat. Hegel spricht nicht von ei­
nem Teü, sondern benutzt zwei verschiedene Namen: Realität - Wirklichkeit.
brückt die Kluft nicht, sondern wechselt bloß zum anderen, realen Ufer über, oh­
ne das, was drüben war, wirklich hinüberzubringen, wodurch allein Wirklichkeit
erreicht wäre. Es wird nur in der zweiten Welt der Realität (bestenfalls) ein for­
males Duplikat des Bildes der ersten Welt der Möglichkeit erstellt, das als sol­
ches aber abstrakt und abgespalten bleibt.
Auch der Bezug auf die Funktionen, Verhaltens- und Erlebnisweisen des
Patienten erreicht das Dieses aus »denn ich meinte ja diese Welt und dieses Le­
ben« nicht. Solches Beziehen ist, anstatt Erkenntnis zu sein, lediglich die Arbeit
an der künstlichen Erstellung der abgespaltenen und positivierten Fakteninnen­
welt, welche genauso wie ihr Pendant, die von den Wissenschaften erstellte Fak­
tenaußenwelt, zur Realität gehört und als solche nur die Abstraktion idealisierter
Zustandsquerschnitte, aber niemals die Wirklichkeit darstellt. Das gleiche gilt
für das Ausspielen des Individuums (individuelles, persönliches Erleben) gegen
die Gesellschaft. Mit dem modernen Individuum ist das Dieses nicht erreicht. Es
gehört gerade seinerseits zu jener Welt »idealer Durchschnittlichkeiten«23, zu
der es der Gegensatz sein soll. Es ist abstrakt. Es gibt zwar genügend Hinweise
in Jungs Werk (z.B. das Kapitel »Die Bedrohung des Individuums« in Gegen­
wart und Zukunft, GW 10), die nahelegen, daß Jung selbst das wirkliche Indivi­
duum zu erreichen vermochte. Aber mir scheint auch, daß er dies mehr nur kraft
seiner persönlichen psychologischen Genialität vermochte, während seine Psy­
chologie nicht die logische Kraft hatte, dieses Erreichen auch verbindlich auszu­
drücken und damit auch an andere zu übermitteln, weswegen in der heutigen
Praxis der Jungschen Psychologie auch die Abstraktheit, teils als Subsumieren
des Besonderen unter das Allgemeine (Archetypen, Typologie), teils umgekehrt
als Reduktion archetypischer Bilder auf die Alltagsrealität des Patienten, vor­
herrscht.
Das zweite große Problem, auf das Jung mit seiner Psychologie zu ant­
worten suchte, war die Subjekt-Objekt-Spaltung der Moderne. Für Jung war es
notwendig, einen Weg aus dem Solipsismus der Subjektivität heraus und einen
Anschluß an die objektive Welt zu finden. Die Entdeckung des kollektiven Un­
bewußten gewährleistete einen Anschluß an den consensus gentium. Die Gren­
zen einer bloß personalistischen Psychologie waren zur Menschheit hin über­
schritten. Jedoch, weil sich diese Überschreitung nur in der Psyche des Einzel­
nen ereignete und das »kollektive Unbewußte« in Wahrheit persönliches Unbe­
wußtes von einem abgesunkenen kollektiven Wissen ist, verblieb auch diese
Transzendierung des Subjekts noch im Raum des Subjektiven, wobei an das,
was oben unter dem Stichwort Methexis-Problem über das Autistische des Erle­
bens gesagt wurde, erinnert werden muß. Jung ging dann freilich auch darüber
noch hinaus, indem er die These von der psychoiden Natur der Archetypen so­
wie die Idee der Synchronizität und des unus mundus vortrug. Mit ihnen ist

23 Vgl. C.G. Jung, GW 10 § 494.


wirklich die Kluft zwischen subjektiver Innenwelt und objektiver Außenwelt
überbrückt. Doch - diese Überbrückung ist ihrer logischen Form nach bloße,
wenn auch frohe, Nachricht von der Überbrückung. Als empirisch-wissenschaft­
lich gemeinte Hypothese ist sie nur ein mythischer Bericht (im pejorativen Sinn
von mythisch) und erreicht mit ihrer These nicht selber die wirkliche Welt, weil
sie als Hypothese über die Welt nur von dieser redet oder sie vorstellt, sie aber
logisch nicht in sich hat. Die Nachricht, die zu ihrem Inhalt die Überbrückung
von Subjekt und Objekt hat, erhält kraft ihres logischen Status als »Nachricht«
oder »Hypothese über ...« gerade das Schema von Subjekt und Objekt aufrecht.
Sie bleibt (bestenfalls wissenschaftliche) Weltanschauung.
Das Andere der Psychologie. All dies nötigt uns zu dem Schluß: Die
Psychologie hat die Antwort auf die Fragen, die sie beantworten muß, nicht in
ihr selbst, sondern in ihrem eigenen Anderen. Wenn die Psychologie selbstge­
nügsam, autark sein will, wir könnten auch sagen: wenn sie positive Psychologie
sein will und umstandslos agiert wird, verfehlt sie sich selbst. Die Neurose ist
mit rein psychologischen Mitteln nicht zu heilen, weil rein psychologische Mit­
tel nicht wirklich psychologische Mittel sind. Wirkliche Psychologie ist unrein,
sonst ereignete sie sich nicht in der Syzygie als der Einheit von Einheit und Ge­
gensätzlichkeit, was ein unsauberer, widersprüchlicher Begriff ist.
Jung hat das Andere des Eigenen geahnt, wenn auch nur geahnt. 1935
schrieb er an Prof. Friedrich Seifert, der einen Beitrag über Hegel und Jung zur
Festschrift zu Jungs 60. Geburtstag beigesteuert hatte24:
Ich w ar immer der Ansicht, daß Hegel ein uneigentlicher Psychologe ist, etwa so wie
ich ein uneigentlicher Philosoph bin. Über das, was »eigentlich« ist, scheint der Geist
der Zeiten zu entscheiden. Oder vielleicht ist es jene geistesgeschichtliche Entwick­
lung der Funktionen, die ich immer vermute, deren Geschichte aber ein Philosoph
von Fach zu schreiben hätte. Diese Entwicklung ist aber eine verwickelte Sache, in­
dem sie nicht an den Inhalten, die innerhalb der Kulturgeschichte sozusagen immer
dieselben geblieben sind, sondern an der Form abzuhandeln wäre. Hegel erscheint
m ir im Gegensatz zu Kant als ein romantischer Denker und damit als ein charakteri­
stischer Sohn seiner Zeit; und romantisch ist er schon im Übergang zur Psychologie.
Die denkerische Form ist schon nicht mehr eigentlich, sondern Vehikel. ...

Der Philosoph als uneigentlicher Psychologe und der Psychologe als unei­
gentlicher Philosoph - hätte diese Einsicht nicht Anlaß sein können, sich auf die
Syzygie wirklich einzulassen? Hier taucht, wie im Ineinander von yin und yang
des chinesischen T ’ai-ki-t’u, das andere im einen und das eine im anderen auf.
Jungs Satz könnte als Ausdruck der freilich abgewehrten Ahnung davon verstan­
den werden, daß jede der beiden Disziplinen ihr Eigentliches in der je anderen
hat und daß erstens die Philosophie nur wirkliche Philosophie ist, wenn sie sich
gerade nicht rein, d.h. im formallogischen, platonistisch-wesensphilosophischen
Denkduktus, zu halten versucht (freilich ohne diesen undialektisch, d.h. total,
über Bord zu werfen), und daß zweitens die Psychologie nur dann wirkliche
Psychologie ist, wenn sie sich auf ihrem eigenen Boden, also uneigentlich, auf
den Boden der Philosophie, und zwar der Logik, begibt.
Jung glaubte, wie weniger aus diesem Zitat als aus anderen, mit deutlicher
Animosität gegenüber Hegel vorgetragenen Äußemngen hervorgeht, daß Hegel
durch die Apostrophierung als »imeigentlicher Psychologe« als Denker disquali­
fiziert sei,25 obwohl er dann genauso auch sich selbst durch die Prädizierung
»imeigentlicher Philosoph« als Psychologe für disqualifiziert hätte halten müs­
sen. Die Animosität, mit der Jung öfters über Hegel wie auch über Heidegger
und insbesondere über ihre Sprache spricht, zeigt, daß Jung sich nicht wirklich
auf das Andere der Psychologie einlassen konnte, daß die Anima sich jungfräu­
lich der Begegnung mit dem Animus widersetzte, in welcher Jungfräulichkeit
wir aber gerade eine undurchschaute Wirkung des Animus in der ureigensten
Sphäre der Anima erkennen. Denn die Anima selber ist immer auch Hure.
Bei dem Verhältnis Jungs zu Hegel ging es - gleichursprünglich mit der
Frage nach der Syzygie - um die große Entscheidung zwischen: Kompensation
unserer Geschichte - oder: lebendige Fortsetzung unserer Geschichte.
Hätte Jung sich auf Hegel, und das heißt hier den Hegel der Hauptwerke,
Phänomenologie des Geistes und Wissenschaft der Logik, eingelassen, dann hät­
te er sehen können, daß Hegel, psychologisch ausgedrückt, die Heilung der Neu­
rose des Abendlandes geglückt ist, und zwar nicht nur in der Idee, sondern wirk­
lich. Er hätte sehen können, daß in Hegel, psychologisch gesprochen, der Ani­
mus zum ersten und wohl einzigen Mal in der abendländischen Geschichte »rei­
ner«, nicht mehr animabesessener Animus geworden und das Denken zum er­
sten und wohl einzigen Mal wirklich zu sich selbst gekommen ist - dies aber
eben dadurch, daß der Animus sich nicht in einer reinen Animuswelt einhausen
wollte, sondern bereit war, seinem eigenen Anderen zu begegnen. Hegel hat von
Anima und Animus und von der Syzygie nichts gewußt. Aber diese waltet in
seiner, nein als seine Logik. Jung spürte das ganz richtig, aber er kreidete es He­
gel als uneigentlich gewordene denkerische Form an. Warum richtete Jung die­
sen und den Vorwurf des Romantischen nicht gegen Schopenhauer, wo sie ge­
paßt hätten? Warum schätzte Jung den letzteren? Ich glaube deswegen, weil
Schopenhauer wirklich eine romantische »Philosophie« bringt, d.h. eine Weltan­
schauung, der die denkerische Form schon uneigentlich geworden ist; weil
Schopenhauer schon ins 19. Jahrhundert hineingehört, das unsere Geschichte
25 In einem Brief (an Joseph F. Rychlak, 27.IV. 1959, Briefe III S. 246) drückt sich Jung nämlich
krasser aus: Hegel sei »nicht einmal ein echter Philosoph, sondern ein mißratener Psychologe«
gewesen. Siehe auch die Ausführungen in »Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psy­
chischen«, GW 8 § 358 ff., wo Jung von Hegels »Identifikation und Inflation, [der] praktische[n]
Ineinssetzung des philosophischen Verstandes mit dem Geist schlechthin« spricht, was man nicht
anders denn als ein völliges Mißverständnis bezeichnen kann.
mit all seinen Sinngebungsversuchen (ich nenne nur Kierkegaard, Marx, Nietz­
sche) nicht fortsetzte, sondern kompensierte und mit seiner offiziellen Entwick­
lung (Wissenschaft, Wirtschaft, Politik) unter dem in der Geschichte bereits er­
reichten seelisch-geistigen (psycho-logischen) Problemniveau einfach vorbei­
ging.
Hegel war gerade eigentlicher Denker, dadurch daß er den Gedanken so
konsequent vorantrieb, daß dieser an der eigenen, der Animaverfallenheit zu
verdankenden Sistierung in dem formallogischen Wesensstatus zugrundeging
und sich eben dadurch als Gedanke zur Wirklichkeit wirklich öfftiete. Hegel gibt
nicht eine Weltanschauung, die die Welt außer sich hat, nicht nur eine philoso­
phische Theorie über Gott und die Welt; sein Gedanke erreicht auch nicht nur,
wie die Wissenschaften und die Philosophie Kants, Welt als Realität, also nur
insoweit sie manipulierbar ist, er erreicht innerhalb des Gedankens die Wirk­
lichkeit, die wirkliche Welt des Menschen. Der Gedanke ist zum Begriff gewor­
den, zum »Behältnis«, das die Welt in sich begreift. So ist er die Nachfolgerge­
stalt des »Mythos«, des »Goldgrundes«, des Vas. Und er erreicht Wirklichkeit,
er wechselt nicht nur, zwischen hüben und drüben wie zwischen »Nr. 1« und
»Nr. 2« pendelnd, zu ihr über. Ich gebe hier davon nur die Nachricht, also etwas
selber Unwirkliches, weil der Erweis nur durch unseren eigenen wirklichen
Nachvollzug-im-Leben der Hegelschen Logik selbst in all ihren einzelnen klei­
nen Schritten zu erbringen wäre.
Sehr schön wird das syzygisch gespannte Verhältnis von Psychologie und
Philosophie, Anima und Animus und Jungs eigene Schwierigkeit damit noch
einmal eihellt durch eine Textstelle aus »Der Gegensatz Freud und Jung«
(1929). Jung versucht darzulegen, was ihn von Freud »am strengsten sondert«.
Und da heißt es:

Sehr zu Unrecht wohl hat sich Freud der Philosophie verweigert. Nie kritisierte er
seine Voraussetzung, nicht einmal seine persönlichen psychischen Prämissen. Im
Lichte meiner bisherigen Ausführungen läßt sich dies leicht als Notwendigkeit ver­
stehen, denn die Kritik seiner eigenen Grundlagen hätte ihn wohl der Möglichkeit
beraubt, seine eigentümliche Psychologie naiv [Anm. Jungs: Freud, Die Traumdeu­
tung] darzustellen. A uf alle Fälle hätte er die Schwierigkeiten zu kosten bekommen,
die ich verspüre. Ich habe den süßbitteren Trank der kritischen Philosophie nie ver­
schmäht, sondern wenigstens in refracta dosi vorsichtig zu m ir genommen. Viel zu
wenig - werden meine Gegner sagen. Fast zu viel - sagt mein eigenes Gefühl.
Leicht, allzuleicht vergiftet die Selbstkritik das köstliche Gut der Naivität, jene Gabe,
die jedem schöpferischen Menschen so unerläßlich ist.26

Hier finden wir beides: erstens das rückhaltlose Bekenntnis zur Einsicht
in die Unabdingbarkeit der »kritischen Philosophie«, und dies nicht aus irgend­
welchen äußerlichen intellektuellen Bedürfnissen, zum Zweck einer nachge­
schobenen erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen Legitimation der Psy­
chologie, sondern aus einer innerpsychologischen Notwendigkeit heraus: weil
Psychologie nicht naiv, nicht logisch arglos betrieben werden darf, wenn sie
nicht ihre Aufgabe, ein über die engen Grenzen der rein persönlichen Psycholo­
gie des jeweiligen Psychologen hinausgehendes Bild der ganzen seelischen
Wirklichkeit zu geben und die Neurose wirklich zu heilen, schon vom Ansatz
her verfehlen soll (wie Jung ebenda zu verstehen gibt). Verharrt sie in der Un­
schuld, dann sitzt sie dem »subjektiven Bekenntnischarakter« (»persönliche
Gleichung«, psychologischer Zirkel) auf - d.h. in unserem Zusammenhang: sie
erliegt blind einer Animaverführung.
Zweitens finden wir aber auch die Halbherzigkeit dieses Bekenntnisses,
indem Jung ihm mit seinem anderen Bekenntnis zu eben dem »köstlichen Gut
der Naivität«, das er bei Freud gerade kritisiert hatte, wieder den Wind aus den
Segeln nimmt. Jungs ganzes Gefühl neigt der romantischen, der Anima-Seite zu,
was auch schon die romantische Sprache bei der Charakterisierung der kriti­
schen Philosophie als »süßbitterer Trank«, der dazu noch als potentiell »vergif­
tend« erscheint, verrät. Nicht nur Jungs Gegner, gerade seine Freunde, die
Freunde wahrer Psychologie und der Anima, werden sagen: »viel zu wenig« hat
Jung diesen »Trank« genossen; er selber wird von seiner Kritik an Freud getrof­
fen, freilich in ganz anderem Sinn als dieser. Denn die Naivität beider ist entge­
gengesetzt. Bei Freud ist es die Naivität und Arglosigkeit der rationalistischen
Aufklärung (die »Animaverfallenheit der Animusstufe«), mit der er die psycho­
logische Phänomenologie apperzipiert und dergegenüber Jungs Darstellung des
Seelenlebens ein höheres Maß an kritischer Reflektiertheit aufweist; bei Jung
dagegen ist es die Naivität der Animasphäre.
Jung war sich des subjektiven Bekenntnischarakters jeder psychologi­
schen Aussage wohl bewußt, er verschmähte jenen »süßbitteren Trank der kriti­
schen Philosophie« nicht, aber indem er ihn als giftig beschreibt und sagt, daß er
ihn nur in refracta dosi zu sich nahm, zeigt er, daß er noch immer auf der einen
Seite, auf dem Animastandpunkt steht, von dem aus er die philosophische Kritik
auf der anderen Seite sich gegenüber hat. So muß er in ihr eine von außen kom­
mende Gefahr sehen, auf die er sich nur »vorsichtig« einlassen darf. Er hat der
Kritik nur wie einem mächtigen Fremdherrscher den unausweichlichen Tribut
entrichtet, um sich dadurch, wenigstens innerhalb des von diesem belassenen
Freiraums, noch einen Rest von ungestört-naivem Zugang zur Urerfahrung zu
erkaufen. Der Trank der Kritik durfte nicht wirklich in seine Animawelt eindrin-
gen. Er durfte seine Grundstellung nicht verrücken. Im Gegenteil: er sollte das
Arglosbleiben der Anima (freilich innerhalb bestimmter kritischer Grenzen) le­
gitimieren.
Inhaltlich und intuitiv sieht Jung die Notwendigkeit des Zusammen von
Kritik und Naivität ein, aber logisch vermag er das Verhältnis beider nur als Ge­
trenntsein zu denken. Wenn Jung sich der philosophischen Kritik öffnete, tat er
dies mit der (für die Anima unerreichbaren) »Persönlichkeit Nr. 1«, wandte er
sich dagegen der Phänomenologie der seelischen Wirklichkeit oder der Urerfah­
rung zu, so kam die (von der Kritik unberührte) »Persönlichkeit Nr. 2« zum Zu­
ge, beides sauber getrennt, sozusagen »er hüben und sie drüben« (Mörike). Ja,
logisch diente ihm die (bei ihm wesentlich an Kant orientierte) philosophische
Kritik gerade dazu, die grundsätzliche Scheidung von kritischer Reflexion und
Naivität der psychologischen Erfahrung, von noumenon und phainomenon, zu
rechtfertigen und festzuschreiben.
Zeigt der Satz »allzuleicht vergiftet die Selbstkritik das köstliche Gut der
Naivität, jene Gabe, die jedem schöpferischen Menschen so unerläßlich ist«
nicht dieselbe falsche Ängstlichkeit in bezug auf das Verhältnis philosophische
Kritik - Erfahrung des Bilderreichs der Seele, die in bezug auf das Verhältnis
Psychoanalyse - Künstlertum Hermann Hesse an den Tag gelegt hat, wenn er in
einem Brief an Jung vom Sept. 193427 schreibt: »Eben darum ist ja die
Ps.analyse für Künstler so sehr schwierig und gefährlich, weil sie dem, der es
ernst nimmt, leicht das ganze Künstlertum zeitlebens verbieten kann«? Dieser
letzteren Auffassung hat Jung mit Recht immer das Recht abgesprochen. Die
Ängstlichkeit beruht eben auf jener Logik, die Anima und Animus abstrakt-ein­
seitig als Gegensätze trennt, sie aber nicht dialektisch als Syzygie ansetzt. Ihr
liegt eine entscheidende Verwechslung zugrunde: die der Tötung einer
unschuldig-naiven Bewußtseinsstufe, innerhalb von der das Schöpferische auf-
tritt, mit der Tötung des Schöpferischen in einem Menschen schlechthin. Die
schöpferische Kraft vor Gefährdung zu bewahren, ist ein legitimes Anliegen.
Aber was in jenen Äußerungen Hesses und Jungs jungfräulich rein gehalten
werden soll, ist nicht diese Kraft selbst, sondern die Bewußtseinsstufe, auf der
sie sich, der eine als Künstler, der andere als Psychologe, aufhalten. Und die
Verwechslung hat vermutlich den tieferen Zweck, vor dem Tod der Bewußt­
seinsstufe eine schlechterdings unüberwindliche Schranke aufzubauen und sie
damit endgültig abzusichem, während ohne diese Ineinssetzung das Bewußtsein
ganz selbstverständlich an seinen Widersprüchen zugrundegehen und auf neuer
Stufe wiederauferstehen könnte, weil zu sterben und wiederaufzuerstehen zur
Natur des Bewußtseins gehört. Auf der hier festgehaltenen Stufe hat das schöp­
ferische Bewußtsein das Anliegen der kritischen Analyse nur außer sich, sich
gegenüber. Was ist das aber für eine armselige Auffassung von Künstlertum,
schöpferischem Sein, Psychologie, die sie durch kritische Differenziertheit ge­
fährdet meint? Denken wir demgegenüber an das schon zitierte Wort von Hegel
zurück:
Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein
bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.
Wie die Jungfrau in der geschlechtlichen Begegnung mit dem Manne ei­
nen Tod erleidet, aber an diesem Tod nicht buchstäblich stirbt (nicht sie als die­
ses Individuum, sondern nur sie als das jungfräuliche Bewußtsein dieses Indivi­
duums), wie sie sich vielmehr darin erhält und als etwas ganz Neues, als Weib,
aufersteht, so fanden die Anima in ihrer Tötung durch den Animus und die Psy­
chologie in ihrer Vergiftung durch den Trank der philosophischen Kritik nicht
das absolute Ende ihres schöpferischen Seins, sondern durch eben diesen Tod,
und nur durch ihn, wahrhaft sich selbst, nämlich sich selbst auf einer neuen,
nicht mehr naiven Bewußtseinsstufe.
Vom Standpunkt der Syzygie aus begriffen stünden sich Schöpferkraft
und kritische Philosophie nicht abgespalten gegenüber; sie wären von Hause aus
miteinander verquickt oder verschränkt. Die Gabe des schöpferischen Menschen
wäre gerade die, das schon in sich selbst kritische, logisch über sich aufgeklärte
(also seine »Vergiftung«, ja seinen Tod längst in sich tragende) Bild naiv zu ge­
stalten: ein ungemilderter (aber dialektisch oder, was dasselbe ist, syzygisch zu­
sammengehaltener) Widerspruch (der sich dem Animus innerhalb der Syzygie
verdankt) anstelle des Versuchs der äußerlichen Vermittlung des Gegensatzes
von Naivität und Kritik durch solch ein hilfloses Denken, wie es zum Ausdruck
kommt in dem paradoxen Oxymoron »süßbitter« oder in dem quantitativen Ge­
danken der gerade noch verträglichen Dosierung (»viel zu wenig« - »fast zu
viel«). Gerade noch verträglich: die Anima in ihrer Unschuld soll also noch da­
vonkommen, der wirkliche Tod des sauber trennenden Bewußtseins (und damit
die wirkliche coniunctio oder Syzygie!) soll abgewehrt werden.
Die logische Form als Kriterium der W irklichkeit Warum kann eine
reine Psychologie unter der alleinigen Ägide der Anima, warum kann die Un­
schuld des Imaginalen die Welt nicht erreichen? Weil die Welt seit den Tagen
Homers wirklich eine andere geworden ist und diese Andersheit sich dem Ani­
mus, dem Logos verdankt. Eine Welt des Tauschhandels ist eine logisch sehr
viel einfachere als eine Welt des Papiergeldes und des bargeldlosen Girover­
kehrs. Man kann nicht erwarten, daß jener Mythos, welcher die Wirklichkeit ei­
ner bäuerlichen Welt in den (nicht formallogischen, sondern Hegelschen) Be­
griff bzw. das ihm entsprechende Bild gefaßt ist, umstandslos auf die Zeit der
modernen Großstädte und der Massengesellschaft übertragen werden kann. Eine
Zeit, in der man sich zu Fuß oder zu Pferd fortbewegte, erzeugt logisch (nicht
unbedingt inhaltlich) andere, anders konstituierte Bilder und Gestalten als eine
Zeit, in der sich der Mensch logisch von der Erde in den Luftraum und sogar in
den Weltraum abgestoßen hat, ganz so wie das Leben, das in allen seinen For­
men unteilbar eines ist, sich auf der Stufe der Säugetiere in einer komplexeren
Logik abspielt als auf der Stufe der Einzeller.
Homer hatte keine Wissenschaften neben sich. Er lebte nicht in der Spal­
tung von erlebter, gefühlter, geglaubter Lebenswelt und wirklichem Wissen. Für
ihn gilt noch, was Jung über den »naiven Primitiven« sagte: er »glaubt nicht, er
weiß...« »Er lebt in einer Welt, wir aber nur in der einen Hälfte und glauben
bloß, oder auch nicht, an die andere.«28 Die Wissenschaften sind das Zeichen
darauf, daß wir und unsere Welt die logische Unschuld verloren haben und
wirklich in einem anderen Status stehen. So, wie sich der Mensch physisch
durch die Erfindung von Flugzeug und Raumschiff von der Erde abgestoßen hat,
so hat er sich auch psychisch durch die Aufklärung und die Wissenschaften von
der ungestörten mythischen Imagination abgestoßen. Abgestoßen besagt nicht:
total hinter sich gelassen, sondern aufgehoben im Sinn von überwunden, als
Überwundenes mitgeführt und dadurch auf ein anderes logisches Niveau geho­
ben. Ich sprach oben von der Syzygie als der Einheit von Einheit und Gegen­
sätzlichkeit der Gegensätze und von der Gegenwart der Vergangenheit des Ver­
gangenen. Was damit gesagt ist, und mit welchem Recht diese Formeln hinge­
stellt werden, das zu verstehen würde wie gesagt den Gang durch die ganze Lo­
gik erfordern. Aber es mag für uns hier genügen zu sehen, daß damit eine innere
logische Komplexität und Gestufiheit ausgedrückt ist. Es geht weder um eine
einfache Einheit noch um eine einfache Gegensätzlichkeit, sondern um die Ein­
heit von Einheit und Gegensätzlichkeit der Gegensätze, eine Wendung in der
beide Begriffe je verdoppelt auftreten. Und es geht weder um eine platte Gegen­
wart, noch um eine immer noch einfache Gegenwart der Vergangenheit oder des
Vergangenen. Sondern es geht um eine Gegenwart der Vergangenheit des Ver­
gangenen, welche der erfüllte Augenblick (kairös) oder die Wirklichkeit ist.
Ob etwas auf der Höhe der Zeit ist und wirklich die Gegenwart als die be­
griffene Vergangenheit des Vergangenen ausdriickt, ist nun freilich ein Problem,
das, wie Jung in der oben zitierten Briefstelle über Hegel sagte, »... nicht an den
Inhalten, die innerhalb der Kulturgeschichte sozusagen immer dieselben geblie­
ben sind [also auf der Seite des Imaginalen und der Anima], sondern an der
Form abzuhandeln wäre«. Diese Form ist logische Form, die logische Form, in
der dem Menschen Welt gegeben ist. An der logischen Form zeigt sich der je­
weilige logische Bewußtseinsstatus, innerhalb von dem Weltbegegnung und
Weltumgang stattfinden.
Ahnen können wir etwas von dem, was mit der Komplexität der logischen
Form gemeint ist, wenn wir als Negativbeispiel die Problematik der Katho­
lischen Kirche betrachten und uns zum Zweck einer entfernten positiven Analo­
gie der modernen Kunst und Dichtung zuwenden.
Die Katholische Kirche beansprucht katholisch, kath’ hölou (allgemein,
universal), zu sein und in einer ungebrochenen, direkt auf Petrus und Jesus zu­
rückgehenden Tradition zu stehen. Aber das ist eine gelebte »Lüge«. Die Katho­
lische Kirche lebt aus einer gebrochenen Tradition. Das Große Schisma ist die
(reelle, nicht argumentative) Widerlegung der Katholizität. Der Bruch ist nicht
einfach nur damals durch die Reformation erfolgt, sondern in der protestanti-
sehen Kirche, die überdies ihrerseits nur als ein Plural von Kirchen und Sekten
existiert, hat die Katholische Kirche die Widerlegung ihres Katho-
lizitätsanspruchs fortwährend sichtbar vor Augen. Das »Leben Christi im corpus
mysticum oder das christliche Leben hüben und drüben ist mit sich selber ent­
zweit, und keiner, der es ehrlich meint, kann diesen Zwiespalt leugnen. Wir sind
daher ganz in der Lage eines Neurotischen, der sich der peinlichen Einsicht be­
quemen muß, daß er in einem Konflikt steht.« Der moderne Mensch kann ver­
stehen, »daß das konfessionelle Drängen ihn zu einer Einseitigkeit wider besse­
res Wissen, d.h. also zu einer Sünde wider den Heiligen Geist veranlassen
möchte.«29
Die katholische Kirche stammt daher auch nicht direkt aus der auf Jesus
und Petrus zuriiekgehenden Tradition. Sie stammt vielmehr aus der Gegenrefor­
mation und bezeugte spätestens 1870 mit dem Unfehlbarkeitsdogma des 1. Vati­
kanischen Konzils ihre logische Obsoletheit. »Der sich selbst nicht wahrhaben
wollende Unglaube an die Überzeugungskraft der Dogmen ist es, der sich im
Unfehlbarkeitsdogma ausspricht...«30
Entscheidend ist zu sehen, daß es hier nicht um die Behauptung geht, die
Katholische Kirche verkünde eine falsche Lehre, sie habe eine unhaltbare Inter­
pretation des Christentums und andere Kirchen, Religionen oder Glauben seien
wahrer, richtiger, besser. Ich lasse die gelehrten und geglaubten religiösen Ge­
halte und Vorstellungen vielmehr ganz aus dem Spiel und zeige nur eine ganz
anders als inhaltlich zu begründende Unwahrheit auf, wobei mir die Katholische
Kirche auch nur als besonders offensichtliches und zugleich als das vornehmste
und gediegenste Beispiel für eine solche Unwahrheit in unserer Zeit dient. Ließe
ich mich auf den interkonfessionellen Meinungsstreit oder allgemeiner auf Reli­
gionskritik ein, dann bliebe ich auf der Ebene der konkurrierenden Lehren, des
Substantiellen, und damit auf der Ebene der »subjektiven« Logik, d.h. hier (an­
ders als bei Hegel): der Logik der subjektiven Vorstellungen des Bewußtseins.
Worum es mir dagegen einzig geht, ist die Feststellung, daß die Katholische Kir­
che an ihr selbst ihre Überholtheit und ihr Widerlegtsein offen zur Schau trägt,
weil die objektive logische Form ihrer Wahrheiten, als fundamentalistischer, al­
so defensiv-reaktionärer (d.h. gegen das ganze wirkliche Leben des modernen
Abendlandes künstlich und wider besseres Wissen konservierter) Wahrheiten,
ihr logisches Abgeschnittensein von der lebendigen Wahrheit offenbar macht.
Die Dogmen mögen zum großen Teil als archetypische Inhalte »ewige Wahrhei­
ten« sein. Nur weil sie in die »mittelalterliche« Form der Wahrheit eingefroren
29 C.G. Jung, GW 16 § 392. - Es ist bezeichnend, wenn auch für unseren Zusammenhang hier uner­
heblich, daß Jung den Zwiespalt nicht nur auf die menschliche Seite (die Kirchen als menschliche
Institutionen) verlegt, sondern als Entzweiung des Lebens Christi selber erkennt. Es ist ein Riß
schon auf der archetypischen Ebene.
30 Christoph Türcke, »Die pervertierte Utopie. Warum der Fundamentalismus im Vormarsch ist«,
in: Die Zeit Nr. 16,10. April 1992, S. 67 u. 69, hier S. 67.
sind, sind sie logisch unwahr geworden, so unwahr, wie die Kostümierung der
Pfarrer, Bischöfe, Päpste oder der Schweizer Garde in unserer Zeit es ist. Was
ist von diesem einfachen, sich ungerührt den Wandlungen der Z e it entgegen­
stemmenden Bewahren zu halten? Wir lassen es uns von Jung sagen: »Der Frie­
de der Kirche ist eines und hinter der Zeit zurückzubleiben ein anderes.«31 Auch
»ewige Wahrheiten« haben ihre Zeit!
In vielen künstlerisch bedeutenden Kirchen findet der Tourist heute häu­
fig eine Tafel, auf der er gemahnt wird, der Tatsache in Kleidung und Verhalten
Rechnung zu tragen, daß dies ein Gotteshaus sei. Auch mit dieser Mahnung wird
eine »Lüge« ausgesprochen. Das Gebäude war einmal ein Haus Gottes. Heute
jedoch hat es, so traurig dies sein mag, aufgehört, ein Haus des Herrn zu sein.
Jetzt ist es ein Kunstwerk, eine Sehenswürdigkeit, ein historisches Monument.
Mag es auch formaljuristisch einer Kirche gehören, so gehört es doch längst in
Wahrheit dem Bildungsbürgertum und dem Massentourismus. Gott und Seele
sind längst aus dem Gebäude ausgewandert und haben das, was im Mittelalter
von ihnen erfüllt war, als bloße Antiquitäten und Museumsstücke entleert zu­
rückgelassen. Nur weil das Kirchengebäude heute kein Gotteshaus mehr ist,
muß es die den Touristen ermahnenden Schilder überhaupt geben. Wirkliche
Wahrheiten brauchen keine Beteuerung. »Sie sagen nur >Gotteshaus, Gottes­
haus^ und ist doch kein Gotteshaus« (frei nach Jes. 4:14 und öfter).
Das ist ein krasses Beispiel für das Problem, vor das sich ähnlich auch die
Psychologie gestellt sieht. Auch sie behält den logischen Bewußtseinsstatus des
»Mittelalters« mitten in der Welt der Moderne bei. Aber, wie Jung schon wußte:
»Wir können nicht mehr auf antike oder mittelalterliche Weise denken.« Es ge­
nügt nicht, sich auf die zuzugestehende archetypische und so »zeitlose« Wahr­
heit der Gehalte der Bilder zu berufen, als ob damit ihre wirkliche Wahrheit
auch für unsere Zeit garantiert wäre. Das Hauptproblem ist die Frage nach der
Wahrheit der logischen Form unserer Wahrheiten, von all dem, was wir als
wahr glauben und wonach wir unser Leben ausrichten. Die Symbole formulieren
unsere Wahrheit nicht mehr, sie drücken nicht mehr die Wahrheit unserer Zeit
aus, sondern wirken als Bilder, die man bestenfalls nur »erleben«, anstaunen
kann: »die Wirkung (bleibt) daher in der Gefühlssphäre stecken, meist aber er­
reicht sie nicht einmal diese.«32 »Welchen Erfolg aber hätte die Predigt Pauli ge­
habt, wenn er sich der Sprache und des Mythus des minoischen Zeitalters be­
dient hätte, um darin das Evangelium den Athenern zu verkünden? So wird lei­
der gänzlich von der Tatsache abgesehen, daß an den heutigen Menschen viel
größere Zumutungen gestellt werden als an den des apostolischen Zeitalters
[oder gar, so dürfen wir hinzufügen, als an die Menschen z.B. der Zeit Homers]:
für letzteren bedeutete es keinerlei Beschwernis, an die jungfräuliche Geburt des

31 C.G. Jung, Briefe Bd. II, S. 474 (an Victor White, 2. IV. 55).
32 C.G. Jung, GW 9/II § 275.
Heroen und Halbgottes zu glauben... >Hermes ter unus< [Hermes dreimal einer]
war keine intellektuelle Absurdität, sondern eine philosophische Wahrheit. Auf
diesen Grundlagen konnte das Trinitätsdogma überzeugend aufgebaut werden.
Für den modernen Menschen bedeutet dieses aber entweder ein unzugängliches
Mysterium oder eine historische Kuriosität...«33 Die viel größere Zumutung, die
an uns heute gestellt ist, besteht darin, daß wir uns auch intellektuell, mit unse­
rem nicht mehr naiven Bewußtsein, den Symbolen gewachsen zeigen, sie be­
greifen oder ihnen eine Form unseres Bewußtseins anbieten müssen, in der sie
wieder für das kritisch gewordene Bewußtsein »objektiv« überzeugend sein
können.
Damit komme ich zur modernen Kunst und Dichtung als positivem Bei­
spiel für ein Bewußtsein von der entscheidenden Wichtigkeit der logischen
Form. Ich nenne etwa (als untereinander völlig unterschiedliche Künstler) Picas­
so, Kafka, Hölderlin, James Joyce. Was für ein Unterschied, nicht einfach nur
des imaginalen Inhalts, sondern in erster Linie des logischen Status ihrer Werke,
zu denen eines Homer. Die logische Komplexität zeigt sich darin, daß man die
genannten Dichter nicht umstandslos, mir nichts, dir nichts, aufnehmen kann.
Dann verstünde man gar nichts. Homer ist sofort zugänglich, und er dürfte es
auch für seine Zeitgenossen gewesen sein. Die logische Kategorie der Aufhe­
bung macht sich in der modernen Literatur darin geltend, daß man auch ein pri­
märes Verstehen eines James Joyce oder Kafka nie beim ersten Lesen gewinnt,
sondern immer und notwendig erst bei einem »zweiten« Lesen, das sich von der
vollzogenen, aufgehobenen, aber mitgeführten ersten Lektüre abstoßen kann.
Wenn man Joyce einfach nur liest, liest man ihn gar nicht. Die wirkliche Lektüre
ereignet sich nicht als umstandslose Lektüre, sondern nur als Kommentierung,
als ständiges Vor- und Rückwärtsverweisen und Verweisen auf die ganze abend­
ländische Kulturgeschichte, die als aufgehobene präsent sein muß. Dieses Lesen
und diese Texte sind nicht gemütlich, erbaulich. Sie verlangen mühselige Arbeit.
Dies ist das Zeichen darauf, daß sich die moderne große Kunst auf ihre Weise in
der Syzygie hält. Sie fabuliert heute nicht einfach drauflos. Täte sie es, wäre sie
bloße Sonntagsmalerei oder Unterhaltungsliteratur, die immer unter dem er­
reichten logischen Niveau bleibt. Sie überläßt sich nicht arglos der Imagination,
erzählt nicht nur Geschichten, malt nicht nur große symbolträchtige Bilder. Das
tut sie auch, aber sie tut es so, daß sie die Geschichten immer schon logisch auf­
gehoben hat.
Was heißt es, wenn in der Kunst dieses Jahrhunderts eine Verschiebung
von einem an der Wahrnehmung zu einem am Begriff orientierten Zugang zur
Wirklichkeit vorgenommen wurde? Braque und Picasso »shifted from a percep-
tual to a conceptual approach to reality« im Jahr 1911.34 Nach Juan Gris haben
33 C.G. Jung, GW 9/II § 274. Meine Hervorhebungen.
34 Douglas Cooper und Gary Tinterow, The Essential Cubism, London (The Tate Gallery) 1983,
S. 11.
die Kubisten die Gegenstände dargestellt »as the mind conceives them to be and
not as they actually appear to the eye«.35 »Space was thus >materialized< instead
of being invoked by an illusion.«36 Was bedeutet »the violence inherent in Pi-
casso’s early cubism«?37 All dies bedeutet den Abschied vom natürlichen, an
Wahrnehmung und Vorstellung orientierten Bewußtsein und den Versuch, nicht
mehr die natürliche Welt darzustellen, sondern die aufgehobene natürliche Welt,
die Logik selbst der Welt, die gedanklich erfaßte Welt. Gemalt wurden gewis­
sermaßen die platonischen Ideen selber, die Allgemeinbegriffe, und nicht die
sinnliche Wirklichkeit, von der und für die die Ideen die Ideen sind.
Dem Übergang der Kunst innerhalb ihrer selbst von dem von der Wahr­
nehmung geleiteten zu einem begrifflichen Zugang zur Wirklichkeit entspricht
auch eine geschichtliche Wandlung der Symbolik des Gottessohnes von seiner
z.B. theriomorphen zur begrifflichen Form. Jung hat gezeigt, daß die frühchrist­
liche und die »alchemistische Fischsymbolik in direkter Linie zum lapis philoso-
phorum, dem salvator, servator und deus terrenus, das heißt psychologisch, zum
Selbst« führt. »Damit entsteht ein neues Symbol an Stelle des Fisches, nämlich
ein psychologischer Begriff von der menschlichen Ganzheit. Ebensoviel und
ebensowenig als der Fisch Christus ist, bedeutet das Selbst Gottheit... Es i s t ...
eine weitere Verwirklichung des Gottessohnes, [aber] nicht mehr in theriomor-
pher, sondern in begrifflicher (>philosophischer<) Symbolik. Damit ist, gegen­
über dem stummen und unbewußten Fisch, deutlich eine Bewußtwerdung ausge­
drückt.«38*Nicht so sehr der Inhalt, sondern die logische Form hat sich geändert.
Das Symbol hat sich fortbestimmt und in der Fortbestimmung auf eine andere
Ebene gehoben.
Mit dem Hinweis auf die Kirnst sollte kein unmittelbares Vorbild für die
Psychologie aufgestellt werden. Die Psychologie muß ihre eigene Form finden,
und überdies fragt es sich auch, ob die große Kirnst dieses Jahrhunderts nicht
vielleicht mehr nur dank der ruchlosen persönlichen Genialität ihrer Schöpfer
zur Form gefunden hat als kraft dessen, daß diese das unserer Zeit wirklich ge­
mäße logische Niveau erreicht hätten. Doch wie dem auch sei, im Vergleich mit
der Kunst zeichnet sich der Diskurs der Psychologie durch eine Animusverges­
senheit aus. Freud, Jung und die vielen, die nach ihnen kommen - ich selbst ein­
geschlossen - , schreiben direkt. Der Inhalt, das Gemeinte, wird unmittelbar aus­
gedrückt und ist unmittelbar zugänglich. Die logische Form wird sich selbst
überlassen, und das Gesagte erreicht daher den Rang des Logischen nicht. Das
Ringen um die Form geht nicht in die psychologische Arbeit ein, geschweige
denn, daß es als zentral für die Psychologie erkannt würde. Das Ringen gilt nur

35 Cooper und Tinterow, S. 12.


36 Cooper und Tinterow, S. 72.
37 Cooper und Tinterow, S. 246.
38 C.G. Jung, GW 9/II § 286 (die ersten beiden Hervorhebungen stammen von mir, die letzte von
Jung).
dem Inhaltlichen. Die beiden Genres, in der die Psychologie sich ausdrückt,
werden unbesehen aus der Tradition, gleichsam von der Straße weg, aufgelesen.
Es sind dies die wissenschaftliche Rede und das Feuilleton (oder das erbauliche
Traktat, die Predigt, das Exempel). Beide sind logisch naiv, so naiv wie die Lite­
ratur der Unterhaltungsromane, die nur Geschichten erzählen wollen. Die Rede
soll ankommen, entweder beim Verstand oder beim Gefühl. Die geradeheraus
hingestellte Theorie oder die nackte Imagination, das einfach so gegebene aus­
drucksstarke Bild soll unmittelbar auf die Seele des Hörers oder Lesers Eindruck
machen. Und das vielleicht erreichte unmittelbare Berührtsein wird dann mit
wirklicher Wandlung verwechselt. Wir wissen aber schon: »Bestenfalls bleibt
die Wirkung daher in der Gefühlssphäre stecken, meist aber erreicht sie nicht
einmal diese.«39 Die Psychologie bleibt so logisch arglos und völlig imverbind­
lich, bloße wissenschaftliche Nachricht oder Weltanschauung oder Schriftstelle­
rei. Sie erreicht nicht die Freiheit der logischen Sprachebene, die absolute Form
Hegels, mit der allein sie aufhören würde, psychologischer Dilettantismus zu
sein. Auch bei größter rein psychologischer Kompetenz wird der psychologische
Amateurstatus hier nie verlassen, weil die Rede sich im Raum der abgehoben
unverbindlichen Bilder aufhält.
Es wäre aufschlußreich, von hier aus Jungs Äußerungen über Picasso
(gleichnamiger Aufsatz in GW 15), Joyce (»>Ulysses<. Ein Monolog«, ebd.) und
über die Sprache von Hegel und Heidegger zu lesen. Die Zerrissenheit, die Jung
bei Joyce und Picasso konstatiert, und die »unmögliche Sprache«40, die er Hegel
und Heidegger ankreidet, sind ja das Zeichen darauf, daß jene Autoren die logi­
sche Unschuld verloren haben und zum Status der Form fortgeschritten sind.
Was für ein Verkennen des Problems, um das es dabei geht, wenn Jung abwer­
tend über Hegel von der »sonderbaren, überspitzten Sprache«, von der »schizo­
phrenen >Machtsprache<« spricht und die »geschraubte Sprache« als ein »Sym­
ptom der Schwäche, des Unvermögens und des Mangels an Substanz« bezeich­
net und als Gegenvorstellung sagt: »Ein Fr. Th. Vischer kannte noch eine lie­
benswürdigere Verwendung der deutschen Kauzigkeit.« Als ob es um Kauzig-
keit und subjektive oder nationale Eigenwilligkeiten und nicht vielmehr um die
Notwendigkeiten der Philosophie selbst ginge, ihre ureigenste Sache angemes­
sen auszudrücken, was eben nicht mehr, wie einst vielleicht einmal (wirklich?),
in einer der Alltagssprache angenäherten und unmittelbar zugänglichen Sprache
gelingen kann. Es dürfte in diesem Zusammenhang nicht uninteressant sein, daß
der Germanist Emil Staiger, sicher ein Philo-loge im besten Sinne des Wortes,
ein Kenner und Liebhaber der Sprache, Heideggers gewiß »sonderbare« Sprache
in »Sein und Zeit« als legitime Sprache der Philosophie bezeichnete und in die-

39 So sagt Jung (GW 9/II § 275) von der heutigen christlichen Kerygmatik, aber seine Worte gelten
genauso Air den unmittelbaren Gebrauch, der von Bildern und Symbolen in der Psychologie ge­
macht wird.
40 C.G. Jung, Briefe III, S. 246.
sem Zusammenhang auch für Hegels Sprache einsteht. »Wir bewundern diese
Sprache,..., gerade als wissenschaftliche Sprache... Wir nennen sie ursprünglich,
wie in der deutschen Philosophie nur noch Hegels Sprache ursprünglich ist, wie
heute überhaupt kein Mensch deutscher Zunge, sämtliche Dichter inbegriffen,
ursprünglich spricht... Und in solcher ursprünglichen Meisterlichkeit ist diese
Sprache nüchtern, wie alles Echte, das Philosophisch-Echte wie das Dichterisch-
Echte immer nüchtern ist.«41 Und auch über 30 Jahre später sprach Staiger von
»dieser vielgeschmähten Sprache, die mir auch heute noch als eine der größten
Leistungen auf dem Gebiet der philosophischen Prosa erscheint.«42
Was eigentlich war nun der Grund, warum Jung Hegel mit solcher affekti­
ven Heftigkeit herabsetzen mußte, anstatt einen Bruder im Geiste in ihm zu er­
kennen, wenn er doch andererseits in ihm den (uneigentlichen) Psychologen
sah? Warum mußte Jung Hegel die denkerische Form absprechen? Hier geht es
in der Tat um ein Problem Jungs mit dem Problem der Form. Ich vermute, daß
Jung die Psychologie auf der Ebene der logischen Form der Anima-Stufe nieder-
halten wollte, auf der Ebene der Bilder, Vorstellungen, Personifikationen, kurz
der Imagination. Vergröbert gesagt: Psychologie - das sollten die Träume,
Phantasien, aktiven Imaginationen, visionären Erlebnisse und deren einfache
Aufnahme ins Bewußtsein sein. Jung ließ also die Psychologie ausschließlich
durch ihre Inhalte definiert sein, nicht durch die logische Form der Psychologie.
Gewiß, die zu seiner Zeit herrschende naive Definition durch Inhalte hatte Jung
weit hinter sich gelassen, diejenige, die die Psychologie subjektivistisch als die
Wissenschaft von den persönlichen Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen, Wün­
schen im Inneren des Menschen im Gegensatz zur objektiven Realität definiert.
Jung bestimmte die Psychologie innerhalb eines zu dem genannten querstehen­
den Gegensatzes von »Wissenschaft« über Bild und Sinn/Bedeutung (Psycholo­
gie) und Wissenschaft über sinnlose Fakten, Vorgänge, Mechanismen (Natur­
wissenschaft). Doch auch wenn damit eigentlich schon ein logischer Gegensatz
angedeutet ist und Jung auch immer wieder, wie man fairerweise sagen muß, ge­
legentliche Aussagen macht, die zeigen, daß er den Unterschied durchaus schon
als einen solchen der logischen Form oder der Form der Reflexion sehen konnte
- wir sind schon öfter darauf aufmerksam geworden und werden noch weitere
Belege kennenlemen - , so gab er in der Regel doch dem Gegensatz eine ontolo­
gische, inhaltliche Fassung, etwa wenn er von der Bilderwelt als der psychi­
schen Realität sprach, die die gleiche Würde wie die physische Realität habe.
Innerhalb des ontologischen Ansatzes läßt sich eine wirkliche Psycholo­
gie nicht plausibel machen. Sie ist in Wahrheit definiert durch eine andere logi-

41 Emil Staiger, »Noch einmal Heidegger«, Neue Zürcher Zeitung vom 23. Jan. 1936. Jetzt in: Ant­
wort. Martin Heidegger im Gespräch, hg. G. Neske, E. Kettering, Pfullingen (Neske) 1988, S.
270.
42 Emil Staiger, »Ein Rückblick«, in: Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Köln-
Berlin 1969, S. 242.
sehe Form oder durch einen anderen, sich dem wahrgemachten Animus (also der
Syzygie) verdankenden Bewußtseinsstatus.
Indem Jung Hegels Denken die denkerische Form absprach und ihm zu­
gleich eine Inflation seines Denkens durch psychologische Gehalte vorwarf, ge­
lang es ihm, schon den Begriff des Denkens grundsätzlich unter dem Niveau der
Hegelschen dialektischen Logik und auf dem vergleichsweise harmlosen Niveau
des formallogischen (oder auch des Kantischen) Denkens zu fixieren (einzufrie­
ren), womit dann gleichzeitig auch das Denken der Jungschen Psychologie (wie
alles Denken überhaupt) der Aufgabe enthoben wurde, innerhalb der Psycholo­
gie über diese Stufe des Psychologischen zu einer neuen Form hinausschreiten
zu müssen, weil alles Denken, das über das formallogische Denken hinausging,
dann als bloß »romantisch«, »inflationiert« und als »undenkerische Form« abge­
tan werden konnte. Die Norm war von vornherein auf niedriger Stufe festge­
schrieben, und was darüber hinausging, durfte dann als Verirrung gelten, der
man nicht folgen durfte. Die Psychologie konnte sich so im Recht glauben,
wenn sie davon ausging, auf der Anima-Stufe der Anschauung und der »Erfah­
rung« (des Erlebens) einfach verharren zu dürfen und nicht selber über sich hin­
ausschreiten zu müssen, um für sich und ihre Gehalte die denkerische Form zu
erringen. Dem Imaginalen, das inhaltlich immer schon logisches Leben darstellt,
mußte nicht auch die flüssige, geistige Form der logischen Bewegung gegeben,
es mußte ihm nicht die Kränkung zugefügt werden, auf die Stufe der Erkenntnis,
des Begriffs gebracht zu werden. Wandlung sollte sich nur als Veränderung der
erlebten Inhalte des Bewußtseins innerhalb derselben alten, intakt gehaltenen
Bewußtseinsstufe ereignen, aber nicht die Auflösung und Aufhebung dieser be­
deuten. Es ist also Jungs eigene Furcht vor der denkerischen Form, die es nötig
machte, die Heraufforderung, die Hegels Denken darstellte, mit pathologisie-
renden Diagnosen und der Behauptung, daß Hegel die denkerische Form fehle, a
priori abzuqualifizieren. Jung hielt dagegen Kant und Schopenhauer zeit seines
Lebens hoch, weil er durch ihre denkerische Form sich nicht in seiner denkeri­
schen Form herausgefordert oder gar bedroht fühlen mußte. Worin bestand die
Bedrohung? Darin, daß durch das Problem der Form das Bewußtsein aus der
splendid isolation, in der es seinen Gegenständen (Erlebnissen, Bildern) gegen­
übersteht und auf diese reagiert oder sie »verarbeitet«, selber als Gefäß, als Re­
torte, in den sich innerhalb seiner abspielenden alchemistischen Prozeß der pu-
trefactio, sublimatio usw. rückhaltlos hineingezogen würde.
Gleichzeitig wird mit der Brandmarkung des Hegelschen Unternehmens
als romantisch und der Form nach undenkerisch die Trennung zwischen Psycho­
logie und Philosophie, Anschauung und Denken, Erfahrung und Metaphysik, al­
so die klare Arbeitsteilung zwischen beiden aufrechterhalten, die doch offenbar
ein Ausdruck eben des »Risses, der durch die Metaphysik geht« ist, welcher ge­
rade auch nach Jung überwunden werden soll. Die Philosophie ist dann dazu
verdammt, rein denkerisch im formallogischen Sinn zu sein und sich vor dem
logischen Leben der Seele abzuschirmen, und die Psychologie dazu, sich um das
reine Erleben der Bilder zu kümmern, ohne die denkende Verantwortung für sie
übernehmen zu müssen. Jungs Wort »romantisch« für Hegel ist die pejorative
Benennung für das Erreichthaben der Syzygiestufe.
Jung hat zwar keineswegs eine medizinische Diagnose aussprechen wol­
len, wenn er bei Joyce und Picasso zum Zweck der Typisierung die Analogie,
nicht mehr!, zur Schizophrenie im Unterschied zur Neurose zog. Aber es ist
doch bezeichnend, daß er überhaupt ein Problem der künstlerischen Form auf in­
dividuelle typische Dispositionen und damit auf »Psychologie« glaubte zurück­
führen zu dürfen, was ihn natürlich der Aufgabe enthob, es als ein logisches Pro­
blem, eines des logischen Status, zu erkennen und zu würdigen. Jung fand es
nicht zu mühsam, in jahrelanger Arbeit die abstrus wirkenden Bilder der Alche­
mie zu entziffern - weil er hier auf der Ebene der Gehalte und damit der Anima-
Stufe bleiben konnte und nicht zur Stufe der Syzygie, also der Logik, Vordringen
mußte, wozu ihn die modernen Künstler und die wirklichen Philosophen genö­
tigt hätten. -
Jetzt ist einsichtig, warum die Psychologie die Neurose als die Entfrem­
dung des Menschen von der Welt und der Welt vom Menschen nicht heilen
kann: sie hält sich systematisch unter dem logischen Niveau, das der Weltum­
gang heute wirklich innehat, und geht so notwendig an der Wirklichkeit vorbei.
Sie stellt bestenfalls kompensatorisch Bilder, d.h. Möglichkeiten, neben sie hin.
Nur wenn sich die Psychologie in der Syzygie hielte und das heißt gleichzeitig
mit dem Anliegen der imaginalen Gehalte auch die Aufgabe der logischen Form
dieser Gehalte entsprechend unserem erreichten Status in ihre eigene Verant­
wortung übernähme, anstatt sie dem »Philosophen von Fach« zu überlassen,
könnte sie die Welt in sich haben, und nur wenn sie sie in sich hätte, könnte sie
sie wirklich erreichen. Nur in der Syzygie gibt es Wirklichkeit, weil nur sie ge­
währleistet, daß wir uns logisch auf der wirklichen Höhe der Zeit bewegen, also
auf derjenigen Höhe, auf der der wirkliche Weltumgang sich heute nun einmal
befindet und auf der dann auch wirkliche Welt allein angetroffen werden könnte.
Die Selbstaufhebung der Psychologie. Aber um sich in der Syzygie hal­
ten zu können, müßte die Psychologie sich jener rückhaltlos ausliefem. Sie müß­
te sich von ihr durchherrschen lassen und die splendid isolation der Imagination
und der zeitlosen archetypischen Urerfahrung aufgeben. (Wohlgemerkt: ich
fordere nicht die Abkehr von der archetypischen Urerfahrung, von Träumen, Vi­
sionen und Phantasiebildem, sondern die Abkehr allein von der splendid isola­
tion, in der sie durch unseren bisherigen logischen Status gehalten werden.) Das
heißt aber, die Psychologie müßte den Bmch in der Geschichte, den Bruch von
den homerischen Zeiten eines arglosen Mythos43 zur Verwundung der Anima
43 Es sei hier dahingestellt, ob der Mythos der homerischen Zeit für diese Zeit selbst so arglos war,
wie ich es hier sage. Er ist es jedenfalls von unserer Zeit aus gesehen. Allgemein gilt: Der Gegen­
satz arglos - logisch gebrochen oder Animastufe - Animusstufe darf nicht seinerseits literalisiett
durch den Animus, nicht nur zugeben, sondern bedingungslos durchleiden. Ohne
den bewußt vollzogenen logischen (nicht erlebnismäßigen) Abschied vom My­
thos keine Gegenwart der Vergangenheit des Vergangenen und damit auch kein
die heutige Wirklichkeit erfassender Mythos. Ohne ein Bewußtsein der Stufen
des Bewußtseins44 bliebe die Psychologie unberührt, naiv - eingehaust in das
über der Erde schwebende platonistische oder auch Husserlsche Wesen. Dieses
Stufenbewußtsein würde aber den Zusammenbruch des logischen Status der ge­
samten bisherigen Animus-Stufe bedeuten, auf der die im Unbewußten gehalte­
ne Anima dem Ich einflüsterte, den formallogischen Denkduktus konkret zu
nehmen und seine eigene Existenz von der formallogischen Stimmigkeit (Ein­
deutigkeit) abhängig zu machen.
Dieser Zusammenbruch wäre dann natürlich zugleich auch die Aufhebung
des Ichs, ja der Psychologie selber. Die Syzygie hätte das Ich, hätte die Psycho­
logie aufgehoben und übernähme jetzt selbst die Führung. Die Syzygie wäre
nicht mehr nur von einem ihrer Momente, von Anima oder Animus, her erfah­
ren, sondern von der Syzygie selbst her, welche diese Momente als aufgehoben
in sich umfaßt. Jetzt endlich wäre die Syzygie erfüllte Syzygie, sie wäre bei sich
selbst angekommen: und erst damit wäre auch der Animus wahrhaft zu sich
selbst gekommen. Mit Hegel zu reden, sie wäre nicht mehr nur »an ihr« Syzy­
gie, was sie immer war und ist, auch zur Zeit ihrer Abwehr und Zerreißung, son­
dern sie wäre es auch »für sich«. Mit diesem Schritt von der Ebene der Momen­
te zu der Ebene des sie aufgehoben in sich Enthaltenden wäre eine höhere Stufe,
ein neuer logischer Status erreicht.
Der Einbrach des Animus in die pieromatische Welt der Anima-Stufe (in
der sowohl Anima als auch Animus als auch die Syzygie selbst Vorkommen,
nämlich als Bilder, Gestalten oder archetypische Dominanten) darf, so scheint
mir, nicht als Beginn einer vollgültigen und mit der Anima-Stufe gleichrangigen
Animus-Stufe gesehen werden. Vielmehr bedeutet die Initiation in den Animus
als einen solchen (d.h. in seine Stufe) die Aufforderung, zusammen mit der
Anima-Stufe auch eine etwaige Animus-»Stufe« ganz und gar zu überschreiten,
weil letztere, wie ich gezeigt habe, immer noch animageleitet und damit gar kei­

-------------------------------- (Forts.)
und fixiert werden, als ob er sich auf reale historische Epochen verteilte. Er ist ein stets mitgehen­
der Gegensatz. Historische Epochen verhelfen uns, ihn zu artikulieren.
44 Ich hoffe, der Leser spürt, daß das von mir gemeinte Bewußtsein der Stufen des Bewußtseins
durch einen Abgrund von den Bewußtseinsstufen des Entwicklungsdenkens in der Psychologie
(etwa Erich Neumann) getrennt ist. Ich betrachte den Neumannschen Entwicklungsansatz einer­
seits und das Stufendenken in Hierarchien (etwa Rudolf Steiner) andererseits gerade als die zwei
hauptsächlichen Weisen des Rettungsversuchs der Kontinuität und der Einhelligkeit des Bewußt­
seins mit sich. Mit der Rettung von Kontinuität und Einhelligkeit soll letztlich die Zeitlosigkeit
des »Wesens« (im Sinn des 2. Teils der Hegelschen Logik) gerettet werden. Negativ gewendet:
»Entwicklung« als Wachstum und »Hierarchien« dienen der Abwehr von Diskontinuität, logi­
schem Brach, Tod, Zerrissenheit - auf die ich mit meinen »Stufen« des Bewußtseins hinziele.
ne wirkliche Animus-SfM/e wäre. Die Rede von einer solchen wäre ein Mißver­
ständnis. Der Animus kommt nicht voll zu sich selbst, wenn er sich auf einer be­
sonderen Animus-»Stufe« einhausen will. Diese bliebe immer noch irgendwie
auf der Anima-Stufe und bedeutete nur die Verschiebung des auf dieser Stufe
herrschenden Gesichtspunktes von der Anima auf den Animus, nicht ihre Aufhe­
bung und die Gewinnung einer neuen Stufe. Die wahre »Animus-Stufe« ist viel­
mehr die Stufe der Syzygie!
Wenn ich im vorigen von der Animus-Stufe, auf der sich das geschichtli­
che Abendland etwa seit der griechischen Aufklärung befunden hat, gesprochen
habe, dann erweist sich dies von hier aus als ein uneigentlicher Ausdruck. Rich­
tiger wäre es, von der Animus-Zeit zu sprechen, welche aber auf der alten Stufe
der Anima verblieb. Es ist ja gerade das Problem dieser Animus-Zeit, daß sie le­
diglich die Verschiebung des Standpunktes bewirkt hat, aber auf derselben alten
Stufe verharrte. Es gibt so nicht drei Stufen: Anima, Animus, Syzygie, sondern
nur zwei: Anima und Syzygie. Die Animus-Zeit muß daher als eine bloße Über­
gangszeit gesehen werden. Sie hat nur den Rang der Vorläufigkeit, den Rang ei­
ner Vorbereitungszeit. Wenn man dem folgt, dann mag man begreifen, daß so,
wie die Anima die Geleiterin in das Unbewußte als substantielles Reich der
Bilder und Gestalten ist, der Animus der Psychopompos von einer Stufe zur an­
deren ist. Die Animus-Zeit erweist sich so, die Zeit der mählichen Initiation in
die Stufe der Syzygie gewesen zu sein.
Von diesem Punkt aus sei noch einmal zusammenschauend ein Blick auf
die Erscheinungsformen der Syzygie auf ihren verschiedenen geschichtlichen
Stufen zurückgeworfen. Auf der Anima-Stufe, der des Mythos und der mythi­
schen Philosophie, begegnet die Syzygie gegenständlich (»personifiziert«) als
das differenzierte Nebeneinander des Götterpaares und als das Zusammenspiel
von Prinzipien, z.B. von yin und yang. In der Zeit des Animus erscheint sie in
der Weise der Diastase, der Gegensätzlichkeit. Hier sind, dank des Auseinan-
derfallens der Gegensätze, grundsätzlich zwei Richtungen möglich, die der Auf­
klärung und die der Romantik (beides in weitestem Sinn, als Chiffren, genom­
men). Die Aufklärung stellt sich auf die Seite des Animus und bekämpft die
Anima, die Romantik erklärt sich umgekehrt mit der Anima-Welt solidarisch
und verdammt das vom Animus gebrachte Geschehen. Letztere im Grande ma-
nichäische Position wurde in unserem Jahrhundert mit größter intellektueller
Redlichkeit und Kraft von Ludwig Klages dargestellt: »Der Geist als Widersa­
cher der Seele«. Beide Positionen, so entschieden sie für das je eine sind, bezeu­
gen jedoch gerade das andere, das sie bekämpfen, und sind ihm verfallen: die
Aufklärung bezeugt die Anima, indem sie die Produkte ihres eigenen aufkläreri­
schen Tuns wesensphilosophisch absolutsetzt, also animahaft hypostasiert, der
Manichäismus umgekehrt den Geist, indem er mit seiner eigenen Kategorie des
Widersachers, also des unversöhnlichen Gegensatzes, gerade die Wahrheit des
Animus ausspricht.
Der Manichäismus erkennt also wirklich etwas. Aber er stellt sich nicht
auf den Boden seiner eigenen Einsicht, um sich von ihr, der lebendigen Fortent­
wicklung zugewandt, zu etwas Neuem abzustoßen, sondern er wehrt sich gegen
sie, indem er sie bzw. ihren Inhalt als böse verdammt. Dies daher, weil er das zu
Recht konstatierte Widersachertum des Geistes als Töter als gegen das Leben
gerichtet versteht, während es doch nur die Unmittelbarkeit, die Unschuld oder
Unberührtheit des Lebens töten soll. Er geht mit Bewußtsein unter das Bewußt­
sein, d.h. unter das von ihm erreichte logische Niveau. Die Aufklärung verfällt
in den umgekehrten und so genau entsprechenden »Fehler«. Sie stellt sich rück­
haltlos auf den Boden des Widersachertums, sie agiert dieses, aber sie hat die
Einsicht in das Mörderische dieses ihres Tuns, das der Manichäismus wirklich
erkannt hat, nicht und kann sich so ebenfalls nicht von dem Boden, auf den sie
sich gestellt hat, zu etwas Neuem abstoßen. Die Aufklärung behauptet nur
(gleichsam mit der Faust auf den Tisch schlagend und so ohne Bewußtsein) das
erreichte logische Niveau des Bewußtseins.
Jung strebte, versöhnlicher und damit mehr der Anima dienend, wieder
das Nebeneinander und Zusammenspiel der Gegensätze an. Sein »Mysterium
Coniunctionis« kann zumindest als eine indirekte Antwort sowohl auf die Ein­
seitigkeiten eines Klages wie die entgegengesetzten der Aufklärung verstanden
werden, indem er die Versöhnbarkeit und Versöhnung von Natur (Leben, Ani­
ma) und Geist zeigen wollte. Er versuchte dies aber unmittelbar, nach wie vor
auf der Ebene der Momente verbleibend, auf der es aber dam kein wirkliches
Zusammenspiel mehr geben kann, wenn einmal der Animus ausdrücklich als ein
solcher in die Unschuld des Bewußtseins eingebrochen ist. So blieb es in Jungs
Werk letzlich bei dem äußerlichen Nebeneinander, der Kompensation. Anima
und Animus wurden noch immer wie auf der längst überwundenen Anima-Stufe
substantiell vorgestellt und gegenständlich dargestellt (z.B. Bollingen - Küs-
nacht). Mit dem Einbruch des Animus als eines solchen ist jedoch, wie wir be­
reits gesehen haben, die substantiell-gegenständliche Stufe der Momente der Sy­
zygie obsolet geworden und die Auffordemng an das Bewußtsein ergangen, die
Überschreitung zur Ebene der Syzygie selbst hin zu leisten. Der Animus hat sei­
ne Aufgabe, sich abzustoßen, allzu buchstäblich-gegenständlich und ichhaft ver­
standen und damit mißverstanden. In Wahrheit ging es gar nicht um sein Sich-
Abstoßen um seiner selbst willen und nicht um den Kampf gegen den Inhalt
Anima, d.h. um die Verdammung ihrer Bilder als Aberglauben, oder um den
Kampf gegen die Anima als archetypische Dominante des Bewußtseins, wobei
beidesmal die alte Ebene unangetastet bliebe, sondern es ging viel radikaler um
das Sich-Abstoßen des Bewußtseins bloß vermittels des Animus als seines Psy-
chopompos, und zwar um das Sich-Abstoßen von dem ganzen (animahaften)
Status der Gegenständlichkeit (in dem sowohl die Anima wie auch der Animus
selbst zunächst auftreten) hin zum nicht mehr gegenständlichen Status der Syzy­
gie. Die Aufklärung hat es sich zu leicht gemacht. Sie glaubte die Aufgabe
objektiv-inhaltlich leisten (also agieren) zu können, ohne den Brach von dem
Status der Momente zu dem sie Enthaltenden erinnern, d.h. selber logisch da­
durch erleiden zu müssen, daß sie sich auch von sich selbst abgestoßen hätte,
was gerade die vornehmste Aufgabe des Animus ist. Darin lag ihre Animaver-
fallenheit. Die Syzygie will jedoch im Bewußtsein heimkommen, zu sich selbst
kommen, und das kann sie nur, wenn sie als solche ins Subjekt er-innert wird
und das menschliche Dasein damit logisch zum Selber-a/i-Syzygie-Sew wird,
das Anima und Animus nicht länger vor sich und außer sich hat.
Die Überschreitung der Stufe der Momente ist die Überschreitung der ein­
fachen Diastase hin zur Dialektik, in der allein es wieder, wie auf der Stufe des
Mythos, aber auf völlig neuer Ebene, das wirkliche Zusammenspiel der Gegen­
sätze geben kann als die Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit des Gegen­
sätzlichen.45 Die Überschreitung ist freilich nur, wenn sie die Aufhebung des
ganzen jetzigen Bewußtseinsstatus ist, d.h. der Absturz aus ihm.46
Jung wußte im Grande schon darum. Seine Psychologie hat diese Aufhe­
bung trotz Jungs Bestehen auf dem empirischen Wissenschaftsstatus der Psy­
chologie einerseits und der (von mir hier ganz einseitig herausgestellten) Anima-
verfallenheit seiner Psychologie andererseits in vielen ihrer Züge an ihr, wenn
auch nicht w irklicher sich. Jungs Psychologie war auch immer schon über die­
se hier besprochenen Einseitigkeiten hinaus. Aber wie gesagt, sie hatte diese
Überwindung nur an ihr, sie war diese nicht voll und ganz, nicht in ihrer logi­
schen Form.
An einer Stelle wird die Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstüberwin­
dung der Psychologie bei Jung deutlich ausgesprochen. Er sagt: die Psychologie
»muß sich als Wissenschaft selber aufheben, und gerade darin erreicht sie ihr
wissenschaftliches Ziel«47. Wirkliche Psychologie, das sah Jung hier, kann nicht
wissenschaftliche Psychologie sein, nicht ein einzelwissenschaftliches Fach im
Konzert des interdisziplinären Gesprächs.48*Aber sie kann auch nicht das undia­
lektische Gegenteil von Wissenschaft sein, sondern sie ist das bestimmte, das
negative Nichts der Wissenschaft, aufgehobene Wissenschaft. Als solche hat sie
ihre eigene Wissenschaftlichkeit nicht mehr außer und über sich und die anderen

45 Diese Einheit würde nur dann erreicht, wenn das Bewußtsein die wache Einsicht in das Widersa­
chertum des Geistes hätte, aber sie bis zu dem Grad aushielte, daß es sich trotzdem auf eben die­
ses Widersachertum als seinen Boden stellte; oder wenn das Bewußtsein rückhaltlos das Werk
der Aufklärung vollbrächte, aber sich gleichzeitig das Mörderische seines Tuns eingestehen wür­
de, ohne deshalb a) von jenem Werk abzulassen und ohne b) dem Schock, der in dem Prädikat
»mörderisch« liegt, durch irgendwelche Abmilderungs- oder Rechtfertigungsversuche auszuwei­
chen.
46 Statt Absturz aus ihm könnte ich auch mit einem umgekehrten Bild sagen: Abstoß von ihm. Das
Sich-Abstoßen ist nur als Absturz.
47 C.G. Jung, GW 8 § 429.
48 Siehe dazu: W. Giegerich, »Zur Fonn der Differenz von Psychologie und Theologie. Antwort auf
Ulrich Manns kritische Gegenfragen«, Analyt. Psychol. 19 (3): 223-228 (1988), hier S. 225-28.
Fächer (all die Wissenschaften) nicht neben sich, sondern in sich. Alles, was die
Wissenschaften erforschen, ist Moment und Stoff innerhalb des psychologischen
Fragens.
Genauso muß sich die Psychologie als Religion oder säkularisierter Reli­
gionsersatz (Heilslehre) aufheben, weil sie nur so ihr therapeutisches Ziel er­
reicht. Wirkliche Psychologie ist aufgehobene Religion. Sie ist die Gegenwart
der Vergangenheit der Religionen. Sie ist als Heilungs weg nicht selber Religion,
aber auch nicht undialektisch das krasse Gegenteil von Religion, nämlich Athe­
ismus oder religiöse Indifferenz. Sie hat vielmehr die Religionen als ihre aufge­
hobenen Momente in sich. Im Grande sah Jung dies auch. Er lehrte uns ja den
Abschied von der Religion und führte uns in das ehrlich ertragene Wissen um
die Kahlheit unserer entgötterten Welt49, ohne damit freilich das religiöse Anlie­
gen ganz über Bord zu werfen. Im Gegenteil, er hat sich, mit deutlicher Abgren­
zung von seiner anderweitig praktizierten Epoche zu einem Wissen von Gott be­
kannt, wenn er über sein Verhältnis zu Gott sagte: Ich glaube nicht, ich weiß.
Das ist bereits aufgehobene Religion.
Was Jung dagegen nicht gesehen zu haben scheint, ist, daß wirkliche Psy­
chologie sich auch selber als reine Psychologie aufheben muß und nur damit ihr
psychologisches Ziel erreicht. Wirkliche Psychologie darf sich nicht umstands­
los kompensatorisch neben die Not der Zeit stellen und schriftstellerisch­
unmittelbar zu Bewußtsein und Gefühl sprechen, sondern muß sich von Wissen­
schaft, Glaube und sich selbst wie von allen künstlichen Trennungen abstoßen,
weil sie nur so die Not der Zeit berühren und mitführen und nur so den wirkli­
chen Menschen erreichen kann. Wirkliche Psychologie ist aufgehobene, sich
selbst aufhebende Psychologie, ist das bestimmte Nichts der unmittelbaren Psy­
chologie. Sie findet sich nur in dem ihr Fremden. Die wahre Not der Psycholo­
gie ist mit rein psychologischen Mitteln nicht einmal aufzufinden. Sie liegt näm­
lich schon in der unbewußten Logik, als die die unmittelbare Psychologie agiert
wird: Die Not ist ein logisches Problem, das Problem des logischen Status und
der ihm entsprechenden Form.
Weil die Psychologie die Transgression über ihre eigenen Grenzen ist, ist
der Ort, an dem sowohl über Geschehen oder Verfehlen der coniunctio entschie­
den wird, nicht mehr der Raum der (eng verstandenen, unmittelbaren) Psycholo­
gie selbst, sondern es sind die fernen Räume der Logik. Die wirkliche Wand­
lung, die die Psychotherapie anstrebt, ereignet sich, wenn überhaupt, dort und
nicht in dem Individuum, wie Jung noch meinte, noch in der Gesellschaft, wie
Marx meinte. Sie ereignet sich im Dritten der Zwei (das aber kein buchstäbli­
ches Drittes, kein positives, seiendes Etwas mehr ist, sondern die Form des
ganzen Inderweltseins, der Weltbegegnungszusammenhang im ganzen), in dem
die Zwei aufgehoben und als aufgehobene versöhnt sind. Erst in der logischen

49 C.G. Jung, GW 9/1 §27-29.


Wandlung sind auch das Individuum und die Gesellschaft wirklich verwandelt,
während die unmittelbaren Revolutionen und die unmittelbaren Psychotherapien
alles mögliche verändern mögen, aber die Wandlung, welche Wandlung der
Wirklichkeit ist, nicht erreichen. Erst wenn diese als logische Wandlung, als
Wandlung von einer Ebene zur anderen, begriffen ist, wird sie erinnert und nicht
mehr bloß agiert.
Jetzt verstehen wir auch, warum Jung bei dem äußerlichen kompensatori­
schen Nebeneinander von Anima und Animus stehenbleiben mußte, versuchte er
doch die Vereinigung der Gegensätze unmittelbar und rein in der Psychologie
ohne Logik zu erreichen, was nicht zu leisten ist, weil die Unmittelbarkeit das
Problem der coniunctio auf der Stufe der Momente der Syzygie niederhält und
dort eben das erreichen will, was sie selbst doch mit ihrer Aussperrung der Lo­
gik längst verboten hat, nämlich die Durchdringung der Anima durch den Lo­
gos. Die Bilder der Ganzheit und des Selbst, die Mandalas, der Hermaphrodit,
sie bleiben, solange sie in ontologischer Weise (also als Angeschautes) vorge­
stellt werden, als eine zwar verlockende, aber ewig unerreichte und unerreichba­
re Fata Morgana draußen vor uns stehen, weil sie bloße Bilder sind. Jung hatte
auch gesagt, die Ideen müßten aus ihrem überhimmlischen Ort heruntergeholt
werden in eine biologische Umgebung. Aber wie soll das ohne den Absturz des
Bewußtseins aus dem Status der unmittelbaren Psychologie in den Status der
Logik oder ohne den Absturz aus dem ontologischen, vor-stellenden (vor sich
und aus sich hinaus stellenden) Denken in das denkende Denken gelingen? We­
der die bloße Forderung des Heranterbringens noch der bloße Sprang von der
»ideellen Seite« zum »naturwissenschaftlichen Aspekt« oder von der Theorie
zur praktischen Psychotherapie vermögen wirklich herunterzubringen, weil der
alte logische Status sich erhält und nur innerhalb seiner dann (bestenfalls akro­
batische) Sprünge geleistet werden, die letzlich aber, weil der Status derselbe
bleiben soll, Sprünge aus dem Ideellen in die Plattheit der Positivität, Sprünge
aus der Psychologie in die Biologie, Soziologie oder überhaupt die »Realität«
sein müssen.
Ähnliches gilt für die Paradoxien der Alchemie. Auch sie sind ein Bei­
spiel für die logische Unberührtheit. Wir können sie zwar als tiefe Weisheiten
bestaunen, aber, so lange sie die Form der paradoxen Bilder und Formulierun­
gen haben, nie ergreifen, nie begreifen. Als Paradoxien sind sie die noch abge­
wehrte und draußen (im anzuschauenden, vor-gestellten Bild) gehaltene Not­
wendigkeit, selber in die Widersprüchlichkeit der Dialektik hineinzufallen. Sie
geben das eingefrorene, stehende Bild von der Vereinigung, aber nicht die wirk­
liche Vereinigung (verbal). Sie bleiben vor uns schweben, und wir kommen ih­
nen bestenfalls im Erleben nahe, das aber, als spontanes, ein »biologisches« (al­
so außerpsychologisches) Ereignis50 oder, als im Sinn der Entertainment-,
50 Das spontane Erleben »passiert« einfach oder auch nicht. So ist es ein Naturgeschehen (so wie
Regen, Sonnenschein, Vulkanausbruch draußen und Affekte drinnen). Psychologisch wird es erst,
Konsumgüter- und Suchtkultur hergestelltes, ein positiviertes Artefakt ist und so
in beiden Fällen psychologisch nichtssagend und unverbindlich bleibt. Sie errei­
chen nicht den Status der Erkenntnis. Die Paradoxien sollen die Vereinigung der
Gegensätze einfach so objektiv-inhaltlich (»draußen« im Bild) geben, ohne daß
der eigene logische Status dadurch revolutioniert werden soll —ja wohl auch da­
mit der logische Status erhalten bleiben kann. Sie sind ein Zeichen der Hilflosig­
keit der Alchemisten ihren eigenen Wahrheiten gegenüber und damit das Zei­
chen darauf, daß diese ihre Wahrheiten noch nicht die Form der Wahrheit er­
reicht haben. Das könnten sie erst, wenn das Bewußtsein abstürzte aus der sich
unter allen Umständen selbst erhalten wollenden logischen Stufe der Momente
der Syzygie auf die Stufe der Syzygie selber, was gleichbedeutend ist mit dem
Absturz aus der Stufe der reinen Psychologie in den Abgrund der Logik. Bild­
lich gesprochen wäre es das Hineingezogenwerden der Retorte in den sich inner­
halb ihrer vollziehenden alchemistischen Wandlungsprozeß. Philosophisch­
methodisch gesprochen ist er der Absturz aus dem vorstellenden Denken in das
denkende Denken, das nur durch das furchtbare Hineingezogenwerden des Den­
kenden in seinen Gedanken selbst zustande kommt, so daß man nicht mehr Ge­
danken hat, sondern selber Denken ist. Dieser Absturz wäre die Wandlung.
Aber er soll gerade vermieden werden, selbst da, wo das erklärte Ziel die Wand­
lung ist, diese aber noch substantiell als positives Ereignis oder Erleben verstan­
den (»vorgestellt«) wird.
Alles darf der Änderung ausgesetzt werden, nur nicht die Logik selber,
damit das Problem der Status und des Absturzes vom einen zum anderen nicht
ins Bewußtsein dringe. Die Logik wird zur absoluten Stabilisierung ihres (und
unseres) formallogischen Wesensstatus nicht nur mit Tabus umstellt (wer sie in
Frage stellt, ist verrückt), sondern auch so unscheinbar gemacht, daß schon gar
niemand auf den Gedanken kommt, sie wirklich ernst zu nehmen, wenn er nicht
ein wissenschaftlicher Spezialist für Logik ist, bei dem allein solches respekta­
bel wäre. Sie wird getarnt als das abstrakteste und weltfremdeste akademische
Fach, in dem um das Selbstverständlichste unnötigerweise ein Hokuspokus ge­
trieben wird. Damit ist sie in eine verächtliche Ecke abgestellt und sicher hinter
Fachgrenzen verstaut - wo sie doch in Wahrheit der spiritus rector unseres wirk­
lich gelebten Lebens und des wirklichen Weltumgangs ist, der aber anscheinend
nicht als solcher gesehen werden darf. Lieber tut man das Denken als bloßen In­
tellektualismus, den es freilich auch gibt, ab, ohne zu bemerken, daß solcher In­
tellektualismus seinerseits gerade auf einer minderwertigen Logik, auf falschem
Denken, falschen Trennungen beruht und daß die Gegenbewegung gegen das
Denken in Richtung unmittelbarer Psychologie, also eines unmittelbaren Erle­
bens und Imaginierens, auf einer Spaltung der Syzygie beruht.
------------------------------------- (Forts.)
wenn dazu eine Einstellung eingenommen, es reflektiert oder - in was auch immer für einer Wei­
se - ins menschliche Bewußtsein aufgenommen wird. Das spontane Erleben ist also nur Moment
im psychologischen Erleben.
Jung sagte auch, die Götter seien Krankheiten geworden und Zeus wohne
nicht mehr auf dem Olymp, sondern im plexus solaris und verursache dort Ku­
riosa für die ärztliche Sprechstunde.51 Dem ist zuzustimmen, aber mit der Er­
gänzung, daß damit diese Götter aufgehört haben, vollwertige Götter zu sein. Es
sind jetzt (trotz all der unangenehmen Symptome, die sie erzeugen) brave, ge­
mütliche Götter, insofern sie nur in die Privatheit abgesunkene ehemalige Götter
sind. Das Bewußtsein hat sie niedergedrückt und sich selbst dabei von ihnen ab­
gestoßen zu einer neuen Ebene, auf der neue, unsere heutigen wirklichen »Göt­
ter« herrschen, freilich als das bestgehütete Geheimnis. Jung drückt indirekt aus,
daß die Götter jetzt in einem anderen Status als früher sind, womit zugleich ge­
sagt wäre, daß eo ipso auch wir in einem anderen logischen Status sind, aber er
vermag sich vor einem Bewußtwerden der Status und des logischen Charakters
des Problems zu schützen, indem er sich die Wandlung nur psychologisch als
Ortsveränderung auf derselben Ebene (»Olymp - plexus solaris«, »projiziert
nach draußen - Rücknahme der Projektion ins Innere des Menschen«) vorstellt.
Das Fortschreiten der Psychologie war ein Weg der Schritte zurück zu im­
mer ferneren Dimensionen und ungegenständlicheren Eiklärungsebenen. Diese
Richtung des Weges zeigt bereits die schrittweise Annäherung des Animus. Die
Bewußtseinspsychologie des 19. Jahrhunderts machte noch alles psychische Ge­
schehen an Ereignissen der gegenständlichen Welt, wie das natürliche Bewußt­
sein sie wahmahm, fest. Freud ging dahinter zurück zu den Triebwünschen und
Triebkonflikten, die als unbewußte schon nicht mehr unmittelbar faßbar sind. Er
machte diese jedoch überwiegend noch an der Biologie der Einzelpersönlichkeit
fest. Jung führte auch darüber hinaus zu einem Unbewußten, das als kollektives
und archetypisches nicht einmal mehr im Einzelnen sein Substrat hat. Es ist
überall um uns herum. Freilich neigte er dazu, diesem Unbewußten ontologisie-
rend in der Gestalt der Archetypen-an-sich doch noch ein positives Substrat zu
geben. Diesem positiven Rest entspricht, daß Jung (trotz allem, was er für die
Überwindung der Positivität in der Psychologie, ja seiner ganzen Zeit, getan hat
und entgegen vielen andersgerichteten Tendenzen bei ihm selbst) doch letztlich
an dem positiv verstandenen Individuum, dessen Ich, der Persönlichkeit Nr. 1
und dem ebenfalls positiv-alltäglich gefaßten Realitätsbegriff sowie der positi­
ven Wissenschaftlichkeit irgendwie noch festhielt, fast bis zu dem Grad, wo eine
etwaige Aufhebung der Positivität mit dem Absturz in die Psychose oder dem
Selbstmord gleichgesetzt wird! (Womit freilich nur eine positive Interpretation
der Aufhebung der Positivität gegeben würde.) Und vielleicht dient die Idee der
Archetypen-an-sich in dem Gedankengebäude der Jungschen Psychologie sogar
als letzter Garant dafür, daß etwas Positives auch in dem Selbstverständnis der
Persönlichkeit bleiben kann.

51 C.G. Jung, GW 13 § 54.


Die archetypische Psychologie (Hillman) ließ mit einem fundamentalen
Fortschritt auch diese Hypostasierung noch fallen und machte ganz mit dem
Imaginalen ernst, das als eine »Welt« reiner Bilder und Metaphern an gar nichts
Positivem mehr festzumachen, sondern eine »Welt« sui generis ist. Aber diese
ist ihrerseits als Bilderwelt in ihr selbst noch gegenständlich, verbleibt im Raum
der Vorstellung und Anschauung. Liegt es nicht in der Konsequenz dieses We­
ges der Psychologie als eines Weges des Animus, auch diesen letzten Rest von
animahafter Gegenständlichkeit noch hinwegzuarbeiten, bis daß der Weg mit
dem »logischen Unbewußten« an sein eigenes Ende und so zur Ruhe kommt?
In welchem Fall sich dann auch das sogenannte Unbewußte im konventionellen
Sinn der Tiefenpsychologie und das kollektive Unbewußte Jungs erweisen wür­
den, in Wahrheit gar nicht das (sei es individuelle, sei es kollektive) Unbewußte
als unser Inneres, sondern die Logik unseres wirklichen, aber unbegriffenen, un­
bewußten, weil uns völlig umgreifenden und so nie als Gegenstand vor uns auf­
tauchenden, We/fumgangs oder Weltbegegnungszusammenhangs im ganzen ge­
wesen zu sein. Liegt es nicht in der Konsequenz des Weges der Psychologie, bis
dahin vorzudringen, wo die letzten Spuren des Agierens getilgt und das anste­
hende Problem wirklich erinnert wird? Erinnert hätten wir es dann, wenn wir es
logisch erlitten und im Erleiden begriffen (als logisch begriffen): wenn wir
selbst zu seinem leibenden und lebenden Begriff würden. Die Fortsetzung des
begonnenen Weges ist imverzichtbar, weil erst dann, wenn ein Thema logisch
geworden ist, es wirklich ist und wirklich ist. Erst im (Hegelschen) Begriff (3.
Teil der Logik) wird das Sein erreicht. Und erst, wenn ein Thema logisch ge­
worden ist, ist die wirkliche Innerlichkeit, der wirkliche Wesensort der Seele, er­
reicht.
Die Vereinigung der Gegensätze kann nicht auf der Ebene der Momente
der Syzygie erfolgen. Die Psychologie muß über die Ebene der Gehalte und in­
haltlichen Veränderungen hinaus- und in ein Bewußtsein davon gelangen, daß
die eigentliche Wandlung der Bruch von der Stufe, auf der es um Gehalte geht,
zu der Stufe ist, die um Status weiß und für die das eigentliche Problem logisch
erfahren und durchgestanden werden will. Es geht um den Brach zur Stufe der
Syzygie selbst, denn diese, als die Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit der
Gegensätze und damit als der Ort und Status der wirklichen coniunctio, ist nicht
mehr in gegenständlicher Manier vorzustellen, sondern nur noch zu denken.
Die archetypische Psychologie hat gezeigt, daß die Körperlichkeit des
Menschen nicht in der Biologie, sondern im Imaginalen liegt. Sie sprach vom
imaginalen Körper. Damit hat sie sich von der Buchstäblichkeit (Positivität) der
Wissenschaft und des natürlichen Bewußtseins abgestoßen. Jetzt gilt es, sich von
der Buchstäblichkeit des Imaginalen abzustoßen und einzusehen, daß dieser
imaginale Körper seinerseits auf die logische Körperlichkeit angewiesen ist,
wenn er nicht platonistisch abgehoben sein, sondern innerhalb seiner Imaginali-
tät wieder zur Sinnlichkeit und Wirklichkeit zurückkehren soll. Jener Boden, den
Nietzsche laut Jung verloren hatte, ist nur als logischer Boden zu gewinnen.
Wenn Jung, wie er sagte, diese Welt und dieses Leben meinte, so ist nicht er­
findlich, wie er dies ohne Logik erreichen könnte. Es ist ein fundamentaler Irr­
tum zu glauben, mit dem Bestehen auf Positivität (Ichstärkung, fester Realitäts­
bezug, Übersetzung der Einsichten aus Träumen in die »Praxis«) schon Wirk­
lichkeit erreicht zu haben. Realität ist noch nicht Wirklichkeit. Durch den Re­
kurs auf Ich, Realität und Praxis wird der Bezug zu dieser Welt und diesem Le­
ben erschlichen, und man fällt, anstatt wie verhofft die wirkliche Erde zu errei­
chen, nur aus der Psychologie heraus und platt in den Staub der Positivität. (Da­
her auch die unglaubliche Plattheit aller Versuche, aus Träumen Handlungsan­
weisungen abzuleiten.)
So muß sich die Psychologie von ihrer autarken Höhenposition herabbe­
geben und sich der Logik beugen. Sie muß sehr viel tiefer ansetzen, sehr viel
schwieriger und ferner werden. Sie muß wirklich zur »komplexen Psychologie«
werden, die dadurch komplex ist, daß sie sich immer schon selbst aufgehoben
hat und nur als ihre eigene Aufhebung ist. Sie muß auf unmittelbare Wirkung
und umstandsloses Forschen und Reden verzichten. Sofortige Verständlichkeit
ist vermutlich sogar ein Einwand gegen sie. Die Tage der logischen Idylle, die
Zeiten des Altertums oder des Mittelalters, wo man »einfach so« psychologisie-
ren konnte und noch glauben konnte, »einfach so« die Wirklichkeit zu erreichen,
sind vorbei.
Indem die Psychologie sich auf ihr eigenes Anderes, die Logik, einläßt,
verläßt sie nicht den Boden der Psychologie, sondern betritt ihn erstmals. Denn
kraft der Syzygie ist die Psychologie nur dann bei sich, wenn sie bei ihrem An­
deren ist. Doch bei ihrem Anderen ist sie nur dann bei sich, wenn sie nicht mehr
auf der Stufe des Animus oder der der Anima, sondern der der Syzygie selber
ist. Die Selbstüberschreitung der Psychologie hin zur Logik ist nichts anderes als
der Schritt in die Syzygie als solche, in welcher freilich kraft der Durchdringung
von Anima und Animus, als welche die Syzygie ist, die Logik nicht mehr bloße
formale Logik und die Psychologie nicht mehr reine Psychologie sind und in der
so, durch die coniunctio beider, Wirklichkeit wieder erreichbar wird.
Ich sprach oben davon, daß Jungs Ansatz deswegen gescheitert sei, weil
er den zweiten Schritt (nicht vor, sondern) ohne den ersten tun wollte. Nun gibt
es bei Jung durchaus die Idee von zwei Schritten. Er unterschied zwischen der
Psychologie der ersten und der der zweiten Lebenshälfte. Die Aufgabe der er­
sten Lebenshälfte war nach Jung eine »biologische«, nämlich die Aufgabe, sich
einen Beruf zu erobern (Nahrungssorge) und eine Familie zu gründen (Fort­
pflanzung). Wenn die Psychologie der ersten Lebenshälfte somit eine biologi­
sche Aufgabe hat, dann ist diese Psychologie offenbar noch nicht eigentliche
Psychologie, welche nämlich eine authentisch psychologische Aufgabe haben
müßte. Dies ist dann auch in der Tat bei der Psychologie der zweiten Lebens­
hälfte der Fall, welcher Jungs Hauptinteresse galt. In der zweiten Lebenshälfte
geht es für Jung im Grande darum, nunmehr die Erfahrung einer »allerpersön­
lichsten wechselseitigen Beziehung zwischen dem Menschen und einer extra-
mundanen Instanz, welche der >Welt und ihrer Vemunft< die Waage hält« zu
machen. Es ist dies nichts anderes, als was Jung in jenem anderen Zitat oben
»Urerfahrang« genannt hatte.
Jung hat immer betont, daß bevor der Individuationsprozeß in dem enge­
ren Sinn der Psychologie der zweiten Lebenshälfte, zum Beispiel in der Analy­
se, stattfinden kann, die Aufgabe der ersten Lebenshälfte bestanden sein müsse.
Nur wer fest im Leben steht, kann sich auf die Beziehung zum »Extramunda-
nen« wirklich und fruchtbar einlassen. Insofern sagt Jung ausdrücklich, daß die
eigentliche psychologische Aufgabe ein zweiter Schritt sei, dem ein erster vor­
auszugehen habe.
Ich glaube jedoch, daß Jung trotzdem, nein: gerade damit, den ersten
Schritt ausgelassen hat. In Wahrheit gibt es für ihn keine zwei Schritte, weil er
die Psychologie der ersten Lebenshälfte als biologische Aufgabe versteht und
somit aus dem Psychologischen hinausverweist, genauso, wie er Anima und
Animus zumeist aus der Psychologie in die Biologie abschob. Einen ersten und
einen zweiten Schritt gäbe es nur, wenn beide gleichgewichtige psychologische
Aufgaben hätten. So jedoch beginnt die Psychologie der zweiten Lebenshälfte
unmittelbar als im Grunde erste und einzige Psychologie, weil ihr ja nicht wirk­
liche Psychologie, sondern Biologie vorausgeht. Psychologisch hängt sie in der
Luft. Ich stimme Jung zu: die Psychologie der zweiten Lebenshälfte setzt vor­
aus, daß die Aufgabe der ersten Lebenshälfte bestanden und ein Boden für die
Individuation errungen wurde. Aber dieser Boden muß psychologischer Boden,
nicht biologischer, sein, und nicht der Boden der Realität des Ichs, sondern der
authentisch psychologische Boden der logischen Form. Der biologische Boden
der Realität (im Unterschied zur Wirklichkeit) ist ein Alibi. Er erweckt nur den
Anschein, daß man psychologisch Boden unter den Füßen bekommen habe. Mit
ihm hat Jung auf seine gewiß ganz andere Weise dennoch immer noch am
Freudschen »gewachsenen Fels des Biologischen«, der der Psychologie zugrun­
de liege, festgehalten.
Erst wenn es auch eine wahrhaft psychologisch begriffene Psychologie
der ersten Lebenshälfte gäbe, hätte man zwei Schritte. Und erst wenn der erste
wirklich getan wäre, hätte der zweite Boden unter den Füßen und würde nicht
platonistisch über dieser Erde schweben. Die Abdrängung der ersten Lebens­
hälfte in die Biologie dient dem Zweck, den Schein zu erwecken, daß dem An­
liegen eines ersten Schrittes Genüge getan sei und wir damit der Aufgabe des er­
sten Schrittes längst enthoben seien. Es scheint dann gar kein erster Schritt zu
fehlen, weil seine Stelle ja besetzt ist.
So wie Jung bei der Unterscheidung von einer polytheistischen und einer
monotheistischen Stufe von dem Gesichtspunkt von Anima/Animus zu dem des
Selbst sprang, so ist er auch bei der Unterscheidung der Lebenshälften von dem
der Psychologie zu dem der Biologie gesprungen.
Mit Recht wurde daher Jungs Unterscheidung zwischen zwei Lebenshälf­
ten von vielen derer, die nach ihm kamen, kritisiert. Nur verfielen sie einem an­
deren Fehler. Sie versuchten auch die erste Lebenshälfte psychologisch zu ver­
stehen, aber bloß dadurch, daß sie die archetypisch-imaginale Aufgabe der zwei­
ten Lebenshälfte auch schon der ersten Lebenshälfte unterstellten. Damit war er­
stens der Unterschied beseitigt und alles dem Platonistischen Wesen unterstellt,
und zweitens blieb es im Grund bei dem buchstäblichen biologischen Verständ­
nis der Lebenshälften: nur die Aufgaben oder Gehalte beider Hälften sollten
jetzt psychologisch verstanden sein, aber die Lebenshälften selbst blieben die
des biologischen Lebensalters (Positivität).
Wenn die Lebenshälften wirklich psychologisch begriffen würden, dann
ginge es bei ihnen auch nicht mehr um das buchstäbliche Lebensalter - denn das
gehört in die Biologie. Erste und zweite Lebenshälfte sind psychologisch nur,
wenn sie Metaphern sind und sich (statt personalistisch auf das biologische Le­
ben der Menschen) auf das Leben der Psychologie selbst beziehen. Die Psycho­
logie der ersten Lebenshälfte hätte es dann mit der »Pubertät«, dem »Erwach­
senwerden« und logischen Zu-Sich-Selbst-Kommen der Psychologie (sozusagen
mit einer psychologischen Propädeutik) zu tun, also mit dem Übergang aus dem
unschuldigen logischen Status der »Kindheit« (dem vorpsychologischen »natür­
lichen Bewußtsein«), mit dem Sich-Abstoßen von ihr und dem sich Empoiheben
in einen neuen Status des P.vyc/io/og«c/i-Erwachsenseins, das freilich die Kind­
heit als aufgehobene mitführt. Wir sind hier im Bereich des Animus, der Ge­
schichte, logischer Stufen und logischer Revolutionen, und wir sind hier im Be­
reich der Form im Unterschied zu den Gehalten. Die zweite Lebenshälfte hat
demgegenüber, ganz wie Jung es beschrieben hat, die Aufgabe des Bezugs zum
Extramundanen und zum Reich archetypischer Bilder und sinnstiftender Gehal­
te. Früher hätte man es z.B. das Ewige, Unendliche genannt. Es ist eine Aufgabe
der »religiösen« Vertiefung des Lebens, der »Transgression« aus der »natürli­
chen Welt« und ihrer ichhaften Belange der Lebenssicherung hinaus, hin zur
Sphäre der Götter. Damit sind wir wirklich mit dem consensus gentium und al­
len Zeiten zusammengeschlossen, denn die Gehalte dieses »Individuationspro­
zesses« sind »innerhalb der Kulturgeschichte sozusagen immer dieselben geblie­
ben«. Hier bewegt man sich in der Animawelt, oder tiefer in sie hinein. Damit
diese aber nicht abgehoben sei, ist der Vollzug der »ersten Lebenshälfte« als die
Erringung der Form notwendig. Wir müssen erst logisch dahin kommen, wo die
zweite Lebenshälfte wirklich sein könnte.
Es ergibt sich das Merkwürdige, daß der historische und der psychologi­
sche Weg gegenläufig sind. Geschichtlich geht die Entwicklung von der Anima­
zur Animus-Stufe, psychologisch umgekehrt von dem Animus (»erste Lebens-
hälfte«) zur Anima (»zweite Lebenshälfte«). Beide Wege müssen aber als ein
und derselbe begriffen werden.
Exkurs: Was ist Psychologie? In diesem Kapitel »Psychologie mit Ani­
mus« wie ebenso in den früheren Kapiteln wurden von verschiedenen Gesichts­
punkten aus immer wieder gelegentliche Aussagen darüber gemacht, was die
Psychologie sei. Hier, am Schluß des ersten, dem Verhältnis von Psychologie
und Animus gewidmeten Teils dieses Buches, sollen nun die wichtigsten Aspek­
te dieser Frage wenigstens stichwortartig und ohne Anspruch auf Vollständig­
keit etwas mehr systematisch zusammengetragen werden. Genauer formuliert
muß die zu stellende Frage lauten: Was ist Psychologie, wenn sie als Psycholo­
gie mit Animus begriffen ist?
Oben wurde schon ganz allgemein gesagt: Innerhalb des ontologischen
Ansatzes läßt sich eine wirkliche Psychologie nicht plausibel machen. Wir wis­
sen auch schon: Sie ist kein »Fach«, das neben den für andere Seinsregionen zu­
ständigen wissenschaftlichen Fächern einen einzelnen aus der aufgefächerten
Gesamtwirklichkeit herausgeschnittenen Seinsbereich erforschen würde. Sie ist
nur möglich kraft einer Revolution innerhalb von Bewußtsein, insofern sie in
Wahrheit bestimmt ist durch eine andere logische Form oder durch einen ande­
ren, sich dem wahrgemachten Animus (also der Syzygie) verdankenden Bewußt­
seinsstatus. Dies gilt es festzuhalten. Darüber hinaus aber gilt es jetzt auch noch
aufzulisten, durch welche Stichworte der Standpunkt einer wirklichen Psycholo­
gie im einzelnen zu charakterisieren ist (wobei hier um der Abgerundetheit der
Zusammenstellung willen auch solche Stichworte schon einbezogen werden sol­
len, die erst in späteren Kapiteln dieses Buches näher und in ihrem eigenen Kon­
text erörtert werden).

1. Methodisch-theoretisch:
♦ »Psychologische Differenz«: die Differenz von Mensch und Seele; das logi­
sche Tun des systematischen Sich-Abstoßens - innerhalb dieser stets wach­
gehaltenen Differenz - vom anthropologisch oder positiv verstandenen
Menschen, dadurch »Psychologie mit Seele«', oder umgekehrt gesagt: das
methodische Tun der rückhaltlosen Hingabe an die Grundmetapher »Seele«
und so die Inständigkeit in deren Negativität (»Bodenlosigkeit« der Seele;
»absolut negative« Er-innerung in die Seele).
♦ Aufgehobenes natürliches Bewußtsein: aufgehobene Wissenschaft, aufge­
hobene Religion, aufgehobene Psychologie52), was der Psychologie ihren
»unterweltlichen«, unsinnlichen Charakter gibt; Begreifen des kollektiven
Unbewußten als logisches Unbewußtes, als die verborgene Logik des Welt­
umgangs im ganzen.
52 Psychologie hat die Aufhebung ihrer selbst oder das Sich-Abstoßen von sich selbst als von der
positiven Lehre, die sie zunächst einmal ist, in ihr selbst, zu ihrer (freilich nicht naturgegebenen,
sondern stets wieder neu erst zu gewinnenden oder zu leistenden) Voraussetzung.
♦ Phänomenologische Psychologie: Psychologie der »unmittelbaren Erfah­
rung«, wie Jung sagen würde, oder, wie ich es formulieren würde, des Aus­
harrens beim Scheinen des Jeweiligen (jeweiligen Phänomens), oder auch
Psychologie der Gegenwart53 (nicht: ist es das Wahre?, sondern: ist es meine
Wahrheit, mein Märchen, die heutige Wahrheit, und bin ich der Rechte für
diese Wahrheit?); die Einmaligkeit des Wirklichen.
♦ Uroborisch-dialektische Bewegung: die Bewegung gleichzeitig in entge­
gengesetzte Richtungen, so, daß die Annäherung an die Unbekanntheit des
Objekts vor einem zugleich als Annäherung an die Unbekanntheit des Grun­
des des fragenden, wahmehmenden Subjekts hinter einem gewußt wird (Ein­
heit von intentio recta und intentio obliqua); entsprechend keine Trennung
von Forschung und Wissenschaftstheorie, von Therapie (Analyse) und psy­
chologischer Theorie; einschwingen in das als Denken sein statt Gedanken
(Vorstellungen) über die Seele zu haben', Hineingezogenwerden der »Retor­
te« in den sich innerhalb ihrer abspielenden alchemistischen Prozeß der pu-
trefactio, sublimatio; oder umgekehrt Übergreifen des gärenden, sich zerset­
zenden Inhalts auf das ihn enthaltende Gefäß; daher Psychologie als »Über­
tragung« (nicht nur »Psychologie der Übertragung«): »dialektische Psycho­
logie«, Psychologie, die sich selbst nicht absolut (im emphatischen Sinn des
Wortes) nimmt, sondern sich selbst als eine Manifestation ihres eigenen Ge­
genstandes, der Seele, weiß, die sich also ein Ereignis im geschichtlichen Le­
ben der Seele zu sein und in einer Tradition zu stehen weiß (»geschichtliche
Psychologie«).
♦ Kritische Psychologie: in sich reflektierte Psychologie, d.h. eine Psycholo­
gie, die sich von dem, was sie »draußen« erfährt oder auf das »Draußen« pro­
jiziert, über sich selbst belehren läßt; Psychologie, die um die »persönliche
Gleichung« weiß, kraft welchem Wissen das, was man draußen vor sich
sieht, als von dem eigenen Sehen, mitbestimmt bewußt ist, d.h. mitbestimmt
von dem Vorurteil, das man nicht nur »hat«, sondern selbst ist; die berührt
und verwundet wird durch das eigene Andere, so daß die träumende Un­
schuld des in sich, in den eigenen Vorstellungen, in der »bubble« einer Bil­
derwelt Eingehülltseins des Bewußtseins durchbrochen ist.5354*
53 Hierher gehört Jungs Aktualkonflikt-Theorie der Neurose.
54 Das bedeutet zweierlei: a) daß das Bewußtsein sich selbst ein Fremder geworden ist (d.h. sich von
sich selbst unterscheiden, sich selbst »von außen« sehen und konfrontieren kann, ja letztlich als
längst gestorbenes, aber im Tod sich erhaltendes Bewußtsein ist), b) daß es sich nicht mehr nur
anschauend und aufblickend, gegebenenfalls anhimmelnd, zu seiner Wahrheit als einer reinen
Bilderwelt verhält, sondern auch als der existierende Begriff, in kalt und rigoros denkender An­
eignung (was die einzige Möglichkeit von wirklicher Aneignung ist). Aneignung: das, was vorher
als Dach über einem schwebte, zu seinem Boden machen, auf dem man steht; das, was vorher an­
geschauter Gegenstand oder Bild vor einem war, so ins Bewußtsein aufhehmen, daß es dieses
durchwirkt und die Basis oder der Hintergrund für alle künftige Gegenstandswahmehmung wird.
Die Psychologie versucht diesen Vorgang mit dem Terminus »(ins Bewußtsein) Integrieren« zu
benennen, stellt sich darunter aber wohl meist etwas anderes vor.
♦ Immanente Reflexion: der Standpunkt, für den nichts aus der Seele heraus­
fällt, auch das Äußerliche, ja das Seelenwidrige nicht (»wir sind auf allen
Seiten von Seele umgeben«), ein Standpunkt, der sich daraus ergibt, daß man
rückhaltlos in die Grundmetapher Seele eingetreten ist, sich von ihr binden
läßt und folglich wirklich »innen« ist; daher: Betrachtung des ganzen Lebens,
aller Wirklichkeit, allen Geschehens von innen, als »das Tun der Seele an ihr
selbst«, »das Reden der Seele mit ihr selbst«55; auch im äußeren Geschehen,
selbst wenn es grausam ist, kommt uns Seele entgegen (und nicht das reine
Gegenteil von Seele); »Psychologie, die nicht außer sich ist«.
♦ »Pneumatische Stufe« des Bewußtseins: »pneumatischer« logischer Status
des Inderweltseins, »quintessentialische« Verfaßtheit des Weltbegegnungszu­
sammenhangs; Stufe der logischen Form; der Mensch sich selbst als dieser
Weltbegegnungsprozeß und d.h. als Geist [Hegel] wissend und sich nicht nur
für ein innerhalb dieses Weltbegegnungszusammenhangs vorkommendes
»innerweltliches« Naturwesen haltend (»Bewußtheit«); Betrachtung des Le­
bens vom absoluten Standpunkt aus (»absolut« im Sinn Hegels): »absolute
Psychologie«.

2. Ethisch-existentiell bestimmt:

♦ Gesinnung der Ganzheit (dies ist die ethische Seite der immanenten Refle­
xion): die Voraussetzung des Beisichbleibens im Anderen / Fremden ma­
chen; sich auf den Standpunkt stellen, daß mir mein Eigenes, wenn über­
haupt, nur aus dem Anderen erst entgegenkommen und so erfahrbar (bewußt)
werden kann; sich in der Einsicht halten, daß mir in dem, was mir widerfährt
und aus der Welt begegnet, und sei es das Widrigste, nur mein (freilich nicht
im ichhaften Sinn) Eigenes, nur meine Wahrheit entgegenkommt; sich davon
belehren lassen; die sittliche Haltung, gemäß der ich dem wirklichen Leben
mit der Vorstellung entgegentrete, daß mir im Leben nichts anderes als »Ge-

55 Dann muß das Geschehen nicht von außen oder oben herab moralisch als gut oder böse, nicht als
nützlich oder gefährlich beurteilt werden, sondern kann einfach eikennend und fühlend (statt be­
wertend) von innen, in seinen »wirklich seienden« seelischen Gefühlswerten, sinnlichen Qualitä­
ten und in seinem Sinn für die Seele gewürdigt weiden. - Indem das Andere (auch das gewaltsam
und bedrohlich begegnende Andere) als das eigene Andere des ersten Anderen begriffen wird,
kann die Situation oder das Bild als ganzes gesehen werden (im Unterschied zu einer Betrachtung
nur aus dem Blickwinkel der innerhalb seiner auftretenden verschiedenen Personen oder Kräfte
je für sich und in ihrer Interaktion, wo es dann darum ginge, was der einen von der oder den an­
deren als schlechthin äußeren angetan wurde); so daß es, im Hinblick auf dieses so als ganzes ge­
sehene Phänomen, dann auch möglich wird, sich methodisch auf den Standpunkt der Selbstge­
nügsamkeit des Jeweiligen (W. Giegerich, »Die Selbstgenügsamkeit des Jeweiligen; Zu Ulrich
Manns Antwort auf James Hillmans Buch über Pan«, in: Analyt. Psychol. 15 (1984), S. 182-200)
zu stellen: Das Phantasiebild oder das Jeweilige hat »alles in sich, dessen es bedarf«; nichts, was
nicht hereingehört, darf von außen hereingelassen werden.
rechtigkeit« wird56 und daß mir das, was ich selber wegschenke57 oder was
mir vom Leben genommen wird, nicht verloren gehen kann (»Psychologie
aus dem Geist der Liebe«).
♦ Gesinnung der Notwendigkeit: die sittliche Haltung, die - allem »Alternati­
ven«, allen »Utopien«, allem Verharren in einem Raum bloßer Möglichkei­
ten (Potentialitäten oder Optionen [willkürlich Wählbares, »Wünschbares«])
und allem nostalgischem Zurück entsagend - sich in der irreversiblen Zeit
und der imaufhebbaren Einzelheit des irdischen Daseins ansiedelt, sich unter
unser unerbittliches Eingeschlossensein (Stichwörter: Okeanos, Ananke, te-
los58) im Jeweiligen59 stellt und dieses zwingende Band des wirklichen Hier
56 »Es ereignet sich aber das Wahre«. - Daß mir in allem, was geschieht, Gerechtigkeit widerfahre,
ist dabei nicht eine Tatsachenbehauptung, sondern eine Gesinnung, die Gesinnung der Ganzheit.
Und diese Gesinnung tritt hier nicht als weltanschauliche Überzeugung auf, sondern als für die
Psychologie konstitutives Erfordernis. Erst wenn ich, dem methodischen Erfordernis der imma­
nenten Reflexion entsprechend, auch ethisch der Wirklichkeit Gerechtigkeit (als ihr Gerechtsein
mir gegenüber) »ansinne«, beginne ich das wirkliche Leben als seelisches Leben zu apperzipie-
ren, gleichsam das Leben als einen sinnvollen Satz zu lesen (mit einem Schlag zu erfassen), wäh­
rend dann, wenn ich das Geschehen als Zufall oder als ärgerliche bis unerträgliche Zumutung er­
lebe, ich das Leben gleichsam als aus einzelnen Buchstaben oder Wörtern bestehend nur buchsta­
biere (zusammenstücke) und so nur für irgendwelche anderen als eine psychologische Zugangsart
zur Welt befähigt werde, u.a. etwa zum technisch-praktischen Weltumgang im Sinn der Wissen­
schaften (Ändemwollen). Dieser ist nicht »falsch«, der psychologische nicht »der richtige«. Man
muß sich nur im klaren sein, was jeweils aus welcher Gesinnung hervorgehen kann und was
nicht. Ein jeder solcher Weltumgang ist in seiner Weise eine Form der Wahrheit Dennoch sehe
ich das Verhältnis zwischen a) der subjektiven Gesinnung der Absichtlichkeit (persönliche Beloh­
nung oder Heimsuchung: emotionales Erleben innerhalb eines auf die ganze Welt ausgedehnten
»Familienromans« und daher - im Fäll der Heimsuchung - naiver Verdruß, Groll oder Empö­
rung), b) der objektiven, neutralen Gesinnung der Zufälligkeit (die abstrakt-prinzipielle Gesetz­
mäßigkeit der zufällig so eingerichteten Natur Wissenschaft, Technik, also emotionslose Mani­
pulation) und c) der absoluten Gesinnung der Ganzheit und Notwendigkeit (die konkrete Wahr­
heit und Sinnhaftigkeit des Geschehens: Standpunkt der Seele, Psychologie, und so die Bereit­
schaft, sich von dem Geschehen etwas sagen zu lassen) nicht als das Nebeneinander gleichrangi­
ger Optionen an. Ich sehe darin vielmehr eine Abfolge von je höheren Reife- oder Bewußtheits-
graden. Wenn der »Satzsinn« als ganzer mit einem Schlag soll erfaßt werden können (Psycholo­
gie), muß das Bewußtsein eine ganz andere logische Ebene erreicht haben, als sie fürs Buchsta­
bieren (Wissenschaften) nötig ist.
57 Das gilt auch für das Sic/i-Verschenken, die Hingabe. »Sie sehen nur, was ich aufopfre, und nicht
was ich gewinne....... daß ich täglich reicher werde, indem ich soviel hingebe.« Goethe, Brief an
die Mutter, 11. Aug. 1781. »... Liebe / So tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe, / Je mehr auch
hab ich; beides ist unendlich.« Romeo und Julia, 2. Aufzug, 2. Szene.
58 Vgl. dazu.Wolfgang Giegerich, »Die Erlösung aus dem Strom des Geschehens: Okeanos und der
Blutkreislauf«, in: GORGO 9/1985, S. 35-55. Zu denken ist hier auch an Kafkas Bild von dem
unerbittlich in die Strafmaschine eingeschlossenen Verurteilten, dem die »Egge« der Strafmaschi­
ne das Urteil tiefer und tiefer ins Fleisch schneidet (»In der Strafkolonie«), ein Bild, das ich in der
zweiten Hälfte meines Eranos-Vortrags »Die Alchemie der Geschichte« ausführlich gedeutet ha­
be. Diesen existentiellen Bildern entspricht in methodischer Hinsicht das auch soeben in einer
Fußnote wieder erwähnte Wort: Das Phantasiebild (oder überhaupt das Jeweilige) hat »alles in
sich, dessen es bedarf« usw.
59 In dem, was jeweils wirklich ist: diese meine unaustauschbare Individualität, meine reale Situa-
und Jetzt und Mein als verbindlich und verpflichtend anerkennt, es als »mein
Eigen«60 (als eigene zu verantwortende Aufgabe) auf sich nimmt: theräpeia,
religio (als sorgfältiges Beachten und in die Hut Nehmen); Freiheit (gerade
nicht als Willkür, sondern als erkannte Notwendigkeit - Hegel); Psychologie
der Treue zur »Erde«.
♦ Gesinnung der Wirklichkeit: sich durch die (eigenen) Taten und das Ge­
schehen (in der Welt) über die eigene Wahrheit61 belehren lassen, anstatt sich
an die eigene Absicht oder das »eigentlich Gemeinte« zu klammem; Bereit­
schaft, sich unter die Wirklichkeit der Zeit und der Gesellschaft als die eige­
ne zu stellen, anstatt sich über sie erhaben zu fühlen oder sie als »falsch« ab­
zutun, um sie von sich weisen zu können als eine Wirklichkeit, mit der man
selber nichts zu tun habe; sich durch die Begegnung mit seiner Wirklichkeit
selbst ein Fremder werden, sich von sich unterscheiden.
♦ Gesinnung der Existenz: sich von dem, was einen im Guten wie im Bösen
oder Schlechten auszeichnet, also von seinem Sosein oder Wesen oder seinen
Eigenschaften, unterscheiden; sich zurückwerfen lassen auf das eigene nack­
te Sein; die eigene Nacktheit, Unbedarftheit des Seins, die eigene »atome
Subjektivität« (Hegel) ertragen, sie nicht als Einwand gegen sich nehmen,
sondern sie (vor allem auch im Unterschied zu dem, wie man sein sollte, oder
dem Wesen, das man haben sollte) gerade als das einzige »Argument« neh­
men; sich rückhaltlos auf den Boden dieses seines Seins stellen; sich nicht
auf vorweisbare Leistungen, Begabungen, Fähigkeiten, Vorzüge meinen be­
rufen zu müssen (»Hier stehe ich! Ich kann nicht anders. Gott helfe mir.
Amen«), »Initiatische« Gesinnung. In diesem Sinn auch:
♦ Gesinnung der Wahrheit: »der unverschämte Versuch, die Wahrheit zu sa­
gen« (Liebrucks) und sich verbindlich in der Einfachheit des Wahren anzu-
------------------------------------- (Forts.)
tion, meine Vergangenheit, meine Gaben, Fehler und Schwächen, mein Schatten, der eigene Leib,
dieses Traumbild, das, was mir als mir Widriges schicksalhaft widerfährt
60 Man beachte die Dialektik von Entfremdung und Aneignung: indem ich mir selbst ein Fremder
werde und so lerne, mir »objektiv« gegenüberzustehen, kann ich z.B. den Schatten, als meinen
Gegenspieler, erkennen. Ich bin nicht länger mit ihm identisch und unbewußt von ihm getrieben.
Indem ich den Schatten aber erkenne und mich von ihm unterscheide (distanziere), kann ich mich
unter ihn stellen und ihn bewußt zu tragen bereit werden, so daß er, als das mir Fremde, als mein
Eigenes erkannt werden kann, genauso wie umgekehrt das, was zunächst als das mir Eigene er­
schien, als das mir unerbitüich gegenüberstehende »objektive« Wesen meiner selbst durchschaut
werden mußte. Die Auflösung des mit sich selbst Identischseins und die Einsicht darin, daß ich
nicht für mein Wesen verantwortlich bin, ermöglicht es mir, mich unter mein Wesen und Schick­
sal als mir aufgegebene »objektive«, »archetypische«, »göttliche« Gegebenheiten (Data) zu stel­
len, sie gleichsam als mein zu tragendes Kreuz auf mich zu nehmen, um sie so als das Eigene in
die Verantwortung zu übernehmen. »Mein Eigen« meint also nicht ein natürlicherweise bestehen­
des Eigentumsverhältnis, sondern wirklich einen sittlichen Standpunkt, auf den man sich erst stel­
len muß, wenn das Eigentumsverhältnis walten soll, was man aber auch unterlassen kann.
61 »Eigene« Wahrheit meint hier nicht nur die persönliche Wahrheit, sondern auch die Wahrheit von
mir als Glied meiner Gesellschaft und als meiner Zeit Zugehörendem. Den größten Teil unseres
Wesens haben wir ja nicht in uns, sondern in unserer Welt.
siedeln62 - womit zugleich auch der Versuch benannt ist, sich von der Neuro­
se, der eigenen und der unserer Kultur, von allen Trennungen der Hinsichten
zu verabschieden.
♦ Gesinnung der Unendlichkeit: Denken und Erleben aus der ausgehaltenen
Differenz von dem Menschen als Erdensohn und dem Menschen als Gottes­
sohn heraus63; theoretische Unterscheidung zwischen menschlich-allzu-
menschlicher Komplexreaktion und numinoser Erfahrung oder zwischen
neurotisch bedingter und archetypisch bedingter Unfreiheit; methodische Un­
terscheidung zwischen reduktiv-analytischer (d.i. reflektiv-kritischer) und
konstruktiv-synthetischer (symbolischer, imaginaler) Deutung; sich selbst ein
Fremder werden können, dies jetzt (anders als oben64) im Sinn der Begeg­
nung mit dem »Anthropos«, dem »homo maximus« (oder wie die Namen da­
für lauten mögen) verstanden, etwa wie in dem Satz Nietzsches »Da wurde
eins zu zwei, und Zarathustra ging vorbei«; sich nur als kraft seiner Abhän­
gigkeit von Gott frei wissen (»archetypische Psychologie«, »Psychologie mit
Göttern, mit Gott«).
♦ Gesinnung der Finalität: das Erreichen des transzendenten Ziels des opus
nicht vor sich her und in ein Jenseits abschieben; der Mut zum Jetzt (zum
Setzen des Jetzt), zum Einschneiden in die Unschuld des natürlichen Seins
und zu dem sich ihm Zumuten (der Mut, als Zumutung zu sein: sein Sein der
atomen Subjektivität darleben)', das Emstmachen damit, mit dem opus anzu­
fangen, dadurch, daß man ihm »unverschämterweise« das schon Erfülltsein

62 Die hier gemeinte Wahrheit ist dabei nicht eine abstrakte, prinzipielle (sein sollende, »höhere«)
Wahrheit, an der die Wirklichkeit zu messen wäre, sondern die Wahrheit, die ich bin oder die das
Wirkliche ist. Jung: »Ob (die Geschichten, die ich erzähle) wahr sind, ist kein Problem. Die Frage
ist nur, ist es mein Märchen, meine Wahrheit?« Die Einfachheit des Wahren ist immer schon die
dialektische Einheit von Dichtung (Schein) und Wahrheit sowie von Wahrheit (als Allgemeinem)
und Wirklichkeit (als einzelnem faktischem Sein, welches in dem betonten »meine [Wahrheit]«
zum Ausdruck kommt). Für die Gesinnung der Wahrheit ist das Meinsein wichtiger als die Be­
wertung: wichtiger, daß ein Gefühl, eine Meinung, eine Tat tatsächlich die meinen sind, als daß
sie vielleicht »falsch«, dumm, primitiv, schlecht sind. Eben: »Hier stehe ich! Ich kann nicht an­
ders. Gott helfe mir. Amen.« Zur Gesinnung der Wahrheit gehört die Einfalt, die Ungeschützt-
heit. Die Wahrheit ist nackt. Wer auf sie baut, gibt sich eine Blöße, weil er sich auf nichts anderes
und Solideres als den Schein dessen, was sich ihm zeigt, beruft.
63 Stichwörter: »Transgression« (Hillman), Initiation, »Individuation« (Jung). Theräpeia und religio
(sowohl als sorgfältiges - rite - Beachten, hier aber mehr noch als bindende Verpflichtung) haben
auch hier, und hier sogar in noch höherem Maße als oben, ihren Platz.
64 Oben war es die Verwundung durch das Andere als Animus, Logos, Reflexion und das sich als
der Ichpersönlichkeit, die man unreflektiert immer schon war, Bewußtwerden (Entzweiung als
sich »objektiv« Gegenübertreten). Hier ist es das Auftauchen des Anderen als der »Größeren Per­
sönlichkeit« (und der Göttlichkeit des Menschen) im Sinn einer Erfahrung in der Anima-Sphäre
und die dadurch erfolgende Relativierung der Ichpersönlichkeit. Hier ist also das Andere
objektiv-inhaltlich das Andere der Ichpersönlichkeit selbst (Entzweiung als Entdeckung »Zara­
thustras«, welcher für sich Raum in mir und meinem Leben beansprucht), während es dort
logisch-formal das Andere (nicht der Ichpersönlichkeit selbst, sondern) für den animahaften Sta­
tus des Insicheingesponnenseins der Ichpersönlichkeit war.
des doch erst anzustrebenden Ziels voraus setzt und sich herausnimmt, sich
ohne jegliche Gewähr im erstmaligen Beschreiten des Wegs auf das Ziel zu
bereits auf den Standpunkt des Zieles als eines schon erreichten zu stellen
(wodurch das Anfängen erst wirkliches Anfängen, wirkliches inire [Initia­
tion] wird); Entschlossenheit als das den Schluß (das finale Ende) zum An­
fang gemacht Haben; nicht die anscheinende »Illegitimität« der Vorausset­
zung, ein Kind Gottes zu sein, scheuen (»wirkliche Psychologie«),
♦ Haltung der Empfänglichkeit oder des Vernehmens: kraft der das Bewußt­
sein, ob es will oder nicht, das Jeweilige dann auch vorbehaltlos bis zum bit­
teren Ende (telos) auskosten und durchleiden muß, wodurch das Bewußtsein
in die Tiefe der Gegenwart gezwungen wird (»77e/e«psychologie«) und den
Sinn, der sich ihm aus ihr zuspricht,65 zu vernehmen vermag (Psychologie
des »Wortes«, des sprachlichen Verfaßtseins der Wirklichkeit); umgekehrt
gesagt, wodurch die Gegenwart in ihrer Tiefe sich dem Bewußtsein ein­
schneidet.66
♦ Gesinnung der Indirektheit, der achtungsvollen Distanz: ein Denken, das
innerhalb seiner selbst - also indirekt, ohne gezielten Zugriff auf das außer­
halb seiner liegende Reale in seiner Positivität - im bloßen Umkreisen (cir-
cumambulatio) oder Umsprechen des Wirklichen67 Wirklichkeit (den wirkli­
65 Als seelisch apperzipierte spricht die Wirklichkeit. Sie begegnet als Sprache, als Wort.
66 Indem sich der urbildliche Sinn der jeweiligen Gegenwart so dem Menschen inskribiert (ins
Fleisch schneidet), kann die aus ihr sich zusprechende göttliche Wahrheit in dem Menschen und
durch ihn hindurch zum Scheinen, ihr archetypisches Inbild in ihm zum Leuchten kommen; in­
dem der Mensch die Gegenwart »am eigenen Leibe« erfährt (vom Leben eingeschnitten be­
kommt) und aufhört, selber über die gegenwärtige Wirklichkeit reden, selber seine Sätze über sie
ihr entgegensetzen zu wollen, wird die Gegenwart zum Aufschließen dieser ihrer Tiefe und
Wahrheit (ihres urbildlichen Sinnes) freigegeben. Dabei ist die Erfahrung der göttlichen Wahrheit
der Gegenwart (oder ihrer Wahrheit als Gott) die Erfahrung des das wirklich gelebte Leben be­
stimmenden Weltumgangs des Menschen dieser Gegenwart oder des ganzen konkreten Weltbe­
gegnungszusammenhangs (Weltauseinandersetzungsprozesses) selber, welcher gewöhnlich gera­
de nicht erfahren wird und nicht erfahrbar ist, weil der Mensch innerhalb seiner steht und nur in­
nerhalb und vermittels seiner alles, was ist, wahmehmen kann; welcher freilich als solcher alles
gewöhnliche Erfahren umgreifende und stiftende Zusammenhang doch auch seinerseits aus der in
letzter Tiefe erfahrenen Wirklichkeit dem (zu einer Erfahrung in solcher Tiefe fähigen) Men­
schen, seine gewöhnliche Erfahrung durchbrechend und ihn selber entgrenzend, entgegenkommt,
sei es gestalthaft (als Gott oder Götter), sei es als der Goldgrund oder das goldene Licht der Welt
oder sei es als Sprache (das Wort, der Logos).
67 Das Korrelat des - dank des unerbittlichen Eingeschlossenseins in das Jeweilige - in seine Tiefe
Gezwungenwerdens (die sich ins Fleisch einschneidende Strafmaschine Kafkas) ist das gerade
von Indirektheit und Distanzhaltung bestimmte, seine Mitte frei lassende, aussparende Umkreisen
dieses Jeweiligen. Unser Inskribiertwerden durch das, was ist, und sein in unserem es Umspre­
chen Unangetastetbleiben sind das Selbe (wenn auch nicht das gleiche): begreifende Erfahrung
der Wirklichkeit, so wie umgekehrt der direkte positivistische Zugriff (das Sich-Einschießen) auf
die Realität (nicht »Wirklichkeit«) einerseits und das methodische Sich-Heraushalten und von der
Erfahrung Unberührtbleiben andererseits korrelieren, welche den distanzierten Beobachter in der
wissenschaftlichen Forschung wie ebenso den Techniker auszeichnen. In diesen Verhältnissen
macht sich überall der dialektische Widerspruch geltend.
chen Menschen, das Individuum ineffabile, das wirkliche Phänomen in seiner
unverwechselbaren Einmaligkeit, die wirkliche Welt) wirklich erreicht, inso­
fern a) Wirklichkeit, als die Einheit des Inneren und des Äußeren, nichts an­
deres ist als die zusammen mit dem ganzen Weltumgang selber und von ihm
her begriffene Realität68 und insofern b) erst mit dem Gewahren seines ihn
sonst nur unbemerkt umgreifenden Weltumgangs im ganzen als eines sol­
chen der Mensch das, was wir psychologische Bewußtheit nennen, erreicht
und wahrhaft Mensch wird (existierender Begriff; Eintritt in den »pneumati­
schen« logischen Status des Bewußtseins), womit zugleich die Psychologie
wahrhaft kritische Psychologie wird, nämlich »komplexe Psychologie«
(Jung; besser wäre »konkrete Psychologie«).69*
Es versteht sich, daß die so begriffene Psychologie nicht wie jede andere
Wissenschaft oder Technik einfach erlernt werden kann. Sie erfordert etwas Un­
erhörtes, ein anderes, gewandeltes: ein revolutioniertes Sein (Bewußt-Sein) des
Menschen, das nur entsteht durch einen Tod seiner als Bewußtsein, z.B. durch
ein als dasjenige Bewußtsein, das sich nur als innerweltliches Lebewesen ver­
steht, Sterben und ein über dieses (über sich) Hinauswachsen zu einem wirkli­
chen Begreifen seiner selbst sowie der Wirklichkeit als des Weltbegegnungszu­
sammenhangs und damit als immanenter Transzendenz. Daher ist es nicht mög­
lich, die Psychologie allein mit methodischen Begriffen (als Verfahrens- oder
Betrachtungsweise) zu definieren, schon gar nicht, sie nur inhaltlich von einem

68 Die Realität (die positivierte Welt) ist also nur Moment der Wirklichkeit, was man sich aber nicht
wie eine Art Bestandteil oder Baustein in der Wirklichkeit vorstellen darf, sondern begreifen muß
als ein solches »Ingredienz« in Anführungszeichen, das, für sich genommen, Wirklichkeit gerade
überfliegt (ihr so transzendent ist).
69 So freilich, daß der das jeweilige Reale immer umgreifende Weltauseinandersetzungsprozeß gera­
de nicht als der äußere längst bekannte Rahmen oder große Hintergrand für das Begreifen des Je­
weiligen, insofern dieses auch tatsächlich Wirklichkeit und nicht bloße positivierte Realität ist,
fungiert, sondern gerade nur »im kleinen« als besondere Erfahrung in der (doch in Wahrheit von
ihm allseits umgriffenen) Welt erfahren wird, als etwas, das quasi »gegenständlich« (genauen als
übergegenständlicher Gegenstand) vor einem aus der eigenen innersten Mitte und Tiefe des je­
weils erfahrenen einzelnen Realen überhaupt »erstmals« und ursprünglich hervorleuchtet (in ur­
sprünglicher Frische - »so herrlich wie am ersten Tag« - aufbricht) und so im Erfahren- und Be­
griffenwerden das begreifende Bewußtsein selber ergreift und durchherrscht. Weil das Verhältnis
dialektisch-widersprüchlich ist, indem das alles Übergreifende nur als »Kleines«, scheinbar »In­
nerweltliches« (freilich innerweltliches Ewramundanes, immanente Transzendenz, diesseitiges
Jenseits) erfahrbar ist, ist die Erfahrung auch auf das unerbittliche Eingeschlossensein in dem Je­
weiligen und das rückhaltlose Durchleiden seiner angewiesen. Nur das von der Ananke unaus­
weichlich in die Enge seiner wirklichen Gegenwart getriebene Bewußtsein kann den Okeanos als
den »Weltumringler« und den »Ursprung von allem« - den menschlichen Weltumgang oder
Weltbegegnungszusammenhang / Weltauseinandersetzungsprozeß als solchen - erfahren und
wirklich erfahren (nicht nur »glauben« oder behaupten oder erträumen), während das aus seiner
wirklichen Situation in die Weite des Wünschbaren und an die Ränder der Welt ausschweifende
Bewußtsein den (doch gerade als der äußerste Rand der Welt angesetzten) »Bitterfluß« und »Va­
ter der Götter«, wie der Urozean auch genannt wird, nie zu Gesicht bekommt
schon abgesteckten Gegenstandsfeld her zu bestimmen, sondern nur so, daß sie
als die Doppelheit oder richtiger widersprüchliche Einheit von methodischem
Standpunkt und sittlicher Haltung, von (prinzipieller) Sehweite und (wirkli­
chem) eigenem Sein begriffen und gelebt wird.70
Beisichsein im Anderen: Hölderlin. Nach diesem Exkurs über die Frage
»Was ist Psychologie?« folgt nun ein weiterer, in dem versucht werden soll, das
Beisichsein im Anderen ganz knapp am Beispiel Hölderlin zu illustrieren, so­
wohl mit seinen theoretischen Ausführungen als auch mit dem, was seine Dich­
tung und Sprache wirklich leistet. Mit dem Absturz auf die Stufe der Syzygie,
die nur noch zu denken, nicht mehr vorzustellen ist, verliert man sich nicht im
Abstrakten. Die Syzygie enthält ja auch die Anima, das Imaginale. Das vormali­
ge abstrakte Denken, das aber nur abstrakt war, weil es animahaft der Stufe der
Momente verhaftet blieb, kann daher in der Syzygie zur Sinnlichkeit und zum
Bild zurückkehren. Nur der Status, auf dem sich das Denken jetzt bewegt, ist ein
nicht mehr gegenständlicher, nicht mehr logisch unschuldiger. Er ist ein Status,
der um die Status und den Bruch vom einen zum anderen weiß.
Hölderlin, wie nur kurz angedeutet sei, spricht von einem Zusammen­
hang, den er das Harmonisch-Entgegengesetzte nennt (»Über die Verfahrens­
weise des poetischen Geistes«). Es ist also eine Gegensatzspannung, die zu­
gleich eine Harmonie darstellt. In diesem Harmonisch-Entgegengesetzten findet
nun ein Austausch, eine Verschränkung, statt. Dies ist ganz offensichtlich ein
Denken nicht nur innerhalb der Syzygie (denn alles Denken und Erleben spielt
sich innerhalb ihrer ab), sondern unter ihrer ausdrücklichen Ägide. Mit dem Ge­
danken des Austauschs innerhalb des Harmonisch-Entgegengesetzten stellt sich
Hölderlin dem Geschehen der Geschichte, das er freilich nicht im Bild von Stu­
fen, sondern von nationalen Begabungen faßt. Er vergleicht die Situation von
uns Modernen mit der der Griechen. Den Griechen war der Zugang zum My­
thos, zu den Göttern, gleichsam angeboren. Hölderlin spricht von der »Innig­
keit« oder dem »heiligen Pathos«, das ihnen das Natürliche war. Mit Jungs Aus­
druck können wir sagen, daß den Griechen die Urerfahrung unmittelbar zugäng­
lich war. Für Hölderlin ist nun aber nichts schwerer zu lernen als der freie Ge­
brauch des Nationellen, also des Angeborenen. Deswegen waren die Griechen
die Meister - gerade nicht der Urerfahrung, also ihres Eigenen, sondern der
Form, weil sie sich die ihnen fremde »junonische Nüchternheit« für ihr heiliges
Pathos zu erbeuten und so wahrhaft das Fremde sich anzueignen wußten.
Bei uns ist es umgekehrt. Weil uns von Haus aus die junonische Nüch­
ternheit, psychologisch gesprochen also die Kraft des Animus, zu eigen ist, ist
der freie Gebrauch dieses unseres Eigenen das schwerste. Wir (und das gilt be-

70 In dieser widersprüchlichen Einheit drückt sich die Syzygie aus: im methodischen Standpunkt
macht sich überwiegend das Anliegen des Animus geltend, in der sittlichen Haltung überwiegend
das Anliegen der Anima, beides freilich nicht ohne die syzygische Verschränkung mit dem je­
weils Anderen.
sonders für die Psychologie) neigen deswegen zuerst immer dem uns eigentlich
Fremden zu, den zeitlosen Sinngehalten und mythischen Bildern, dies sogar
dann, wenn wir uns, wie die wissenschaftlicher Moderne insgesamt, der Nüch­
ternheit verschreiben, weil an der modernen Nüchternheit ja gerade die Verfal-
lenheit des Animus an die Anima auftrat. Hölderlin erkennt nun, daß das Erler­
nen des freien Gebrauchs des Eigenen, also der junonischen Nüchternheit, unse­
re eigentliche Aufgabe ist.71 Dieser freie Gebrauch würde sich als zu sich selbst
gekommene logische Form zeigen.
An dieser Stelle ist ein Vergleich mit Jungs Konzeption aufschlußreich.
Auch er kennt ja eine Verschränkung innerhalb der Syzygie: die weibliche Ani­
ma ist im Mann, der Animus in der Frau. Was bei Jung dagegen fehlt, ist der
Gedanke, daß der freie Gebrauch des Eigenen das Ziel sei. Jungs Ziel ist ganz
direkt, einsinnig, der Bezug zu dem je Fremden. Der Mann muß seine Anima
entwickeln - dies ist das Meisterstück der Psychotherapie - , die Frau ihren Ani­
mus. Darin zeigt sich die Unmittelbarkeit - und das Verpassen der Syzygie als
solcher. Diese wird platt als einfache Vereinigung der Gegensätze begriffen, wo
sie doch dialektisch die Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit der Gegensät­
ze sein müßte. Diese dialektische Komplikation ist bei Hölderlin ausgesprochen,
von dem her gesehen der Weg des Mannes zur Anima gerade nicht das Meister­
stück, sondern nur das Erste und Leichte wäre. Das Meisterstück ist der freie
Gebrauch des Eigenen, welcher aber seinerseits nicht unmittelbar angestrebt
wird, sondern das »Strömen« auf das »Fremde« zu voraussetzt und in sich ent­
hält. Dadurch wird die Syzygie erfüllte Syzygie.
Freilich mußte die Beziehung des Mannes zur Anima Jung als kaum zu
erreichendes Meisterstück Vorkommen, weil er - in der Standard-Version seiner
Lehre - Anima und Animus auf die Männer und Frauen verteilt hatte, was, wie
wir gesehen haben, zu einer aporetischen Situation führt.
Hölderlin hat sich der Aufgabe, den freien Gebrauch des Eigenen zu erler­
nen, selbst unterzogen. Er hat sich nicht umstandslos der Urerfahrung zuge­
wandt, vor deren Unmittelbarkeit er im Zusammenhang mit seinem Empedo-
kles-Drama als dem »Übermaß der Innigkeit« warnte, genauso, wie er umge­
kehrt auch die Gefahr eines Übermaßes der Nüchternheit erkannte. Er erarbeite­
te sich mühsam eine logisch-poetisch aufgeklärte Dichtersprache, die sich in ihr
selbst von sich selbst abgestoßen hat und von der Rilke daher sagen konnte:
die Zeile schloß sich wie Schicksal, ein Tod war
selbst in der lindesten... (An Hölderlin)

Seine Sprache ist nicht unmittelbare Rede. Hölderlin spricht zugleich als
wirklicher Mensch und als bereits Gestorbener.72 Mit dieser Sprache gelang
71 Hölderlin, Brief an Böhlendorff, 4. Dez. 1801.
72 Zu diesem ganzen Thema siehe Bruno Liebrucks, »Und«. Die Sprache Hölderlins in der Spann­
weite von Mythos und Logos, Realität und Wirklichkeit, Band 7 von »Sprache und Bewußtsein«,
ihm, nicht eine Remythisierung, sondern ein wirklich neuer Mythos. Er ver­
mochte diese unsere moderne Welt (in ihrem neuen logischen Status) in sinnli­
chen Allgemeinbegriffen, im universale fantastico Vicos, in mythischen Gestal­
ten wahrzunehmen. Er hat die moderne Situation aufgenommen, an ihr ange­
knüpft. Er hat sie nicht kompensiert. Er ist in die Nacht des Abendlandes, in der
die Welt als bloß empirische in stummer Dinglichkeit vor uns liegt, hineinge­
gangen und hat das moderne empirische Sehen als Blindheit erkannt.
... Sie haben mein Auge
M ir genommen. (Elegie Vers 51f.)

Damit vollzieht Hölderlin wie Hegel, aber auf seine Weise, die Aufklä­
rung der Aufklärung, die Reflexion der Reflexion. Der Grund der modernen
Zerrissenheit wird nicht nur inhaltlich als die Nacht der Todesgötter behauptet,
sondern auch logisch-poetisch als solche erkannt. Die Todesgötter werden von
der Seele gestalthaft erfahren. Und wie bei seinem Jugendfreund Hegel das Be­
wußtsein in der Zerrissenheit das Glück des (Hegelschen) Begriffs erfährt, so er­
fährt bei Hölderlin die Seele in der Nacht, inmitten der nigredo, die aurora con-
surgens als die Erhebung ihrer natürlichen und geschichtlichen Welt in das Licht
des Tages. So ruft er Germanien zu (was wir auch als Aufruf an uns verstehen
dürften, wenn wir nur die logischen Mittel dazu hätten):
O trinke Morgenlüfte,
Biß daß du offen bist,
Und nenne, was vor Augen dir ist.
(Germanien, Vers 81 ff.)

Hölderlin hat aber auch im Gedicht ausgesprochen, daß die Morgenlüfte


nicht einfach schon mit der »transzendentalen Empfindung« da sind, sondern
nur, wenn da einer ist, der

Erwäget, was sie sind und begreift.


(Patmos, spätere Fassung, Vers 166,
meine Hervorhebung.)

Hölderlins Gedichte sind so philosophisch-logisch wie sie dichterisch


sind.
Bis dahin, wo wir offen sind und nennen können, was vor Augen uns ist,
mag noch viel Zeit vergehen, denn dies wäre nichts anderes als die wirkliche
Wiedergewinnung des sympathetischen Weltzustands. Einstweilen müssen wir
uns freilich mit einer bescheideneren Einsicht begnügen, mit der Einsicht, daß

— ~ — —— (Forts.)
Bern u.a. (Peter Lang) 1979, dem ich viel für mein Hölderlin-Verständnis verdanke und an dessen
Darstellung meine Ausführungen sich vielfach anlehnen.
wir niemals aus dem sympathetischen Weltzustand herausgefallen sind und nie­
mals aus ihm herausfallen können, genausowenig wie aus der Syzygie. Gerade
wenn das Band zwischen Mensch und Welt zerrissen ist, bestätigt sich die Sym­
pathie von Mensch und Welt: der stummen Dinglichkeit der Welt draußen ent­
spricht sympathetisch das stumme, isolierte, in sich uneins gewordene Subjekt.
Wir müssen den Mythos nicht suchen. Wir leben längst in ihm, heute freilich
nicht mehr im Homerischen, sondern (noch) in dem, der formale Logik heißt
und der sich dank der unbewußten Animaverfallenheit des Animus nicht für ei­
nen Mythos, sondern für die schlechthinnige Wahrheit hält. Wir müssen dies nur
logisch begreifen. Dann könnte uns vielleicht sogar inmitten der Nacht, die die­
ser unser wirklich gelebter Mythos ist, wie Hölderlin das Licht des Tages aufge-
hen.
II. Teil
Wesen und Erscheinung des Animus
(Animus-Phänomenologie)

Der Animus als Negation und als das Andere der Seele:
Die dreifache Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen

Um das, was der Animus im tiefsten ist, zu sehen, ist es ratsam, mit den
Bildern zu beginnen, in denen er sich in seiner äußersten Konsequenz zeigt,
auch wenn das nicht die Form ist, in der er sich üblicherweise zeigt. Dieser sei­
ner extremsten Form sind wir schon in dem Zitat von Marie-Louise von Franz
über den Animus als Blaubart begegnet: dem Animus als Mörder. Als von Franz
davon handelte, sprach sie nicht einfach vom »Mörder«. Sie sagte: »Mörder und
nichts weiter«. Wir haben uns damit schon befaßt. So sehr diese abqualifizieren­
de Rede eine Abwehr des Phänomens ist, so hat sie sich doch gezeigt, auch (als
diese Abwehr) selber zu dem Phänomen zu gehören und etwas Entscheidendes
über dieses zu offenbaren: ist die Anima nämlich der Archetyp der Bilder und
Mythen, der Substanzen und Gehalte, der Vergegenständlichung oder Personifi­
zierung, so hat der Animus sein Wesen gerade darin, nichts Positives zu sein,
nicht etwas, das wie die Anima wäre und neben ihr (wie der Bruder neben der
Schwester) als eine lediglich mit anderen substantiellen Qualitäten ausgestattete
Gestalt bestünde. Er hat überhaupt keinen eigenen substantiellen Gehalt, kein ei­
genes qualitatives Wesen. Er ist nicht einfach anders, sondern er geht im tiefsten
darin auf, das schlechthin Andere der Anima »und nichts weiter« zu sein. Er ist
primär die reine Negation, das Un- oder Nicht-. Eben deshalb erscheint er, wenn
er als mythische Gestalt auftritt und bildhaft geschildert wird, charakteristischer­
weise als Mörder. Es wäre ganz streng genommen nicht einmal sinnvoll, ihn als
den »Geist, der stets verneint« zu bezeichnen, weil diese Formulierung ihm noch
ein eigenes substantielles Sein zuschriebe, nur mit der Besonderheit, daß er dazu
auch noch die Wesensart der oder die Neigung zur Verneinung hätte. Der Ani­
mus ist aber nicht zuerst ein seiender Geist (so wie Gespenster, Engel usw.
Geister sind), der dann auch noch zu verneinen liebt. Er ist das Verneinen selbst
»und nichts weiter«; er ist nicht so sehr Killer, als vielmehr die reine Funktion
des Tötens. Und diese substanzlose Negativität »und nichts weiter« zu sein, das
macht gerade das Wesen des Geistes aus.
Der Animus ist daher an ihm selber nichts. Als reiner Geist, reine Vernei­
nung, ist er, um selbst etwas zu sein, darauf angewiesen, daß es etwas zu Vernei­
nendes gibt. Dieses Angewiesensein ist der Grund der Syzygie - oder hat seinen
Grund in der Syzygie. Die Ehe zwischen zwei Menschen ist als soziale Institu-
tion eine kontingente Verbindung. Da haben sich zwei Personen »zufällig« in­
einander verliebt und beschlossen zu heiraten, wenn es nicht gar aus anderen
ganz äußerlichen Bedingungen (Geld, Familien- und Standespolitik usw.) zur
Eheschließung kam. Es hätte prinzipiell immer auch ein anderer Partner sein
können - oder gar keine Vermählung geben müssen. Deshalb kann die Ehe auch
geschieden werden und kann der Geschiedene sich wieder neu vermählen. Die
Verbindung ist, da sie auf einer Partnerwahl beruht, willkürlich und bleibt den
Verbundenen äußerlich. Nicht so bei der Syzygie. Hier liegt die syzygische Ver­
bundenheit mit der Anima schon im Begriff des Animus, insofern er »nichts als«
ihr eigenes Anderes, als ihre Verneinung ist. Es ist dem Animus wesentlich, mit
der Anima zusammengeschlossen zu sein.
Insofern dürfen wir den Animus nicht isoliert betrachten. Wir müssen ihn
immer innerhalb der Syzygie und als den einen Pol dieser sehen. Daher gilt es,
das ganze Wechselspiel zwischen Anima und Animus oder das Verhältnis der
Seele (als Animus oder Töter) zu ihr selbst (als Anima oder Opfer) in den Blick
zu fassen, mitsamt den Spielarten dieses Verhältnisses. Ich unterscheide drei
Stellungen der Seele zu ihrer Erfahrung ihres eigenen Anderen, wobei jeweils
das ganze Verhältnis von Anima und Animus bald mehr unter der Ägide des ei­
nen, bald mehr unter der des anderen Pols seiner selbst stehen kann.
Die I. Stellung: Verschwinden und Hochzeit mit dem Tode. Zur
Anima-Stufe gehört das Einbehaltensein in den natürlichen Ablauf der Dinge
und das Pieroma der Seele, es gehört zu ihr das Hingegebensein an das, was je­
weils ist, die Participation mystique und das sympathetische Welterleben, so wie
zur Anima als Gestalt Verführung, von ihr Verführtwerden und Fasziniertsein
gehören. Die Anima ist laut Jung rachlose Natur, und innerhalb ihrer Sphäre ist
auch die Welt ruchlose Natur, reines Geschehen und Sich-Wandeln. Wenn in ihr
die Tiere einander fressen, vielleicht sogar einander ausrotten (viele kleinere Ar­
ten auf Südseeinseln sind infolge des Eindringens von Ratten ausgestorben),
wenn Waldbrände, Vulkane, Wirbelstürme, Überschwemmungen, Erdbeben,
Meteoreinschläge ungeheure Verwüstungen anrichten und der Erde im weitesten
Sinn tiefe Wunden schlagen, so fällt dieses von uns aus gesehen brutale Gesche­
hen doch nicht aus dem ungestörten Ablauf der Natur heraus. Auch die größte
Katastrophe verbleibt in der Unschuld des Werdens, im Pieroma des Seins. Die
Verwüstung ist selber nur wieder ein neues, nur ein anderes archetypisches Na­
turereignis, genauso »legitim« (ein allerdings von außerhalb dieser Stufe an sie
herangetragenes Wort), genauso gehaltvoll, sinnträchtig und göttlich wie beseli­
gende Ereignisse, was man aus Taten und Charaktereigenschaften der Götter in
der polytheistischen Götterwelt ersehen kann. Geburt und Tod, Wachsen und
Welken, Blühen und Verwüstung, Liebe und grausame Gewalt sind ein in sich
einhelliger Zusammenhang. Auch im menschlichen Bereich verursacht auf der
Anima-Stufe die Gewalt (als Opfertötung, Blutrache, Totschlag, Massaker,
Krieg) zwar Wunden, aber keinen Brach des grundsätzlichen Einsseins mit dem,
was ist und geschieht. Die Störung bleibt bloß ontische, inhaltliche Störung des
Jeweiligen, sie wird nicht zur ontologischen Störung, nicht zur Störung der
»Welt« in ihrem Begriff oder der »Weltordnung« (»Kosmos«: Ordnung,
Schmuck), d.h. des erlebten, das ganze Sein des Menschen tragenden Sinnzu­
sammenhangs. Die menschliche Reaktion auf Unglück ist daher einfache Trau­
er, einfacher Schmerz, nicht Kränkung, Verdruß, Empörung. Ob man gerade auf
der Sonnenseite des Lebens steht oder durch das finstere Tal der Tränen wan­
deln muß - die grundsätzliche »Gottergebenheit« hält sich durch.
Der Erdgeist in Goethes Faust drückt den Charakter dieser Stufe aus: »In
Lebensfluten, im Tatensturm / Wall’ ich auf und ab, / Webe hin und her! / Ge­
burt und Grab, / Ein ewiges Meer, / Ein wechselnd Weben, / Ein glühend Leben,
/ So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und wirke der Gottheit leben­
diges Kleid.« Man darf sich nicht dadurch beirren lassen, daß der Erdgeist
männlich ist, er ist unbeschadet seines Geschlechts eine Manifestation der
Anima-Stufe, wenn auch nicht eine Anima-Gestalt.
Wenn in dieser Stufe der Animus als das (der Seele eigene) Töten der
Seele (Anima) auftritt, dann kann dem Charakter dieser Stufe entsprechend hier
offenbar noch kein Gegensatz zwischen beiden Polen erlebt werden. Es kann
hier nicht einen unerträglichen Konflikt der Interessen, nicht ein fundamentales
Erschrecken und Sich-Widersetzen geben, obwohl doch der Animus auch hier
schon das schlechterdings Andere, und d.h. Negation, Tod, ist. Tritt unter der
Ägide der Anima (also auf der Anima-Stufe) das Andere auf, dann neigt sich die
Anima ihm zu. Sie geht hier mit der durch das Auftauchen dieses Moments an­
gezeigten Bewegung zum Tod einfach mit, ohne ihm einen Widerstand entge­
genzusetzen. Das Andere wird nicht als brutale Gewalt, Einbruch, Bedrohung
apperzipiert. Indem die Seele als Anima sich mit dem Animus selber die Erfah­
rung des Todes zufügt, bleibt sie gleichwohl im Einklang mit sich. Es kommt
nicht zur Entzweiung oder Selbstentfremdung.
Die Erscheinung des Animus scheint hier also selber beinahe nur so etwas
wie eines der vielen Ereignisse der polytheistischen Anima-Sphäre zu sein, inso­
fern er der Anima noch nicht schroff als von außen in sie einschneidendes Ge­
schehen zustößt, sondern in dem natürlichen Fluß des Geschehens einbehalten
bleibt. Und doch muß man schon von einer Manifestation des Animus sprechen.
Er hat, obzwar innerhalb der Anima-Welt verbleibend und aus ihr heraus auftre­
tend, doch auch schon den Charakter des wahrhaft Anderen, Ver-nichtenden,
des Geistes im Gegensatz zum Natürlichen. Wir dürfen diesen Widersprach
nicht eliminieren oder mildem wollen. Wir müssen ihn gerade als das erkennen,
worum es hier geht.
Ich möchte die erste Stellung der Seele zur Erfahrung ihres Anderen an
Beispielen verdeutlichen.
Im Buch Tobias aus den alttestamentlichen Apokryphen ist Sara, die
Tochter Raguels, in der Meder Stadt Ekbatana, in einer fürchterlichen Situation.
Man hatte ihr nämlich sieben Männer nacheinander gegeben, und ein böser
Geist, Asmodi genannt, hatte sie alle getötet, als sie - in der Hochzeitsnacht -
zum Beilager zu ihr kamen (Tobias 3:8). Jetzt wird sie von ihrer Magd als
»Männermörderin« beschimpft. Soweit dieses kleine märchenhafte Stück aus
dem Tobias-Buch, das zu dem Märchen-Typus AT 507A gehört. (Ich beschrän­
ke unsere Betrachtung der Tobias-Geschichte auf diesen kleinen Ausschnitt der
ganzen Erzählung, weil dies der Teil ist, der sich mit den später zu besprechen­
den Märchen unter der n. und III. Stellung vergleichen läßt.) Von der orthodo­
xen Theorie der Jungschen Psychologie her ist Sara eindeutig das Bild einer ani­
musbesessenen Frau. Wir sollten uns nicht bei der - sicher richtigen - Diagnose
und dem Wort »Animusbesessenheit« beruhigen, sondern die Logik des hier Ge­
schilderten herauszuarbeiten suchen. Und wir sollten nicht mit aus dem Alltags­
leben genommenen Interessen und Wertungen an die Erzählung herantreten (wo
es dann klar wäre, daß Sara doch eigentlich hätte eine dauerhafte Ehebeziehung
haben sollen und das Nichtzustandekommen einer solchen auf eine »Störung«
der Persönlichkeit zurückzuführen ist), sondern sie mit dem Blick auf die Be­
dürfnisse der Seele betrachten. Unsere Frage muß sein: was macht sich die Seele
selber mit diesem Geschehen erlebbar, welche Erfahrung bringt sie sich bei, in­
dem sie den Geist Asmodi in sieben Hochzeitsnächten sieben Bräutigame töten
läßt? Was hier geschieht, ist psychologisch betrachtet nicht »falsch« (das ist es
nur unter sozialen oder ichhaften Gesichtspunkten), es ist eine »legitime« Mani­
festation des Animus.
Zunächst fällt auf, daß Sara nicht einfach ein männerfeindlicher Blau­
strumpf oder eine Amazone ist. Sie will (und soll auch von ihrer Familie her)
heiraten. Mit unglaublicher Beharrlichkeit wird die Beziehung zum Mann ange­
strebt und bejaht. Und daß bei ihr oder in ihr der Geist Asmodi tätig wird, zeigt,
daß eine tiefe Beziehung zum Männlichen auch wirklich besteht. Das Besondere
dieser Beziehung ist nur, daß sie eine Beziehung zum Männlichen - nicht als
Mann und im Fleisch, sondern - als Geist ist. Was von unseren menschlichen
Interessen her als großes Unglück erscheint, ist von der Seele her ein Ereignis,
in dem diese sich selbst die Erfahrung ihres eigenen Anderen, des Geistes, zu­
fügt. Unter der Ägide der Anima ginge es in der Beziehung des Weiblichen zum
Männlichen um die Erfüllung. Natürlicherweise würden der Mann sich in der
Frau, die Frau sich im Manne finden. Die geschlechtliche Vereinigung bliebe
auf der Anima-Ebene durchaus nicht rein sexuell. So wie vielmehr Faust nach
Einnahme des Liebestrunks Helenen in jedem Weibe sehen kann, so läßt die
Anima den Mann in seiner realen Geliebten und die Frau in ihrem realen Gelieb­
ten immer auch das göttliche Urbild, also etwas Ideelles, erleben. Das Ideelle
hier bleibt jedoch animahaftes Ideelles: solches, das sich gerade in der leibhaften
Wirklichkeit erfüllt. Zur Anima-Sphäre gehört das sympathetische Welterleben,
bei dem im Realen des Ideale, im Irdisch-Natürlichen das Göttliche anwesend
und erfahrbar ist.
Hier dagegen wird die Ehe zwar geschlossen, aber nur als eine solche, die
nicht vollzogen werden und nicht zur Erfüllung führen kann. Die Ehe wird nicht
völlig vermieden. Es ist keine abstrakte Verneinung der Beziehung zum Männ­
lichen. Die Ehe findet sehr wohl statt. Aber sie findet statt nur als die Negation
ihrer selbst. Die Erwartung der Erfüllung wird zunächst genährt und dann aber
zugleich frustriert. Die Ehe, die hier geschlossen wird, ist von Hause aus keine
unmittelbare, natürliche Ehe mehr. Sie ist nicht-natürliche, aufgehobene Ehe, ei­
ne Ehe mit getöteten Gatten oder mit den Gatten als getöteten, d.h. als nicht
mehr Seienden. Nicht überhaupt keine Ehe, sondern sozusagen eine Un-Ehe: das
bestimmte oder negative Nichts (im Unterschied zum abstrakten Nichts) der im
Reisch vollzogenen Ehe. Die Bräutigame werden nicht einfach beseitigt, gleich
als ob es sie gar nicht geben dürfte. Es bedarf ihrer, und zwar durchaus im
Fleisch, aber nur, um an ihnen die Aufhebung des natürlichen Seins im Fleisch
ausüben zu können.
Man könnte denken, daß der Geist Asmodi, der von Sara Besitz ergriffen
hat, eifersüchtig auf die anderen Liebhaber ist und sie deswegen tötet. Er will sie
allein besitzen und duldet keinen anderen neben sich. Obwohl es in der Erzäh­
lung nicht näher ausgeführt wird, kann man davon ausgehen, daß dies impliziert
ist. Erzählungen übersetzen logische Verhältnisse in narrative, psychologisch
motivierte oder kausal determinierte Zusammenhänge und Handlungsabläufe,
wie sie dem natürlichen Vorstellen gemäß sind. Erzählungen qua Erzählungen
sind daher ihrem logischen Stil nach immer von der Anima geprägt. Die Deu­
tung der Erzählung muß diese Übersetzung rückgängig machen, wenn die Deu­
tung eine psycho-logische und das Verständnis von Psychologie eines sein soll,
nach dem der Animus in den Stil des psychologischen Denkens selbst hineinge­
lassen werden muß. Logisch betrachtet gibt es hier keine Eifersucht: weil es
nämlich gar keine zwei Parteien als Rivalen (hier Asmodi, da die Bräutigame)
gibt. Vielmehr ist das, was narrativ als Täter und Opfer auf zwei verschiedene
Seiten gestellt wird, in Wahrheit ein und dasselbe. Asmodi ist als Geist die Per­
sonifizierung des abgezogenen, abstrahierten Wesens der sieben Bräutigame, er
ist die Gestalt gewordene Aufhebung ihrer als natürlicher und im Fleisch vor­
handener. Geist ist das negierte, getötete, aufgehobene Natürliche, sein bloßes
Wesen (im Unterschied zu seiner leibhaften Existenz).
In der Realität wäre es kaum vorstellbar, daß eine junge Frau siebenmal
hintereinander in der Hochzeitsnacht vor Vollzug der Ehe ihren Bräutigam
durch Tod verliert. Schon nach dem zweiten, bestimmt aber nach dem dritten
Mal würden die Angehörigen stutzen. Man könnte ihr nicht mit gutem Gewissen
einen vierten, fünften, ja sechsten und siebten Mann geben. Hier jedoch ist keine
Rede von einem skeptischen Zögern. Einer nach dem anderen wird ihr angetraut
und stirbt. Die Zahl sieben ist daher nicht als empirische Zahl zu verstehen. Sie
ist symbolisch. Sieben Tage der Woche, sieben Metalle in der Alchemie, sieben
Tugenden und Todsünden, sieben Planeten - immer ist ein Ganzes, Vollständi­
ges angezeigt. Die Siebenzahl der Männer bedeutet entsprechend hier: die Män­
ner überhaupt. Sara heiratet dem tieferen Sinn nach nicht sieben einzelne Indivi­
duen. Sie heiratet überhaupt keinen einzelnen Mann als Individuum. Ihre Bezie­
hung ist vielmehr die zum Männlichen überhaupt. Asmodi ist demgemäß sozu­
sagen das alchemistische Destillat der Männer, die Essenz, das geistige Wesen
oder so etwas wie die platonische Idee des Männlichen. Und die real gesehen
eher absurde Siebenzahl bedeutet symbolisch die Aufhebung der konkreten Ein­
zelheit der realen Ehe zugunsten des abstrakt Allgemeinen.
Die Männer als natürliche, leibliche werden gleichsam verdampft. Sie
verschwinden. Aber sie verschwinden nicht total. Sondern sie wesen weiter in
dem Geist Asmodi, der nicht mehr, wie die seienden Männer, im Plural, son­
dern, als Nicht-Seiender (Geist, Wesen), nur noch im Singular vorkommt. Die
sieben Männer als Einzelne, d.h. alle Männer als Einzelne überhaupt, sind dem
Wesen des Männlichen als dem abstrakt Allgemeinen oder dem Gattungsbegriff
subsumiert worden. Es ist nicht einfach so, daß der Geist der Bräutigam oder
Gemahl von Sara ist und die sieben Männer es nicht wären. Denn dann wäre Sa-
ras »Partnerwahl« einfach nur auf einen »exotischen« statt auf einen »gewöhnli­
chen« Gatten gefallen, der Geist wäre einfach auf der Anima-Stufe ein (durch­
aus positives, wenn auch seiner Artung nach »zufällig« mythisches oder arche­
typisches) männliches Wesen neben anderen (positiven, nun aber empirisch­
realen) Männern, die grundsätzlich alle für eine Partnerwahl in Frage gekommen
wären. Beide Gruppen wären anders, aber wesenhaft gleichrangig. Asmodi kann
so nicht erfaßt werden. Damit das, was er ist, sichtbar werden kann, bedarf es
zusätzlich zu der Rede von ihm auch noch des Motivs der geheirateten und getö­
teten Männer. Asmodi ist nicht ein Exote unter Gewöhnlichen (wie es ein Mon­
gole oder ein Schwarzer unter Weißen ist), er gehört einer anderen logischen
Ebene an. Er ist nichts Eigenes, keine positive Gestalt, sondern er ist das getöte­
te oder aufgehobene natürliche Männliche. Die Doppelheit von Asmodi einer­
seits und sieben Männern andererseits ist nötig, um die logische Natur des Gei­
stes als Negativität und als Abstraktion (Asmodi) von dem Sinnlichen (den rea­
len Männern) sichtbar zu machen.
Die Erfahrung, die sich die Seele hier zufügt, ist also die des Un- oder
Nicht- im Sinn der Ver-nichtung und Ver-wesung oder Verwesentlichung des
natürlicherweise Gegebenen. Der Geist ist un-gegenständlich, un-greifbar, un­
sichtbar, un-sinnlich, un-vorstellbar. Um dies narrativ nahezubringen, braucht es
die ausdrückliche Tötung dessen, was greifbar und vorstellbar ist. Getötet wer­
den aber der Potenz nach nicht die realen Männer selber, sondern nur die Leben­
digkeit und Leiblichkeit des Gatten und die diesseitige Positivität der Ehe. Die
Erfahrung, die sich die Seele hier zufügt, ist näher die der Nicht-Erfüllung, des
Verlusts, Entzugs, des Unerreichbarwerdens, des Verschwindens, der Abwesen­
heit. Der Animus bewirkt das opus contra naturam. Er hält den natürlichen Ruß
der Energie auf. Er verhindert, daß sich das Verlangen einfach natürlicherweise
in die natürliche Erfüllung ergießt und sich für diese und in ihr verausgabt. Er
verhindert zwar nicht das Erreichen des Ziels (Ehe) überhaupt, aber er biegt die
Richtung, in der das Ziel zu suchen ist, um, so daß es auf einer qualitativ ande­
ren Ebene - in einem logisch anderen Status - liegt.
Das Entschwinden zeigt sich nicht nur an den Männern. Es zeigt sich auch
für die Umgebung der Frau an der Frau selber. Denn diese ist für Männer, viel­
leicht sogar für jedermann absolut unerreichbar, dem normalen Bezug zu ande­
ren entrückt. Am deutlichsten kommt dieses Entrücktsein der Frau selbst durch
den Animus in einer anderen Geschichte, einem Fallbericht, zum Ausdruck,
nämlich in Jungs Schilderung der Geschichte einer achtzehnjährigen katatonen
und mutazistischen Patientin, bei der er es nach vielen Wochen fertigbrachte, sie
zum Sprechen zu bringen.
Nach Überwindung heftiger Widerstände erzählte sie mir, daß sie auf dem M ond ge­
lebt hätte. Dieser sei bewohnt, aber zuerst hätte sie nur Männer gesehen. Die hätten
sie sofort mit sich genommen und in eine »untermondliche« Behausung gebracht, wo
sich ihre Kinder und Frauen aufhielten. Auf den hohen Mondbergen hauste nämlich
ein Vampyr, der Weiber und Kinder raubte und tötete, so daß das Mondvolk von
Vernichtung bedroht war. Das war der Grund für die »untermondliche« Existenz der
weiblichen Bevölkerungshälfte.
M eine Patientin beschloß nun, etwas für das Mondvolk zu tun und nahm sich vor,
den Vampyr zu vernichten. Nach langen Vorbereitungen erwartete sie den Vampyr
auf der Plattform eines Turmes, der zu diesem Zweck gebaut worden war. Nach ei­
ner Reihe von Nächten sah sie ihn endlich von fern wie einen großen schwarzen Vo­
gel heranschweben. Sie nahm ihr langes Opfermesser, verbarg es in ihrem Gewand
und erwartete seine A nkunft Plötzlich stand er vor ihr. Er hatte mehrere Flügelpaare.
Sein Gesicht und seine ganze Gestalt waren von ihnen bedeckt, so daß sie nichts se­
hen konnte als seine Federn. Sie war verwundert, und Neugier packte sie zu erfahren,
wie er aussähe. Sie näherte sich ihm, die Hand am Messer. Da öffneten sich plötzlich
die Flügel, und ein überirdisch schöner Mann stand vor ihr. M it eisernem Griff
schloß er sie in seine Flügelarme, so daß sie sich des Messers nicht mehr bedienen
konnte. Überdies war sie so gebannt von dem Blick des Vampyrs, daß sie gar nicht
mehr imstande gewesen wäre, zuzustoßen. Er hob sie vom Boden auf und flog mit
ihr davon.1

Diese Patientin war von dem Geist-Wesen völlig aus dieser Welt entrückt
worden und für die Menschen verschwunden, was sich nach außen in ihrem ka­
tatonen und mutazistischen Zustand unmißverständlich dokumentierte. Sie lebte
in Wahrheit auf dem Mond. Wie Asmodi in der Geschichte von Sara die Männer
tötete, so zeigt sich hier der Geist auch als Töter, indem er ein »normales«, na­

1 C.G. Jung, Erinnerungen Träume Gedanken, hg. A. Jaffd, Zürich und Stuttgart (Rascher) 1967, S.
135.
türliches Leben für die Patientin unmöglich macht und sie durch Katatonie und
Mutazismus für die Welt gestorben sein läßt. Aber so, wie wir bei Sara eine
Doppelheit konstatieren mußten, indem nämlich der Geist sowohl in der Tötung
der Männer als auch in Asmodi als der Aufhebung der natürlichen Männer zum
Ausdruck kam und Sara einerseits - natürlich betrachtet - unvermählt blieb, an­
dererseits jedoch mit Asmodi »verheiratet« war, so kommt an dieser Patientin
ebenfalls die Doppelheit zum Ausdruck. Sie lebt nämlich gerade als die psy­
chisch »Tote« als die Gemahlin des Monddämons in aller Pracht.
Der Vampyr wird als Töter geschildert. Die Idee der Bedrohung ist deut­
lich genug da. Aber entsprechend der Anima-Stufe kommt es nicht zu mehr als
einer Andeutung eines Konflikts. Die überirdische Schönheit des Dämons ist so
überwältigend, daß sich die Patientin von ihm (buchstäblich) einnehmen und für
ihn gewinnen läßt. Sie entschwindet mit ihm ohne Gegenwehr. Der Bezug der
Seele zum Anderen der Seele bleibt hier wie bei Sara2 ich-synton. Auf Fausts
Ansinnen, Gretchen möge ihn in ihre Stube einlassen, antwortet diese: »Du lie­
ber Gott! was so ein Mann / nicht alles, alles denken kann! Beschämt nur steh’
ich vor ihm da, / und sag’ zu allen Sachen ja.« Dies gehört wahrlich nicht zu
dem Thema der Erfahrung des Animus als extramundaner Geist und Todesdä­
mon. Es stammt aus der gänzlich anderen, sehr viel harmloseren Sphäre zwi­
schenmenschlicher Beziehungen. Aber es mag uns, aus seinem Kontext genom­
men, trotzdem als Formulierung für das animahafte Sich-Verführenlassen und
Mitgehen mit dem eigenen Anderen der Seele dienen. Ein Konflikt wird gespürt,
das Fremde, Andere dringt an, der Gegensatz spitzt sich jedoch nicht zu einem
wirklichen Gegensatz und somit zur Entzweiung zu, sondern die Seele »sagt zu
allen Sachen ja«. Sie gibt sich an das Andere hin, wechselt auf seine Seite über.
Das ganz natürliche Eingenommenwerden sogar von dem Anderen als schreckli­
chem Dämon ist die Wirkung der Anima (hier nicht als Gestalt, sondern als den
Status oder die Stufe des Erlebens oder das ganze syzygische Verhältnis prägen­
der Charakter) innerhalb der Manifestation des Animus. Die ganze Erzählung -
bei Sara wie bei Jungs Patientin - hat entsprechend der Animasphäre betont nu-
minosen, mythischen, archetypischen Charakter. Es bleibt beim gegenständli­
chen Bild, bei der Imagination, dem Vorstellbaren. Der Geist, obwohl er der
Geist der Ver-nichtung und Verwesentlichung ist, tritt selber noch animahaft­
substantiell als Dämon auf, nicht schon als auch seinerseits verwesentlicht, näm­
lich nur noch als geistige, logische Bewegung oder als Geistig/te/r ohne substan­
tielles Substrat. Er ist also nicht reine Negativität, sondern verharrt noch in dem
2 Hier muß ich einschränkend hinzufügen: in dem kleinen Anfangsteil der Tobias-Geschichte, den
ich wiedergegeben habe und um den es uns hier allein geht. Schon mit dem Schmähen der Magd
wird die Einhelligkeit Saras mit ihrem Geist-Gemahl beendet. Die Magd als Stimme des common
sense reißt Sara so aus der »Symbiose« mit Asmodi heraus, wie Jung seine Patientin dadurch aus
ihrem Eingesponnensein in die Mondexistenz herausholte, daß er sie zum Erzählen ihrer Tiefen­
erlebnisse und damit zum Verrat an dem übernatürlich schönen Vampyr veranlaßte.
Zustand einer durchaus positiven, sinnlich wahrnehmbaren Gestalt. Und die Be­
gegnung mit dem Monddämon, obwohl eine Begegnung mit einem Töter, führt
gerade zur höchsten Erfüllung. Der Ort ist ebenso die nur zu deutlich als Anima-
Welt gezeichnete Welt des Mondes. Diese ist ein Todes- und Geisterreich, und
doch ist sie so positiv wie die irdische Wirklichkeit. Trotzdem manifestiert sich
hier, wenn auch innerhalb der Anima-Sphäre und in einem ihr gemäßen Stil, be­
reits der Animus, freilich nur der Animus in seiner lunaren, animaverhafteten
Form.
Man kann hier viele Sagen, Mythen und Märchen als Parallelen heranzie­
hen. Ich führe kurz einige Geschichten aus ganz verschiedenen Genres, Berei­
chen und Zeiten an. In dem Mythos von Hades und Kore / Persephone ist Hades
(der »Un-sichtbare«) der Tod. Er ist der Kore (das »Mädchen«, die Anima) Rau­
bende, Vergewaltigende, Tötende. Doch die Anima läßt sich ins Reich der Toten
entführen, sie bleibt bei ihm und wird sogar seine Gemahlin und Königin: Kore
wird Persephone. Das Totenreich ist zwar eine andere Welt, aber in ihr gibt es
den Herrscher und die Herrscherin wie in der hiesigen Welt. - Ein bretonisches
Volksmärchen, »Die Gattin des Todes«, oder wenigstens ein Teilaspekt von
ihm, macht dies noch deutlicher. Darin besucht ein junger Mann seine Schwe­
ster, die einst dem Tod als Gattin ins Jenseits gefolgt war. In dem Märchen, das
zum Typus AT 470/471 gehört, geht es eigentlich um die Erlebnisse des jungen
Mannes im Totenreich, um Jenseitsstrafen und Erlösungen. Diese Haupthand­
lung interessiert mich hier jedoch nicht. In unseren Zusammenhang gehört nur
das zum Anlaß der Jenseitsreise genommene Motiv von der Hochzeit mit dem
Tode. Die Schwester lebt im Jenseits so gut, wie sie auch herüben gelebt hatte.
Der Unterschied zwischen Totenreich und irdischer Wirklichkeit ist da, aber auf
beiden Seiten ist Leben. In der I. Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres An­
deren geht es zwar um Verschwinden, Entrückung und Nichtung, aber die
Nichtung ist nicht letztlich tödlich, nicht absolute Vernichtung, nicht
unerbittlich-endgültige und grausame Erfahrung. Sie ist höchstens von einem
gewissen Schauer umgeben, un-heimlich, mysteriös. - Auch die Sage von dem
Rattenfänger von Hameln zeigt den animushaften Geist ausgestattet mit der ani­
mahaften Kraft der Verführung und Faszination. Ohne Gewalt, einfach durch
seine Musik, vermag der Pfeifer von Hameln die ganze Schar von Kindern in ei­
nen Berg auf Nimmerwiedersehen zu entrücken.
In dem Film von Peter Weir »Picknick am Valentinstag« (Australien,
1975) wird ebenfalls eine Entrückungsgeschichte erzählt. In der viktorianischen
Zeit vor dem ersten Weltkrieg wird von einem Mädchenintemat in Australien
am Valentinstag ein Ausflug mit Picknick zu einem Bergmassiv veranstaltet.
Während die meisten Schülerinnen mit ihrer Lehrerin sich dort an ihrem Lager­
platz ausruhen oder sich mit Spielen, Gesprächen und Lektüre unterhalten, ver­
suchen vier befreundete Mädchen, alle in der Pubertät, ein wenig den Berg zu
erforschen. Sie kehren nicht zurück. Die verzweifelte Lehrerin muß bei Dunkel­
heit die Gruppe ohne sie zum Internat zurückbringen. Eine tagelange Suche
durch verschiedene Suchtrupps kann sie nicht aufspüren. Nur eine der drei wird
noch aufgefunden. Sie war wegen ihrer Dicklichkeit hinter den schnell gehenden
anderen zurückgeblieben und hat deswegen nicht mitbekommen, was mit ihnen
geschehen ist. Es wird jedoch klar, daß sie nicht einem banalen Unglücksfall
oder Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Sie sind im buchstäblichen Sinn in
den geheimnisvollen Berg hinein entschwunden.
Eine andere, aus unserer Zeit, wenn auch aus einem anderen Kontinent
stammende Geschichte entnehme ich einer ghanesischen Zeitung vom Anfang
August 1985, die ich zufällig einmal in die Hand bekommen habe. Es handelt
sich bei ihr jedoch nicht um das Genre einer märchenhaften Phantasiegeschich­
te, sondern um das eines dokumentarischen Berichts (einer Reportage) von ei­
nem Ereignis, das als ganz reales Problem geschildert wird und in ähnlicher
Form des öfteren Vorkommen und für viele Familien eine echte Sorge und Not
sein soll.

Ein Mädchen von 12 oder 13 Jahren namens Lydia war verschwunden. Zwei Jahre
vorher hatte ein Fetischpriester den Eltern, die Angehörige einer christlichen Kirche
waren, erzählt, daß Zwerge ihre Tochter zu sich nehmen wollten, um sie dazu bereit
zu machen, ihnen als ihre Priesterin zu dienen. Die Eltern [als Christen] ignorierten
das. Dann, eines Tages im Mai dieses Jahres [1985], berichtete ihr jüngerer Bruder,
daß Lydia in den Wald gegangen sei, daß er ihr eine Strecke weit gefolgt sei, daß sie
aber alle seine Rufe ignoriert habe und offensichtlich entschlossen gewesen sei, tie­
fer und tiefer in den Wald hineinzugehen. Da der Junge erst neun Jahre alt war, sei er
dann aber umgekehrt und allein heimgekommen. Von Lydia war keine Spur zu fin­
den, obwohl mehrere Suchtrupps während der nächsten Tage ausgeschickt worden
waren.
Die Eltern wandten sich deswegen wieder an den Fetischpriester, und dieser be­
stätigte, daß es die Zwerge gewesen seien, die sie fortgeholt hätten. Er fügte hinzu,
daß Lydia wieder zurückkommen würde und deutete sogar an, daß sie sie sehen wür­
den. Lydia würde, so erklärte er, zur gegebenen Zeit eine große Priesterin werden.
An dem festgesetzten Tag erschien der Priester. Er, die Eltern und viele andere Leute
machten sich auf, um Lydia entgegenzugehen. Und in der Tat, da war sie, auf dem
Kamm eines Hügels, sie stand alleine und war voll angetan mit der Kleidung einer in
Ausbildung befindlichen Priesterin. Viele Riten wurden durchgeführt, um ihr zu er­
möglichen, wieder zur Schule zu gehen, falls sie es wollte. Aber es hieß, sie würde
wieder verschwinden, um ihre Einweihung zu vollenden. Dieses Vorkommnis er­
schreckte die Menschen sehr. Die Eltern wollten nicht, daß Lydia eine Priesterin
würde, und sie selbst hatte offensichtlich Angst und wagte gewiß nicht, alles, was ihr
widerfahren war, zu erzählen. Laut Fetischpriester konnte sie sich einfach nicht erin­
nern.

So weit dieser Bericht. Auch dies ist bei aller Realitätsnähe eine Ge­
schichte von »Verschwinden«, von »Entrückung« und radikalem Herausgezo­
genwerden aus der gewöhnlichen Welt, aus der Einbettung in die eigene Familie
und die natürliche soziale Umgebung, zu der man von Geburt her gehört. Das ist
der Animus-Aspekt dieser Erfahrung. Das Verschwinden geschieht auch hier
ohne Gewalt und Widerstand. Lydia läßt sich von den Zwergen verführen; sie
folgt einer Verlockung oder Berufung. Und das, wozu Lydia aus der vertrauten
Welt gerissen wird, hat, auch wenn dies von den christlich gewordenen Eltern
wie vom »aufgeklärten« Zeitungsberichterstatter nicht mehr so erlebt werden
kann, einen tiefen Sinn, es bringt zumindest der Potenz nach seine eigene Erfül­
lung mit sich. Denn es ist eine Initiation, die Begegnung mit dem »Extramunda-
nen«. Dies ist das Animahafte des Geschehens.
Die II. Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen: der
Frauenm örder und das Zurückschrecken in Todesangst. Hier ist der Animus
nicht nur das, was erfahren wird, sondern er zeigt sich auch in der Form des Er­
lebens. Das ganze Verhältnis von Anima und Animus steht jetzt unter der Ägide
des Animus selber. In der I. Stellung war die Manifestation des Animus sozusa­
gen ein Schlag ins Leere. Er erschien zwar, und auch als er selbst, nämlich als
Negation, aber insofern, als die Anima sich dem Animus als Töter einfach hin­
gab, blieb im wesentlichen alles beim alten. Seine Manifestation »verpuffte« so­
zusagen, sie vermochte dort nicht die Anima aus der ihr gemäßen Stufe heraus-
und auf eine andere hinaufzubringen, sein Töten vermochte sie nicht wirklich zu
töten. Nur inhaltlich war innerhalb der Anima-Welt der Animus aufgetaucht.
Aber er ist nur wirklicher Animus, wirklicher Töter, wirkliche Negation, wenn
er auf einen Widerstand stößt, so daß sein Töten auf etwas trifft, das tatsächlich
getötet werden kann, weil es sich ihm gegenüber behaupten (am Leben erhalten)
will. Der Animus ist nicht nur anders, nicht nur ein anderes Phänomen unter den
vielen Phänomenen, er ist das Andere der Phänomene überhaupt.
Als Anhalt für die Analyse der II. Stellung der Seele zu ihrem Anderen
eignet sich das Märchen vom Blaubart. Es kann hier nicht dämm gehen, be­
stimmte Blaubart-Märchenfassungen mit ihren konkreten Einzelheiten und Be­
sonderheiten zu interpretieren und zu vergleichen. Uns muß einzig die Grand­
handlung und der Grundgedanke dieses Märchentyps (AT 312) interessieren,
wobei wir uns an die Perraultsche Fassung halten. Ein junges Mädchen heiratet
einen reichen, aber besonders wegen seines blauen Bartes unheimlich wirkenden
Mann und folgt ihm auf sein Schloß. Dort leben sie in Reichtum und Sorglosig­
keit. Eines Tages sagt Blaubart, er müsse verreisen. Er übergibt seiner Frau
sämtliche Schlüssel mit der Erlaubnis, alle Türen zu öffnen, bis auf eine be­
stimmte Tür, die sie unter keinen Umständen öffnen dürfe. Die Frau erliegt ihrer
Neugierde, öffnet die Tür und findet dort die Leichen der früheren Frauen des
Blaubart. Der Türschlüssel, der ihr vor Schreck zu Boden in eine Blutlache ge­
fallen war, läßt sich mit keinem Mittel reinigen, so daß Blaubart bei seiner un­
vermittelten Rückkehr erkennt, daß sie sein Verbot übertreten hat. Er kündigt ihr
ihren sofortigen Tod an. Sie weiß sich einen Aufschub für ein Gebet auszubitten
und wird gerade noch in letzter Minute von ihren Brüdern gerettet.
Im Kontext dieses Märchens ist es ganz ausgeschlossen, daß die Frau dem
Töter einfach folgen würde. Die Begegnung mit ihm ist traumatisch. Wir haben
hier den krassen Gegensatz von unschuldigem Opfer und, wie von Franz sagte,
diabolischem Mörder. Einhelligkeit zwischen beiden ist undenkbar. Sie sind
schlechterdings inkompatibel. Die Erfahrung des Animus hat hier den Charakter
der Bedrohung, des Einbruchs in die behütete Welt der jungen Frau, des absolut
entsetzlichen Widerfahmisses. Er ist der Widersacher, und sie ist zu Tode er­
schrocken und zittert um ihr Leben.
Indem sie für ihr Leben zittert, ist sie, auch wenn sie noch nicht von dem
frisch gewetzten Messer des Frauenmörders getroffen ist, dem Sinn nach doch
schon vom Tode getroffen. Zunächst war sie - trotz Eheschließung und, wie an­
zunehmen ist, vollzogener Ehe - doch psychologisch unschuldig, jungfräulich
unberührt. Von dem Anderen als Anderen, von der Negation ihrer selbst, hatte
sie nicht gewußt. Sie war vollkommen ahnungslos hinsichtlich des Tötungscha­
rakters des Männlichen oder des Animus und hätte sich niemals träumen lassen,
daß sie in der verbotenen Kammer gemordete Leichen finden könnte. Sie lebte,
mit Tillich zu sprechen, einbehalten in träumender Unschuld. Damit ist es vor­
bei. Auch wenn z.B. in der Perraultschen Fassung das Ende die Rettung bringt,
so liegt das ganz und gar nicht in der Konsequenz des Geschehenen. Die Brüder,
die Blaubart umbringen, tauchen völlig unmotiviert wie der deus ex machina
auf. Sie bringen eine nur äußerliche Lösung. Die Rettung mit anschließender In­
besitznahme all seiner Reichtümer würde bedeuten, daß der Bösewicht wie eine
bloße Störung einfach beseitigt und gleichzeitig der vorige Bewußtseinszustand
wiederhergestellt würde. Das Motiv der Rettung ist eine Konzession des Erzäh­
lers an die Bedürfnisse des Publikums.
Aber das Happyend ist fehl am Platz. Denn erstens hat dem tieferen Sinn
nach die Tötung des unschuldigen Mädchens schon stattgefunden. Es bedurfte
gar nicht noch eigens eines Schlags mit dem gewetzten Messer. Dieser hätte nur
noch einmal ausdrücklich gemacht, was bereits geschehen ist. Schon der An­
blick der Leichen ihrer Vorgängerinnen war der Tod der harmlosen Anima. Sie
ist an dieser ihrer Entdeckung zerbrochen. Das - aus der Sicht der träumenden
Unschuld - Unausdenkbare war damit nämlich in die Sphäre dieser Unberührt­
heit und Ahnungslosigkeit eingebrochen und hat eo ipso diese ganze pleromati-
sche Sphäre zerstört. Ein Zurück ist nicht mehr möglich. In den Leichen (im
Plural) hatte sie das Getötetsein oder die logische Aufgehobenheit ihrer selbst
oder des Weiblichen überhaupt oder der animahaften Unschuld als vollendete
Tatsache angeschaut. Wie Sara in den sieben Männern als getöteten ihren As­
modi als das aufgehobene Männliche hatte, so erblickt das Mädchen als Anima
hier nicht die Leichen irgendwelcher einzelner Frauen im Plural, sondern das
Getötetsein des Weiblichen oder der Anima überhaupt, also auch ihr eigenes Ge­
tötetsein. Das Todesurteil Blaubarts macht nur noch einmal eigens gegenständ­
lich sichtbar, was längst Moment im Anblick des grausigen Fundes ist.
Zweitens hätte sich die Seele auch mit einem Happyend um genau den
Gewinn gebracht, den sie doch damit, daß sie sich selber mit der Blaubart-
Erfahrung zu Tode erschreckt, erzielen wollte. Der ganze Aufwand, die Begeg­
nung mit dem Blaubart als ihrem Anderen zu erfinden und sich selbst dem grau­
sigen Fund auszusetzen, wäre umsonst. Außer einem gewissen temporären Ner­
venkitzel wäre nichts geschehen. Es wäre so, wie wenn man aus einem Alp­
traum aufwacht und dann sagen würde: Gottseidank war es nur ein Traum; jetzt
bin ich wieder in der Realität, ich kann den bösen Traum vergessen und mich
den Alltagsaufgaben zuwenden, als ob nichts gewesen wäre.
Wir müssen immer im Sinn behalten, was wir von Jung gehört haben,
In Mythen und Märchen wie im Traum sagt die Seele über sich selbst aus, und die
Archetypen offenbaren sich in ihrem natürlichen Zusammenspiel, als »Gestaltung,
Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.«

Wir dürfen nicht Partei für die eine Seite und gegen die andere ergreifen. Wir
dürfen uns nicht, bloß weil wir von dem narrativen Stil her alles aus der Per­
spektive des Mädchens erleben, mit diesem identifizieren, uns seinen Stand­
punkt und seine Interessen zu eigen machen und sein Wohlergehen mit dem An­
liegen der Seele gleichsetzen. Wir dürfen nicht den Blaubart als das schlechter­
dings Außerseelische und Seelenfeindliche abstempeln. Sondern wir müssen
sehen, daß auf beiden Seiten Seele ist und daß das Wahre dieser Geschichte das
ganze Verhältnis beider zueinander ist. Es wäre freilich schön, wenn man
hübsch säuberlich trennen könnte, wenn man das Mädchen als das Schützens­
werte ganz eindeutig auf die eine und den Blaubart als den absolut verdammens-
werten Bösewicht ebenso eindeutig auf die andere Seite stellen könnte. Dann
könnte man bei Verstand bleiben. Man wüßte, woran man ist. So einfach kann
es sich jedoch eine aus dem Blickwinkel der Seele kommende Betrachtung nicht
machen. Sie muß ihren Standpunkt in der Syzygie nehmen und den Widersprach
ertragen, daß - obwohl sich in dem Mädchen und dem Blaubart wirklich unver­
trägliche Gegensätze gegenüberstehen - doch auf beiden Seiten zugleich das
Selbe: die Seele steht; daß der Blaubart, obwohl er tatsächlich das schlechter­
dings Andere, nämlich Tödliche, für die Seele ist, dennoch zugleich nur das in­
nerseelische Andere, nur das der Seele selbst eigene für sie Tödliche ist; und daß
das arglose Mädchen, obwohl es in der Tat schützenswert ist, gerade als die
Schützenwerte von der Seele selbst der Erfahrung des Frauenmörders ausgesetzt
wird und werden soll.
Die Geschichte von dem ahnungslosen Mädchen und dem mörderischen
Blaubart ist eine Momentaufnahme (oder eine einzelne archetypische Situation)
aus dem ewigen Spiel der Seele mit sich selbst, so wie die Geschichte von Sara
und Asmodi und all die anderen Mythen, Märchen und Traumerzählungen je an­
dere Momentaufnahmen aus diesem Spiel sind. Es gäbe das Märchen vom Blau­
bart gar nicht, wenn es nicht das Bedürfnis der Seele gewesen wäre, sich selbst
mit dem unerträglich Schrecklichen zu konfrontieren und sich - als der unschul­
digen Anima - dadurch selber den Tod beizubringen. Auf die Tötung der Arglo­
sigkeit ist es hier von vornherein abgesehen. Die Seele hat offenbar ein Interesse
daran, sich ihre eigene Unschuld zu nehmen, sich selbst zu verwunden, sich
selbst zu Tode zu erschrecken und sich aus der pieromatischen Einheit mit sich
selbst »herauszuschocken« - sonst hätte sie sich die grausige Gestalt des Blau­
bart überhaupt nicht ausgedacht. Das ganze Drama wird nur bemüht, weil in der
Tötung (d.h. dem Getötetwerden) ihrer selbst zugleich auch der von ihr und für
sie zu erzielende Gewinn liegt: der Tod der Anima-Sru/e. In dem grundstürzen­
den Erschrecken, in das sich die Seele dadurch, daß sie sich mit der Leichen­
kammer konfrontiert, hineinbringt, gelingt es ihr, sich aus ihrer Einhelligkeit mit
sich hinauszusetzen, sich selbst ihr selbst als einem absolut Fremden, mit ihr
Unverträglichen gegenüber zu setzen und sich so in ein (innerpsychisches) Au­
ßen zu bringen. Wir erleben hier die Erfindung oder Setzung des »Außerpsychi­
schen«, die Erzeugung jenes Abstandes der Seele zur Seele, der - wenn er ent­
wickelt ist - die äußerliche Reflexion ebenso ermöglicht wie erzwingt.
von Franz hatte gesagt: Bluebeard »cannot transform his wives or be
transfonmed himself. He embodies the death-like, ferocious aspects of the ani­
mus in his most diabolical form; from him only flight is possible.« Dies ist so
richtig, wie es falsch ist. Die Charakterisierung stimmt haargenau und geht doch
zugleich haarscharf an dem Sinn vorbei. Die Verfehlung liegt darin, daß impli­
ziert ist, daß eigentlich eine Verwandlung, sei es der Frauen, sei es von Blaubart
selbst, sein sollte. Und weil dies in diesem Fall jedoch de facto aussichtslos ist,
bleibe einem kein anderer Ausweg als die Flucht, von Franz sitzt mit dieser
Sicht der Sicht nur der einen Gestalt des Märchens, nämlich der erschrockenen
Anima, auf. Sie nimmt diese als reale Person (wie eine empirische Patientin)
und identifiziert sich mit deren Interessen. Sie wird selbst Partei in dem Gegen­
spiel der beiden Protagonisten. Das heißt, sie läßt sich ganz von der Wirkung,
die die Seele mit der Erfindung dieses Märchens erzeugen will, mitreißen, ohne
zu realisieren, daß die Wirkung »mit Absicht« erzeugte Wirkung ist. von Franz
bleibt in der durch den Schrecken erzeugten äußerlichen Reflexion und nimmt
sie als einzig möglichen (schlechthin selbstverständlichen) Standpunkt. Sie teilt
die eine Wirklichkeit des Märchens so auf, daß sie seine eine Seite, den Blau­
bart, als nacktes Faktum nimmt, das nun einmal so ist, wie es ist, während sie
der anderen Seite, der des Mädchens, die Freiheit des Handelns (des Reagierens
auf die unabänderliche Gegebenheit »Blaubart«) zuschreibt, ganz so, wie das
Mädchen selbst es aus seiner Situation erleben dürfte. Blaubart ist hier als in sei­
nem Wesen schlechterdings (wie von einem blinden äußeren Fatum und somit
völlig unabhängig von dem Mädchen) gegeben gesehen, so daß das Mädchen
dann, wenn es »zufällig« oder schicksalhaft mit ihm konfrontiert wird, vor der
Wahl steht: entweder es kann noch fliehen, oder es ist aus mit ihm.
Wir machen dagegen mit dem psychologischen Ansatz ernst und treten
selber in das Märchen ein, so daß wir es von innen, aus seiner Ganzheit heraus,
mithin in immanenter Reflexion reflektieren können. Wir ergreifen nicht inner­
halb seines Geschehens Partei, wodurch wir seiner beabsichtigten Wirkung nur
aufsitzen und von ihr fortgerissen (sie weiter agieren) würden. Wie kommt man
in das Märchen und in den Standpunkt der immanenten Reflexion hinein? Da­
durch, daß man der vom Märchen innerhalb seiner gezielt erzeugten Wirkung
nicht verfällt, d.h. sie nicht als natürlich, unabänderlich, schlechthin selbstver­
ständlich nimmt, sondern das Ganze: die beabsichtige Wirkung und ihre absicht­
liche Erzeugung und damit auch den seelischen Zweck der ganzen Veranstal­
tung ins Bewußtsein aufnimmt. Man steht erst dann und in dem Maße im Mär­
chen, wenn und wie man es - scheinbar über ihm stehend - als Märchenerfin­
dung (als Rede der Seele von ihr selbst und zu ihr selbst) weiß. Wer sich von
dem Schrecken einfach nur mitreißen und zum Reagieren hinreißen läßt, steht
zwar im Bann des Märchens, aber er findet gerade nicht in es hinein, weil er es
für bare Münze, für buchstäbliche (äußere) Realität nimmt. Er sitzt dem Mär­
chen auf, das den Blaubart innerhalb seiner so erfunden hat, daß er wie etwas
außerhalb des Märchens tatsächlich Existierendes erscheint. Bleibt man im Bann
des Märchens, dann wird man gerade durch den von ihm innerhalb seiner er­
zeugten Schrecken aus ihm hinaus in die äußerliche Reflexion getrieben. Die
imaginativen Produkte der Seele sind - natürlich - so angelegt, daß ihre Gebilde
als außerhalb der Imagination der Seele bestehend genommen werden. So wi­
dersprüchlich geht es hier zu.
Wird das Märchen aus dem Standpunkt der inneren Reflexion betrachtet,
ist der Gedanke an Flucht im Sinn eines buchstäblichen Entkommens haltlos.
Denn dann sind mörderischer Blaubart und die unschuldige Anima syzygisch
zusammengespannt. Sie gehören unauflösbar zueinander. Sie sind zwei »Hälf­
ten« von ein und demselben Ganzen, zwei Pole, in die die Seele hier sich selbst
in diesem einen archetypischen Moment ihres Spiels mit sich selbst auseinan­
dergelegt hat. Blaubart ist nicht das schlechterdings Gegebene, mit dem das
Mädchen nur konfrontiert wäre. Beide sind gleichermaßen und mit einem Male
als eine Kon-stellation von dem Märchen gesetzt. Das Mörderische auf der einen
Seite ist das Pendant der Ahnungslosigkeit auf der anderen Seite. Sie spiegeln
einander. So wie das Nichts-als-Fliehen-Wollen das Resultat der Begegnung mit
dem grausigen Frauenmörder ist, geht auch umgekehrt die Grausigkeit des Mör­
derischen auf das Konto der Fluchttendenz des unbedingt unberührt bleiben wol­
lenden Mädchens. Gerade weil die Anima hier absolut ahnungslos bleiben und
deshalb nichts als fliehen möchte, erzeugt sie selber ihr eigenes Gegenteil, das
Mörderische, so wie dieses umgekehrt die völlige Unschuld erzeugt. Wir könn­
ten sagen: Zeige mir, was du in der verbotenen Kammer entdeckst, und ich sage
dir, wer du bist; zeige mir, wen du umbringen mußt, und ich sage dir, wer du
bist. Warum? Weil sich beides innerhalb der Syzygie abspielt. Beide stecken je­
weils schon in ihrem Gegensatz mit drin. Sie sind syzygisch verschränkt, was in
dem Symbol des zweifach die Hände wechselnden Schlüssels und dem mit ihm
verbundenen Motiv der Neugier des Mädchens, die dem Ahnungslosbleiben wol­
len zuwiderläuft, auch von einer anderen Seite her eigens ausgedrückt ist.
Deswegen ist die Flucht hier sinnlos. Sie würde, weil sie Flucht nur inner­
halb der Syzygie ist, das, wovor sie fliehen will, gerade mit sich nehmen. Und
sie wäre mehr als sinnlos; sie wäre widersinnig, kontraproduktiv. Dies deshalb,
weil sie als Beharren auf dem Freibleiben von dem syzygisch an ihren Gegen­
satz Gebundensein die extreme, mörderische Form dieses ihres Gegensatzes nur
verstärken würde. Die Flucht wäre nicht das, was aus der Blaubart-Situation her­
ausbrächte, sondern das Fliehenwollen ist selber die eine »Seite« der Blaubart-
Konstellation (Anima) und zugleich die ganze Blaubart-Konstellation (Anima
und Blaubart-Animus). Die absolut schreckliche Gestalt des Blaubart ist nichts
anderes als das bildgewordene und, so verdichtet, anschaubar vor das Bewußt­
sein gestellte Gefühl, unbedingt fliehen zu müssen. Das Fliehenwollen geschieht
nicht nur am Ende der Geschichte und als ihr Ende, sondern es ist gerade auch
der Anfang des Blaubart-Märchens, nur daß aus Gründen der narrativen Technik
der Anfang erst am Ende ans Licht kommt.
Wir erleben hier an diesen Zusammenhängen das Widersprüchliche, daß
die äußerliche Reflexion, die die eine Seite, hier gewöhnlich den Blaubart, als
von außen schlechterdings gegebenes separates Faktum und somit als der ande­
ren Seite nur zufällig oder Fatum-gleich zustoßend ansetzt und die damit aus der
syzygischen Identität der beiden Seiten ausbrechen will, nichtsdestoweniger ge­
rade nicht aus der Syzygie herauskommt. Die Leugnung der Syzygie gehört sel­
ber gerade in die Syzygie hinein und bestätigt diese. In dem Gedanken »from
him only flight is possible« bindet sich die Seele gerade an den mörderischen
Animus, ja sie treibt sich selbst erst recht in dessen Arme, so daß die Flucht weg
von ihm die Flucht zu ihm hin ist. Das Märchen macht dies ganz klar. Der Ver­
such, das Blut als das Zeichen der gewonnenen Erkenntnis abzuwischen und
diese so wieder »ungeschehen« zu machen, bewirkt, daß Blaubart, der doch ei­
gentlich auf eine lange Reise gehen wollte, plötzlich wieder da ist und sein To­
desurteil ausspricht.
Folgt die Seele der immanenten Reflexion, dann kann sich die Anima im
Animus und dieser in jener erkennen. Am Mörderischen des Animus kann die
Anima den Grad ihrer Ahnungslosigkeit, ihrer Isoliertheit und Behütetheit able­
sen, und der Animus kann in der Unschuld der Anima seine eigene, von keinen
Bedenken getrübte Naivität und Unmittelbarkeit im Töten erblicken. Beide fin­
den im Anderen ihrer sich selbst gespiegelt. Beide sind als das Gegenteil des
Anderen gesetzt. Daher besteht zwischen ihnen eine Identität, allerdings eine,
die die Differenz in ihr hat. Diese Identität ist beider äußerste Abstraktheit. Die
abstrakte Unschuld will nichts, als von dem Anderen ledig zu bleiben, die ab­
strakte Mordlust will nichts, als das Andere zu vernichten. Hüben wie drüben
haben wir dieselbe Verneinung der syzygischen Zusammengehörigkeit und
nichts als dies.
Entsprechend der Voraussetzung der äußerlichen Reflexion, daß die bei­
den Protagonisten unabhängig voneinander bestehende und unabhängig vonein­
ander so seiende Gestalten sind, wie sie eben sind, wird die äußerliche Reflexion
auch in dem Blaubart nebst Partnerin und z.B. in Asmodi nebst Partnerin je zwei
ganz verschiedene Figuren und Verhältnisse erblicken. Aber ich sage, daß es das
selbe (wenn auch nicht das gleiche) Verhältnis ist, das Verhältnis der Seele zu
ihrem eigenen Anderen. Dieses Verhältnis, immer das selbige, ist nur gemäß der
»Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung« in ein je
anderes Licht getaucht, erscheint in einem je anderen Status oder auf einer ande­
ren Stufe. Wenn von Franz mit Recht sagt, daß der Animus als Blaubart seine
Gemahlinnen nicht verwandeln und er selber nicht verwandelt werden kann,
dann ist dies so zu verstehen, daß die Seele hier ihr Verhältnis zu ihrem Anderen
in demjenigen »Aggregatzustand« zeigt, in dem dieses Verhältnis zum äußersten
Extrem und zur abstrakten Gegensätzlichkeit zugespitzt ist, so daß eine Wand­
lung ausgeschlossen ist. Die Unmöglichkeit der Wandlung ist nicht ein Fehler
oder ein unglücklicher Zufall, sondern genau die Intention. Die absolute Flucht
und das absolut Mörderische sind die Darstellung derjenigen einen Form des
Verhältnisses, bei der die Psyche ihre eigene Syzygie dem Wesen der Syzygie
zuwider als rein äußerliche Beziehung total Getrennter und Inkompatibler ima-
giniert, in dem sie also selber ihre inneren Gegensätze als äußere, als solche der
äußerlichen Reflexion vorstellt.
Warum dies? Eine Antwort könnte sein, daß die Seele eben sämtliche
Möglichkeiten des syzygischen Verhältnisses durchspielen möchte. Die Syzygie
muß sämtliche ihrer möglichen Stationen und Konstellationen ihrer selbst durch­
laufen und vorführen, und nur alle archetypischen Konstellationen ihrer sind die
volle Wirklichkeit der Syzygie. Das mag sein. Weiter führt freilich die Überle­
gung, was das innersyzygische Sich-aus-der-Syzygie-hinaus-Imaginieren, wie
wir es in der Blaubart-Konstellation vorfinden, bringt. In der I. Stellung, bei As­
modi und Sara, ließ sich die Seele für ihren eigenen Gegensatz gewinnen. Und
dies, so zeigten wir, machte gerade das Wesen der Anima-Stufe der Erfahrung
ihres Gegensatzes aus. Wenn sich hier nun die Seele ihre Erfahrung ihres Ande­
ren so gestaltet, daß dieses Andere ein Mörder und nichts weiter ist und ihr sel­
ber nichts als die Flucht vor ihm bleibt, dann erarbeitet sich die Seele in dieser
Phantasie die rückhaltlose und ungemilderte Erfahrung des Anderen als eines
wahrhaft, d.h. unversöhnlich Anderen. Sie erarbeitet sich im totalen Zurück­
schrecken das Widerstehenkönnen, das Fürsichbleibenwollen, die Fähigkeit, der
Verführung durch das Andere sich zu widersetzen. Sie muß sich ihre eine Seite
zum Mörder, der nichts als Mörder ist, zuspitzen, um auf der anderen Seite die
abgrundtiefe Angst zu erzeugen, die zur Flucht motiviert und verhindert, daß die
Anima, wie Jungs Patientin, von der übernatürlichen Schönheit des Dämons fas­
ziniert zu diesem überläuft und einfach seine Gemahlin wird. Es bedarf der
grausigen Entdeckung, um die Seele in einen Gegensatz zu ihr selbst zu bringen:
und um eben dadurch die ganze Anima-Stufe der Erfahrung ihres Anderen zu
überwinden und nunmehr dieselbe Erfahrung als die Erfahrung auf der Animus-
Stufe zu gewinnen.
Auf der Anima-Stufe ist die Anima Gemahlin des Todes, Geliebte des
Dämons, niemals jedoch Opfer. Um sich selbst aus dem Eingesponnensein in
sich selbst und aus dem widerstandslosen Sich-Hingeben an ihr eigenes Ande­
res, ganz gleich, in was für einer Gestalt es ihr erscheinen mag, und damit aus
dem Sich-Hingeben an sich selbst herauszubringen, muß sich die Seele selbst
das Erlebnis des aussichtslosen Opferseins verschaffen. Erst in der totalen
Angst, erst in dem absoluten Erzittern der absoluten Unschuld der Seele vor dem
diabolischen Mörder geht die Seele nicht mehr in ihrer Einhelligkeit mit sich
selbst auf, sondern ist aus sich heraus- und sich gegenübergetreten, so daß sie
sich nunmehr in äußerlicher Reflexion gegenübersteht. Dies ist die Geburt des
Animus als Animus.
Es ergibt sich das Merkwürdige, daß man nicht so sehr auf die Animus-
Seite der Syzygie blicken darf, um zu sehen, ob wirklich eine Animus-Erfahrung
vorliegt. Man kann dies gerade nur an der Anima-Seite erkennen. Asmodi, Ha­
des, der Monddämon und Blaubart sind als Todesdämonen mehr oder weniger
dieselbe Gestalt in geringfügiger Variation. Auf ihrer Seite ist zwischen der I.
und der II. Stellung kaum ein Unterschied zu konstatieren. An Sara, Persephone,
Jungs Patientin, der Gattin des Todes aus dem bretonischen Märchen einerseits
und dem Mädchen im Blaubart-Märchen andererseits jedoch ist ablesbar, daß
der Überschritt von der I. zur II. Stellung, d.h. von der Anima-Sphäre zur
Animus-Stufe stattgefunden hat. Der eigentliche Animus-Charakter kommt an
der Anima zum Ausdruck: diese ist jetzt ihrerseits animushaft. Anima und Ani­
mus tauschen, so scheint es, ihre Funktionen aus, worin sich noch einmal die Sy­
zygie als Einheit von Einheit und Differenz der Gegensätze bemerkbar macht.
Die Animus-Stufe ist in einem gewissen Sinn höher als die Anima-Stufe,
insofern sie deren Überwindung und die Kraft zum Gegensatz darstellt. Aber
gleichzeitig zeigt sich, daß die höhere Stufe primitiver, d.h. ärmlicher, und nai­
ver ist. So unschuldig, ahnungslos und so eng wie hier war die Anima auf der
Anima-Stufe nicht. Dort wußte sie, daß sie die Gemahlin oder Geliebte des To­
des war. Das mußte nicht verdrängt werden, und es bedeutete keine Inkompati­
bilität. Die Faszination und die Tödlichkeit konnten zusammen erfahren werden,
ohne einander auszuschließen. Das Bewußtsein der Anima war weit genug, um
beiden Aspekten in sich Raum geben zu können. Hier dagegen ist die Anima die
Unschuld pur. Sie hat für nichts Augen als für die nackte Bedrohung ihrer Exi­
stenz. Ganz abstrakt sieht sie im Blaubart den Mörder und nichts weiter. Und sie
muß die abstrakte Unschuld sein, um zurückschrecken und im Zurückschrecken
verharren zu können, anders als Jungs Patientin, die zwar zunächst durchaus ei­
ne Opposition zu dem Dämon verspürte, welche dann aber bei dem Anblick sei­
ner einfach dahinschmolz.
Dabei ist wichtig sich klarzumachen, was wir im Prinzip schon herausge­
arbeitet haben, daß die unterschiedliche Reaktion der Frauen nicht darauf zu­
rückzuführen ist, daß im einen Fall der Dämon als übernatürlich schöne Gestalt
und im anderen als Mörder und nichts weiter erschien. Vielmehr spiegelt sich in
der Form der Manifestation des Animus die Verfassung der Anima und umge­
kehrt. Bei Jungs Patientin ist der Monddämon so berückend schön, weil die Er­
lebende sich ihm willenlos hingibt. Die Hingabe ist so sehr das Resultat der Be-
rückung durch die Schönheit, wie die berückende Schönheit die äußere Spiege­
lung der Hingabebereitschaft ist. Wie wir schon sagten: die Anima kann sich
(ihr Eigenstes) im Animus und der Animus Sein Eigenstes in der Anima erken­
nen. Wäre der Monddämon, sofern wir uns auf ein solches Gedankenexperiment
überhaupt einlassen wollen, in der Welt des Blaubart-Märchens erschienen,
dann wäre er auch nicht schön, sondern nur grausig gewesen, weil hier die Fas­
zination und Hingabe der Anima-Stufe schon nicht mehr gilt. Der Fehler der äu­
ßerlichen Reflexion ist, daß sie innerhalb der Syzygie das Verhalten der einen
Seite aus der nur von der äußerlichen Reflexion selbst aus der Syzygie her­
ausgesetzten anderen Seite erklären will, während es doch das Wesen der Syzy­
gie ist, daß ihre beiden Seiten jeweils mit einem Male und als einander spiegeln­
de frei gesetzt sind; gesetzt sind, als ganze und als Zusammenspiel diese oder je­
ne Stellung der Seele zu ihrem Anderen darzustellen.
Wie die Anima in der Blaubart-Geschichte auf die abstrakte Unschuld re­
duziert ist, so ist auch der Blaubart selbst als der »Mörder und nichts weiter« auf
die äußerste Ärmlichkeit reduziert, nichts als die reine Negation zu sein. Inner­
halb der I. Stellung waren die Dämonen zwar Töter, aber darüber hinaus waren
sie auch noch sehr viel mehr. Sie waren z.B. als Hades auch Pluto, als Monddä­
mon auch von berückender übernatürlicher Schönheit. Sie besaßen ein substan­
tielles Sein. Wenn Blaubart dagegen der »Mörder und nichts weiter« ist, dann
heißt dies, daß der Animus in der Form des Blaubart darin aufgeht, Mörder zu
sein. Er ist nicht mehr zuerst ein seiender Dämon, der dann auch noch dazu
neigt, Frauen zu morden. Sondern dem tieferen Sinn nach, wenn auch nicht den
narrativen Notwendigkeiten des Märchengenres gemäß, wo auch das Substanz­
lose doch immer als substantielle Gestalt gezeigt werden muß, ist der Blaubart
kein Jemand mehr, nichts substantiell Seiendes, sondern einzig die abstrakte
Funktion des Tötens, d.h. des Vemeinens, ganz wie das Mädchen die abstrakte
Funktion des Zurückschreckens oder der Selbsterhaltungstendenz ist. Eben des­
halb ist aber hier auch der Animus wirklicher Animus geworden, Animus in sei­
nem ureigensten Element, auf der Animus-Stufe. Jetzt werden nicht mehr nur
wie bei Asmodi die natürlichen Männer ver-nichtet und ver-west, sondern der
Animus selber ist hier, als »Mörder und nichts weiter«, von Hause aus gesetzt,
immer schon die Verwesung oder Verdampfung seines substantiellen Seins zur
nur noch prinzipiellen Funktion zu sein.
In der Doppelheit der abstrakten Negation und der abstrakten Unschuld
des Mädchens, das nur noch Opfer und nichts weiter ist, drückt sich der Animus
als solcher in seiner ersten Unmittelbarkeit aus.
Weil es jedoch der Animus in seiner ersten Unmittelbarkeit ist, bleibt der
Animus, obgleich bereits Animus als solcher, doch noch einbehalten in die
Anima-Stufe. Das zeigt sich besonders an dem unschuldigen Mädchen. Sein Zu­
rückschrecken vor dem eigenen Anderen der Seele ist rein inneres Zurück­
schrecken. Dieses vermag sich noch nicht zu artikulieren, in der Realität auszu­
drücken. Es bleibt im bloßen Wünschen und Hoffen stecken. Es vermag noch
nicht den Überschritt aus der bloßen Potenz in die Tat, die ein reelles Sich-
Widersetzen, das Widerstand Leisten wäre. Das Mädchen selber vermag nur zu
zittern und zu beben, ohne selber etwas Tatkräftiges zu ihrer Rettung unterneh­
men zu können. Sie vermag sich nicht dem Bösewicht zu stellen, vermag nicht
dem Schrecklichen (und damit zugleich ihrer eigenen Angst) standzuhalten und
ihm, indem sie ihm ins Gesicht blickt, Paroli zu bieten. Sie kann nur im Gebet
Gott um Hilfe von außen bitten, womit sie dokumentiert, daß sie sich als sie sel­
ber absolut ohnmächtig fühlt. Und die Rettung kann so auch nur, wenn über­
haupt, von außen kommen, ganz unmotiviert, wie der deus ex machina. Das
Mädchen ist seinem eigenen Zurückschrecken noch nicht gewachsen. Dieses ist
als animushaftes Zurückschrecken doch immer noch das (zwar schon »animus­
hafte«) Zurückschrecken der unschuldig, backfischhaft bleibenden Anima, für
die das, was ihr widerfährt, schlechterdings unausdenkbar bleibt und die des­
halb, obgleich sie mit von Franz durchaus bereits erlebt, daß nur Flucht vor
Blaubart möglich ist, doch nicht positiv zur realen Flucht kommt. Sie flieht nur
so, daß sie schier vor Angst vergeht. Die Flucht verbleibt innerhalb der anima­
haften Unschuld und führt nur negativ in das eigene Innere, so daß das Mädchen
äußerlich gerade wie gebarmt am Ort des Schreckens verharren muß. Die Flucht
ist hier eine intensionale, keine extensionale. Sie ist schon Flucht, aber sie ver­
mag noch nicht aus dem animahaften Bann der Seele, aus ihrer Negativität, hin­
aus ins wirklich Außerseelische, die Positivität, auszubrechen.
In der Geschichte von Asmodi fügte sich die Seele die Erfahrung der Ne­
gation der Männer als leiblicher Partner zu. In dem Blaubart-Märchen setzt sie
sich der Erfahrung ihres eigenen Aufgehobenwerdens, ihrer eigenen Ver-nich-
tung aus. Sie läßt sich nicht dem Sinnlich-Natürlichen entrücken, wo sie dann
des realen Ehemannes im Fleisch verlustig ginge, dafür aber mit dem Geist in
inniger Verbindung lebte. Sie bleibt im Sinnlichen, muß dafür aber vor Angst
vergehen. Und statt mit einem übernatürlich schönen Geliebten hat sie es ent­
sprechend mit dem nur Abscheu erregenden Mörder zu tun. Das Un- oder Nicht-
findet sich gleichermaßen in beiden Stellungen, einmal eben im Geisterreich als
die Negation der natürlichen Wirklichkeit überhaupt, einmal in der natürlichen
Wirklichkeit als die Negation des eigenständigen Seins dessen, was am realen
Sein festhält.
Wir sagten, daß die Tötung des Mädchens schon stattgefunden hat, auch
wenn Blaubart in letzter Minute doch noch gehindert wird, zur Tat zu schreiten.
Es ist die Tötung ihrer animahaften Unschuld. Aber es gilt auch zu sehen, daß
dieselbe abstrakte Unschuld, die getötet wird, gerade auch das ist, worin das Ge­
tötetsein der Anima besteht. Die Unschuld ist in ihr selbst widersprüchlich, und
dieser Widersprach entfaltet sich innerhalb des Märchens als das Gegeneinander
von Blaubart und Mädchen. Wäre das Mädchen nicht so extrem imschuldig, d.h.
müßte es nicht das - erst aus der Sicht der abstrakten Unschuld zum abstrakt
Mörderischen werdende - Mörderische absolut außer sich und sich gegenüber
halten, dann würde es sich ja wie die Gestalten der I. Stellung an den Töter als
an einen Todesdämon ohne Selbsterhaltungstendenz verlieren können. Es ist die
extreme Harmlosigkeit des Bewußtseins, die das Tötende im Männlichen, d.h.
im Animus, total abgespalten als diabolischen Frauenmörder setzt, als den ex­
trem grauenhaften Fund der Frauenleichen in die verbotene Kammer sperrt und
gegenständlich anschaubar macht. Und es ist dieselbe instinktlose Harmlosig­
keit, die das Mädchen dazu verleitet, die Kammer zu öffnen und in der grausi­
gen Entdeckung, die es dort macht, den Tod ihrer, der Harmlosigkeit, selbst zu
erleiden. Es hat wohl im Traum nicht daran gedacht, darin Leichen zu finden; es
hoffte vermutlich, auf irgendwelche herrlichen Schätze oder auch ein erheben­
des Mysterium zu stoßen. Die Unschuld ist in sich gegenwendig. Sie setzt sich
als Unschuld in Szene, behauptet sich als Unschuld und ist selber ihr eigener
Untergang, ja, als dies: als schon längst untergegangen zu sein, ist sie von An­
fang an gesetzt. Denn zugleich mit der absoluten Unschuld des Bewußtseins, das
das diabolisch Mörderische total abgespalten außer sich hat, ist auch schon das
längst Getötetsein ihrer, eben dieser Unschuld selbst, in Gestalt der Frauenlei­
chen gesetzt. Da ist nicht zuerst eine Unschuld, die dann getötet würde. Sondern
diese abstrakte Unschuld beginnt schon als getötete, aber eben auch von ihrem
schon Getötetsein abgespaltene und fliehen wollende. Die verbotene Kammer
enthält das Perfekt der Aufgehobenheit der Anima-Stufe. Die Leichen darin sind
die Leichen ihrer »Vorgängerinnen«, also dessen, was der Unschuld des Anima-
Bewußtseins und der ganzen Erzählung gerade vorausliegt und wohl auch zu­
grundeliegt. Das früheste Ereignis, von dem wir in dem Märchen hören, ist der
Mord an den Frauen im Plural. Das ist die arche dieser einen ganzen hier narra­
tiv auseinandergefalteten logischen Situation. Aber zu dieser arche gehört auch,
daß sie in die verbotene Kammer gesperrt, aus dem Bewußtsein ausgesperrt ist,
wodurch dieses als nur unschuldiges entsteht.
Das Märchen hat seinem tieferen Sinn nach keine Handlung. Nur seiner
narrativen Form nach gibt es eine Bewegung oder Entwicklung in der Zeit von
der Unschuld über den Todesschreck hin zur Rettung in letzter Not. Dem Sinn
nach jedoch geschieht nichts. Das Märchen gibt eine »Momentaufnahme« der
Syzygie in einem ihrer Status oder auf einer ihrer Stationen und entfaltet nur die
in diesem archetypischen Augenblick (Situation, Konstellation) liegenden logi­
schen Verhältnisse. Diese Verhältnisse sind nicht statisch, keine »Strukturen«.
Sie sind durchaus bewegt. Aber es ist dies eine rein logische Bewegung, die Be­
wegung von Gedankenbestimmungen, keine »Handlung« oder zeitliche Ent­
wicklung von einem Anfangs- zu einem Endzustand. Der eine Moment der Sy­
zygie, der sich im Blaubart-Märchen selbst darstellt, ist der des »Animus als sol­
chen in seiner ersten Unmittelbarkeit«. Dieser Moment ist in ihm selbst die Be­
wegung
♦ erstens des gesetzten fluchtartigen Zurückschreckens der Anima vor dem
Animus und somit vor der längst bestehenden Wahrheit ihres Negiert- oder
Aufgehobenseins, in welchem Zurückschrecken sich freilich gerade das Ani­
mushafte des Animus in der Anima selber (d.h. ihr ihm schon Verfallensein
oder aus sich schon Herausgesetztsein) manifestiert; das Zurückschrecken ist
nämlich ganz offenbar das Zeugnis für das längst schon Erreichtsein der ple-
romatisch in ihrer eigenen Sphäre eingeschlossenen Anima von ihrem Ge­
gensatz, dem Animus, als von einem wahrhaft ihr Äußeren, so daß ihre Un­
schuld (ihr in sich Eingehülltsein) in Wahrheit längst durchbrochen ist. Die­
ses der Erzählung und dem Zurückschrecken »a priori« vorausliegende Ge-
troffenre/n vom Animus wird in der Erzählung im Bild der Kammer mit den
schon getöteten Frauen dargestellt; es gehört nur als unaufhebbar vor der Er­
zählung liegendes in die Erzählung, und diese ist die Erzählung von dem Ein­
geholtwerden durch das und/oder von dem versuchten Einholen des eigenen
Apriori;
♦ zweitens des daraus folgenden Rückzugs aus dem konkreten Erleben in eine
äußerste Abstraktheit durch die Extraktion aller Unschuld, die auf die eine
Seite gestellt wird, sowie durch die Extraktion des dadurch verbleibenden
diabolisch Bösen, das total abgespalten auf die andere Seite gestellt und der
Unschuld als absolut unverträglich entgegengesetzt wird, wodurch die Auf-
gehobenheit der Anima zum unausdenkbar Grausigen der Kammer mit den
Leichen geformt wird und zugleich, zwecks Gewährleistung der Unschuld, in
der absolut verbotenen Kammer ausgesperrt bleiben muß;
♦ drittens des Sichtbarwerdens des wahren Wesens des Animus als des Abwe­
senden und absolut Gewährenlassenden; und gleichursprünglich damit des
völlig ahnungslosen, wenn auch vom eigenen Unbewußten (Neugierde!) ge­
triebenen Hineinstolpems der Unschuld in den Anblick ihres eigenen längst
Getötetseins, wodurch das eigene Apriori eingeholt wird und die Unschuld in
der Tat ihre Unschuld verliert;
♦ und viertens einerseits des (allem Erfahrenen zum Trotz) immer noch Insi-
stierens der Anima auf der »Bewahrung« oder »recovery«3 der (doch längst
3 Hiermit spiele ich auf die in Amerika populären »recovery groups« für Opfer aller möglichen Un­
bilden (Vergewaltigung, Süchte, Scheidungen usw.) an.
verlorenen) Unschuld in der Weise des vor Angst Vergehens und auf Rettung
Höffens (auf Rettung vor dem, was schon längst - perfektisch - geschehen
und in der Kammer gegenständlich anschaubar ist!); andererseits des mit
dem Verlorenhaben der Unschuld sowie dem hartnäckigen Widerstand dage­
gen einhergehenden plötzlichen Wiederauftauchens des Animus als des
messerwetzenden, der also das erreichte Wissen entgegen der Abwehr seiner
wachhält. Beides ist gleichursprünglich. Die Einheit von a) dem Gerettetwer­
denwollen, das narrativ erst am Ende der Geschichte auftaucht, und b) der
Bedrohung durch den messerwetzenden Blaubart ist nichts anderes als die
anfängliche Einheit von a) Begegnung mit dem Animus als Negation und b)
Abwehr dieser Begegnung (in der Weise der Abspaltung des »Bösen« auf­
grund des von ihm Unberührtbleibenwollens), womit sich der Kreis schließt
(und sich die logische Bewegung als uroborische, in sich geschlossene Bewe­
gung erweist).
Die logischen Momente dieses einen archetypischen Augenblicks in der
Selbstdarstellung der Syzygie sind »gleichzeitig«. Die anfängliche abstrakte
Trennung, die die reine Unschuld hier und das reine Mörderische dort erst setzt,
geschieht aus der erzählungstechnisch am Ende gezeigten Todesangst vor dem
gleichwohl erst durch sie selbst Gesetzten heraus. Es ist dies ein archetypischer
Augenblick, weil er nicht aus einer früheren Situation entsteht, nicht in eine
neue Situation hineinmündet, sondern, in sich selbst kreisend, seinen Anfang
(innerhalb seiner) selber erst setzt und ihn als sein (ebenso internes) Ende offen­
bart - und so »ursprünglich« aufsteht.
Eine neue Stellung der Seele zu ihrem Anderen kann nur entstehen, wenn
die (je) vorliegende Stellung in ihrer ganzen Komplexität ihres logischen Lebens
durchschaut, erkannt, begriffen und im Begreifen erlitten ist. Das heißt vor al­
lem, daß der Seele vollkommen durchsichtig geworden ist, daß sie (um es am
vorliegenden Fall zu exemplifizieren) im Blaubart-Märchen mit sich selbst um­
geht und sie sich selbst das antut, was sie dort den Blaubart dem Mädchen bzw.
seinen Vorgängerinnen äntun läßt, und daß sie als unschuldiges Mädchen eben­
so gerade das abwehrt, was doch aus ihr selbst stammt und einzig um ihretwillen
da ist. Dies nämlich bedeutet, daß der sich im Blaubart-Märchen darstellenden
Stellung der Seele zu ihr selbst Genüge getan wurde. Sie wurde voll ausge­
schöpft und hat sich dadurch erschöpft. Genüge wird jeder Stellung dadurch ge­
tan, daß sie rückhaltlos als Selbstdarstellung der Syzygie auf je einer ihrer Sta­
tionen anerkannt wird. Ohne dies kann die Bewegung auf der jeweiligen Stufe
»ewig« in ihr selbst kreisen (Stichwort »Wiederholungszwang«).
Ich habe die Rettung des Mädchens am Ende als nicht in der Konsequenz
des Geschehens liegend bezeichnet. So, wie es erzählt wird, ist sie in der Tat ei­
ne Konzession an die Bedürfnisse der Hörer (d.h. an das Ich), die nach einem
Happyend verlangen. Es gibt jedoch auch eine Möglichkeit, diesem Motiv eine
Berechtigung innerhalb der entfalteten Logik dieser archetypischen Situation zu­
zuerkennen. Die Rettung könnte verstanden werden als Herausstellung des logi­
schen Charakters der hier vorliegenden Tötung: Die Tötung ist selbst schon eine
aufgehobene, vergeistigte. Nicht das Mädchen in seiner faktischen Existenz,
sondern nur die logische Unschuld des Mädchens ist logisch, nicht im Fleisch,
getötet worden.
von Franz sprach dem Blaubart die Kraft zum Verwandeln oder Verwan­
deltwerden ab. Ich glaube, daß nach unseren Ausführungen sichtbar geworden
ist, daß mit dieser Idee von Verwandlung eine von außen kommende unschuldi­
ge, diesseitige, rein lebensorientierte Erwartung an den Blaubart herangetragen
und diejenige Verwandlung oder derjenige seelische Gewinn, den er der Seele
bringt, systematisch übersehen wird. Was für ein Gewinn? Derjenige, der genau
in dem (von von Franz’ Erwartung her gesehen) verwandlungslosen Blaubart als
Mörder und nichts weiter liegt: das Hineingetreibenwerden in das absolute Zu­
rückschrecken und das dadurch erfolgende Erreichen der Animus-Stufe (in ihrer
ersten Unmittelbarkeit).
Es gehört zur Dialektik der Syzygie, daß der Blaubart die Leichen in der
Kammer verbirgt und das Verbot ausspricht. Damit betreibt und erhält er als
Animus die Unschuld der Anima. Das Verbot als der Schutz vor dem Aufwa­
chen zu ihrem eigenen Getötetsein würde eigentlich ja gerade im Interesse der
Anima liegen, während dem Animus an der Tötung der Unschuld gelegen sein
müßte. Aber so einfach stehen sich die Gegensätze in der Syzygie eben nicht ge­
genüber. Blaubart ist zunächst wirklich ein liebevoller Ehemann. Er schützt und
schont die Anima, obwohl er sie als Töter doch gerade würde umbringen wollen.
Dagegen entspricht es der Anima, eine Beziehung zum Verdrängten herzustellen
und damit hier sich selber dem Animus ans Messer zu liefern. So wie sonst z.B.
die Nixe das Männliche in ihr fremdes Element verlockt und verführt, so dringt
das Mädchen hier in das ihm Verbotene ein und zieht selber ein Schicksal auf
sich herab. Beide Seiten arbeiten einander in die Hände. So verschränkt sind die
Gegensätze innerhalb der Syzygie, und so absolut gewaltlos tut sich die Seele
selber Gewalt an. Blaubart ist nicht wie ein Lustmörder. Er überfällt sein Opfer
nicht von sich aus, um es grausam umzubringen. Er hat es nicht in sein Haus ge­
lockt, um es zu töten. Er läßt ihm vielmehr völlige Freiheit und warnt es aus­
drücklich vor der Kammer.
Hätte das Mädchen seine eigene Unschuld bewahren können, wäre Blau­
bart nie von seiner Reise zurückgekehrt. In der Reise Blaubarts ist nicht ein zu­
fälliges Ereignis innerhalb einer Kette von vielerlei Ereignissen zu sehen. Die
aus narrativen Gründen als später eintretendes Ereignis erzählte Reise bringt
vielmehr nur eigens ans Licht, was Blaubart als Animus und Geist von Hause
aus (also logisch) ist: ein Abwesender, Verschwundener (Negativität). Das ist er
aber nur für die unschuldige Anima. Diese wäre, wenn sie imschuldige Anima
bliebe, mit einem wesensmäßig Nicht-Daseienden verheiratet. In dem Augen­
blick, wo sie jedoch - nicht schuldig wird, sondern - ihre Unschuld und Harm­
losigkeit verliert, weil sie einen Einblick in das Getötetsein des Weiblichen be­
kommen hat, ist er sofort wieder da, aber jetzt eben als »Mörder und nichts wei­
ter«. »Der Mörder« ist die Form des Anwesens des Nichtanwesenden, der Posi-
livität der Negation.
Und doch müssen wir fragen: Ist er wirklich ein Mörder? Gerade wenn
wir das Ende des Märchens nicht nur als äußerliche Konzession an Hörerbedürf­
nisse betrachten, sondern es in dem Sinn ernst nehmen, daß wir ihm eine innere
Stimmigkeit zuerkennen, dann ist Blaubart nicht der Mörder, sondern der Getö­
tete, der Untergehende. Sein Ende würde etwas über sein Wesen aussagen. Es
würde noch einmal die merkwürdige Passivität dieses »Mörders« unterstreichen,
der während des ganzen Märchens nicht zur grausamen Tat kommt, sondern nur
unheimlich aussieht, warnt, droht und in dem Mädchen Schrecken hervorruft.
Der Animus als Mörder tötet offenbar nicht durch die Positivität einer vollende­
ten Gewalttat. Bis zu seinem Ende und auch in bezug auf sein Töten bestätigt
sich seine Negativität. Tötet er letztlich nicht gerade nur durch die extreme Un­
schuld des Bewußtseins der Anima selber, nämlich durch den bloßen Eindruck,
den er für diese Unschuld macht? Das Messer wird zwar gewetzt, aber nicht be­
nutzt. Das Messerwetzen ist der Vorgang, mit dem der Blaubart das Töten vor
sich herschiebt und seinen Mördern Zeit gibt, heranzukommen. Und er er­
schreckt die Unschuld nicht als der aktive Mörder, sondern durch die für die
Anima unerträgliche Negativität seines Wesens: Seine Abwesenheit ist die grau­
sige Entdeckung. Sie, die Abwesenheit und das heißt die innerste Negativität
seines Wesens, wird gegenständlich sichtbar a) in der Verbotenheit der Kammer
und b) in der Negativität dessen, was in dieser ist: Tod, Leichen - die Aufgeho-
benheit das natürlichen Seins. In dem messerwetzenden Blaubart hat die Anima,
die ihren Einblick in die Leichenkammer ungeschehen machen will, aber nicht
ungeschehen machen kann, nur das gegenständliche Bild ihrer eigenen Angst
vor ihrem schon längst erfolgten Tod als unschuldige Anima. Und das fortwäh­
rende Wetzen ist die Arbeit, mit der die Einsicht in die Aufgehobenheit der eige­
nen Unschuld dieser Unschuld nachhaltig eingegraben wird; es ist der Potenz
nach die langsame Abarbeitung der noch aufrechterhaltenen Unschuldspose.
»Mörder und nichts weiter« ist der Animus also nur aus der Sicht der rei­
nen Unschuld der Anima, nicht in der Tat und an ihm selbst. Aus der Sicht der­
jenigen reinen Unschuld freilich nur, die anders als in der I. Stellung ihr Un­
schuldigbleiben entgegen ihrem besseren Wissen von dem längst Aufgehoben­
sein der Unschuld unbedingt noch verteidigen will (im Sinn einer Abwehr:
»Flucht«, Reinigungszwang).
Ein möglicher Einwand hier könnte sein, daß mit dieser Deutung das Mo­
tiv der Kammer mit den Leichen in seiner ganzen Schrecklichkeit leichtfertig
überspielt werde. Haben wir in den Leichen nicht objektiv, also gerade auch für
uns und nicht nur für die betroffene unschuldige Anima, den Beweis, daß der
Blaubart ein Töter ist? Selbst wenn er bei der Hauptperson des Märchens nicht
zum Töten kommt, so muß er doch zumindest in all den früheren Fällen zur Tat
geschritten sein und sie auch in der Tat vollbracht haben. Aber das ist die Logik
des natürlichen Bewußtseins, eines Bewußtseins, dem wir in der Realität um der
praktisch-technischen Lebenserhaltung willen immer wieder unseren Tribut zol­
len müssen. Doch hier sind wir nicht in der Realität, wir sind in einem Märchen,
einem psychologischen Bild.
Folgen wir Lopez-Pedrazas Aufforderung, »to stick to the image«, und
beherzigen wir Jungs Mahnung bezüglich des Phantasiebildes, das »alles in sich
hat, dessen es bedarf«, der Mahnung: »Dabei hüte man sich vor allem, irgend et­
was von außen, das nicht dazu gehört, hereingelangen zu lassen«4, dann dürfen
wir nicht mit der von außen an das Bild herangetragenen Alltagsschlußfolgerung
aus dem Bild der getöteten Frauen eine früher begangene Tat des Tötens und aus
dieser einen Täter »herausklauben«. Wenn es dämm ginge, hätte das Bild uns
Tat und Täter vorführen können und müssen. Es will uns diese aber gerade nicht
vorführen, sondern nur die Leichen, das Getötetsein der Frauen. Wir müssen ge­
nau hinsehen, was das Bild selber sagt, und dürfen nicht unsere eigenen Vorstel­
lungen, selbst wenn sie für den Allerweltsverstand schlechterdings selbstver­
ständliche Implikationen betreffen, hineinschmuggeln.
Der Animus als Blaubart bringt nicht die reale Tat des Mordes, sondern
den Anblick der Leichen, das Bild, d.h. das Bewußtsein oder die dämmernde Er­
kenntnis des »a priori« schon Getötetseins des Weiblichen - a priori, also lo­
gisch, ohne jemals real begangene oder irgendwann erst noch zu begehende Tat,
d.h. ohne buchstäbliche Tat überhaupt und ohne Töter. Der Animus tut nichts
Grausames. Er bringt nur, nein, er ist nur das Gewahrwerden von etwas, was
zwar immer schon war, aber völlig unbewußt war, und versetzt so nur das Be­
wußtsein aus einem in einen anderen logischen Status. Er läßt das Bewußtsein
zu Grunde, in seinen Grund gehen. So ist er nur psychologischer, nicht buch­
stäblicher Töter und nur als solcher »grausam«.
Für die Unschuld der Anima ist nicht eigentlich die reale Mordtat mit dem
Messer das absolut Furchtbare und Tödliche. Das wahrhaft Tödliche - für die
Unschuld des Bewußtseins - und das unendlich viel Schrecklichere als jede
buchstäbliche Tat ist das Bild (hier des Getöteten), die Erkenntnis. Denn das
Bild als seelisch-logisches nimmt kraft seines nicht dingfest gemacht werden
Könnens (Negativität, Bodenlosigkeit) unmittelbar für sich und in sich ein, die
Erkenntnis durchherrscht unser Wesen, während die positive Tat uns auch nur in
unserer positiven Zuständlichkeit betrifft, weil ja das Positivierte eben dadurch
konstituiert ist, daß unser Wesen aus ihm herausgenommen ist. Daher ist es im

4 C.G. Jung, GW 14/11 § 404.


Interesse der Abwehr zwecks Erhaltung des alten unschuldigen Status des Be­
wußtseins, gerade nicht bei den Leichen in der Kammer als Bild zu bleiben, son­
dern das psychologisch-logische Bild in ein reales, positives Faktum zu überset­
zen, aus dem sich dann mit Recht Tat und Täter herausklauben lassen. Denn
dann ist es möglich, das, was eigentlich etwas das ganze psychologisch-logische
Sein Durchherrschendes betrifft (eine Wahrheit des Bewußt-Seins), reduktiv
herunterzunivellieren zu einem bloß positiven Ereignis auf einer ganz anderen
Ebene, der des Zeitlich-Empirischen, und damit zugleich etwas, was gerade
schon längst ist, für etwas auszugeben, das erst künftig eintreten soll, das so
zwar fortwährend zu fürchten ist und in der Furcht immer neu vor einem herge­
schoben wird, bei dem aber zugleich auch die bange Hoffnung besteht, daß es
eventuell noch verhindert werden könnte. Die (im Grunde schon eingetretene)
Erkenntnis eines auch über die Gegenwart herrschenden seelisch-logischen »A
priori« wird in Schach gehalten durch die Abdrängung seiner auf die empirisch­
praktische Ebene je einzelner zeitlicher Taten und die damit einhergehende Auf­
spaltung dieser dauernd herrschenden Wahrheit in: dann unwiderruflich erledig­
tes Geschehen der (präteritalen) Vergangenheit (die Kammer mit den Leichen)
einerseits und erst noch zu fürchtende Eventualität der Zukunft (die angedrohte
Tat Blaubarts) andererseits, zwischen denen die wirkliche Gegenwart des
Bewußt-Seins frei gehalten wird.
Frei ist sie allerdings nur logisch, worauf es freilich auch im Grande ein­
zig ankommt. Empirisch dagegen ist das Gegenteil der Fall. Denn weil die logi­
sche Ebene des Bildes verlassen wurde (oder um diese Ebene verlassen zu kön­
nen), tritt an die Stelle der einfachen Erkenntnis oder des Begriffs die Emotiona­
lität als subjektive empirische Zuständlichkeit: die fortwährende Aufgeregtheit
der panischen Furcht vor jener Eventualität, in welcher Furcht man diese Even­
tualität immer neu vor einem herschiebt, zusammen mit der nicht minder aufge­
regten bangen Hoffnung, jener Eventualität vielleicht doch noch entkommen zu
können. Wir erinnern uns daran, wie Jung einmal die Neurose definierte: näm­
lich als Ersatz für legitimes Leiden. Das legitime Leiden ist das einfache Durch­
leiden der Erkenntnis, das von ihr Ergriffen- und Begriffenwerden, in ihrer Ne­
gativität. Der Ersatz ist das innere Theater der ichhaften Emotion in der der
Wahrheit abgenötigten scheinbaren Sicherheit der endlos perpetuierten Pause
zwischen vergangenem schrecklichen Ereignis und erst noch eintretender
schrecklicher Eventualität, alles auf der Ebene der Positivität, zu der sich hier
die neurotische Psyche heranterbomiert. Sie tut dies um jener Pause willen, um
sich in ihr ansiedeln zu können und nicht in der Wahrheit wohnen zu müssen.
Die endlose aufgeregte Furcht-und-Hoffnung ist sowohl der Preis, den sie willig
für den Genuß der Pause und das der Wahrheit Entkommen zahlt, als auch der
Keil, den sie fortwährend in die eine Wahrheit schiebt und mit dem sie diese in
zwei kastrierte Teile (empirische Vergangenheit und empirische Zukunft) aus­
einanderspreizt, um so die Pause zwischen den beiden zu erzeugen und immer
weiter aufrechtzuerhalten.
Die in. Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen: Standfe­
stigkeit angesichts des Todes. In der ersten Stellung konnte Sara von ihrer
Magd als »Männermörderin« beschimpft werden, weil sie in der Tat für den Tod
der Bräutigame verantwortlich war. Dies lag daran, daß sie dem Animus anima-
haft verfallen war und ihm so keinen Widerstand entgegenzusetzen vermochte,
aber ihm auch als seine Geliebte gewachsen war. Sie mußte nicht vor Angst ver­
gehen, weil sie sich mit seinem Charakter als Töter ausgesöhnt hatte und daher
nicht in der absoluten Unschuld verharrte. Insofern der Animus aber gerade der
Widerstand - auch gegen ihn, den Animus, selbst - ist, war der Animus in dieser
Stellung seinerseits der Anima (als Stufe) verfallen. In der zweiten Stellung fin­
den wir den »Frauenmörder«, weil es hier nämlich zu einem Zurückschrecken
vor dem Animus kommt und damit der Animus in erster Unmittelbarkeit zu sich
selbst gekommen ist. Die Negation, die der Animus ist, richtet sich offenbar
dann, wenn die Anima-Gestalt sich vor ihm als eigenständig retten will, gegen
sie selbst, während sie dann, wenn sie sich hingebungsvoll für ihn einnehmen
läßt, primär gegen die realen Männer als Seiende richtet. Die HI. Stellung der
Seele vereint die geringere Harmlosigkeit der Anima aus der I. Stellung mit der
Selbstbehauptungstendenz der Anima aus der II. Stellung. Und deswegen kann
sich die Negation, als die der Animus ist, hier gegen ihn selbst wenden und ihn
»vernichten«, womit er jedoch gerade sich selbst durchsetzt. Denn da er reine
Negativität ist, ist die wahre Form seines Sich-Durchsetzens nicht eine positive,
wie in der I. Stellung, sondern selber negativ.
Wir machen uns dies klar an dem Märchentypus AT 955 (Der Räuber­
bräutigam), der aufs engste mit dem Typus 312 (Blaubart) zusammengehört, ja
im Grunde »dieselbe« Geschichte erzählt, nur diesmal innerhalb der Hl. Stellung
und aus ihrer Sicht. Wieder interessieren uns hier nur die Grundzüge dieses
Märchentypus.
Ein Müller verspricht seine schöne Tochter einem reichen Freier, der sie bedrängt,
ihn im Wald zu besuchen. Das Mädchen macht sich auf den Weg, gelangt zu dem
beängstigend stillen Haus im Wald, wo es eine steinalte Frau trifft, die es warnt: es
sei in ein Mörderhaus geraten und solle Hochzeit mit dem Tod halten. Die Alte ver­
steckt das Mädchen hinter einem Faß. Dann erscheinen die Räuber, angeführt von
dem Bräutigam. Sie schleppen ein Mädchen mit sich, das sie anschließend zerhak-
ken, um es in einem großen Kessel zu kochen und zu essen. Als der Ringfinger mit
einem goldenen Ring abgehackt wird, fliegt er dem verborgenen Mädchen in den
Schoß. Während die von Wein und einem Schlaftrunk betäubten Räuber schlafen,
gelingt es dem Mädchen zu fliehen. Am Tag der Hochzeit, da jeder während des
Mahles etwas erzählen soll, drängt der Bräutigam seine Braut, auch etwas vorzutra­
gen. Das Mädchen erzählt, was es im W ald erlebt hat, beteuert aber immer neu, dies
sei nur ein Traum gewesen. In dem Augenblick aber, wo die Rede auf den abgehack-
ten Ringfinger kommt, zieht sie diesen als Beweis der Verbrechen ihres Bräutigams
hervor. Dieser wird gefangen und mit seinen Gesellen hingerichtet.

Ließ sich in der ersten Stellung die Anima-Gestalt von ihrem Anderen
faszinieren und wurde sie in der zweiten Stellung von ihm in maßlose Angst
versetzt, ja beinahe vernichtet, in anderen Worten: widerfuhr in beiden Fällen
der Anima-Gestalt die Erfahrung des Animus, so gelingt es ihr hier, den Spieß
herumzudrehen. Sie hält wenigstens am Schluß das Heft in der Hand, und der
Animus als Räuberhauptmann muß seine Hinrichtung erleiden. Es bleibt nicht
bei der abstrakten Funktion des Zurückschreckens, nicht beim bloßen Fliehen­
wollen. Die Flucht wird konkrete Flucht. Das Mädchen flieht tatsächlich aus
dem Bann des Mörderhauses, nachdem genau umgekehrt die Räuber durch den
Schlaftrunk »gebannt« worden sind, und bringt ihren Verfolger schlußendlich
vor Gericht. Was ermöglicht der Anima in dieser Stellung der Seele zu ihrem
Anderen, sich zu behaupten und das Andere ihrer selbst unterzukriegen?
Was für das Mädchen in dem Blaubart-Märchen schlechterdings unaus­
denkbar war, nämlich das Getötetwerden, ist für das Mädchen dieses Märchens
offenbar nicht unausdenkbar. Es vermag sogar der Zerstückelung eines anderen
Mädchens beizuwohnen und dabei gefaßt zu bleiben. Es wird zwar auch furcht­
bare Angst ausgestanden haben, aber es konnte sich zusammennehmen, sich be­
herrschen, so daß es sich nicht durch panische Schreie verriet. Es ist dem
Schrecklichen, das sich vor seinen Augen abspielt, offenbar gewachsen. Es ver­
mag diesen »unerträglichen« Anblick zu ertragen. Es erlebt das Entsetzliche
nicht mehr als absolutes Trauma. Es führt ganz buchstäblich vor, was es heißt,
»dem Negativen ins Angesicht zu schauen, bei ihm zu verweilen«. Auch seine
Flucht ist nicht kopflos, es vergißt nicht das Beweisstück, den abgehackten Fin­
ger, mitzunehmen, und es graust ihm auch nicht genug vor diesem, so daß es ihn
nicht würde anfassen können. Das heißt, es ist in seinem eigenen Bewußtsein
nicht mehr so arglos und unberührt wie das Mädchen in der zweiten Stellung.
Wenn auch nicht faktisch, so bedeutet das Mitanschauenmüssen der Zer­
stückelung eines anderen doch psychologisch immer auch, selber vernichtet zu
werden: nämlich durch die in diesem Anblick (Bild) liegende Kränkung, ja Tö­
tung des eigenen Ideals. Die Müllerstocher wird daher nicht »von der Verwü­
stung rein bewahrt«, sondern weiß sie zu ertragen und in ihr sich zu erhalten.
Diese Kraft besitzt sie aber nur, wenn und weil sie die zweite Stellung hinter
sich hat, im doppelten Sinn von überwunden und verwunden (»integriert«). Die
Vernichtung durch das Andere ist nicht mehr schlechterdings imausdenkbar,
weil die Blaubart-Situation als längst erfahrene, die Vernichtung der eigenen
Unschuld als längst durchlittene nicht mehr absolut erschrecken und somit die
(jetzt gar nicht mehr in dem Maße vorhandene) Unschuld des Bewußtseins ver­
nichten kann. Sie ist grundsätzlich, wenn auch nicht faktisch, bekannt, »inte­
griert«. Das zeigt aber, daß die drei Stellungen nicht wie drei alternative Mög­
lichkeiten nebeneinander stehen. Die höhere, hier die dritte, setzt die vorange­
gangenen logisch voraus und fuhrt sie als aufgehobene, als Moment, mit sich.
Sie ist nur, was sie ist, weil sie ihrerseits die aufgehobene zweite Stellung ist.
Wenn das Mädchen dann am Ende sogar den Räuber in die Flucht treibt
und dazu beiträgt, daß er schließlich hingerichtet wird, dann zeigt sich, daß das
Tötenkönnen, das als das diabolisch Mörderische im Blaubart-Märchen absolut
von dem unschuldigen Bewußtsein des Mädchens abgespalten und an den Blau­
bart delegiert war, während die Frauengestalten in der ersten Stellung sich noch
damit hatten aussöhnen können, nunmehr teilweise sogar in das Mädchen selber
hinübergewandert ist. Es hat sich die Kraft der Negation, die zuvor ganz außer­
halb seiner in seinem Gegenüber gewesen wäre, selbst zueigen gemacht, nicht
aufgrund einer bloßen (undialektischen) Verkehrung der Unschuld ins Gegen­
teil, sondern weil die Vernichtung der Blaubart-Situation durchgestanden, vom
Bewußtsein ins Bewußtsein aufgenommen und ertragen wurde und weil so das
Bewußtsein an dieser Erfahrung gewachsen ist. Deshalb ist hier die Rettung des
Mädchens, ganz anders als im Blaubart-Märchen, überzeugend; sie ergibt sich
zwangsläufig aus dem, wie das Verhältnis beider Seiten zueinander a priori an­
gesetzt ist. Und wieder sehen wir, daß der Animus nicht in erster Linie und aus­
schließlich an dem männlichen Protagonisten zum Ausdruck kommen muß, son­
dern sich ganz entscheidend, ja vor allem, an der weiblichen Gestalt zeigt.
Richtiger wäre freilich zu sagen, er zeigt sich nicht in dieser oder jener Gestalt
innerhalb des Märchens, sondern in dem Märchen als ganzem: in der vernichte­
ten Animus-Gestalt ebenso wie in der sich behauptenden Anima und in beider
Zusammenspiel, wozu der Untergang der Animusgestalt wesentlich gehört.
Von hier aus auf das Blaubart-Märchen zurückblickend können wir erken­
nen, daß auch dort schon der Übergang der Kraft der Negation vom Animus an
die Anima vorbereitet wird. Denn dort haben die Brüder der Anima-Gestalt
(wenn auch nicht diese selbst) die wirkliche Tötungsgewalt, während der Blau­
bart nur geduldig das Messer wetzt und sich durch dieses Aufschieben ihnen
selbst in die Hand gibt, ganz so, wie der Räuberbräutigam sich leichtsinnig trotz
der Flucht seiner Braut und der steinalten Frau (beides Tatzeugen!) noch zur
Hochzeitsfeier draußen begibt und dort selber das Mädchen zu der Erzählung
animiert, die ihn entlarvt und schlußendlich seinen Untergang herbeiführt.
Indem der Animus getötet wird, ereignet sich die Negation der Negation.
Und diese ist gleichbedeutend mit der Kraft der tapferen Selbstbehauptung (Af­
firmation) der Müllerstochter. In den beiden ersten Stellungen war das Andere
seinem Status nach einfach nur das Andere der Seele, das der Seele als Anima
zwar imendlich überlegen gegenüberstand, aber doch nur gegenüberstand. Es
war ein einfaches Gegenüber, eine einfache Andersheit, so wie die von Mann
und Frau oder wie Ausländer und Einheimische. Das Andere war noch nicht in
seiner Andersheit ausdrücklich gesetzt und damit aus dem einfachen Gegenüber
herausgesetzt worden. Das geschieht jedoch hier. Dem Anderen wird der Stem­
pel des Verbrechers, des Bösen, des Abartigen aufgedrückt und es damit auf ei­
ne untermenschliche Stufe niedergedrückt. Damit ist die Andersheit potenziert;
das Andere ist disqualifiziert, aus der Möglichkeit des Partnerseins grundsätzlich
ausgeschlossen. Und in einem damit hat sich das Mädchen über das eigene An­
dere erhoben, sich zu sich selbst ermächtigt und sich aus dem Bezug zu ihm
ganz und gar hinausgesetzt. Es ist dies die gleiche Bewegung, wie wenn nicht
nur gesehen wird, daß jemand ein Ausländer, also anders und fremd ist, sondern
wenn darüber hinaus auch noch der Ruf »Ausländer raus« gegen ihn ertönt. Die
Andersheit des Ausländers wird in diesem Slogan noch einmal gesetzt, sie soll
nicht nur einfach sein, sondern auch dazu noch eigens an ihm und gegen ihn
agiert werden. Das Anderssein ist nicht nur Beschreibung, es ist zur Waffe ge­
gen den Anderen geworden. Erst damit ist die Andersheit des Animus vollendet
und dieser zu sich selbst gekommen. In seiner Vernichtung lebt er auf als die
Standfestigkeit des Mädchens, das damit zur gestandenen Frau geworden ist.
Die Standfestigkeit ist dabei die Gegenposition zur animahaften Hingabe an den
Töter, die als Motiv durchaus anklingt, wenn es heißt, daß das in das Mörder­
haus geratene Mädchen Hochzeit mit dem Tode halten soll. Es zeigt sich, daß
das in diesem Märchen Geschilderte also in der Tat nicht gegenüber den früher
besprochenen Märchen eine ganz neue, selbständige Geschichte ist. Es ist viel­
mehr dasselbe Thema »Hochzeit mit dem Tode«, das uns schon ab Sara und As­
modi, Hades und Persephone beschäftigte, wobei aber jeweils eine ganz andere
Stellung zu. dem immer gleichen Thema innerhalb der Erzählungen bezogen
wird. Es ist jedesmal dasselbe Verhältnis von Mädchen und Töter, das jedoch
durch verschiedene »Medien« (logische Status: die drei Stellungen) hindurch­
wandert und in jedem Medium sich ganz anders darstellt, weil es von diesem
Medium her seine jeweilige besondere Bestimmung erhält.
Weil die Stellungen so verschieden sind, ist auch die Bedeutung von
»Hochzeit mit dem Tode« je ganz anders. Bei Jungs Patientin war es eine buch­
stäbliche Hochzeit, die die äußerste Erfüllung brachte, weswegen die Patientin
Jung ja auch verübelte, daß er sie aus der pieromatischen Mondexistenz heraus­
gebracht hatte. Hier, in dem Räuberbräutigam-Märchen, dagegen ist die Rede
von der Hochzeit mit dem Tode nur noch eine ironische Metapher. Sie bedeutet
nicht mehr die beseligende Vereinigung mit einem männlichen Wesen, das dar­
über hinaus, daß es Gatte, Partner, Geliebter ist, »zufällig« auch noch der Tod
ist. Sie bedeutet jetzt lediglich, daß das Mädchen buchstäblich und sinnlos ster­
ben, den Tod erleiden müsse, anstatt mit dem Bräutigam vereint zu werden. Die
Bedeutung von »Tod« hat sich gewandelt. In der I. Stellung waren Tod als Tot­
sein des Menschen und Tod als Todesdämon ein und dasselbe, weshalb das Tot­
sein nicht schlechthinniges Vemichtetsein war, sondern ein erhöhtes, beseligen­
des Sein in pleromatischer Verbindung mit dem Todesgott sein konnte. Jetzt je­
doch sind Tod als Totsein und Tod als Todbringer auseinandergefallen. Der
Räuberbräutigam hat allen übernatürlichen Glanz, alles Dämonisch^, verloren;
er ist nur noch ganz profan ein gemeiner Mörder, der, wenn er das Mädchen ge­
tötet hätte, gerade nicht mit ihr, und sie nicht mit ihm, vereint wäre. Ein funda­
mentaler Bruch hat stattgefunden. Er geht auf das Konto der neuen Stellung zum
gleichen Thema oder das Konto der Sicht, nicht jedoch auf eine Wandlung der
»objektiven Sachlage«.
Das Märchen vom Räuberbräutigam macht die Reflexion auf die Diffe­
renz zwischen »Stellung zu« oder »Sehweise« einerseits und dem, was gesehen
wird, andererseits besonders dringlich. Diese Differenz drängt sich nämlich
förmlich auf angesichts des Motivs von der Zerstückelung des zweiten Mäd­
chens. So, wie dieses Geschehen aus der im Märchen selbst obwaltenden Per­
spektive geschildert wird und so, wie die Personen im Märchen, die Braut, die
steinalte Frau, die späteren Hochzeitsgäste und die Richter es sehen, handelt es
sich dabei um ein sinnloses, banales, wenn freilich auch besonders brutales Ver­
brechen, um eine unmenschliche Schandtat. Aber in dem objektiven Gehalt des
Geschehens, das aus dem genannten Blickwinkel heraus geschildert wird,
scheint für uns durch diese so gefärbte Schilderung hindurch und ihr zuwider ei­
ne ganz andere, ja entgegengesetzte Sicht hervor. Was dort in der einsamen Hüt­
te im Wald geschieht, folgt ganz deutlich dem Muster von Opferritualen oder
schamanistischen Initiationsritualen. Hat man das erkannt und betrachtet man
das Geschehen aus dem so sich ergebenden veränderten Blickwinkel, dann
könnte man sagen, daß das, was eigentlich in dem Märchen angelegt war, eine
Initiation etwa in den Stand einer Schamanin ist. Die »Braut« wird so, wie Lydia
in dem ghanesischen Bericht von den Zwergen in den Wald gelockt wurde, um
dort in die Rolle einer Fetischpriesterin eingeweiht zu werden, hier von dem ge­
heimnisvollen »Bräutigam« in die einsame Hütte im Wald geladen, in der wir
eine Initiationshütte erkennen. Dort hat die alte Frau, die Initiationshelferin, die
Vorbereitungen für die Initiation treffen und das Mädchen in der Tat auf die
Hochzeit mit dem Tod vorbereiten sollen. Zur schamanistischen Initiation, kraft
der der Schamane (und mutatis mutandis die Schamanin) sein heilerisches Wis­
sen, sein Vermögen der Seelenausfahrt, seine Hilfsgeister und vielleicht seine
Geisterbraut gewinnt, gehört das Erlebnis der Zerstückelung. Zuerst wird ihm
der Kopf abgeschnitten, dieser wird auf den höchsten Balken der Yurte oder auf
eine Stange gesteckt, damit er genau Zusehen könne, wie in der Folge sein eige­
ner Körper von den Geistern zerstückelt, das Fleisch von den Knochen abge­
trennt, gekocht und dann gegessen wird. Genau das scheint eigentlich auch in
unserem Märchen intendiert zu sein. Was aus der veränderten Sicht des Mär­
chens Räuber und Mörder sind, wären dementsprechend im Grunde die Geister,
die an der Initiandin die Zerstückelung vornehmen - nicht aus schändlicher
Mordlust und kannibalischer Gier, sondern um eines höchsten Zieles und Sinnes
willen, der Erlangung eines Zugangs zur Geisterwelt und der damit verbundenen
schamanischen, zauberischen Kraft. Von hier aus können wir rückblickend ver­
muten, daß auch im Blaubart-Märchen das Töten eigentlich ebenfalls den dort
freilich überhaupt nicht mehr durchscheinenden tieferen Sinn einer Initiation
hätte haben sollen.
Diese Sicht, die wie gesagt entgegen der expliziten Sehweise des
Räuberbräutigam-Märchens immer noch durchscheint, ist die Sicht, die der er­
sten Stellung entspricht. In ihr würde das Geschehen unter der Ägide der Anima
ablaufen. In der Anima-Sphäre entläßt sich die Seele in die initatische Trans-
gression nach Drüben. Sie setzt dem initiatischen Sterbenmüssen keinen Wider­
stand entgegen. Sie geht mit dem, was sie sich selbst zumutet, mit. Jung sagte,
die Anima sei die Mediatrix zum (kollektiven) Unbewußten, zu den Ahnen, zur
Tradition. Unser Märchen jedoch ist eines, in dem gerade der Animus sich gel­
tend macht. Er erscheint nicht nur als eine einzelne Gestalt, sondern er bestimmt
die ganze Sphäre und damit die Erlebnisweise dessen, was erlebt wird oder er­
lebt werden soll. So manifestiert er sich gerade auch in dem Mädchen als der
Anima-Gestalt. Und sein Wesen besteht nun darin, die Negation der Anima zu
sein. Er ist also, wie ich entgegen der orthodoxen Lehre sage, gerade nicht das
(Entsprechende) für die Frauen, was die Anima für die Männer sein soll: näm­
lich die »natürliche Funktion« zu haben, »eine Verbindung zwischen dem indi­
viduellen Bewußtsein und dem kollektiven Unbewußten herzustellen«.5 Wir
sind ja hier überhaupt nicht mit den Männern und den Frauen befaßt, da wir Psy­
chologie (nicht Anthropologie, nicht Pädagogik, nicht Ethologie) treiben und
»Männer« und »Frauen« kein psychologischer Gegenstand sind.
Der Animus ist demnach nicht wie die Anima eine »Brücke oder ein Tor
zu den Bildern des kollektiven Unbewußten«.6 Seine Funktion ist es, ganz wi­
dernatürlich (contra naturam) die initiatische Transgression nach Drüben zu
verhindern, den Weg zu den Ahnengeistem, zum Imaginalen, zum kollektiven
Unbewußten zu versperren. Der Animus lehrt den Bruch des Verlöbnisses zur
Hochzeit mit dem Tode, das Nein! zur Initiation, das sich ihr Verweigern und
das sich ihr gegenüber als eigenständig Behaupten. Er setzt aus dem Einbehal­
tensein im Pleroma der Seele hinaus. Er macht die für die Anima-Stufe ganz na­
türliche Faszination und das selbstverständliche Eingenommenwerden durch das
je Begegnende unmöglich und ermöglicht das Draußen- und Gegenüberstehen.
Er beendet das sympathetische Weltverhältnis, zerbricht die »bubble« der ani­
mahaften Seele (die »unio naturalis«) und macht blind für den Sinn der Mythen
und Rituale, für das Wandlungsgeschehen, für Zauber und Mysterium. Die Libi­
do der Seele darf nicht mehr, ihrem natürlichen Gefälle folgend, in ihre mythi­
sche Genugtuung fließen (Vor-läufigkeit). Sie muß an sich halten, sich für ande­
re, eigene Zwecke aufsparen, was uns in einem späteren Kapitel näher beschäfti­
gen wird.

5 Aus einem englischen Seminarbericht von C.G. Jung, Bd. 1, 1925, zitiert nach dem »Glossar« in
C.G. Jung, Erinnerungen Träume Gedanken, hg. A. Jaffd, Zürich und Stuttgart (Rascher) 1967, S.
409.
6 Ebd.
Indem der Animus die Seele aus ihr selbst heraus- und in die Positivität
hineinsetzt und sie damit befähigt, sich von außen, in äußerlicher Reflexion und
so auch von äußerlichen Gesichtspunkten aus zu betrachten, schafft er jenen
Standpunkt, den wir »das Ich« nennen. Das Ich ist der von der Seele entfremde­
te und ihr fremd gegenüberstehende Standpunkt der Seele, weshalb in der mo­
dernen Psychologie soviel von den Beziehungen zwischen dem Ich und dem
Unbewußten die Rede ist, Beziehungen, die eben immer erst hergestellt oder ge­
heilt werden sollen, weil sie von Hause aus, und zwangsläufig, »gestört« sind.
Der Animus siedelt die Seele ihr gegenüber in der Realität an, die jedoch
erst durch die Heraussetzung der Seele aus ihr selbst entsteht. Die Realität ist
nicht einfach die Wirklichkeit der Welt, wie sie schlechterdings ist. Ja, das ist sie
gerade nicht. Sie ist die Welt und das Geschehen, wie sie erscheinen, wenn sie
aus dem Blickwinkel des Ichs, also von außen, von einem äußerlichen Stand­
punkt aus und als nur noch positive gesehen werden. Der Animus ist die Tren­
nung und unversöhnliche Entgegensetzung von Imagination, Traum, Mythos,
Märchen einerseits und Realität andererseits, von dem Ich und dem Unbewuß­
ten, von Tag- und Nachtwelt, und er ist die Absperrung zwischen beiden.
Daß die Seele sich nur innerhalb der Syzygie aus der Syzygie in die Reali­
tät als positive hinaussetzt, zeigt sich vielleicht am besten dadurch, daß die stei­
nalte Frau, die doch in das einsame Haus, in die Initiationshütte, gehört, das
Mädchen warnt und in der Grimmschen Version mit ihr aus dem Haus flieht.
Der Bruch, der von dem Animus bewirkt wird, setzt schon innerhalb der initiati­
schen Sphäre selbst ein und läßt die Frau, die doch eigentlich die Initiation be­
fördern sollte, gegen diese Stellung beziehen. Indem die wesenhaft in die Initia­
tionshütte und die Geistersphäre gehörende Alte aus dem Haus flieht, wird ge­
zeigt, daß es die Seele selbst ist, die sich aus ihr selbst und aus ihrer Negativität
heraussetzt. Und nicht das Mädchen kommt mit einer Abwehrhaltung in das
Haus, sondern das Nein! wird ihm erst dort, zunächst von warnenden Vögeln,
dann von der Alten eingegeben. Die Seele selbst hat hier auf derjenigen Station
der Selbstbewegung ihrer Syzygie, die ich die dritte Stellung genannt habe, ein
Interesse daran, ihren natürlichen Hang zu unterbinden, den Hang, ihrem eige­
nen Zauber zu erliegen. Sie hat anderes vor.
Freilich ist es nicht ganz gerecht zu sagen, daß dem Mädchen das Nein!
von den Vögeln und der steinalten Frau eingegeben wird. Denn was diese sagen,
ist wesenhaft doppeldeutig. Es kann als Einstimmung in die Initiation ebenso
wie als Warnung und Abschreckung vor ihr gehört werden. Daß es in dem Mär­
chen in der Tat eindeutig als Abschreckung klingt, verdankt sich nicht einfach
dem, was die Vögel und die Alte sagen, sondern es verdankt sich dem Medium
der IE. Stellung, das die grundsätzlich auch ganz anders zu verstehende Rede
eben so und nicht anders klingen läßt. Was in einem bestimmten Märchen gesagt
wird, ist immer schon die Einheit von einer archetypischen Aussage und einer
Interpretation, die von der Stellung, in der das Märchen als ganzes angesiedelt
und von der es durchherrscht ist, vorgegeben wird. (Entsprechendes gilt für die
Geschichten, die die Patienten über ihr Leben zu erzählen haben: sie sind immer
die Einheit von einem Geschehen und von der Geschichte, die von diesem er­
zählt wird.)
Ob man die »Hochzeit mit dem Tode« als Einladung zur Initiation oder
als in ironische Form gekleidete Warnung hört, ob man in den Zerstückelem
Geister oder Verbrecher sieht, hängt, so könnten wir mit Bezug auf weiter oben
Ausgeflihrtes sagen, davon ab, ob der Hörende und Sehende im Goldgrund oder
im Schwarzen Kasten, in der immanenten oder in der äußerlichen Reflexion
hockt. Der »Grund« gibt die »Kategorien« des Hörens und Sehens vor. Das vor­
liegende Märchen hat seinen logischen Ort im Schwarzen Kasten oder in der äu­
ßerlichen Reflexion und ist zugleich die - sit venia verbo - Initiation in den
Schwarzen Kasten und seine Kategorien des Welterlebens.
In der schamanischen Initiation wurde dem Schamanen der Kopf abge­
trennt, damit er der Zerstückelung zuschauen könne. Ganz entsprechend kann
das Mädchen in unserem Märchen der Zerstückelung des anderen Mädchens zu­
schauen. Der gravierende Unterschied ist dabei, daß der Schamane seiner eige­
nen Zerstückelung (der Zerstückelung eines Anderen, das er als das Andere sei­
ner selbst weiß) zuschaut, während im Märchen das Erleiden und das wache
Wahmehmen auf zwei buchstäblich getrennte Individualitäten verteilt ist. In der
Buchstäblichkeit des Anderen tut sich die äußerliche Reflexion kund. Weil das,
was sich da abspielt, ganz von außen gesehen wird, ist das Eingenommenwerden
von dem initiatischen Geschehen und für es a priori ausgeschlossen. Dieses kann
nicht mehr von innen, als einem selber widerfahrendes, als kraft seiner Bildhaf­
tigkeit und seiner logischen Negativität ganz selbstverständlich in sich einneh­
mendes und so seelisches, sinnhaftes Geschehen gewürdigt werden. Es muß un­
ter völlig äußerlichen Gesichtspunkten apperzipiert werden: ganz »realistisch«,
positiv, als abscheuerregendes Verbrechen. Anders herum bedeutet die äußerli­
che Reflexion die Kraft, das im Bild Gesehene zu positivieren; sich aus einem
wirklichen Geschehen logisch herauszuhalten und sich ihm gegenüber zu be­
wahren, es gleichsam aus einem Versteck heraus (in welchem sich das eigene
Wesen reserviert) als ausschließlich einen buchstäblich anderen (oder einen
selbst als nur äußerlichen, positiven, von der Negativität des eigenen Wesens ab­
gespaltenen) betreffendes Geschehen in seinem abstrakten, rein sachlichen Ge­
halt zu sehen, ohne sich widerstandslos von seinem Sinn und seiner Bildnatur in
es einnehmen zu lassen, wodurch es dann initiatisch wirken könnte.
Ich sagte, daß der Animus die Trennung und Entgegensetzung von Imagi-
nalem und Realität sei. Daß er dies ist, wird unter der Voraussetzung, daß unser
Märchen ein Animus-Märchen ist, daran offenbar, daß im Märchen die Diffe­
renz zwischen initiatisch-ritualistischem Verständnis und realistisch-positivem
Verständnis des Geschehens sichtbar ist, insofern der urtümliche, schamanisti­
sche Charakter der an dem Mädchen vollzogenen Operation, wenn auch in ver­
deckter und entstellter Form, durchaus bewahrt bleibt. Der Widerstreit zwischen
beiden Sehweisen ein und desselben Vorgangs zeigt, daß wir es nicht mit einer
ganz separaten Geschichte zu tun haben, sondern mit einer, die die alte Ge­
schichte als ihre Voraussetzung in ihr selbst trägt und nur dadurch zustande
kommt, daß sie sich durch die Verneinung der alten Haltung zu dem Geschehen
zu einer neuen Haltung ihm gegenüber abstößt.
Die äußerlichen Gesichtspunkte, die überhaupt erst das, was wir Realität
(positive Realität) nennen, ermöglichen, sind die der Moral und des Rechts.
Wenn das, was einst eine Initiation gewesen wäre, nunmehr ein Verbrechen ist;
wenn die, die ehedem als Geister oder Initiandenführer erschienen wären, jetzt
auf einmal ganz banale menschliche Schandbuben sind; wenn das Mädchen aus
dem Erlebnis in der Hütte keinen Heilsgewinn, sondern einzig das profane Cor­
pus delicti als juristischen Beweis mitbringt, das gegen jene verwendet werden
kann: dann sind wir aus einer auf einen tieferen Lebenssinn hin orientierten
Sicht zu einer nur noch forensischen Sicht avanciert (es ist dies ein Fortschritt,
der mit größten Verlusten erkauft wird). Alle höhere Weihe, die dem Mythi­
schen eignet, ist verschwunden; wir finden uns jetzt in einer durch und durch sä­
kularen Welt wieder. In dem moralisch-juridischen Herangehen an die Dinge er­
baut sich ganz vorzüglich die positive »Realität«, die ja nichts anderes ist als das
aus der seelischen Bewegung Heraustreten, ihr Gegenübertreten und sich dort
ihr gegenüber Behaupten. (Freilich so, daß auch dieses Heraustreten dennoch in­
nerhalb ihrer verbleibt und nur eine interne Differenzierung und Komplizierung
bringt.)
So wie von Franz mit ihrem Satz, daß man vor Blaubart nur fliehen kön­
ne, auf das Blaubart-Märchen von der Perspektive der einen Gestalt innerhalb
des Märchens her reagiert hatte, so betrachtet Rene Girard mit seiner
Sündenbock-Theorie des Opfers die rituelle Welt der alten Kulturen ganz aus
der Perspektive der Heldin des Mädchenräuber-Märchens. Er ist ganz mit der
darin erfolgten forensischen Uminterpretation des Rituellen identifiziert.
In Moral und Recht wird das Böse verdammt und gerichtet. Die Unter­
scheidung zwischen Gut und Böse dient dem Verdammenkönnen, in welchem
sich das ichhafte Wollen zu sich selbst erbaut. Je mehr und heftiger ich verdam­
me, desto mehr wächst die Festigkeit meines Ichs. Dieses Wollen ist der eigent­
liche metaphysische Charakter der »Realität«, die also nichts mit Wahrheit und
Wirklichkeit zu tun hat, aber natürlich gerade kraft dieses Wollens als die Wahr­
heit und die Wirklichkeit gesetzt wird. Nietzsche nannte es den Willen zur
Macht.
In der Grimmschen Fassung sagt das Mädchen in seiner Erzählung von
dem Erlebten während des Hochzeitsessens immer wieder zu ihrem Bräutigam:
»Mein Schatz, das träumte mir nur«, bis es am Ende der Erzählung sehr effekt­
voll das Beweisstück, den abgeschnittenen Finger, hervorzieht, wodurch das,
was als bloßer Traum erzählt wurde, schlagartig in Realität umkippt. Dies ist je­
tloch nicht nur erzählerisch sehr wirksam, es bedeutet auch eine letzte Ironisie­
rung und Verabschiedung sowohl der »Hochzeit mit dem Tode« als auch desje­
nigen Welterlebens, welchem Traum, Vision, Mythos, Ritual etwas bedeuten.
»Mein Schatz, das träumte mir nur« ist die feierliche Inauguration desjenigen
Denkens, für das Träume nichts als Schäume, Mythen nichts als Lügenmärchen
und Rituale nichts als abergläubische Handlungen sind. In der Realität gibt es
keine Bedeutung, keinen Sinn, da wird gehandelt, nämlich den Bösewichtem
der Kopf abgeschlagen, den »Problemem« der Garaus gemacht (was sich der
Usurpation einer Animus-Tätigkeit durch die Anima verdankt). Die Abkehr und
Abwehr von dem blutigen Geschehen im einsamen Haus im Wald, das als Ge­
schehen im »Wald«, d.h. entrückt von der Alltagswelt, als ein visionär-ekstati­
sches Geschehen in der Negativität der Seele gedacht werden muß, mündet in
ein nicht weniger brutales Geschehen, nun freilich eines in der faktischen Reali­
tät und als Positivität.
Aber ist nicht das Geschehen im Räuberhaus, selbst wenn es der Initiation
diente, doch einfach in der Tat unmenschlich, so daß es wie ein Verbrechen un­
terbunden werden muß? Diese Frage ist eine Falle. Sie hat das, was sie dann zu
finden scheint: die (Un-)Tat und ihre Tatsächlichkeit, selber schon voraus­
gesetzt. Sie nimmt das Geschehen in dem Haus im Wald schon als positive
Realität. Aber daß es dies sei, ist nicht ausgemacht. Das Märchen selbst weist
daraufhin, indem es die Möglichkeit, daß das ganze ein rein innerseelisches, vi­
sionäres Geschehen, nämlich ein »Traum« war, ins Spiel bringt. Auch der Satz:
»Mein Schatz, das träumte mir nur« ist doppeldeutig. Er sagt die Wahrheit. In
diesem Satz haben wir den Ursprung des ganzen Märchens. Aber diese Wahrheit
überläßt es dem Hörer oder Sprechenden, sie so oder so, einfach oder ironisch,
zu verstehen. Nur wenn wir der expliziten Tendenz des Märchens aufsitzen, ist
für uns klar, daß realiter ein furchtbares Verbrechen in dem Haus im Wald statt-
gefunden habe. Der impliziten Tendenz nach hat aber in Wahrheit ein Ent­
rückungserlebnis, ein Geschehen im »Traum«, stattgefunden; aber gegen den
Gehalt und Sinn dieses Erlebnisses hat sich die Seele hier (kraft des Animus in­
nerhalb der Syzygie) gesperrt. Sie hat sich von diesem rein seelischen Erlebnis
in die durch das Abstoßen erst gesetzte Realität abgestoßen. Wir wohnen in die­
sem Märchen dem Vorgang bei, wie aus dem innerseelischen Erleben (aus
»Traum«, »Vision«, aus »Goldgrund-Welt« oder mythischer Wirklichkeit, also
der Negativität der Seele) die Realität generiert wird: durch die Abwehr der na­
türlichen Vor-läufigkeit der Seele in das Telos und in den Sinn ihres logischen
Lebens. Durch die Abwehr wird das Bewußtsein allererst aus dem psychologi­
schen Auffassen hinaus- und in die Mentalität des Staatsanwalts (oder auch des
Verhaltenspsychologen), die Mentalität der standhaften Müllerstochter als des
Urbilds der Feministin hineingebracht.
Das Abstoßen aus der seelischen Wirklichkeit wird ausgedriickt in dem
»nur« des Satzes »das träumte mir nur«. Das Wörtchen »nur« eröffnet und eta­
bliert den Gegensatz von zwei ontologischen Bereichen: Traum und Realität.
Die Realität ist dabei selber dieser ontologisch genommene Gegen-satz, durch
den der Traum, der Mythos, das Visionäre in das »Nichts als« hinabgedrückt
werden. Die Realität bleibt in ihr selbst auf das Imaginale bezogen, weil sie
nichts als die systematische Negation oder der Ausschluß alles Imaginalen (des
imaginalen Charakters oder der ursprünglichen Negativität jedweder Erfahrung)
aus dieser Erfahrung selbst ist. Dem Traum, dem Mythos, der Vision wird die
Erkenntnisdignität bestritten. Der Traum eröffhete nicht mehr den Zugang zu ei­
ner wirklichen anderen Welt. Da aber der Gehalt des »Traumes« als Bewußt­
seinsinhalt bleibt, wird der Bewußtseinsinhalt umgedeutet, eine Erinnerung an
real Erlebtes zu sein. Die Realität ist das Hinabdriicken des Sinnhaften in das
Nichts, das Schein, Aberglauben oder Irrationales heißt. In der seelischen Wirk­
lichkeit gibt es diesen ontologischen Gegensatz nicht. Kraft der »Eindimensio-
nalität« des Märchens (Lüthi) ist der Unterschied zwischen visionärer Erfahrung
und »realer« Erfahrung dort kein ontologischer. In der Märchenwelt ist es gleich
gültig, ob, wie in der Geschichte von Lydia, ein Mädchen in eine tatsächliche In­
itiationshütte im Wald verschwindet oder ob auch Hütte und Wald und das ritu­
elle Geschehen, dem es unterworfen wird, ganz in das visionäre Erleben hinein­
gehören. Denn in beiden Fällen gehören sie hier in das Visionäre, in die Seele in
ihrer Negativität, hinein. Auch was von uns aus gesehen real da ist, ist dort ein­
genommen in die,/ür die seelische Welt: in und für das Entrückungserlebnis, in
und für Mythos, Goldgrand oder Retorte, d.h. in und für den Sinn. Das Archety­
pische ist gegen die Unterscheidung Innerlichkeit - äußerliche Realität, subjektiv
erlebt - objektiv vorhanden indifferent, weil beides in ihm seinen Platz hat.
Was in dem Räuberhaus geschieht, ist also, ganz gleich ob rein visionär
oder auch reales rituelles Tun, in beiden Fällen primär ein archetypisches oder
visionäres Geschehen, in dem nicht Menschen Menschen, sondern die Seele sich
selber etwas zufügt. Das Märchen ist von Hause aus die Erzählung von diesem
archetypischen Tun der Seele an ihr selbst und nicht der Bericht über eine
menschliche Untat. Aber dieses unser besonderes Märchen ist das Märchen von
dem Ausbruch aus dem märchenhaften oder archetypischen Charakter dieses
Tuns in den realen, positiven Charakter seiner. Vor unseren Augen verwandelt
es die Sicht auf das zu Erzählende aus einer märchen- oder traumhaften und ritu-
alistischen in eine strafrechtlich-realistische. Wie schon im Blaubartmärchen der
Anblick der Kammer mit den Leichen, so wird hier das Bild der Zerstückelung,
in dem sich ein seelisch-logisches Geschehen zeigt und das auf Erkenntnis und
Bewußt-Sein (und somit auf ein gewandeltes Sein) zielt, zu einer faktischen Tat
in der empirisch-praktischen Realität niedergedrückt. Die Frage, was tatsächlich
(buchstäblich) geschehen ist und wie dieses zu bewerten sei, läßt sich nicht stel­
len und schon gar nicht entscheiden - wenn man nicht schon längst die Stellung,
die im Räuberhauptmann-Märchen erst erarbeitet wird, eingenommen hat. Denn
diese Frage stammt erst aus ihr. Das Geschehen als archetypisches läßt beide
Möglichkeiten zu, und je nach dem, wo wir stehen, müssen wir das Geschehene,
ein und dasselbe archetypische Geschehen!, als strafrechtlich zu verfolgendes
reales Verbrechen oder aber als mißverstandene, abgewehrte Initiation begrei­
fen. Das Märchen selber hat sich zwar für die staatsanwaltliche Sicht entschie­
den. Aber da diese Entscheidung innerhalb des Märchens erfolgt, ist die Frage,
»was nun tatsächlich wahr ist«, damit nicht beantwortet. Die archetypisch­
märchenhafte Wirklichkeit des Berichteten ist unhintergehbar. Und da auch alle
Staatsanwälte, Zeugen, Zeitungsberichterstatter, Historiker ihre Frage »was
wirklich geschehen ist« und »wer es getan hat«, immer nur innerhalb des
Räuberbräutigam-Afd'rcAen^, nämlich aufgrund der in diesem gebahnten Heraus­
setzung aus der Märchenwelt in die (freilich dennoch in ihr verbleibende, nur in
ihr aus ihr herausgesetzte und so erst erzeugte) positive Realität, stellen können,
gilt die Unhintergehbarkeit der Märchenwirklichkeit auch für sie. Je mehr das
Bewußtsein in der Realität der Staatsanwälte angesiedelt wird, desto mehr muß
das Spiel der Seele mit ihr selbst, dasselbe Spiel, das ansonsten auch als mär­
chenhaftes und seinen initiatischen Sinn mit sich bringendes wie eh und je im
veranstalteten Ritual oder in der Ekstasis der Seele geschehen könnte, sich als
sinnloses, nur noch brutales Verbrechen in der positiven Realität ereignen. Dann
werden nicht etwa Geschehnisse als Verbrechen nur gesehen, weil man für den
»eigentlich immer noch in ihnen liegenden« initiatischen Sinn blind geworden
ist, sondern es geschehen in der Tat unzählige völlig sinnlose Gewalttaten, all
die Vergewaltigungen, Mißhandlungen und Tötungen, von denen die Zeitungen,
aber auch die Bücher über die Geschichte dieses Jahrhunderts voll sind, weil wir
ja von allem Sinn gereinigte positive Realität wollen müssen. Wir bekommen
genau das, was unserem logischen Ort entspricht. Das Geschehen entspricht im­
mer dem Gefäß, in dem es sich zu ereignen durch die Logik der Zeit gezwungen
ist. Heute hat es sich dem Schwarzen Kasten, in dem wir und mit uns unsere
ganze Welt sitzen, angepaßt. Und wegen dieser exakten Entsprechung ist auch
heute noch, wie Jung gesagt hatte, die Welt gut, so wie sie ist. »Es ereignet sich
aber das Wahre« (Hölderlin, »Mnemosyne«) - auch in der Welt zunehmender
sinnloser Verbrechen, ja wohl sogar in der Welt von »Auschwitz« und »Gulag«.
Die »IV. Stellung« der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen. In der
Überschrift zu diesem Kapitel war die Rede von der dreifachen Stellung der
Seele zu ihrem Anderen. Hier nun taucht plötzlich eine vierte Stellung auf, wenn
freilich auch in Anführungszeichen. Denn was nun zu besprechen ist, führt be­
reits über den Animus als Erfahrung des Anderen und über den Animus als Ne­
gation hinaus und leitet zu einem neuen Kapitel: »Der Animus als Geist und
Liebe« über. Mit der IE. Stellung sind im Grunde die Stellungen, die die Seele
als Anima dem Animus als ihrem Anderen innerhalb der Selbstbewegung der
Syzygie einnehmen kann, erschöpft. Das Andere ist als solches explizit gewor­
den. Es hat sich rückhaltlos durchgesetzt, gerade indem es untergegangen ist.
Denn etwas hat dann seine volle Macht entfaltet, wenn es das, was ihm draußen
als Fremdes gegenübersteht, nicht mehr als Untergebenes beherrschen und mit
Gewalt unter sich halten muß, sondern wenn es dieses selber ohne Zwang und
Gewalt, d.h. von innen durchherrscht, wenn also hier der Animus in seinem Ge­
gensatz, der Anima, selber zum Ausdruck kommt und diese nun unmerklich sein
Wesen als ihr eigenes übernommen hat. Er kann jetzt unbesorgt als die eine Sei­
te der Syzygie untergehen, weil er damit als Geist der ganzen Syzygie auferstan­
den ist. Da der Animus reine Negativität ist, herrscht er auch nicht durch positi­
ve Gewalt, sondern auf die gewaltlose Weise der via negativa: durch seinen ei­
genen Untergang.
Mit dem, was in Anführungszeichen als die »IV. Stellung« zu bezeichnen
ist, ist demnach die ganze Stufe, auf der der Animus als Negation und als Ande­
res erschien, überholt. Er wird sich jetzt als Geist der Liebe zeigen, als die Stufe
der Syzygie selber. Dies allerdings nur, wenn begriffen wird, daß der Animus
dadurch, daß er untergegangen ist, gerade nicht einfach fort ist, sondern in der
Anima selber und als der Geist einer neuen Stufe lebt. Denn der Geist ist nur als
Verschwundener, Unsinnlicher, Unsichtbarer, nicht als substantiell Daseiender.
Identifiziert sich dagegen das Bewußtsein mit der einen, der Anima-Seite, inner­
halb der ID. Stellung, dann verharrt es in der ichhaften Selbstbehauptung und
dem moralisch-juridischen Verdammen des Anderen. Dann wird an dem doch
längst untergegangenen, also obsoleten »Anderen« gerade festgehalten, und die­
ses muß dann immer weiter als buchstäblich anderes draußenzuhalten versucht
werden. Das sehen wir heute in vielen Teilen der Frauenbewegung. Die Tren­
nung beider Seiten wird aufrecht erhalten, obwohl es der Anima-Seite längst
klar sein könnte, daß sie in dem Augenblick, wo sie es vermocht hat, den Spieß
umzudrehen und den Animus als Töter mit seinen eigenen Waffen zu schlagen,
nur das Andere ihrer selbst und so sich selbst bekämpft. Haben wir dies begrif­
fen, dann ist der Animus voll in ihr einst jungfräulich abgeschirmtes Bewußtsein
hineingelassen. Der Animus ist nicht mehr das fremde Gegenüber und auch
nicht mehr die Andersheit (Bosheit) dieses fremden Gegenübers. Er muß sich
daher auch nicht mehr aus der Anima heraus gegen dieses Gegenüber, als das er
selbst war, kämpferisch wenden. Sondern er ist jetzt lebendiger Geist, das Leben
des Geistes in der Seele selber. Er ist logische Bewegung, Denken, nicht mehr
seiende Gestalt.
Solange es noch um das Andere ging, war der Animus immer noch abge­
wehrt und vorläufig, auch wenn natürlich bei dem Archetyp, dessen Wesen es
ist, Negation zu sein, die Manifestation und Selbstdarstellung seiner gerade in
der Abwehr seiner erfolgt; er wäre ja positiv, wenn er sich nur so voll entfaltet
hätte, daß er seine Macht in und an ihm selber darstellte. Aber auch als die leere,
nicht mehr substantielle, reine Funktion des »Mörders und nichts weiter« aus der
zweiten Stellung und als der gerichtete, untergegangene Räuber aus der dritten
Stellung bleibt der Animus doch noch das (wenn auch leere) Substantielle
(Blaubart) oder die Leerstelle des substantiellen Animus, insofern das Gegen­
über sich durchhält. Täter und Opfer, Animus und Anima stehen einander als
Getrennte und Gegner gegenüber, auch wenn dann im Räuberbräutigam die Rol­
len sich umkehren. Die Gegnerschaft dient der Abwehr des Widerspruchs, der
Abwehr der Widersprüchlichkeit des Verhältnisses der Seele zu ihr selbst. Es
herrschen klare Verhältnisse, wenn er hüben und sie drüben steht. Man weiß,
woran man ist. Auch Gut und Böse lassen sich dann fein säuberlich verteilen.
Der syzygische Widerspruch kann vermieden werden.
In dem Augenblick jedoch, wo erkannt wird, daß der Animus als selbstän­
dige Gestalt untergegangen ist und sein Wesen nunmehr aus der Anima selber
hervorstrahlt, ist diese in ihr selber das Andere ihrer selbst. Das Anderssein wird
nicht mehr auf zwei verschiedene Rollen verteilt. Ein und dasselbe, die Anima,
jetzt in der Bedeutung von Seele, ist die widersprüchliche Einheit beider. Damit
hört auch die Anima als Anima auf zu sein, denn sie ist nur als solche in ihrem
und durch ihr Verhältnis zu ihrem Anderen. Verschwindet dieses, geht sie auch
im Nu unter - und gibt sie sich jetzt als die syzygische Seele zu erkennen. Der
Widerspruch ist in die Seele selbst hineingelassen worden. Sie ist ihr eigenes
Opfer, ihre eigene Negation. Sie ist in ihrer Identität mit sich anders. Die Seele
hat ihr syzygisches, uroborisches Sein eingeholt. Sie ist zum reinen Selbstver­
hältnis geworden. Dieses ist ihr jetzt selber ganz durchsichtig geworden. Sie
muß es nicht mehr agieren; es sich mit verteilten Rollen Vorspielen und vor-
-stellen. Das Verhältnis zwischen der Seele und ihrem anderen ist kein »räumli­
ches« Gegenüber mehr. Es ist selber in das Medium des Geistigen oder Logi­
schen eingetreten, wo sich nichts mehr vorstellen läßt, sondern gedacht werden
muß. Und erst wenn dies der Fall ist, hat sich der Animus erfüllt. Denn was
heißt: der Animus hat sich erfüllt? Es heißt, daß er als Geist nicht mehr substan­
tiell wie ein Dämon der Seele gegenübersteht, sondern daß sich die Seele selber
in ihrer eigenen Geistigkeit durchschaut und sich selber als geistiges Leben, als
logische Bewegung weiß. Jung nannte dies den »pneumatischen Zustand«.7
Warum hatte der Animus, insbesondere in der III. Stellung, der Seele den
Weg zum kollektiven Unbewußten abgeschnitten, den Weg in die Initiation, in
die »Hochzeit mit dem Tode« und damit den Weg auch in die Hochzeit mit ihm
selbst? Die erste Antwort darauf haben wir schon gegeben: weil der Animus rei­
ne Negativität ist und er seine Erfüllung deswegen nur negativ, nämlich gerade
in der Abwehr seiner findet. Die andere, nicht minder wichtige Antwort ist, daß
der Animus nicht seine Genugtuung findet, wenn er nur Geist im Sinn von Ge­
spenst oder Dämon bleibt. Er möchte, daß der Geist als Dämon sich zum Geist

7 C.G. Jung, Briefe Bd. II, S. 354, vom 24.XI. 1953, an Victor White.
als Geistigkeit intensiviere und läutere; daß der Geist im Sinn von Geistigkeit
sich als der Geist der Seele selber oder des ganzen Inderweltseins des Menschen
offenbare. Solange es bei der Anima-Stufe bleibt, wird der Geist substantiali-
siert. Die Anima ist ja die Funktion der Personifikation, der Hypostasierung, die
Funktion des ihre Gedanken aus sich Hinausspinnens, um sich zugleich in das
Hinausgesponnene selber einzuspinnen und in diesem seine Genugtuung zu fin­
den. Dieses Geschehen würde sich ewig nur innerhalb der Syzygie, d.h. unter­
halb ihrer selbst und zwischen ihren beiden Seiten, abspielen. Um zu sich selbst
zu kommen, mußte daher der Animus seinen Weg über die Heraussetzung der
Seele aus ihr selbst und hinaus aus der Syzygie nehmen. Der Weg der Seele aus
ihrer eigenen Syzygie hinaus zum Gegenüberstehen qua ichhafter Selbstbehaup­
tung dem Anderen gegenüber ist der einzige Weg zur Realisation der Syzygie
als solcher, als Stufe der Syzygie. Diese ist gleichbedeutend mit »erfüllter
Animus-Stufe«. Denn die Animus-Stufe als solche ist wesenhaft uneigentlich,
vorläufig, Übergang und daher grundsätzlich in ihr selber unerfüllt. Sie ist nur
Mittel, Brücke. Sie dient dem Transport von der ersten eigentlichen Stufe (der
Anima-Stufe) zur zweiten eigentlichen Stufe (der Syzygie-Stufe). Aber in der
oder als Syzygie kommt auch der Animus wahrhaft zu sich selbst: gerade weil er
darin als er selber verschwunden ist.
Die Syzygiestufe ist anders als die beiden anderen Stufen noch nicht ge­
schichtliche Wirklichkeit. Die Anima-Stufe haben wir in der Welt der schamani­
stischen und rituellen Kulturen, die Animus-Stufe als abendländische Geschich­
te (mit Aufklärung) einigermaßen überschaubar vor uns. Was die Syzygie-Stufe
anlangt, so scheinen wir aber eben erst im Begriff zu sein, in sie einzutreten.
Wenigstens scheint die Animus-Stufe ihre Aufgabe weitgehend erschöpft zu ha­
ben und gibt es erste Anzeichen eines syzygischen Bewußtseins. Weil dieses
aber günstigstenfalls erst noch im Kommen ist, kann über es noch nichts Nähe­
res gesagt werden. Das noch Unbekannte muß nicht vorweggenommen und da­
mit der wirkliche Gang durch die Stadien seines allmählichen geschichtlichen
Wirklichwerdens hindurch übersprungen werden. Erst wenn die Syzygie-Stufe
als eine Gestalt des geschichtlichen Lebens alt geworden ist, läßt sie sich eini­
germaßen eikennen. Dieses Altwerden gilt es gelassen abzuwarten —auch wenn
wir als Individuen es nicht mehr erleben werden - , denn das heißt leben, im Le­
ben stehen: an die Gegenwart, den nächsten Schritt, hingegeben zu sein und die
künftige Entwicklung sich selbst zu überlassen, eben: sich entwickeln lassen.

***

In der drei- (oder vier-) fachen Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres
Anderen ist einerseits eine Entwicklung im Sinn eines linearen Fortschritts zu
beobachten. Der Animus kommt mehr und mehr zu sich selbst. Er tritt allmäh-
lieh in sein ureigenstes Element, die Geistigkeit, ein, nachdem er zunächst nur
eine noch substantielle Verkörperung des Geistes gewesen war. Das ist die eine
Seite der vorgeführten Stellungen, nach welcher Seite sie auch Stufen genannt
werden könnten. Dieselbe Entwicklung hat aber auch eine andere Seite. Keine
Stellung ist »besser« oder »schlechter« als die andere. Alle sind gleich »gut«,
gleich befriedigend und ausgewogen. In jeder erfüllt sich die Wahrheit der gan­
zen Konstellation von Geist und Seele. In jeder erhalten beide Gegenspieler ihr
volles Recht. Der Animus triumphiert genausosehr als die Anima berückender
und zu seiner Gattin machender Todesdämon wie als die Anima Zerstückelnder
oder auch als im eigenen Untergang in der Standhaftigkeit der Anima selbst zur
eigentlichen Herrschaft Kommender. Und umgekehrt ist es für die Anima ge­
nauso erfüllend, die Gattin des Dämons zu sein und alle Männer töten zu müs­
sen, wie selber eine schamanistische Initiation zu durchleiden oder wie sich ge­
gen die Mordbuben zu behaupten oder wie das ganze Verhältnis integriert zu ha­
ben.
Archetypisch gesehen finden beide, Anima wie Animus, in jeder der drei
oder vier hier vorgeführten Spielarten der Syzygie ihre volle und wahre Genug­
tuung. Jedem geschieht ungeschmälert Gerechtigkeit. Jede Stellung ist gleich le­
gitim und vollendet - in sich stimmig und in sich gerundet. Nur für uns Men­
schen als Personen macht es einen beträchtlichen Unterschied, in welcher Weise
oder auf welcher Stufe Anima und Animus sich erfüllen; nur für uns liegt in den
Stellungen ein Fortschritt - ein Gewinn zusammen freilich mit dem ihm entspre­
chenden Verlust. Jede Stellung ist so immer schon die ganze Syzygie. Und die
Syzygie selber ist die Einheit von jeweiliger Stufe und dem Ganzen der Abfolge
von Stufen.
Der Animus darf, von dem Standpunkt der Syzygie her gesehen, nie los­
gelöst von der Anima betrachtet werden. In dem Kapitel über den Animus als
Töter war die Beziehung zu seinem Gegensatz offensichtlich. Er war dort aus­
drücklich das Andere der Anima. Das heißt, er wurde immer nur daraufhin be­
trachtet, was er für die Anima bedeutete. Indem aber das Spiel der Gegenspieler
soweit gediehen ist, daß der Gegensatz nicht mehr extensiv mit verteilten Rollen
ausgelebt, sondern erinnert als inniger, »intensiver« einfach walten kann, ist der
Animus zu sich selbst geworden. Er kann jetzt für sich betrachtet werden und
sich daher als Geist manifestieren.
Als solcher kann er gegenständlich (substantiell) vorgestellt sein. Dann
erscheint er selbst noch animahaft. Ihm gemäßer ist sein Wirken in geistigen
Akten, wobei er dann das Wirken oder die Akte selbst ist und nicht ein seiendes
Wesen, das die Akte nur ausüben würde. Er geht hier darin auf, Verstandeshand­
lung zu sein. Drittens kann der Geist dann auch noch als eine Art »Element« er­
scheinen, so wie wenn wir von dem Geist einer Zeit sprechen. Und dabei ist be­
sonderes Augenmerk zu richten auf die Möglichkeit, daß eine Stufe in ihr selbst
geistig, durchgeistigt ist, im Unterschied zu Stufen, die im Vergleich eher einen
»natürlichen« Geist haben. Schließlich kann der Geist viertens auch als Liebe er­
scheinen.
I. Der Geist gegenständlich vorgestellt. Die Phänomenologie des Ani­
mus als Gestalt ist schon längst in der älteren Literatur dargestellt worden. Da
mein Interesse diesem Aspekt nicht gilt, liste ich hier nur (ohne Anspruch auf
Vollständigkeit) die Haupterscheinungsformen auf, um ihn nicht ganz zu unter­
schlagen, verweise aber im übrigen auf die Literatur.
Als Gestalt erscheint der Animus 1. als Vater, als Onkel, manchmal auch
als der große Bruder. Diese Gestalt zieht die Liebe auf sich, es besteht Nähe,
Verwandtschaft, man ist ihr ganz verbunden, aber sie steht hoch über einem, so
daß man zu ihr aufblicken und sie verehren muß. Sie ist ein (letztlich unerreich­
bares) Vorbild. Herrscher, Machthaber, Politiker sind in einem weiteren Sinn
(aus dem Familiären herausgenommene) Vatergestalten. In letzter Instanz gehö­
ren auch die Himmelsgötter hierher, nicht zuletzt der himmlische Vater des
Christentums. 2. können Militärs, Helden (insbesondere auch Stierkämpfer und
Drachentöter), auch Sportler, die ebenfalls Bewunderung auf sich ziehen und
den Sieg über die Natur verkörpern, und 3. der Lehrer, der Gelehrte, der Pfarrer,
geistige Autoritäten überhaupt, der Gerichtshof, der »Rat«, der Erfinder, der
Künstler Animus-Verkörperungen sein. Das eine Mal steht mehr der Geist als
Kraft und Macht, das andere Mal das Geistige im engeren Sinn im Vordergrand.
4. sind zu nennen der Prophet, der Wahrsager, der Verkünder einer Heilslehre.
5. Naturhafte Erscheinungsformen des Geistes sind der »Wurzelsepp«, »der wil-
de Mann«, der »Jäger« mit tief ins Gesicht gezogenem Schlapphut und weitem
Mantel (an Wotan gemahnend). Es ist offensichtlich, daß diese Form des Gei­
stes, die ihre Geistigkeit aus der Natur, der Erde bezieht, noch ganz einbehalten
ist in die Animasphäre. 6. erscheint der Animus als Verwandlungskünstler, Zau­
berer, Tänzer, Flugzeugpiloten, Skifahrer. Hier zeigt sich der Geist als Bewe­
gung sowie als Verwandlung, er drückt seine Unabhängigkeit von dem Verhaf­
tetsein an einem Ort und von der körperlichen Bestimmtheit aus. Der Geist als
Überwindung der »Erdenschwere«. Hierher gehören der Fliegende Holländer,
der Mercurius, Proteus. 7. Dem Zauberer und Tänzer nahe steht die Gestalt des
Tricksters. Er ist der Geist als Unmhestifter und Aufrührer. Von ihm aus führt 8.
der Weg zum Animus als der Gestalt des Revolutionärs. In ihm als Aufrührer
kommen Macht und Stärke einerseits, Idealismus und Prinzipienhaftigkeit (Mei­
nungen!) andererseits zusammen. 9. und 10. sind das Paar von puer und senex
zu nennen. Sie verkörpern unter anderem den Gegensatz innerhalb des Geistes
von hochfliegender Lebendigkeit und konservativer Verknöcherung. Noch mehr
ins Archetypische hinein verweist 11. die Erscheinung des Animus als die Ah­
nen, als Geisterheer. 12. Animus ist auch der Mann im Mond. Dieses Animus-
Bild trägt seine Zugehörigkeit in den Bereich der Anima auf der Stirn. Es ist
deutlich eine Animus-Gestalt, aber völlig einbehalten in den lunaren Bereich.
13. Zuletzt nenne ich Geister, Gespenster, Dämonen, wozu auch die Blaubart-
Gestalten gehören.
Bisher habe ich Erscheinungsformen des Geistes in irgendwie personifi­
zierter Gestalt aufgezählt. Jetzt wende ich mich den abstrakteren Erscheinungs­
weisen des Geistes als »das Geistige« zu. Dazu gehören
1. Das Buch, überhaupt die Schrift, der Buchstabe. Die heilige Schrift.
Der Kodex. Das Pergament. Das Dogma (die richtige, schriftlich fixierte oder fi-
xierbare Meinung). 2. Die geschriebenen Gesetze (im Unterschied zu den tra­
dierten Sitten, die der Anima zugehören). Das Recht. Vorschriften, Gebote, Ver­
bote. 3. Die Weisheit, das Wissen, Bildung, die höhere Wahrheit. Letztlich auch
das esoterische Wissen, das Geheimnis. 4. Das Ideal. Die Werte, die Ideen im
platonischen Sinn. 5. Das Licht. 6. Die Farbe blau, die Bläue. 7. Die Stimme.
Das Wort (das seinen Sinn nur in und kraft seines Verklingens und Verschwin­
dens gewinnt). Die Sprache. Der Namen. Die Macht und Magie des Wortes. Der
Atem. Die Lunge. Dann auch die Musik. 8. Orakel. Auditionen. Stimmen. Die
»Gaben des Geistes«. 9. Der Wind. Der Sturm. Pneuma. Ruach. (Der Geist als
elementare Gewalt.) 10. Die Höhe. Die Vertikale. Der Überblick. Adler und Ha­
bicht.
Weder eine einzelne Gestalt, noch etwas Geistiges ist der Geist als Welt­
geist oder Weltseele. Er ist als die Idee der anima mundi oder des animus mundi
bei den Pythagoreem und Plato (Timaeus), in der mittelalterlichen Naturphiloso­
phie, in der Alchemie, bei Philosophen wie Ficino, Thomasius und Schelling
wie auch noch bei Fechner aufgetreten und hat seit Herder die Bedeutung des
geschichtlichen Geistes angenommen. Bei Hegel ist er im Unterschied zum »ab­
soluten Geist« der sich in der Welt zur Wirklichkeit bringende allgemeine, an
und für sich seiende Geist, der in seinem inneren Zusammenhang durch die Ge­
schichte der getrennt erscheinenden Nationen und ihrer Schicksale die verschie­
denen Stufen seiner Bildung durchläuft.
Wichtig scheint mir zu erkennen, daß auch die Anima mundi eine Manife­
station des Animus ist. Dies einzusehen kommt natürlich das an den Worten haf­
tende Bewußtsein hart an. Aber wir müssen uns nach dem Sinngehalt, nicht nach
dem Namen richten. Auch die Weltseele ist Geist. Während z.B. die Nixe, der
Donnergott, die Liebesgöttin unmittelbar erfahrene Phänomene waren, ist die
Weltseele nichts mehr, was noch unmittelbar erfahren werden könnte. Sie ver­
dankt sich schon der Abstraktion und philosophischen Spekulation, also ganz
spezifischen geistigen Akten. Ist die Rede von der Anima mundi oder Weltseele,
dann hat der Weltgeist zwar in der Tat noch mehr Animacharakter als da, wo er
ausdrücklich Weltgeist heißt und wie bei Hegel auch als Geist gemeint ist. Die
Weltseele impliziert insbesondere, daß die Welt, genauer der Gesamtzusammen­
hang der Welt, als lebendiger Organismus aufgefaßt wird. Das ist zweifellos na­
turverhaftet, aber es ist doch auch schon ein abstrakter Begriff, der ein höheres
Reflexionsniveau voraussetzt, weil nur von diesem aus das Ganze der Welt kon­
zipiert werden kann. Dieses Reflexionsniveau verdankt sich dem Animus. Die
Anima kennt »das Ganze« nicht. Sie kennt nur das Jeweilige, nur Phänomene.
Ficino macht die Zugehörigkeit der Anima mundi zum Animus als Geist aus­
drücklich deutlich, wenn er wahllos (mehr der Tradition und der eingebürgerten
Wendung verpflichtet) Anima mundi und (mehr dem genauen Sinn verpflichtet)
Animus mundi sagt.
Umgekehrt ist auch Hegels offensichtlich wirklich geistiger Weltgeist
durchaus ebenfalls noch animahaft, insofern er noch von der sich der Anima
verdankenden Substantialität an sich hat: Er ist der Geist der Geschichte als
höchster Gegenstand, nicht ungegenständlich wahrhafter Geist (»absoluter
Geist« bei Hegel).
II. Der Geist als Akt. Solange der Animus als ein Wesen erschien, war
sein Wesen noch nicht wirklich sein eigenes. Er stand noch in dem Bann der
Anima, deren Anliegen es ist, Gehalte gegenständlich darzustellen, zu personifi­
zieren und zu substantialisieren. Er war als Gestalt selber eine archetypische
Person in der »polytheistischen« Anima-Sphäre, in der Phänomenologie der
Seele. Der Animus für sich betrachtet ist jedoch reiner Akt. Seine ihm ganz ei­
gentümliche Phänomenologie kann daher nicht die Phänomenologie von Gestal­
ten sein. Der Animus manifestiert sich authentischerweise nicht als Bild, nicht in
der Weise der Imagination. Seine ihm spezifische Phänomenologie muß die
Phänomenologie dieses Aktes oder dieser Akte sein. Wir fragen also zunächst
nach der Natur der geistigen Akte.
A. Das logische Wesen der Akte

Wenn die Phänomenologie eine Phänomenologie der Akte und nicht von
gestalthaft Erscheinendem ist, dann verwandelt sich auch der Begriff der Phäno­
menologie selbst. Sie wird »inniger«, »intensiver« (intensionaler), geistiger: sie
hört auf, die Frage nach dem Erscheinen des Geistes zu sein und wird zur Frage
nach dem logischen Wesen der Akte. Entsprechend können auch die Akte nicht
einfach beliebig aus der Erfahrung aufgelesen werden. Sie müssen schon aus
dem Wesen von so etwas wie »Akt« hergeleitet werden.
1. Position und Negation. Das Wort »Akt« verweist auf »aktiv« im Ge­
gensatz zu »passiv«. Der Animus als Akt bedeutet also gegenüber dem zur Ani­
ma gehörigen natürlichen Ablauf der Dinge, dem lückenlosen Strom des Ge­
schehens, dem nahtlosen Gewebe der einfach »passierenden« Ereignisse die ei­
genmächtige Tat, die nicht mehr einfach aus dem Geschehen hervorgeht und in
ihm aufgeht, sondern sich ihm entgegenstellt oder in es einschneidet. Der Ani­
mus als Akt ist in allererster Linie Position, freie Setzung. Was heißt freie Set­
zung? Es heißt willkürlicher Eingriff; nicht durch das Geschehen bedingte, son­
dern wie aus dem Nichts plötzlich aufstehende Handlung. Zur Idee des Aktes
gehört, daß er einfach aus einem »Nullpunkt« heraus anhebt, nicht schon von
Früherem determiniert ist, sondern Anhub seiner selbst und Ursprung seiner
selbst ist: Prinzip im strengen Sinn. Der Akt der freien Setzung verdankt sich ei­
nem Sich-Ermannen, einem Aufstand, einer »Erektion«. Es wäre einfach ein
Mißverständnis, wollte man dahinter zurückfragen, woher er käme, wodurch er
möglich sei. Dann hätte man schon den Begriff des Aktes verfehlt. Der Akt
fängt einfach an. Das verdankt er seiner Willkürlichkeit. (Von hier gehen offen­
sichtlich Linien bis zu den theologischen und philosophischen Ideen der creatio
ex nihilo, des actus purus, der causa sui. Mit diesen Begriffen ist im Grunde nur
ausgesprochen, was das Wesen des geistigen Aktes ist.)
Der Animus ist Setzung. Er setzt mitten hinein in das Geschehen einen
Punkt, ein Mal. Er rammt einen Pflock ein, steckt ein Territorium ab, markiert
ein Zentrum. Das ist etwas Ungeheuerliches. Warum kann aus der an einem
Punkt aufgepflanzten Lanze tatsächlich ein Mittelpunkt werden, der um sich
hemm eine »Welt« organisiert, eine Ordnung, einen Kosmos stiftet? Mag er
noch so auffällig sein, natürlicherweise wäre er nur ein beliebiges gleich-
-gültiges Phänomen in der unendlichen Vielfalt der Phänomene. Warum geht er
nicht unter in der Jeweiligkeit all der gegebenen markanten Phänomene? Warum
vermag er sich tatsächlich entgegen der Phänomenalität der natürlichen Wirk­
lichkeit, ja sogar gegen seine eigene Phänomenalität, als Punkt und Zentrum zu
behaupten? Denn die aufgepflanzte Lanze ist ja nicht wirklich ein »Punkt«, son­
dern ein Ding, ein Phänomen. Daß sie doch ein »Punkt« wird, ist die Leistung
des Animus als Setzung.
Er macht es möglich, daß wir »Hier!« und »Jetzt!« sagen können und das
Wunder vollbringen, in dem, was doch von sich aus ein unablässiger Fluß des
Geschehens und eine kontinuierliche Ausdehnung des Raumes ist, tatsächlich
und völlig entgegen der natürlichen Faktizität einen (also nicht seienden, nicht
gegebenen, sondern frei gesetzten) Mittelpunkt zu erleben. Er vermag dem
Nichtseienden, dem Punkt, der Null, gleichwohl unerbittliche und alles beherr­
schende Wirklichkeit zu verleihen. Weil der Punkt nicht natürlich gegeben, ja
überhaupt nichts Seiendes ist, haftet er auch nicht an etwas Faktischem. Der
Jetzt- und der Hier-Punkt wandern ihrer Geismatur gemäß mit, sie gehen sozusa­
­ gen frei durch, unbehelligt durch die Stofflichkeit der Erfahrung.
Der Animus macht es uns auch möglich, »ich« zu sagen und damit uns
selbst tatsächlich als einen ausgezeichneten Punkt im lückenlosen Strom des Ge­
schehens und Erlebens und ihm gegenüber zu erfahren. Auch dieser Punkt »geht
frei durch«. Das »Ich« als das Wissen unserer Identität hält sich durch entgegen
der natürlichen Wirklichkeit, die durch unseren unablässigen Wandel, seien es
ganz immerkliche kontinuierliche Veränderungen der Stimmung und des Älter­
werdens oder abrupte, revolutionäre Umbrüche, bestimmt ist. Das Ich und die
Identität sind nichts Gegebenes. Sie haften nicht an etwas positiv Gegebenem
und hängen nicht von ihm ab. Sie sind frei gesetzt und besitzen gerade in ihrer
Freiheit von unserem stofflich gegebenen Dasein ihre machtvolle Wirklichkeit.
Genauso wie der Animus uns die Kraft gibt, »ich« zu sagen und aus diesem
Nichts eine Wirklichkeitsmacht zu machen, so befähigt er auch in bezug auf die
Welt um uns herum dazu, durch das »Dieses da« Phänomene aus der Jeweilig­
keit herauszugreifen und dingfest zu machen. Der Animus als Setzung setzt sich
über das natürlich Gegebene einfach hinweg.
Darin liegt auch, daß er sich dem Gegebenen aufzwingt. Er ist Eingriff in
das natürliche Geschehen, Gewaltakt, Zugriff. Er ist Sich-Behaupten, auf das Ei­
gene Pochen, willkürliche Herrschaft. Er will treffen, durchbohren, eindringen,
zeugerisch durchdringen: erkennen. Er will festnageln, aufspießen: dingfest ma­
chen. Er sucht Eindeutigkeit, klare Verhältnisse. Er definiert und zwingt den
Phänomenen eine feste Identität auf. Er bestimmt und verleiht damit auch, wo er
wirksam wird, der Wirklichkeit im ganzen Bestimmtheit, feste Kontur, grie­
chisch peras.
Indem er einen Punkt setzt, ist der Animus es auch, der die Kraft gibt, ein
Ende zu setzen: zum Schluß zu kommen, einen Entschluß zu fassen, sich zu ent­
scheiden. Unter der Ägide der Anima gibt es keine Entscheidung. Da kann sich
immer nur ergeben, was sich im natürlichen Spiel der Kräfte als das jeweils
Stärkere erweist. Personen mit Entscheidungsschwierigkeiten sitzen in der Ani­
ma und warten darauf, daß sich »das Richtige« oder »die bessere Lösung« von
selbst zeige. Und weil es da, wo es um die Notwendigkeit zu entscheiden geht,
gerade nicht das Richtige oder das selbstverständlich Bessere gibt, sondern Vor­
züge und Nachteile bunt gemischt sind, sitzen sie da und warten und warten auf
etwas, was gar nicht kommen kann. Der Animus, wenn sie Zugang zu ihm hät­
ten, würde sie lehren, selber hinzuzutreten und durch einen freien Eingriff mit
dem Hin und Her des Überlegens kurzerhand Schluß zu machen (Ent-schluß):
nicht, weil das Richtige gefunden wäre, sondern dadurch, daß mit einem Will­
kürakt die eine Möglichkeit - durchaus auch auf die Gefahr hin, daß sie sich
später als die falsche erweisen wird - ergriffen und die andere radikal abge­
schnitten, ausgeschieden wird. Es ist wie beim Glücksspiel. Man setzt auf ein
Feld, wo sich dann erst im nachhinein entscheiden muß, ob man gewonnen oder
verloren hat.
Der Animus ist so auch die Kraft, das eigene Leben einzusetzen - auch
ein Setzen! sein Glück und Wohlbehagen aufs Spiel zu setzen. Er sagt: »Und
setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.« Er ist
die Bereitschaft zum Kämpfen, zum Standhalten, zum Widerstand. Er gibt
Standfestigkeit ebenso wie Mut. Er will nicht nur sein Eigenes durchsetzen und
es dem Leben aufzwingen, sondern auch im Sich-Behaupten sich selbst erhalten.
Es geht ihm u.a. auch um die Sicherung des Lebens im Unterschied zu der Ten­
denz der Anima, sich zu verströmen, sich hinzugeben, sich treiben zu lassen. Er
ist oft auch Pragmatiker und die Kraft, die zur Realisierung von Vorhaben nötig
ist. Er steht hinter dem Willen zum Überleben, zum Durchstehen von Gefahren.
Er lehrt, den Stürmen des Lebens zu trotzen. Er fühlt sich durch das Geschehen
herausgefordert, nimmt die Herausforderung an und will ihm Paroli bieten. Er
nimmt das Gegebene nicht einfach hin, sondern ruft ihm sein Halt!, sein Nein!
entgegen. So ist er der Archetyp des Gegensatzes, der Entgegensetzung, der An-
dersheit. Er ist wesenhaft Widersacher (Klages: Der Geist als Widersacher der
Seele). Nur weil er schon aus der Andersheit und dem Gegenüberstehen heraus
erlebt, kann er sich überhaupt durch das, was geschieht, herausgefordert fühlen.
Mit dem Nein! kommen wir schon zum Animus als Negation. Sie erweist
sich, hinter der »Position« zu stehen. Denn ohne das Nein! zum Gegebenen hätte
sich der Animus nie zu einem wie aus dem Nichts anhebenden Akt aufschwin­
gen können. Er hätte sich immer nur vom Fluß des Geschehens und vom Spiel
der Kräfte willkürlos treiben und bestimmen lassen können. Der Akt als Position
(Setzung) verdankt sich schon der Negation von dem, was einfach ist. Ja, er ist
immer schon in ihm selber diese Negation.
Die Negation geht aber nicht darin auf, die Setzung zu ermöglichen. Sie
hat auch ihre eigene Funktion. Sie ist nicht nur das unmittelbare Töten, Verwun­
den, Einschneiden. Sie ist vor allem auch Abstraktion, Loslösung von dem sinn­
lich Gegebenen, Entsinnlichung, Entgegenständlichung, Verdampfung. Hierher
gehören auch das alchemistische Destillieren und Sublimieren, die Essenz, das
fleisch- und blutlose Wesen, sowie die Funktion der Kritik. Der Animus schafft
Distanz. Er verwandelt Substanz in Funktion oder Struktur. Er hebt auf das Prin­
zipielle und Grundsätzliche ab. Er raubt uns die Möglichkeit, unsere Gedanken
t­ über Gott und die Welt ontologisch (als Gedanken über Seiendes) zu nehmen,
it und läßt sie als in die Logik gehörend erkennen.
): 2. Scheiden und Zusammenhalten. Der Animus ist der Archetyp der
l­ sauberen Trennung, separatio. Er sieht sofort, wo Widersprüche vorliegen, und
h hält das einander Widersprechende dadurch auseinander, daß er jeden Aspekt
­ für sich auf eine Seite stellt. So schafft er klare Verhältnisse. Was für die Anima
n vielleicht gerade der Reiz des Komplexen und Paradoxen ist, erlebt er als uner­
r trägliche Inkompatibilität. Er zieht Grenzen, teilt, unterscheidet, und zwar so,
daß auf jede Seite ein eindeutiger Begriff zu stehen kommt. Er kann das Schei­
den freilich auch auf die Spitze treiben und dann spalten, dissoziieren und Brü­
che verursachen. Statt des kontinuierlichen Flusses oder Übergangs gehört zu
ihm das Diskrete; die Digitalisierung statt des Analogen. Der Animus ist analyti­
scher Denker.
Die Ur-Unterscheidung ist die zwischen gut und böse. Die Anima läßt die
Sonne aufgehen über Gerechten wie Ungerechten. Sie verteilt Licht und Schat­
ten in freier Mischung, so daß eine farbige Wirklichkeit, die Welt der polythei­
stischen Götter entsteht. Nicht so der Animus. Himmel und Hölle, Gott und Teu­
fel, Entweder-Oder, schwarz und weiß, Erlösung oder Verdammnis - krasse Ge­
gensätze und Alternativen sind sein Element. Man muß wählen. Nieman kann
zween Herren dienen, entweder Gott oder dem Mammon.
Er spricht nicht, schüttet nicht sein Herz aus, sondern er fallt Urteile (von
>teilen<!). Er entscheidet über richtig und falsch, wahr und unwahr. Er besteht
auf dem Wahren, dem Richtigen, das total von dem Falschen abgeschieden ist.
Er bewirkt, daß das, was seinen Standards nicht genügt, zum Irrationalen und Ir­
realen eiklärt wird. (Für die Anima hat jedes Phänomen seine ihm eigene Wahr­
heit; »das« Wahre wäre für sie eine sinnlose Wortzusammenstellung.)
Aber der Animus ist auch das Gegenteil von dem Trennen. Er ist das Zu­
sammenhalten oder Festhalten. Ihm geht es um das Eine, um das Ganze. Er hält
das Diverse und Gegensätzliche fest und schaut das Mannigfaltige zusammen.
Er erlaubt dem Mannigfaltigen nicht, in die beliebige Vielheit des sich selbst ge­
nügenden Jeweiligen auseinanderzufallen, des Jeweiligen, das immer frisch an­
fängt, so herrlich wie am ersten Tag, und »alles in sich hat, dessen es bedarf«.
Das Einzelne als Jeweiliges im Sinn der Anima ist immer eine (logisch) in sich
geschlossene, »vollkommene« Welt.
Es ist sofort ersichtlich, daß das Trennen und das Zusammenhalten zu­
sammengehören. Ohne das Zusammenhalten kein Scheiden. Das Eine, td Mn,
»die Einheit der transzendentalen Apperzeption« usw. ist (als der bei allem
Scheiden festgehaltene rein geistige, nicht seiende Bezugspunkt) die Vorausset­
zung der analytischen Zergliederung. Das Trennen bedarf des Zusammenhaltes,
weil dann, wenn kein Widerstand gegen das Trennen und kein Zusammenhang
bestünde, einfach ein Zerfall in das bloße beziehungslose Vierlerlei stattfinden
würde. Für den Animus gibt es einen einzigen Weltzusammenhang: die Welt,
das »Uni-versum«, und es gibt einen einzigen geschichtlichen Zusammenhang
und einen einzigen Argumentationszusammenhang, nicht bloß das Nebeneinan­
der und Nacheinander der vielen einzelnen Meinungen, Ereignisse, Bilder oder
Geschichten. Die Annalen und Geschichtschroniken gehören mit ihrer Aneinan­
derreihung der res gestae (»Item es geschah aber in demselben Jahr...«) in die
Animawelt der Jeweiligkeit; erst wo die Geschichte als ein einziger Zusammen­
hang begriffen wird, tritt der Animus auf die Bühne. Das Einzelne ist, wo er
herrscht, nicht jeweilig, sondern integraler Bestandteil des ganzen Systems. Es
hat seinen Sinn nicht in sich, sondern nur kraft seiner Stellung im Ganzen. Der
Animus ist Synthetiker und Systematiker. Er baut aus den Einzelfakten das Gan­
ze auf und leitet zugleich aus dem Ganzen das Einzelne ab (Konstruktion, De­
duktion). Er versucht das Ganze zu umfassen und über den Dingen zu stehen, ei­
nen Überblick zu gewinnen. Er ist es, der, sich geistig über die Welt und die In­
ständigkeit in ihr erhebend, die ersten Weltkarten zeichnete. Er gliedert, unter­
teilt und ordnet nach Genus und Spezies.
Weil es einen einzigen Zusammenhang gibt, kann verglichen werden. Es
können Unterschiede und Ähnlichkeiten festgestellt werden. Und es kann gefol­
gert werden. Man kann Schlüsse ziehen, und man kann für sich selbst die Kon-
zequenz aus etwas ziehen. Der Animus ermöglicht so das Lernen als Lernen aus
Erfahrung, aus den eigenen Fehlem. Nur der Animus kann »seine Erfahrungen
mit etwas machen«. Für die Anima wäre jeder Fehler viel eher einfach nur eine
neue (jeweilige) Enttäuschung. Hundert Enttäuschungen führen bei ihr noch
nicht zu einer einzelnen Ent-Täuschung im Sinn einer gewonnen neuen Erkennt­
nis oder Einsicht. Sie lernt nicht. Doch damit berühren wir schon das nächste
Thema.
3. Reflexion und Selbstverhältnis. Nach Albertus Magnus ist der Silber
spiegel empfängliche Feuchtigkeit [das ist für uns sein lunarer Anima-Anteil].
Aber diese Feuchtigkeit des Silbers setzt zugleich einen »Terminus«, also einen
Widerstand, eine Festigkeit, und ist daher polierbar.1 Das ist ein Bild der Refle­
xion. Die Feuchtigkeit, die für die Bilder aufnahmebereit macht, bedarf zugleich
ihres Gegensatzes, nämlich eines Grenzpunktes, der Solidität verleiht, so daß
das feuchte Element des Silbers poliert werden und widerspiegeln kann. Würde
das Bild einfach auf die empfängliche Feuchtigkeit treffen, dann würde es in ihr
versinken. Die feste Widerständigkeit erst macht das an sich feuchte und gren­
zenlos aufnahmebereite Silber zum Spiegeln tauglich.
In dieser Widerständigkeit finden wir die Kraft des Animus. Er hält fest
und gibt dem Jeweiligen durch den Bezug auf das Eine Festigkeit, wodurch es
aufhört, noch Jeweiliges im eigentlichen Sinn zu sein. Der Animus ermöglicht
also die Reflexion. Seine kritische Energie stößt nicht ins Leere. Er selber be­

1 Albertus Magnus, Mineralia III, ii, 3.


wirkt, daß da etwas ist, das der Kritik logisch standhält, selbst wenn es ihr in­
haltlich gerade nicht standhalten kann, sondern durch sie vernichtet wird. Ohne
seine festhaltende Tendenz würde sein eigener kritischer Impuls selber nur wie­
der mit animahafter Aufnahmebereitschaft als ein neues Phänomen von dem,
dem die Kritik gilt, empfangen werden. Sie könnte nichts bewirken.
Aus der durch den Animus gewährleisteten Möglichkeit der Reflexion er­
gibt sich auch die Möglichkeit der Selbstreflexion. Wie kommt es zur Selbstre­
flexion? Der Animus setzt das Ich, die eigene Identität. Das ist der erste Schritt.
Da er jedoch wesenhaft Negation ist, muß er das Gesetzte negieren. So kommt
es zum Bezug auf sich selbst: das Ich muß sich von sich selbst unterscheiden.
Die Negation ist nur als Widersprach möglich. Sie ist das Widersprüchliche, so­
wohl die Setzung (Position), als auch die Negation des Festgesetzten zu sein.
Wenn wir oben sagten, daß der Animus das Nein! zum Gegebenen sei, so war
das unscharf. Das Gegebene, der natürliche Ablauf, können gar nicht verneint
werden. Sie gehören in die Animawelt hinein, wo es den Gegensatz nicht gibt.
Es muß genauer heißen: der Animus ist das Nein! zu dem schon vom Animus
apperzipierten und von ihm als »dieses da« gesetzten Gegebenen. Er ist also im
Grande das Nein! zu dem von ihm selbst Gesetzten, obwohl er dank einer Ani­
maverführung das von ihm als bestimmtes Seiendes gesetzte Gegebene oft mit
dem Gegebenen schlechthin verwechselt. Die Position, so sagten wir oben, setzt
die Negation voraus. Jetzt müssen wir ergänzen: die Negation setzt die Position
voraus, und sie bezieht sich nur auf das Gesetzte an dem Gegebenen oder auf es
in seiner Gesetztheit. Position und Negation sind gleichursprünglich. Sie treten
mit einem Schlag auf, und dieses Auftreten des in sich Widersprüchlichen ist der
Animus.
In dem ersten Schritt, so begann ich auszuführen, hat der Animus das Ich
lber­ oder die eigene Identität gesetzt. Dann unterscheidet er sich von sich selbst. Er
wendet sich dank seiner Negativität kritisch gegen diese Identität, z.B. gegen ei­
ne bisher geglaubte Meinung. Das ist der (freilich gleichursprüngliche) zweite
Schritt.2 Er muß sich aufgrund der Kritik von seiner Meinung trennen. Er kann
sie nicht mehr billigen. So wird ihm das zuvor Eigene zum Fremden. Das alte
Ich wird ihm zum Anderen. Es findet eine Distanzierung oder Dissoziierang
zwischen alter und neuer Meinung statt. Das ist der dritte Schritt. Aber - und das
ist der vierte Schritt - die abgeschiedene alte Meinung wird zugleich auch fest­
gehalten: sie wird als Eigenes und zu mir Gehöriges bewahrt, nämlich als meine
Vergangenheit, die nicht einfach hinter mir gelassen worden ist, sondern aus der
ich komme und auf der ich insofern auch jetzt noch stehe, als ich ohne sie gar
nicht zu der neuen Meinung gekommen wäre. Die neue Meinung verdankt sich
dem Sich-Abstoßen von der alten und ist sogar selbst nur die aufgehobene alte
2 »Erster«, »zweiter« usw., »zunächst« und »dann« verweisen nicht auf eine zeitliche Abfolge. Das
Nacheinander ist ein narratives, das logisch Gleichursprüngliches auseinanderfaltet.
Meinung, was nur möglich ist, wenn die alte als bestimmt und solid gesetzte ge­
rade auch dann festgehalten wird, wenn sie durch die Kritik obsolet gemacht
wird. Würde sie nämlich einfach in den Orkus versinken, dann wäre die Kritik
konsequenzenlos gewesen. Es hätte ein einfacher gleitender Übergang zu etwas
Neuem stattgefunden, so wie der Wechsel in der Natur.
Wie hatte Hegel über die Kraft des Verstandes gesagt? »Diese Macht ist
er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir
von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu
irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem
Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.«
An diesem Punkt gilt es, drei Einsichten zu gewinnen: 1. in die Rückbe-
züglichkeit des Animus, 2. in die von ihm ermöglichte Steigerung, 3. in seine
Dialektik.
1. Der Animus ist Negativität. Aber er wendet die Negation, die er ist,
nicht nach »draußen«, gegen Anderes, sondern gegen sich selbst. Er ist der Er­
finder des »sich«, des Reflexivpronomens. Die Anima geht nach draußen. Mit
dem Inneren hat sie nichts zu schaffen. Oder vielmehr: sie ist es, die das Spezifi­
sche des Animus, nämlich die Rückbezüglichkeit, das Sich-zu-sich-selbst-
Verhalten und damit die »Innigkeit« und das »Intensive« des rein logischen Ver­
hältnisses, sofort in die Äußerlichkeit des extensionalen Raumes übersetzt und
sich, weil sie dieses völlig Andere zu ihrer eigenen Außenorientiertheit nicht an­
ders verstehen kann, als »das Innere« zurechtlegt. Das »Innere« der Psychologie
ist das animahaft mißverstandene logische Verhältnis, das dem Animus zugeord­
net ist. - Also: die Anima geht nach draußen. Sie ist es, die aus dem Anderen,
das der Animus ist, das buchstäblich Andere, das als Zweites im Raume getrennt
Gegenüberstehende macht. Sie war es, die den Blaubart und das Mädchen als
zwei Widersacher einander gegenüberstellte. Aber wir hatten auch gesehen, daß
der Blaubart gar nicht wirklich zum Töten kam. Seine Leistung war dies ganz
andere, das Mädchen im Zurückschrecken vor ihm auf sich selbst zurückzuwer-
fen. Er tötete nicht sie, sondern nur ihre Unschuld und Unmittelbarkeit, ihr naiv
nach draußen, nämlich auf ihn, den Blaubart, Hingerichtetsein. Er stürzte sie in
den (von der Anima her gesehen) Sündenfall der Reflexivität.
Der Animus selber hat also das Andere nicht sich gegenüber. Sondern er
ist selber das Andere schlechthin, d.h. er ist sich selbst das Andere, oder er ist
das Andere seiner selbst. Er ist Selbstverhältnis, Selbstreflexion, Selbstbewußt­
sein. Das ist der Sinn seiner Negativität. Er negiert nicht irgendeinen Gegner
draußen, er ist nicht als Geist der Widersacher der Seele als eines getrennt von
ihm bestehenden buchstäblichen Anderen. Widersacher der Seele ist er nur in
dem Sinn, daß er entgegen dem Bedürfnis der Anima, völlig unreflektiert ein­
fach nur draufloszuimaginieren und sich an die Imaginationen hinzugeben, die
Reflexion bringt oder ist. Er ist als das schlechthin oder sich selbst Andere die
Negation seiner selbst.
Daß der Animus Selbstverhältnis ist, ist kein weiterer, neuer Aspekt. Es
lag vielmehr schon in allem, was wir über ihn als Akt gesagt haben. Wenn er als
Anhub seiner selbst sich einem Sic/t-Ermannen verdankte, wenn er die Kraft ist,
sich zu behaupten, wenn er es möglich macht, rücksichtslos gegen sich selbst
sein Leben für etwas einzusetzen, dann war er immer schon als Selbstverhältnis
aufgetreten. Eine Sonderform dieses Verhältnisses ist die Neurose, eine Abart
insofern, als in ihr gerade das Selbstverhältnis darin besteht, daß es abgewehrt
werden soll, daß die Negativität sich also noch einmal negiert. Die äußerste
Möglichkeit des Selbstverhältnisses ist der Selbstmord. In der Natur kann es kei­
nen Selbstmord geben. Nur ein geistiges Wesen, das die Kraft hat, sich von sich
zu unterscheiden und ganz von sich zu abstrahieren, kann sich gegen sich wen­
ist, den und Selbstmord begehen: sich das Leben, das es sich nicht selbst gegeben
hat, nehmen. In dem »Selbst-« liegt, daß der Selbstmord eine ausgezeichnete
Animusmanifestation ist. Die Anima kann den Begriff des »sich selbst« nicht
fassen. Sie macht, wie gezeigt, »das Innere« daraus. Sie ontologisiert, was doch
rein logisch ist. Sie stellt das, was doch nur noch zu denken ist, wahmehmungs-
mäßig vor. Trotzdem zeigt sich in der Buchstäblichkeit, in der beim Selbstmord
das Selbstverhältnis sich darstellt, daß das dem Animus zugehörige Selbstver­
hältnis unter Anima-Einfluß geraten ist und sich nicht mehr eigentlich verwirkli­
chen kann.
Unter dem Blickwinkel des »Selbstverhältnisses« sei ein Blick zurück auf
die »Gefäße« oder die Formen geworfen, die das »Haus der Welt« annehmen
kann, auf »Mythos« (bzw. »Ritual«, »Initiation«) - Goldgrund - Vas - Schwarzer
Kasten. Der Alchemist führt Operationen an einem Stoff aus, die durchaus Ähn­
lichkeit mit der Zerstückelung oder den Torturen haben, die in der schamani-
schen oder ritualistischen Initiation erlebt werden. An dem Stoff in der Retorte
ist nicht mehr gegenständlich sichtbar, daß der bearbeitete Stoff der Adept selbst
ist, während in der schamanischen Erfahrung gesetzt ist, daß der Erfahrende und
das Bearbeitete identisch sind. Wie schon ausgeführt, war für die alchemistische
Logik gleichwohl das, was außen als zu bearbeitender Stoff vor dem Adepten
war, zugleich in ihm und er selbst. Im Erleben und Verstehen wurde das Selbst­
verhältnis bewahrt, das aus der gegenständlichen Darstellung verschwunden
war. Der Schwarze Kasten kennzeichnet dagegen, wie wir auch schon wissen,
die Situation, wo die Seele aus ihr selbst herausgesetzt ist, d.h. wo gesetzt ist,
daß es sich im Eikennen um kein Selbstverhältnis, sondern um die Beziehung
von abstrakt Verschiedenen handelt. Interessanterweise zeigt auch die
Goldgrund-Situation nicht ausdrücklich, daß in dem vor dem Goldgrund Gezeig­
ten die Seele von ihr selbst redet. Dem entspricht wohl, daß die Goldgrund-Zeit
die vorzügliche Zeit des anhimmelnden Aufblicks zum als transzendent Gesetz­
ten war. Gleichwohl macht der Goldgrund an ihm selbst sichtbar, daß das Be­
wußtsein ganz in das im Bild Geschilderte eingenommen, rings von ihm umhüllt
war.
2. Die Rückbezüglichkeit ist nur möglich, wenn nicht »vergessen« wird,
daß das, worauf diese Beziehung geht, »dasselbe« ist, wie das, was sich darauf
bezieht. Die Unterschiedenen müssen gerade als Identische festgehalten sein.
Die Rückbezüglichkeit auf das, was, indem es doch gerade negiert wird, gleich­
wohl festgehalten wird, ermöglicht die Steigerung des Bewußtseins. Wir haben
schon von dem Lernen aus Erfahrungen gesprochen. Das Bewußtsein kann eine
höhere Stufe seiner selbst erreichen. »Da ich ein Kind war, da redete ich wie ein
Kind und war klug wie ein Kind und hatte kindische Anschläge; da ich aber ein
Mann ward, tat ich ab, was kindisch war« (1. Kor. 13:11). Paulus begreift das
Erwachsenwerden nicht als einfaches kontinuierliches Aufwachsen, Größerwer­
den, nicht als gleitenden Übergang. Er begreift es als ein Sich-Abstoßen von ei­
ner kindlichen Stufe zu der des Mannes. Zwischen beiden Stufen liegt eine Ne­
gation: ich tat ab, was kindisch war. Damit das Kindische abgetan werden kann,
darf es aber nicht einfach von selbst verschwinden (welken, vergehen), sondern
es muß als das zu überwindende Eigene eigens erfaßt und festgehalten worden
sein. Das Erwachsensein steht nicht als ein möglicher unter vielen Zuständen ne­
ben (oder zeitlich nach) dem des Kindseins. Der neue Zustand erhält seine Be­
stimmtheit vielmehr dadurch, daß er die Negation des alten ist und so auf den al­
ten gerade bezogen bleibt: Erwachsensein ist das McAr-Kindischsein. Entspre­
chend wurde in den rituellen Kulturen der »Übergang« (was für ein falsches
Wort) vom Kind zum Erwachsenen durch einen Bruch, durch gewaltsame Ein­
griffe (Qualen, Beschneidung, Beibringen von Narben usw.), ja durch (symboli­
sches) Getötetwerden erwirkt.
Die Aufklärung als historische Epoche wie als emanzipatorische Einstel­
lung überhaupt ist ein gutes Beispiel für das Sich-Abstoßen des Bewußtseins
von einer Stufe zu einer neuen. Die Dogmen, die kritisiert wurden, die Hexen
und Wunder, die als das Irrationale durchschaut werden sollten, mußten gerade
ganz fest vor das Bewußtsein hingestellt werden, damit es sie negieren und da­
mit es sich von ihnen zu einer neuen Stufe des Denkens abstoßen konnte.
Bei dem Sich-Abstoßen von sich selbst findet nicht extensional ein Über­
gang oder Wechsel von einem zu einem anderen statt. Ich spreche von Steige­
rung, weil das, was sich abstößt, dasselbe ist, wie das, wovon es sich abstößt,
und dasselbe ist wie das, wozu es durch das Sich-Abgestoßenhaben wird. Es
geht nicht um eine (und sei es auch nur metaphorisch) räumliche Veränderung,
nicht um einen Austausch oder eine Ersetzung von verschiedenen Zuständen. Es
geht vielmehr um das S/cÄ-Verwandeln von dem, was bei dieser Verwandlung
sich als dasselbe durchhält. Bild geworden ist dieser Gedanke in der Alchemie
in dem Gefäß, das »Pelikan« heißt. Der Vogel Pelikan soll sich nach altem
Glauben von seinem eigenen Blut ernähren, das er, mit seinem auf sich selbst
gerichteten Hals und Schnabel einen Kreis bildend, aus seiner eigenen Brust
zieht. Dementsprechend führt das nach ihm benannte alchemistische Gefäß das
Produkt einer Destillation wieder dem Ausgangspunkt zu, so daß das bereits De­
d, stillierte in endlosem Kreislauf erneut der Destillation ausgesetzt wird. So kön­
nen immer höhere Stufen der Destillation, Sublimation oder Verfeinerung erzielt
werden - im Unterschied zu der normalen Prozedur bei der Destillation, wo der
zu destillierende Ausgangsstoff in einem Gefäß zum Kochen gebracht wird,
während das Destillat in einem zweiten Gefäß aufgefangen wird, wo also eine
klare Trennung von Anfangsstoff und Endprodukt beibehalten wird. Soll in der
letzteren (normalen) Laborsituation der Destillationsprozeß weitergeführt wer­
den, dann wird neuer, zusätzlicher Stoff destilliert: ein quantitatives Mehr, wo
im anderen Fall immer neue Grade der Destillation desselben waren.
Mit von Lacan entlehnten, aber anders als bei ihm gebrauchten
sprachlich-rhetorischen Bildern kann man sagen: Bei dem »normalen« Destilla­
tionsvorgang handelt es sich um einen metonymischen Vorgang: ein buchstäbli­
cher Übergang von einem zum anderen Gefäß, ein Gleiten von hier nach dort
(Lacan: »von Wort zu Wort«). Der Ausgangsstoff ist verschwunden und durch
das Endresultat ersetzt worden. Mag auch das Endprodukt (subjektiv) erwünsch­
ter sein, so ist doch logisch der Ausgangsstoff so gut ein Stoff wie das Endpro­
dukt auch. Sie liegen auf derselben Ebene. Es ist einfach eine neue Situation ge­
schaffen worden, die sich vollständig an die Stelle der alten gesetzt hat. Nichts
wurde festgehalten. Der Anfangsstoff hat sich beim Übersetzen seiner selbst in
den neuen vollständig verzehrt. Beim »Pelikan« dagegen liegt eine Metapher,
metaphorä, vor. Dasselbe nimmt immer subtilere, intensionalere Bedeutungen
an. Es vertieft sich in sich. Der Prozeß verläuft kreisförmig, d.h. er dreht sich so­
zusagen auf der Stelle, ohne den Stoff von hier nach dort zu transportieren, erar­
beitet dafür aber einen Mehrwert, eine Sinnsteigerung oder -erweiterung. Die
Fortbewegung im Sinn der metaphorä ist der Transport desselben aus einem sei­
ner Aggregatzustände oder logischen Status in einen anderen, höheren.
Die poetische Metapher ersetzt nicht eines durch ein anderes, sondern hält
die ursprüngliche Bedeutung gerade fest, setzt sie aber einer alchemistischen
Prozedur der sublimatio oder einer logischen Prozedur der »Aufhebung« im He-
gelschen Sinn aus, so daß ein neuer Sinn ihr abgewonnen oder aus ihr produziert
wird, der dann auch das mit dem metaphorischen Ausdruck Gemeinte wirklich
mit umfaßt.
3. Indem der Animus der Widersacher, nicht gegen einen anderen drau­
ßen, sondern gegen sich selbst ist, ist er Dialektik. Das einfache Widersachertum
gegen einen Feind ist eine klare Sache. Jeder bleibt hübsch auf seiner Seite. Der
gesunde Menschenverstand wird nicht gestört. Der Animus dagegen mutet uns
zu, das Andere schlechthin zu denken: jenes andere, das nicht noch ein zweites
sich gegenüber hat, für das es das Andere wäre, sondern das als ein und dasselbe
selber das Andere ist, das Andere seiner selbst. Der Animus ist die Identität von
Identität und Differenz. Und wenn wir dasselbe über die Syzygie sagten, dann
zeigt sich, daß sich dieser Charakter der Syzygie dem Animus verdankt, so wie
dieser ja auch keine vollgültige Bewußtseinsstufe einnimmt und nicht auf seiner
eigenen Stufe, sondern erst in der Syzygie-Stufe zu seiner eigenen Erfüllung
kommt. Jener andere Charakter der Syzygie, nämlich die substantielle Auseinan­
derlegung der Seele in Anima und Animus, in Seele im engeren Sinn und Geist,
zu sein, das ist die Wirkung der Anima inneihalb der Syzygie. Die Anima kennt
weder Identität noch Differenz, weder Position noch Negation. Sie kennt nur die
Jeweiligkeit, die Mannigfaltigkeit des Jeweiligen. Die Gleichursprünglichkeit
von Setzen und Negieren gehört zur Dialektik des Animus.
Während man in Klages’ Werk das Begreifen des Wesens des Geistes
(oder in unserer Sprache auch: des Animus), nämlich seiner Negativität, findet,
wenn freilich auch auf eine ungeistige (»animahafte«, buchstäblich verstehende)
Weise als das undialektische Widersachertum gegen das Leben, hat Jung mit
seinem Rückgriff auf die Alchemie und das »Mysterium Coniunctionis« ganz
richtig das Motiv der intensionalen Wandlung und Steigerung zur Geltung ge­
bracht, das bei Klages fehlt. Dafür fehlt aber bei ihm die Klages’sche Einsicht in
den Tötungscharakter weitgehend. Bei ihm findet man also das animushafte,
geistige Begreifen des Geistes in seinem Verhältnis zur Seele, aber weitgehend
auf der Animaebene, ohne volles Begreifen des Wesens des Geistes selbst, so
daß dieser fast nur als so etwas wie eine zweite, nur eben männliche »Anima«
und nicht als das radikal Andere, das die Unschuld und Unmittelbarkeit der Ani­
ma Tötende erscheint. Dies macht dann auch die Versöhnung (coniunctio) von
Geist und Seele viel leichter, vielleicht allerdings wird sie so auch etwas vor­
schnell erreicht. Jung verweigerte sich der Klages'sehen Sicht des Geistes als
Widersacher der Seele vermutlich deswegen, weil er nicht der undialektischen
Verdammung der Modernität anheimfallen wollte. Nur bei Hegel haben wir das
animushafte, geistige Begreifen des Wesens des Geistes, so freilich, daß bei ihm
der Zugang zur Anima-Welt (nicht ganz fehlt, wohl aber) unterbelichtet bleibt.
Gefordert wäre das Zusammen des geistigen Begreifens des Wesens des Geistes
und des seelischen Begreifens der Anima in der Einheit der Gegensätzlichkeit
und Einheit ihrer: die vollbrachte Syzygie.

B. Die »Aggregatzustände« der Akte oder


die Medien des Geistes

In dem vorliegenden Kapitel über den Geist als Akt haben wir bisher die
Akte, als welche der Animus ist, besprochen. Wir kommen jetzt zu einem zwei­
ten Teil dieses Kapitels, wo es um die »Aggregatzustände« der Akte geht. Der­
selbe geistige Akt kann in verschiedener »Dichte« oder in verschiedenen Me­
dien von je anderer Dichte auftreten.
1. Die rituelle Tat. Das ursprüngliche Medium geistigen Handelns oder
der Stoff, an dem es sich vollziehen konnte, dürfte das rituelle Handeln gewesen
sein. Damit ist jenes buchstäbliche Handeln gemeint, das nicht darin aufging,
buchstäblich (technisch-praktisch) zu sein, sondern an ihm selbst schon logi­
sches Tun war. Es hatte zusätzlich zu seinem praktischen Zweck auch einen
geistigen Sinn, der aber kein Zusatz, sondern Ursprung und Mitte des Aktes war.
Eine der ältesten rituellen Akte war die Großwildjagd. In der Altsteinzeit wurde
der nur im Feuer gehärtete Speer benutzt. Wenn Gehrts z.B. über die urtümliche
Jagdsituation sagt: »Sobald sich das Jagdtier zeigt, erhält die Wildnis Sinn und
Richtung. Die Wunde des Tieres, vom geschleuderten Speer erzeugt, setzt eine
zeitweise lebenspendende Mitte«3, so finden wir darin ein Beispiel für den
Animus-Akt des Setzens. Wurde dann der noch vom Blut feuchte Speer im Dorf
aufgepflanzt, dann wurde er zum Mittenmal eines so erst erstehenden Mundus,
um das herum sich das wirkliche Leben der Dorfgemeinschaft organisierte.
Nach Nilsson4 war der älteste und wohl am weitesten verbreitete Kult des
Hermes (dessen Namen nach ihm wie schon nach K.O. Müller und Preller »Der
vom Steinhaufen« bedeutet), daß jeder an einem von früheren Wanderern be­
gonnenen Steinhaufen Vorübergehende einen Stein auf den Haufen legte (ein
übrigens in aller Welt verbreiteter Brauch). Auch hier ein Akt des Setzens, der
Markierung.
Bei der Anlegung eines Siedlungsplatzes wurde z.B. in der Griindungssa-
ge von Rom der ausersehene Platz rituell umpflügt und so eingehegt. Eine tren­
nende Grenze zwischen drinnen und draußen war in die zuvor ortlose offene
Weite gezogen, ein menschlicher Raum geschaffen.
Der Animus als Eingriff in das bloße Geschehen, als Negation, als Sich-
Zueigenmachen und als Aufhebung des Natürlichen zeigt sich z.B. im Opfertö­
ten, im kannibalischen Mahl oder im Verbrennen der Leiche. Im Brechen des
Stabes durch den Richter beim Todesurteil erkennen wir einen Animus-Akt wie
ebenso in unzähligen in alten Rechtsbräuchen enthaltenen Akten und wie in den
Operationen der Alchemie. Das muß hier nicht weiter ausgeführt werden.
Entscheidend für uns ist nur die Einsicht, daß in diesem und als dieses ri­
tuelle Tun sich wirklich der Animus, der Geist, ereignete. Der Geist lag in dem
Vollzug des Aktes, nicht in einem außerhalb des Aktes bestehenden Bewußtsein,
das durch das Ritual ein zuvor schon Gedachtes oder Erlebtes nur nachdrücklich
hätte »ausdrücken« oder »in die Praxis umsetzen« wollen. Nein, zur Wirklich­
keit der Rituale gehört, daß sie wirklich ihren geistigen Sinn gerade nur in ihnen
haben und überhaupt erst durch ihren Vollzug erzeugen. Das ganze Bewußtsein
des frühen Menschen ereignete sich »außerhalb« von ihm (außerhalb von sei­
nem Kopf) in dem wirklichen Tun, das nur deshalb die außerordentliche Bedeu­

3 Heino Gehrts, »Vom Wesen des Speeres«, Hestia 1984/85, Bonn (Bouvier Verlag Herbert
Grandmann) 1985, S. 71-103, hier S. 95f.
4 Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, Handbuch der Altertumswissenschaft
V.2.1,3. Auf!., München (Beck) 1967, S, 503ff.
tung für Jahrtausende des Menschsems haben und die Menschen mit Sinn erfül­
len konnte, weil sein Sinn nur durch dieses Tun zu erreichen war und nicht auch
außerhalb bestand.
2. Das Dingsymbol. Der Geist kann dann auch in den Ritualgeräten und
den durch das Ritual hergestellten Dinge selber liegen. Der gesetzte Steinhaufen,
der aufgepflanzte Speer des Jägers oder die Lanze des Kriegers, die tödlich
dreinfahrende Axt des Opferers, das trennende Schwert, das schneidende Mes­
ser, der durchbohrende Dolch, der die Identität des Menschen enthaltende Stab,
der sich aufrichtende, aufgerichtete und eindringende Phallos, um nur einige
ganz wenige Beispiele zu nennen, sie alle tragen den Geist in sich. Die Logik
der Akte war in sie investiert, von ihr waren sie erfüllt. Nur deswegen sind sie
symbolisch aufgeladen. Auch hier wäre es völlig verkehrt, zu meinen, sie wären
nur Symbolisierungen von einem zuvor schon bekannten und außerhalb ihrer im
menschlichen Bewußtsein wohnenden Sinn. Dann wären sie eben nur das gewe­
sen, was sie vom modernen Bewußtsein aus in der Tat zu sein scheinen, über­
flüssige, nichtige Veräußerlichungen eines eigentlich Inneren. Sie hätten nie ein
Menschentum wirklich mit Sinn erfüllen können. Es war aber genau umgekehrt.
Lange bevor die Menschen ihr Bewußtsein in sich trugen, hatten sie es »drau­
ßen« zuerst als zeitliches Geschehen in den rituellen Handlungen und dann
dinglich-stofflich in den Zeremonialgeräten.
3. Der spontane Affekt oder Impuls, die psychische Emotion. Im
Schrecken, im Ekelgefühl, im plötzlichen Wutaffekt, im schlechten Gewissen
oder Schuldgefühl, im Gefühl der Peinlichkeit, im Zweifeln, in der Trotzreak­
tion, im verletzten Stolz, in der Selbstbeherrschung usw. macht sich der Animus
in je anderer Weise spontan bemerkbar. Er kommt so einfach über den Men­
schen. Er bewirkt eine Trennung, Distanz, Abwehr, Selbstbehauptungstendenz,
Dissoziation. Hier ist der Animus zum ersten Mal im Menschen selbst wirksam.
Auch z.B. die Impotenz kann als Animus-Manifestation gesehen werden: sie er­
zwingt eine Verabschiedung des Begehrens und des Aufgehens in der Erfahrung
der Vereinigung und der Lust. Begehren und Lust gehören zur Anima. Dagegen
stammt die sexuelle Aggression, die Vergewaltigung, der Sexualmord, aus dem
Animus. Hier will er sich seinem Anderen aufzwingen, es durchbohren, zerstük-
keln. Im Geiz macht sich der Animus geltend als das Festhalten. Auch dies nur
einige Beispiele, die eine Vorstellung von diesem »Aggregatzustand« des Er­
scheinens des Geistes durch Andeutungen evozieren sollen.
4. Die Verstandeshandlung. Jetzt erscheint der Animus als Denken, als
Schließen, Begreifen, Analysieren, Urteilen, Vergleichen, Unterscheiden, als
Reflexion und Selbstreflexion. Ebenso als die Bewußtseinsakte des Sich-
Entschließens, des Wollens, des Planens, des Ziele Setzens, der Entsagung, des
Verzichtens, der Selbstdisziplin usw. Damit ist auch der »Aggregatzustand« des
Geistes seinerseits geistig geworden.
5. Geistigkeit Hier ist der Punkt erreicht, wo der Geist als Akt sich selbst
transzendiert und sich als logische Bewegung durchsichtig geworden ist. Wir
haben dies schon berührt in den Ausführungen zu der »IV. Stellung der Seele zu
ihrer Erfahrung ihres Anderen«. Da diese Stufe geschichtlich noch nicht als ab­
geschlossene vor uns liegt, wie dies bei den anderen der Fall ist, da sie sich viel­
mehr nur mehr ahnungsweise abzeichnet, begnüge ich mich mit diesem Hin­
weis. Die folgenden beiden Kapitel führen dieses Thema wenigstens ein wenig
weiter.
HI. Der Geist als Stufe, als logischer Charakter des Inderweltseins.
Solange der Animus als Akt auftrat, war er an die tatsächliche Ausübung der
Akte gebunden. Das Zeitalter der Aufklärung z.B., das als das deutlichste Bei­
spiel der Animus-Stufe gelten darf, war eine Manifestation des Animus nur des­
wegen, weil Tausende von Menschen immer wieder neu von ihrem Verstand im
Sinn einer Kritik der Tradition und einer Destruktion der »irrationalen« Imagi­
nation (Mythos, natürliche Theologie, Brauchtum) Gebrauch machten. Der Ani­
mus lebte in den real ausgeübten Denkakten, und er erschien immer nur in die­
sen besonderen Akten. Es gibt jedoch auch eine Manifestation des Animus, die
nicht mehr davon abhängig ist, daß Menschen bestimmte geistige Akte ausüben,
ganz gleich ob als rituelle Tat, als Affekthandlung oder als Verstandeshandlung.
Wir leben in der Zeit, in der dies sichtbar wird. Der Animus erscheint in unserer
Zeit unabhängig von uns und von besonderen Akten in einem Allgemeinen: in
dem Geist der Zeit, in der »Luft«, die wir atmen, in dem Element, in dem sich
das Leben unserer Zeit abspielt, in dem logischen Charakter unserer heutigen
Welt.
Was Marx einmal sagte: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles
Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebens­
stellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen«, das
ist heute längst Wirklichkeit geworden. Die ganze Anima-Welt ist aufgehoben.
Die Natur ist nicht mehr die allbeherrschende Macht, sie ist vielmehr darge­
stellt, fundamental in ihrem Bestand bedroht zu sein. Die Natur wird gespen­
stisch, weil sie eigentlich als längst Gestorbene doch noch ihr Wesen zu treiben
scheint. Freizeitparks und Schaugehege für nicht einmal nur exotische, sondern
auch einheimische, ja ehemals auf jedem Bauernhof gehaltene Tiere, zeigen,
wohin die Natur heute eigentlich gehört.
Die Welt, in der wir Menschen leben, ist längst eine außerordentlich
künstliche. Wir leben in Betonhäusem, mit Kunststoffen, in künstlichem Licht,
mit transplantierten Organen und Retortenbabys. Es geht heute um die fabrikmä­
ßige Herstellung von neuen Organismen, die durch Genmanipulation »erfun­
den« und offiziell patentiert wurden. Durch die Atomphysik hat sich theoretisch
die Ebene, auf der wir die Welt begreifen, fundamental verlagert. Die gestalthaft
wahrnehmbare Natur ist zur Unsinnlichkeit der Elementarteilchen und zur Ab­
straktheit von Formeln verdampft worden. Es gibt heute »microengineering«, es
werden ganz neue Stoffe (Keramik usw.) nach Bedarf künstlich hergestellt. Die
Medizin arbeitet mit Laser- und anderen Strahlen und mit Hilfe von Computer­
berechnungen und Computerbildem. Kraft der Elektronik hat sich das eigent­
liche, pulsierende Leben unserer Zeit, nämlich der Geldverkehr und der Infor­
mationsfluß, in die Feme, Unanschaulichkeit und vor allem Immaterialität der
elektronischen Datenübertragung, der Femsehwellen, der durch Satelliten ver­
mittelten drahtlosen Kommunikation zurückgezogen.
Wenn wir heute über Satelliten im Weltraum miteinander kommunizieren,
dann ist die Aufgehobenheit der natürlichen und direkten Kommunikation ge­
genständlich vor Augen geführt. Wir sehen unsere Erde vom Weltraum aus, was
zeigt, daß wir logisch nicht mehr auf der Erde wohnen, sondern unseren eigent­
lichen Standort jetzt im Weltraum haben.
Aller Sinn, den die Sitten, Bräuche, die Tradition und die Religionen einst
gaben, ist verdampft. »Jeder soll nach seiner Fafon selig werden.« Die Beliebig­
keit des seit langem bestehenden und sich heute »postmodem« gerierenden Plu­
ralismus der Sinngebungen ist offenbar. Man redet heute von den »Sinnangebo­
ten«, welche Rede eine contradictio in se ist und unmißverständlich klarmacht,
daß der Sinn eine Ware auf einem Markt geworden ist, auf dem verschiedenste
Gruppierungen oder Einzelpersonen um Marktanteile kämpfen. Sinn wird ver­
kauft und gekauft: auf englisch kann man sagen: »I (don’t) buy it«, auf deutsch
»nimmt man jemand dies (nicht) ab«. Die Sinnangebote müssen »präsentiert«,
anziehend aufgemacht, »verpackt« werden. Es ist eindeutig: in dem Augenblick,
wo es »Sinnangebote« gibt, ist Sinn obsolet. Denn wirklicher Sinn ist unaus­
wechselbar gegeben. Er ist, was er ist, einzig dadurch, daß man keine Wahl hat,
weil er der Sinn ist, der das Leben einer Gemeinschaft tatsächlich und wirklich
und fraglos trägt. Natürlich wird auch der Sinn, den die Jungsche Psychologie
bietet, brutal vermarktet, nur daß sich diese brutale Vermarktung gerade der Stil­
form einer »sanften« und »edlen«, aber gerade als solche erfolgreichen Ver­
marktung bedient.
Auch die Werte sind weitgehend zerfallen. Daß sie das Leben nicht mehr
wirklich zu tragen und zu binden vermögen, zeigt sich besonders an der Zunah­
me der Süchte. Eine innere Haltlosigkeit und ein Zynismus machen sich breit.
Gewalt als Selbstzweck oder vielmehr als Mittel, sich selbst intensiv zu spüren,
wird entdeckt. Immer mehr erweisen sich Menschen als käuflich. Für Geld ver­
kaufen sie ihre Firma, ihren Stolz, ihre Selbstachtung, ihre Scham.
Geld erweist sich als der einzige noch authentische Wert. Aber Geld ist
seinerseits immer schon die Aufgehobenheit der Werte. Es ist der absolute: der
von allem konkreten Wert losgelöste Wert, ganz abstrakt »Wert an sich«, als
Selbstzweck (ganz ähnlich wie l’art pour l’art). Es ist nicht mehr der Wert von
etwas. Ein gewaltiger Prozeß ist dabei, heute möglichst alles in unserer Welt in
Geld zu übersetzen, d.h. als in ihm selbst Bedeutsames zu verdampfen zur Ab­
straktheit der Geldform des je so Verdampften. Am deutlichsten wird uns dies in
der Kunst vorgeführt: Unvorstellbare Summen werden für bestimmte Kunstwer­
ke gezahlt, der Geldwert setzt sich an die Stelle des Wertes des Werkes.
Auch die ganze »Kultur« ist längst ausgehöhlt, und die Aushöhlung wird
dem Bewußtsein immer neu vorgeführt: als Touristenattraktion, Folkloredarbie­
tung, als Fernsehprogramm, als Objekt der Fotografiersucht. Kunst gehört heute
ins Museum, sie wird in Ausstellungen gezeigt, was seinerseits zeigt, daß sie
keinen Platz im wirklichen Leben hat. So wie schon lange Mythen und Märchen
zur Sache der Kinder abgesunken sind, so ist Kultur eigentlich nur noch Frei­
zeitbeschäftigung. Das Phänomen »Disneyland« offenbart die Wahrheit über die
Kultur heute. Das verkleinerte Imitat in Modell-Größe setzt sich an die Stelle
des Originals, und das Original wird dann auch selbst schon disneylandhaft be­
sichtigt. Im Herumlaufen mit der Kamera auf der Suche nach der zu fotografie­
renden Sehenswürdigkeit erarbeitet sich die Seele die Verabschiedung der Un­
mittelbarkeit, mit der sie sonst Kunstwerke und andere Kulturgüter betrachtet
hätte. Dabei muß man gar nicht selber mit einer Kamera herumlaufen. In der
Kamera wird lediglich die Weise, wie wir heute generell sehen, ausdrücklich ge­
macht: wir sehen die Attraktionen immer schon über die Vermittlung des in der
Fotografie fixierten Anblickes an. Fernsehen, »Kulturveranstaltungen«, Lektüre:
sie dienen dem Verzehr von seiten des Konsumenten.
Gewöhnlich erklingt darüber ein kulturkritisches Jammerlied. Ich möchte
jedoch dieses zweifellos pathologische Bild, das unsere Zeit abgibt, nicht ein­
fach abwerten (verurteilen). Ich sehe in eben dem, was aus der Perspektive der
Anima eine furchtbare, unerträgliche Symptomatik ist - die Symptomatik der
ökologischen Entfremdung von der und Ausbeutung der Natur, der Destruktion
der natürlichen »Lebenswelt«, der inneren Zerrissenheit der Menschen, des
Sinn- und Traditionsverlusts, der Vermarktung des Heiligsten, der Verdampfung
aller Werte und Kulturgüter - , eine eigenständige Manifestation des Geistes und
eine Leistung des Animus. Der Animus zeigt sich nicht in der Weise der Positi-
vität. Er ist Negativität und dringt an in der Form der Abwesenheit, des Entzugs,
des Verlusts, der Gebrochenheit, der Abstraktion.
Der Geist hat sich nämlich mit den geschilderten Phänomenen die irrever­
sible Einsicht erarbeitet, daß er nicht Natur, nicht ein natürlich Seiendes ist, son­
dern gerade nur als die Aufhebung der Natur sein »Sein« hat. Der Mensch lebt
nicht im Sein, nicht in der Natur, sondern er lebt im Geist als seinem ureigensten
Element: im Geist als Seele oder Sprache, im Geist als Goldgrund oder
Schwarzer Kasten. Das war zwar schon immer so, aber durch die neuen Ent­
wicklungen hat er sich diesen Sachverhalt unmißverständlich klargemacht und
sämtliche Brücken, die zu einem naturalistischen oder animahaften Mißver­
ständnis seiner Situation zurückführen könnten, hinter sich abgebrannt. Der
Geist hat sich diese Erkenntnis seines eigenen Seins nicht in der Form einer phi­
losophischen Lehre oder einer subjektiven Einsicht einzelner oder vieler
Menschen erarbeitet, sondern objektiv. Jedoch, gerade weil es eine objektive
Einsicht ist, kann sie subjektiv abgewehrt werden. Das subjektive Bewußtsein
sperrt sich gegen die objektiv dargestellte Wahrheit der Zeit, nämlich daß die
Zeit eine Zeit des Geistes ist, und will die schöne Anima-Welt, die doch seit
langem obsolet ist, festhalten oder restituieren. Es flüchtet sich in Fundamenta­
lismus, in Nostalgie, in puritanische alternative Bewegungen und in »recovery
groups«.
Aber mit diesen Formen der Abwehr schreibt sich das Bewußtsein gerade
nur immer weiter die Hohlheit des fundamentalistisch, nostalgisch oder purita­
nisch Konservierten ein. Es führt sich nur umso eindrücklicher die innere Gebro­
chenheit all der Glaubensinhalte, Werte, Lebensformen vor. Die Abwehr be­
treibt, ohne es zu wissen, das Geschäft dessen, was sie abwehren will. Der Fun­
damentalismus muß ja nicht bekämpft werden. Er führt, wenn auch auf langen
und schmerzlichen Umwegen, sich selbst ad absurdum, weil er in seinem Dog­
matismus und in seinem Eifern den Beweis erbringt, daß der von ihm als heil
behauptete Sinn gar nicht wirklich tragendes Fundament ist, sondern künstlich
behauptet, geflickt und verteidigt werden muß, vielleicht sogar mit Waffenge­
walt.
Warum die Abwehr? Worum geht es bei ihr überhaupt? In dieser Abwehr
versucht das Bewußtsein mit aller Gewalt, an der Bewußtseinsstufe der Vergan­
genheit, von der es selbst spürt, daß sie unwiderruflich obsolet ist, festzuhalten.
Es ist die Stufe, auf der auch der Geist in natürlicher Form, sei es als besondere
Akte, sei es als das die Gehalte der Anima-Welt belebende Prinzip, gegeben
war. Alles ist das Bewußtsein bereit hinzunehmen, jede interne Veränderung, je­
den internen Verzicht, nur nicht den Tod seiner selbst. Der Untergang der Stufe
des natürlichen Bewußtseins bedeutet aber den Tod dieses Bewußtseins über­
haupt. Obwohl es nur zu genau weiß, daß schon längst eine neue Bewußtseins­
stufe, die Stufe, die ihrer logischen Form nach selbst Geist ist, sich ins Werk ge­
setzt hat und überall um uns herum aus unseren Geräten und Institutionen uns
anblickt, versucht es krampfhaft, und wohl in panischer Angst, sich selbst da­
durch zu erhalten, daß es das Neue mit den Begriffen und Kategorien des alten
Bewußtseins ausdrückt, um das Neue dadurch in das alte hinabzuzwingen, auf
dieses reduzieren.
Das Bewußtsein verharrt dann in der Situation des Blaubart-Märchens. Es
schreckt zurück vor den Leichen in der Kammer, die es gleichwohl längst gese­
hen hat und die sich durch nichts wieder lebendig machen lassen. Es erlebt das
Andrängen des Geistes nur als blanken Blaubart-Mord. Und vor Blaubart »kann
man nur fliehen«. Aber wir wissen schon, daß das Mädchen vor ihm gerade
nicht wirklich fliehen kann und daß es sich an dem Widersprach zwischen dem
unbedingten Fliehenwollen und dem panischen Gelähmtsein angesichts des
messerwetzenden Blaubart aufreibt und als das unschuldige Mädchen seinen
Untergang erleidet, so daß es gerade den Weg zu der neuen Stufe frei macht.
Das »vor ihm kann man nur fliehen«, das aber als äußere, positive Flucht un­
möglich ist, erzwingt, daß die Flucht in absolut negativer Er-innerang sich nach
innen, gegen das Bewußtsein selbst wendet: zum Verschwinden dieses Bewußt­
seins wird.
Die panische Flucht des natürlichen Bewußtseins tiefer in sich selbst hin­
ein läßt sich an einem Kuriosum verdeutlichen. In allem Emst und mit viel In­
brunst wird heute, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, von einigen diskutiert, ob
Gott, der Gott der jüdisch-christlichen Tradition, männlich oder weiblich sei.
Vor dreitausend Jahren mag diese Frage einen logischen Sinn gehabt haben, in­
sofern als damals der Mythos der Geschlechter noch intakt war. Heute ist sie ab­
surd. Nicht nur ist diese Frage längst in der Geschichte entschieden worden, so
daß es müßig ist, daran nachträglich noch etwas auszusetzen. Vor allem gilt aber
auch zweierlei: 1. Der Geschlechtergegensatz ist längst obsolet. Er ist abgesun­
ken zu einer bloß-biologischen, also banalen Tatsache, ohne logische, psycholo­
gische, metaphysische Bedeutung. Gott kann sich gar nicht auf »die Frauen«
oder »die Männer« beziehen, weil die Männer und Frauen, als mythisch-theolo­
gisch bedeutsame Idee, verdampft sind. Wir leben im Zeitalter des Unisex. So
wie in der Religion jeder nach seiner Fafon selig werden darf und damit die Ob-
soletheit der Religion offen zutage liegt, weil ihr der Charakter, die wirkliche
Wahrheit auszudrücken, allgemeinverbindlich abgesprochen ist, so kann heute
auch jeder nach seiner Fafon in punkto Geschlechtlichkeit leben: hetero- oder
homo- oder bisexuell oder abstinent, verheirat, unverheiratet in fester Paarbezie­
hung, in vielen lockeren oder in gar keiner Beziehung. Es ist einerlei, dem Belie­
ben des einzelnen anheimgestellt. Das Bewußtsein ist längst zu dem Begriff des
Menschen fortgeschritten. Der Mensch jedoch ist —logisch - nicht männlich
oder weiblich. Er ist Geist oder Selbstbewußtsein. 2. Gott, als der Gott des na­
türlichen Bewußtseins, ist tot. Das ist nicht nur die private Meinung eines Herrn
Nietzsche, das ist die Wahrheit der Zeit. Gott hat sich in der gesellschaftlichen
Wirklichkeit längst dazu fortbestimmt, Geld zu sein, und in seiner Wahrheit da­
zu fortbestimmt, Geist und Liebe zu sein. Mit dem Atavismus der Frage nach
dem Geschlecht Gottes gelingt es dem Bewußtsein, an seinen natürlichen Kate­
gorien festzuhalten.
Freilich, all diese auf Selbsterhaltung des natürlichen Bewußtseins ausge­
richteten Bestrebungen sind bloße kuriose Randerscheinungen, zwar sich laut­
stark zu Wort meldend, aber von dem »mainstream« der gesellschaftlichen Ent­
wicklung längst überholt. Das herrschende Bewußtsein, das sich in Industrie,
Wissenschaft, Bankwesen artikuliert und Träger des wirklichen Seelenlebens
heute ist, steht wo ganz anders. Es hat sich längst auf die Stufe der standhaften
Müllerstochter aus dem Räuberbräutigam-Märchen gestellt und betreibt geradli­
nig und aufrichtig, wenn auch ohne Bewußtsein, den Fortschritt in die Geldstufe
des Geistes und den ihr entsprechenden Zynismus-Nihilismus.
IV. Der Geist als Liebe. Jung hat den Gegensatz von Anima und Animus
u.a. auch als den von Eros und Logos betrachtet. Die Liebe, das Gefühl, die Be­
ziehung fallen nach ihm auf die Seite der Anima. Der Animus dagegen erfüllt
sich, als Logos und Pneuma, nach Jung gerade in der Erfahrung von Sinn. Wie
kann nun hier der Animus oder Geist als der Archetyp der Liebe hingestellt wer­
den? Damit gerät alles durcheinander.
Um die entstandene Verwirrung aufzulösen, sind zwei Operationen nötig.
Erstens trennen wir Animus und Sinn. Die Sinnerfahrung gehört in die Domäne
der Anima. Sie ist Transzendenzerfahrung. Die Anima zieht aus der Alltags­
wirklichkeit hinaus in die Sphäre der Ahnen, des Religiösen oder Metaphysi­
schen, der Archetypen. Der dort erlebte geistige Sinn verbindet dann aber gerade
mit dem wirklichen Leben und der Welt hier und jetzt. Er erfüllt und trägt. Man
hat dann etwas, woran man glauben kann. Es erhält und stabilisiert das Inder­
weltsein. Der Sinn ist positiver Sinn-Gehalt.5 Der Animus oder Geist dagegen ist
Negativität. Er produziert keine Gehalte. Er stiftet keinen Sinn. - Die zweite
Operation ist, daß wir Liebe und Liebe unterscheiden. Zur Anima gehört die
Liebe als erotische Liebe, als natürliches Gefühl und Begehren. Sie möchte das
Geliebte haben, besitzen, mit ihm vereint sein, sich ihm hingeben, in ihm ihre
Erfüllung finden. Im äußersten Fall gilt auch, ja gerade, für die Liebe unter der
Ägide der Anima, daß sie »ruchlose Natur« ist. Die Liebe, die der Geist ist, ist
eine ganz andere. Sie hat kraft ihrer Negativität nichts mit Leidenschaft, Begeh­
ren und Lust zu tun. Sie ist nichts Natürliches. Sie ist im Gegenteil etwas höchst
Unnatürliches. Sie ist Liebe, wie sie besonders im Neuen Testament als der Hei­
lige Geist angesprochen wurde.
Wir haben hier die Schwierigkeit, daß wir von etwas reden, was - ge­
schichtlich gesehen - noch weitgehend unbekannt ist. Der Geist als Gestalt, der
Geist als Akt, der Geist als Stufe der Geistigkeit, die sich in der Abstraktheit des
Geldes als des spiritus rector in ausgezeichneter Weise manifestiert, - all das
sind uns zugängliche Formen des Erscheinens des Geistes, weil sie geschichtlich
bereits realisiert sind. Der Geist als Liebe ist noch keine geschichtlich geworde­
ne Realität. »Dieser Zustand kann noch nicht ganz verstanden werden. Es han­
delt sich um eine reine Antizipation.«6 Wir stehen bestenfalls an der Pforte zu
der Stufe, auf der der Geist als Liebe sein kann. Es beginnt sich —vielleicht - be­
reits abzuzeichnen, daß das Bewußtsein in eine neue Stufe eintritt. Unsere Aus­
führungen dazu müssen entsprechend dem antizipatorischen Charakter knapp
und nüchtern bleiben, weil das Reden über das, was noch erahnte Zukunft ist, an­

5 So ist es nur vom Animus her gesehen bzw. nur für die im tiefsten bereits obsolete Animastufe.
Eigentlich besitzen, wie oben ausgeftihrt wurde, auch die Symbole der Animastufe Negativität,
Gefäßcharakter, und sind sie nicht Gegenstände eines Glaubens. Sie erfüllen auch nur negativ, als
selber in die Flüssigkeit des logischen Lebens der Seele hinein »Verschwindende« und »Hinein­
ziehende«.
6 C.G. Jung, Briefe Bd. II, S. 354, vom 24. XI. 1953, an Victor White.
ders leicht sentimental und kitschig werden und weil die Rede durch das ge­
ringste Pathos einen predigerhaften Klang bekommen könnte.
Wir stehen an der Pforte zu der Stufe, in der der Geist der Liebe herrschen
kann. Geschichtlich ist zwar das »Geld« als die Abstraktion von allem Sinn und
Wert und als die Verdampfung oder das alchemistische Destillat der ganzen na­
türlichen Anima-Welt die höchste Verkörperung des Geistes. Aber diese bisher
höchste Form zeigt den Geist gerade in seinem Unwesen. Seine Negativität ist
hier durch den Einfluß der Anima fixiert worden. Sie ist zum buchstäblich Nega­
tiven des Nihilistischen verfestigt worden. Das Geld, einst Gold, hat sich zwar
über den Geldschein bis hin zum bargeldlosen Zahlungsverkehr und zur Kredit­
karte immaterialisiert. Gehälter werden heute nicht mehr ausgezahlt. Weder er­
hält der Lohnempfänger noch etwas, noch gibt die Firma etwas weg. Das einzi­
ge, was geschieht, ist, daß elektronisch einige Datenbits verändert werden. Das
Geld ist also schon in den Status einer reinen Idee, des reinen Scheins gebracht,
bzw. es ist objektiv dargestellt, in diesem Status zu sein. Aber von diesem
Schein kann der Gehaltempfänger tatsächlich leben. Dieses Wunder zu sein, das
Wunder nämlich, als Schein Realität (hier Kaufkraft) zu haben, das ist der Geist.
Aber das Geld, mag es auch noch so sehr zur Immaterialität verdampft
sein, ist immer noch »Etwas«. Es ist gerade das Immaterielle als Etwas, als Sub­
stanz. Es ist äußerst real. Es ist noch nicht wahrhaft Geist geworden: es hat nur
alles Natürliche nach und nach in sich reflektiert, aufgehoben, außer Kraft ge­
setzt, aber es hat sich selbst noch nicht reflektiert. Es behauptet noch seine
Macht als Gewaltherrscher über das Leben der Menschheit, in den Industrie­
nationen genauso wie in der Dritten Welt. Seine Negativität ist selber noch posi­
tiv: als absolute Macht über Wohl und Elend in der Welt, als Zynismus und Ni­
hilismus. So wie die Wissenschaft auf der Geldstufe (in einem weiteren Sinn des
Wortes) Positivismus ist, so sind auch das Geld und die Geldstufe selber reali­
sierter Positivismus. Positivismus jedoch ist die Setzung der Negativität als posi­
tive Macht, als Seiendes, worin sich eine Animawirkung manifestiert. Der Geist
kommt erst wirklich zu sich, wenn seine Negativität sich auf sich (die Negativi­
tät) selbst richtet: absolut negativ in sich erinnert wird.
Im Geld ist der christliche, monotheistische Gott in die Realität einge­
kehrt. Er hat seine Form als jenseitiger, »transzendenter« Gott aufgegeben und
ist dargestellt, realer Geist, nämlich der wirkliche Weltumgang des Menschen,
zu sein. Es kann wohl kein Zweifel bestehen, daß sich im »Kredit«, im Kredit­
wesen und in den Kreditkarten das christliche Credo eine gegenständliche Form
gegeben hat. Das Glauben an den Gott hat aufgehört, ein subjektiver Akt oder
Zustand des Menschen zu sein. Als solches ist es längst geschichtlich überholt
(was nicht ausschließt, daß es immer noch vorkommt). Das Glauben an Gott hat
sich von den Zufälligkeiten der persönlichen, inneren Gesinnung, die immer von
Zweifeln und Anfechtungen bedroht war, losgelöst und sich eine davon unab­
hängige objektive Realität gegeben. Der Glaube qua Geld oder Kreditwesen ist
nicht mehr eine Privatsache. Er herrscht über das öffentliche Leben mit fragloser
Macht. Er ist gegen das private Glauben wie gegen den Unglauben oder gegen
Irrglauben und Aberglauben indifferent, weil er die logische Stufe, auf der diese
stattfinden, längst überholt hat. Es geht nicht darum, ob er inhaltlich widerlegt
oder bestätigt ist. Das Leben spielt sich de facto bereits auf der höheren Stufe ab,
wo das Glauben wie das Nichtglauben einfach nicht mehr »geht«, aber das Be­
wußtsein bleibt auf der überholten Stufe stehen und sucht noch verzweifelt nach
irgendeinem Glauben oder Sinn als Inhalt der inneren Gesinnung. Der christli­
che Glaube ist nicht geringer geworden, die Menschen sind nicht von ihm abge­
fallen. Der Glaube hat sich vielmehr nur in einen logisch höheren Status über­
setzt, wodurch in dem Status, wo er zuvor war, eine Leere eingetreten ist, die
von dem Bewußtsein, das diesen alten Status unbedingt beibehalten will, durch
den Pluralismus der Sinnangebote angefüllt wird.
Weil das Bewußtsein subjektiv unter dem Status bleiben will, den das Le­
ben der Seele längst objektiv erreicht hat, wird der Geist, der im Geld und Kredit
schon wirklich auf der höheren Stufe des Geistes und damit der Liebe steht,
noch aus der unteren Stufe heraus wahrgenommen. Er wird vergötzt: denn das
Bewußtsein der Anima-Stufe muß fasziniert und geblendet zu ihm aufblicken,
weil es das Geld zu Recht über sich weiß, insofern es ja die Bewegung in den
neuen Status hinein mitzumachen mit Absicht verweigert hat. Der christliche
Gott oder der Geist, der Animus, als Geld ist die Kompromißbildung zwischen
der objektiv höheren Stufe und dem Festgehaltensein seiner auf der überholten
Stufe. Erst wenn das Bewußtsein sich in den Schwarzen Kasten und somit auch
in den Status des Geldes hineinbegeben hätte, so daß es einerseits nicht mehr zu
ihm aufblicken müßte, insofern es dann auf einer Ebene mit ihm wäre, und an­
dererseits ihm die höhere Stufe wirklich zubilligen, freistellen würde, wäre der
Geist frei, die Möglichkeiten dieser Stufe auszuschöpfen, sich auf ihr lebendig
zu entfalten. So jedoch wird er in der Geldform fixiert.
Die wahre Form des Animus ist Liebe. Wie paßt dies jedoch zusammen
mit der Tatsache, daß der Animus Negativität, ein Töter, der Blaubart ist? Der
Zusammenhang ist der, daß seine Liebe in ihr selbst Negativität ist. Sie ist eben
nicht natürliches Begehren, Leidenschaft, Trieb. Auch nicht zärtliches Gefühl
oder affektiver Zustand. Das Töten ist nötig, um die Liebe aus dem Status der im
Sinn des natürlichen Bewußtseins verstandenen Liebe zu sich selbst zu befreien.
Das Töten schockt aus dem natürlichen Status hinaus. Es ist seine Aufhebung.
Aber was es mit dem Töten hier auf sich hat, muß näher untersucht werden.
Bei Blaubart und Räuberbräutigam konnten wir sehen, daß diese »Mör­
der« gerade nicht zum buchstäblichen Mord an den Mädchen gekommen sind,
sondern ihrem Widerpart gerade zum fundamentalen Zurückschrecken, zur
Selbsterhaltungstendenz und zum absoluten Widerstand gegen und sogar zum
Sieg über den Animus verhalten. In diesem Widerstand erhielten die Widerste­
henden sich, wurden sie aber auch als im Natürlichen Eingebettete getötet. Sie
wurden aus dem Pieroma vertrieben. Indem sie sich erhielten, während sie »dem
Anderen« ausgesetzt waren, konnten sie dem Tötungswerk von seiten des Ande­
ren zwar standhalten, wodurch allein es sich an ihnen jedoch auch tatsächlich
vollziehen konnte und sie in ihrem logischen Status verwandelt wurden. In der
Selbstbehauptung lag unbemerkterweise ihr Sich-Tötenlassen - nicht als
Menschen, sondern in ihrem Bewußtseinsstatus. Während die bedrohten Frauen
nämlich ihre Widersacher besiegten, ereignete es sich unbemerkt, daß sie in die­
sem ihrem Sieg von den Besiegten gewaltlos beherrscht: von innen - in ihrem
eigenen Bewußtsein - durchherrscht wurden. Das ist die eine Seite, die der Ani­
ma, der »Opfer« der Blaubartgestalten. Von der Seite der Mörder und Räuber
selbst her zeigt sich entsprechend, daß die »Bösewichter« nur durch ihre absolu­
te Gewaltlosigkeit (ihr Sich-Töten-Lassen, ihren Untergang) herrschen. Die Ne­
gativität des Geistes oder der Geist als Töter kann nur in einem Doppelschritt
oder als Zweistufigkeit gedacht werden. Die erste, noch abstrakte Stufe ist das
Negieren des Anderen, alles Positiven, was, wie wir gesehen haben, geschicht­
lich in die Geldstufe geführt hat. Aber dies ist, weil selber noch positiv (oder:
noch von der Anima her verstanden), nur ein vorläufiges Stadium. Erst wenn das
Töten des Animus sich in einem »zweiten« Schritt auf ihn selbst anwendet, d.h.
ihn selber trifft, ihn selber zu seinem Opfer (seinem eigenen Anderen) werden
läßt, ist er wahrhaft geistig geworden, weil reines Selbstverhältnis und nicht
mehr positives Verhalten eines »Geist« genannten positiv Seienden an einem
zweiten positiv Seienden als dem Anderen. Der Animus ist die Einheit von Tö­
ten und selber Untergehen (auf der Seite der Mörder), von Widerstand gegen die
Zerstückelung und Zerstückelt- oder Getötetwerden (auf der Seite der Animage­
stalten), und er ist die Einheit beider Seiten.
Als diese Einheit ist er in seinem eigentlichen Begriff die Kraft des Ster­
benkönnens. Er ist auf der einen Seite das gewaltlose Herrschen durch das eige­
ne Untergehen, das eigene Verschwinden, und auf der anderen Seite das gerade
im Sieg über den Gegenspieler von diesem als das alte Bewußtsein Besiegt- und
Getötetwerden. Der Animus läßt absolut frei. Er läßt sich auch bekriegen und tö­
ten, und herrscht doch eben dadurch. Er versucht auch als Liebe nicht, wie das
im Bereich der Anima wäre, mit der zwingenden Gewalt des Faszinosums für
sich einzunehmen und eine schmachtende Hingabe seines Gegenübers an sich zu
erreichen. Er läßt im Herrschen über das Andere seiner selbst dieses gleichwohl
ganz frei, frei zu seinem eigenen Willen, auch zum Eigensinn, ja sogar zur Ab­
wehr seiner. Er bindet es nicht an sich, auch nicht durch animahafte Liebe im
Sinn des Begehrens. Sein Herrschen ist daher gerade nicht Zwang, nicht Herr­
schen über das Andere, sondern Herrschen in dem Anderen und aus diesem
selbst heraus. Und weil das Andere als das Andere seiner selbst erkannt ist, ist
das Herrschen des Animus das Herrschen immer nur über sich selbst.
Die Kraft sterben zu können, das ist die Liebe im Sinn des Animus. Diese
Kraft verdankt sich ihrer Negativität, kraft der sie Raum einräumt, sein und ge­
währen läßt und selber nur im Verschwinden ihr Sein hat. Sie ist eben nicht posi­
tive Liebe (persönliche Zuneigung, Begehren, Mögen, Sich-Hingezogenfütüen),
wo sie dann für sich selbst einen Platz würde einnehmen wollen und ontische
Präsenz beanspruchen würde. Sie will nichts. Sie ist Gelaß, absolutes Lassen,
reine Freiheit. Sie zwingt nicht einmal zum Guten, sie nötigt nicht.
Die wahre Liebe, so sagt man, will das Glück des anderen und nicht das
eigene Glück. Das ist die Negativität der Liebe. Sie kann sich erfüllen, indem sie
zurücktritt, sich entfernt. Sie ist auch die von Hegel angesprochene Kraft, dem
Schrecklichen ins Auge zu sehen, den Tod zu ertragen und in ihm sich zu erhal­
ten. Sie ist im Menschen die Fähigkeit, im widerstandslosen Ertragen des Todes
des Bewußtseins und des Verlusts seiner Wahrheit sich vom Schmerz durchwal­
ten zu lassen und im einfachen Fühlen des Schmerzes, im einfachen Fühlen der
Trauer sich wandeln zu lassen. Nicht emotionales Leiden, personalistischer
Schmerz, sondern logisches Erleiden, ganz intensional, reflexiv (in Richtung auf
eigenes Verwandeltwerden), ganz in der Stille und ohne moralische Genugtu­
ung, als absolut negative Er-innerung. Als die Fähigkeit zu sterben ist die Liebe
im Menschen auch die Kraft des Verzeihens, des Verzichtens, des Sich-Versöh-
nens. Ebenso die Kraft, das, was ist, freizugeben zu seinem eigenen Sein; das
Leben, »es sei wie es wolle«, »doch so schön« zu finden; die geschehenen Übel,
die Schmerzen nicht als Einwand gegen die Wirklichkeit zu nehmen.
Die Liebe »trägt alles« und »duldet alles«. So sagt das Neue Testament.
Sie hat auch ihren Gegensatz, den Schatten, den Eigensinn, das Böse, den Haß,
immer schon umfaßt und verwunden. Sie ist das alles Tragende und Umfassen­
de, absolute Liebe: losgelöst vom Gegensatz des Liebenswerten und des Has­
senswerten, des Freundes und des Feindes7, des Begehrenswerten und des Ver-
abscheuenswürdigen. Sie setzt ihrem Gegensatz keinen Widerstand entgegen.
Sie ist mit ihm versöhnt. Aber dieses Versöhntsein ist nicht ein nachträglicher
großmütiger Akt einem anderen gegenüber. Es ist »immer schon«, d.h. es ist das
Anfängliche, Vorgängige, Zugrundeliegende. Wenn ich oben von der Liebe als
der Kraft des Verzichtens und Verzeihens sprach, so klingt das noch viel zu sehr
nach einer moralischen Leistung des Menschen (als Ich), zu der er sich durchrin­
gen müßte. Das ist die Liebe nicht. Sie muß nicht wie ein ethisches Ideal von
uns verwirklicht werden. Sie ist viel einfacher. Sie ist die seiende Wahrheit. Sie
ist. Sie ist »das Sein selbst«. Mythologisch ausgedrückt: sie ist nicht zwischen­
menschliche Beziehung oder altruistisches Verhalten im edlen Sinn der soge­
nannten »Nächstenliebe«, nicht unsere Liebe, sondern »die Liebe Gottes«, die in
dem Christus Gestalt geworden sein soll.
Jung schreibt über Christus: »Obschon die Attribute Christi (Wesens­
gleichheit mit dem Vater, Koätemität, Sohnschaft, Parthenogenesis, Kreuzigung,
das zwischen den Gegensätzen geopferte Lamm, Einer in Viele ausgeteilt usw.)

7 Die Liebe läßt ihre Sonne scheinen über Gerechte wie Ungerechte.
ihn unzweifelhaft als eine Verkörperung des Selbst erkennen lassen, so ent­
spricht er doch, vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet, nur der einen
Hälfte des Archetypus. Die andere Hälfte erscheint im Antichristus.«8 Dieses Zi­
tat enthält zwei Probleme: 1) die Deutung Christi als Selbst und 2) die Deutung
des Verhältnisses von Christus und Antichrist. Ich wende mich zunächst dem
zweiten Problem zu.
Wie ist das Symbol »Christus« in seinem Verhältnis zum Antichrist oder
Satan zu denken? Als die Liebe steht der Christus dem Antichrist nicht einfach
als dem total Anderen und Äußeren gegenüber. Christus und der Antichrist sind
nicht einfach zwei Getrennte, Verschiedene, zwei »Hälften«. So zu denken wäre
eine schon einseitig aus der Position des Antichrist stammende Sicht, eine lieb­
lose Auffassung der Liebe. Aus der Liebe heraus gesehen ist der Antichrist gera­
de kein Einwand gegen den und keine Widerlegung des Christus. Sie vermag
sich auch im Antichrist zu erhalten. Wäre Christus nur der Christus (nur das abs­
trakt Reine und Gute, das seinen Gegensatz außer sich hat), wäre er nicht die
Liebe. Als Liebe sind er und der Antichrist eins, ist der Christus die Einheit von
ihm selbst und dem Antichrist. Mit dieser Einsicht ist die Deutung des Antichrist
als »Schatten«, die Rede vom »Schatten Gottes«, ja die ganze Schattenpsycholo­
gie aufgehoben, weil in ihrer Vorläufigkeit durchschaut. Die Liebe im Sinn des
Animus, des Geistes, hat den Blaubart, den Mörder, den Satan nicht außer sich,
sondern in sich. Ihren absoluten Gegensatz ohne Widerstand und ohne sich da­
durch bedroht oder widerlegt zu fühlen, immer schon in Liebe umfaßt zu haben
und gewähren zu lassen, dies ist gerade ihr Wesen; nur dadurch ist sie überhaupt
Liebe. Die Liebe ist das Überwundensein der Gegensätze, das Überwundensein
des Abstrakten und Prinzipiellen (des Reinen und Guten), das Ertragen des Wi­
derspruchs im Sinn seines immer schon Verwundenseins. Wo es nur Schönes,
Gutes, Liebenswertes gibt, bedarf es der Liebe nicht. Die Liebe ist erst Liebe,
wenn sie Liebe sogar zu dem Bösen und dem Übel ist.
Christus als Bild des Selbst - das ist Jungs bekannte Position. Aber muß
man Christus so sehen? Jung selbst gibt uns einen Wink, wenn er an anderer
Stelle in demselben Buch schreibt: »Auch im Christentum ist die Göttersyzygie
nicht etwa obsolet geworden, sondern steht an höchster Stelle als Christus und
die bräutliche Kirche.«9 Hier ist Christus die eine Seite der Syzygie, er ist der
Animus, der der Kirche als Braut oder Anima in Liebe verbunden gegenüber­
steht. Das paßt auch viel besser als die Idee von Christus als das Selbst zu dem
Nebeneinander von Christus und Antichristus: letztere sind die zwei hier ausein­
andergelegten, dissoziierten Seiten des Animus, als des Töters und als der Liebe.
Von zwei Hälften des Selbst zu sprechen, macht eigentlich keinen Sinn,
weil zum Begriff des Selbst die alles umfassende Ganzheit gehört. Dagegen pas-

8 C.G. Jung, GW 9/n § 79.


9 C.G. Jung, GW 9/II § 41.
sen zum Animus (und der Syzygie) durchaus die Spaltung und die Gegensatz­
problematik. Der Animus bestimmt sich eben auch fort zum Ich und seinem
Schatten, Christus und Antichrist. Ein ausgesprochen männliches Bild des Selbst
für die ganze abendländische Menschheit, also auch für die Frauen, anzusetzen,
führt gleichfalls zu kaum auszuräumenden theoretischen Schwierigkeiten, wel­
che aber sofort hinwegfallen, wenn man Christus als Animus-Figur erkennt.
Zum Selbst gehört, wie gesagt, daß es das alles Umfassende im Sinn des »Gan­
zen«, der Totalität, ist. Wie kann die Ganzheit die eine Hälfte eines Paares sein,
der Bräutigam, der die bräutliche Kirche als sein Gegenüber hat? Ich vermute,
daß die ganze Theorie von »dem Selbst« sowie von Christus als Selbst bei Jung
dadurch nötig wurde, daß die Theorie des Animus bei ihm —kraft der biologisti­
schen Verankerung des Animus in den Frauen - unentwickelt und unzureichend
blieb. In der Animus-Theorie jedoch hätte manches von dem Anliegen, das Jung
mit seiner Theorie des Selbst verfolgte, nicht nur vollauf Platz gehabt, sondern
wäre auch wirklich zu Hause gewesen, in der Psychologie verblieben, und auch
die anderen Aspekte des »Selbst«, insbesondere das Werden des homo maximus,
welche eigentlich in die Anima-Aufgabe der initiatischen Transgression gehö­
ren, könnten nur über den Animus zugänglich werden. Denn der Animus ist der
Psychopomp in das Anima-Land. Der durch den Begriff des Selbst begründete
Diskurs dagegen ist kein eigentlich psychologischer mehr.
Im Begriff des Selbst liegt die Tendenz zur Verdinglichung und Positivi-
tät: das Selbst. Es ist ein die beiden Gegensätze überhöhendes Drittes, also ein -
in was auch immer für einem Sinn - seiendes Etwas, ein höchstes Seiendes, in
dem die Gegensätze versöhnt sein sollen. Hinter dem Selbst steht also die klassi­
sche Substanzmetaphysik, das ontologische Denken. Die Liebe aber ist nicht das
Dritte der Zwei, nicht ontologisch eine seiende Macht. Und sie transzendiert die
Gegensätze nicht und kommt nicht als etwas Weiteres zu ihnen noch hinzu. Sie
ist vielmehr - nichts als - das ureigene logische Leben (pneuma) der Gegensätze
selbst, die flüssige Beziehung zwischen den beiden, jene syzygische Bewegung
hin und zurück, in der das eine sich im anderen erkennt und es dieses andere als
das Andere seiner selbst weiß.
Daß ich mich bei der Beschreibung des Geistes als Liebe auf den Heiligen
Geist und das Christentum bezog, ist kein Zufall. Die Animus-Psychologie hat
geschichtlich ihren archetypisch höchsten Ausdruck im Neuen Testament gefun­
den. Auch bei den Griechen hat sich ganz offensichtlich der Animus bemerkbar
gemacht. Die ganze griechische Geistigkeit ist Ausdruck einer Animus-Manife­
station. Aber die Griechen haben niemals den Weg aus dem der Anima-Stufe
verhafteten Animus hinausgewiesen. Daß der Animus wahrhaft zu sich selbst
kommen kann, ist ganz allein, soweit ich sehe, in der christlichen Lehre ange­
legt. Deshalb wohl ist auch die Kultur des christlichen Abendlandes die einzige,
in der der Animus zur dominierenden Kraft der Entwicklung geworden ist (wäh­
rend auch das griechisch gebliebene Christentum der Ostkirche ganz in der
Anima-Sphäre verharrt).
Dionysos ist nach Kerenyi das Urbild des unzerstörbaren Lebens. So ist er
das Bild der Wahrheit des Lebens, des Lebens, das nicht durch den Tod und das
Töten widerlegt wird, sondern sich gerade darin noch bestätigt. Das Leben hat
eine ähnliche Struktur wie die Liebe als Negativität, wo auch das Übel in der
Welt, der Haß, ja sogar die Abwehr oder der Widerstand gegen die Liebe usw.
nicht Einwand gegen die Liebe sind. Aber Dionysos und der Geist als Liebe, das
sind zwei ganz verschiedene Stufen. Das unzerstörbare Leben: das ist Natur,
Anima. Liebe: das ist kontranatürlicher Geist. Diese Einsicht vermochte Nietz­
sche, der durchaus dem Positivismus seiner Zeit entgegen die logische Struktur
von etwas, das sein absolutes Gegenteil so in sich begriff, daß es nicht nur nicht
von ihm zerstört wurde, sondern in ihm seine Steigerung und höchste Lust er­
fuhr, nicht mehr zu bewahren. Im 19. Jahrhundert und nur ein halbes Jahrhun­
dert nach Hegel fiel er zurück auf die längst obsolete Stufe der Natur (Anima-
Stufe), wenn er seine (»richtige«) Einsicht z.B. als »das Dionysische« oder als
»amor fati« auf der Ebene des natürlichen Lebens aussprach. Über diese Stufe
ist die Entwicklung längst und unweigerlich hinaus. Es ist naiv, noch Dionysos
gegen den Gekreuzigten ausspielen zu wollen, wo doch Dionysos längst pass6
ist. So kann man Auschwitz z.B. ja wohl nicht, wie einmal versucht wurde, als
ein Analogon zur dionysischen Zerstückelung sehen wollen. Das dort geschehe­
ne Morden ist geistiges Töten, nachnatürlich. Es ist technisch, geplant, kalt, oh­
ne »natürlich-sinnliche« Ekstase und triebhafte Leidenschaft. Auschwitz zeigt
die Gegenwart des Geistes, das Andrängen der Liebe.10
Denn was sonst als die Liebe, eine unendliche Liebe, könnte der Wirk­
lichkeit, die Auschwitz heißt, wahrhaft begegnen?
Was sonst als die Liebe könnte die wahre »Antwort auf Hiob« sein?
Liebe als Antwort auf Hiob, auf Auschwitz, auf die Atombombe heißt
aber nicht positiv Kampf um die Realisierung der Utopie gemäß dem Prinzip
Hoffnung, um die Lösung all der schrecklichen Probleme, nicht einmal, beschei­
dener, Bemühung um die Verbesserung der gesellschaftlichen Zustände und um
etwas mehr Menschlichkeit in der Welt. Liebe heißt rein negativ unser Begrei­
fen ihrer, was immer auch unser von ihr Begriffenwerden einschließt. Es heißt,
selber zu wachsen im Bewußtsein der Liebe, und damit, ein liebevolleres Be­
wußtsein (ein liebevoller in die notvolle Welt blickendes Bewußtsein) zu be­
kommen. Die Liebe beseitigt nicht die Not in der Welt, sie löst keine Probleme
draußen vor uns, sie »löst« allenfalls uns selbst, unser Herz, unseren Sinn. Liebe
heißt begreifen: auch Auschwitz und die Atombombe haben in der Liebe Platz.
Auschwitz (bzw. unsere Abwehrreaktion auf Auschwitz) zeigt uns, wie wenig
wir von der Liebe begriffen haben und von ihr begriffen sind, wie kleinherzig

10 Ihr Andrängen ins Bewußtsein!


und eng unser Bewußtsein ist, so daß es Auschwitz als außer der Liebe seiend
oder gar ihr entgegengesetzt denken muß. Aber auch dieses Entfemtsein von ihr
ist noch von ihr umfaßt.
Darin liegt ihre Unheimlichkeit und ihr Schrecken, das, was die schon an­
gesprochene panische Angst vor ihr erzeugt. Es liegt darin zugleich auch ihr
wahrhaft Tödliches. Die Liebe ist tödlich! Aber nicht durch eine Gewaltsamkeit,
sondern durch ihre Negativität, ihr Gewährenlassen. Sie unterminiert die Positi-
vität und damit die Sicherheit, die durch Abgrenzungen und klare Trennung der
Gegensätze gewährleistet wird. Und sie überschreitet die Welt der Positivität
auch nicht (was ja noch als erstrebenswert erscheinen könnte) durch eine positi­
ve, vielleicht sogar ekstatische Sinn-, Transzendenz- oder Symbolerfahrung,
sondern negativ, nämlich durch so etwas wie eine »Unterschreitung«, ein
Unterlaufen-, ein Hintergangenhaben. Die Liebe ist unser Immer-schon-Hinter-
gangensein von ihr.
Daher kann man auch nicht wirklich sagen, sie breche gewaltsam unser
selbstisches Fürsichsein (die Struktur des abgeschlossenen Wesens) auf (Batail­
le). So erscheint es nur aus der Sicht des vor ihr Davonlaufenden, sich aus ihr
Hinaussetzenden. Die Liebe als das abgeschlossene Wesen aufbrechend zu se­
hen ist gerade das sich Heraussetzen aus der Liebe. Der Animus als Gewalttäter
und Töter ist die Vorstellung (oder Erfahrung) des Animus und der Liebe, die
doch absolute Liebe ist, als Endliches und Beschränktes. Aber der Animus übt
gar keine Gewalt. Er durchbricht nichts gewaltsam. Er begeht keine Tat. Er fügt
uns oder der Anima nichts zu. Er hat vielmehr immer schon hintergangen und
umfaßt. Nein, auch dies ist noch zuviel, noch zu sehr besondere Aktivität. Er ist
das Bewußtsein von unserem Immer-schon-Aufgehobense/« (als Getötetsein und
Getragensein). Er ist als Negativität das Bewußtsein unseres eigenen von ihm,
von der Liebe, von der Freiheit, Hintergangenem’, so daß wir immer schon und
nur aus ihm leben. Und eben dieses, daß er die immer schon waltende und nichts
von uns fordernde, sondern uns absolut gewähren lassende Liebe ist, ist gerade
das absolut Schreckliche und Tödliche, das, was das Bewußtsein nicht denken
will, nicht denken darf. Dies soll schlechterdings unausdenkbar, unbegreiflich
sein. Es darf nicht wahr sein! Denn als längst hintergangenes würde das Be­
wußtsein dahinschmelzen. Es könnte sich nicht mehr als selbstidentisches Be­
wußtsein, als Ich, behaupten.
Von hier aus gesehen erweisen sich die vielen verschiedenen Manöver,
durch fundamentalistische, nostalgische, puritanische Konservierungen am alten
Status des Bewußtseins unbedingt festzuhalten, als die Abwehr der Liebe. Und
wenn man an all den haßerfüllten Protest (meist im Namen der Humanität, des
Friedens und der Liebe) denkt, der sich heute regt und den einige zu ihrem »Be­
ruf« gemacht zu haben scheinen, kann man ermessen, als wie gefährlich, wie
tödlich der Animus, wenn er als diese Kraft der Liebe ins Bewußtsein drängt,
wirken muß. Aber wie gesagt, die Liebe erkennt auch in diesem Haß und Protest
noch sich selbst, nämlich den Animus in seiner vorläufigen, sich selbst noch
nicht verstehenden Gestalt; sie muß nicht dagegen sein, sondern kann auch den
Haß noch walten lassen.
In dem Abschnitt über »Externe Interessen« habe ich die Psychotherapie
von dem Ändern- und Heilenwollen distanziert und dabei Jungs Wort zitiert:
»Die Welt ist gut, so wie sie ist.« Dort habe ich diese Haltung, die sogar dem ar­
gen Symptom eine letzte »Gutheit« ansinne, nur als methodische Prämisse der
Psychotherapie bezeichnet. Jetzt kann man ahnen, daß sie über das Methodische
hinaus auch in einem realen Grand gründet: in dem Geist als Liebe.
Weil die Anima »ruchlose Natur« ist, kann sich die ihr zugehörige Liebe
von der Zärtlichkeit bis zum Bestialischen (Zerfleischung des Geliebten wie in
Kleists Penthesilea) erstrecken. Die »absolute Liebe« im Sinn des Animus dage­
gen könnte nicht zum Destruktiven ausarten. Das verdankt sich jedoch gerade
der Tatsache, daß der Animus zunächst einmal der Mörder ist und sich erst dann
erweist, immer schon der Geist als Liebe gewesen zu sein, und daß er so den
Mörder nicht außer sich, sondern in sich hat.
Die Liebe entsteht nicht aus einer Sehnsucht, einem Suchen, einem
Wunsch nach Vereinigung. Sie geht, obwohl (und weil) sie aus der Negativität
kommt, nicht aus einem Mangel hervor, nicht aus einem Loch, das gefüllt wer­
den müsse. Das wäre eine reduktive Deutung. Der Mangel, den wir heute fühlen
und der uns die Liebe als anzustrebendes Ziel denken läßt, geht aus der Positivi­
tät des Denkens hervor. Es ist die Positivität, die abstrakt-prinzipiell zwischen
Liebe und Haß, dem Guten und dem Bösen, dem Christus und dem Antichrist
trennt und zwei dualistisch Verschiedene daraus macht. Es herrscht dann eine
einseitige, idealisierte, kindliche Vorstellung von Liebe: nur gut, harmonisch,
paradieshaft. Dies abstrakt Gute und Liebe wird auf die eine Seite gestellt, sein
ebenso einseitiger Gegensatz auf die andere. Das Böse, z.B. auch die schlimme
reale Geschichte der christlichen Kirche, das reale Zurückbleiben des Christen­
tums hinter der christlichen Liebe, und vollends solche kaum vorstellbar
schrecklichen Realitäten wie Auschwitz und die Atombombe gelten als Einwand
gegen die Liebe, gegen das Christentum. Aber das ist wieder die lieblose Inter­
pretation der Liebe. Es ist das Sich-Heraussetzen aus der Liebe. Wir können
auch sagen: es ist eine kleinliche Interpretation der Liebe. Aus dieser kleinlich­
geizigen Haltung kommt der Mangel her. Die Liebe soll das Böse außer sich ha­
ben, seiner völlig ledig sein. Die Positivität kennt keine Großherzigkeit, keine
Nachsicht, kein Verzeihen, keine Geduld. Sie kann der Wirklichkeit und den
wirklichen Menschen nicht verzeihen, daß sie wirklich und nicht reine Prinzi­
pien oder Ideale sind.
Wir müssen die Liebe (gerade die Liebe in ihrer Negativität) aus der Fülle
heraus denken. So wie der Antichrist in Christus, sind auch wir immer schon in
der Liebe, von ihr umfangen, mitsamt unseren Schwächen, Fehlem, Unzuläng-
lichkeiten und etwaigen Verbrechen. Auch mitsamt unserer Neurose. Die Liebe
hat alle Wirklichkeit in sich. Darauf beruht ihr Reichtum. Hegel wußte: Das Ab­
solute wohnt schon bei uns. Nichts fällt aus ihm heraus. Das Absolute als Liebe
braucht nicht zu begehren, es sehnt sich nicht nach Vereinigung, weil es schon
längst mit seinem Gegensatz vereint, die seiende Vereinigung ist. Und wir müs­
sen es nicht erst suchen, uns auf den Weg machen, uns mühen. Das Suchen und
Mühen ist gerade das Sich-Heraussetzen aus der immer schon waltenden Liebe,
die Weise, wie wir das Herausgesetztsein aus der Liebe stets neu bestätigen, ein
Herausgesetztsein, das jedoch eine haltlose Fiktion ist und sich einer künstlichen
Operation verdankt. Wer sucht und sich bemüht, der will noch etwas. Er spreizt
sich damit als Ich selber auf und wehrt im gleichen Maße das längst wirkliche
Umfaßtsein von der Liebe ab. Wer sucht, der setzt das Gesuchte als erst noch zu
Erlangendes, also in dem Nicht-Jetzt, Nicht-Hier, in der Feme der Zukunft an
und betreibt eo ipso die Reinigung der gegenwärtigen Wirklichkeit von dem
Geist der Liebe. Indem er das Gesuchte in die Zukunft abschiebt, schiebt er es
immer vor sich her und vereitelt so das Finden. Finden heißt, daß einem die Au­
gen geöffnet werden für das, was gerade schon längst da ist, weil es immer
schon waltete.
Es ist also einfach ungereimt, die Liebe zu einem anzustrebenden Ziel
oder utopischen Ideal zu machen, sie zu fordern oder zu predigen. Dadurch wür­
de sie aus der Wirklichkeit verbannt, an den Himmel gehoben und würden wir in
die Haltung des Anhimmelns gebracht. Wenn die Liebe und die Vollkommen­
heit nicht so verstanden werden, daß sie schon wirklich sind, ist in bezug auf sie
alles verloren. Sie kann dann nie erreicht werden. Es braucht keine geistlichen
Übungen, keine Meditationen, keine Selbstfindungs- und self-improvement-An-
strengungen: weil das, was gesucht wird, ja schon längst, und nur, in unserem
schon wirklichen Leben mit all seinen und unseren Mängeln und in der wirkli­
chen Welt mit all ihrer fürchterlichen Not anwesend ist.
Genauso hat es keinen Sinn, den Sinn zu suchen. Der Sinn ist schon da.
Wir sind allseits von ihm umgeben. Er liegt »hinter« uns, in der Einfachheit un­
seres wirklichen Lebens. Dieses ist der Sinn, so, wie es ist und längst war, also
mit all seinem Un-Sinn. Denkt man anders, dann imaginiert man sich gerade aus
dem längst waltenden Sinn hinaus, man praktiziert eine Operation, mit der man
den Sinn aus dem Hier und Jetzt extrahiert, wodurch dieses als das Sinnlose
(bloß Vorläufige, noch nicht Eigentliche, so auch letzthin Unverbindliche) ent­
wertet wird, und schiebt den extrahierten, aber unwirklich gewordenen Sinn als
bloßes unwirkliches Ideal oder als Erwartung stets vor sich her. So siedelt man
sich systematisch im Mangel an. Man läßt die Wirklichkeit nicht selber und im­
mer schon den Sinn sein, so daß man nichts tun muß, sondern fordert zusätzlich
zu ihrem wirklichen Sosein noch als Ich einen besonderen Sinn, der aber dann
nur ein gesetzter Zweck oder eine menschliche Veranstaltung sein könnte.
In diesem Denken gilt: Das Leben soll Sinn haben (das ist dann der Wa­
rencharakter von »Sinn«), während es doch der Sinn ist. Die Alternative ist
nicht: Konsumrausch vs. Sinnsuche (denn letztere ist selber Konsum). Die wah­
re Alternative ist: Konsum und Ware einerseits (d.h. zu füllendes, zu stopfendes
Loch, Mangel, »Sollen«, Forderungen an das Leben) vs. »Das immer schon Sein
von Sinn in dem und als das wirkliche Leben, so wie es wirklich ist« (Fülle) an­
dererseits. Sinn ist nicht etwas, das zum wirklichen Leben noch hinzukommen
müßte, sondern er ist das Leuchten und die Überflüssigkeit (das Überschäumen)
des ganz einfachen wirklichen Lebens selber.
Wenn man davon ausgeht, daß wir immer nur ein Stück weit auf dem
Weg zu Gott gelangen könnten, weil wir nie vollkommen sein könnten; wenn
wir eine Idee von Individuation haben, nach der wir immer auf dem Weg seien,
aber das Ziel nie voll erreichen könnten und nach der wir den Weg als das Ziel
sehen sollen, siedeln wir uns im Mangel an und drehen wir die Dinge um. Wir
sind nämlich immer schon am Ziel, wir kommen aus der Fülle und bleiben im­
mer in ihr. Jesus konnte sogar sagen: »Ihr seid Götter« (Joh. 10,34). Das Ziel ist
nicht die Frage. Es ist schon da. Es liegt hinter uns, nicht als etwas zu Erstreben­
des vor uns. Es ist unser unaufhörlich mitgehender Anfang und Grund. Wir le­
ben immer schon aus der Liebe heraus, nur freilich ohne es schon zu wissen: be­
griffen zu haben. Wenn daher oben mit Jung gesagt wurde, daß der Geist, der
pneumatische Zustand noch reine Antizipation sei, so muß hier hinzugefügt wer­
den, daß es die Antizipation nur des Begreifens von etwas, von dem wir aber ge­
rade immer schon hintergangen sind, ist. Die Antizipation läuft nicht linear vor
in eine vor uns liegende Zukunft. Sie läuft nur so vor, daß sie im Vorlaufen zu
dem Hinterunsliegenden zurückläuft: eine dialektische, uroborische Bewegung.
Und es ist die Antizipation innerhalb ein und derselben Gegenwart. Denn wir
sind nicht nur faktisch immer schon von der Liebe hintergangen, sondern das
Bewußtsein ist auch schon erreicht von der Idee des Geistes und der Liebe, auch
wenn es diese noch vor sich herschiebt.11
Wäre die Liebe im Sinn des Animus so etwas wie ein Erleuchtungserleb­
nis, wie Satori, wie eine Bekehrung, eine innere transzendierende Sinnerfah­
rung, dann wäre sie noch positives Ereignis, sich in der gegenständlichen Reali­
tät breit machender Gehalt, bestimmte inhaltliche Erfahrung, die als erst noch zu
uns kommende erwartet werden könnte; sie stünde also noch auf der Animastu­
fe. Aber sie ereignet sich in der Weise der Negativität: nur als Begreifen, Den­
ken1112, Einsicht, nicht als Emotion, sentiment, altruistische Haltung (»Nächsten-

11 Man könnte hier, wenn es nicht zu predigerhaft klingen würde, sondern als psychologische Tatsa­
che (Ereignis in der Geschichte der Seele als dämmernde Einsicht, Bewußtwerdungsvorgang)
verstanden werden könnte, an das Wort erinnern: »Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nah­
men ihn nicht auf« (Joh. 1:11).
12 Ich sage (verbal) Begreifen, Denken, nicht (gegenständlich) Gedachtes, Begriffenes, nicht Gedan­
ke. Es geht also nicht um etwas inhaltlich Positives.
liebe«) oder Erlebnis. Sie nähert sich nur als Wachsen der ganz schlichten, nüch­
ternen Erkenntnis dessen oder Bewußtheit darüber, daß wir und alle Wirklichkeit
wirklich und in Wahrheit längst von der Liebe hintergangen sind und daß die
Liebe die Wahrheit oder »das Sein« ist und immer war. Sie ist unserer Anstren­
gung, sie zu erreichen und dann auszuüben, sowie aller Werbung für sie und al­
len Predigens absolut unbedürftig. Denn wir stehen zusammen mit allem, was ist
und geschieht, schon längst in ihr. Alles sie erreichen Wollen, kommt nicht nur
zu spät, sondern ist Wegbewegung von ihr, vielleicht auch panische Flucht vor
ihr. Ja sogar alle Bemühung, lediglich in der angesprochenen Erkenntnis oder
Bewußtheit von ihr zu wachsen, wäre noch Krampf (und Selbstbefriedigung).
Jene Erkenntnis kommt, wenn überhaupt, nur von selbst, sie holt uns von unten
und hinten, nämlich aus dem wirklich gelebten Leben (z.B. auch durch solche
Schrecknisse wie in Auschwitz und Bosnien oder das unsägliche Elend in den
Hungergebieten der Dritten Welt) mehr und mehr ein. Und nur wo sie uns aus
der Wirklichkeit der Welt und unseres eigenen Lebens und Verfehlens heraus
einholt, ist sie auch wirkliche Erkenntnis und nicht billiges13 Imitat von Erkennt­
nis.
Nach Hegel bringt die Entwicklung der Geschichte einen Fortschritt -
nicht der Freiheit, sondern im Bewußtsein der Freiheit. Der Fortschritt ist rein
logischer, nicht ontologischer und negativer (zersetzender, destillierender, subli-
mierender, sich in uns erinnernder), nicht positiver Natur. Entsprechend können
wir sagen, daß die Entwicklung der Geschichte ein Wachsen - nicht der Liebe,
sondern im Bewußtsein der Liebe bringt. Und beide Sätze, der über die Freiheit
wie der über die Liebe, sind wohl ein und derselbe Satz, den wir zugleich auch
noch mit Jungs Idee einer »Individuation der Menschheit« (A. Jaffe) verbinden
können. Nach den hier gegebenen Formulierungen wird also nicht gesagt, daß
sich der Fortschritt der Geschichte auf ein utopisches Gesellschaftsideal, einen
paradiesischen Endzustand der Geschichte hin zubewege, in dem alle Menschen
faktisch in Freiheit und Liebe leben würden. Nicht einmal von einer Entwick­
lung zum Besseren ist die Rede. All solche Hoffnungen und Träume die gesell­
schaftlichen Zustände und das reale Verhalten der Menschen betreffend werden
durch jene Sätze gerade zunichte gemacht. Die Rede ist vielmehr einzig von ei­
ner Veränderung der Bewußtseins^/«.?, also der logischen Form, in der die
Wirklichkeit erfahren wird.14
Ich möchte dieses Kapitel abschließen mit einem Abschnitt über die Liebe
aus Jungs Erinnerungen, mit dem »alles gesagt« ist.
Meine ärzüiche Erfahrung sowohl wie mein eigenes Leben haben mir unaufhörlich
die Frage der Liebe vorgelegt, und ich vermochte es nie, eine gültige Antwort darauf

13 Billig, weü man sie würde gewinnen wollen, ohne den Preis (Tribut) des wirklichen Schmerzes
von wegen des wirklichen Elends an die Wirklichkeit zu entrichten.
14 Was über Geschichte und Individuation der Menschheit gesagt wurde, gilt in kleinerem Rahmen
entsprechend für die Individuation des einzelnen.
zu geben. Wie Hiob mußte ich »meine Hand auf meinen Mund legen. Einmal habe
ich geredet, darnach will ich nicht mehr antworten« (Hiob XXXIX, 34f.). Es geht
hier um Größtes und Kleinstes, Fernstes und Nahestes, Höchstes und Tiefstes, und
nie kann das eine ohne das andere gesagt werden. Keine Sprache ist dieser Paradoxie
gewachsen. Was immer man sagen kann, kein Wort drückt das Ganze aus. Von Teil­
aspekten zu sprechen, ist immer zuviel oder zuwenig, wo doch nur das Ganze sinn­
gemäß ist. Die Liebe »trägt alles« und »duldet alles« (I Cor. XIII, 7). Dieser W ort­
laut sagt alles. M an könnte ihm nichts beifügen. W ir sind nämlich im tiefsten Ver­
stände die Opfer oder die Mittel und Instrumente der kosmogonen »Liebe«. Ich setze
dieses W ort in Anführungszeichen, um anzudeuten, daß ich damit nicht bloß ein Be­
gehren, Vorziehen, Begünstigen, Wünschen und ähnliches meine, sondern ein dem
Einzelwesen überlegenes Ganzes, Einiges und Ungeteiltes. Der Mensch als Teil be­
greift das Ganze nicht. Er ist ihm unterlegen. Er mag Ja sagen oder sich empören;
immer aber ist er darin befangen und eingeschlossen. Immer hängt er davon ab und
ist davon begründet. Die Liebe ist sein Licht und seine Finsternis, deren Ende er
nicht absieht. »Die Liebe höret nimmer auf«, auch wenn er mit »Engelszungen rede­
te« oder mit wissenschaftlicher Akribie das Leben der Zelle bis zum untersten Grun­
de verfolgte. Er kann die Liebe mit allen Namen belegen, die ihm zu Gebote stehen,
er wird sich nur in endlosen Selbsttäuschungen ergehen. Wenn er ein Gran Weisheit
besitzt, so wird er die Waffen strecken und ignotum per ignotius benennen, nämlich
mit dem Gottesnamen. Das ist ein Eingeständnis seiner Unterlegenheit, Unvollstän­
digkeit und Abhängigkeit, zugleich aber auch ein Zeugnis für die Freiheit seiner
Wahl zwischen Wahrheit und Irrtum.15

Und, so füge ich hinzu, wohl auch eine Selbstbezeugung der Liebe selbst.

***

Dieses Kapitel ist überschrieben »Der Animus als Geist und Liebe«. Man
kann diese Formulierung so lesen, als ob sie strukturell parallel zu dem Titel des
vorigen Kapitels »Der Animus als Negation und als das Andere der Seele« wäre.
»Negation« und »das Andere« stehen auf einer Ebene. Sie sind in gewisser Hin­
sicht sogar synonym. Mit »Geist« und »Liebe« steht es jedoch anders. Sie gehö­
ren verschiedenen Ordnungen oder logischen Ebenen an: »Liebe« gibt an, was
der von außen ganz anders erscheinende »Geist« in seinem innersten Wesen und
in Wahrheit ist. Mit diesem Wort wird das verborgene Geheimnis dessen, was
Geist ist, gelüftet.

15 C.G. Jung, Erinnerungen S. 356.


Der Animus als Geschichte und transzendente Funktion

Für das, was in diesem Kapitel zu erörtern ist, müssen wir meist nur schon
an verschiedenen Stellen früher Gesagtes oder Angedeutetes Zusammentragen.
Zur Phänomenologie, d.h. in seinem Fall: zum Wesen des Animus gehört, daß er
sich gegen den natürlichen Zustand wendet.1 Er setzt aus dem pieromatischen
Einbehaltensein in der Imagination der Seele hinaus und versetzt das Bewußt­
sein in eine neue Stufe. Dies ist nicht nur ein in der jeweiligen Erfahrung der
einzelnen Menschen geschehendes Ereignis. Es ist auch im Großen ein »weltge­
schichtlicher« Vorgang. Das gilt es jetzt eigens zu beleuchten.
Geschichte: Fortbestimmung zu neuer Stufe. Geschichte haben alle
Völker. Es ist längst erkannt, daß auch die sogenannten Naturvölker oder Urkul-
turen nicht einfach geschichtslos einen Anfangszustand widerspiegeln, der sich
über Jahrzehntausende oder gar Jahrhunderttausende hinweg unverändert erhal­
ten hätte. Aber wenn ich vom Animus als Geschichte spreche, dann meine ich
nicht Geschichte in diesem allgemeinsten Sinn. Ich meine auch nicht Geschichte
als das, was beginnt, sobald schriftliche Quellen vorliegen. Erst da kairn ja ein
wirklicher historischer Sinn entstehen, weil durch die Schrift Ereignisse, die
sonst dem Vergessen anheimfielen oder von mythischen Strukturen absorbiert
würden, über Jahrhunderte hinweg festgehalten werden können. Die Schrift und
das Festhalten gehören zwar unzweifelhaft zur Domäne des Animus. Nur gilt
unser Interesse hier einem anderen Begriff von Geschichte. Ginge es nur um die
Geschichte als die Einheit von dem Geschehen und dem, was über dieses erzählt
wird und sich in den historischen Quellen findet, dann wäre China vielleicht die
größte und reichste Fundgrube von Geschichte. Aber in dem Sinn, wie ich hier
Geschichte verwende, hat China —wenigstens aus der unendlichen Distanz der
westlichen Welt heraus gesagt - keine Geschichte gehabt. Denn seine Geschich­
te zeichnet sich bei allen gewaltigen politischen Veränderungen, Eroberung und
Unterwerfung durch fremde Völker, inneren Revolutionen usw. doch durch eine
erstaunliche Kontinuität aus. Bis 1911 erhielt sich der Grundbestand der chinesi­
schen Kultur (insbesondere auch des Kultes), des chinesischen Weltbildes, ja
des ganzen Inderweltseins ungebrochen. Auch die schriftliche Kultur und die
ganze Geschichtsschreibung der Chinesen verblieb eingebettet in dem, was wir
aus unserer Perspektive hier die Anima-Stufe nennen.
Geschichte jedoch, wie das Wort hier verstanden wird, entsteht durch den
Einbruch und das Wirken des Animus. (Und erst in diesem Jahrhundert ist Chi­
na wahrhaft in die Geschichte in diesem Sinn eingetreten.) Geschichte hat mit
radikalen Brüchen, mit Aufhebungen, substantiellen Verlusten und mit so etwas

1 »Natürlich« verweist hier auf die durchaus schon menschlich-geistige Anima-Welt, nicht auf die
Stufe der als vormenschlich, biologisch verstandenen Natur. Jung sprach in ganz ähnlichem Sinn
vom »natural mind«.
wie »Fortschritt« (im modernen Sinn des Wortes) zu tun. Es geht um jene Art
von Entwicklung, bei der das Bewußtsein sich von einer gegebenen Stufe durch
die radikale Bekämpfung und Destruktion ihrer Wahrheiten zu einer neuen Stufe
abstößt, die kraft dieser Herkunft die frühere Stufe voraussetzt, aber gerade nur
als überwundene, die aber diese Stufe auch unter sich hat und so über ihr steht,
weil sie sich ja von ihr, im Niederstoßen ihrer, abgestoßen hat. Sie ist also nicht
einfach zu etwas völlig anderem übergegangen. Die neue Stufe baut auf Frühe­
rem auf in der Weise der Negation ihrer Vorgängerin. Sie verdankt sich also je­
weils einem radikalen Bruch. Sie ist beileibe kein Fortschritt im Sinn des einfa­
chen Weiterschreitens (wobei ja etwas hinter einem gelassen würde), kein Glei­
ten von diesem zu jenem. Sie ist Steigerung durch gleichzeitiges Abstoßen und
Festhalten der vorangegangen Stufe.
Diese Form von Geschichte gibt es in beeindruckender Deutlichkeit wohl
nur im Abendland. Sie verdankt sich einer Wirkung des Animus, nämlich seiner
Rückbezüglichkeit auf sich selbst, im Sinn dessen, was wir anhand des alchemi-
stischen »Pelikan« schon besprochen haben. Es »wandelt« sich etwas in dieser
Geschichte.
Die Aufhebung der Wahrheiten der früheren Stufe zeigt sich vor allem
auch in dem, was wir »Symboltod« nennen können und in unserer Epoche be­
sonders deutlich erleben. Wie auch Jung wußte, sind Symbole geschichtlich. Sie
»verwelken«, »verdorren«, um dann »als eine abgelebte Zeit im Strome der
Jahrhunderte zu versinken«.2 Der Animus als Töter zersetzt das ungestörte Ein­
gebettetsein im symbolischen Leben. Er setzt hinaus aus der Syzygie, so daß
man wirklich draußen steht und die Symbole »leider großenteils der Vergangen­
heit an(gehören).«
W ir können das Rad der Zeit nicht zurückdrehen; wir können nicht zu einer Symbo­
lik zurückkehren, die der Vergangenheit angehört. Sobald man weiß, daß etwas sym­
bolisch ist, sagt man auch schon: >Ach so, dann bedeutet es vermutlich etwas ande­
res^ Der Zweifel hat es getötet, hat es verschlungen. Deshalb kann man nicht dahin
zurückgehen. Ich kann nicht in die katholische Kirche zurückkehren, ich kann das
Wunder der Messe nicht mehr erleben; ich weiß zuviel darüber. Ich weiß zwar, daß
es die Wahrheit ist, aber es ist die Wahrheit in einer Form, die für mich nicht mehr
annehmbar ist. Ich kann nicht sagen: >Dies ist der Leib des Herm< und ihn noch da­
bei sehen. Ich kann einfach nicht. Es ist für mich keine W ahrheit mehr; es bringt
meine psychologische Verfassung nicht zum Ausdruck. Meine psychologische Ver­
fassung verlangt nach etwas anderem. Ich brauche eine Situation, wo das Ganze
noch einmal wahr wird. Ich brauche eine neue Form.3

In diesen Worten Jungs kommt unmißverständlich zum Ausdruck, daß


Geschichte (in diesem Sinn) mit Verlusten verbunden ist und einen irreversiblen
2 Vgl. C.G. Jung, GW 9/II § 267 und 271, wo Jung diese Wendungen in bezug auf die alchemisti-
schcn Symbole benutzt.
3 C.G. Jung, GW 18/1 § 632.
Prozeß darstellt. Aber die Irreversibilität verdankt sich einzig der Tatsache, daß
das Obsoletgewordene als Obsoletes festgehalten wird. Ich kann deswegen nicht
zur Messe zurück, weil der Kontakt zu diesem Ritual nicht total abgebrochen ist,
sondern ich die Aufgehobenheit dieses Rituals mitgeführt habe, zwar nicht, das
muß über Jung hinaus hinzugefügt werden, die Aufgehobenheit speziell dieses
Rituals, sondern der ganzen Stufe oder des ganzen logischen Status, auf der und
in dem die alten Rituale und Symbole überhaupt die psychologische Verfassung
der Menschen auszudrücken vermochten. Wir rühren hier wieder an das Pro­
blem der logischen Form. Es ist nicht Jungs private psychologische Verfassung,
die ihm nicht mehr erlauben würde, zur Messe zurückzukehren, und nach etwas
anderem verlangte. Vielmehr ist damit die Situation des modernen (abendländi­
schen) Menschen überhaupt ausgesprochen, nämlich die Situation des Men­
schen, insofern er tatsächlich auch persönlich an der Modernität teilhat. Wenn
das Ganze »noch einmal wahr« werden muß und Jung »eine neue Form
(braucht)«, dann zeigt sich darin, daß der Fortgang nicht abstrakt zu etwas völlig
Neuem wegführt, sondern sozusagen auf der Stelle tritt und nur das Selbe noch
einmal auf einer anderen logischen Stufe, in einer anderen logischen Verfassung
bringt. Das Problem ist eines der logischen Form der Gehalte, nicht der Gehalte
selbst. Es bedarf nicht eines neuen Mythos, sondern »... der Mythus [ein und
derselbe Mythus!] (bedarf) in jedem erneuerten Äon eines neuen Gewandes...«4
»Die Urbilder sind unendlicher Wandlung fähig und bleiben doch stets diesel­
ben, aber nur in neuer Gestalt können sie aufs neue begriffen werden. Immer er­
fordern sie neue Deutung...«5
Weil der Animus aus einem Status in einen anderen hineinnötigt und so
»Geschichte« erzeugt, kann man in ihm eine Kraftmaschine, einen Transforma­
tor der Energie der Seele, ein Kraftwerk: den Motor der Geschichte sehen. Und
weil es dabei um die logische Wandlung im Sinn einer intensionalen Steigerung
desselben geht, kann man von Fortschritt im Sinn einer logischen Fortbestim­
mung sprechen. Was damit gemeint und wie dies zu verstehen ist, wollen wir
uns an einem Zitat von Silvia Schroer als einem Negativbeispiel, von dem wir
uns abstoßen können, erarbeiten. Das Zitat berührt ein uns im Zusammenhang
mit dem Animus ohnehin interessierendes Thema, den Heiligen Geist und die
Liebe.
Wenn das Neue Testament das Taubensymbol übernimmt, übernimmt es ganz sicher
auch dessen erotisch-sinnliche Assoziationen. Bis ins 3. Jahrhundert n. Chr. kennt
man die heidnische Taubengöttin in Palästina (Aschkelon), und heidenchrisüichen
Kreisen dürfte die Erzählung von der Taufe Jesu auf diesem Hintergrund in ihrer
Bildhaftigkeit unmittelbar verständlich gewesen sein. W as die Taube, auch wenn sie
in der Tauferzählung nicht von einer altorientalischen Göttin geflogen kommt, be­

4 C.G. Jung, GW 9/II § 281.


5 C.G. Jung, GW 16 § 396.
wahrt, ist das Element der erotischen Liebe. Sie ist Symbol des Geistes der Liebe, die
umfassend und nicht spiritualisiert ist. Die Liebe Gottes zu seinem/ihrem Geliebten
ist alles andere als rein geistig und platonisch, sie ist mehr als >dilectio< und >caritas<:
Gott liebt mit Zärtlichkeit, mit Leidenschaft und stürmischer Begeisterung...6

Ich will mich nicht auf theologischer, neutestamentlicher Ebene mit der
Autorin auseinandersetzen. Ich möchte vielmehr anhand von dieser Äußerung
eine in ihr vollzogene Denkfigur heraussteilen und ihr eine andere entgegenset­
zen. Schroer beschreibt sicher mit Recht, was das Taubensymbol einst bedeutete
und auch wohl noch für die Ohren der Hörer der frühchristlichen Zeit anklingen
ließ. Auch ich würde annehmen, daß man bei einem so wichtigen Text davon
ausgehen muß, daß die vorchristlichen Assoziationen bewußt mit einbezogen
worden sind. (Ebenfalls glaube ich nicht, daß man den Geist der Liebe »rein
geistig und platonisch«, nur im Sinn der »dilectio« oder »caritas« verstehen dür­
fe. Ich habe ja mein Verständnis des Geistes als Liebe bereits vorgestellt.) Die
Frage ist nur die: ist die Anspielung auf die altorientalische Liebesgöttin hinun­
ter und zurück oder vorwärts zu interpretieren, das heißt: bedeutet das Anklin­
genlassen dieser Assoziationen, daß sich der Text in die alte Tradition hinein­
stellen und an sie hingeben will, um in ihr aufzugehen - das ist die Richtung von
Schroers Interpretation -, oder - das wäre meine These - greift der Text gerade
nur deshalb auf das alte Symbol zurück, um sich von ihm, seine herkömmliche
Bedeutung gerade hinter sich lassend, zu einer gänzlich neuen Bedeutung abzu­
stoßen?
Schroers Überlegung fuhrt die Textstelle zurück in die Anima-Sphäre:
erotisch, sinnlich, Zärtlichkeit, stürmische Leidenschaft, der Geliebte. Wir blei­
ben in der Welt der Natur, des Natürlichen. Sie remythologisiert den christlichen
Gott und Christus zu »Jesus Sophia« und »Gott Sophia«. Diese Liebe bleibt im
Begehren, wie ich von meiner Perspektive aus sage, »stecken«. Dadurch wird
dem Bewußtsein ermöglicht, natürliches Bewußtsein zu bleiben und im selben
alten logischen Status zu verharren. Psychologisch würde ich dies für Schmu
halten. Ich kann der Autorin nicht abnehmen, daß sie ihrer Rede von dieser Lie­
be als der Liebe des göttlichen Geistes selber wahrhaft einen logischen Sinn ab­
gewinnen kann. So wie der moderne Mensch in der Lage ist, wo er gestehen
muß: »Ich kann nicht sagen: >Dies ist der Leib des Herm< und ihn noch dabei
sehen. Ich kann einfach nicht. Es ist für mich keine Wahrheit mehr; es bringt
meine psychologische Verfassung nicht zum Ausdruck«, so ist auch der alte
Sinn des Taubensymbols obsolet und nur noch historisch interessant. Wir wissen
zuviel. Wir wissen, daß dies ein Symbol ist, und damit sind wir schon von seiner
Wahrheit unabänderlich getrennt, und das Rad der Geschichte läßt sich nicht zu-
6 Silvia Schroer, »Der Geist, die Weisheit und die Taube: Feministisch-kritische Exegese eines
neutestamentlichen Symbols auf dem Hintergrund seiner altorientalischen und hellenistisch­
frühjüdischen Traditionsgeschichte«, Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 33 -
1986, S. 197-225, hier S. 206. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Monika Schwerdtfeger.
rückdrehen. Ohne die Autorin zu kennen, möchte ich annehmen, daß auch ihr
Bewußtsein in Wahrheit logisch längst über diese Stufe hinaus ist, wo ihr das
Taubensymbol in dem von ihr dargestellten Sinn noch wirklich und nicht nur der
subjektiven Meinung nach etwas bedeuten könnte.7 Jung sagte einmal, ich mei­
ne mit Recht: »Unsere Zeit verlangt neue religiöse Gedanken, denn wir können
nicht mehr auf antike oder mittelalterliche Weise denken, wenn wir in den Be­
reich religiöser Erfahrung gelangen«.8 Ich glaube in der Tat, daß wir es nicht
mehr können, und daß wir uns und anderen daher etwas vormachen, wenn wir so
tun als ob. Dies jedoch, uns etwas vorzumachen, vermögen wir sehr wohl.
Ich meine, wir müssen, ganz gleich, ob dies auch in der bewußten Inten­
tion des »Autors« der neutestamentlichen Textstelle gelegen haben mag, aus un­
seren eigenen psychologischen Notwendigkeiten heraus die Stelle (sofern sie
uns noch etwas zu sagen haben soll) so verstehen, daß in ihr das alte Symbol zu
keinem anderen Zweck als dem aufgegriffen worden ist, um seine Bedeutung zu
einer radikal neuen /ortzubestimmen. Die Fortbestimmung ist von dem einfa­
chen zu einem anderen Weitergehen zu unterscheiden. Sie führt nicht zu etwas
Neuem im Sinn von Neuigkeiten, also dem beziehungslos anderen. Sie ist nicht
das Überwechseln zu etwas völlig Verschiedenem, so wie ein Chamäleon seine
Farben oder der Himmel von heiter zu bewölkt wechselt, oder wie man im Ver­
lauf des Lebens unter die Dominanz eines anderen Archetyps, unter ein neues
Stemzeichen, in die Kindschaft eines anderes Gottes geraten kann. Dabei wird
der alte Gehalt einfach verlassen, und wenn es hier darum ginge, dürfte das alte
Symbol gerade nicht aufgegriffen werden. Das Überwechseln zum abstrakt an­
deren geschieht innerhalb der Anima-Sphäre, wo entsprechend der polytheisti­
schen Verfaßtheit der Welt die vielen Götter und Gehalte oder Wiridichkeitsbe-
reiche gerade so nebeneinander stehen und nebeneinander geehrt werden, wie
auch buchstäblich die verschiedenen Tempel in ein und derselben Stadt neben­
einander stehen. Aber opfern kann man immer nur jeweils in einem Tempel, um
dann jedoch vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt und in einer neuen Situation
auch in einem anderen Tempel dem dort wohnenden Gott zu dienen.
Beim Fortschritt oder bei der Fortbestimmung dagegen bleibt man gleich­
sam in demselben Tempel. Derselbe alte Gehalt oder dieselbe psychische Situa­
tion muß gerade festgehalten und explizit vorgeführt werden, damit sie selbst ei­
nem Wandlungsgeschehen ausgesetzt und so überwunden wird. Das, wovon
man sich verabschiedet und abstößt, muß ganz klar vor Augen stehen, sonst
bleibt das Bewußtsein ihm unbewußt verhaftet. Das Natürliche und Selbstver­
ständliche ist das Eingenommensein in die Symbole, ist, daß alles beim alten

7 Vgl. zu dieser Thematik Wolfgang Giegerich, »>Aphrodites Wiedergeburt< oder der Betrug: Zur
psychologischen Rede von Göttern«, erschienen unter dem von der Redaktion abgeänderten Titel:
»Vom Reden Uber Götter: ein psychologischer Betrug«, GORGO 20-1991, S. 7-28.
8 C.G. Jung, Briefe Bd. III, S. 275 (an Hugh Bumett, 5.XII.59).
bleibt. Beim Ersetzen eines Symbols durch ein neues wird nur der Aufmerksam­
keitsstrahl des Bewußtseins woanders hingelenkt, und das alte Symbol steht
dann nicht mehr im Licht. Aber gerade als Unbeleuchtetes bleibt es unverändert
bestehen. Der Fortschritt jedoch ist nicht selbstverständlich. Er bedarf besonde­
rer (meist schmerzlicher) logischer Schritte. Ohne das ausdrückliche Festhalten
und Anstrahlen dessen, was sich gerade nicht so erhalten soll, wie es zunächst
ist, gäbe es keine Wandlung. Festhalten und Überwinden liegen beide in dem ei­
nen Wort »Aufhebung«. Die Wandlung setzt voraus, daß der festgehaltene (in
die Retorte eingesperrte) Gehalt gleichsam ausgebrütet, alchemistisch weiterge­
kocht wird und sich dadurch zu ganz neuen Bedeutungen fortbestimmt. Anders
gesagt: ihm wird zugemutet, einem neuen Kontext ausgesetzt zu sein, der ihn
zersetzt und verwandelt. In der Fortbestimmung wird das Bewußtsein auf eine
neue Stufe oder in einen neuen logischen Status transportiert, in dem das alte
Bewußtsein aufgehoben ist und (freilich gerade nur als aufgehobenes) bewahrt
bleibt, vergleichbar dem Verhältnis, in dem der komplexe mehrzellige Organis­
mus zu seinem Vorgänger, dem einzelligen Lebewesen, steht, das der Organis­
mus sich als aufgehobenes selbständiges Lebewesen integriert hat.
Was das Symbol der Taube und den Begriff der Liebe anlangt, so war die
Ausgangssituation in der späten Antike die, daß Liebe entweder erotisch­
sinnliche oder spiritualisierte (»platonische«) Liebe war. Das waren die Mög­
lichkeiten auf der noch ganz der Anima verfallenen Animusstufe der Liebe. Ein
Drittes gab es nicht. Das Entweder-Oder zeigt jedoch schon, daß eine ursprüng­
lichere Form der Wirklichkeit der Liebe (Liebe auf der Animastufe), die sinnlich
und geistig zugleich (also sakramentalisch) war, in ihre zwei Aspekte auseinan­
dergebrochen war, d.h. daß man es jetzt immer mit einseitigen »Hälften« zu tun
hatte und ein voller Begriff der Liebe nicht mehr gedacht und gelebt werden
konnte. Dies wiederum weist auf eine psychische Not der Spätantike. Die Not ist
nur so zu erklären, daß die Seele aus ihrer ursprünglichen Stufe der Naturgött­
lichkeit, auf der die Liebe sakramentalisch war, längst ausgewandert war, so daß
das Sinnlichkeit und das Geistige verbindende Band (das vinculum oder die co-
pula der Alchemie, also das spezifisch Syzygische, die logische Bewegung)
fehlte. Die Seele war schon woanders, auf einer neuen Stufe, das Bewußtsein je­
doch hielt an den alten Vorstellungen und Gebilden (und mit diesen an seinem
alten Status) fest, vermochte aber in ihnen nicht mehr das logische Leben der
Seele (das syzygische Spiel von Anima und Animus, Sinnlichkeit und Geist) zu
erfahren und dadurch belebt zu werden, weil die Gebilde »tote«, positive, see­
lenlose Gefäße geworden waren, insofern sie ja die Wahrheit der alten Stufe
ausdrückten, aus der jedoch die Seele gerade ausgewandert war. Umgekehrt wa­
ren die Gebilde tot, weil sie nicht mehr die Wahrheit oder das logische Leben
auszudrücken vermochten, insofern dieses nur auf der neuen Stufe zu Enden wä­
re, vor der das Bewußtsein aber zurückscheut. Die Negativität der Symbole und
damit genau das, worauf es eigentlich angekommen wäre: ihre Fassungskraft als
»Gefäße«, war geschwunden. Sie waren gar keine Gefäße mehr, die durch ihre
logische Leere ausgezeichnet sind, sie waren selber schon positiv zu »Dingen«,
Gebilden geworden, die selber etwas sein wollen und so Raum für sich bean­
spruchen. Sie verlangen jetzt, daß sie geglaubt, »akzeptiert«, erlebt, gefühlt wer­
den, und erzeugen in einem damit das auf Selbstidentität pochende positive Ich,
während das wahre Symbol nur der als Gebilde unaufdringliche, ja verschwin­
dende Träger oder Transporteur der logischen Bewegung der Seele war, was
man noch deutlich an der Sprache sieht, wo der Satzsinn nur dadurch entsteht,
daß die ihn »tragenden« Lautgebilde wie Kölner Heinzelmännchen verschwin­
den (verklingen) und der Sprecher sich in der rückhaltlosen Hingabe an das zu
Sagende als er selber vergißt. Solange Symbole noch eigentliche Symbole sind,
gibt es das Glauben und Erleben nicht, weil das intakte Symbol sich und damit
zugleich den Menschen objektiv in die Flüssigkeit des geistigen Lebens der See­
le übersetzt. Beide Auffassungsweisen der Liebe, die sinnlich-erotische wie die
rein geistige, wurden der in der Spätantike erreichten logischen Verfassung der
Seele offenbar schon nicht mehr voll gerecht. Das Bewußtsein hatte sich unter
seinem Niveau angesiedelt und lebte damit in dem Selbstentfremdetsein.
Wir nennen dies heute eine Dissoziation. Diese besteht darin, daß erstens
das Bewußtsein das Fortschreiten der Seele nicht mitvollzogen hat, so daß es
von der Seele, hinter ihr herhinkend, entfremdet ist, und daß zweitens deswegen
im Bewußtsein (also auf der einen Seite der ersten Spaltung, der Seite des Hin­
terherhinkenden) eine Gegensatz-Problematik entsteht, weil seine bisherige Welt
durch die Auswanderung der Seele in entweder sinnlich oder geistig Aufzufas­
sendes als nunmehr unvereinbare Extreme auseinandergefallen ist, unvereinbar
deswegen, weil sie nicht mehr, durch ihr Aufgehobensein in dem logischen Le­
ben der Seele, wie glühendes Magma im Zustand der Flüssigkeit sind und so als
erstarrte positive Entitäten (Fossilien) einander gegenüberstehen. Drittens hat
für das Bewußtsein eine Verlagerung des Orts der Wahrheit von der Wirklich­
keit hin zu dem stattgefunden, was nur noch eine herausgefällte »Hälfte« der
vormaligen Wirklichkeit ist: zu dem auffassenden oder erlebenden Bewußtsein.
Die Dinge und Rituale genügen nicht mehr sich selbst. Ihre Bedeutung tragen
sie jetzt nicht mehr selbstverständlich in ihnen. Jetzt kommt vielmehr alles dar­
auf an, was der Mensch sich bei ihnen bewußt denken, wieviel er von ihnen ver­
stehen und ob er etwas dabei empfinden kann. Dies ist die Spaltung von Subjek­
tivität (Erleben, Gesinnung, Glaube) und objektiver Realität, in die das, was vor­
her die Wirklichkeit (nicht Realität) war, zerfallen ist.
Das Christentum versuchte sich dieser Situation zu stellen und auf sie zu
antworten. Es wollte über die Ausweglosigkeit dieses Entweder-Oder hinausfüh­
ren, was nur gelingen konnte, wenn das Bewußtsein auf die Stufe, auf der sich
die Seele schon befand, gehoben werden konnte. Es ging darum, die ganze Situ­
ation auf eine völlig neue Ebene des Inderweltseins und damit des Welterlebens
zu heben, nämlich auf eine radikal nachnatürliche, geistige Stufe, die alte Alter­
native zu überwinden und so u.a. auch einen bisher uneihörten Begriff von Lie­
be zu erzeugen. (Einen freilich, den das Bewußtsein bis heute noch nicht wirk­
lich ins Bewußtsein aufgenommen hat.) In diesem Licht ist das Symbol der Tau­
be zu sehen.
Es sollte jetzt also weder um den einfachen Gegensatz zur erotischen Lie­
be gehen, wo man dann unweigerlich bei dem »platonischen«, ganz spirituali-
sierten Liebesbegriff anlangen würde. Deswegen wurden die alten erotischen
Assoziationen bewußt aufgegriffen. Aber das Denken sollte auch nicht in die al­
ten Bahnen des Erotischen zurückfließen, deswegen wurde das erotische Symbol
in einen ganz anderen Kontext gestellt und dadurch verfremdet. Weder so noch
so. Es blieb nur der »Ausweg« nach vorne, zu einer ganz neuen Bedeutung, der
der Liebe als der höchsten Form der Negativität des Geistes. Mit Sophia hat die­
se Liebe gerade nichts zu tun. »Denn Gott ist Geist (pneüma)« (Joh. 4, 24) -
nicht Sophia, das ist die christliche Botschaft.
Hier ist es nun entscheidend zu erkennen, daß Geist, wie er hier gemeint
ist, nicht mit der einen Seite der Alternative Sinnlichkeit - Geist oder erotische
Liebe - »platonische« Liebe identisch ist. Der Geist als Gegenpol zur Sinnlich­
keit bleibt genauso substantiell und natürlich wie diese. So wie der Geist als
Wind, der Geist als Gespenst selber sinnlich ist und wie der Geist als Himmels­
gott genauso sehr in die Animasphäre gehört, wie die Erdgöttin es tut, so geht es
auch bei dem schon philosophisch verstandenen und der Sinnlichkeit oder Mate­
rie entgegengesetzten Geist animahaft um Gehalte (das Geistige, das Spirituelle,
die höheren Werte und Ideale) oder Bereiche (das Reich der platonischen Ideen
gegenüber dem Reich der Phänomene). Geist oder das Geistige wird selbstver­
ständlich ontologisch genommen, als Seiendes. Hier ist man also unmißver­
ständlich in der Anima-Sphäre. Genauso gehört Sophia gerade in die natürliche
Theologie. Sie bleibt wesenhaft mythologische Gestalt und wird unweigerlich
als (seiender) Gehalt vorgestellt. Das Bewußtsein bleibt auf der Stufe der An­
schauung und Vorstellung.
Davon stößt sich aber die neutestamentliche »Lehre« von der Liebe ab.
Der Gegensatz von sinnlicher und spiritueller, geistig-»platonischer« Liebe ist
selber ein geistloser, ein natürlicher Gegensatz, also nur die eine Seite des Ge­
gensatzes natürliches Bewußtsein - Geist als Liebe. Es gibt innerhalb der christ­
lichen Lehre ein ganz deutliches Bewußtsein davon, daß mit ihr eine radikal
neue Stufe erreicht ist und das Erreichen dieses Status ihr eigentliches Anliegen
ist. Auch der Vers vor dem zitierten läßt dies erkennen. »Aber [darin liegt der
Abstoß von dem Vorangegangenen] es kommt die Zeit [darin liegt die neue Stu­
fe] und ist schon jetzt [darin liegt, daß das Bewußtsein begonnen hat, in diese
Stufe einzutreten], daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im
Geist und in der Wahrheit...« (Joh. 4, 23). »Im Geist und in der Wahrheit« —das
ist nicht mehr substantiell. Die Stufe seiender »Gehalte« oder positivierten
»Verhaltens« ist überwunden. »Im Geist« verweist stattdessen auf den Geist als
eine ganze Weise des Inderweltseins - auf so etwas wie das Behältnis für Gehal­
te, auf Form, Medium oder Element, Verfassung, auf etwas, das jedwede Gehal­
te durchwirkt und in ihrem logischen Status bestimmt. Jung nannte es den
»pneumatischen Zustand«.9 Geist ist in dieser Äußerung logisch nicht mehr
»Substantiv«, sondern - einen, Jung sagt: »Zustand« (womit man noch auf der
empirischen Ebene bleiben würde), genauer wäre: einen (logischen) Bewußt-
seinsStatus charakterisierendes - »Adjektiv«.
Es wird dem alten Symbol der Taube etwas anderes abgenötigt, es muß
einen verwandelten Sinn annehmen, der noch nicht in ihm gelegen hatte und
keiner schon bekannten Tradition entspricht. Das Symbol der Taube muß sich
wandeln. Neuer Wein ist in die alten Schläuche gegossen worden.10 Die ganze
alte Logik des Gegensatzes von erotischer vs. »platonischer« Liebe wird aufge­
hoben. Über diesen Gegensatz ist die christliche Liebe gerade hinaus. Die Frage
nach Sinnlichkeit vs. Geist in bezug auf Liebe zeigt, daß man den eigentlichen
christlichen Schritt nicht mitvollzogen hat und vielleicht auch gezielt vermeiden
will. Dieser Gegensatz ist christlich gesprochen einfach irrelevant. Um ihn geht
es schlechterdings nicht mehr. Das Christentum in diesem Sinn ist nicht natur­
feindlich, antisexuell, sondern es hat die Natur (und damit auch den zur Natur
gehörigen, wenn auch ihr als ihr Gegensatz gegenüberstehenden Geist) über­
wunden. Daher muß die Natur, muß das Sinnliche gar nicht bekämpft werden,
aber es ist auch nicht mehr der Ort der Erfüllung. Die Naturüberwindung ist viel
radikaler, als bei der Verteidigung des vorchristlichen erotischen Sinnes der
Taube geahnt wird.
Inwiefern ist die Naturüberwindung radikaler? Weil nicht ein einzelner
Bereich der Wirklichkeit, genannt Sinnlichkeit, Natur, Körper, zugunsten eines
anderen Wirklichkeitsbereiches (des Geistigen) verdammt wird. Mit solcher
Verdammung bliebe man nämlich im Substantiellen draußen, bei Seiendem, bei
Gehalten und nähme nur eine interne inhaltliche Umgewichtung innerhalb des
sich nach wie vor gleichbleibenden Status vor. Die Naturüberwindung des Chri­
stentums jedoch hat so etwas wie die Stufe der seienden Gehalte überhaupt, d.h.
die ganze Stufe des natürlichen Bewußtseins oder der ganzen natürlich erlebten
Wirklichkeit einschließlich der geistigen Gehalte dieser Stufe, aufgehoben. Es
hat nicht die sinnliche Taube durch ein abstrakt-geistiges, spirituelles Symbol
ersetzt (»von Symbol zu Symbol«). Sondern es hat dadurch, daß es dasselbe
Symbol, das einst auf die sinnlich-erotische Liebe hinwies, beibehielt, jetzt aber
die Liebe als den heiligen Geist bedeuten soll, unser Denken genötigt, statt ex-
tensional von einem Symbol zu einem anderen fortzugehen, intensional zu ei­

9 C.G. Jung, Briefe Bd. II, S. 354, vom 24. XI. 1953, an Victor White.
10 Vgl. W. Giegerich, »Neuen Wein in alte Schläuche: Über verbotenen Sprachgebrauch und den
Unterschied zwischen Neuerungen und Erneuerung«, unveröffentlichtes Manuskript.
nem anderen Status in seinem Verstehen der Bedeutung dieses selben Symbols
(und damit in seinem ganzen Weltverstehen) fortzuschreiten und so sich zu wan­
deln. Das Bewußtsein wird gezwungen, über sich hinauszugehen und einen noch
ungeahnten, ungedachten Begriff von Liebe zu denken zu lernen. Das heißt aber,
uns selber wird die Wandlung zugemutet. Es genügt nicht mehr, an den objekti­
ven Inhalten des Bewußtseins (an der Symbolik »draußen«: am Hl. Geist, an der
Taube) Änderungen und Umstellungen vorzunehmen (vom Logos zur Sophia,
von der sogenannten platonischen zur auch das Erotische umfassenden Liebe)
und die Aufgabe der Wandlung an die vor das Bewußtsein gestellten Inhalte zu
delegieren. Es geht nicht einfach um das Austauschen unserer Vorstellungen
von Gott und der Liebe, nicht um Änderungen der theologischen Lehre. Es geht
um unser eigenes Sein (Inderweltsein). Nicht einen anderen Gott, sondern Gott
in einer anderen Weise, nämlich »im Geist und in der Wahrheit« sollen wir ler­
nen anzubeten. Es ist gerade die Macht des Geistes, aus oder in alten Begriffen
und Symbolen neue Bedeutungen fortzuzeugen, wobei »Bedeutung« hier auf un­
sere Kraft des Begreifens und »neu« auf den höheren Status des Begreifens
(nicht auf irgendwelche anderen, aus einem vorhandenen Vorrat, etwa dem po­
lytheistischen Schatz an Bildern aufgelesenen Bedeutungen) hinweist.
Jung schloß sich der gängigen Idee an, daß neuer Wein nicht in die alten
Schläuche gegossen werden dürfe.11 Ebenso sagte er: »Da sich Gegensätze auf
ihrem eigenen Niveau nicht einigen lassen (tertium non datur!), so bedarf es im­
mer eines übergeordneten Dritten...«1112, und er meinte mit diesem Dritten ein
Symbol, das, weil es ebensosehr dem Bewußtsein wie dem Unbewußten ent­
stamme, beide vereinigen könne.13 So sehr ich mit Jungs Intention dabei über­
einstimme, so wenig halte ich diese Formulierung für sie geeignet. Das neue Ge­
wand oder die neue Form, die der Mythos oder das Dogma braucht, ist kein po­
sitives neues Gewand, mit dem das alte ersetzt würde, sondern entsteht nur ne­
gativ gerade durch das Hineingießen des neuen Weines in die alten Schläuche,
der die alten Schläuche im Sinn der alchemistischen putrefactio zersetzt und so
von innen, in seiner logischen Form, verwandelt und erneuert. Und die Gegen­
sätze lassen sich entsprechend nicht durch ein Drittes, durch andere symbolische
Inhalte, also Positives, vereinigen, sondern nur durch die genauso »negative«
Gewinnung des neuen Niveaus (für jedwede Inhalte) - nämlich nicht als linearer
Aufstieg, sondern gleichsam rückwärts als Absturz in die Bodenlosigkeit, als das
in seinen Grund Gehen des ganzen alten Niveaus: die absolut negative Er-
-innerung.
Mir scheint nicht nur die besondere Rückinterpretation der Taube in das
vorchristliche Welterleben, sondern auch die ganze Alternative zwischen andro-

11 C.G. Jung, GW 9/11 § 277,281.


12 C.G. Jung, GW 9/n § 280.
13 Ebd.
zentrischem und feministischem Gottesbild, ja die Unterscheidung zwischen
»den Männern« und »den Frauen« eine künstliche Konstruktion zu sein, die psy­
chologisch den Zweck hat, eine Ideologie zu bilden, die vor der Notwendigkeit
schützt, den Tod als altes Bewußtsein zu sterben und in den gefährlichen neuen
Begriff der Liebe und damit in einen ganz anderen logischen Status abzustürzen.
Davon wurde schon in einem anderen Zusammenhang gesprochen. Mittels des
natürlichen und augenscheinlichen Gegensatzes von »die Männer« und »die
Frauen« versucht das Bewußtsein krampfhaft, natürliches Bewußtsein zu blei­
ben und sich am Vordergründigen (Ontischen) festzuklammem. Über den Ge­
gensatz zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen ist vor allem auch die
»Taube«, ist der Geist, ist die christliche Liebe immer schon hinaus. Das ist
nicht mehr die Ebene, auf der sich die christliche Botschaft aufhält. Sie hat dazu
einfach nichts zu sagen.
Das Insistieren auf diesem Unterschied ist die Regression in genau die Art
von äußerlicher, positiver (hier: biologischer) Unterscheidung, wie die »geogra­
phische« Unterscheidung der Samariterin am Brunnen zwischen der Anbetung
»auf diesem Berge« oder »in Jerusalem« eine war, die Christus mit seinem Wort
über das »im Geist und in der Wahrheit« Anbeten hat überwinden wollen. Die
Alternative zwischen männlichem und weiblichem Gottesbild leistet ihren
Dienst in der Eröffnung eines Neben- oder richtiger eines Ersatzkriegsschauplat­
zes, der dazu auch noch nur zum Schein besteht: Man haust sich in einem für
das wirkliche Leben ausgegebenen Sandkastenspiel ein. Die Errichtung jener
Alternative ist ein Abwehrvorgang. Abgewehrt wird die Fortbestimmung durch
das Sich-Abstoßen von dem Alten und durch dessen Tötung. Abgewehrt wird
der dem Bewußtsein zugemutete Bruch. Man möchte an der Bruchlosigkeit fest-
halten, heil bleiben. Da das Sterbenkönnen jedoch die Liebe und der Selbsterhal­
tungswille ihr Gegenteil ist, ist die atavistische Interpretation der Taube letzten
Endes der Aufstand der Lieblosigkeit gegen die Liebe, die alles trägt und alles
duldet. Man muß sich darüber streiten, ob Gott männlich oder weiblich ist, weil
man die wirkliche Gotteserfahrung und die Erfahrung der Gotteskindschaft des
Menschen, aus panischer Angst vor ihnen, vermeiden will.
Mit der Einhausung in einem Sandkastenspiel lenkt die Regression zur
vorderasiatischen Liebesgöttin aber von dem wirklichen und unerhört dringen­
den Problem unserer Zeit ab. Was dieses Problem ist, können wir aus Jungs Satz
in obigem Zitat über sein Verhältnis zur Messe herauskristallisieren: »Es [das
Wunder der Messe] ist für mich keine Wahrheit mehr; es bringt meine psycholo­
gische Verfassung nicht mehr zum Ausdruck. Meine psychologische Verfassung
verlangt nach etwas anderem. ... Ich brauche eine neue Form.« Nach dem Ge­
sagten wissen wir schon: Nicht die Messe in ihrem symbolischen Gehalt ist un­
genügend geworden, sondern sie in dem logischen Status, in dem sie sich dar­
stellt. Allgemein gesprochen: die Obsoletheit der Inhalte des Imaginalen besteht,
ganz so, wie Jung es mit dem letzten Satz der zitierten Stelle andeutet, in ihrer
logischen Form, die dem natürlichen Bewußtsein angehört, nicht in ihrem Was.
Die Seele ist schon längst ausgewandert aus dem alten logischen Status, der
Anima-Stufe. Aber unser Bewußtsein ist ihr nicht gefolgt. Es bunkert sich in der
alten Stufe ein. Aber damit läßt es die heutige »psychologische Verfassung« des
Menschen (oder die Seele in ihrer heutigen logischen Verfassung und auf ihrer
neuen Stufe) einfach hängen. Es verhilft ihr nicht dazu, zu der ihr gemäßen
Wahrheit zu gelangen, bzw. zu der logischen Form, in der die Wahrheit ihr zu­
gänglich sein könnte. Wenn es der Seele heute die vorderasiatische Liebestaube,
die Sophia, oder irgendwelche anderen antiken (durchaus auch männlichen)
Götter und Symbole (z.B. Aphrodite, Dionysos) anbietet, dann ist das so, wie
wenn man großzügig der Kuh das beste Fleisch als Futter vorlegt oder dem Lö­
wen den schönsten Hafer. Es ist, wie wenn man dem Menschen, der Computer­
chips hersteilen soll, Werkzeuge der Antike reicht. Es genügt nicht, für einen
Reichtum an Sinn und Wahrheit zu sorgen, wenn diese Wahrheit nicht die logi­
sche Form hat, in der die Seele des modernen Menschen sie aufnehmen kann
und die die jetzige Verfassung der Seele wirklich, in vollem Umfang und in ihrer
wahren Tiefe gültig zum Ausdruck bringen kann. Die Seele leidet dann nur die
Qualen des Tantalus: die Fülle dessen, wonach die Seele hungert und dürstet,
wird ihr unmittelbar vor Augen und in greifbarer Nähe vorgegaukelt, aber gera­
de als absolut unerreichbar. Während das Ich zwar in diesem nostalgischen Spiel
durchaus seine Erfüllung zu finden glaubt, darbt die Seele. (Es braucht wohl
kaum gesagt zu werden, daß sich von hier aus Ausblicke auf die heutigen Sucht­
krankheiten, den Konsumrausch, die Lärmberieselung, den Tourismus und die
Sucht nach »Unterhaltung« [Entertainment, Zeitvertreib, »Freizeitgestaltung«,
durchaus auch durch Geistiges und Religiöses] eröffnen.)
Daher ist die Liebe mit dem Rekurs auf das altorientalische Motiv der
erotischen Liebe und auf Sophia keineswegs, wie Schroer meint, »umfassend«
begriffen. Sie hat den im Bewußtsein erfolgten Bruch und damit die wirkliche
neue, nachnatürliche Situation des Bewußtseins gerade außer sich, indem sie vor
dem Bruch anzusiedeln versucht wird. Indem mit dem Rekurs auf die Gegensät­
ze sinnlich - platonisch und Männer - Frauen als das große Problem der Zeit et­
was vor uns hingestellt wird, das längst schal und harmlos geworden ist, gelingt
es, eine Idee von Vollständigkeit als aufregendes Ziel auszugeben, die ebenfalls
längst abgestanden ist, und so von der wahren, der wirklich neuen, kaum erahn­
ten Aufgabe, der wir uns zu stellen haben, abzulenken.
Der Animus ist der Motor der (in diesem Sinn verstandenen) Geschichte.
Geschichte haben Völker, hat die Menschheit (oder wenigstens das abendländi­
sche Menschentum), Geschichte kann aber auch der einzelne in seinem Leben
haben. Jung hat diesem Motor den Namen »transzendente Funktion« gegeben.
Wenn Jung in Analogie zur Mathematik (»transzendente Zahl«) von der »trans­
zendenten Funktion« spricht, wird nicht auf eine Transzendenz im erhabenen
metaphysischen oder theologischen Sinn angespielt. Das gerade nicht. Transzen­
denz wird in dem vergleichsweise banalen Wortsinn von »Überstieg« oder
»Fortschritt« (Hinausgehen über den realen, den Ist-Zustand) verwendet. Die
transzendente Funktion ist die Funktion der Seele als Animus, kraft der Bedeu­
tungen fortbestimmt, Symbole zu neuen Bedeutungen weitergezeugt werden
können. Fortbestimmung, Weiterzeugung, Metaphorä und Transzendenz sind in
diesem Zusammenhang ungefähr Synonyma. Die transzendente Funktion er­
zeugt ganz neue Bedeutungen, indem sie denselben alten Gehalt oder dieselbe
psychische Situation auf eine neue logische Stufe, in einen neuen Status, in ein
neues »Element« transportiert. Sie erarbeitet sich anhand der Fortbestimmung
alter Symbole oder Begriffe selber allmählich die neue Bewußtseinsstufe. Jung
sagt: »sie ist eine Fortbewegung aus der Suspension zwischen Gegensätzen, eine
lebendige Geburt, die eine neue Stufe des Seins, eine neue Situation, herbei­
führt.«1415Nicht ein neues Symbol als einzelner das Bewußtsein faszinierender
Inhalt wird geboren, sondern die lebendige Geburt ist die Neuschöpfung der
ganzen Welt unter »einem neuen Zeichen« oder »in einem neuen Gefäß« (so et­
wa wie bei den Verschiebungen von »Mythos« zu »Goldgrund« zu »Vas« und
»Schwarzem Kasten« als den Häusern der Welt jeweils die Welt, die ganze
wirkliche Welt, als neue ersteht und mit ganz anderen Augen gesehen wird).
Jung hat ganz klargemacht, daß die transzendente Funktion darin besteht,
daß zwei gleich starke Gegensätze das Ich zwischen sich aufreiben, so freilich,
daß das Ich dem unlösbaren Konflikt standhält und ihn erträgt, weil es ja nur so
von ihm aufgerieben werden kann. Das Ich muß nach Jung stark genug sein -
nicht etwa, wie manche zu denken scheinen, um sich durchzuhalten, sondern
einzig dafür, um als das alte Ich untergehen zu können. Die Neurose muß, so ha­
ben wir schon gehört, das falsch eingestellte Ich erledigen. Ein andermal heißt
es: »Deshalb bedeutet das Erlebnis des Selbst eine Niederlage des Ich.«ls Das
Ich muß stark genug sein, daß es getötet werden kann, aber durch seinen Tod
nicht einfach total beseitigt ist, sondern als getötetes, obsoletes, weiterbesteht
(als im dialektischen Sinn des Wortes »aufgehobenes« Ich). Es wird von seinen
eigenen Gegensätzen oder Widersprüchen dahin getrieben, wo man nicht mehr
auf einer Lösung besteht, »wo sich Konflikt und Auseinandersetzung logischer­
weise erübrig(en)«16, weil sie sich selbst lösen: »Nur dann nämlich kann man
sich auf sicherem Wege fühlen, wenn sich die Pflichtenkollision sozusagen von
selbst erledigt und man das Opfer einer Entscheidung geworden ist, welche über
unseren Kopf oder über unser Herz hinweg gefällt worden ist.«17 Das heißt, die
Gegensätze lösen sich nur dadurch, daß sie das alte Ich »lösen« und es dadurch
auf eine völlig neue Stufe zwingen (die Jung meist mit dem etwas problemati-

14 C.G. Jung, GW 8 § 189. Meine Hervorhebungen.


15 C.G. Jung, GW 14/II § 433. Jung hat den ganzen Satz im Druck hervorgehoben, was zeigt, wie
wichtig ihm dieser Gedanke ist
16 C.G. Jung, GW 14/1 § 308.
17 C.G. Jung, GW 14/11 § 433.
sehen Titel »Selbst« benennt); nur dadurch, daß sie ihm die Einsicht aufhötigen,
daß »sic et non die zwei Aspekte einer und derselben Sache sind«.18 Nur weil
die Obsoletheit des Ichs festgehalten wurde, konnte sich das Bewußtsein zu ei­
nem neuen Status abstoßen.
Es ist von größter Wichtigkeit einzusehen, daß das Auftauchen der Ge­
gensätze als unlösbarer Gegensatz-Problematik nicht ein selbstverständliches,
»natürliches« Ereignis ist. Mit »natürlich« meine ich hier: in die Anima-Stufe, in
das Imaginale gehörig. Das Auftauchen der Gegensätze als unlösbarer Proble­
matik weist immer schon darauf, daß der alte Status des Bewußtseins obsolet ge­
worden ist, weil die Seele kraft des Animus innerhalb der Syzygie (und das heißt
auch kraft der transzendenten Funktion) aus diesem Status ausgewandert und
über ihn hinaus zu einem neuen Status fortgeschritten ist oder in ihn hinein
drängt. Die Gegensätze sind die Zerfallsprodukte eines gestorbenen (wenn auch
künstlich am Leben gehaltenen19) Bewußtseins, aus dem die Seele gewichen ist.
Solange die Seele in dem alten Status war, war er logisches Leben, syzygische
Bewegung, mit einem chemischen Bild: eine flüssige Lösung, in der, zum Bei­
spiel, die sinnliche Liebe in ihr selbst immer schon geistig und die geistige im­
mer auch konkrete sinnliche Wirklichkeit war. Nun aber sind sie aus der Lösung
herausgefällt und zu zwei verschiedenen oder entgegengesetzten Positivitäten
geworden. Wo vorher eine (in sich bewegte, lebendige) Lösung war (Negativi­
tät), hat man jetzt zwei starr einander gegenüberstehende Festkörper.
Die von der transzendenten Funktion gebrachte Fortbestimmung zeigt
sich in der Alchemie (Jung: »Diese merkwürdige Verwandlungsfahigkeit der
menschlichen Seele, die sich eben in der transzendenten Funktion ausdrückt, ist
der vornehmste Gegenstand der spätmittelalterlichen alchemistischen Philoso­
phie...«20). Die Alchemie ist nicht nur, aber sehr wesentlich animus-bestimmt.
Das drückt sich vor allem darin aus, daß das alchemistische Werk ein opus con­
tra naturam ist. Es begreift sich selbst als gegen die Natur, d.h. gegen die Ani­
mawelt, gerichtet. Es beginnt mit dem zweiten Teilsatz von Pseudo-Demokritos’
Spruch, mit »die Natur bekriegt die Natur«. Hier wird kein natürlicher Ausweg
auf derselben Ebene gesucht (bzw. gefunden), es wird der Tod der ganzen alten
Stufe des Bewußtseins, der ganzen alten Welt, gestorben, der zu einer Auferste­
hung des Bewußtseins auf einer neuen Stufe, nämlich als Bewußt-Sein, als die
bewußt gewordene und bewußt ertragene Widersprüchlichkeit von Bewußtheit
und Sein, führt. Ohne diesen Tod geht es nicht (woran wir eikennen, daß wir im
Bereich des Animus und seiner Negativität sind).

18 C.G. Jung, GW 14/1 § 308.


19 Daß die Apparatemedizin heute öfters Tote tatsächlich am Leben erhält, ist die gegenständliche
Darstellung dieses Sachverhalts, dessen Wahrnehmung sich das Bewußtsein daher nicht länger
entziehen kann.
20 C.G. Jung, GW 7 § 360.
Das alchemistische opus contra naturam hat sich in der Geschichte auf
die Alchemie selbst angewendet. Die Alchemie starb. Sie war in ihrer eigenen
Tradition die widersprüchliche Doppelheit von »Chemie« und »Psychologie«,
die Doppelheit der physikä und der mystikd gewesen. Im Laufe ihrer Geschichte
hat die Alchemie diese ihre beiden traditionellen Bedeutungen als selbständige
Gebilde (die naturwissenschaftliche Chemie ab dem 18. Jahrhundert einerseits
und die innerliche Psychologie teils ebenfalls ab dem 18. Jahrhundert seit Pietis­
mus, Mesmerismus und Romantik, recht eigentlich jedoch erst mit Freud und
Jung andererseits) aus sich ausgeschieden oder herausgeboren und ist dabei zu­
gleich ihren Tod gestorben. (Jung sagt nur: Sie hat »das naturwissenschaftliche
Zeitalter aus sich geboren«, »um dann unerkannt und mißverstanden zu verwel­
ken und als eine abgelebte Zeit im Strome der Jahrhunderte zu versinken.«21
Aber die moderne Innerlichkeit ist parallel dazu entstanden.) Denn in dem Au­
genblick, wo sie in dem Nebeneinander von moderner Chemie und moderner
Psychologie ihre zwei Nachfolgergestalten hatte, war sie als sie selbst obsolet.
Ihr Zerfall in die positiven Gegensätze zeigt, daß die Seele aus dem Status, dem
die alte Alchemie angehörte, ausgewandert war. Diese war nicht mehr das logi­
sche Leben oder die Flüssigkeit der syzygischen Bewegung und vermochte so
nicht mehr die Wiiklichkeit im Zustand der Flüssigkeit zu erhalten. Sie ver­
mochte einfach nicht mehr die »psychologische Verfassung« des modernen
Menschen auszudrücken, d.h. ihr logisch, ihrer logischen Form nach, gerecht zu
werden. Die Alchemie selber, obwohl in ihrem Anliegen wesenhaft animus­
bestimmt, war doch ihrer logischen Form nach der Anima verhaftet geblieben.
Das moderne Bewußtsein war aber schon in die Form des Animus und daher in
die Stufe der Form eingetreten. Deswegen war die Alchemie überholt. Aber
Chemie (Naturwissenschaft) und Psychologie sind nur in ihrem Nebeneinander
und Auseinander die Nachfolgergestalt der Alchemie. Sie sind also die Fortset­
zung der Alchemie in der Form der Gespaltenheit, der Dissoziation des moder­
nen Bewußtseins. Die Gegensatz-Problematik kündigt bereits die Wirkung der
transzendenten Funktion an.
Die Syzygie als die Differenz von Coniunctio (Inzest, Initiation) und
Syzygie (transzendente Funktion). Der Wortbedeutung nach meinen das grie­
chische Syzygie und das lateinische Coniunctio genau dasselbe: das Zusammen-
(syn-, con-) -gespanntsein wie in einem Joch (zygön, jugum), daher die Paarung,
das Paar. Die mit diesen Wörtern in der Psychologie gemeinten Phänomene je­
doch müssen zugleich als bedeutungsgleich begriffen und streng voneinander
unterschieden werden, ja sogar als in gewissen Hinsichten entgegengesetzt er­
kannt werden. Diese Distinction wurde bisher aber nicht mit genügender Deut­
lichkeit gemacht, es ist eher genau umgekehrt: sie wurde verwischt. Das eine
Wort Individuation verdeckte die Differenz. Ich möchte die Problematik anhand
von der weiter oben zitierten Äußerung entwickeln, in der Jung sagte, daß der
moderne Psychologe Anlaß habe, Faust zu kritisieren, weil Faust mit einer sub­
jektiven Einmischung in den »an sich objektiven Vorgang« der Vereinigung den
eigentlichen mythologischen Partner der Helena bei dieser verdrängt habe.
Oben habe ich diese Stelle zustimmend zitiert. Ich habe mit ihrer Hilfe zu
zeigen versucht, daß die Syzygie als Spiel der Seele mit ihr selbst begriffen wer­
den müsse und die Idee von den Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbe­
wußten als Leitthema der Psychotherapie aufgegeben werden müsse. Aber die
Faust-Paris-Problematik ist komplizierter, als es bisher den Anschein hatte.
In unseren Bemerkungen über das »Paradigma«, das uns bei der Beurtei­
lung seelischer Prozesse als letzter Maßstab dienen muß, sind wir auf das scha-
manische Erleben gestoßen. Wenn der Schamane in seiner Initiation auf Seelen-
fahrt geht, dann ist eines seiner Hauptziele die Gewinnung von Hilfsgeistem, be­
sonders eines Haupthilfsgeistes, »der ihm verbunden ist wie ein anderes Selbst -
oder der auch im besonderen für den Schamanen eine jenseitige Gattin, für die
Schamanin ein jenseitiger Gatte ist«.22 Und in dieser Verbindung gewinnt der
Schamane nicht nur für sich seine Begabung, auch die Geistin findet in ihm ihre
Erlösung: »Auf den älteren Kulturstufen sind es die Jenseitigen, die einer Erlö­
sung durch die Diesseitigen bedürfen. Erst in den späteren Religionen kehrt sich
das Verhältnis um, so daß der Diesseitige nach drüben blickt und um Erlösung
fleht.«23 Die Geistin als jenseitige Gattin des Schamanen braucht häufig, um in
der leiblich-räumlichen Wirklichkeit wirken zu können, eine Entsprechung in
der Körperwelt, in der irdischen Frau des Schamanen, in der sie ihre Inkarnation
fand. »Eine derartige Bigamie war jedoch in schamanischen Kulturen für Scha­
manen wie für Schamaninnen etwas durchaus Regelrechtes. Der jenseitige Part­
ner war der Haupthilfsgeist des Diesseitigen; der diesseitige bedeutete für den
jenseitigen den heißersehnten Zugang zum Wirken in dieser Welt.«24 Die Zau­
bermärchen, die großenteils auf schamanistisches oder ritualistisch-initiatisches
Erleben zurückgehen, zeigen den Helden als denjenigen, der sich aufmacht, um
im Drüben nicht nur seine Königswürde und das Wasser des Lebens zu erwer­
ben, sondern auch für sich, wie die Märchen meist sagen, die »Prinzessin«, dem
eigentlichen Sinn nach aber ganz sicher eine Jenseitige, zu gewinnen und mit
herüber zu nehmen.

22 Heino Gehrts, »Schamanistische Elemente im Zaubermärchen«, in: Schamanentum und Zauber­


märchen, Veröffentlichungen der Europäischen Märchengesellschaft Bd. 10, S. 48-89 u. 198-202,
Kassel (Erich Röth Verlag) 1986, hier S. 62.
23 Heino Gehrts, »Vom Beischlaf im Zaubermärchen«, in: Liebe und Eros im Märchen, Veröffentli­
chungen der Europäischen Märchengesellschaft Bd. 11, Kassel (Erich Röth Vertag) 1988, S. 61-
78 u. 208-211, hier S. 69.
24 Ebd. S. 70.
Wenn wir von diesem Vor-Bild her das Faustische Unternehmen zur Ge­
winnung der Helena ansehen, wird es in ein ganz anderes Licht gerückt. Insbe­
sondere sein
Und sollt ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt
Ins Leben ziehn die einzigste Gestalt? (Faust II, 7438f.)

läßt Fausts Vorhaben von der Aufgabe her verstehen, die Jenseitige zu erlösen
und ihr im Leben, gemeint ist in der raumzeitlichen Leiberwelt, Wirklichkeit zu
verleihen. Zwar liegt die »sehnsüchstigste Gewalt« dem Wortlaut nach auf der
Seite Fausts, was man allenfalls noch für die »subjektive Einmischung« heran­
ziehen könnte, aber schamanistisch gedacht gilt sie für beide, denn auch Helena
dürfte danach auf »den heißersehnten Zugang« zum Leben in der hiesigen Wirk­
lichkeit warten.
Die Verbindung zwischen einem jenseitigen Wesen und einem Menschen
war für den Schamanen gerade »etwas durchaus Regelrechtes«. Sie ist ebenso
noch auf späterer Kulturstufe das eigentliche Ziel der mystischen Erfahrung,
nämlich als unio mystica, d.h. als die hochzeitliche Vereinigung des Mysten mit
der Gottheit. Und gleichermaßen ist insbesondere der griechische Mythos voll
von Geschichten der zeugerischen Vereinigung zwischen Menschen und Göt­
tern. Es bestünde also ganz und gar kein Grund für den Psychologen, Faust zu
kritisieren und ihm eine »subjektive Einmischung« vorzuwerfen. Genau darum
geht es bei diesem Vorhaben ja: um die für Initiation und Individuation unver­
zichtbare Transgression25, um die Grenzüberschreitung nach drüben, um die In­
zestthematik, die Thematik der therapeutischen »Übertragung«; also um eine so­
zusagen »illegitime«, weil zu den fein säuberlich je auf ihrer Seite bleibenden
Vereinigungen eines menschlichen Mannes mit einer menschlichen Frau oder
eines Gottes mit einer Göttin »quer« stehende Beziehung über eine kategoriale
oder Dimensionsgrenze hinweg mitsamt dem Tabubrach, der darin liegt; und um
die (für sie Erlösung bedeutende) Einkörperung der Jenseitigen in einer diessei­
tigen, leibhaften Gestalt.
Die »Einmischung« ist also gerade gefordert, weil »auf den älteren Kul­
turstufen«, d.h. der seelischen Stufe der Kultur, »es die Jenseitigen (sind), die ei­
ner Erlösung durch die Diesseitigen bedürfen.« Die Gegensätzlichkeit in der
coniunctio oppositorum liegt nicht darin, daß sich Männliches und Weibliches
gegenüberstehen und vereinen, und das Unerhörte des Inzests liegt nicht einfach
schon darin, daß dabei das Männliche und das Weibliche als Bruder und Schwe­
ster oder Vater und Tochter oder Mutter und Sohn Nächstverwandte (»Gleichar-

25 James Hillman, »A Psychology of Transgression Drawn From an Incest Dream: Imagining the
Case«, Spring 1987, S. 66-76. Dt.: »Eine Psychologie der Überschreitung - gewonnen aus einem
Inzesttraum« in: GORGO 13/1987, S. 27-39.
tige«) sind.26 Der Geschlechtergegensatz bleibt noch auf ein und derselben Ebe­
ne, und ebenso bedeutet die exogame Beziehung psychologisch gerade keine
Öffnung zu etwas grundsätzlich Anderem, sondern das Verbleiben im (kategori-
al) Selben. Nein, das eigentlich Gegensätzliche der Gegensätze sowie das Uner­
hörte des dieser Gegensätzlichkeit entsprechenden oder sie ausdrückenden In­
zesttabus ist die Zugehörigkeit der Gegensätze zu verschiedenen logischen oder
ontologischen Dimensionen, »Hier« und »Drüben«, Leiberwelt und Geister­
reich, Mensch und Gott, mehr philosophisch: Realität und Idealität.
Von dem Gelingen dieser inzesthaften Beziehung hängt das sympatheti­
sche Weltverhältnis ab. Es geht hier um das Problem, mit dem Plato unter dem
Stichwort »methexis« gerungen hat. Es geht um das Sakramentalische der Wirk­
lichkeit, um das, was Goethe mit der Wortbildung »Gott-Natur« chiffrenhaft zu
fassen suchte und was Jung einmal als das Naturgöttliche ansprach. Wir könnten
auch unter Rückgriff auf Jungs Idee der Synchronizität von einer »synchronisti­
schen Logik« sprechen.
Weil das Verhältnis, um das es hier geht, ein inzestuöses ist und weil, in­
sofern z.B. auch die Initiation als Transgression nach drüben und Gewinnung
der Jenseitsbraut in einem weiteren Sinn inzestuösen Charakter hat und umge­
kehrt der Inzest eine Form des Einstiegs in die Initiation ist, der Inzest von größ­
ter Bedeutung ist, soll nun tiefer in die seelische - logische - Wirklichkeit, die
der Inzest bedeutet, eingedrungen werden; dies auch deswegen, weil der Inzest
unter dem Titel »Übertragung« auch in die praktische Psychotherapie hineinragt
—wenigstens hat Jung in seiner Betrachtung der Übertragung den Inzest in den
Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt. Ich stimme mit Jungs Sicht und Anlie­
gen im wesentlichen überein und lehne mich auch in meiner Erörterung an seine
Darstellung, seine Befunde an, stütze mich auf das von ihm beigebrachte Mate­
rial, doch nicht, um das von ihm Ausgeführte einfach zu wiederholen, sondern

26 Das Inzestverbot hat seinen Grund nicht einfach in der Biologie oder Soziologie, nicht in der
»Kultumotwendigkeit«, um der Herstellung eines festen größeren, über die Familie hinausgehen­
den Gruppenzusammenhalts willen die endogame Verbindung zugunsten der exogamen zu ver­
hindern und die »Verwandschaftslibido« aus dem Biologischen ins Geistige umzuleiten; die Her­
stellung des Zusammenhalts größerer sozialer Verbände folgte vielmehr, so müssen wir umge­
kehrt annehmen, den von dem immer schon seelisch-geistigen Komplex von Inzest-und-
Inzestverbot vorgezeichneten Bahnen. Anders als John Layard kann ich in der endogamen
(Inzest-) Tendenz fü r sich genommen keinen echten Trieb, kein »primary desire« sehen (John
Layard, »The IncestTaboo and the Virgin Archetype«, Eranos 12-1945, S. 254-307, wiederabge­
druckt mit gleicher Seitenzahl in: The Virgin Archetype: Two Essays, New York [Spring Publica-
tions] 1972). Der Inzest und sein Verbot sind vielmehr gleichursprünglich, ein in sich wider­
sprüchliches Eines und Einiges. Und sie sind immer schon gesetzt (geistige Setzungen, nicht na-
turhafter Instinkt). Die Faszination des Inzests, ja überhaupt das Erleben der endogamen Verbin­
dung als Inzest und so schon der bloße Begriff »Inzest« setzen ebenso das Tabu voraus wie um­
gekehrt das Tabu diese Faszination. Biologisch, in der Tierwelt etwa, gibt es weder das Inzesttabu
noch den »Begriff« Inzest, sehr wohl aber endogame Verbindungen, die vom Menschen her gese­
hen als inzestuös bezeichnet weiden könnten, es aber für sich keineswegs sind.
um mich kritisch mit der (seinem eigentlichen Anliegen nicht immer angemesse­
nen) Fassung, die seine Sicht in seiner Darstellung erhält, auseinanderzusetzen.
Die kritische Auseinandersetzung hat also nicht den Sinn, Jung zu kritisieren im
Sinn von herabzusetzen, sondern genau umgekehrt sein Anliegen vertiefend
weiterzufuhren. Sie soll für uns die schwierigen logischen Verhältnisse, die in­
nere Komplexion, die sich hinter dem Wort und in dem Begriff Inzest verber­
gen, in schärferes Profil bringen.
Der Inzest, sagt Jung, symbolisiere die Vereinigung mit dem eigenen We­
sen, die Individuation oder Selbstwerdung. Er sei die der Uridee der Selbstbe­
fruchtung unmittelbar folgende Stufe der Vereinigung von Gleichartigem, und
die Form homosexueller Verbindungen wie in der alchemistischen Arisleusvi-
sion stelle die Vorstufe des Bruder-Schwesterinzestes dar.27 Das ist mißver­
ständlich. Es hat nur Bestand, wenn man die Dialektik des Jungschen Selbst-
Begriffs im Sinn behält. Das Selbst heißt für Jung eben gerade nicht »ich
selbst«. Die Vereinigung »mit dem eigenen Wesen« oder mit »Gleichartigem«
ist gerade die Vereinigung mit dem ganz Anderen, Ungleichartigen, Jenseitigen,
der grundsätzlich initiatische (transgressive) Schritt über die Sphäre des
Menschlich-Allzumenschlichen hinaus, über diejenige kategoriale Grenzlinie
hinweg, die Menschen und Götter, Diesseitige und Unterweltliche, trennt; ganz
so, wie die exogame Verbindung nur deswegen unkompliziert und bedenkenlos
ist, weil sie als die Vereinigung biologisch-soziologisch Ungleicher (Nichtver­
wandter) psychologisch oder metaphysisch die Verbindung Gleicher (der glei­
chen ontologischen Kategorie Angehöriger: menschlicher Mann mit mensch­
licher Frau) ist.
Oben, in dem Kapitel über die dreifache Stellung der Seele zu der Erfah­
rung ihres Anderen habe ich den Fall Jungs von der achtzehnjährigen katatonen
Patientin, die während der Zeit ihrer Entrückung mit einem überirdisch schönen
Vampyr auf dem Mond gelebt hat, erwähnt. Jung führt die Psychose dieser Pati­
entin auf den Inzest mit ihrem Bruder, der sie, als sie fünfzehn Jahre alt war,
verführt hatte, zurück (natürlich nicht im Sinn einer äußeren Kausalität [»Inzest
bewirkt Psychose«], sondern der schöpferisch-freien seelischen Verarbeitung ei­
nes faktischen Geschehnisses, kraft welcher die Patientin von der lebendigen in­
neren Logik des Inzestarchetyps ergriffen wurde).
Durch den Inzest, den sie als junges Mädchen erlitten hatte, fühlte sie sich in den Au­
gen der Welt erniedrigt, im Reiche der Phantasie aber erhöht: sie wurde sozusagen in
ein mythisches Reich versetzt; denn der Inzest ist traditionsgemäß eine Prärogative
des Königs und der Götter. Dadurch trat aber eine völlige Entfremdung von der Welt
ein, der Zustand der Psychose. Sie wurde sozusagen extramundan und verlor den
Kontakt mit den Menschen. Sie geriet in kosmische Entfernung, in den Himmels­
raum, wo sie dem geflügelten Dämon begegnete.28

Hier wird überdeutlich, daß die »Vereinigung mit Gleichartigem« psychologisch


bzw. logisch in ihr selbst gerade die Überschreitung der kategorialen Grenze
zum Jenseits ist. Nur weil »biologisch« (empirisch) Gleiche, nämlich einander
als nächste Blutsverwandte a priori intim Verbundene, sich im Inzest verbinden,
kann die Kategorie oder Ebene des Empirischen selber, innerhalb von der sich
die Vereinigung abspielt, in Frage gestellt, die Dimension des rein Irdisch-
Menschlichen durchbrochen werden, während sie bei der exogamen Vereini­
gung gerade intakt gehalten und bestätigt wird, insofern bei letzterer der bei je­
der Vereinigung beteiligte Aspekt des Anderen oder des Gegensatzes in der em­
pirischen, biologisch-sozial gegebenen Andersheit (Exogamie) der beiden Part­
ner aufgeht. Die Energie des Gegensatzes erschöpft sich dort - selbstverständ­
lich logisch (auf der logischen Ebene), nicht unbedingt empirisch - für die An­
näherung der einander noch Fremden. Beim Inzest kann die Energie des Gegen­
satzes dafür nicht verbraucht werden. Weil die familiäre Intimität ja bereits a
priori (durch das »Blut«: vor jeder subjektiven Vertrautheit und Bezogenheit)
besteht, kann der Gegensatz oder die Fremdheit hier - wieder logisch, nicht un­
bedingt vom empirischen Erleben her - nicht mehr zwischen die Partner fallen,
sondern muß beide Partner zusammen, also ihre Beziehung selber oder die Ver­
einigung als ganze, und das heißt die ganze zwischenmenschliche Ebene, auf der
sie statthat, als die eine Seite eines neuen, umfassenderen Gegensatzes ansetzen.
Denn dank der dialektischen Einheit von Einheit und Gegensatz muß sich der
Gegensatz irgendwie geltend machen, und so erzwingt der Inzest (potentiell) die
Öffnung des Gegensatzes von Hier und Drüben.
Und nur weil durch eine »künstliche«, d.h. geistig-seelische Setzung, die
wohl mit dem Seele-, Bewußtsein-, Mensch-Sein des Menschen einhergeht, ein
Gegensatz zwischen den an sich gleich-gültigen Möglichkeiten der endogamen
(inzestuösen) Beziehung und der exogamen Beziehung hergestellt und der - so
von Anfang an nicht biologisch-sozial und sexuell, sondern geistig, religiös,
nämlich als logische Wirklichkeit zu verstehende - Inzest durch seine Tabuisie­
rung den Status des Außerordentlichen angenommen hatte und enorm aufgela­
den wurde, erhielt der Inzest die Macht, die ganze Ebene des »Ordentlichen«
(Gewöhnlichen) zu durchbrechen, und konnte er so zum Tor nach Drüben wer­
den. Der Inzest (wie entsprechend die Prostitution) ist immer schon als eine lo­
gische Problematik erfunden. Ohne die »künstliche« Tabuisierung29 wäre die
28 C.G. Jung, Erinnerungen S. 136.
29 Mit dem Ausdruck »künsüich« möchte ich die Tabuisierung nicht als vom Bewußtsein ausgeklü­
gelt hinstellen. Sie entzieht sich gerade jeglicher Willkür, da sie mit unserem Menschsein gege­
ben ist, das seinerseits nicht »natürlich«, »biologisch« bedingt ist, sondern sich einem geistigen
Akt, der »Selbstertötung der Seele«, verdankt (W. Giegerich, Tötungen. Gewalt aus der Seele.
Versuch über Ursprung und Geschichte des Bewußtseins, Frankfurt [Peter Lang] 1993).
endogame Verbindung ein ebenso gewöhnliches sexuelles Erlebnis wie die exo-
game auch, wie in der Tat oft ein buchstäblicher Inzest vorkommt, ohne daß er
auch wirklicher Inzest wäre, d.h. ohne daß seine innere Logik ins Spiel käme.
Umgekehrt kann deswegen auch da ein veritabler Inzest erlebt werden, wo, wie
in der therapeutischen Übertragung, gar keine reale Verwandtschaft zwischen
den Partnern besteht und nicht einmal eine tatsächliche körperliche Vereinigung
stattfindet. Die Seele kann um ihrer Zwecke der »höheren Begattung« (Goethe,
Faust) willen ein Verhältnis insgeheim als familiäres, als eines der Blutsver­
wandtschaft, setzen und damit die Logik des Inzests zur Wirkung bringen. Und
wenn in der Tiefe der Seele eine so ungeheuer aufgeladene, wenn auch meist
verdrängte Inzestfaszination besteht, dann nicht etwa deswegen, weil es tatsäch­
lich so viel faszinierender wäre, mit Blutsverwandten sexuell zu verkehren, son­
dern allein deswegen, weil diese Logik ins Spiel kommen will und dieser Drang
sich nur der sexuellen Ebene bedient. (Ähnlich wie auch die Prostitution im Un­
terschied zur ehelichen Liebe, manche Formen der Hemmung des Sexuallebens
in der Weise der Impotenz und Frigidität, die Gestalt des Frauseins, die mit dem
Stichwort Hetäre bezeichnet werden kann, bis hin zu der »literarischer Salon«
genannten Institution ihre seelische Dynamik - fast immer unbewußt - von der
»höheren Begattung« und der Wiedergeburt des Menschen in seiner Göttlich­
keit, nicht von der biologisch verstandenen Sexualität, her beziehen.)
In der Ehe des Pharao mit seiner Schwester dürfen wir entsprechend der
Einsicht in die (logische) Verdoppelung der inzestuösen Beziehung innerhalb ih­
rer selbst nicht einen einfachen Hierosgamos erblicken. Vielmehr gilt, daß wenn
sich der Pharao mit seiner Schwester inzestuös vereinigt, der Mensch Pharao erst
zum eigentlichen Pharao, zum »Gott«, wird wie entsprechend seine menschliche
Schwester zur »Göttin«. Der Inzest reißt die gewöhnliche menschliche Ebene
der Beziehung innerhalb ihrer selbst auf, so daß sie sich in sich zur »extramun-
danen« Ebene vertieft. Er eröffnet in den menschlichen Partnern innerhalb ihrer
Menschlichkeit eine Spannung zwischen ihnen selbst und ihren (erst durch diese
immanente Selbstdifferenzierung entstehenden) göttlichen Entsprechungen. Die
Zwei weitet und verdoppelt sich also zur Vier. Der Inzest stellt damit als die
scheinbare Zweierbeziehung, die er ist, innerhalb seiner jenes komplexe, in sich
gespannte Gebilde her, das Jung unter Berufung auf John Layard soziologisch
als cross-cousin-marriage, symbolisch als den alchemistischen oder den Heirats-
quatemio (Archetyp der zwei überkreuzten Bruder-Schwesterheiraten) und the­
rapeutisch als das in Analogie zu diesem beschriebene Spannungsverhältnis der
»Übertragung« dargestellt hat.
Das Schema dafür hat Jung in GW 16 § 437 gegeben, wonach sich auf der
bewußten oder offenbaren Ebene Adept und Soror mystica und auf der unbe­
wußten oder »jenseitigen« Ebene Rex (Sol, Animus) und Regina (Luna, Anima)
gegenüberstehen
Adept Soror

Animus---------------- Anima

so daß die direkte »innere« Beziehung des Adepten nicht zu seiner Anima, son­
dern zum Animus oder zu seinem höheren Double geht, während er zur Anima
oder schamanistisch gesprochen zur Geistin in überkreuzter Beziehung steht.
Dagegen hat Jung sein eigenes Schema der Übertragung GW 16 § 422, das auch
dasjenige ist, das von seinen Schülern aufgegriffen wurde, dahingehend abge­
wandelt, daß die Personen auf der unbewußten / jenseitigen Ebene vertauscht
sind,
A dept--------------------Soror

A nim a---------------- Animus

so daß der Adept auf der unbewußten Ebene nicht mehr »im Geheimen« und
über Kreuz (wie Jung unmittelbar vor Einführung des Schemas von § 422 selbst
noch gesagt hat), sondern direkt auf seine Anima (Regina, Luna, Geistin) und
dafür nicht mehr direkt, sondern überkreuzt auf den Animus (Rex, Sol) bezogen
ist. Dieses stillschweigend (selber »im Geheimen«) vorgenommene Geraderük-
ken des authentischerweise Überkreuzten hat Jung vermutlich einzig deswegen
vorgenommen, um es mit seiner (sich gerade auch von hier aus wieder als pro­
blematisch zeigenden) Theorie von Anima und Animus als inneren »gegenge­
schlechtlichen Persönlichkeitskomponenten« (der Adept und seine Anima) in
Einklang zu bringen, womit das Verhältnis de facto, wenn auch entgegen Jungs
erklärter Intention, psychologisiert (ins abgespaltene Innere hineingestopft)
wird.
In der Deutung eines bestimmten russischen Märchens (»Fürst Daniel
hat’s befohlen«), wo ein Inzest beinahe vollzogen und nur durch einen merkwür­
digen Ritus der Aufstellung von vier Puppen in den vier Ecken des Zimmers
verhindert wird, setzt Jung einen Gegensatz zwischen Inzest und Heiratsquater-
nio an. »... es handelt sich [bei diesem Motiv] um die Verhinderung des Inzests
und damit eben um die Ersetzung der Zwei durch die Vier«.30 Damit stellt Jung
den Inzest, als buchstäblichen, auf die eine Seite, den Heiratsquatemio als
geistig-seelischen auf die andere. Das paßt mit dem eben von mir Ausgeführten
nicht zusammen, und es scheint mir auch unhaltbar, weil damit zwei ganz ver­
schiedene Unterscheidungen und Probleme vermischt werden. Wir versuchen

30 C.G. Jung, GW 16 §430.


uns zunächst die zu treffenden Unterscheidungen anhand der näheren Erörterung
der Problematik des Verhältnisses von Faust und Helena zu erarbeiten, um erst
dann wieder auf Inzest und Heiratsquatemio selbst zurückzukommen.
Fausts Beziehung zur mythischen Person der Helena dürfte, wie gesagt,
von den hier vorgetragenen Überlegungen her vom Psychologen eigentlich nicht
kritisiert werden. Und doch bleibe ich dabei, daß Fausts Verhalten als subjektive
Einmischung und die Paarung zwischen ihm und Helena eine Mesalliance ist.
Nur liegt der Fehler Fausts nicht darin, daß er Helena für sich gewinnen will,
sondern darin - was Jung nicht mehr sagt - , daß er dies als modernes, sagen wir
einmal »postmitiatisches« Ich tut, als ein Ich, das nicht mehr auf einer schamani­
stischen, nicht einmal mehr einer rituellen Kulturstufe lebt und nicht eine dieser
Stufe entsprechende »psychologische Verfassung« hat, besser: nicht in einem ihr
entsprechenden logischen Status steht. Jetzt, in der neuen Situation, geht es näm­
lich nicht mehr nur wie ehedem um eine Transgression über eine Grenze hinweg
von hier nach drüben. Zu dieser Grenzscheide hinzu kommt vielmehr auch noch
eine zweite, durch die Zeit, die Historie (durch die Wirkung der transzendenten
Funktion) gebrachte Scheide: um eine letzte Unerreichbarkeit der Geistin für das
durch die Animus-Geschichte auf eine ganz andere Stufe gebrachte moderne Ich
sowie umgekehrt um das Nicht-Erreichtwerdenkönnen dieses Ichs von der Gei­
stin. Gewiß, die coniunctio zwischen Faust und Helena scheint zu gelingen.
Aber sie gelingt eben nicht wirklich: die Herstellung des Inkorruptiblen miß­
lingt. Sie muß deswegen mißlingen, weil die coniunctio zwischen Faust und He­
lena nur noch »psychologisch« (im subjektiven Sinn) ist. Sie ist nicht mehr lo­
gisch überzeugend, nicht mehr wirklich, so wenig, wie die Interpretation der
neutestamentlichen Taube als Zeichen des erotisch-leidenschaftlichen Charak­
ters der im Christentum gemeinten Liebe überzeugend war. Faust lebt schon in
einer Welt, die wirklich, nämlich logisch, in die Dissoziation von Natur (Physik)
und Subjektiv-Innerem (Psychologie), von »Notwendigkeit« und »Frei-Zeit«,
von wissenschaftlich erkannter Welt und »Lebenswelt« (Husserl) zerfallen ist.
Was auch immer geschieht, es kann jetzt dank der logischen Spaltung der Wirk­
lichkeit immer nur entweder auf die eine oder die andere Seite gehören. Das
moderne Ich kann die coniunctio bestenfalls im persönlichen Erleben, nicht
mehr als welthafte Wirklichkeit erleben. Deswegen ist sein »schamanistischer«
Versuch atavistisch. Er greift nicht mehr, weil die logische Form dafär nicht ge­
geben ist. Das Psychologische in diesem Sinn, das persönliche Erleben, ist im­
mer nur die abgespaltene eine Hälfte der Wirklichkeit.
Das authentische schamanische Erlebnis auf seiner eigenen logischen Stu­
fe erreichte die ganze Wirklichkeit. Deswegen konnte der Schamane auch zau­
bern und war seine Welt eine zauberhafte Welt.
Doch Faust als modernes Ich ist aus der Zeit, als das Wünschen (d.h. das
Zaubern, Beschwören, Besprechen - vgl. »verwünschen«) noch geholfen hatte,
entrückt. Aber er will es nicht wahrhaben:
Könnt’ ich Magie von meinem Pfad entfernen,
Die Zauberspniche ganz und gar verlernen,
Stünd’ ich, Natur, vor dir ein Mann allein,
Da wär’s der Mühe wert, ein Mensch zu sein.
(Faust II, 11404-07)

Es wäre da nur deswegen der Mühe wert, ein Mensch zu sein, weil die Magie in
Wahrheit schon längst von uns, auch von Faust, entfernt ist.31 Faust kann nur so
sprechen, weil er im tiefsten weiß, daß die Zeit des unmittelbaren Zaubems und
der unmittelbar zauberhaften Welt vorbei ist, er diesem seinem Wissen aber
nicht Folge leisten will oder zu können glaubt. Heute gilt: Die Wirklichkeit ist
zerfällt. Sie hat zwei Hälften. Als jenes moderne Ich kann man nicht nur, man
muß immer die eine Hälfte gegen die andere ausspielen. Das ist die Natur des
Ichs. Es kann Wirklichkeit nicht erreichen. So läßt sich auch kein wirkliches In-
korruptibles herstellen. Es könnte immer nur subjektives Erlebnis, in Traum, vi­
sionärer Erfahrung oder aktiver Imagination, sein, nicht aber die wirkliche Welt
in sich begreifende Wahrheit und Wirklichkeit.
Daher wäre Faust auch nicht geholfen gewesen, wenn er entsprechend
dem alchemistischen Modell den Paris an der Seite von Helena gelassen hätte.
Denn dann wäre die Aufgabe der coniunctio ebenfalls gescheitert, insofern dann
zwei Jenseitige (zwei mythologische Gestalten) miteinander verbunden gewesen
wären, was fruchtlos wäre. Das ganze Geschehen wird bei dieser Konstellation
gezeigt, sich nur noch in einem Jenseits, in einem imaginalen Raum zwischen
imaginalen Gestalten, Sol und Luna, also in einer von der Wirklichkeit durch ei­
ne kategoriale Grenze getrennten »bubble« des Imaginalen abzuspielen. Die
Psychologie wird rein platonistisch, und der Mensch wird unaufhebbar zum blo­
ßen Zuschauer, der das mysterium coniunctionis nur noch vor sich oder intro­
spektiv in sich in dem Vas des eigenen Innern verfolgt oder rein mythologisch
als Hierosgamos der Götter im überhimmlischen Ort Platos ahnt, ersehnt, fühlt
und »glaubt«. Diese Art von Mythologie gehört schon in die auf die rituelle Stu­
fe folgende religiöse Kulturstufe, wo die Verbindung zwischen hier und drüben
gerade schon abgerissen ist und der Mensch mit den Göttern, in einem hier not­
wendigen technischen Bild gesagt, nur noch telefonisch (im Gebet, im Glauben
und in der Hoffnung) und über die Television (im andächtigen, »anhimmeln-

31 Wir müssen hier freilich qualifizieren: der aus dem Zauber der Welt Herausgetretene (-gefallene)
und der Natur als ein Mann allein Gegenüberstehende wäre nicht wahrhaft Mensch. Es wäre nur
deswegen wert, in dieser Weise ein Mensch zu sein, weil man dann wieder auf dem Weg zum
Menschsein des Menschen wäre und dieses Auf-dem-Weg-Sein lohnender ist als das Festhalten
am obsolet gewordenen unmittelbaren Menschsein.
den« Aufblick zum Himmel, im Blick in die Retorte) kommunizieren kann; wo
die Verbindung zwischen Mensch und Gott nur noch als ein in einer unwieder­
bringlich verlorenen mythischen und so ihrerseits für uns jenseitigen Vorzeit
vorgekommenes Ereignis vorgestellt werden kann, und gerade nicht zwischen
wirklichen, hier und jetzt lebenden Menschen und Jenseitigen, sondern zwischen
»mythischen Heroen« (also halb jenseitigen Halbgöttern) und jenseitigen Gei­
stern / Göttern. Ich vermute, daß sich in dieser Hochstilisierung zu Halbgöttern,
mit der die Möglichkeit des mysterium coniunctionis oder der unio mystica kate-
gorial von uns gewöhnlichen Menschen heute fort in das vorzeitliche Jenseits
der Heroenzeit weggeschoben wird, einfach nur das im historischen Übergang
von der rituellen zur religiösen Kultur erfolgte Sich-Verabschiedethaben der
Menschen von der (gar nicht jenseitigen, sondern in ihrer Zeit durchaus irdisch­
realen) Institution der Initiation widerspiegelt. Der Heros des Mythos wäre so
nicht wirklich ein eigentlicher Halbgott, sondern er wäre nichts anderes als der
gewöhnliche, aber initiierte (und durch die Initiation selber »vergottete«)
Mensch gewesen, etwa der Schamane, der freilich für den die Initiation grund­
sätzlich von sich weisenden Menschen naturgemäß zu einem Fabelwesen wer­
den muß.
Damit die logische Form des Bewußtseins errungen wäre, so daß das Be­
wußtsein dem logischen Status, in dem sich die »objektive Seele« heute längst
befindet, entsprechen würde und auf einer völlig neuen Stufe wieder eine au­
thentische Beziehung nach »drüben« möglich wäre, wo also »das Ganze noch
einmal wahr«32 würde (auch der Zauber der Welt), müßte der Weg der transzen­
denten Funktion konsequent weiter gegangen worden sein. Dies hätte den uner­
bittlichen Durchgang durch das wache Erleben des schmerzlichen Verlusts der
Inständigkeit in einer zauberhaften Welt und durch das ebenso wache Erleben
des einsamen einer entzauberten »Natur« Gegenüberstehens bedeutet. Fausts
Problem ist nicht eigentlich die Einmischung, sondern es ist die ungenügende lo­
gische Form. Er hat sich als dasjenige Bewußtsein eingemischt, das längst über
Antike und Mittelalter hinaus ist, sich aber doch noch den Luxus leistet, in einer
»antiken« oder »mittelalterlichen« Form des Denkens und Erlebens zu verhar­
ren.
Von hier aus können wir auch zu Jungs angesichts des russischen Mär­
chens geäußerten Ansicht, daß Inzest und Heiratsquatemio gleichsam Alternati­
ven seien, Stellung beziehen. Ich glaube, daß die Vermeidung des buchstäbli­
chen Inzests nicht deswegen nötig ist, weil der Inzest als die Vereinigung der
Zwei den Quatemio verhindere und die Zwei gerade durch die Vier ersetzt wer­
den müßte, sondern weil wir kraft des durch die Historie erfolgten Bruchs nicht
mehr in der sakramentalisch verfaßten Wirklichkeit leben, in der der buchstäbli­
che Inzest, wie der des Pharao, auch wirklich in ihm selbst die Vierheit enthielt

32 C.G. Jung, GW 18/1 § 632.


bzw. sie innerhalb seiner eröffnete. Der Inzest darf heute nur deswegen nicht
mehr buchstäblich gelebt werden, weil in der modernen Welt der buchstäbliche
Inzest entweder nicht mehr seinen geistigen Sinn wirklich mit sich fuhrt, nicht
mehr vermittels der Durchbrechung der gewöhnlichen Ebene des Inderweltseins
innerhalb ihrer ins »Jenseits« und zur »Vergottung« des (gleichwohl Mensch
bleibenden) Menschen führt und so nur noch ein banales, weil nur noch äußer­
lich (z.B. moralisch oder juristisch) zu beurteilendes Tun ist, oder aber, wenn er
diese Durchbrechung doch leistet, wie im Fall von Jungs katatoner Patientin,
weil dann der Quatemio nicht mehr zusammengehalten, das komplexe Span­
nungsverhältnis, das er darstellt, nicht mehr ertragen werden kann, so daß das
Bewußtsein daran zerbricht (z.B. in der Form einer Psychose).
Der Pharao konnte zugleich der Mensch, der er war, und der göttliche
Pharao sein. Die sakramentale Logik oder Weltverfassung, die zu seiner Zeit
galt, machte das Ertragen dieser ungeheuren Spannung problemlos möglich und
wurde auch ihrerseits gerade erst durch den Inzest immer neu und immer wieder
ursprünglich gezeugt. Denn die wahre Fracht des Inzests, das »Seelenkind«33
oder die »neue Geburt«34, ist die sakramentalische Logik des Inderweltseins
(nicht »das Selbst«, nicht »die neue Persönlichkeit« - oder diese nur, insofern
die bisherige durch das Walten der neuen Logik des Inderweltseins auch ihrer­
seits zu einer neuen Persönlichkeit verwandelt wurde). Noch einmal anders: Das
wahre Ziel des psychologischen opus (Individuationsprozesses) ist nicht, wie
Jung oft sagt, die »Integration« oder »Vereinigung der Persönlichkeitskompo­
nenten« - das wäre immer noch psychologistisch - , sondern es ist die Erzeu­
gung und fortwährende Lebendighaltung jener Logik, von der das sympatheti­
sche Inderweltsein abhängt. Dieses logische Leben ist es auch, was das Märchen
unter dem sehr anschaulichen Titel »Wasser des Lebens« anspricht, welches der
in das Königsein zu initiierende Märchenheld in der Anderwelt gewinnen und in
die zu Positivitäten erstarrte hiesige Welt zu ihrer Belebung bringen muß. Wo
bei Jung »Selbst« oder »Ganzheit« (und so auch das Symbol des »Lapis« oder
des »Anthropos«, des vollkommenen, runden, zwiegeschlechtigen Urmenschen
und dergleichen) als Angabe des Zieles steht, müssen wir für uns »Logik des
sympathetischen Inderweltseins« oder »vollständige Dialektik des logischen Le­
bens der Seele« einsetzen. Auch wenn Jung immer wieder beteuert (und es auch
zweifellos wirklich so erlebt hat und meint), daß das Selbst oder die Ganzheit
die Persönlichkeit transzendiere, so bleibt es doch nur bei diesen Beteuerungen
und Versicherungen. Ihrer logischen Form nach binden die Ausdrücke »das
Selbst« und »Ganzheit der Persönlichkeit« jedoch das von ihnen (als die Persön­
lichkeit transzendierend) Gemeinte unweigerlich an die Persönlichkeit zurück
und sperren es in sie ein (»Selbst«!), und so entziehen sie kraft dem, was sie in

33 C.G. Jung, GW 16 § 465.


34 C.G. Jung, GW 16 § 525 ff.
der Tat besagen, dem mit ihnen Gemeinten den Boden. Dieses kann hier offen­
bar nur gemeint (und erlebt), noch nicht gedacht werden, noch nicht die Form
der Wahrheit annehmen.
Wenn, wie heute, die tatsächlich waltende Logik der Zeit nicht mehr die
Bahnen für die logische Bewegung innerhalb der Komplexität und Widersprüch­
lichkeit des Quatemio bereitstellt und den Quatemio nicht mehr im Zustand der
Flüssigkeit des logischen Lebens hält, ist das einzelne Bewußtsein überfordert,
die Widersprüche in sich, im eigenen leibenden Leben des individuellen Men­
schen, zu vermitteln. Der Heiratsquatemio fällt, in verschiedenen Richtungen
gleichzeitig, vermittlungslos auseinander (Ebene der Götter [»Religion«] vs.
Ebene der Menschen [alltägliche Realität]; Beziehung des Mannes zu seiner in­
neren Anima vs. Beziehung der Frau zu ihrem inneren Animus; diese beiden Be­
ziehungen zusammen als die Innenwelt des Menschen vs. die reale, physische
wie öffentlich-gesellschaftliche Umwelt). Es ist dann, mit einer höchstens als al­
lererste Vorstellungshilfe geeigneten und so nur sehr vorläufig brauchbaren
Analogie gesagt, als ob man in einer Landschaft, in der Erdbeben Brücken zer­
stört und breite Erdklüfte aufgerissen hätten, Auto fahren sollte.
Man kann sich in unserer Zeit vor den Widersprüchen des Quatemio
schützen, indem man diese Trennungen selber mitmacht, sie sich gleichsam mit
einer »Identifikation mit dem Aggressor« zu eigen macht (z.B. die volle, eigent­
lich »hüben« und »drüben«, innen und außen umspannende Erfahrung als bloß
»innere«, psychologisierte ganz auf die eine hiesige Seite bringt, um auf dieser
ein verkleinertes Modell der beide Seiten umspannenden Erfahrung, gleichsam
eine Disneyland-Version von ihr, aufzubauen und so die durch den Einsturz der
Brücken unzugänglich gewordene wirkliche andere Seite, sei es die reale Au­
ßenwelt sei es das »Drüben«, einfach ganz aus dem Spiel zu halten). Tut man
dies nicht oder vermag man es nicht zu tun, d.h. setzt man sich der vollen Wahr­
heit von hier und drüben und der Widersprüchlichkeit ihrer logischen Bewegung
aus bzw. wird man von ihr ergriffen, dann wird man, in der Zeit der eingestürz­
ten Brücken, in der Zeit der fehlenden sakramentalischen Logik, selber zum Wi­
derspruch, selber zerrissen, »verrückt«: Psychose. Als Zwischenlösung zwischen
diesen beiden Extremen gibt es dann noch die Möglichkeit des so zwischen bei­
den Seiten Lavierens, daß die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut, also
z.B. das, was sich klinisch-therapeutisch in der Gestalt der Neurose, auch der
Übertragungsneurose im eigentlichen Sinn, zeigt. Da kann man immer das eine
gegen das andere ausspielen. Wird man auf das angesprochen, was die linke
Hand tat, hat man sich schon längst flugs auf die Seite der rechten Hand gestellt
und umgekehrt.
Der Inzest war deswegen die Prärogative des Pharao und dem gewöhn­
lichen Menschen nicht gestattet, weil es eben um die für alle sichtbare Herstel­
lung und Präsentation der sakramentalen Logik ging, die nicht, wie die Integra­
tion der Persönlichkeit, von jedem einzelnen vollzogen werden muß, sondern als
Logik des Inderweltseins, ähnlich wie heute noch Sprache und Dichtung und
Kunst, für alle gilt, auch wenn sie nur von einem erzeugt und fortwährend gültig
repräsentiert wird. Indem die gewöhnlichen Menschen im Pharao ihre eigene
göttliche Natur und der Pharao in diesen seine eigene natürliche Menschlichkeit
wirklich hatten, was nur dank der Tatsache gewährleistet war, daß beide, Pharao
und Volk, in dem logischen Leben der Seele ihren logischen Ort hatten und die­
ses logische Leben als gesellschaftliche Ordnung dargelebt wurde, wurde jeder
Seite des Inzestarchetyps (der Vereinigung und dem Verbot, dem Hier und Drü­
ben) Genüge getan und jede Seite entlastet. Der Pharao wurde durch den Inzest
nicht zerrissen, weil er seine eigene irdische Menschlichkeit logisch getragen
wußte von seinem Volk. So konnte er sich ohne Verlust seiner geistigen Ge­
sundheit und seines ein Mensch Seins imbesorgt in die andere, göttliche Seite
des Archetyps entlassen.
Jung vermischt m.E. den (der transzendenten Funktion zu verdankenden)
Kulturstufen-Gegensatz urtümlich vs. modern (der hier gleichbedeutend ist mit
dem Gegensatz sakramentalisch35 vs. einseitig vergeistigt, psychologisiert, ima-
ginal) mit dem teils logischen, teils inhaltlichen Gegensatz von Zwei vs. Vier
(der gleichbedeutend ist mit dem Gegensatz »von außen« [buchstäblich] vs.
»von innen gesehen« [psychologisch]) und erhält daraus einen für mich gar
nicht bestehenden Gegensatz von Inzest und Heiratsquatemio, die eigentlich
Synonyma sind und dieselbe Sache nur von verschiedenen Seiten beleuchten.
Der Heiratsquatemio erlöst uns nicht von der Zwei des Inzests, weil die Zwei
des Inzests von innen betrachtet nichts anderes als der Quatemio ist.
Weil wir Moderne sind, die in der Zweiteilung der einen Welt in »Physik«
und »Psychologie« leben und für die Sinn daher nur in der einen sekundären,
von der anderen und als primär angesehenen abgespaltenen Hälfte der Welt Vor­
kommen kann und darf, dürfen für uns sei es Inzest oder sei es Heiratsquatemio
nicht mehr buchstäblich sein. Alles, was »im Fleisch« geschieht und »physisch«
ist, ist für uns heute eo ipso geistlos, sinnlos. Daher sprechen wir in der Psycho­
logie zwangsläufig und so mit Recht abwertend vom Agieren und von Konkre­
tismus. Und alles Geistige, aller symbolische Sinn ist für uns eo ipso unwirklich,
»irreal«, bloß psychologisch (auch wenn in der Psychologie dogmatisch behaup­
tet wird, die psychische Wirklichkeit sei gerade nicht »bloß psychologisch«).
Wir können den Gedanken der natürlich-realen Menschlichkeit des Menschen
und den Gedanken der ideellen Göttlichkeit des Menschen, welche doch zusam­
men als einiger Gedanke überhaupt erst das Menschsein des Menschen ausma­
chen, nicht mehr zusammenbringen und in unserem leibenden Leben Zusammen­
halten. Sie fallen für uns zwangsläufig auseinander - die Natürlichkeit gilt als
das Reale / Rationale, die Göttlichkeit des Menschen wird als irreale Idee mit
der Abstellung in den Aberglauben oder im besten Fall in den religiösen Glau-

35 »Ganz buchstäblich«, »im Fleisch«, und zugleich »ganz geistig-symbolisch«.


ben oder das subjektive innere Erleben auf die Seite gebracht und so entwertet,
entwirklicht, so daß im Grunde nur noch die verwitwete eine Seite (das Natür­
liche, Reale) als einzige »objektiv gültige« Alternative übrigbleibt, die aber, ab­
geschnitten von ihrem eigenen Anderen, ihrerseits letztendlich zum Nichts ver­
dorrt: Nihilismus.
Wirklichkeit (die Wirklichkeit des Menschen als Menschen und die Wirk­
lichkeit der Welt als menschlicher, beseelter Welt) gibt es offenbar nur innerhalb
und kraft des Inzests, der coniunctio oppositorum, der Komplexität der logi­
schen Bewegung der Seele entlang der vom unweigerlich »illegitimen« Heirats­
quatemio vorgezeichneten Bahnen. Nur innerhalb solcher »Illegitimität« kann
der Prozeß, den Jung den Individuationsprozeß und den die Alchemie opus ge­
nannt hat, geschehen, jenes Werk, in dem die Göttlichkeit des (auch weiterhin
gewöhnlicher Mensch bleibenden) Menschen oder das aurum non vulgum her­
gestellt, die Schöpfung der Welt durch den Menschen tatsächlich geleistet wird
—und der Mensch überhaupt erst zum wirklichen Menschen wird. Diese Öff­
nung zur transzendenten Ebene der Göttlichkeit des Menschen geschieht freilich
nur immanent, nur in absolut negativer Er-innerung 36 nur logisch, nicht empi­
risch als positive Überschreitung der Endlichkeit des Menschen buchstäblich
»nach draußen« oder »oben«; nur innerhalb seiner realen Menschlichkeit erfolgt
eine Bebrütung, Zersetzung, Selbstverdoppelung, Sublimierung ihrer in ihre ei­
gene innere Tiefe hinein, so wie sich analog zu dieser logischen Er-innerung als
empirisches Phänomen der Schlaf innerhalb seiner selbst und so rein negativ
zum Traum, zu einer ganzen Welt der Bilder, er-innem und öffnen: lichten kann,
womit die Kategorie des Biologischen immanent zur qualitativ anderen Dimen­
sion des Geistigen transzendiert wird. »Endogamie« oder »Inzest« als »Vereini­
gung von Gleichartigem« ist hier nichts anderes als das teils soziologische, teils
sexuelle Bild für die »negative Er-innerung« (die vielleicht noch deutlicher in
dem Motiv der Selbstbefruchtung der Urgötter ausgedrückt wird, wo allerdings
die unverzichtbare gleichzeitige Gegensätzlichkeit der Gleichartigen, also das
volle dialektische Verhältnis, nicht eigens zum Ausdruck kommt); ist Bild für
die produktive Herstellung, schöpferische Erzeugung eines »Mehrwerts«, durch
den sich überhaupt erst die Menschwerdung des Menschen (Marx: die Selbst­
produktion des Menschen) ereignet und den es zuvor und ohne jene immer ur­
sprüngliche Erzeugung nicht geben würde (es geht also nicht um eine Erinne­
rung in oder an etwas längst Gegebenes, das nur zunächst unbewußt oder ver­
gessen gewesen wäre). Der Mehrwert freilich ist nicht die durch »Selbstentwick­
lung« gewonnene Vollständigkeit oder Ganzheit der Persönlichkeit. Er bringt
genau umgekehrt das Entlassenwerden der Persönlichkeit aus dem in sich Einge­

36 Man vergleiche die im alchemistischen »Axiom der Maria« ausgedrückte Bewegung, die schein­
bar rückwärtsschreitend, in Wahrheit aber sich nach innen, in ihren irreduziblen logischen Kem
hinein vertiefende und ver-einfachende, verwesentlichende Intensivierung der Vier zur Drei zur
Zwei zur Eins.
sperrtsein ins Freie, in die Flüssigkeit des Logischen, er ist der Eintritt in den
ganzen Weltbegegnungszusammenhang als die komplexe logische Bewegung
der Seele, weil er die Gewinnung der sakramentalischen Logik als der von da an
wirklichen Logik des Inderweltseins ist.
Der Mensch, so hat Bruno Liebrucks gesagt, kommt weder mit der Geburt
noch durch Lernen zur Welt. Wir dürfen hinzufügen: auch nicht durch »Ent­
wicklung« (bzw. Entwicklung nur als animushafte, wie oben unter dem Titel
Geschichte besprochen). Er verdankt, so können wir es einmal ausdrücken, sein
zur Welt Kommen seiner eigenen Erzeugung jenes Mehrwerts (religiös gespro­
chen seiner Wiedergeburt, womit allerdings, animahaft, nur der Erfahrungsan­
teil, nicht der aktiv-zeugerische Anteil ausgedrückt ist). Das Wort Mehrwert be­
sagt, daß es sich nicht um die Auffindung und Gewinnung von etwas schon,
wenn auch zunächst nur verborgen, Vorhandenem handelt, sondern um etwas
ganz und gar Neues, das in der »Natur« nicht vorkommt. Es ist »künstlich«, et­
was »Überflüssiges« - reiner Überfluß über das Natürliche hinaus, so wie die
Kultur überhaupt »überflüssig« ist, und insofern gewissermaßen ein unnützes
»Nichts« (nur weil der Mehrwert künstlich erzeugt wird, kann er überhaupt
Mehrwert sein. Anderenfalls verbliebe er ja gerade naturgegeben, gewöhnlich
und so nicht »Mehr-«). Der Mehrwert ist ein Nichts auch deswegen, weil er
nichts positiv in der Natur des Menschen Vorfindliches ist, sondern sich einzig
der Negation (Aufhebung) des Bloß-Natürlichen, dem sich innerhalb seiner von
ihm Abstoßen verdankt. Aber der Gewinnung dieses »Nichts« verdankt der
Mensch seine Menschwerdung. Näher ist dieser Mehrwert oder dieses Nichts
das Geistige: reine Logik als die logische Bewegung der Seele, als ganz abstrak­
te, aber lebendig-dynamische (flüssige) Trennungen-und-Vereinigungen von
Gegensätzen oder anderen Gedankenbestimmungen (z.B. oben - unten, diesseits
- jenseits, gleich - ungleich, Gegensatz - Einheit, heilig - profan, gut - böse, in­
nen - außen, Ursprung - Resultat usw.), die als ganz abstrakte sich selbst genü­
gen, d.h. von nichts abgeleitet sind und auf nichts außer ihnen hinweisen. Wenn
Jung von der »autonomen Psyche« spricht - dies ist die Wirklichkeit, worauf er
damit in Wahrheit hinweist.
Der »Mehrwert« stellt dabei jedoch nicht, wie der Name zu verstehen ge­
ben könnte, eine äußerlich-additive Erweiterung, einen Zusatz (Anbau oder
»Überbau«) dar, sondern erfolgt negativ in der Weise der Er-innerung als eine
interne (logische) Weitung, Öffnung, Selbstdifferenzierung, wie sie etwa auch in
dem Mythologem der Welteltemtrennung ausgedrückt ist und wie wir sie ebenso
als Lichtung des Schlafs zum Traum oder als die innere Verdoppelung und im­
manente Transzendierung der Zwei zum Quatemio gesehen haben. Letztere, und
mit ihr der durch sie gezeugte Mehrwert, verdankt sich der selber schon künstli­
chen (rein logischen und insofern »mehrwerthaften«, »überflüssigen«, »nichti­
gen«) Unterscheidung zwischen der Verbindung Gleichartiger (endogame) und
der Verbindung Ungleichartiger (exogame Tendenz), also der Erfindung der
Idee des Inzests als der Einheit von Inzestfaszination-und-Inzesttabu.
In der alten Welt dienten vor allem die diversen Rituale, die Opfer und
Bräuche in ihrer Kontinuität und periodischen Wiederholung der Erzeugung, Er­
haltung (das heißt nicht: Konservierung, sondern: in Bewegung Halten, flüssig
Halten) und der sinnlichen Darstellung der an sich ganz abstrakten und so abso­
lut einfachen, aber zugleich höchst komplexen, weil selbstwidersprüchlichen lo­
gischen Bewegung. Im Vollzug dieser Rituale, insbesondere in der Institution
der Initiation, brachte der archaische Mensch zugleich sich selbst und die Welt
logisch-wirklich, psychisch-reell in diese Logik hinein und auf die Höhe dieser
Logik und versuchte sich und die Welt in ihr, in dem logischen Leben der Seele,
in der Einfachheit dieser Bewegung zu halten (was sich z.B. darin spiegelt, daß
die heiligen Feuer fortwährend am Brennen gehalten werden mußten). Mit dem
Cusaner gesprochen: ad illam se eleverunt simplicitatem, ubi contradictoria
coincidunt, sie haben sich auf die Höhe (oder Tiefe, s’ist einerlei) jener Einfach­
heit gebracht, wo die Gegensätze ineinanderfallen.37 Das war die Gewinnung
des »Mehrwerts«, das Märchen würde mit Symbolen sagen: die Gewinnung von
Prinzessin, Goldschatz oder Lebenswasser, worin wir die Gewinnung seiner (des
Menschen) selbst und der Welt als göttliche, als nur innerhalb des Geistes und
der Seele wirkliche, sehen können.
Wir meinen uns und den »Mehrwert« nicht mehr selbst erzeugen zu müs­
sen. Wir haben die initiatische Weise des Inderweltseins längst hinter uns gelas­
sen. Dafür spüren wir jedoch einen fundamentalen, kaum erträglichen Mangel.
Um ihm abzuhelfen, umstellen wir uns mit Antiquitäten, mit den positiven Re­
likten früherer Selbsterzeugungsakte. Wir rennen zu Hunderttausenden in
Kunst- oder historische Ausstellungen. Wozu? Um den letzten Rest an logi­
schem Leben der Seele aus ihnen herauszuquetschen. Wir schmarotzen. Wir
brauen ein Ragout von andrer Schmaus und zehren von den von sämtlichen
früheren Zeiten, ganz gleich welcher, hergestellten Sinnressourcen. Wir nennen
es »Kultur« (wie in »Kulturhaus«, »Kultur im Zelt«, »Kultur unterm Turm«)
und ersetzen, was logisches Leben war, durch unsere Aktionen und unsere emo­
tionale Bewegung: die Vampirstufe des Bewußtseins.
Der Inzest, ganz gleich, ob er wie beim Pharao buchstäblich oder wie für
die Alchemisten der modernen Psychotherapie symbolisch-verinnerlicht ist, ist
und bleibt (wenn er denn wirklich Inzest ist, d.h. dessen innere Logik zur Wir­
kung bringt) Zwei und Vier zugleich, und der Heiratsquatemio ist und bleibt im­
mer logisch wirklicher (wenn auch nicht immer buchstäblicher) Inzest der Zwei.
Anstatt wie Jung zu sagen, daß die vier Puppen im russischen Märchen »Fürst
Daniel hat’s befohlen« ein magisch wirksames Simulacrum bildeten, das die
Umgehung des Inzestes ermöglicht, könnte man das Märchengeschehen auch so

37 Das Cusaner-Zitat nach C.G. Jung, GW 16 § 537 (von mir leicht verändert).
deuten, daß es einfach nur die innere Dynamik oder das Inbild, genauer: die Lo­
gik, des Inzestes selbst enthüllt, eben die innerhalb seiner erfolgende (logische)
Öffnung der Erde (»Erde tu dich auf«) als die Vertiefung von der gewöhnlichen
zu einer extramundanen Ebene zusammen mit der Entdeckung der Unterwelts­
braut als der logischen Tiefendimension der wirklichen Schwester selbst (nicht
einer völlig anderen Person). Das Wesen des wahren Inzestes ist ja, daß er keine
bloße »Bettgeschichte« und zwischenmenschliche Beziehung ist. Er hat also
das, was, wenn es wie in einer Erzählung empirisch vorgestellt wird, wie eine
Vermeidung seiner aussieht, innerhalb seiner selbst. Er ist in sich die Negation
oder Aufhebung seiner selbst, so daß er - sofern er wirklich Inzest im eigent­
lichen Sinn ist - nicht in der buchstäblichen Liebesaffäre der irdisch-menschli­
chen Personen aufgeht, sondern sich in sich selbst von sich selbst abstößt: näm­
lich von sich als buchstäblichem sexuellem Akt zu sich als Beziehung über die
kategoriale Grenze nach Drüben hinweg.
Der Archetyp des Quatemio ist so oder so immer erfüllt, er kommt, wenn
ich mich einmal so ausdrücken darf, immer auf seine Kosten, und nur für uns
Menschen macht es einen Unterschied, ob so oder so (ob z.B. in der Psychose
oder in der symbolischen Erfahrung oder in der wirklichen Logik der Zeit).
Wenn Jung über die soziale Urordnung sagt, sie stelle »einen Archetypus dar,
der den Gegensatz von Endogamie und Exogamie in glücklichster Weise einig­
te, indem sie zwar die Bruder-Schwesterehe verunmöglichte, dafür aber das
cross-cousin-marriage einsetzte«,38 dann würde ich dem entgegensetzen, daß das
cross-cousin-marriage nichts anderes als die archetypische (logische) und ledig­
lich im Medium der sozialen Wirklichkeit ausgelegte Bruder-Schwesterehe {zu­
sammen mit ihrer »jenseitigen Verdoppelung«) wirklich war, es war die gegen­
ständliche Darstellung, im Sozialleben, (speziell von der inneren Komplikation)
der endogamen Tendenz, nicht die Verunmöglichung der Endogamie; was in un­
seren modernen Augen und für ein äußerliches Sehen als der inzestuösen Bin­
dung entgegengesetzte Exogamie erscheint, ist urtümlich oder psychologisch
verstanden die Widerspiegelung der sich gerade nur innerhalb und kraft des
wirklichen Inzests ereignenden inneren (logischen) Vertiefung und Weitung
zum »Drüben«, der internen Selbstdifferenzierung des Menschen zu einem hie­
sigen und einem jenseitigen. Mit einem geometrischen Bild gesagt: Der dreidi­
mensionale, weil durch die Vertikale der Transgression von Hier nach Drüben
und die Horizontale der zwischenmenschlichen inzestuösen Beziehung ausge­
zeichnete Inzestquatemio wurde auf die horizontale Fläche der Sozietät proji­
ziert. Bei dieser Übersetzung ins rein Irdische ging zwangsläufig die eine, näm­
lich die vertikale Dimension verloren, aber paradoxerweise gerade so, daß eben
deswegen die Überkreuzung, die Transgression zu einem Jenseits, thematisch
werden und durch einen diesseitigen Ersatz oder eine diesseitige Entsprechung,

38 C.G. Jung, GW 16 § 443.


nämlich als empirisch-soziales Phänomen (»cross-cousin«-Beziehung über eine
Grenze zwischen »moieties« hinweg, Ero-gamie) betont dargestellt werden
mußte, während der »horizontale«, d.h. rein zwischenmenschliche Aspekt des
Quatemio, der Bmder-Schwester-Inzest, unterbelichtet bleiben konnte, insofern
ja dem Ausdruck der Menschlichkeit des ganzen Geschehens durch die irdisch­
menschliche »Ebene«, auf die der Quatemio projiziert wurde, längst eo ipso (ka-
tegorial) Genüge getan war.
So wenig wie der Idee von der Verunmöglichung des Inzests auf der so­
zialen Ebene kann ich Jung einfach darin zustimmen, daß der Inzest »in der er­
höhten Sphäre der Götter« seinen legitimen Platz habe.39 Auch dies bleibt nur
ganz äußerlich richtig. Das Bild des inzestuösen Hierosgamos der Götter ist in
seiner Wahrheit vielmehr die exakte Umkehrung oder das Gegenstück zum
cross-cousin-marriage, denn hier wird der »dreidimensionale« Inzestquatemio
aus der menschlich-irdischen Realität weg an die Fläche des »archetypischen«,
jenseitigen Himmels projiziert. Weil hier also die Jenseitigkeit oder Göttlichkeit
des Inzests »standardmäßig« ausgedrückt oder das Medium für das ganze Bezie­
hungsgeflecht ist, kann die explizite Darstellung der Transgression nach Drüben
als Inhalt entfallen, während die durch die Projektion auf die Götter-Ebene weg­
gefallene zwischenmenschliche Dimension thematisch werden, d.h. eigens als
Inhalt oder Motiv (Bruder-Schwesterinzest) sichtbar werden muß.
Jungs Rede von dem Inzest als Prärogative der Götter erweckt den An­
schein, als ob er den Unterschied zwischen Göttern und Menschen ontologisch
nähme und zwei Seinsregionen mit je unterschiedlichen »Spielregeln« ansetzte.
Für mich sind Götterinzest und cross-cousin-marriage dagegen nicht zwei ver­
schiedene reale Phänomene, die unterschiedlichen Seinsregionen (Reich der
Götter mit erlaubtem Inzest - Menschenwelt mit Inzestverbot) zugeordnet wä­
ren. Für mich ist der Unterschied einer der Darstellung von verschiedenen logi­
schen Aspekten des einen Sachverhalts Inzest, die jeweils hervorgehoben wer­
den oder unterbelichtet bleiben. Götterinzest wie cross-cousin-marriage sind so
die zur jeweils anderen komplementäre Abbreviatur oder das nach je einer ande­
ren Richtung zusammengeklappte und nach der entgegengesetzten Richtung ent­
faltete Bild von ein und demselben-, beide sind gleichermaßen »uneigentlich«,
Verbildlichungen, Projektionen, Darstellungen des Eigentlichen in zwei ver­
schiedenen Medien. Das »Eigentliche« ist etwas Logisches, das daher auch nur
gedacht, nicht eigentlich vorgestellt und angeschaut werden kann. Dargestellt
und vorgestellt ist es die komplexe, in sich widersprüchliche Bewegung zwi­
schen vier Partnern auf zwei kategorial getrennten Ebenen, das eine Mal so, daß
die irdisch-endogame Beziehung entfalteter Inhalt innerhalb einer rein extra­
mundanen Sphäre, das andere Mal so, daß die Grenzüberschreitung nach Drüben
entfalteter Inhalt innerhalb einer rein diesseitig verbleibenden Sphäre wird.
Im ersten Fall wird der abstrakt-schematisch als Rechteck aufgezeichnete
Quatemio horizontal kontrahiert oder zusammengeklappt (die menschliche Ebe­
ne geht in der göttlichen auf, die actores verkörpern jeweils als göttliche zu­
gleich auch den gleichgeschlechtigen irdisch-menschlichen Partner in Personal­
union), im zweiten vertikal aufgeteilt (es gibt zwei parallele Paarungen über eine
Grenze hinweg). Im Götterinzest wird durch den Zusammenfall der zwei Ebe­
nen die Vier scheinbar zur bloßen Zwei komprimiert - aber nur scheinbar: denn
in ihm kommen implizit immer noch die Vier vor; die beiden sind Bruder und
Schwester (das ist ihr diesseitig-menschlicher Aspekt) und Jenseitiger und Jen­
seitige, und der Gott vereinigt sich auch hier dem eigentlichen Sinn nach über
Kreuz mit seiner Schwester, nicht einfach mit der Göttin; er ist das Bild, in dem
gezeigt wird, was und wer die im Inzest vereinten menschlichen Partner in
Wahrheit sind und daß sie sich eben nicht als bloße Menschen vereinen, sondern
in der Seelentiefe und als Götter, anders gewendet, daß es die Götter in ihnen
sind, die sich im menschlichen Inzest in Wahrheit vereinen.
Im cross-cousin-marriage wird scheinbar der Inzest (die horizontale Be­
ziehung) vermieden - aber wieder nur scheinbar: denn in ihm sind die Paarun­
gen nicht wirklich, wie eben behauptet, einfach parallel, insofern sie ja auch zur
je anderen Seite hinüberkreuzen; das heißt, im cross-cousin-marriage heiratet
der Bruder von der Seele her betrachtet in der Kusine kraft der Überkreuzung
tatsächlich und eigentlich die Schwester, diese aber nicht in ihrer »diesseitigen«,
sondern in ihrer »jenseitigen« Gestalt (die Kusine ist also in Wahrheit die Reprä­
sentantin der Göttin / Geistin auf der empirisch-sozialen Ebene). Ist das cross-
cousin-marriage die gesellschaftlich gelebte »Exegese«, d.h. hier die konkrete
Aus-einander-legung (daher die scheinbare .Exogamie), dessen, was der Inzest
seinem geistigen Sinn nach gerade innerhalb seiner (»endogam«) ursprünglich
eröffnet (die immanente Differenz von menschlicher und jenseitiger Ebene), so
ist der Inzest der Götter (und entsprechend der des Pharao) das zusammengezo­
gene Symbol der zwei Ebenen des Heiratsquatemio. Und ist der Hierosgamos
der Götter die explizite Darstellung der irdisch-menschlichen Inzestbeziehung
innerhalb des Heiratsquatemio als einer a priori geheiligten, göttlichen Bezie­
hung, so ist das cross-cousin-marriage (also der äußerlich-sozial gemiedene
buchstäbliche Inzest) das zusammengezogene Symbol des Bruder-Schwesterin-
zests als eines eine kategoriale Grenze überschreitenden. Göttlicher Hierosga­
mos und menschliches cross-cousin-marriage in ihrer je umgekehrt verkürzten
und je umgekehrt entwickelten Ausgestaltung geben nur zusammen das voll­
ständige Bild der Wahrheit und Wirklichkeit (der Logik) des Heiratsquatemio.
Dieser selbst ist Archetyp - das heißt, er ist nicht selbst das geometrische
Schema (das Rechteck), wie wir es in der Schrift über die Psychologie der Über­
tragung aufgezeichnet finden, kein statisches Muster, keine Struktur, er ist nicht
entfaltet und nicht kontrahiert. Er ist nicht vorstellbar, nichts Sinnliches. Son­
dern er ist das zwar in sich widersprüchliche, in sich vibrierende, aber doch ein
einheitliches und unteilbares Ganzes darstellende logische Verhältnis gleichzei­
tig von Kontraktion und Entfaltung, Vereinigung und Trennung (Verbot),
Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit, diesseits und jenseits; er ist das »auf der
Stelle tretende«, mit einem Schlag (nicht nacheinander oder in verschiedenen
Hinsichten) erfolgende, das immer vollständige, immer erfüllte (immer auf dem
Weg befindliche und doch immer schon angekommene) Hin und Her zwischen
diesen Gedankenbestimmungen; er ist dieser in sich bewegte ausdehnungslose
»Punkt«, innerhalb von dem sich gleichwohl das ganze wirkliche Leben der
menschlichen Seele abspielt und innerhalb von dem wir unser Menschsein ha­
ben: weil beides nicht natürlich, sondern geistig ist. Erst bei seiner Darstellung
im Medium des Sinnlichen und der raumzeitlichen Wirklichkeit (z.B. in der Ge­
sellschaftsordnung, in der individuellen Erfahrung von obsedierenden In­
zestphantasien, in der mythologischen Vorstellung) zeigt sich dies atome Ganze
in zahllosen Spielarten je so und so verkürzt und so und so entfaltet. Aber ganz
gleich, ob und wie jeweils verkürzt und entfaltet, immer ist der Archetyp selbst
(für sich) ganz, immer erfüllt. -
Der Inzest hat nicht »in der Sphäre der Götter« seine legitime Anwen­
dungsmöglichkeit, sondern er ist die zeugerische Er-innerung des Menschen in
die Sphäre der Götter; oder er ist als endogame Verbindung die innere Zerfäl-
lung, innere Zerdehnung und Selbstdifferenzierung des »natürlichen Men­
schen«, innerhalb von welchem von der Mitte des natürlichen Menschen weg
zwei Pole oder Extreme auseinandertreten und im Auseinandertreten überhaupt
erstmals erzeugt werden, so daß der »natürliche Mensch« sich selbst in sich
selbst transzendiert. Diese interne, immanente Selbsttranszendierung erfolgt
gleichzeitig nach zwei Seiten. Nach »unten« entsteht das in sich gefestigte, sei­
ner Endlichkeit, Begrenztheit, Unzulänglichkeit, seines unentrinnbaren Soseins
und seiner »persönlichen Gleichung« bewußte Individuum - ich sage »nach un­
ten« deswegen, weil der »natürliche Mensch« viel höher steht, viel vollkomme­
ner ist; nach »oben« entsteht der Sol oder Rex der Alchemie, der Gott, die Gött­
lichkeit des Menschen. Beide entstehen nur in dem Maße, wie ihr Gegenstück
entsteht, und beide, obwohl durchaus Transzendierungen des »natürlichen
Menschen«, verbleiben doch einbehalten in und umfaßt von diesem, der sich
durchhält - ein total widersprüchliches Verhältnis.
Mit den üblichen Trennungen der Hinsichten, den Trennungen von buch­
stäblich und imaginal, göttlichem Inzest und menschlichem cross-cousin-
marriage, Verbot und Erfüllung; mit dem Verteilen der endogamen Tendenz auf
die eine ontologisch genommene Seite, die der Götter, und der exogamen Ten­
denz auf die andere Seite, die der menschlichen Gesellschaft, kommt man hier
nicht weiter. Damit würde nicht nur der Sozialordnung und dem Mythos archai­
scher Kulturen eine sie verzerrende interpretatio modema übergestülpt, sondern
auch genau das, was Inzest und Übertragung eigentlich bringen und bedeuten:
die Spagirik (Trennung-und-Vereinigung) oder Dialektik, vermieden, nämlich
das Widersprüchliche, »Illegitime«, »Unsaubere« a) des Vermischens oder der
Einheit beider Seiten, b) der erstmaligen Trennung der menschlichen und göttli­
chen Ebenen (ihres Auseinandertretens) im Augenblick der endogamen Verbin­
dung und c) der Gleichzeitigkeit von Auseinandertreten und Vermischen. Das
Festhalten an den Trennungen ermöglicht dadurch auch das psychologistische
Beharren auf der »Persönlichkeit« und ihrer Selbstentwicklung zur Ganzheit,
d.h. das projektive in die Persönlichkeit Hineinbannen dessen, was eigentlich
unvereinnahmt, frei waltend, sich selbst genügend, aber uns ergreifend, flüssiges
logisches Leben sein will. Durch dieses Hineinbannen verhindert es die Erzeu­
gung der sakramentalen Logik des Inderweltseins. Es dient so der Beförderung
und Festhaltung der neurotisch dissoziierten Logik der modernen Welt und da­
mit nicht überhaupt keinem, sondern einem ganz anderen seelischen Bedürfnis
als dem der endogamen Verbindung, dem Bedürfnis der transzendenten Funk­
tion nach der Überwindung einer ganzen Stufe des Bewußtseins (bzw. des Welt­
begegnungszusammenhangs) .
Auch Jungs Übertragungsbegriff ist von der unsauberen Vermischung ge­
kennzeichnet. Mancher Leser seiner Schrift über die Psychologie der Übertra­
gung mag sich bei der Lektüre gefragt haben, wovon Jung nun eigentlich rede:
von der persönlichen Beziehung zwischen einem Ich und einem Du oder von ei­
nem autonomen Prozeß (Individuationsprozeß). Aber diese sich einer richtigen
Wahrnehmung verdankende Frage stellt sich nur einem unter der Reinheitsfor­
derung der formalen Logik, d.h. unter dem Geheiß zur sauberen Trennung bei­
der Seiten, stehenden Bewußtsein. In Wahrheit jedoch ist die Übertragung von
Jung gedacht als der autonome Prozeß der Seele, der nicht abgehobener autono­
mer Prozeß ist, sondern sich innerhalb der Beziehung zwischen einem wirkli­
chen Ich und einem wirklichen Du vollzieht und in dieser Beziehung gründet.
Oder sie ist gedacht als die Beziehung zwischen zwei Menschen, die nicht in der
personalen Beziehung (subjektive Gefühle füreinander) aufgeht, sondern aus
sich heraus den »autonomen Prozeß« gebiert und auf ihn abzielt, insofern sie ei­
ne Verbindung der Seelen in der Tiefe ist oder, wie Jung sagt, eine, die auf
»gemeinsamer Unbewußtheit« beruht.40
Statt draußen, an der Symbolik, die erwähnten Trennungen der Hinsichten
vorzunehmen, um der Widersprüchlichkeit und Dialektik des logischen Lebens
der Seele zu entgehen und die Einhelligkeit des Bewußtseins mit sich zu bewah­
ren, müssen wir vielmehr eine andere schmerzliche Trennung oder Unterschei­
dung, die sich uns aufgedrängt hat, ins Bewußtsein aufnehmen und aushalten -
schmerzlich deswegen, weil sie den Abgrund, der zwischen uns und dem sym­
pathetischen Weltverhältnis liegt, nicht überbrückt, sondern ihn uns unerbittlich
zumutet. Wenn wir uns genötigt sehen, zwei jeweils unverzichtbare und doch
gegensätzliche Anliegen oder Projekte der Seele, ich benenne sie coniunctio
40 C.G. Jung, GW 16 § 364, ähnlich § 367. Vgl. auch § 399 (»Die seelische Induktion bringt es mit
sich, daß beide von der Wandlung des Dritten ergriffen und gewandelt werden...«).
(oder Inzest oder Initiation) einerseits und Syzygie im engeren Sinn (oder trans­
zendente Funktion) andererseits, zu unterscheiden, dann fällt die Trennung nicht
zwischen unsere Hinsichten bezüglich der »Substanz«, sondern in diese, in die
Seele, selbst. Indem sie in die Substanz fällt, bekommt das Bewußtsein die mit
diesen (entgegengesetzten und uns doch gleichzeitig aufgegebenen) Aufgaben
gegebene Widersprüchlichkeit in voller Wucht ab. Es muß das Auseinanderbre­
chen der Einheit der Seele in die Zweiheit ertragen.
Innerhalb ihrer als Syzygie (im weiteren Sinn) ist die Seele unter der Ägi­
de der Anima bestrebt,41 die coniunctio der Gegensätze zu erwirken, aber gera­
de nicht nur als die harmlose Verbindung von Sol und Luna, sondern auch als
die »illegitime«, inzestuöse Vereinigung von Mensch und Gott, als die grenzver­
letzende Beziehung von hier nach drüben. Hier geht es um die initiatische
Transgression, um das Vorlaufen in die »Vollendung« (die telete) oder in die fi-
liatio, die Gotteskindschaft, das Werden zu Gottessöhnen, im Sinn des »Ihr seid
Götter« (Joh. 10, 34 nach Ps. 82, 6); um die Gewinnung eines jenseitigen Schat­
zes, des Lebenswassers, der »Geisterbraut« und um deren Erlösung und Inkarna­
tion in der Lebenswirklichkeit; es geht um die immer neu zu vollziehende
Schöpfung der Welt durch den Menschen-, mehr vordergründig ausgedrückt um
das, was Jung etwas vorsichtig und harmlos auch »Urerfahrung machen« ge­
nannt hat; therapeutisch um die Übertragung zwischen Patient und Analytiker in
dem Sinn von Übertragung, wie er in Jungs Arbeit über das alchemistische Ro­
sarium Philosophorum zum Tragen kommt, und philosophisch um die Herstel­
lung und periodisch zu vollziehende Erneuerung der Idealrealität und Realideali­
tät - kurz des sympathetischen Weltzustands, der sakramentalischen Verfaßtheit
der Wirklichkeit. Es geht um das, was Jung das »symbolische Leben« genannt
hat, um die erste Bedeutung von »Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes
ewige Unterhaltung«, die wir in dem Kapitel über »Die Seele als Schwarzer Ka­
sten oder Goldgrund« unterschieden haben, nämlich diejenige, die sich als das
syzygische Spiel der Seele mit ihr selbst vor dem »Goldgrand«, wie er in mittel­
alterlichen Gemälden gezeigt wurde, oder besser noch im »Mythos« abspielt, al­
so ganz einbehalten in sie selbst (insofern Goldgrund und Mythos die Selbstdar-
steÜung der Seele als sie selbst sind). Hier ist man in einer Sphäre, wo das syzy­
gische Spiel der Seele in der Gestalt der rituellen Traditionen relativ unverändert
ewig so weitergehen könnte (vgl. die außerordentliche Konstanz der Rituale in
den rituellen Kulturen über Jahrhunderte und Jahrtausende) und wo die Archety­
pen »alterslos und immer gegenwärtig«42 sind. Wir dürfen hier auch an die The­
matik der »zweiten Lebenshälfte«, wie wir sie gedeutet haben, erinnern.
41 Wenn ich von einem »Bestreben« der Seele spreche, so ist dies nicht zu verwechseln mit (perso-
nalistisch zu verstehenden) Wünschen (hier nach Verschmelzung) oder Allmachtsphantasien. Es
sind Bestrebungen der Seele und daher von uns aus gesehen »objektive« Tendenzen, Ereignisse,
den Menschen mitunter sogar überfallende machtvolle Wirklichkeiten.
42 C.G. Jung, Briefe Bd. III, S. 130, 15.X.1957, an John Trinick.
»Quer«43 dazu steht die vom Animus innerhalb der Syzygie gebrachte Be­
wegung der transzendenten Funktion. Auch hier geht es um eine Vereinigung,
eine Vereinigung wahrhafter Gegensätze, in die die Bewußtseinswelt durch die
Auswanderung der Seele zerfallen ist. Auch dies verlangt einen Transport, aber
nicht als Grenzüberschreitung von hier nach dort, sondern als Transport (an der­
selben Stelle) von obsolet gewordener Bewußtseinsstufe zu neuer Bewußtseins­
stufe, von logischem Status zu logischem Status. Es geht um das Erringen der
Syzygie im Sinn der Syzygie-Stufe des Bewußtseins. Damit geht es dann auch
grundsätzlich um ein Bewußtsein von so etwas wie logischer Form, von der
Form, in der »Welt«, in der aber auch die initiatische Erfahrung, alle Erfahrung
archetypischer Gehalte, sich je ereignet. Während für die Anima das Inhaltliche
der Erfahrung (die Gehalte) das einzig Wichtige ist, geht es hier mit der Form
um das »Behältnis« oder »Haus«, um so etwas wie das geistige Medium oder
Element der inhaltlichen Erfahrung: um die Bewußtseinsproblematik. Dies ist
die zweite Bedeutung der »Gestaltung, Umgestaltung«, nämlich Umgestaltung
als der Fortschritt der Seele von ihrer Selbstdarstellung als Mythos und Gold­
grund über die als alchemistisches Vas zu der als Schwarzer Kasten. Und es ist
die »Aufgabe der ersten Lebenshälfte« im Sinn unserer früheren Ausführungen.
Das Anliegen der Syzygie selber ist es, sich selbst durchsichtig zu werden. Die
Seele soll sich selbst wie auch alle Wirklichkeit im Medium des Geistes, als
Geist, als geistig erfahren. Während es das Anliegen der Anima mit der con-
iunctio ist, Sinn zu erfahren, durch Sinngehalte erfüllt zu werden und die Gottes­
kindschaft zu erlangen, ist das Ziel des Animus mit der Syzygie die Verwand­
lung des Bewußtseins als der Form jeglicher Erfahrung, auch der Form der Er­
fahrung von Sinn und Göttlichkeit (Form heißt auch: »Behältnis«, »Haus«).
Ich habe betont, daß der mann-weibliche Gegensatz, in dem sich die Sy­
zygie vornehmlich ausdrückt, nicht als Aussage über die Männer und die Frauen
und ihr Verhalten zueinander verstanden werden dürfe, daß vielmehr dann,
wenn die Seele das eine ihrer Projekte verfolgt, sie sich z.B. als vom Räuber
oder Mörder bedrohtes Mädchen darstellt, während dann, wenn sie ein anderes
Anliegen hat, sie sich z.B. als den Mann (den Fischer) in die Tiefe verführende
Nixe imaginiert. Heino Gehrts, der aus Anlaß eines Seminars über Entrückungs­
märchen das Material zu »Jenseitsehen« gesammelt hat, mußte feststellen: »Tote
und Jenseitswesen sind immer die Frauen, der Mann immer der Hiesige.«44 So
ist es ja auch noch literarisch bei Fischer und Nixe, Faust und Helena. Dem ste­
hen nun aber die Geschichten von männlichem Blaubart, dem Tod als Gatten
und dem Dämongeliebten gegenüber. Warum sind die Jenseitswesen im einen

43 »Quer« ist als räumlicher Ausdruck ein nur cum grano salis zu genießendes Bild. In Wahrheit
geht es gerade nicht um eine räumliche Bewegung, sondern um die Bewegung aus allem noch als
räumlich Vorstellbaren hinaus in die »Räume« der nur noch zu denkenden logischen Bewegung,
in die »Bewußtheit«.
44 Briefliche Mitteilung vom 2. Juli 1992.
Fall immer Frauen, im anderen Fall immer Männer? Wamm kommt das Umge­
kehrte nicht vor? Wir können jetzt, nach dem Durchgang durch die Anima-/Ani-
mus-Thematik, das, was eingangs nur behauptet wurde, mit einem am Material
erarbeiteten Wissen aussprechen, daß nämlich diese Differenz, weit entfernt da­
von, über die unterschiedliche Natur der Männer (gewalttätig) und der Frauen
(verführend, anziehend) zu sprechen, die grundlegende Differenz der beiden
Projekte der Seele ausdrückt: erstere Erzählungen handeln von initiatischer
Transgression und coniunctio innerhalb der Animasphäre, letztere gehören in die
Animusthematik des syzygischen Bewußtseins hinein. Beide Anliegen werden
freilich von der Syzygie im weiteren Sinn als der doppeldeutigen »Gestaltung,
Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung« umfaßt (wodurch sich
die Syzygie zeigt, als Zusammengespanntsein der zwei Gegensätze in Wahrheit
in ihr selbst zugleich a) als coniunctio- oder Inzestproblematik zur Vierheit, zum
Quatemio verdoppelt zu sein und b) als Bewußtseins- oder Animusthematik tri-
nitarischen Charakter zu haben, was uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird).
Nur wo und in dem Maße wie Männer und Frauen mit den archetypischen
männlichen und weiblichen Bildern identifiziert sind, ist dann auch ihre Natur
entsprechend. Aber diese Natur ist dann nicht die biologische Natur der Gene,
sondern die seelische und kultürliche Natur der Bilder.
Das Anliegen der Syzygie, sich selbst in ihrer Geistigkeit und das heißt
Negativität (Behältnis-Charakter) durchsichtig zu werden, ist nämlich zugleich
das Anliegen des Animus innerhalb der Syzygie. Er hält das unmittelbare Vor­
laufen in die Urerfahmng oder Sinnerfahrung auf. Wir haben das im Blaubart-
Märchen und im Räuberbräutigam-Märchen gesehen: anstatt in der Initiations­
hütte im Wald die »Urerfahrung« durch die schamanische Zerstückelung zu
durchleben, wird das Mädchen durch den Animus in eine Gegenstellung zur In­
itiation gebracht. Der Animus, anstatt wie die Anima auch die Beziehungsfunk­
tion zum »Unbewußten« (gemeint ist: nach »drüben«, zum Geisterreich, zu den
Göttern) zu sein, verhindert die Transgression nach Drüben. Er hält im Herüben
fest. Er zwingt, vor der Initiation zurückzuschrecken, er lehrt, ihr gegenüber an-
sichzuhalten, sich aufzusparen, und wirft die Anima auf sich selbst zurück, wo­
durch die Reflexion und das Ich entstehen. Er wird geboren als die aufgehalte­
ne, gehemmte Initiation, als die aufgesparte Vor-läufigkeit in die Sinnerfah­
rung. Der Animus oder die (vom Animus her erfahrene) Syzygie als transzen­
dente Funktion ist so nicht etwas völlig Verschiedenes von der coniunctio, son­
dern beide sind das Selbe in verschiedenen »Medien«. Die transzendente Funk­
tion ist gleichsam die in die Zeit als Geschichte ausgelegte coniunctio selbst. Sie
ist im dialektischen Sinn des Wortes die Aufhebung des Initiatischen, die Aufhe­
bung der Anima-Stufe: sie verhindert, daß sich die Seele, wie es natürlich für sie
wäre, in das Drüben ergießt, sich für es »verströmt« und »verausgabt« und sich
in ihm erfüllt; aber der Animus als transzendente Funktion verhindert nicht nur,
sondern bewahrt auch die Dynamik der Initiation. Er nutzt jedoch ihre transgres-
sive Kraft anders, nicht als Grenzüberschreitung über eine kategoriale Grenze
hinweg, sondern als »Fortschritt« im Diesseits, zu neuen Stufen des Bewußt­
seins. Die »Transgression« (nach Drüben) auf der Anima-Stufe und die »Trans­
zendenz« (zu einer neuen logischen Stufe) auf der Animus-Stufe sind derselbe
Vorgang, dem jeweils nur eine andere Richtung gegeben wird. Indem der Ani­
mus die Bewegung bei sich und in sich behält, zwingt er sie, sich intensional: als
alchemistische Steigerung, sublimatio, destillatio auszuwirken und das Bewußt­
sein selber - nicht positiv-inhaltlich, durch Zugang zu neuen Gegenständen und
Wirklichkeitsbereichen, sondern - in ihm selbst, in seiner logischen Verfaßtheit
zu verwandeln, im Sinn von Bedeutungsfortbestimmung und -fortzeugung.
Auf der Stufe der Syzygie kann die Form, in der die coniunctio im enge­
ren Sinn oder die Urerfahrung erfahren wird, nicht mehr das einfache »Erleben«
sein. Die »Psychologie« als die Blickrichtung auf das persönliche Innere steht
immer schon auf verlorenem Posten. Sie ist ein atavistisches Unterfangen, eine
Totgeburt. Das heutige Problem ist das der logischen Form. Jung wollte mit sei­
ner Bemerkung über die subjektive Einmischung Faust sozusagen noch einmal
»zurückpfeifen«: zurück zur »mythologischen« Ebene des Erlebens, zur mittel-
alterlich-alchemistischen Verfassung des Bewußtseins - im Widerspruch zu sei­
ner eigenen anderweitig ausgesprochenen Einsicht, daß es kein Zurück für uns
gibt, daß vielmehr »unsere Kulturformen samt ihren historischen Dominanten«
»zerbrochen« und »ausgehöhlt« sind. »Wir haben keine Leitbilder mehr, sie lie­
gen in der Zukunft.«45 Die an sich ewigen Urbilder können »nur in neuer Gestalt
... aufs neue begriffen werden. Immer erfordern sie neue Deutung...«. »Haben
sich die Konfessionen dieser säkularen Veränderung angepaßt? Ihre Wahrheit
darf sich zwar, mit ungeahntem Recht, ewig nennen, aber ihr zeitliches Gewand
hat den Zoll der Vergänglichkeit zu entrichten: es sollte der seelischen Verände­
rung Rechnung tragen.« »Wo sind die Antworten auf die seelischen Nöte und
Bedrängnisse einer neuen Zeit? Wo überhaupt das Wissen um die seelische Pro­
blematik, welche die Entwicklung des modernen Bewußtseins aufgeworfen
hat?«46
Bei der Zukunft, in der unsere Leitbilder liegen, wird es also nicht um in­
haltlich neue Leitbilder gehen. Die Suche nach neuen (oder wiederbelebten al­
ten) Symbolen, Sinngebungen, Werten, Idealen, Glaubenslehren, Weltanschau­
ungen hält gerade am alten Bewußtsein, d.h. an der alten logischen Form von
Bewußtsein, fest. Doch das kann gerade nicht mehr wiederkehren: eine Wahr­
heit, die die gegenständliche Form des Symbols oder eines Glaubens, also eines
Inhalts oder eines Was hätte. Auch die Aufstellung neuer ethischer Forderungen
ist die Abwehr der Zukunft. Ethische Forderungen und die Anstrengung, sie zu
erfüllen, sind der bequeme Weg, wie man sich um das Eigentliche drücken und

45 C.G. Jung, Briefe Bd. III, S. 336. An Herbert Read, 2.IX.60. Meine Hervorhebungen.
46 C.G. Jung, GW 16 § 396.
sich dazu noch wer weiß wie edel und rechtschaffen Vorkommen kann. Was ist
das Eigentliche? Es ist, noch einmal sei es betont, den Tod als altes Bewußtsein
zu sterben. Forderungen dienen aber nur dazu, das alte Bewußtsein zu stabilisie­
ren, und zwar dadurch, daß die durch es gebrachten Widersprüche mit Gewalt,
vom grünen Tisch herab, wegkommandiert werden. Mit dem Zusammenbruch
der Kommandowirtschaften der Ostblockländer hat sich das Bewußtsein eigent­
lich längst die Obsoletheit der ganzen Logik ethischer und idealistischer Forde­
rungen unwiderruflich vor Augen geführt, was freilich nicht jedermann hindern
muß, trotzdem in ihr zu verharren und auf neuen Forderungen zu bestehen.
Das, was einst völlig legitim als rituelle Handlungen, visionär-bildhaftes
Erleben, Symbole und Mythen oder auch als alchemistisches Mysterium vollzo­
gen und erfahren wurde, ist in ganz neuer logischer Form, nämlich innerhalb
von Bewußt-Sein und als logische Bewegung zu begreifen und darzuleben. Wie
hatte Jung gesagt? »Ich brauche eine Situation, wo das Ganze noch einmal wahr
wird. Ich brauche eine neue Form.« Das ist gleichermaßen die Absage an das
konservativ-nostalgische Zurück im Sinn einer Wiederbelebung alter (fossiler)
Wahrheiten wie an das revolutionär-aufklärerische Fortschrittsdenken oder an
jegliche Utopie. Es ist das Verlangen der Seele nach einer ganz neuen Situation,
in der das der Anima-Stufe Entsprechende oder die zeitlose Wahrheit in der un­
serer Zeit entsprechenden Form wahr werden kann. Das kann aber nur sein,
wenn das Bewußtsein aus der Schwarzer-Kasten-Situation herauskommt. Es
kann jedoch - entgegen allen »emanzipatorischen« Adoleszententräumen - nur
herauskommen, indem es, als bisheriges Bewußtsein untergehend, in den
Schwarzen Kasten einkehrt, in ihn erinnert wird, um in seiner Abgründigkeit ge­
gründet zu werden. In diesem Kasten steckt nämlich die ganze alte Animawelt -
aber (eben weil sie darin verschlossen wurde und damit ihre natürliche Unmit­
telbarkeit unwiderruflich aufgehoben ist) nicht mehr in ihrer alten Form, son­
dern so, daß dann, wenn das Bewußtsein sich in den Kasten hineinbegäbe, die
Animawelt logisch wiedergewonnen wäre auf der nach-natürlichen Ebene von
Bewußt-Sein oder auf der Stufe der Syzygie.
In die Zukunft gelangen wir also nicht direkt, nicht durch den Gang weg
von der Gegenwart nach vorne. Aber auch nicht umgekehrt durch den nostalgi­
schen Blick zurück in die Vergangenheit oder in das eigene Innere, nicht durch
Festhalten oder Wiederbelebung (Renaissance). Sondern wir gelangen in die le­
bendige Zukunft entsprechend der Widersprüchlichkeit, Negativität und Inten-
sionalität des Geistes einzig dadurch, daß wir rückhaltlos in das, wovon wir mei­
nen wegstreben zu müssen, abstürzen. Doch steckt in diesem Satz kein Sollen,
die Rückhaltlosigkeit des Absturzes ist keine Leistung. Wir müssen dazu, den
Tod als altes Bewußtsein zu sterben, nichts tun, überhaupt nichts. Wir müssen
nur begreifen, immer tiefer und in allen Einzelheiten, daß wir und unsere ganze
Welt schon längst in dem kleinen Schwarzen Kasten drinstecken, gerade dann,
wo wir noch meinen, draußen zu sein und niemals in ihn als in ein zwar inner­
weltlich seiendes, aber gleichwohl mysteriöses Etwas hineinblicken zu können.
Das Begreifen erfordert zwar die Anstrengung des Begriffs. Aber auch diese
Anstrengung ist in erster Linie keine subjektive. Das wahre Begreifen wird uns
durch den objektiven Gang der Geschichte angetan, ganz gleich ob wir wollen
oder nicht. Wir sind seine Opfer. Es wird uns dadurch mehr und mehr ins
Fleisch eingeschrieben, daß wir und unsere Welt in den objektiven Veränderun­
gen des gesellschaftlichen Lebens und der Umwelt von der Schwärze des
Schwarzen Kasten begriffen werden und an diesem Begriffenwerden reell den
Tod als altes Bewußtsein sterben.
Bei der Transgression der Seele unter der Ägide der Anima handelt es
sich um eine eindeutige Grenzüberschreitung vorwärts von hier nach drüben
(und dann wieder zurück). Der Transport oder die Transzendenz von Stufe zu
Stufe im Sinn des Animus dagegen vollzieht sich, wie wir gesehen haben, kei­
neswegs durch einen Schritt nach vome. Im Gegenteil, sein »Fortschritt« voll­
zieht sich gemäß der Dialektik des Animus nur durch den Schritt zurück. Oder
eigentlich gar nicht durch einen aktiven Schritt, der irgendwie noch heroische
Leistung bliebe, sondern dadurch, daß das der Anima-Stufe verhaftete Bewußt­
sein absolut negativ in seinen/ihren Grund (und so buchstäblich zugrunde) geht,
dadurch also, daß es tiefer in sich, in sie er-innert wird und in seine, ihre Wahr­
heit abstürzt, als das unwahre stirbt - so wie in der Alchemie die Steigerung nur
durch Leiden (durch die Zerkleinerung, Pulverisierung, Schindung, das Wegät­
zen und Wegbrennen, die Destillation und Sublimation dessen, was die Steige­
rung erfahren soll) erfolgen kann. Nur im Zugrundegehen, nur im negativen Er­
innertwerden in ein Begreifen seines schon längst Hintergangenseins von der
Liebe, von dem Schwarzen Kasten, von der Syzygie, kommt es ein wenig mehr
auf die Höhe dessen, wovon es hintergangen ist, und erringt es die neue, »höhe­
re« Stufe. Im Sterben als das alte Bewußtsein liegt schon seine Auferstehung als
nunmehr in einem neuen logischen Status stehendes Bewußtsein.
Jung hat in seinem Begriff der Individuation und des Individuationspro­
zesses die beiden differenten Anliegen coniunctio und Syzygie nicht ausdrück­
lich auseinandergehalten. Er weiß zwar um beide, redet aber meist so, als ob sie
ein und dieselbe »Gestaltung, Umgestaltung« wären. Natürlich gehören beide
auch in der »Individuation« unlösbar zusammen, aber doch so, daß sie auch ent­
schieden getrennt werden müssen. Weil die Trennung von Jung nicht deutlich
gemacht wurde, kann der Eindruck entstehen, als ob Jung rückwärtsgewandt sei,
ein bloßer »Mythenschwärmer«. Und es kann bei oberflächlicher Jung-Lektüre
der Eindruck entstehen, als ob die Individuation einfach auf konventionellem in­
dividualpsychologischem Weg durch Introspektion und Betrachtung der Bilder
zu erreichen wäre. Ein verhängnisvoller Irrtum. In der Alchemie dagegen sind
beide Anliegen der Seele als getrennte und doch füreinander unerläßliche sicht­
bar: die Alchemie strebt die coniunctio an, aber weil sie auch ein Wissen um je
ganz neue Stufen des Werkes hat, muß die coniunctio auf jeder Stufe neu erfol­
gen. Das Problem der Alchemie ist nur, daß sie sogar ihr doch inhaltlich weit
über die Anima-Stufe hinausführendes Wissen um die (man kann fast schon sa­
gen:) logischen Stufen, also um die transzendente Funktion und damit um die
Problematik der logischen Form, gleichwohl immer noch ganz in einer anima­
haften »Sprache« ausdrückte und so die inhaltliche Erkenntnis des Projekts der
Seele als Animus der Form nach in seinem Gegenteil, der Anima-Stufe, nieder­
hielt und gefangenhielt - ein Ungenügen, das sicher der Grund für ihren Unter­
gang war: So ist sie auch in der Geschichte buchstäblich selbst den Tod als altes
Bewußtsein gestorben.
Dadurch daß sie dem Animus-Anliegen keinen angemessenen Ausdruck
verleihen konnte, hat sie gerade auch ihrem eigentlichen Anima-Anliegen der
coniunctio und der Herstellung des Inkorruptiblen den Boden entzogen. Genau
dasselbe tut man heute wieder, wenn man direkt die Individuation anstrebt. Die
Lehre, die aus dem hier Herausgearbeiteten gezogen werden kann, ist die, daß
der Weg zur Anima (und damit zu coniunctio, Initiation und sympathetischem
Weltverhältnis) von der Anima wegführt und daß das Ziel dieses Weges nur
über den Weg des Animus und dessen Konzentration auf die Gewinnung der
dem modernen Bewußtsein gemäßen logischen Form zu erreichen ist. Die Ani­
mus-Psychologie hat also keineswegs den Sinn, das Verlangen der Seele als
Anima zu verdrängen, um den Animus an deren Stelle zu setzen. Es geht über­
haupt nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Es geht vielmehr um
die Einsicht, daß dank der syzygischen Verschränkung von Animus und Anima
das Verlangen der einen gerade nur über die Leistung des anderen zu erfüllen
ist. Der Animus ist der Psychopompos in das Animaland, weil er der Psycho-
pompos in den logischen Status des Bewußtseins ist, der unserem längst wirkli­
chen Weltumgang entspricht.
Die transzendente Funktion, die nicht transzendiert. Oder: Das un­
endliche Streben nach dem Ziel als die Weigerung, es zu erreichen. Die Al­
chemisten klagten wieder und wieder über die stete Fluchtbereitschaft des »fu­
gax ille Mercurius«. Die Alchemie hat auch in der Tat ihr eigenes Ziel, die Her­
stellung des Inkorruptiblen, des Goldes, der Quintessenz, nicht erreicht. So sieht
es jedenfalls Jung. Und Jung wußte auch: die Bilder der Alchemie blieben und
die ihnen entsprechenden der modernen Psychotherapie bleiben in ihnen selbst
letztlich nur »Antizipationen einer im Prinzip nur annähernd erreichbaren Ganz­
heit. Sie sind auch durchaus nicht immer als subliminale Bereitschaft zu einer
nachfolgenden bewußten Verwirklichung der Ganzheit zu verstehen, sondern
vielmehr bedeuten sie oft nur eine Kompensation vorübergehender Natur für
chaotisches Durcheinander und für Mangel an Orientierung.«47 Mögen sie auch
ihrem Symbolgehalt nach das Höchste ausdrücken, so haben sie, überspitzt ge­
sagt, in der Wirklichkeit doch nichts weiter zu bedeuten. Sie sind nicht mehr als
eine Art momentaner Lückenbüßer, eine Beruhigungspille, ein Stärkungsmittel.
Warum das prinzipielle Versagen von Psychotherapie und Alchemie (was
das höchste Ziel anlangt)? Warum mußten die Alchemisten so beharrlich über
die Flüchtigkeit des Mercurius klagen? Ich glaube, dies liegt nicht in der Sache
(in der Seele) selbst begründet, nicht in einer tatsächlich so großen Fluchtbereit­
schaft der merkurialen Substanz, sondern ist ein geschichtliches Phänomen. Es
liegt daran, daß die Alchemie ins Mittelalter, also eine auf die ungebrochene
Anima-Stufe folgende, von ihr unerbittlich geschiedene Zeit, gehört, aber ihr
Projekt mit den logischen Mitteln der Anima-Stufe konzipiert. Weil die Zeit
schon für die Alchemisten eine andere geworden war (und erst recht für uns eine
andere ist), hätte das alte Ziel als ein ganz anderes gesucht und gefunden werden
müssen. Erfüllung für sie (und Erfüllung heute) hätte in etwas anderem als wäh­
rend früherer Kulturstufen liegen müssen.
In dem Wahmehmen der Flüchtigkeit des Mercurius seinerzeit ebenso wie
in dem der Unerreichbarkeit des Ziels des Individuationsprozesses heute wird
ein in den Ansatz von Alchemie und Psychotherapie eingebauter Fehler wahrge­
nommen, nicht einfach ein Aspekt der Wirklichkeit der Seele selbst. Denn in
den rituellen Kulturen wurde eine dem flüchtigen Mercurius der Alchemie ver­
gleichbare Not nicht erfahren; in den Initiationsritualen wurde vielmehr das Ziel
des seelischen opus wirklich erreicht; das Äquivalent des alchemistischen See­
lenkindes, nämlich das sympathetische Weltverhältnis, wurde offenbar über
Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg erfolgreich gewonnen und erhalten. Es
bedurfte hier, auf der Anima-Stufe, auch keineswegs, wie Jung für die christli­
chen Symbole in unsere Zeit sagt, der immer neuen Deutung, weil die Urbilder
nur in neuer Gestalt aufs neue begriffen werden könnten und die zunehmende
Altertümlichkeit ihres Begriffes sie ihrer Bannkraft beraubt hätte.48 in den Ur-
kulturen erwiesen sich die Rituale von größter Konstanz. Der große Konservati­
vismus hinsichtlich der Formen der Rituale und Symbole steigerte hier gerade
ihre Wirkkraft, weil ihr (Ur-) Alter ihre Wahrheit mit gewährleistete.
Mit dem Bruch zur Animus-Stufe jedoch änderte sich dies. Weil mit die­
sem Bruch ein Ganzes, nämlich eben dieses Weltverhältnis, auseinandergebro­
chen war, gab es jetzt auch zwei nebeneinanderherlaufende, jeweils ungenügen­
de, Möglichkeiten, a) den offiziellen, dogmatischen Weg und b) den Weg der in­
dividuellen Symbolbildung. Auf beiden Wegen konnte das Ziel jedoch nicht er­
reicht werden, weil beide jeweils nur die abgespaltene Hälfte eines Ganzen wa­
ren: Die Wahrheit des Menschen war in zwei auseinandergefallen und so selber
unwahr geworden.
a) Die dogmatisch formulierten Grundwahrheiten der christlichen Kirche
(wie mutatis mutandis die exotischer Religionen) drückten zwar die Natur der

48 C.G. Jung, GW 16 § 396.


inneren Erfahrung in fast vollkommener Weise aus.49 Aber sie verhalfen so im
Grunde nur dazu, die Seele ruhigzustellen: sie boten »nolens volens der inneren
Aufgelöstheit ein äußeres Gefäß an, .... ohne damit die innere disiunctio in eine
coniunctio wirklich zu wandeln« .50 Sie lieferten den »Mehrwert«, durch den der
Mensch Mensch wird, also nur von außen an, gleichsam als ein Fertiggericht,
das im Glauben unbesehen sozusagen hinuntergeschluckt werden soll, so daß
der Mensch der Aufgabe der wirklichen (initiatischen oder rituellen) Herstel­
lung jenes Mehrwerts enthoben und so entlastet war. Der Mehrwert ist aber nur
wirklich, wenn er immer neu ursprünglich erzeugt wird. Als »Fertiggericht« ist
er schon etwas »positiv« Vorhandenes. Dadurch ist er aber gar nicht mehr
Mehrwert, sondern gerade etwas in dem Status des natürlich Gegebenen Stehen­
des, und so ist er auch nur noch scheinbar, nicht mehr wirklich das »Überflüssi­
ge«, das die Negativität des logischen Lebens der Seele auszudrücken und ihr
Genüge zu tun vermocht hätte, sondern er ist das Überflüssige in dem ganz an­
deren gewöhnlichen Sinn: das Belanglose als das für ein weltliches Denken nur
noch absurde Dogma.
b) Da, wo es wie in der Alchemie, wie bei Faust, aber auch bei vielen psy­
chischen Störungen und in der Psychotherapie heute um die authentische indivi­
duelle Erzeugung des »Mehrwertes« geht, »verpufft« das Seelenkind, wie man
bei Faust sehen konnte. Die Symbolbildung gelingt vielleicht, aber sie verwan­
delt die Welt nicht mehr. In dieser Atmosphäre entstehen unbewußte Faszinatio­
nen, Fixierungen, Süchte, das unbändige Verlangen nach starken Reizen, Sensa­
tionen, nach Happenings und Aktualität, nach »Sinnkonsum« und nach Kon-
sumgütem. Die Zwangsbindung an unterschiedlichste positive Gegenstände,
Ideen, Lehren, Handlungen nimmt zu, ohne daß diese mein als eine je momenta­
ne Erfüllung brächten, so daß der Hunger statt befriedigt nur verstärkt wird, was
sich nur durch innere Gewalt (Fanatismus oder Fundamentalismus) überspielen
läßt. Wo die fundamentalistische Abwehr nicht gewählt wird, wird das opus zur
endlosen, nie erfüllbaren Aufgabe. Die Energie erschöpft sich, wie bei Don
Juan, in jedem Symbol, in jedem Vollzug, aber der gesuchte Mehrwert stellt sich
nicht ein, er entflieht, wie die Alchemisten sagen. Erfüllung als Leerlauf. Weil
das, was durchaus Erfüllung bringt, hier doch zugleich leerläuft, muß dasselbe
(in derselben Form oder in unendlichen Variationen) zwanghaft immer wieder­
holt werden (immer neue Therapieangebote und -verfahren, das Pilgern von ei­
nem Selbstfindungsworkshop, von einer psychologischen Tagung zur andern,
der Verzehr laufend neuer sinnverheißender Bücher).
Der Erfüllung als positiver Ersatz und äußerliche Entlastung (kollektiv
verbindliche kirchliche Dogmen und Rituale) fehlt die Spontaneität der Seele
(die Ursprünglichkeit der Erzeugung) und der Erfüllung als Leerlauf (individuel-

49 C.G. Jung, GW 16 § 391.


50 C.G. Jung, GW 16 § 397.
le Sinnsuche oder Selbstentwicklung) umgekehrt dank der Kontingenz und dem
von keiner verbindlichen Tradition Abgedecktsein ihrer »Symbole« die »objek­
tive« seelische Wahrheit (sie bringen die »innere Erfahrung«, wie Jung es nennt,
nur höchst unzureichend zum Ausdruck). Die Dogmen erfüllen nur denjenigen
»Teil« in uns, mit dem auch wir immer noch in die Vergangenheit (auf die
Anima-Stufe) hinabreichen, der uns selbst aber historisch geworden ist und dem
wir so nur noch als etwas Musealem gegenüberstehen51; sie erreichen zwar das
Wesen oder den Begriff des Menschen, aber sind dennoch Ersatz und Ablen­
kung, weil sie nur den ehemaligen Begriff erreichen, insofern wir in der Tat in
unserem Wesen oder Begriff von dieser früheren Stufe des Begriffs unerreichbar
entrückt sind und der nunmehr wirkliche Begriff unser selbst (oder wir in unse­
rem Begriff) daher leer ausgeht. Die Objekte (Symbole) der individuellen Faszi­
nation oder Zwangsbindung andererseits, die »Sinn« bringen sollen, zielen zwar
wirklich auf uns in unserem heutigen Sein, aber sie vermögen als nur private
nicht mehr, uns überhaupt auf die Ebene des Begriffs zu bringen, uns über unse­
ren logischen Status als private Menschen hinaus in dem Status als existierender
Begriff anzusprechen und zu erreichen und uns unsere wirkliche »Wahrheit«
(den vollgültigen Ausdruck der komplexen Logik der Seele in [dem heutigen
Status gemäßen] symbolischen Entsprechungen) zu geben, nach der die Seele
hungert, so daß die ganze Prozedur leerläuft. Denn der Begriff oder die Wahr­
heit des Menschen ist nicht die des privaten Menschen; sie ist immer die Einheit
von ihm als persönlichem und von ihm als dem ganzen wirklichen Weltumgang
seiner Zeit.
Um zu sehen, was die eigentliche Aufgabe der Alchemie und damit das,
was allein hätte Erfüllung bringen können, war, ist es hilfreich, auf das Ende der
Alchemie zu sehen. Denn das telos belehrt über die arche.
Die Alchemie ging so unter, daß sie sich in Chemie als Naturwissenschaft
und in Psychologie als ihre Nachfolgergestalten auflöste (was dem schon ge­
nannten Auseinanderfallen der Wahrheit in zwei entspricht). So sieht es zu­
nächst aus. Aber: sie lebt nicht nur in ihrer uneigentlichen Form als in diese bei-
51 Hier gibt es vier Möglichkeiten. 1. Die konventionelle Fortführung der religiösen Praxis, bei der
die entstandene Zweistufigkeit und das Ausgewandertsein des Wesens des Menschen aus der
nunmehr ihm selbst historisch gewordenen Stufe einfach ignoriert wird. Wo sie gelingt, findet das
Mysterium seine wirkliche Erfüllung, aber nur so, daß es sich losgelöst, für sich, in dem von au­
ßen angebotenen Gefäß erfüllt und der Mensch die Erfüllung nicht erfährt, sondern nur glaubt. 2.
Die nostalgische Ausschlachtung des Musealen für das subjektive Erleben (sentiment) mit dem
Schein einer echten Wiederbelebung. 3. Die wissende, aber traurige Distanz zur eigenen Vergan­
genheit als einem unwiederbringlich Verlorenen (historisches Bewußtsein, hermeneutisches oder
psychologisches Verstehen der Symbole und Mythen). 4. Das unbewußte Angerührtsein auf der
obsoleten, aber (als unerreichbar abgespaltene und für sich bleibende) nach wie vor in uns vor­
handenen Ebene; oder anders gesagt, die spontane Aktivierung »des Unbewußten«, wie diese
(dank ihres Abgesunkenseins bzw. dank ihres Verlassenseins von dem aus ihr ausgewanderten
Wesen oder Begriff des Menschen) museal gewordene Ebene dann heißt, wenn sie, das Bewußt­
sein störend, wiederbelebt ist.
den dissoziierte fort. Auch als Einheit hat sie eine Nachfolgergestalt gefunden.
Sie hat sich fortbestimmt zur dialektischen Logik als ihrer legitimen Nachfolger­
gestalt, die in Hegel ihren bisher wohl alleinigen Höhepunkt hat. Mit der (dia­
lektischen) Logik war der Animus-Charakter der Alchemie, der in ihr als buch­
stäblicher, historischer Alchemie seiner logischen Form nach noch völlig einge­
taucht war in eine animahafte, antik-mittelalterliche Symbolwelt und Substantia-
lität, tatsächlich auf eine völlig neue logische Stufe, nämlich die Stufe des Logi­
schen selbst, gehoben und die Alchemie so zugleich von sich selbst zu sich
selbst erlöst worden.
Wozu war sie erlöst? Zum Medium des Geistigen in seiner Negativität,
zur Durchsichtigkeit und Flüssigkeit der Form der logischen Bewegung.
Dies ist es, was heute das Ziel sein muß und was heute einzig wirklich Er­
füllung bringen könnte. Inhaltlich ist dies keineswegs ein von dem Ziel der See­
lenarbeit auf der Anima-Stufe völlig verschiedenes, sondern dasselbe alte Ziel
nur in ganz neuer Form. Aber darin liegt die besondere Schwierigkeit. Es genüg­
te auf der Animus-Stufe nicht mehr, einfach nur das Ziel des Werkes anzustre­
ben, sondern dieses Ziel mußte dazu auch noch in eine bestimmte Form gebracht
werden. Genau dies ist es, was die Alchemie (und mit ihr die alchemistische
Psychologie C.G. Jungs) als animus-inspirierte eigentlich auch anstrebte, was sie
selbst durchaus auch als ihr Ziel begriff:
So wie es ihr nämlich überhaupt um die Erlösung des in der Physis gefan­
genen Geistes ging (ein offensichtliches Animus-Ziel, denn für die Zeit des My­
thos hätte es solcher Erlösung nicht bedurft: da war, kraft der sakramentalischen
Logik, der Geist in der Natur in seinem Element), so ging es ihr in den höheren
Stufen ihres opus speziell um die mundificatio (Reinigung) des bisherigen Pro­
dukts des Weikes, was nach Jung »die Entfernung des Überflüssigen5^, das al­
len bloßen Naturprodukten anhaftet« bedeutet. Oder es ging ihr um die »extrac-
tio animae« im Sinn einer »Herausarbeitung der Idee«, um die »Erzeugung eines
neuen volatilen (d.h. luftigen resp. geistigen) Wesens«, was Jung mit »eine ge­
wisse Einstellung oder Haltung, also einen >Geist< in diesem Sinn« übersetzt.
Aber diese Übersetzung greift zu kurz. Wenn es im Rosarium heißt: »Man soll
den Stein verfeinern, bis er den äußersten Grad an Verfeinerung erlangt und
schließlich hauchförmig wird«, dann muß Feineres angestrebt sein als eine Ein­
stellung oder Haltung, welche als Haltung eines Menschen immer noch natur­
verhaftet, ontologisch bleibt, so daß noch immer nicht alles »Überflüssige« weg­
gebrannt und der äußerste Grad an Verfeinerung erreicht wäre. Die vollständige
Zurückführung der »Stofflichkeit des Körpers [also des Naturhaften, Ontologi­
schen] in die Subtilität des Geistes« ist erst erreicht, wenn der Lapis oder wie52*
52 Das ist das Überflüssige im gewöhnlichen, abwertenden Sinn und streng zu unterscheiden von
dem, was ich in bezug auf den »Mehrwert« oder das Geistige, auf die Kultur, das Überflüssige
nenne und was eher mit Überfluß, Überschäumen in Verbindung zu bringen ist.
immer das Ziel zu benennen ist, als Logik, als die logische Form des Inderwelt­
seins begriffen ist.53
Aber die Alchemie ist in ihrer Naturverhaftetheit systematisch hinter die­
ser von ihr selbst geforderten äußersten Konsequenz der Verfeinerung zurückge­
blieben. Verständlicherweise, denn jene äußerste Verfeinerung hätte nichts we­
niger als die Selbstaufgabe und Selbstüberwindung der Alchemie vorausgesetzt,
das Hintersichlassen der empirischen und experimentierenden Laboratoriums­
haltung, kraft der die Fixierung auf die und das Projizieren in die Dunkelheit des
Stoffes vorgegeben war. Die Arkansubstanz konnte zwar in endloser Folge
zwecks immer höherer Verfeinerung »von einem Brautgemach ins andere ge-
quält«5^ werden - solange die alchemistische sublimatio aber selber noch che­
mische Prozedur bleibt und nicht mit einer grundstürzenden, ihr selber wehtuen­
den Negation der Alchemie als ganzer die kategoriale Grenze vom Natürlichen
zum Logischen überschreitet, bleibt auch der Lapis unweigerlich, nämlich kraft
eines systematischen Fehlers, in der (und sei es auch nur der Fein-) Stofflichkeit
gefangen und wird nie wahrhaft, was er doch sein soll: lithos ou Uthos, aus dem
Substantiellen ins Logische aufgehobener »Stein«. Wenn die Alchemie auf die
Flüchtigkeit des Mercurius stieß, dann deswegen, weil sie das schon als logische
Form begriffene Ziel innerhalb eines noch ganz in einem substantiellen Natura­
lismus gefangenen Bewußtseins erreichen wollte. Weil sie den Tod ihrer selbst
als antik-mittelalterliches Bewußtsein nicht innerhalb ihrer selbst zu sterben ver­
mochte, mußte sie buchstäblich untergehen.
Zu dieser äußersten Konsequenz der mundiflcatio hat sich auch Jung (so­
gar 100-150 Jahre nach Hegels »absoluter Idee« - dem wirklich gewordenen In­
korruptiblen -) noch nicht freimachen können, was entsprechend zu der Selbst­
aufhebung der Psychologie genötigt hätte. Jung glaubte, daß das Mysterium, das
die Alchemie in der Projektion auf den Stoff erforschte, mit der modernen Psy­
chologie des Unbewußten aus dieser Projektion erlöst und als das, was eigent­
lich gesucht wurde, endlich erkannt worden sei; daß ferner die Lösung des Pro­
blems des in der Physis verhafteten runden Menschen der Ur- und Endzeit, des
Anthropos, in der Verwirklichung der Ganzheit der Persönlichkeit liege. Aber
mit dieser Verlagerung des Problems vom chemischen Stoff zum Inneren des
Menschen ist der »untere Geist« nicht befreit, sondern nur von einem dunkleren
in ein etwas helleres, dafür aber sehr viel engeres Gefängnis verlegt worden (das
Innere des Menschen statt der Weite der Natur). Die psychologi(sti)sche Projek­
tion auf den Menschen (Persönlichkeit) ist genauso eine Projektion wie die al­
chemistische auf den Stoff. Der Anthropos bleibt immer noch im Stofflichen
(jetzt: dem seienden Menschen) gefangen - und dies, obwohl Jung doch selber

53 Alle Zitate dieses Absatzes (sowohl die alchemistischen wie die Kommentare Jungs) aus C.G.
Jung, GW 16 § 486 mit Anm.
54 Faust I.
sah, daß die »Wiederherstellung des verschwundenen Lichtmenschen« auf jenen
Anthropos zielt, »der in der gnostischen Symbolik sowohl wie in der christli­
chen mit dem Logos identisch ist und vor aller Schöpfung war«55. Die transzen­
dente Funktion transzendiert hier nicht wirklich.
Das Verfehlen des äußersten Grads an Verfeinerung ist also das, was das
besprochene Phänomen der »Erfüllung als Leerlauf« unvermeidlich macht. In
Alchemie wie Psychologie blieb die längst erreichte und ihrer Vollendung har­
rende Animus-Stufe doch noch auf der Anima-Stufe stecken; Jung selber hat das
auf seine Weise gesehen, spricht er doch von dem Vorliegen einer unbewußten
Identität mit der Anima und sagt er mit Recht, daß die unter diesen Umständen
auftauchenden Symbole am Ende des im Rosarium geschilderten Prozesses
nicht Gestalten des Zieles, sondern des An/angjzustandes seien.56 Überspitzt ge­
sagt ist man hier also am Ende nach aller Mühe doch nur »so klug als wie zu­
vor«. Der Mercurius bleibt aller mundificatio und sublimatio zum Trotz syste­
matisch in der Physis gefangen, aus der ihn jene Operationen gerade befreien
sollten. Dieses systematische dem Natürlichen »Verhaftetbleiben« des die (zur
Befreiung aus dem Natürlichen veranstalteten) Operationen durchführenden und
wahmehmenden Bewußtseins mag in der Alchemie noch die einfache Nachwir­
kung der immer noch nicht ganz gebrochenen Übermacht der Animastufe des
Bewußtseins gewesen sein. In der modernen Psychologie - nach einigen Jahr­
hunderten des Aufklärung genannten Abarbeitungsprozesses - ist es eher als ei­
ne Strategie, als Abwehr gegen die Notwendigkeit der Selbstaufhebung der Psy­
chologie zu verstehen, die sich vor allem dreier Abwehrmechanismen bedient.
Diese sind 1. das Bestehen auf dem Erleben, 2. die Utopiisierung des angestreb­
ten Ziels und 3. das Festhalten an der »Persönlichkeit«.
1. Wenn Jung davor zurückschreckte, dem Ziel des Werkes wirklich die
»quintessentialische, d.h. spirituelle Form«57, in meinen Worten: die von allem
Ontologischen losgelöste Form des Logischen,58 zuzugestehen, dann vor allem
wohl deswegen, weil er sich vor dem Denken fürchtete, das er zu einer von vier
Funktionen (also zu etwas Abgespaltenem) reduziert hatte und auf das er die
(ansonsten ja auch tatsächlich bestehende) Gefahr eines unverbindlichen Intel­
lektualismus projizierte.
Aber das Denken, wie es in diesen Zusammenhängen, und in diesem
Buch durchweg, zu verstehen ist, ist keine Ichfunktion und kein intellektueller
55 C.G. Jung, GW 16 § 458, meine Hervorhebung. Insofern Jung selbst anläßlich dieses Logos auf
den Anfang des Johannesevangeliums verweist, ist mit diesem Logos auch die ganze Thematik
des Heiligen Geistes, der Trinität und des Pneumatischen im Sinn der christlichen Tradition im­
pliziert.
56 C.G. Jung, GW 16 § 534 f.
57 C.G. Jung, GW 16 § 489.
58 Nur weil und wenn alles Ontologische oder Substantielle rückhaltlos, d.h. rückstandslos subli­
miert ist, kann das Inkorruptible überhaupt inkorruptibel sein. Solange es seiner Form nach noch
an etwas Seiendem anhaftet, hat es auch noch die Form der Endlichkeit, des Relativen.
Sport, keine Theorienbastelei. Es ist vielmehr als das Eine der Vier (als deren
quinta essentia) die Aufhebung aller vier Ichfunktionen und hat diese, sogar die
des als Funktion verstandenen Denkens selbst, als aufgehobene Momente in
ihm. Denken ist dasjenige Verhältnis zum Sein, in dem 1.) sich nicht das Ich,
sondern der Mensch als ganzer für die Wirklichkeit öffnet und ihr entspricht,
auf sie antwortet (auch der große Künstler denkt! Und auch Jung war in diesem
Sinn ein großer Denker); es ist das Verhältnis, in dem 2.) anders als im An­
schauen und Vorstellen die gedachte Wahrheit nicht mehr als gegenständliches
Bild vor das ihm gegenüber bleibende Bewußtsein hingestellt wird, sondern das
Bewußtsein in seinen »Gegenstand« und dessen innere Bewegung selber einge­
treten ist und sich von ihm durchherrschen läßt (das ist der »initiatische« Cha­
rakter des Denkens); in dem 3.) wieder anders als im Vorstellen nicht einfach
empirische Merkmale oder Zustände des zu denkenden Wirklichen erfaßt wer­
den, sondern dieses auf den Begriff (Logos) gebracht wird, d.h. es ist das Ver­
hältnis, in dem der logische Status, in dem das Wirkliche steht, gegeben wird, so
daß, wenn der Mensch sich im Denken als ganzer für die Wirklichkeit öffnet, er
sich nicht für diesen oder jenen positiven Aspekt des Seins, sondern negativ -
für die Wahrheit der Zeit und die Logik der Wirklichkeit öffnet; es ist das Ver­
hältnis, mit dem allein daher auch der Forderung nach der »quintessentialischen,
d.h. spirituellen Form« der Wahrheit vom Bewußtsein Genüge getan werden
kann, insofern es nämlich nicht mehr ein Tun oder Vermögen eines Subjekts ist,
sondern eine sich selbst genügende Form oder ein »Medium«, letztlich und ge­
nauer: das logische Leben der Seele selber, ihr sich selbst Denken, in das der
Mensch nur eintritt bzw. eintreten kann.
Besonders dieser dritte Punkt ist es, vor dem Jung zurückschreckte. Seine
Furcht vor dem Denken ist näher zu begreifen als seine Furcht vor dem Errei­
chen seines Ziels, vor der wirklichen Geburt des »Seelenkindes« oder dessen,
was er das »Selbst« oder die Ganzheit nannte (eine Einsicht, die schon zur Erör­
terung der zweiten der Abwehrstrategien überleitet). Es ist dies die Furcht nicht
vor dem Ziel als Inhalt, insofern dieser gegenständlich vorstellbar bleibt, son­
dern vor ihm in der ihm heute einzig gemäßen »spirituellen« Form, mithin die
Furcht vor dem freien Fall in die Wahrheit des Geistes, das Logische. Den frei­
en Fall in das Logische fürchtete Jung, hier ganz unter dem Bann der Kantischen
Kritik wie ebenso der Grundstellung der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts ste­
hend, als ein Abgleiten in die haltlose metaphysische Spekulation —ein fatales
Mißverständnis, denn der freie Fall in das Logische bedeutet nicht die methodi­
sche Befreiung zur Willkür der Gedanken, sondern nur die Befreiung der Ge­
danken aus ihrem dem Stofflichen Verhaftetsein hin zu ihrem ureigensten Medi­
um, dem der Geistigkeit, zur quintessentialischen logischen Form, bei nach wie
vor bestehender Bindung des Denkens an die wirkliche Erfahrung. Wenn Jung
sich immer wieder als Empiriker und die Psychologie als Naturwissenschaft be-
zeichnete, so drückt sich darin (neben anderen, auch sinnvollen Aspekten) auch
das Bedürfnis aus, den festen Halt des Mediums des Sinnlichen (also das apriori­
sche Gefangengesetztsein des Geistes) nicht aufzugeben; das Bedürfnis, »den
Verstand nicht zu verlieren«, den Tod als altes, natürliches Bewußtsein nicht
wirklich sterben, die alchemistische putrefactio oder solutio nicht vollends er­
fahren, die Animastufe nicht verbindlich verlassen zu müssen.
Wo eigentlich das Seiber-Begreifen am Platz wäre (Begreifen nicht als
Erklügelung, sondern als jenes Denken, in dem das Bewußtsein selber in seinem
innersten Erfassen von Wirklichkeit und seiner innersten Verfaßtheit, d.h. in der
in ihm waltenden Logik, durchwirkt und verwandelt würde und auf die Höhe
des schon in seinem wirklichen Weltumgang erreichten logischen Status ge­
bracht würde), da besteht Jung auf dem Erleben, dem Anschauen, dem Kom­
menlassen von Bildern. Das Erleben und Vorstellen setzt per definitionem den
Unterschied zwischen dem Erlebenden und dem von ihm Erlebten. Es spaltet
das wirkliche und in sich einige Phänomen in diese zwei auf (»neurotische Dis­
soziation«) und hält so den Prozeß immer noch von dem Erlebenden, von uns in
unserer innersten Subjektivität, weg in einem Draußen der erlebten Bilder oder
Ereignisse, an oder in denen er ablaufen soll, hat diesen Prozeß also lediglich in
den Inhalten des Bewußtseins, so daß das Bewußtsein selbst, d.h. die logische
Form des Bewußtseins, sich immer noch draußenhalten (reservieren) kann: es
hat dann archetypische seelische Erlebnisse, die es durchaus tief empfinden und
verstehen mag, anstatt selber der logischen Form nach als seelische Bewegung,
als »Denken« zu sein, und kann so als das alte Bewußtsein in der Anima-Stufe
verharren. Die Aufgabe der Wandlung wird dem aufgebürdet, was es als seine
Inhalte erfährt. Erregung, Betroffensein, E-motion treten an die Stelle der Wand­
lung der logischen Form des Bewußtseins.
Die Kehrseite zu diesem Sich-Heraushalten des Bewußtseins in seiner in­
nersten Subjektivität ist, daß mit dem Erleben zugleich eine fundamentale Sub-
jektivierung des Inderweltseins im Sinn eines Rückzugs aus der wirklichen Welt
in die Wagenburg des Subjektiven erfolgt. Der wirklichen Welt werden die Prä­
dikate der Wahrheit und Wirklichkeit weitgehend entzogen, und dafür werden
sie jetzt dem subjektiven Erleben zugeteilt. Man kann sich dann angesichts der
schlimmen Entwicklung des Weltgeschehens (ökologische und Sinnkrise, Wer­
tezerfall, Zunahme der Gewalt als nur einige Beispiele) der Welt gegenüber füh­
len und als »Alternativer« das Bewußtsein pflegen, auf der guten Seite, auf der
Seite der »besseren« Wahrheit zu stehen. Man kann sich, buchstäblich oder bild­
lich gesprochen, aus der bösen, auf einem Irrweg befindlichen Welt auf den
Bauernhof zum »biologischen Anbau« oder in innerer Emigration zu den höhe­
ren Werten besserer Zeiten zurückziehen, weil man mit all dem Schlimmen in
der heutigen Welt nichts zu tun zu haben glaubt. Aber dem ist entgegenzuhalten,
daß uns aus dem, was in unserer Welt geschieht, unsere eigene Wahrheit entge­
genkommt. Ich erfahre aus all den schlimmen Entwicklungen auch, die Wahrheit
über mich, sicher nicht unbedingt die Wahrheit über mich in meinem privaten
Sein (meinem subjektiven Meinen und Fühlen), sehr wohl aber über mich als
wirkliches Glied meiner Gesellschaft und Teil des ganzen Weltumgangs in mei­
ner Zeit. Es ist im großen ganz so, wie im kleinen auch der einzelne Analysand
aus seinen neurotischen Symptomen, Fehlleistungen und Projektionen die Wahr­
heit über sich (nicht über sich als bewußtes Ich, sondern über sich in seinem
wirklichen Sein) erfährt.
Die Subjektivierung kann dann auch dazu verleiten, unseren abendländi­
schen Weg irrtümlich so aufzufassen, als ob er wie der des Ostens ein Weg der
inneren Erfahrung sei. Unser opus ist jedoch nicht mystisch (im allgemeinsten
Sinn), es will nicht subjektiv und individuell Erleuchtung, nicht ein Satori-
Erlebnis und ist nicht in der Meditation zu gewinnen. Dem ist so sowohl nach
der Seite des Gegenstandes wie nach der der Methode. Unser opus läuft hin­
sichtlich des Gegenstands statt über innere Erlebnisse über das »Werk«, über die
Verwandlung der wirklichen Welt »draußen« besonders durch die in der Wis­
senschaft gründende Industrie und Technik, es läuft über die Geschichte der
ganzen Kultur und die realen Wandlungen unseres Weltumgangs. Dort haben
wir den »Text« unserer aktiven Imagination, unseres wirklichen Traums. Dort
haben wir unsere Seele. Wir müssen daher nicht meditieren. Wir müssen nicht in
uns hineinschauen.59 Wir stehen unter dem Wort: an ihren Taten sollt ihr sie er­
kennen. Wir müssen, wenn wir Zugang zur Wahrheit gewinnen wollen, in unse­
re wirkliche Welt, in den wirklichen Weltbegegnungszusammenhang blicken,
um sie zu begreifen, das heißt, wir müssen uns von der heutigen Welt darüber
belehren lassen oder aus ihr ablesen, was die in Welt und Weltgeschehen wal­
tende Logik oder Wahrheit und damit auch die Wahrheit über uns als das mo­
derne abendländische Menschentum ist. Begreifen heißt nicht, auf ein Erleuch­
tungserlebnis, auf das plötzliche (und so immer irrational bleibende) Ereignis ei­
nes Durchbruchs zu einem wie auch immer gearteten Aha-Erlebnis warten, son­
dern - das ist die methodische Seite - mit der Anstrengung des Begriffs die von
uns bewußt zu vollziehende und zu verantwortende (d.h. als im Prinzip von je­
dem denkenden Menschen nachvollziehbar zu gestaltende) gewissenhafte Arbeit
der gleichsam »offiziellen« logischen Aufklärung des Bewußtseins über sich
selbst und seine in die wirkliche Welt investierte Wahrheit leisten.
Umgekehrt kann die Subjektivierung dazu verleiten, unter Berufung auf
die Möglichkeit innerer Erlebnisse von »mythischem« Charakter zu behaupten,
daß wir heute doch noch immer wie ehedem »einfach so« Göttliches erfahren

59 Meditation und psychologische Introspektion sollen damit nicht als »falsch« oder »unnütz« hin­
gestellt, sondern nur auf die ihrem Status entsprechende Bedeutung zurückgestutzt werden. Sie
haben denselben Status wie z.B. das Jogging. Wie dieses der äußeren, körperlichen Selbstertüch­
tigung des Individuums dient, so jene der inneren, seelisch-geistigen. Darüber hinaus jedoch -
d.h. in bezug auf Wahrheit, Sinn, Heil, Gott - haben sie nichts zu bedeuten. Als Mittel oder Me­
thoden der Selbstertüchtigung sind sie reines »Privatvergnügen«.
könnten, ganzheitlich erleben könnten, ja sogar vielleicht das naturwissenschaft­
liche Denken zur Ganzheitlichkeit hin verwandeln könnten. Das mag ja möglich
sein, aber die Berufung darauf ist eine ins Metaphysische gewendete Appease­
ment-Politik. Man tut dann so, als ob in den letzten 2 500 oder mehr Jahren gar
nicht wirklich ein radikaler Bruch geschehen sei. Man sagt gewissermaßen: es
hat sich nicht wirklich etwas grundlegend verändert; letztlich ist doch alles beim
alten geblieben. So versucht sich das Bewußtsein angesichts der wirklichen Not
zu beschwichtigen und sich der Aufgabe zu entziehen, im »Sprung nach dem
Wurf« die uns ungeheuer weit vorausgeeilte objektive (in dem realen Weltum­
gang investierte) Wahrheit mit unserem Bewußtsein einzuholen, der Aufgabe,
die durch das Pro-jekt der abendländischen Seele entstandene 2 500 Jahre alte
Hypothek, die das Bewußtsein seitdem vor sich herschiebt, endlich zusammen
mit den aufgelaufenen Zinsen abzubezahlen. Wir leben seit Jahrhunderten unter
dem Niveau unserer tatsächlich gelebten Wahrheit. Wir betrügen uns um sie, in­
dem wir sie als etwas falsches Äußeres abtun, um so nostalgisch an alten Wahr­
heiten festhalten zu können. Es hat sich wirklich etwas grundlegend geändert.
Ein Erdbeben ist geschehen und hat Klüfte aufgerissen und Brücken zerstört, so
daß der einzelne auch beim besten subjektiven Willen nicht mehr wirklich und
verbindlich in seinem inneren Erleben die wirkliche Bewegung hinüber und her­
über vollziehen kann. Die Änderungen in der objektiven logischen »Landschaft«
machen es unmöglich. Diese Verluste müssen vom Bewußtsein in seelischem
Gold aufgewogen werden. Das geschieht im Begreifen, nicht in inneren Erleb­
nissen. Selbst das schönste Symbolerleben heute bleibt doch nur subjektiv, pri­
vat, weil es nicht mehr abgedeckt wird von dem wirklichen Weltumgang. Die so
erlebten Götter sind keine Götter mehr, weil sie nicht mehr die Götter dieser un­
serer Welt sind. In der besprochenen Haltung wird so getan, als ob es nur auf
unser Erleben und Sehen ankäme und dieses schon Wahrheit gewährleistete.
Aber es kommt viel mehr noch an auf das sich in unserer Sprache, in den sozia­
len Institutionen, in der Entwicklung der Dinge, des Verhaltens, des Wissens in
unserer Gesellschaft manifestierende wirkliche Weltverhältnis des abendländi­
schen Menschen. Das davon abgeschnittene persönliche Erleben ist so gültig
wie eine Privatsprache, die ein einzelner für sich erfunden hat. Die Wahrheit ist
aber nur in der gemeinsamen Sprache auszusprechen, und so begegnet sie uns
auch nur aus der Sprache der gemeinsamen Weltwirklichkeit.
2. Die zweite Abwehrstrategie liegt in der Behauptung, daß das Ziel der
»Ganzheit«, und das heißt für uns: der quinta essentia als der pneumatischen
Form, nur als Idee wichtig und stets nur zu antizipieren und anzustreben, nie zu
erreichen sei und daß dem Ziel gegenüber nur das opus, das annäherungsweise
auf das Ziel hinführe, wesentlich sei.60*Jung spricht ganz ausdrücklich von der
»Antizipation des Lapis« als »einer Vorwegnahme einer Möglichkeit, deren Er-
fiillung überhaupt kein Gegenstand der Erfahrung sein konnte«.61 Das ist die
Fortsetzung sowohl der kirchlichen Verschiebung der eigentlichen Erfüllung ins
absolute Jenseits (auf den Sankt-Nimmerleinstag) als auch der Kantischen Ver­
abschiedung der wirklichen Welt (Ding-an-sich) als eines möglichen Gegenstan­
des der Erkenntnis. Es ist die Selbstutopiisierung der eigenen Bemühung. Das
Ziel wird zur Kantischen Idee, die zwar aufgegeben, aber per definitionem nie
erreichbar ist, die uns also in ein neurotisches Dilemma stürzt.
Aber demgegenüber muß es heißen: Das »Ziel« ist nur als jetzt längst er­
reichtes, nur als wirkliches, immer schon erjullt hinter uns liegendes wichtig,
weil es nur so Wahrheit hat und überhaupt Ziel sein kann, und das opus hat
überhaupt nur Sinn, wenn es das schon wirkliche, erfüllte Ziel jeweils noch ein­
mal hier und jetzt ursprünglich-zeugerisch vergegenwärtigt, indem es uns und
der Welt in ihm unseren logischen Ort dadurch verleiht, daß es uns in der logi­
schen Verfaßtheit unseres Denkens auf die Höhe seiner Einfachheit hebt, und
wenn es das Ziel für uns und die Welt lebendig (in innerer Bewegtheit) erhält.
Auch das für unerreichbar erklärte Ziel entschärft das opus a priori fundamental;
es befreit uns von der Notwendigkeit, in der Verfaßtheit unseres Bewußtseins
selber wirklich und verbindlich ergriffen und über die Anima-Stufe hinausge­
trieben zu werden. Es kann nicht wirklich etwas passieren, wir bleiben ja immer
nur in Antizipationen oder Annäherungen, immer systematisch diesseits der
Schwelle zu dem Raum, in dem allein das Eigentliche geschehen könnte. Der
den Bann der alten Stufe sprengende Überschritt (im Sinn der transzendenten
Funktion) in einen wahrhaft neuen Status oder auf eine wahrhaft neue Stufe wird
systematisch vermieden. Wir bleiben in der »mittelalterlichen« Form der Rela­
tion zu dem (zur Substanz eingefrorenen und aus der Seele Zieransgestellten)
Transzendenten stecken, nämlich in dem anhimmelndem Aufblick zu ihm, wir
lassen dieses immer nur als »Dach« über uns schweben, anstatt uns, getragen
von der transzendenten Funktion der Seele als Animus, selber zu ihm aufzu­
schwingen, um uns auf es als auf den künftigen Boden unserer Existenz wirklich
zu stellen.
Das hier liegende Problem ist so schwerwiegend (hängt doch die Ver­
wirklichung des Ziels der Seele, nicht nur ihrer als Animus, sondern letztlich
auch als Anima, von ihm ab), daß wir die hier waltenden logischen Verhältnisse
näher vorführen müssen.
In meiner Erörterung des »Denkens« habe ich schon den grundsätzlichen
Fehler der Theorie der Ichfunktionen angedeutet. Laut dieser geht es für die Per­
sönlichkeit darum, alle vier Funktionen und vor allem die minderwertige Funk­
tion zu entwickeln und zu integrieren, um Vollständigkeit zu erzielen. Mit dieser
Theorie hat sich die Analytische Psychologie freiwillig im unaufhebbaren Man­
gel (Unvollständigkeit) angesiedelt. Sie hat sich selbst systematisch auf der Ebe-

61 C.G. Jung, GW 16 § 492.


ne der »getrennten vier Elemente (Zustand des Chaos)«,62 nämlich auf der Ebe­
ne abgespaltener (gegensätzlicher) Funktionen, eingehaust, auf der das Errei­
chen des Ziels der Vollständigkeit durch den Ansatz ausgeschlossen wird. Denn
Vollständigkeit besteht nicht in der vollständigen Entwicklung der Vier, sondern
in einem logischen Jenseits (genauer: Diesseits) der Vier: in der aufgehobenen
Vier oder dem Einen der Vier. Das sich Einhausen vor der Grenze zum Ziel ist
umso merkwürdiger, als es doch mit dem »Denken« im oben ausgeführten Sinn
das wirkliche Eine der Vier und damit die wahre Vollständigkeit oder Ganzheit
längst gibt. Jedes große Kunstwerk, jede große Philosophie zeugt von der Wirk­
lichkeit dieses Ziels, nicht als von etwas, das erst in der Persönlichkeit in einem
unendlichen (letzlich vergeblichen) Progreß angestrebt werden müßte, sondern
als etwas, das gerade immer schon wirklicher Ursprung und Ausgangspunkt des
wahrhaften seelischen opus wie z.B. der künstlerischen oder philosophischen
Arbeit (aber nicht unbedingt der Person des Künstlers oder Denkers) ist.
von Franz hat unter Berufung auf Jung zwar die Auffassung vertreten, daß
»out of the third comes not the fourth but the One.« Bei der Entwicklung der
Funktionen werde also zu den entwickelten drei Funktionen die vierte inferiore
nicht additiv als ein Viertes hinzugefügt, sondern eine völlig neue Stufe oder
Ebene erreicht. Es entstehe »a total psychic phenomenon, no longer a
function«,63 »another dimension«,64 in der die (wie ich sage: aufgehobenen)
Funktionen zu bloßen verfügbaren Instrumenten, also Momenten, des Bewußt­
seins niedergedrückt sind. Das berührt sich aufs engste mit meinen Vorstellun­
gen und bleibt doch grundsätzlich hinter ihnen zurück. Denn von Franz siedelt
sich auf der Ebene der Funktionen an, und deswegen wird ihr der Sprung zu der
anderen Dimension, der plötzliche Übergang von der Drei zum Vierten, das gar
kein Viertes mehr, sondern das Eine sein soll, zu etwas Mysteriösem, das wie
der alchemistische Lapis nur, vielleicht darf man sagen: als Gaukelbild er­
scheint, weil es eigentlich nicht erreichbar ist: »it is enormously difficult to get
even as far as that«65 (geschweige denn bis zum Ziel der erst dann einsetzenden
höheren Entwicklung). Eine eigentliche Mystifizierung des Ziels bei von Franz
wird da deutlich, wo das Attribut der quinta essentia für das Angestrebte in An­
spruch genommen wird, obwohl doch zuvor ausgesprochen worden ist, daß bei
der gelungenen Entwicklung der Funktionen gerade nicht die vierte Funktion
verwirklicht werde, von der aus dann der weitere Überschritt zu einem Fünften
als dem Einen der Vier erfolgen könnte, sondern daß der Überschritt schon als
die Bewegung von der Drei zur Vier derart angesetzt wird, daß das Vierte, ohne

62 C.G. Jung, GW 16 § 404.


63 M.-L. von Franz, »The Inferior Function«, in: v. Franz und J. Hillman, Lectures on Jung’s Typo-
logy, New York (Spring Publ.) 1971, S. 60. Frau Barbara Hahn hat mich dankenswerterweise an
diese Passagen erinnert.
64 Ebd. S. 63.
65 Ebd. S. 64.
eigentlich das Vierte zu sein, in ihm selbst schon das Eine der Vier darstellen
soll (richtig wäre natürlich: das Eine der Drei). Da wird etwas geschummelt. So
kann es auch nicht verwundern, daß v. Franz, anstatt das Gesuchte jenem An­
spruch gemäß wahrhaft quintessentialisch (pneumatisch) zu beschreiben, es in
verdinglichter Form als »a Consolidated nucleus of the personality« denkt.66
Das Fünfte als das Eine der Vier ist aber nichts Mysteriöses. Es ist, wie
wir gesehen haben, etwas ganz Offenbares (wenn auch nichts Alltägliches, Ge­
wöhnliches), nämlich das, was z.B. im Kunstwerk oder im denkerischen Werk
als dessen Anfang, Mitte und Ende am Werk ist. Der Ort der quinta essentia ist
das Werk (nicht speziell das des Künstlers, sondern das der ganzen abendländi­
schen Kultur) und nicht das Innere der Persönlichkeit, für das jedoch die Psy­
chologie - das ist ihr pröton pseüdos, wenn nicht gar ihr Frevel —das Eine der
Vier gefangenzunehmen versucht. Und dieses Eine muß und kann auch nicht
mühsam durch eine Entwicklung der Funktionen angestrebt werden, weil es
überhaupt keinen Übergang von dem Mangelhaften zur Ganzheit (zur quintes­
sentialischen Form) gibt, sondern die Ganzheit immer ursprünglich ist, d.h. als
immer »schon Übergegangene« beginnt. Fängt man mit dem Mangelhaften an
und hofft auf einen Übergang zur Vollständigkeit, heißt das nur, daß man diese
gar nicht erreichen will, sondern in ein Jenseits abschiebt. Ganzheit »entsteht«
nicht. Wir kommen immer schon zu spät, wenn wir sie aus Nichtganzem entwik-
keln wollen. Sie ist, wenn sie denn ist, immer »so herrlich wie am ersten Tag«.
Indem die Aufgabe der Entwicklung der Funktionen mit dem Streben
nach dem Lapis verglichen wird, bekommt sie (wie die ganze psychotherapeuti­
sche Arbeit an der Selbstentwicklung) einen Nimbus, den sie nicht verdient.
Diese Entwicklung ist sicher nicht unwichtig, aber sie ist banal, genauso wie an­
dere der Bildung der Persönlichkeit dienende Bemühungen (z.B. Schulbesuch
und Universitätsstudium) oder der körperlichen Ertüchtigung dienende wie Jog­
ging und Gymnastik lohnend, aber banal sind und mit dem hehren, esoterischen
Ziel des alchemistischen Lapis nichts zu tun haben. Ihr eine wie auch immer zu
verstehende Heilsbedeutung zuzuschreiben, obwohl sie doch nie mehr als eine
rein subjektive Gültigkeit haben, nie den Status einer für ein Menschentum ver­
bindlichen Wahrheit erreichen kann, ist Schmu.
Es gibt keinen Übergang von der Unvollständigkeit zur Ganzheit. Wenn
man das opus nicht so beginnt, daß man sich unverfroren schon auf den Boden
des Ziels gestellt hat, so daß das längst schon wirkliche, erreichte Ziel der wirk­
liche logische Anfang und Rahmen des Werkes ist,67 kommt man nie ans Ziel.
Man hat sich a priori auf verlorenen Posten gestellt und braucht gar nicht anzu­
fangen. Man bleibt wie Kafkas Mann vom Lande endlos »vor dem Gesetz« hok-

66 Ebd. S. 64.
67 »Wahrlich die Form, welche der Intellekt des Menschen [d.h. das Denken im genannten Sinn] ist,
ist Anfang, Mitte und Ende im Verfahren«, Gerard Domeus (C.G. Jung, GW 14/11 § 50).
ken, ohne je den Schritt durch das Tor in es hinein zu tun. Aus dem Ziel macht
man eine Utopie. Das eben ist der Unterschied zwischen der initiatischen Quest
und der modernen Sinnsuche, Selbstsuche oder Identitätsfindungsbemühung.
Die Quest hat das Ziel, bevor sie noch begonnen hat, immer schon erreicht, so­
gar in den Fällen, wo sie bei ihrer Durchführung dann doch scheitern sollte; die
Sinnsuche hat sich immer schon im Leerlauf angesiedelt, selbst wenn sie dann
erfolgreich zu sein scheint. Nur wer hat, dem wird gegeben werden. Nur der
Rechte und zum rechten Zeitpunkt Kommende vermag in Mythos und Märchen
die Klappfelsen oder die das Schloß umhüllende Dornenhecke zu durchschrei­
ten, das Wunderschwert aus dem Holzblock zu ziehen, den Bogen zu spannen.
Nur dem Goldenen, dem Sonntagskind, dem Gotteskind, also dem schon in der
Fülle Stehenden, gelingt es, Schatz, Lebenswasser oder Prinzessin zu erringen,
so wie auch christlich nur der Auserwählte, also der, der schon längst in der
Gnade steht, die Gnade erlangen kann.
Diese (größtenteils aus der Sphäre der Anima und ihres Anliegens der
Transgression nach Drüben genommenen, aber mutatis mutandis auch für das
Animus-Projekt der Transzendenz in die Syzygie-Stufe und zum Ziel der logi­
schen Form geltenden) Beispiele untermauern nicht eine fatalistisch zu interpre­
tierende Prädestinationslehre. Sie müssen vielmehr als die schlichte Wahrtleit
über die Logik von Suche und Ziel begriffen werden, die es jetzt noch näher zu
klären gilt.
Paris oder New York bestehen unabhängig davon, ob ich sie als mein Rei­
seziel wähle oder nicht. Nicht so beim Ziel des Seelenwerks. Zum Begriff dieses
Ziels gehört es, daß es nicht ontologisch, als ein Seiendes, verstanden werden
darf. Es bleibt als seelisch-geistiges Ziel logisch. Das Ziel ist keine Substanz
(die Transzendenz, das Selbst), nicht ein transzendentes (in der als gleichsam
geographischer oder kosmologischer Jenseitsraum vorgestellten Transzendenz
vorhandenes) »Ding« oder Etwas, auch nicht eigentlich ein fünftes »Wesen«
(quinta essentia), insofern als es ja gerade als das Eine der vier Wesen die Auf­
gehobenheit alles Wesens, nämlich eine bestimmte Form oder logischer Status
des Bewußtseins, ja des Inderweltseins ist. Weil das Ziel als nicht gegebenes rei­
ner »Überfluß« oder »Mehrwert« ist, d.h. nicht natürlicherweise irgendwo in der
Welt schon vorkommt, so daß es wie Paris oder New York dann nur zusätzlich
zu seinem Vorhandensein auch noch als Ziel angestrebt werden müßte, muß die
Seele (logisch, nicht zeitlich) vor ihrem Streben nach dem Ziel dieses selbst
durch einen eigenen Akt erst setzen, ihm Wirklichkeit verleihen, es für sich be­
anspruchen, es behaupten, es ergreifen, erstens, weil nur solches entschiedenes
Eintreten und sich dem Vorliegenden Zumuten einem nicht natürlich Gegebenen
(Mehrwerthaften) überhaupt erst Sein verleiht, und zweitens, um so auch sich
überhaupt erst auf die Höhe von so etwas wie »Mehrwert« zu bringen. Sonst
bliebe sie ja auf der Ebene des natürlich und immer schon Vorhandenen - und
damit ihrerseits nicht existent. Sie würde sich verhalten wie jemand, der das
Wort »Ziel« in einem zweibändigen Wörterbuch nachschlagen möchte, aber dies
in dem schon auf dem Tisch liegenden ersten Band (A bis L) versucht, weil er
zu bequem ist, den weiter weg liegenden zweiten Band zu holen. Aber der Ver­
gleich hinkt. Denn der Artikel über das Wort Ziel steht auch unabhängig von
dem Nachschlagen und ihm zuvor in dem Wörterbuch. Man muß den Vergleich
daher so umformen, daß man sagt, die Seele muß vor ihrem im Wörterbuch
Nachschlagen das Wörterbuch immer selbst erst schreiben. Die Seele besteht ja
ihrerseits nicht einfach, sondern muß sich immer selbst erst zu ihr selbst erbau­
en. Sie muß ihre eigene Wirklichkeit selber erst hersteilen, sich selbst gleichsam
am eigenen Schopf aus dem Nichtsein ins Sein hineinziehen. In der Sprache der
Computertechnologie gesagt: soul must boot itself.
Mit der Frage, ob das Ziel (als Lapis, als das Drüben, als die Göttlichkeit
des Menschen) empirisch-faktisch überhaupt erreicht werden könne, - oder ob
dergleichen nicht nur ein schöner, aber irrealer Wunschtraum, ein »Dichter-
Erschleichnis« (Nietzsche) oder auch ein vermessener Wahn sei, hat man das
Problem des Ziels und des Strebens nach ihm einfach nur mißverstanden, seinen
logischen Charakter verkannt. Da es nicht dinglich-»objektiv« ein anzustreben­
des Etwas oder ein Ort im Raum ist, hat das Ziel in ihm selber vielmehr, zu­
gleich subjektiv und objektiv seiend, den Charakter von so etwas wie einem
Aufruf an uns zum initiatischen Sich-Aufraffen und Ausgreifen, dem Aufruf zu
einer logischen Kühnheit und damit eo ipso von dem Angenommenhaben einer
Herausforderung, und nicht den rein sachlichen Charakter einer seienden oder
nicht seienden objektiven Tatsache. Es geht also keineswegs um die Entschei­
dung über ontologische Verhältnisse in der Wirklichkeit, sondern um die Ent­
scheidung, ob wir uns als Geist begreifen und von unserem Geistsein Gebrauch
machen wollen oder nicht. Es geht, statt ontologisch um die Frage nach dem
Realsein oder Irrealsein der Hoffnung auf das Erreichen des Ziels vielmehr dar­
um, ob wir uns logisch aus dem metaphysischen Ofenhockertum, aus der Träg­
heit des im logischen Status des natürlichen Seins Sein aufraffen und emporrek-
ken; es geht um unser dazu Herausgefordertsein, uns zu erdreisten, entgegen al­
lem empirischen Anschein die Gotteskindschaft oder die Auserwähltheit kurzer­
hand für uns in Anspruch zu nehmen und uns fest auf diesen Standpunkt als un­
seren Boden zu stellen; es geht darum, ob wir uns (nicht nur somatisch, sondern
auch logisch) zum aufrechten Gang aufrichten oder als bloße Naturgegebenhei­
ten auf den Vieren kriechen.
Mit der ontologischen Fassung der Frage als einer solchen nach der
empirisch-faktischen Erreichbarkeit oder Nichterreichbarkeit des Ziels hat man
sich schon aus dem Geist- oder Seele-Sein (damit aus dem Mensch-Sein) her­
ausgesetzt. Man hat die Herausforderang abgewiesen. Wer den Lapis oder die
quintessentialische Form oder die Göttlichkeit des Menschen zu seinem wirkli­
chen Ziel hat, zeigt umgekehrt nicht mehr und nicht weniger, als daß er sich zum
aufrechten Gang aufgerichtet hat oder daß er sich ein Haus gebaut hat und sich
nicht mehr einfach nur in einer naturgegebenen Kuhle unter einem Felsvor­
sprung zusammenrollt.
Die Voraus-Setzung des Ziels als eines erreichten ist ja keine absurde Er­
schleichung (wie es deren viele gibt) und das Durchschreiten des Tores dem
Torhüter zum Trotz keine schlechthinnige Unmöglichkeit, sondern beide sind
das einfache Gebrauchmachen von unserem Menschsein, das nämlich in jener
»illegitimen Erschleichung«, in jener »Unverschämtheit«, das erst angestrebte
Ziel wirklich schon hinter sich zu haben und eben dadurch auch über die erst
noch zu überschreitende Schwelle gleichwohl schon hinaus zu sein, immer
schon gründet und dadurch »definiert« ist. Das Menschsein muß in einer »Er­
schleichung« gründen, weil es aus nichts natürlich Gegebenem hervorgehen
kann, sondern als geistiges frei, künstlich gesetzt, nämlich wirklicher »Mehr­
wert« und das wirklich »Überflüssige« sein muß. Und das Menschsein kann da­
rin gründen, weil dann, wenn das Ziel in der Dimension des Seelisch-Geistigen
liegt, die Seele als Geist auch selber ganz für Weg und Ziel, für A und O, für
Wollen und Vollbringen zuständig ist. Der Geist strebt dann ja nicht ein Ziel an,
das »in der Realität« vor ihm und außer ihm bestünde, nicht eines, das ihm na­
türlich gegeben wäre. Es ist sein eigenes. Und weil er, wenn er das Ziel setzt,
nichts anderes als das Geistig-, Göttlich- und Seelischsein - mithin nur sich
selbst - zum Ziel setzt (etwas anderes könnte er ja auch nicht setzen, weil er
nicht darüber verfügen könnte), setzt er sich selbst sich selbst voraus, das, was er
eigentlich immer schon »ist«. Dies zu tun (sich selbst sich selbst vorauszuset­
zen), ist nicht eine Neigung, die er zusätzlich zu seinem Sein auch noch hätte,
sondern es ist das Wesen des Geistes, und nur als dieser widersprüchliche, uro-
borische logische Akt »ist« Geist überhaupt, insofern Geist eben nicht ein vor­
handenes Seiendes im ontologischen Sinn ist, sondern logisch, Logos ist. Die
Seele als Geist muß sich selbst erzeugen, sich ihre eigene Existenz erst verschaf­
fen. Wie die Sprache hebt Geist, wenn er denn »ist«, immer ursprünglich an, das
heißt er setzt sich sein Ziel - das nichts anderes als er selbst ist - als seinen Ur­
sprung selbst voraus; er hebt als dieses sich sein Ziel zu seinem Ursprung immer
schon Gesetzthaben an und ist überhaupt nur als diese Voraussetzung gemacht
habend wirklich. Würde er sich.das Ziel nicht als Ursprung voraussetzen, son­
dern nur als anzustrebendes Fernziel vor sich setzen, würde er sein Ziel selber
immer als grundsätzlich unerreichbares vor sich herschieben, da es ja nichts
schon Existierendes ist, - und hätte er sich eo ipso selbst als »inexistent«, un­
wirklich, gesetzt (er wäre also nicht einfach inexistent, was er nie sein kann, da
er nichts Ontologisches ist, er hätte sich immer noch selbst als inexistent ge­
setzt). Die Wirklichkeit des Geistes besteht in nichts anderem als in seiner »un­
verschämten« Selbst-Behauptung, darin, daß er, der doch nicht positiv seiend,
sondern reine Negativität ist, sich gleichwohl für »da«-seiend erklärt. Das Nega­
tive kann nur »sein«, indem es sein Sein selbst immer neu erzeugt.
In diesem Sinn ist das »vor dem Gesetz« Verharren nichts anderes als die
bornierte und ängstliche Weigerung des Zenonschen Achilles, von seiner selbst­
verständlichen Fähigkeit Gebrauch zu machen, den Limes zu überschreiten und
die Schildkröte einzuholen, ja zu überholen.68 So klinkt man sich aus seinem
Menschsein aus, so wie man sich aus dem eigenen ein sprachliches Wesen Sein
ausklinken würde, würde man allen sprachlichen Äußerungen nicht immer
schon das wirkliche Vorliegen von Sinn im Satz und das eigene Sinnverstehen
dem jeweiligen Versuch zu sprechen oder zu verstehen voraussetzen. Mit dieser
Weigerung setzt sich der Mensch aus seinem »Mehrwert«-Sein, seinem Seele-
Sein und aus seinem in die Götterwelt oder in die Wahrheit Gottes Hineinragen
heraus und borniert sich zum bloßen »Naturwesen« herunter. Er entscheidet sich
dafür, sein Wesen oder seinen Begriff nur noch in einem längst aufgehobenen
Moment seiner selbst sehen zu wollen, nicht in dem, was er als Mensch (inso­
fern er Mensch und nicht nur Lebewesen ist) in Wahrheit immer schon ist: ein
sein Natürlichsein immer schon transzendiert69 Habender. Er bricht aus der ar­
chetypischen Dimension seiner Existenz aus, wo das Ziel, weil es kein empi­
risch oder natürlich gegebenes, sondern ein durch den logischen Akt der Aufhe­
bung des Natürlichen gesetztes geistiges ist, uroborisch ist und wo es als urobo-
risches selbstverständlich so (so widersprüchlich) verfaßt ist, daß es immer
schon erfüllt ist und doch immer erst, und zwar von uns Menschen, erzeugt wer­
den muß; er bricht aus der uroborischen Verfassung des Inderweltseins aus, um
sich in einer linearen Phantasie einzuhausen (vom Nichts zum Sein im Sinn der
creatio ex nihilo, vom »Affen« zum Kulturmenschen, von dem geknechteten,
ausbeuterischen Gesellschaftszustand zur Utopie der klassenlosen humanen Ge­
sellschaft, vom sinnlosen Laut zur sprachlichen Bedeutung, von der Zersplitte­
rung der Funktionen zur Ganzheit...). Obwohl er weiß, daß das gesuchte Ziel als
quinta essentia (d.h. für uns: als quintessentialische Form), als Lapis, als Sinn,
als Gott transzendent ist (sonst würde er es nicht als im Prinzip unerreichbar er­
fahren), behandelt er es doch, als ob Weg und Ziel wie solche in der geographi­
schen Realität wären, wo Anfangs- und Zielpunkt ausschließlich getrennt sind.
Das ist sein »neurotischer« Widerspruch. Aber so zu denken liegt, wie man heu­
te sagt, »voll im Trend der Zeit«, einer Zeit, die ja auch solche Fragen wie die
nach der Qualität eines Films oder Buches (die eigentlich die »Unverschämt­
heit«, das Wagnis erfordern würden, daß man von seinem Geistsein Gebrauch
machen und in einsamer Verantwortung ein ursprüngliches Werturteil fällen
würde) lieber empirisch-statistisch durch den Blick auf Einspielsumme oder
Verkaufszahlen - gerade nicht entscheidet, sondern abgenommen bekommen
will.
68 Zu Zenons Paradox von Achilles und der Schildkröte siehe W. Giegerich, »Buße für Philemon:
Vertiefung in das verdorbene Gast-Spiel der Götter«, Eranos 51-1982, Frankfurt (Insel) 1983, S.
189-242.
69 Die Transzendierung ist nicht eine positive, sondern erfolgt nur negativ, durch die Aufhebung sei­
nes Natürlichseins innerhalb von diesem.
Will man am Menschsein des Menschen teilhaben, muß man - ganz
gleich ob auf der Anima-Stufe oder innerhalb der Animus-Stufe und in bezug
auf sein Projekt, für das Ziel die quintessentialische Form zu gewinnen - auch
selber die »Unverschämtheit« üben, das Erreichtsein des Ziels dem Weg zu ihm
vorauszusetzen, weil 1. nur so das Ziel überhaupt ist, 2. der Mensch erst mit dem
Sich-Setzen des Ziels bzw. dem von ihm Angesprochen- und Herausgefordert­
sein zum Menschen wird. Man muß die Frechheit (aber auch das von Jung ange­
sprochene Gran Weisheit) besitzen, sich immer schon als Geist, als Sonntags­
kind, als Abkömmling der Götter, als Sohn Gottes zu wissen und sich nur als
solcher auf den Weg zum Erreichen der Gotteskindschaft zu begeben. Es ist dies
eine Frechheit, die sich einst z.B. in der Illegitimität des Inzests, wie wir ihn ge­
deutet haben, und in ähnlich gravierenden Tabubrüchen (natürlich auch in ganz
andersartigen einschneidenden Initiationsgeschehnissen wie etwa dem schama-
nischen Zerstückelungserlebnis) konkretisieren konnte: nämlich auf der Anima-
Stufe; denn in dem logischen Akt, der Inzest heißt, (sofern er denn psycholo­
gisch wirklicher Inzest ist, und das heißt, sofern die innere Logik des Quatemio
tatsächlich ins Spiel kommt) hat der Mensch, ob er es weiß oder nicht, schon
seine Göttlichkeit, sein Pharao-Sein für sich in Ansprach genommen, sich, wie
Jungs katatone Patientin, schon längst logisch auf den »Mond« gebracht oder
wie der Schamane auf die Unterweits- oder Himmelsreise der Seele begeben.
»Treu und freundlich, wie du, erzog der Götter und Menschen / Keiner, o Vater
Äther! mich auf; noch ehe die Mutter / In die Arme mich nahm und ihre Brüste
mich tränkten, / Faßtest du zärtlich mich an und gossest himmlischen Trank
mir... Nicht von irdischer Kost gedeihen einzig die Wesen, / Aber du nährst sie
all mit deinem Nektar, o Vater!« »Im Arme der Götter wuchs ich groß.«70
Bisher habe ich gezeigt, daß nur kraft jener Dreistigkeit erstens das Ziel
überhaupt ist und zweitens die Seele zur Seele, der Mensch zum Menschen wird.
Jetzt kommt etwas Drittes hinzu: Nur mit dieser »Unverschämtheit« macht man
mit dem Erreichenwollen des Ziels überhaupt ernst, nur so fängt man überhaupt
wirklich an, den Weg über Schwelle und Grenze hinweg in die Dimension des
Geistes und der Götter, des »Mehrwerts« überhaupt, zu beschreiten. Übt man
diese »Unverschämtheit« bzw. eine ihr heute entsprechende nicht, dann zeigt
man nichts anderes, als daß man gar nicht zum wirklichen Anfängen mit dem
Werk entschlossen ist; daß man nicht etwa auf dem Weg zum Ziel nie ganz bis
zu diesem gelangen könne, sondern daß man grundsätzlich vor dem erstmaligen
Anfängen mit dem sich auf den Weg Machen verharrt und verharren will, - ähn­
lich wie der Mann, der partout nur im ersten Band eines zweibändigen Wörter­
buchs ein Wort nachschlagen will, das aber im zweiten Band steht. Man zeigt,
daß man zur Selbstbomierang entschlossen ist (auch das ein Entschluß, ein eige-

70 Hölderlin, An den Äther bzw. Da ich ein Knabe war.


nes Setzen!) und sich lieber im Raum vor der (erst um der eigenen Schonung
willen als unüberschreitbar gesetzten) Schwelle einhausen möchte, um bloß von
dem Ziel zu träumen, es bloß anzuhimmeln, lieber als selber und wirklich zum
Ziel auszulangen. Die Unverschämtheit ist auch der Ausbruch aus dem Einge­
sponnensein in eine nur ideale Welt schöner Sehnsüchte und Bilder vom Ziel
und der Durchbruch in die Wirklichkeit, zum Realwerden sei es eines Initia­
tionsweges (Transgression nach Drüben), sei es eines alchemistischen Weges
der Transzendenz zu einer neuen logischen Stufe des Bewußtseins. (Denn auch
in der Anima-Sphäre verdankt sich das Wirklichwerden dem Animus innerhalb
der Anima-Welt und der von ihm ermöglichten Voraus-Setzung des Erreichtha­
bens des Ziels.)
Weil das Ziel als seelisches überhaupt nur ist, wenn es in einem freien lo­
gischen Akt allem nach ihm Streben zuvor im Voraussetzen seiner schon wirk­
lich ergriffen ist und so der Potenz nach schon erreicht ist, fängt das wirkliche
Anfängen mit dem Voraussetzen des Ziels als eines schon ergriffenen und er­
reichten an. Das Anfängen ist uroborisch und nicht ein linearer Weg von hier
nach dort, vom Anfang zum Ende. Es ist als Anfängen logisch (1) immer schon
am Ziel oder Ende gewesen und kommt (2) erst vom Ende her auf sich als An­
fang zurück, um dann (3) das schon ergriffene Ende auch wirklich einzuholen.
Wer nicht in seinem logischen Wesen oder seinem Begriff (sozusagen seiner
Selbstdefinition) schon längst wirklich nach dem Ziel ausgelangt und sich wirk­
lich als für es Bestimmten gesetzt hat, hat sich einfach nicht auf seine Höhe ge­
bracht, er will offenbar schlechterdings nicht in die Dimension hineinragen, in
der es einzig erfüllt und wirklich werden kann. Er sollte daher redlicherweise
das Ziel auch gar nicht anstreben und schon gar nicht über seine Unerreichbar­
keit jammern.
Mit dieser selbstverschuldeten (sei es frei oder aus Angst gewählten) Un­
mündigkeit, mit diesem Verzicht darauf, sich seines Menschseins zu bedienen,
mit dieser in dem Sich-Ansiedeln vor dem als unüberschreitbar gesetzten Limes
bestehenden Selbstbomierung wendet sich die transzendente Funktion heute
noch einmal auf sich selbst an. Diese, so haben wir gesehen, ist ja die aufgehal­
tene Initiation, die gebremste, aufgehobene Transgression nach Drüben, womit
die »transgressive« Energie der Anima-Stufe für die »transzendenten« Zwecke
des Animus umgeleitet wurden. Jetzt aber, wenn die Ganzheit (pneumatische
Form) für prinzipiell unerreichbar erklärt wird und der Mensch sich mit dem
Weg auf das Ziel zu begnügt, vereitelt die animushafte Aufhaltung der (anima­
haften) »Vor-läufigkeit in das Ziel« sogar das Ziel des Animus selbst. Statt
wirklich (auch sich) zu transzendieren, verfängt er sich in sich. Doch auch dies
ist nicht ganz ohne Sinn (so sehr es mittlerweile auch an der Zeit wäre, es zu
durchschauen und sich davon zu verabschieden, da das Bewußtsein eigentlich
schon darüber hinaus ist). Denn der Weg zum Ziel der Animus-Stufe ist kein po­
sitiver Weg vorwärts, sondern verläuft negativ über den erbitterten Widerstand
gegen das Verlassen der waltenden Bewußtseinsstufe, d.h. über das unbedingte
Festhalten ihrer, einen Widerstand, der, indem er alle Möglichkeiten der Stufe
nach und nach erschöpft, seinen eigenen Untergang und den der ganzen alten
Stufe, seiner Intention zuwider, selbst herbeiführt und nur dadurch, nur durch
das absolut Negative des (nicht in dem persönlichen Meinen, sondern in der Tat)
in das Ziel Erinnertwerdenj, ans Ziel bringt.
Wie war es möglich, daß Jung in manchen seiner Aussagen, nicht in allen,
das Erreichen des Ziels dem unendlichen Weg auf das Ziel zu opferte? Hier
kommen wohl vier Dinge zusammen. Einmal dürfte diese Selbstkastration, mit
der Jung unter sein besseres Wissen ging, eine Verbeugung vor dem wissen­
schaftlichen Zeitgeist gewesen sein, vor dessen Mystizismus- oder Metaphysik-
Vorwurf Jung sich fürchtete. Zum andern lag es wohl daran, daß Jung Werk und
Ziel in das Individuum interniert hatte, in welchem das Ziel in der Tat nur antizi­
piert, nie erreicht werden kann, so daß die Utopiisierung des Ziels durchaus auch
folgerichtig war (was unten als dritte Form der Abwehr beschrieben werden
wird). Zum dritten hat es wohl, wie auch das Scheitern der Alchemie, an der
schon besprochenen Vermeidung des Denkens gelegen, also an dem Versuch,
das ganz neue Ziel der Gewinnung der quintessentialischen Form für das Pro­
dukt des Werkes gleichwohl immer noch (unbeirrt) mit den alten Mitteln des
Bewußtseins der mythischen oder Anima-Zeit (Imagination) anzustreben, womit
zusammengeht das unentschiedene Schwanken zwischen christlicher und paga-
ner Einstellung (was uns im letzten Kapitel beschäftigen wird). Viertens dürfte
es aber auch eine Konsequenz der Logik der Moderne gewesen sein, die es Jung
unmöglich machte, die Wirklichkeit des Ziels zu denken', die Jung ebenso wie
Kafkas Mann vom Lande, wie aber auch Kant, dem Verbot aufsitzen ließ, weil
alle drei nicht mehr die zwei Gedanken zusammenbringen konnten, daß man er­
stens das Ziel wirklich erreichen, in das Gesetz wirklich hineingehen, die wirkli­
che Welt (das Ding-an-sich) erkennen soll, und daß zweitens vor dem zu Errei­
chenden ein Torhüter, ein Verbot, ein Tabu oder auch der Vorwurf einer meta­
physischen Erschleichung steht.
Daß etwas aufgegeben und gleichwohl verboten ist, ist ja keine Schikane,
noch eine Ungereimtheit. Der Torhüter als Verbietender stellt kein Hindernis
dar, sondern genau umgekehrt eine Bedingung der Möglichkeit des Erreichens
dessen, was aufgegeben ist. Sein Verbot weist gerade auf das Nadelöhr, durch
das allein der Weg zu diesem, dem initiatischen Ziel führt. Die erschreckende
Überlegenheit, ja grundsätzliche Unüberwindlichkeit des Torhüters wirft den
Menschen von dem logischen Status, in dem er sich definiert durch das, was er
kann und hat, durch seine Ausstattung mit Begabungen, Kräften, Fertigkeiten,
Fähigkeiten, durch sein Ansehen, kurz: durch sein Wesen (essentia), zurück auf
sein nacktes Sein, sein bloßes Dasein. Ihm wird jeglicher natürliche Halt (oder
der Halt an Natürlichem, an Positivem) genommen, jegliche Krücke wegge­
schlagen. Er wird absolut auf den bloßen Punkt seiner »atomen Subjektivität«
(Hegel) reduziert. Seine einfache Existenz ist nun sein einziges »Argument«. Er
hat nichts sonst zu bieten, kann mit nichts sonst noch aufwarten als nur noch mit
der Tatsache seines »Da«-seins. Es wird ihm das Bewußtsein aufgenötigt, daß
keine Leistung, kein Aufwand seiner eigenen Kraft, kein Mittel, das er etwa zur
Verfügung hat, ihm hier weiterhelfen kann. Hier hilft eben nur noch, mit dem
Märchen zu sprechen, das Wunder, das Zaubern, die Hilfe magischer Tiere oder
Geister. »Omnes superfluitates« werden hier einfach weggefegt.
Wozu diese Reduktion, dieses völlige auf sich Zurückgeworfenwerden?
Weil es um die Erzeugung des »Mehrwerts«, um den initiatischen Durchbruch
durch die Ebene des natürlich Gegebenen in die ganz andere Dimension der See­
le und des Geistes geht. Das Verbot schneidet ein für allemal den Rückweg zum
bloß Vorhandenen und Positiven ab und zwingt das Bewußtsein auf den Weg
der reinen Negativität. Das Verbot ist so das genaue Pendant zu dem unver­
schämten die Erfülltheit des Ziels dem Streben nach ihm Voraussetzen.
Hätte der Mann vom Lande umstandslos in das Gesetz hineinspazieren
können, dann hätte er es im Erreichen seiner gerade verfehlt. Er wäre zwar in es
hineingekommen, aber nur so, wie der moderne Europäer einen Einblick in die
Mysterien und Rituale der Afrikaner oder Indianer gewinnt, wenn er deren folk-
loristische Maskentänze bestaunt. Das Gesetz wäre ihm unversehens zu einer
Art touristischen Sehenswürdigkeit, also zu einer Positivität, verkommen und
gar nicht mehr dasjenige Gesetz gewesen, zu dem er eigentlich gelangen wollte,
nämlich zu demjenigen, das die Negativität der Seele und ihr logisches Leben
gültig auszudrücken vermocht hätte. Das Hineinspazierenkönnen in das Gesetz
hätte aus dem Weg zum Ziel einen Weg in der ordinairen Realität, eine Fortbe­
wegung im geometrischen Raum, gemacht, wo das Gesetz in seinem eigentli­
chen Sinn gar nicht zu finden ist. Indem der Mensch im Erschrecken vor dem
Torhüter durch den absoluten Verlust aller seiner positiven »Mittel« aus seinem
»Ich« (dem logischen Status der bloßen Vorhandenheit und des natürlichen
Wollens) herausgesetzt wird, wird ihm der umstandslose, positive Weg zum Ziel
abgeschnitten. Er wird in die absolut negative Er-innerung als die einzig mögli­
che Form der Annäherung an das Ziel gezwungen. Der Weg führt nicht vorwärts
im gewöhnlichen Raum, sondern gerade aus diesem Raum hinaus in die stillen
Räume der Logik, in die Negativität der Seele, oder - mythologisch ausgedrückt
- in die Räume der »Innerlichkeit« (des »Visionären«). Das Ziel liegt eben nicht
als positives vor uns, auch nicht als positives hinter uns, sondern als absolut ne­
gatives (seelisches, geistiges) nur in dem Maße vor uns, wie es auch hinter uns
liegt, weshalb es auch nur in unserem negativ in es Er-innertwerden erreicht
werden kann: dieses ist die Vorwärtsbewegung auf das Ziel zu nur durch das am
gewöhnlichen Vorwärtsgehen Gehindert- und auf sich Zurückgeworfenwerden.
Damm ist der Held des Märchens auch nicht Held im Sinn eines blenden­
den »Superman«, der an Muskelkraft, in der Waffenkunst und an Geistesgaben
schlechthin überlegen wäre. Er zeichnet sich durch nichts anderes als die logi­
sehe Kühnheit aus, mit der er sich erstens von dem Verbot (oder von dem Hin­
dernis einer unmöglichen Aufgabe) erreichen läßt und es zweitens unbeirrt er­
trägt, so daß es ihn in die absolut negative Er-innerung treibt. Wenn er (da, wo
er ganz auf die Nacktheit seiner atomen Existenz zurückgeworfen ist) ein »Gol­
dener« ist, ein Lichtmensch, so widerspricht dies keinesfalls der Möglichkeit,
daß er empirisch gesehen (in bezug auf seine Merkmale) ein »Grindkopf«, ein
Schwächling, ein Dümmling ist.
Kafkas Mann vom Lande läßt sich aber von dem Verbot nicht negativ in
das gesuchte Ziel hinein erinnern. Er läßt seine Sehnsucht nicht von dem Verbot
erreichen, so daß sie auf sich zurückgeworfen und verwandelt würde. Er nimmt
dem Verbot seine verwandelnde Kraft, indem er ihm einfach gehorcht und sein
Streben von ihm abbremsen läßt. Er versteht das Verbot positiv und eindeutig
als bloßes Hindernis (nämlich Hindernis für sein Vorwärtsgehen auf dem Weg
im natürlichen Raum) und vermag sich das Streben selbst durch den Verzicht
auf seine Erfüllung in seiner ursprünglichen Positivität zu erhalten. Er verarbei­
tet sein Erschrecken vor dem Torhüter lieber neurotisch, er nimmt lieber die
schmerzliche Wirkung des Verbots (den Verzicht auf das Erreichen) ganz auf
sich als sein eigenes Ungenügen, also im Sinn eines Minderwertigkeitsgefühls
(seine Schwäche im Vergleich zum Torhüter), als das dreist festgehaltene Vor­
haben selbst dem Verbot und dem Zurückschrecken auszusetzen und ihm das
Erleiden des Aufsichzurückgeworfenwerdens zuzumuten, ihm zuzumuten, daß
es aus einem positiven (und wegen seiner Positivität ungenügenden) Weg im
Raum in den Weg zum Ziel als absolut negative Er-innerung in das Ziel zersetzt
würde. Indem er (nicht sich, sondern) sein Anliegen schont, zeigt er, daß es ihm
mit der Verwirklichung dieses seines Anliegens nicht ernst ist. Und indem er
sich selbst die schmerzlichen Folgen des Verbots tragen läßt, zeigt er, daß es
ihm narzißtisch nur um ihn selbst geht. So widersprüchlich ist die Logik des
Ichs: ihm ist nicht es selbst, sondern sein höchster Wert das Nächste. Es bewahrt
sich, indem es unter größten persönlichen Opfern und Schmerzen sein oberstes
Anliegen rettet. Umgekehrt ist der, dem es wirklich um das opus geht, bereit, es
ohne Schonung der wirklichen Erfahrung auszusetzen.
Die Unverschämtheit, sich über das Verbot hinwegzusetzen und am Vor­
wärtsgehen festzuhalten, ist in ihr selber die Weise, wie man die eigene Sehn­
sucht der Erfahrung des Verbots wirklich aussetzt und ihm Genüge tut, d.h. wie
die Bewegung auf das Ziel zu auf sich zurückgeworfen und so in die Negativität
des Geistes erinnert wird; das dem Verbot Gehorchen ist die Weise, wie man
sich dem Verbot entzieht, es abwehrt. Warum? Weil man, indem man unter Ver­
zicht auf das Erreichen des Ziels die Positivität seines Anliegens vor der zerset­
zenden Erfahrung des Verbots rettet, sich (seine Sehnsucht) so dem Absturz in
die Negativität und der Widersprüchlichkeit des Geistes und der Seele entzieht,
und auf einer eindeutigen, undialektischen Konzeption der Wirklichkeit beste­
hen will (entweder Erlaubnis oder Verbot; entweder das Verbot übertreten oder
ihm gehorchen; entweder hineingehen oder nicht hinein können). Aber in der
Wirklichkeit der Seele ist es so, daß man dem Verbot nur gehorcht, indem man
es zu übertreten sich ermannt, und daß einem das, was man darf, ja soll, verbo­
ten ist, und daß die Unverschämtheit, trotz Verbot vorwärtszugehen, in ihr selbst
das dem Verbot Begegnen, von ihm auf sich Zurückgeworfenwerden und in die
absolut negative Er-innerung Gezwungenwerden ist, und daß man das Ziel nur
erreichen kann, wenn man sein Erreichtsein dem Weg zu ihm schon vorausge­
setzt hat.
Der Schritt über die Schwelle ist also nicht das umstandslose Hineinge­
hen. Das wirkliche Überschreiten der Schwelle ist vielmehr in ihm selbst dies,
daß die eigene Sehnsucht von dem Verbot getroffen wird, so daß diese Sehn­
sucht als weiter vorwärtsgerichtete gehemmt, ganz auf sich zurückgeworfen und
so negativ, geistig wird: weil der Raum jenseits der Schwelle nicht räumlich jen­
seits, sondern in einer anderen Dimension, der der Seele und des Geistes, liegt.
Verbot und Sehnsucht sind nicht zweierlei, sondern dasselbe. Das ordentliche
Erschrecken vor dem Torhüter und die diesem Erschrecken genau äquivalente
»Unverschämtheit«, sich über das Verbot hinwegzusetzen und am Erreichen des
Ziels dennoch festzuhalten, sind in ihnen selber und zusammen der initiatische
Durchbmch, und das Verbot weiterzugehen erweist sich, selber das Erreichen
des Ziels (oder zumindest der Dimension, in der das Ziel liegt) zu sein. Oben ha­
ben wir gesagt, daß das Ziel nichts Seiendes sei, sondern den logischen Charak­
ter einer initiatischen Herausforderung habe. Jetzt können wir hinzufügen, daß
diese Herausforderung ebenso wie die Annahme ihrer durch die dreiste Voraus­
setzung des Ziels als eines schon längst erfüllten ihrerseits nicht positiv, sondern
negativ sind: das wahre Getroffen- und Erreicht-, Zersetztwerden vom Verbot.
Der Weg führt also in Wahrheit nicht vorwärts im Raume an dem Torhü­
ter vorbei (so denkt nur das der Positivität und der Idee der linearen Fortbewe­
gung im geometrischen Raum verhaftete Ich), sondern intensional tiefer in das
Verbot, in das Zurückschrecken selber vor dem Torhüter, hinein. Das Verbot ist
selbst das eigentliche Tor zum Ziel oder die Bahnung des Weges zum Ziel, weil
es aus der Positivität in die Negativität des initiatischen (existentialischen) Be­
wußtseins und damit zugleich in die sakramentalische Logik erinnert. Als das
Verlassenmüssen des Raums der Positivität und das Erreichen der stillen Räume
des Logischen ist das Verbot in ihm selbst schon der Eintritt in das Gesetz, in
das »Selbst«, wie Jung es nennt, in den »Mehrwert«, in die Göttlichkeit des
Menschen, in das sympathetische Weltverhältnis.
Die vollständige Logik des Ziels des Seelenwerkes läßt sich zusammen­
fassend so geben: Das erste Moment ist die Sehnsucht nach dem Ziel. Das zwei­
te ist das wirkliche Anfängen mit dem Streben nach dem Ziel durch die Unver­
schämtheit, der Suche das Erreichtsein vorauszusetzen und sich als Auserwähl­
ten zu setzen. Das dritte ist das aus dem ernsthaften Anfängen folgende von dem
Verbot Getroffenwerden. Das vierte ist die mit dem zweiten Moment identische
Unverschämtheit, sich, es ertragend, über es hinwegzusetzen (im mich Hinweg­
setzen setze ich mich als Auserwählten, als für das Ziel Bestimmten; umgekehrt:
weil ich Gotteskind und so befugt bin, habe ich die Kraft, mich hinwegzuset­
zen). Das fünfte Moment ist die Wirkung des dritten auf das vierte: die Abarbei­
tung der Positivität, die in ihr selbst der initiatische Durchbmch über die
Schwelle und so das Erreichen des Ziels ist.
3. Die dritte Form der Abwehr gegen die Notwendigkeit der Selbstaufhe­
bung der Psychologie zeigt sich als das Festhalten an der Idee der Persönlichkeit
(an der Ganzheit der Persönlichkeit, dem Selbst), mit der das opus in ein seien­
des Wesen hirieingepreßt und das Ziel als etwas (wenn freilich auch nie erreich­
bares) positiv Natürliches gefaßt, d.h. ontologisiert wird, anstatt daß beide {opus
und Ziel) aus dem Gefängnis des Ontologischen ins Freie der durch ihre boden­
lose Negativität und »Überflüssigkeit« ausgezeichneten, nur sich selbst genü­
genden Logik des Inderweltseins entlassen würden. Das Gefangensetzen des
Prozesses wie des Ziels in der Persönlichkeit macht das Inkorruptible oder die
Ganzheit an eben dem fest, das als Endliches und als Seiendes grundsätzlich der
Ganzheit nicht fähig ist. Die Ganzheit kann es nur jenseits (oder besser dies­
seits!) der Persönlichkeit, kraft ihrer Aufhebung, kraft des »äußersten Grades der
Verfeinerung« von allem ontologisch Verstandenem, geben: in der logischen
Form. Das Festhalten an der »Persönlichkeit« schirmt uns wiederum vor dem ei­
genen Absturz aus der Anima-Stufe in die Flüssigkeit der Logik, des Geistes,
und befestigt die »anthropological fallacy«. Es zwingt uns, uns selbst als
Menschen als Positivitäten aufzufassen, und macht es uns unmöglich, im Status
unser selbst als existierender Begriff in der Welt zu sein.
Die drei Abwehrstrategien bewirken den apriorischen, weil durch den lo­
gischen Ansatz garantierten Abort des »Inkorruptiblen« und schützen wirksam
davor, daß das opus rückhaltlos, verbindlich »greifen« könnte, - »greifen« oder
»treffen« nämlich (1.) in unserer innersten Subjektivität (»ich selbst«, d.h. die
logische Form meines Bewußtseins), (2.) im unersetzlichen Jetzt (Wirklichkeit,
Zeit) und (3.) in unserem Begriff, im logischen Status unseres Menschseins und
des Seins unserer Welt. Das Werk geht nach allen drei Hinsichten immer haar­
scharf an der Wirklichkeit vorbei, indem es den Blitzstrahl des Werkes von un­
serer Subjektivität weg auf das von ihr Erlebte, vom Jetzt weg auf eine immer
jenseits des Jetzt bleibende Zukunft, in der allenfalls das Ziel erreicht werden,
d.h. ein Greifen stattfinden könne, und von dem Status unseres Menschseins als
Negativität (Seele oder Geist) weg auf eine, durch ein positives, substantielles
Ziel bestimmte Seele {das Selbst oder die Ganzheit der Persönlichkeit) deflek-
tiert. Die Subjektivität kann frei durchgehen und an der wirklichen Welt und der
Not der Zeit Vorbeigehen, die Zeit wird zur uneigentlichen Frei-Zeit, der
Mensch in seinem Wesen oder Begriff hält sich an seiner von ihm selbst gesetz­
ten Seiendheit fest und muß nicht in seine Bodenlosigkeit als Seele oder Geist
abstürzen, während man gleichzeitig das gute Gewissen haben darf, doch unend-
lieh um das opus bemüht zu sein. Es ist dann (angeblich) nur der Flüchtigkeit
des fugax ille Mercurius oder der ungeheuren Schwierigkeit des Werkes oder
aber unserer Endlichkeit und Unzulänglichkeit zu verdanken, daß es nicht ge­
lingt, während in Wahrheit umgekehrt dem Adepten in jener Flüchtigkeit des
Mercurius, die er vor sich in seiner Retorte erblickt, nur seine eigene, in seinen
Ansatz eingebaute Abwehrstrategie wie aus einem Spiegel entgegenkommt.
Aber wie gesagt, in der Zeit der rituellen Kulturen gelang das Werk, und
nicht nur »als Idee«, sondern wirklich. Da war das Ziel immer schon erfüllt und
erfüllte sich je hier und jetzt verbindlich neu; da wurde in den Ritualen erfolg­
reich die logische Bewegung der Seele immer neu ursprünglich entfacht und in
Flüssigkeit gehalten, so, daß der Mensch sich selbst und seine Welt nur inner­
halb dieses logischen Lebens hatte. Das Ziel konnte in der Tat im Jetzt erfülltes
Ziel sein, weil a) Ritual und Mythos der bestmögliche (»wahre«) Ausdruck des
logischen Lebens der Seele waren und b) der Mensch mit seinem Wesen oder
Begriff ganz auf der Anima-Stufe angesiedelt war und in sie ausgelassen war, in
seinem Wesen in ihr aufging, so daß auch die animahafte logische Form von In­
itiation, Ritual und Mythos den Begriff (von Mensch und Welt) wirklich und
voll erreichte. Aber freilich, obzwar die originäre Herstellung des von reiner Ne­
gativität geprägten »Mehrwerts« auf diese Weise de facto geschah und das logi­
sche Leben der Seele wahrhaft flüssig gehalten wurde, so hatte dieses logische
Leben andererseits doch noch nicht den logischen Status des Logischen, nicht
die Form des Geistes, sondern wurde entsprechend der Anima-Stufe als Natur­
wahrheit und in natürlichen Abläufen versenkt erlebt. Die Rückkehr zu dieser
Möglichkeit ist seit dem Bruch der Zeit versagt. Jetzt kann »das Ganze« nur
dann »noch einmal wahr werden«, wenn es so wahr wird, daß es als Logisches,
in der logischen Form des Geistes gewußt wird. Unser Ziel ist wie das der Al­
chemie das Animus-Ziel des Erreichens der äußersten Verfeinerung (der quinta
essentia nicht als Essenz, sondern als der pneumatischen Form des Bewußtseins
/ Inderweltseins).
Ob dies sein kann oder nicht; ob und wie es z.B. möglich ist, das Ziel als
jetzt immer schon erfülltes in der Tat hinter sich zu haben und Mensch und Welt
in die absolute Negativität der logischen Bewegung wirklich zu entlassen, das
hängt heute davon ab, bis zu welcher Tiefe das Bewußtsein von der christlichen
Trinität, insbesondere von dem Heiligen Geist innerhalb der Trinität, durchwirkt
wird und ihr im Durchwirktwerden Genüge tut, und umgekehrt, in welchem Ma­
ße es sich ihr entzieht - oder ihr vielleicht auch einfach schlechterdings nicht ge­
wachsen ist.
Der Animus als der dreieinige Gott
und die Trinität als das Gefäß und die Substanz der Geschichte der
abendländischen Seele

Die Quaternität - eine Lösung der Trinitätsproblematik? Im Denken


C.G. Jungs spielt die Problematik der christlichen Trinität eine große Rolle. Da­
vid Miller hat die Bedeutung der Trinität in Literatur und Leben in seinem Buch
über dieses Themas im einzelnen aufgewiesen.1 Psychologisch bewertet jedoch
ist die Trinität nach Jung in ihr selbst unzureichend. Der Ausdmck der Vollstän­
digkeit oder Ganzheit (im Bereich der Zahlen) ist die Vier (wobei die Vier häu­
fig die Form 3 + 1 hat: drei Gleiche und ein aus der Reihe fallendes Viertes; z.B.
die Symbolisierung der vier Evangelisten, im Anschluß an die Gottesvision He-
sekiels, durch drei Tiere —Löwe, Stier, Adler —und einen Menschen). Der Trini­
tät fehlt das Vierte. Jung glaubte im Zusammenhang mit seiner Psychologie des
Selbst an die Notwendigkeit der Ergänzung ihrer zur Quaternität durch ein Vier­
tes, insbesondere das Weibliche (womit die typische Form der Vier gegeben ist:
drei gleiche [männliche] plus eine ungleiche [weibliche] Person). Wegen dieser
seiner Überlegungen setzte er große Hoffnungen auf das erst in diesem Jahrhun­
dert erklärte Dogma von der Assumptio Mariae (Marias Himmelfahrt). Er hielt
dafür, daß damit Bewegung in die seit Jahrhunderten stagnierende christliche
Lehre gekommen sei und darin ein Ansatz zur Kompensation des im trinitari-
schen Gottesverständnis liegenden Mangels sei. Dabei führte er das Ereignis der
Erklärung des Dogmas nicht einfach nur auf intellektuelle Entscheidungen der
Kirche zurück, sondern sah in ihm eine Antwort auf einen aus der abendländi­
schen Seele selber stammenden, seit langem untergründig wirkenden Drang, ih­
ren Mangel zu kompensieren.12
Ich vermag diesen Überlegungen Jungs nicht beizupflichten. Mit der Qua-
temität und der Aufnahme des Weiblichen in die Reihe der göttlichen Personen
kann, so meine ich, die von Jung mit Recht angestrebte Vollständigkeit oder
Ganzheit (wenn sie denn recht verstanden werden) gerade nicht erreicht werden,
genauso wenig wie mit Silvia Schroers Rekurs auf die altorientalische Liebes­
göttin oder »Jesus Sophia«. Die hier liegende Problematik muß ausgebreitet
werden. Vorwegnehmend kann ich sagen, daß der Grund für meine Kritik ist,
1 David L. Miller, Three Faces of God. Traces of the Trinity in Uterature and Life, Philadelphia
(Fortress Press) 1986, bes. S. 33-36.
2 David Miller in seinem angegebenen Buch macht überzeugend klar, daß man Jung nicht imdiffe­
renziert ausschließlich eine negativ-kritische Einstellung zur Trinität zuschreiben dürfe, daß viel­
mehr drei verschiedene Dimensionen (die teilweise drei Phasen seiner geistigen Entwicklung zu­
geordnet weiden können) bezüglich der Sache des triadischen Selbst unterschieden werden kön­
nen und müssen. Ich stimme Miller zu, gehe selbst aber nicht näher auf diese Differenzierungen
ein, weil mich hier nur der eine Aspekt, Jungs Kritik an der Trinität von der Quaternität her, inter­
essiert.
daß diese Ergänzung ganz auf der inhaltlichen, der Anima-Ebene bleibt. Die
Vollständigkeit wird noch anschaulich-quantitativ und äußerlich (d.h. geistlos)
vorgestellt als Vierheit. Das rein Männliche soll wie in der späteren, heute gän­
gigen Patriarchatskritik durch das Weibliche ergänzt werden. (Darin, daß eine
solche Ergänzung nur wirklich ist, wenn sie im Gottesbild selbst verankert ist,
pflichte ich Jung bei. Allerdings setzt dies noch voraus, daß diese Verankerung
im Gottesbild ihrerseits tatsächlich im Leben der Seele verankert ist und nicht
nur »gemacht«, vom Bewußtsein aus ideologischen Gründen ausgeklügelt wur­
de, nicht nur »sein soll«.)
Aber dabei wird verkannt, daß in dieser um ein Viertes erweiterten Trini­
tät gerade nicht mehr unsere Vollständigkeit liegen kann, weil dies auch nicht
der Punkt ist, in dem unsere Unvollständigkeit wirklich liegt. Unsere Unvoll­
ständigkeit und daher auch unsere Not liegt in Wahrheit darin, daß mit unserer
Wahrheit nicht wirklich ernst gemacht worden ist; daß das trinitarische Gottes­
bild nicht ausgeschöpft ist. Für uns gibt es innerhalb der Trinität nur die noch
bildhaft vorstellbaren zwei ersten Personen. Die dritte Person, der Heilige Geist,
bleibt eine bloße Formel, bestenfalls eine unwirkliche Ankündigung. Das heißt,
der eigentlich anstehende pneumatische »Zustand« (»quintessentialische« logi­
sche Status) ist nicht erreicht.
(Anmerkungsweise sei noch darauf hingewiesen, daß das Jungsche Pro­
blem der Quaternität nicht einfach mit dem im vorigen Kapitel besprochenen
Thema des [Heirats-] Quatemio vermischt werden darf, obwohl beide scheinbar
dasselbe, nämlich »Vierheit«, ausdrücken. Es handelt sich nämlich um ganz
distinkte archetypische Sachverhalte: der Quatemio ist die sich innerhalb ihrer
selbst zur Vier vertiefende und weitende Zwei: zwei Paare, von denen das eine
der immanent-transzendente Doppelspieler des anderen ist; die Quaternität ist
die additiv [durch einen äußeren Zusatz] um ein ganz anderes Viertes ergänzte
Drei: 3 + 1.)
Jung selber hatte das Fehlen des Heiligen Geistes im christlichen Abend­
land in seiner ganz persönlichen Biographie schon als Kind lebendig erfahren,
und das Problem, das mit der Trinität und dem Unwirklichbleiben des Heiligen
Geistes gesetzt war, hatte ihn als sein eigenes angesprochen. Über seinen Kon­
firmationsunterricht durch seinen Vater, einen Pfarrer, berichtet er:
Einmal blätterte ich im Katechismus, um etwas anderes zu finden als die mir senti­
mental klingenden und im übrigen unverständlichen und uninteressanten Ausführun­
gen über den »her Jesus«. Da stieß ich auf den Paragraphen über die Dreieinigkeit
Gottes. Das war nun etwas, das mein Interesse herausforderte: eine Einheit, die zu­
gleich eine Dreiheit ist. Das war ein Problem, dessen innerer Widerspruch mich fes­
selte. [Jung war schon als Kind und »von Natur« Dialektiker!] Ich wartete sehnlichst
auf den Moment, wo wir zu dieser Frage kommen würden. Als wir soweit waren,
sagte mein Vater: »Wir kämen jetzt zur Dreieinigkeit, wir wollen das aber überschla­
gen, denn ich verstehe eigentlich nichts davon.« Einerseits bewunderte ich die Wahr-
haftigkeit meines Vaters, andererseits aber war ich aufs tiefste enttäuscht und dachte:
Da haben wir’s, sie wissen nichts davon und denken auch nichts. W ie kann ich dann
davon reden?3

Die etwas später erfolgte erste Teilnahme an der Abendsmahlfeier war dann für
Jung »ein fatales Erlebnis«. »Es war leer ausgegangen, mehr noch, es war ein
Verlust.« (Dies deshalb, weil er erfahren hatte, daß das »große Geheimnis«, das
er darin vermutet hatte, ausgeblieben war.) »Ich wußte, daß ich nie mehr an die­
ser Zeremonie teilnehmen konnte. Für mich war sie keine Religion und eine Ab­
wesenheit Gottes. Die Kirche war ein Ort, an den ich nicht mehr gehen durfte.«
Jung lernte verstehen, daß in der Kirche »kein Leben, sondern Tod« ist. »Heftig­
stes Mitleid mit meinem Vater erfaßte mich. Auf einmal verstand ich die Tragik
seines Berufes und seines Lebens. Er rang ja mit seinem Tode, den er nicht
wahrhaben konnte. ... Ich konnte ihn, meinen lieben und generösen Vater, der
mir so vieles überließ und mich nie tyrannisiert hatte, nicht in jene Verzweiflung
und in jenen Frevel stürzen, die nötig waren zum Erlebnis der göttlichen Gnade.
Nur ein Gott kann das. Ich darf es nicht tun. Es wäre unmenschlich.«4
Was Jung hier am Schluß erwägt und verwirft (nämlich den Vater in Ver­
zweiflung und Frevel zu stürzen), wäre wohl nicht nur unmenschlich, sondern
auch einfach unmöglich. Denn jene Verzweiflung und jener Frevel, die tatsäch­
lich das Erlebnis der göttlichen Gnade bringen können, müssen wohl schon von
Hause aus göttliche Verzweiflung und göttlicher Frevel, der Weg zur Erfüllung
muß schon in der Erfüllung gegründet sein. Sie können nicht von uns »gemacht«
werden und sind nicht nur menschlich. Andernfalls müßte man erwarten, daß in
unserem an Verzweiflung und Frevel überreichen Jahrhundert das »Erlebnis der
göttlichen Gnade« den Menschen in Überfülle zuteil geworden wäre.
Wir wissen von Jung selbst, daß er das geistliche Problem seines Vaters,
das in der Frage der Dreieinigkeit wurzelte und kulminierte, als sein eigenes auf
sich genommen hat, als das, das die Psychologie zu lösen hat, weil es das Pro­
blem der abendländischen Psyche ist. Ein großer Teil seiner späteren Schriften
(nicht nur die über ausdrücklich religiöse Themen wie die Trinität selbst oder
das Wandlungssymbol der Messe oder »Antwort auf Hiob«, sondern auch seine
diversen alchemistischen Studien) stellt den Versuch dar, die übernommene
Verpflichtung einzulösen.
Es stellt sich für uns die Frage, wenn Jung dann auf die Erweiterung der
Trinität zur Quaternität und auf das in die (so zur Quaternität werdende) Trinität
aufzunehmende Weibliche (die Mutter Gottes) als Lösung des Problems kommt,
ob diese wirkliche Lösung auch wirklich die Lösung von dem ist, was zur Lö­
sung anstand. Es könnte auch sein, daß sie eine Ablenkung vom ursprünglichen
Problem und eine Ersatzlösung ist, daß Jung damit gerade nicht das Problem

3 C.G. Jung, Erinnerungen S. 58.


4 C.G. Jung, Erinnerungen S. 60 f.
seines Vaters gelöst hat. Bevor wir uns dieser Frage stellen, müssen wir uns
klarmachen, wovon hier, mit dem Problem der christlichen Trinität, überhaupt
die Rede ist. Wovon in doppeltem Sinn: erstens sachlich-thematisch, zweitens in
bezug auf die Größenordnung des Problems. Ich beginne mit dem zweiten.
Die Trinität - ein Problem des persönlichen Glaubens oder der öffent­
lichen Erkenntnis? Zunächst will es scheinen, als ob es sich hier nur um ein
ganz persönliches Problem Jungs handele, das mit seiner spezifischen Biogra­
phie, nämlich seiner Vaterbeziehung, zu tun habe bzw. ursprünglich das beson­
dere Problem seines Vaters sei. Es leuchtet dann freilich auch sofort ein, daß es
darüber hinaus ein allgemeines theologisches Problem, eines der Kirche über­
haupt, eines des Glaubens ist. Aber auch das ist zu kurz gegriffen. Freilich:
Kirchlicher Zwang und antikirchliche emanzipatorische Aufklärung haben von
entgegengesetzten Seiten und aus entgegengesetzten Motiven einander dabei in
die Hand gearbeitet, die Gottesfrage für eine bloße Glaubensangelegenheit aus­
zugeben und so zu verharmlosen oder zu entschärfen. Denn ist die Trinität eine
Glaubensangelegenheit, dann ist sie logisch nur noch eine Sache des individuel­
len Beliebens und der Frei-Zeit, aber nicht mehr öffentlich von Belang, nicht
mehr eine kollektiv verbindliche Wahrheit. Die Konspiration von Kirchen und
Säkularismus verhalf dazu, den trinitarischen Gott in Schach zu halten und die
Wirklichkeit von ihm frei zu halten. In der Kirche und im Glauben war er gut
abgestellt, für beide Seiten, für Anhänger des Glaubens ebenso wie für seine
Gegner.
Dadurch daß Gott zur Sache des Glaubens herabgewürdigt wurde, wurde
bewirkt, daß die Frage nach der Existenz Gottes (»Gibt es Gott?«) zur Grundfra­
ge wurde. Zur Entscheidung stand jetzt zuallererst einmal: Glaube an Gott oder
Atheismus. Aber logisch sind beide das Selbe: Gott wird als ein (wie immer vor­
zustellendes) höchstes Wesen angesetzt. Was heißt das? Es heißt, daß Gott so
behandelt wird, als ob er ein exotischer Gegenstand, ein Fabelwesen, wäre, vom
logischen Status (wenn auch nicht von der Größenordnung und Macht) her so et­
was wie die Seeschlange oder das Loch-Ness-Monster, die viele gesehen haben
wollen, an die viele glauben, aber deren Existenz von noch mehr Menschen als
Aberglaube oder Ammenmärchen bestritten wird. Logisch ist der Atheismus die
Wahrheit des Glaubens an Gott als an das höchste Wesen und der Aberglaube
das Geheimnis des Glaubens. Wenn der erste russische Astronaut vom Himmel
herunter verkündete, da oben sei nirgends ein Gott zu finden, so war dies zwar
eine etwas geschmacklose und auch alberne Persiflage des Glaubens, aber als
diese Persiflage gleichwohl die Enthüllung seiner geheimen Wahrheit. Nicht erst
durch die atheistische Leugnung Gottes, sondern schon durch den Gottesglauben
selbst wird Gott abgewehrt: isoliert, verharmlost, entmachtet (derealisiert).
Wieso? Weil der Name »Gott« von Hause aus überhaupt kein seiendes
Wesen bedeutet, das irgendwo bestehen soll. Mit »Gott« wird etwas ganz ande­
res gesagt. Mit dem Gottesnamen, mit der Anbetung Gottes drücke ich aus, daß
ich das (schon längst) wirklich gelebte Leben (nicht nur mein eigenes, sondern
mein eigenes als das Leben eines Glieds der wirklichen Gesellschaft, in der ich
lebe, als das Leben eines Glieds meiner ganzen Kultur mit ihrer Tradition und
Geschichte) in seiner letzten Tiefe als die Wahrheit über mein Leben und über
das meiner Kultur anerkenne; daß ich mich verbindlich unter meine Wirklichkeit
stelle und mit ihr ernst mache. Das Aussprechen des Namens Gott ist das Zei­
chen darauf, daß ich den wirklichen Weltumgang, das wirkliche Weltverhältnis
der Menschen meiner Kultur oder den wirklichen Weltbegegnungszusammen­
hang in seinem ganzen Umfang und Ausmaß, in seiner letzten Tiefe, in seiner
Unerbittlichkeit und Verbindlichkeit, in seiner immanenten Unendlichkeit und
Absolutheit für uns zur Kenntnis zu nehmen bereit bin. Der Name Gott für unse­
re reelle Wahrheit ist - weit entfernt davon, eine Mystifizierung darzustellen -
nur der Ausdruck dafür, daß der Mensch sich dieser seiner faktisch ohnehin be­
stehenden Wahrheit nun auch noch bedingungslos auszusetzen bereit ist, daß es
ihm wirklich Emst ist mit ihr in ihrer innersten Tiefe und als der absoluten
Macht über ihn und daß er sie über ihr faktisches Die-Wahrheit-Se/n hinaus auch
noch ohne Vorbehalt als seine Wahrheit anerkennt (religio, hier von religare ab­
zuleiten: Verbindlichkeit, »Bindung an den Gott«). Und das heißt nichts ande­
res, als daß er sie heilig hält (wobei »Halten« einen aktiven, fortdauernden Ein­
satz, ein sittliches Tun impliziert, das sich in früheren Zeiten als »symbolisches
Leben« [Jung], d.h. als rituelle Praxis, zeigte). Denn das (Erfahren des) Heili-
ge(n) ist das Aufwachen des Menschen zu der Erfahrung der Wahrheit unseres
gelebten Lebens, das Aufwachen zu der inneren Unendlichkeit dieser unserer
endlichen Wirklichkeit. Oder der Name Gott ist das Zeichen dafür, daß die
Wahrheit, in der der Mensch je reell lebt, in der Tat als Wahrheit (Unverborgen­
heit) offenbar und der Mensch (insoweit) bewußt geworden ist.
Durch die Frage nach der Existenz Gottes wird demgegenüber schon der
Begriff von Gott (oder Gott in seinem Begriff) verharmlost. Er wird, wir haben
das schon gesehen, erstens ins Gegenständliche und dieses noch einmal ins Exo­
tische abgedrängt. Diese Frage und mit ihr der Glaube an Gott, aus der sie resul­
tiert, dient (ebenso wie die Leugnung Gottes) der Abwehr: dadurch, daß der mo­
derne Mensch den Gottesbegriff so faßt, kann er sich nämlich aus seiner Wirk­
lichkeit, aus der Wirklichkeit seines Weltumgangs (nicht praktisch, wohl aber
psychologisch) heraushalten und diesen wirklichen Weltauseinandersetzungs­
prozeß in seiner bestehenden Form dennoch gleichzeitig unbehelligt weitervoll-
ziehen. Indem er seinem wirklich gelebten Leben in der Welt das Prädikat der
Wahrheit entzieht und dem, was doch in der Tat seinen wirklichen Weltumgang
immanent bindet und prägt, den Namen Gott und den Charakter der Transzen­
denz (mit Jung könnte man auch in wissenschaftlicher Sprache sagen: des Ar­
chetypischen) vorenthält, um »Gott« aus der Lebensrealität (dem, was tatsäch­
lich getan wurde und wird) hinaus an den Rand der Welt, ins Jenseits oder
Nichts des zu Glaubenden und zu Bezweifelnden zu verbannen, so daß er dann
nur noch den Status eines außerweltlichen (sich als unsichtbarer und geheimer
Drahtzieher hinter der Szene betätigenden) höchsten Fabelwesens hat; indem er
also »Wahrheit« und »Gott« fiktionalisiert: befreit er —nicht reell, wohl aber
psychologisch (für sein Erleben und Vermeinen) - sein wirkliches Tun und Las­
sen in der Welt von dem Charakter der Unbedingtheit (Absolutheit) und Unend­
lichkeit und täuscht sich selbst so eine psychologische oder metaphysische
(wenn auch nicht eine empirisch-praktische) Folgenlosigkeit seines Weltum­
gangs vor. Er gibt sich eine metaphysische Narrenfreiheit. Sein reales Leben
steht jetzt ohnehin nicht in der Wahrheit, und so »kommt es letztlich nicht drauf
an«, wie sein Weltverhältnis ist. Mit seinem »Seelenheil« hat es nichts mehr zu
tun (höchstens noch mit seinem »Überleben«). Die Wahrheit gehört ja nur in
den Glauben, in einen Sonderbereich. Das ist die Neurose der Neuzeit.
Ich sage deswegen: das Problem der Trinität ist nicht nur das von Jungs
Vater, nicht nur das der Kirche, sondern auch das des christlichen Abendlandes
überhaupt. Und es ist nicht eine Angelegenheit des Glaubens, sondern des Wis­
sens, der wachen, redlichen, wirklichkeitsorientierten Erkenntnis. Die Trinität,
das ist das Gefäß und die Substanz des Lebens des abendländischen Menschen.
Und sie ist die Einheit von Gefäß und Substanz (Inhalt des Gefäßes). Als Gefäß
ist sie der geistige Rahmen, die Vorzeichnung der Bahnen, auf denen sich das
ganze Leben der Seele im christlichen Abendland seit Jahrhunderten abspielt.
Als Substanz ist sie die prima materia, der Vorwurf, das geheime, aber wirkli­
che Pro-blem oder Thema der Seelentiefe, mit dem wir seit Jahrhunderten wirk­
lich leben und an dem wir, ohne es zu merken, laborieren. Als die Einheit von
Gefäß und Substanz ist sie die archetypische Dominante des Bewußtseins. Sie
ist das Herrschende, das die Entwicklung Treibende und uns in Ansprach ge­
nommen Habende, das uns Tragende und Erfüllende. Sie ist, wie es zu allen
Zeiten und überall die Götter waren, das authentische, gültige Symbol, der ge­
heime Schlußstein unserer Kultur.
Sie ist gerade nicht eine bloße Angelegenheit der Pfarrer und Theologen,
der Kirche und der Gläubigen. Sie ist, weil sie das authentische und wirkliche
Symbol des Abendlandes ist, unsere (unser aller) Wahrheit (ganz unabhängig
von unserem Glauben oder Unglauben), unser aller psychisches Lebenselement,
so wie die Luft oder die Umwelt unser biologisches Lebenselement ist. Daß die
Luft unser Lebenselement ist, war zwar schon immer bekannt, wurde aber erst
richtig bewußt, als sie verschmutzt war. Bei der Trinität ist dies anders. Sie wur­
de seit langem für eine bloße Glaubensangelegenheit gehalten; und daß sie uner­
füllt war, von Anfang an unerfüllt und im Lauf der Jahrhunderte immer drängen­
der in ihrer Unerfülltheit, und daß wir alle de facto unter ihrer Unerfülltheit lei­
den, das macht sie keineswegs mehr bewußt. Man hat im Gegenteil den Ein­
druck, daß sie immer mehr aus dem Bewußtsein verschwindet.
Man muß nicht Arzt für innere Medizin, nicht Endokrinologe, nicht Phy­
siologe sein, um richtig verdauen zu können. Der Organismus besorgt dies in ei­
gener Regie, mit seinem eigenen, nicht unserem Wissen. Der Arzt und das phy­
siologische Wissen werden erst wichtig, wenn es zu einer Störung kommt. Auch
im Seelenleben müssen wir nicht bewußt wissen, was unsere seelischen Domi­
nanten sind und was hier die ihnen gemäßen Abläufe zu sein haben. Solange es
keine Störung gibt, trägt die unbewußte Seele selber mit ihrem, nicht unserem
Wissen den Dominanten oder Archetypen, d.h. den Göttern, Rechnung, im fak­
tisch vollzogenen Ritual, in der religiösen Praxis, in dem, was Jung das »symbo­
lische Leben« nannte. Symbole werden zunächst einmal reell gelebt, nicht intel­
lektuell gewußt und verstanden.5 Bis zu diesem Punkt ist die Lage in Physiolo­
gie und Psychologie gleich. Der erstaunliche Unterschied zwischen beiden tritt
im Fall der Trinität da in Erscheinung, wo die Störung oder Not, in der das
Abendland seit Jahrhunderten lebt, bewirkt, daß das eigentliche Problem (d.h.
das Problem, daß die Trinität das eigentliche Problem ist) immer mehr verdun­
kelt wird und allmählich ganz aus dem Bewußtsein verschwindet, wenn man da­
von absieht, daß nach Hegel Jung ganz allein auf weiter Flur wohl dank seiner
psychologischen Genialität die zentrale Bedeutung der Trinität für unsere Le­
bensrealität ins Bewußtsein gerückt hat. Jung erkannte: »Unsere Voraussetzung
ist und bleibt das Christentum, welches je nachdem elf bis neunzehn Jahrhunder­
te umfaßt«. »Wir wurzeln in christlichem Boden.«6
Wir sind nicht frei, uns unsere prima materia, unser wahres Problem oder
die Gestalt unserer Wahrheit auszuwählen. Sie wird uns, ob wir wollen oder
nicht, von unserem geschichtlichem Ort aufgegeben. Wir sind immer schon in
sie hineingeboren. Wir haben höchstens die Wahl (und auch das nur in engen
Grenzen), unsere Wahrheit als verpflichtende Aufgabe auf uns zu nehmen -
5 Das »symbolische Leben« ist die rituelle Praxis, die man vollzieht, weil »man das so macht und
immer schon gemacht hat«. Jung: »Man tut es einfach, d.h. ohne Reflexion, weil man es immer
schon so getan hat« (GW 16 § 437). Es ist in der Regel völlig unbewußt, nicht anders als unbe­
wußte Köiperprozesse. Der Unterschied zu letzteren im Hinblick auf Bewußtheit ist nur der, daß
wir von den Körperprozessen zunächst einmal überhaupt nicht wissen, daß sie in uns Vorkom­
men, während die ritueUe Praxis als Daß natürlich bewußt ist, weil sie im Tagesablauf (als beson­
dere Andachtszeit mit ihren Gebräuchen und dazu benutzten Utensilien) oder im Ablauf des Jah­
res (als Festtage und deren Zelebrierung zusammen mit den heiligen Zeremonien, Plätzen, Gerä­
ten und Gebäuden) sichtbar vor Augen steht Aber daß sie uns vor Augen liegt und insoweit be­
kannt ist, zeigt nur, daß das symbolische Leben immer schon seelisches und nicht physiologi­
sches Leben ist. Das Seelenleben spielt sich von Hause aus auf einer Bühne ab, der Bühne des
Kultus und der Kultur, es stellt sich selber dar. Es wird sichtbar dargelebt. Seele ist (wenn nicht
sekundäre Verdrängungsmechanismen hinzukommen) immer schon draußen in der Welt und so
bekannt. Das gerade ist das Psychische daran im Unterschied zu leiblichen Vorgängen. Aber:
»Das Bekannte überhaupt ist dämm, weil es bekannt ist nicht erkannt« (Hegel, Phänomenologie
des Geistes, S. 35), psychologisch gesprochen: nicht bewußt; es ist das Unbewußte, insbesondere
das kollektiv Unbewußte. Hier gilt es die Spannung auszuhalten, daß das Unbewußte nicht das
ist von dem man überhaupt nichts weiß, sondern das, das durchaus in der Faktizität seines Vor­
kommens oder von uns Praktiziertwerdens bekannt sein kann, aber nicht in seinem Warum und
seinem inneren logischen Sinn und Gehalt gewußt wird.
6 C.G. Jung, GW 9/II § 271,273.
oder uns ihr zu verweigern, unser Bewußtsein ihr gegenüber blind zu stellen, uns
unter den logischen Status, auf dem sie steht, herunterzubomieren.
Es gilt also einzusehen: Wir hängen alle reell von der Trinität ab, werden
von ihr getrieben. Sie ist gerade nicht nur etwas, was den Gläubigen (die kleine
Gruppe der Gläubigen, ihr Gefühl und Meinen) und nur den besonderen Bezirk
des ganzen modernen Lebens, der von unserer Religionsfreiheit aus dem wirkli­
chen Leben herausgeschnitten und freigehalten wird, betrifft. Sondern daß sie
nur diesen Gläubigen betreffe, und auch dies nur aufgrund von dessen irrationa­
ler Geborgenheitssehnsucht oder Verblendung, das ist gerade nur unsere Ver­
blendung bzw. unsere? methodisch betriebene Abwehr. Die Trinität ist so wie
Aids oder Krebs oder Luftverschmutzung ein Gegenstand des öffentlichen, ra­
tionalen Interesses, sogar dann noch, wenn dieses sich ihm verschließt.
Wer in den Schulen nicht am Religionsunterricht teilnimmt, bekommt
heute als Ersatz ein Schulfach »Ethik« angeboten. Dies ist symptomatisch für
die Verlogenheit und Feigheit, mit der unser wahres Problem vermieden wird.
Statt die christliche Religion einfach nur aus ihrer kirchlichen Bindung und ihrer
konfessionellen Ungestalt (ihrer Ummünzung zur Konfession) zu befreien, da­
mit sie als die wirklich gelebte, reelle Wahrheit unserer Kultur in einem nur der
Erkenntnis dienenden und für alle verbindlichen Schulfach, fern von allem
Glauben, gelehrt und studiert werden könnte, befreit man sich von unserer
Wahrheit insgesamt zugunsten eines neutralisierten Faches »Ethik«, das notwen­
digerweise ausschließlich das Ichbewußtsein und den ichhaften Willen anvisiert
und die Seelentiefe (und damit die absolute Wirklichkeit) ausläßt, ja von ihr ab­
lenkt.
Es gehört wohl etwas Mut oder Unverschämtheit und vielleicht auch, mit
der Formulierung Jungs, ein »Gran Weisheit« dazu, die Sache, um die es hier
geht, bei ihrem rechtmäßigen Namen, dem Gottesnamen, zu nennen und nicht
vor der einfachen Erkenntnis auszureißen, sondern sie unverblümt auszuspre­
chen: daß die christliche Trinität, der dreieinige Gott, unser aller Wahrheit und
das die »Libido« des abendländischen Menschen Bindende ist, ohne diese Aus­
sage sofort dadurch zu entschärfen, daß man sich vornehm oder verschämt hin­
ter der Versicherung versteckt, daß mit ihr nur eine Glaubensaussage gemacht
sei. Die mannigfachen Weisen der Vermeidung des Gottesnamens für unsere
Wahrheit sind Ausreden und Ausflüchte. Das Ausweichen auf Ethik, um nur bei
diesem einen Beispiel zu bleiben, ist nicht etwa rationaler. Es ist nur das Zei­
chen darauf, daß der moderne Mensch sein wirkliches Problem nicht mehr in
seiner letzten Tiefe und Unerbittlichkeit, sondern nur noch obenhin zur Kenntnis
zu nehmen bereit ist. Die Zärtlichkeit des Bewußtseins möchte sich schonen, um
aus seiner seligen Ahnungslosigkeit nicht herausgerissen zu werden, einer Ah­
nungslosigkeit, die aber selber gar nicht so ahnungslos ist, insofern sie eine nach
dem längst stattgehabten Verlust der Unschuld hergestellte und kultivierte Ah­
nungslosigkeit ist (Neurose). Er stellt sich nicht mehr unter seine Wahrheit. Er
hält sich raus und setzt das Leben als Disneyland an.
Damit wären Rang und Größenordnung unseres Themas - in der vorläufi­
gen Weise assertorischer Behauptungen - benannt. Wir müssen jetzt klären, von
was eigentlich inhaltlich die Rede ist, wenn wir von der Trinität handeln. Indem
wir erkennen, was sich hinter der Trinität verbirgt, wird auch das (bezüglich der
Allgemeinverbindlichkeit und Macht der Trinität über uns alle) bisher nur Be­
hauptete einsehbar.
Die Trinität als Kristallisationspunkt der Animusthematik. Die Trini­
tät ist das geschichtlich höchste und für uns schlechterdings gültige Symbol, in
dem sich die Animus-Syzygie-Thematik der abendländischen Seele selber au­
thentisch formuliert. Es versteht sich nach dem Gesagten, daß ich mit diesem
Satz gerade nicht eine (Glauben für sich fordernde) theologisch-dogmatische
Behauptung aufstelle, also einem Sollen Ausdruck verleihe. Ich gebe vielmehr
eine Deutung der längst wirklichen Phänomenologie der abendländischen Le­
benswirklichkeit, formuliere also eine Erkenntnis. Der Animus ist in Wahrheit
nicht eine »psychologische Funktion« im »Innern« des Menschen, sondern hat
als seelische Wirklichkeit seine Wahrheit in dem trinitarischen Gott. All das,
was wir über die Phänomenologie des Animus und die geschichtliche Not im
Übergang von der Anima-Stufe über die sogenannte Animus-Stufe zur Syzygie-
Stufe vorgetragen haben, kommt in der Trinität zusammen. Sie ist der Kulmina­
tionspunkt oder die Krönung der Animus-Psychologie. Es fällt nicht schwer,
dies näher aufzuzeigen.
1. Die rein männliche Trinität ist die innere Differenzierung des monothe­
istischen Vatergottes. Dieser ist das, was er ist, dadurch, daß er sich geschicht­
lich von der vorangegangenen religiösen Situation, dem ausgeprägt sinnlich­
naturhaften vorderasiatischen Polytheismus, zu sich selbst abgestoßen hat. Der
Monotheismus verdankt sich der Negation und freien Setzung und hat diese im­
mer noch in sich: »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir«. Im Sollen
liegt die Setzung, das »keine anderen« drückt die Negation (das sich selbst Ab­
stößen) aus. Wir begegnen hier also dem Symbol, in dem die Anima-Stufe auf­
gehoben und die Animus-Stufe in ihrem Gegensatz zur Anima-Stufe oder als die
Aufgehobenheit dieser begründet wird.
2. Innerhalb der Trinität begegnen wir der inneren Dynamik des Animus.
Der Vatergott, der schon Hiob gequält hat, erscheint als der Mörder, Töter. Er
verlangt die Schlachtung eines Opfers, die Kreuzigung. Eigentlich gilt der Tö­
tungswille dem Anderen: der sündigen Menschheit, die (wie das Mädchen im
Blaubart-Märchen) sein Verbot übertreten hat (im Garten Eden ein für allemal
und auch später immer wieder neu). Die Menschheit hat den Platz der Braut
(Anima) inne. Aber solange sich das Töten gegen die Anima richtete, bestünde
die Möglichkeit, das Andere als das schlechterdings Andere mißzuverstehen.
Dieses Mißverständnis wird ausgeschaltet, indem die Menschheit geschont wird.
Das Getötete ist jetzt der eingeborene Sohn. Damit wird unmißverständlich ins
Bewußtsein eingeholt, daß es das eigene Andere, das Andere seiner selbst ist.
Gott selbst ist sein eigenes Tötungsopfer. Aber er ist es auch wieder nicht selbst
als schlechthin mit sich Identischer: der Charakter des Anderen wird ebenfalls
bewahrt. Die Andersheit wird darin offenbar gemacht, daß der männliche Gott
als in Vater und eingeborener Sohn des Vaters differenziert erscheint und der
Getroffene das Unschuldslamm ist. In der Unschuld liegt der Anima-Charakter
des männlichen Sohnes. Indem dieser Charakter als im Sohn aufgehobener be­
wahrt bleibt, die Anima also auf dem ureigenen männlichen Boden des Animus
dennoch wiederkehrt, erhält sich auch das authentische Drama des Animus als
des Töters der Anima, wenn auch unter veränderten Bedingungen.
3. Durch die Tötung ist der zwar eingeborene männliche Sohn, der jedoch
Anima-Charakter hatte, zum Logos geworden, der jetzt auch der präexistente
Logos genannt werden kann. In seiner Auferstehung ersteht auch der Vatergott
als der nunmehrige Gott der Liebe auf. Er, der zunächst der unerbittliche Töter
zu sein schien, erweist sich nun, immer schon die Liebe gewesen zu sein.
4. Vater und Sohn erweisen ihren Animus-Charakter dadurch, daß sie
Verschwindende sind. Der Sohn am Kreuz hat seine absolute Gottverlassenheit
erfahren. Das Christentum beginnt mit dem Tod Gottes, der Gottverlassenheit
des Gekreuzigten. Das ist das erste. Und die Menschen sind dann auch noch
vom auferstandenen Christus verlassen worden. Dafür ist ihnen jedoch ein Bei­
stand in Aussicht gestellt: der Heilige Geist. Die beiden ersten Personen der Tri­
nität, die noch dem natürlichen Gottesverständnis (Gott als höchstes Wesen)
Vorschub leisten könnten, weichen oder besser: gehen unter und auferstehen in
dem Gott als Geist, der kein seiendes »Wesen« mehr ist.
5. Die Trinität ist einseitig: rein männlich, reines Licht, Logos, das Obere,
summum bonum. Das Weibliche, das Dunkle, das »Reisch«, das Untere, das Bö­
se sind radikal ausgeschlossen. Durch die exklusive Einseitigkeit einerseits und
durch die Drei (die Zahl der Dynamik, der ruhelosen Vorwärtsbewegung, der
Unvollständigkeit) ist die Trinität auch das Symbol der transzendenten Funktion
als eines Motors des Seelenlebens. Zum Motor wird die Drei jedoch nicht da­
durch, daß sie etwa auf die Vier zustrebte, um in ihr ihre Erfüllung zu finden
und zur Ruhe zu kommen. Wäre dies der Fall, dann könnte die Trinität keine
Dynamik erzeugen, weil sie dann - als archetypische, nicht empirische Wirk­
lichkeit - immer schon bei der Vier wäre und mit dem Gedanken des Vierten
auch schon zur Quaternität geworden und so in sich beruhigt wäre, insofern auf
der symbolisch-imaginalen Ebene anders als in der empirischen Realität der Ge­
danke schon die (psychische) Wirklichkeit oder die Erfüllung ist. Die Trinität
kann nur dadurch rastlos sein, daß sie - in sich selbst, in ihrer Dreiheit, einge­
schlossen - den Gedanken des Vierten und der Ruhe schlechterdings nicht
denkt, nicht denken will und zu denken vermag. Sie hat das ihr Fehlende in ihr
selbst. Deshalb wird sie fortwährend in ihr selbst über sich selbst hinausgetrie­
ben, sie muß sich ständig von sich selbst abstoßen, ohne je über sich hinauszu­
kommen, und dies allein ist die Möglichkeit von dynamischer Entwicklung und
so auch von dem, was wir die transzendente Funktion nennen.
6. Wenn die Trinität das ihr Fehlende und von ihr fortwährend zu Suchen­
de in ihr selbst hat, dann kann dieses nicht ein Anderes, ein ihr Fremdes, gänz­
lich Neues, Gegensätzliches, nicht ein aus ihr ausgeschlossenes Viertes (das
Weibliche, das Böse, die Materie usw.) sein. Es kann nur so sein, daß sie das,
was ihr fehlt und was sie sucht, schon ist, ohne es vollauf zu sein. Dieser Wider­
spruch löst sich nur auf, wenn man die Dynamik ganz im Sinn der transzenden­
ten Funktion als Vorwärtsdrängen desselben und auf derselben Stelle zu einem
neuen logischen Status seiner selbst begreift. Mithin stoßen wir hier wieder auf
das Problem der Form. Der Geist soll nicht substantiell ein geistiges Wesen blei­
ben, wie das natürliche Bewußtsein als Vorstellen es selbstverständlich voraus­
setzen würde. Er soll »pneumatischer Zustand«, pneumatische Weise des Inder­
weltseins, werden.
7. Angekündigt wurde von dem Auferstandenen der Geist als Beistand
(oder Tröster). Die Geschichte des christlichen Abendlandes hat gezeigt, daß
dieser Beistand ausgeblieben ist. Die Abwesenheit bewährt sich auch hier: Was
für das Verschwinden der ersten beiden göttlichen Personen entschädigen soll,
bleibt selbst abwesend! Der Beistand steht nur als Abwesender bei. Der Tröster
ist nur als Nichtanwesender zu uns geschickt. Das faktisch Abwesende ist also
nicht schlechterdings abwesend und darf so nicht einfach abgeschrieben werden.
Es ist vielmehr anwesend als unerledigte, ungelöste, aber fortwährend auf seine
Lösung drängende Aufgabe. Und es kann nur wahrhaft anwesend werden, wenn
es weder als Ziel kurzerhand aufgegeben ist, noch als ein Etwas oder Jemand
buchstäblich erwartet wird: wenn also aus dem durchgestandenen Widerspruch
zwischen seiner Abwesenheit und seiner Anwesenheit der völlig neue logische
Bewußtseinsstatus des »pneumatischen Zustands« hervorgegangen ist.
Dieser bewahrt die Abwesenheit, weil da niemand als seiend Vorgestellter
mehr ist, der als der Verheißene gekommen wäre. Und er bewahrt die Anwesen­
heit, weil der Geist als Beistand gerade dann gegenwärtig ist, wenn er in und mit
seiner Abwesenheit gesetzt ist, wenn also begriffen ist, daß der Geist nicht ein
Etwas ist, sondern das Pneumatischsein der Welt oder diejenige Weise des In­
derweltseins, die die Wirklichkeit »quintessentialisch«, im Geist oder aus der (in
der Syzygie-Stufe sich erfüllt habenden) Animus-Stufe heraus erfährt. Der Heili­
ge Geist ist in dem Maße anwesend, wie das natürliche, an Vorstellung und
Wahrnehmung klebende Bewußtsein in den Gmnd seiner eigenen, inneren Bo­
denlosigkeit (Abwesenheit) untergegangen ist und nun diese Bodenlosigkeit die
Form des Bewußtseins bestimmt. Wäre der Tröster positiv als eine neue Macht
in der Welt den Menschen erschienen, dann wäre er nicht als das erschienen,
was er sein soll und als was allein er der Beistand sein könnte: Geist. Geist ist er
nur, wenn er nicht als dritte Person und positive Epiphanie neu in die Welt und
zu dem schon Vorhandenen hinzukommt, d.h. wenn er überhaupt nicht mehr po­
sitiv erscheint, sondern negativ als die Bodenlosigkeit, als Verflüssigung alles
Fixen, waltet. So ist die Trinität unvollständig oder aufgegebene Aufgabe, weil
sie der Begriff der zu begreifenden Verwandlung Gottes als eines Seienden in
Gott als Geist, als Negativität des logischen Lebens, ist, so freilich, daß dieses
Begreifen das von der Verwandlung begriffen und selber verwandelt - vergei­
stigt, verflüssigt - Werden bedeutet.
Bis hierher ist gezeigt worden, daß die christliche Trinität prägnant die
ganze komplexe Animus-Problematik in sich umfaßt und gültig ausdrückt. Alle
Fäden laufen in ihr zu einem Komplex zusammen, die ganze innere Bewegung
des Animus-Themas hat in ihr ihren Platz. Insofern die ganze abendländische
Geschichte gezeigt werden konnte, die Geschichte des Animus zu sein, ist damit
auch die Herrschaft der Trinität über unsere Kultur im allgemeinen plausibel ge­
macht. Wie sie jedoch näher über die verschiedenen geistigen Institutionen und
Bewegungen herrscht, wird gerade dann noch deutlicher sichtbar, wenn wir uns
jetzt der Neurose des Abendlandes oder den verschiedenen Formen der Abwehr
der Trinität zu wenden. Neurose heißt hier das in sich Widersprüchliche des sich,
die Welt, das wirkliche Leben logisch aus der tatsächlichen eigenen Wahrheit
Heraushaltens, des vor der eigenen Wahrheit Schützens.
Die Gebundenheit durch die Trinität und ihre Verleugnung. O der die
Neurose des Abendlandes. Entsprechend der Komplexität der Trinität gibt es
mehrere Möglichkeiten, vor der Aufgabe, die eigentlich mit ihr gestellt ist, aus­
zureißen. Aber dieses Fliehen vollzieht sich immer noch innerhalb ihrer und mit
den von ihr gebotenen Möglichkeiten. Ja, es ist sogar gerade nicht nur in erster
Linie ein Versuch, der Trinität zu entgehen, sondern zugleich auch ein (unzurei­
chender) Versuch, ihr zu genügen und sie wahrzumachen.
1) Die verschiedenen christlichen Kirchen sargen die Trinität ein. Sie
verehren sie unter ihrem rechten Namen, dem Gottes, sie halten sie hoch, sie
verkünden und predigen sie, aber sie tun dies mit ihr als längst mumifizierter.
Wie die Pharaonen in kostbarsten Gewändern, Sarkophagen, Grabmälem bestat­
tet wurden, so bestatten auch die Kirchen ihre Wahrheiten in feierlichen Ritua­
len, in altehrwürdigen Dogmen, in prächtigen Kathedralen, in frommen Reden,
so daß die äußerste Wertschätzung einhergeht mit dem fossilen Charakter, ja
dem Umformen dessen, was wertgeschätzt wird, in zu toten Formeln Eingefrore­
nes. »Einhergeht« ist dabei noch zu schwach. Die Wertschätzung ist hier gerade
die Weise, wie das Wertgeschätzte mumifiziert wird. Jede Predigt, die gewinnen
und erwecken will, ist so in ihr selbst ein neues Prunkbegräbnis für den Geist
der Trinität, der somit totgesagt (totgeredet) wird. Jung sprach genau davon,
wenn er sagte, daß in der Kirche »kein Leben, sondern Tod« sei, und der Hegel
der Jugendschriften hatte schon über hundertfünfzig Jahre zuvor mit Bezug auf
das real existierende Christentum seiner Zeit dasselbe formuliert, wenn er von
der »Positivität des Christentums« und der »Liebe um des Toten willen« sprach.
Man hat hier, indem man die Lehre der Trinität getreu bewahrt, das wirkliche
Leben aus ihr vertrieben und sich so vor ihr geschützt.
Die Einsargung geschieht damit, daß die Wahrheiten der christlichen Re­
ligion, die doch als geistige Wahrheiten von der Negativität geprägt sind, positiv
als Lehrinhalte, Dogmen, als Doktrin angesetzt und behandelt werden, was zu­
dem noch gleichbedeutend damit ist, daß sie zu bloßen Glaubenswahrheiten nie­
dergedrückt werden. Indem sie geglaubt werden sollen, sind sie kastriert: unwei­
gerlich nur noch subjektive Wahrheiten (auch wenn es natürlich gerade der In­
halt der zu glaubenden Lehre ist, daß sie objektive Wahrheiten seien und man
sie gerade als objektive im Glauben annehmen müsse. Aber das ist ein Wider­
sprach. Was ich als objektiv glaube, ist als Geglaubtes eo ipso subjektiv). Gott
wird, entgegen dem theologisch mit »Gott« Gemeinten, in der Tat logisch zu ei­
nem außerweltlichen Fabelwesen reduziert. Auf diese Weise tragen die Kirchen
dazu bei, die Öffentlichkeit über die Wirklichkeit und Verbindlichkeit der
abendländischen Wahrheit hinwegzutäuschen und in Sicherheit zu wiegen. Sie
stellen die trinitarische Wahrheit als bloß private, letztlich beliebige hin, eben
da, wo sie noch ihre absolute Allgemeingültigkeit behaupten und von jedem den
Glauben an sie fordern. Und durch das Glauben wird das Dogma positiviert,
Jung sagt »hypostasiert«. »Es formuliert nicht mehr, es drückt nicht mehr aus,
sondern ist ein Lehrsatz an und für sich, der auf keinem beweisenden Erlebnis
fußt. Ja, der Glaube selber ist dieses Erlebnis geworden.«7 Die Lehre, anstatt
Formulierung der in ihrer letzten Seelentiefe (d.h. Absolutheit, Göttlichkeit, Un­
endlichkeit) erfahrenen Wirklichkeit und so die Einheit von göttlichem Gesche­
hen oder archetypischem Drama oder Mysterium und von dem, wie spezifisch es
erfahren wurde und was über es berichtet wird, zu sein, spreizt sich neben oder
über dem realen Leben zum Selbstzweck auf und ersetzt die lebendige Wahrheit
der Wirklichkeit selbst, da sie nun selber das zu glaubende eigentliche Wirkliche
zu sein beansprucht.
(Bei der römisch-katholischen Kirche ist die Herrschaft der Trinität durch
die starke marianische Tradition und die an den früheren Polytheismus erinnern­
de Heiligenverehrung abgeschwächt. Erst die Reformation stellte sich rückhalt­
los auf den Boden der Trinität in ihrer einseitig männlichen und monothei­
stischen Prägung als den fortan exklusiven verbindlichen Rahmen der Existenz.
Es ist dabei auch die von Max Weber herausgestellte Bedeutung des Protestan­
tismus für die neuzeitliche Kulturentwicklung im Zeichen des Kapitalismus im
Gedächtnis zu behalten.)
2) Das Gegenstück dazu bilden die moderne Wissenschaft und Technik.
In ihnen ist die christliche Lehre ganz über Bord geworfen. Sie stammen weitge­
hend aus der antikirchlichen bis atheistischen Aufklärung, aus der rationalisti-

7 C.G. Jung, GW 9/II § 276.


sehen bis positivistischen Tradition. Man bewegt sich in ihnen allem Anschein
nach auf »religionsfreiem« Gebiet, in einer durch und durch rationalen Sphäre,
und glaubt, so etwas wie Trinität als etwas ebenso Irrationales wie Irreales ent­
weder ganz abschreiben zu können oder aber wiederum als lediglich für die pri­
vate »Lebenswelt«, das subjektive Gemüt, die Frei-Zeit wichtig gelten lassen zu
müssen (auch Wissenschaftler haben als Privatpersonen bisweilen das Verlan­
gen nach einer »Sinngebung«). Im letzteren Fall ist die Religion, die Trinität,
der Heilige Geist in der Tat, wenn auch uneingestandenermaßen als bloßer »Trö­
ster« angesetzt, als Trostpreis und Lückenbüßer für die von Wissenschaft und
Technik nicht abgedeckten »Glaubensbedürfhisse« des Menschen: als veritables
Opium fürs Volk. Mit Erkenntnis und Wahrheit, das wird hier zwar nicht überall
gesagt, aber in der Tat gezeigt, hat Gott hier nichts mehr zu tun. Wahrheit ist re­
serviert für die Wissenschaft, aber hat als solche ihrerseits mit Gott nichts mehr
zu tun. Das heißt, die wissenschaftliche Wahrheit hat ihrerseits nicht mehr die
Form der Wahrheit, die Heiligkeit-, sie ist nicht mehr als rückhaltlos bindende
und zu verehrende (heilig zu haltende): als absolute Wahrheit anerkannt.
Und doch steht auch die Wissenschaft ganz im Dienst der (von ihr selbst
und in ihr geleugneten oder unsichtbar gemachten) Trinität. Gerade indem sie
sich von den dogmatischen Gehalten freigemacht hat, ist sie freigeworden, ei­
nem anderen, ebenso wichtigen Moment der Trinität zum Ausdruck zu verhel­
fen: der inneren Dynamik der Trinität. In der Wissenschaft zeigt sich die Trinität
als Trieb.* Mit ihm hat die Wissenschaft emstgemacht. In ihr weht wirklich ein
Wind. Hier ist Leben. Von diesem Wind rührt ihr ungeheurer Fortschritt, ihr
rastloses Weiterdrängen über ihre eigenen früheren Theorien hinaus, der Aben­
teuercharakter der Forschung. Während die Wissenschaften sich nach ihrem Ge­
genstand Naturwissenschaften nennen, sind sie, hier hat Klages deutlicher gese­
hen, eigentlich Geisteswissenschaften. Die Wissenschaft stammt aus und wird
getrieben von dem »Geist als Widersacher der Seele«, von dem Geist als Ani­
mus. Wie nirgends sonst dokumentiert sich in der exponentiell voranschreiten­
den Entwicklung von Wissenschaft und Technologie »der Geist als Wühler« (Ja­
cob Burckhardt).
In Wissenschaft und technologischer Zivilisation im ganzen (einschließ­
lich Konsum- und Wegwerfgesellschaft) zeigt sich der Geist reell als Töter. Die
Wissenschaft und die Technik betreiben die Aufgabe der Aufhebung der Natur
und stellen die Natur als nur noch aufgehobene her (als die künstliche Welt aus
Asphalt, Beton, Kunststoff, elektrischem Licht, Elektronik, gentechnisch verän­
derten Lebewesen usw.; als abstrakte Theorie und physikalische Formel; als
buchstäbliche Umweltzerstörung).
Aber was ist das für ein Leben, was ist das für ein Geist? Kann man die
Leistung der Kirchen als Einsargung deuten, so muß man die Leistung der Wis-8

8 Durchaus im triebpsychologischen Sinn. Der Trieb wirkt meist unbewußt.


senschaften und der Technologie als die Mechanisierung des Geistes der Trinität
auffassen. Der Geist entwickelt eine Eigendynamik, aber sie wird veräußerlicht,
verdinglicht. Seine Bewegung wird in die Maschinen, in »objektiv« (automa­
tisch) ablaufende Prozesse und Mechanismen verlegt. Er wird veräußerlicht und
digitalisiert. Auch das Denken und Forschen verlagert sich mehr und mehr in
automatisierte und automatisierbare Abläufe, was sich heute nicht zuletzt in der
Computerisierung, in »Expertensystemen«, im »Forschungsmanagement« usw.
auch gegenständlich niederschlägt. Hier ist also unzweifelhaft geistiges Leben,
wirkliche Lebendigkeit, aber das Leben des Geistes ist hier als verdinglichtes,
positiviertes selber gerade totes Leben. Der Tod hat hier schon in den Begriff
selbst des Lebens Eingang gefunden, wie ebenso die Geistlosigkeit in den Be­
griff des Geistes oder der Wissenschaft, welche sich dementsprechend auch gar
nicht mehr als Geisteswissenschaft weiß. Der Geist ist hier sich selbst äußerlich,
entfremdet.
So gewährleistet die Wissenschaft die Möglichkeit, den Geist wirken zu
lassen, aber so, daß er nur abgeschnitten von einer ihn anerkennenden Seele lebt
und wirkt und der Mensch (das Wesen des Menschen oder er als der Begriff)
noch einmal davonkommt. Der Mensch kann sich noch dumm stellen; davon,
daß hier der Geist wirkt, daß die Wissenschaft mit Gott zu tun hat, »hat er nichts
gewußt« und weiß er nichts. Eigentliches Leben des Geistes wäre das, dem der
Mensch und mit ihm seine ganze Wirklichkeit in ihrem innersten Wesen ausge­
setzt sind. Der Wind des Geistes würde durch es hindurchwehen und es von in­
nen ergreifen, verwandeln und erfüllen. So aber kann der Mensch in seinem in­
nersten Begriff frei durchgehen, wie ebenso die Welt. An die Stelle von Ver­
wandlung und Erfüllung des innersten Wesens tritt die äußerliche Veränderung
der Zustände (des Menschen und der Welt).
3) Wir verlassen damit die Gestalt der Wissenschaft (und technischen Zi­
vilisation) und kommen zu einer weiteren Gestalt, den pfingstlerischen Erwek-
kungsbewegungen, die schon in manchen häretischen, millenarischen Bewe­
gungen des Mittelalters ihre Vorläufer hatten. Bei ihnen werden die beiden bis­
her vorgestellten Gestalten gleichsam gekreuzt. Wie bei den Kirchen wird die
Lehre bewahrt. Man spricht sogar in ihnen viel offener als in den Kirchen vom
Geist. Mit Technologie und Wissenschaft haben sie die Lebendigkeit gemein.
Aber wo die Dynamik bei der Wissenschaft ganz sinnentleert und mechanisiert
wurde, da nehmen die Pfingstler sie ganz persönlich in sich hinein. Sie psycho-
logisieren sie, machen einen subjektiven emotionalen, ekstatischen Zustand in
der Zeit aus ihr. Wo der Geist die logische Neuschöpfung der Welt und des
Menschen (durch ihre Begeistung, Durchseelung mit Geist) bedeuten würde,
findet jetzt nur ein »Erlebnis« oder der empirisch-psychologische »Zustand« des
Begeistertseins statt. Auch dies ist eine Positivierung, die der mit der Trinität ge­
stellten Aufgabe zu entgehen erlaubt. Der Geist wird hier »agiert« (im Sinn des
»acting out«). So muß er nicht er-innert werden, kann er nicht den Menschen in
seiner (des Geistes) Negativität ergreifen, begreifen.
4) Weit verbreitet ist auch die vierte hier zu erörternde Gestalt, die des
Geistes als Suche nach Weisheiten und der Benutzung dieser als subtiler Droge,
zwecks Sich-Betäuben in ihnen (wobei der »Drogencharakter« meine Deutung,
nicht Referat des Selbstverständnisses der die Weisheit Suchenden ist). Diese
Möglichkeit finden wir besonders da, wo auf exotische Religionen und exoti­
sche geistliche Übungen zurückgegriffen wird - als alternative Wahrheit zu der
eigenen, aus der man sich herausgefallen fühlt. Hier wird ein geistiges Leben ge­
lebt, aber es ist usurpiert, nicht das unsere, und so wird gerade wieder einmal die
mit der Trinität gestellte Aufgabe vermieden. In einem Brief schrieb Jung in
Antwort auf die Frage, um welches Gottesbild es in seinem Buch Antwort auf
Hiob gehe:
Es geht um das kanonische Gottesbild. Das geht uns in erster Linie an und nicht ein
allgemeiner philosophischer Gottesbegriff. Gott ist immer spezifisch und stets lokal
gültig, sonst wäre er unwirksam. Für mich gilt das abendländische Gottesbild, ob ich
intellektuell beistimme oder nicht. Ich treibe keine Religionsphilosophie, sondern ich
bin ergriffen, beinahe erschlagen und wehre mich nach Kräften. Nichts von der Gno­
sis und den Midraschim gehört hinein, denn nichts davon ist drin. Mit purusha-atman
oder mit dem Tao hat bloß meine Erkenntnis zu tun, aber nicht meine lebendige Er­
griffenheit. Sie ist lokal, barbarisch, infantil und abgründig unwissenschaftlich.9

Jung siedelt sich hier rückhaltlos in der eigenen, nicht austauschbaren Tradition
an und bekennt sich damit zu dem »instinkthaften«, vitalen Verwurzeltsein der
Wahrheit. Er nimmt die von ihr aufgegebene Problematik in äußerster Redlich­
keit auf sich - eben nicht, weil er sie aus persönlicher Vorliebe allen übrigen
vorzöge, nicht, weil er etwa die christliche Religion für die beste, tiefste, wahr­
ste, höchste hielte (das implizierte immer noch die Fiktion der Auswahl, den
geistigen Supermarkt: der Mensch vor dem Regal mit Religionen aller »Mar­
ken«), sondern einzig, weil sie für uns als die lokal gültige die wirkliche, die
einzig wirkliche, ist.
Nicht die intellektuelle, wissenschaftlich interessante Frage, ob eine Reli­
gion »die wahre«, ja nicht einmal, ob sie gut oder schlecht ist, müssen wir stel­
len. Die Frage bei jeder Religion und für jeden ist immer nur: ist eine bestimmte
Religion die unsere, wirklich die unsere? Es gibt für uns keine andere, wir haben
nur die eine, so wie jeder auch nur jeweils diesen einen und einzigen Körper hat.
Zu fragen ist: Was ist die Religion, die Wahrheit, der Mythos, den ich wirklich
lebe, der die angemessene »Formulierung« für das von mir - als Glied einer
Kulturgemeinschaft - wirklich und immer schon gelebte menschliche »Trieble­
ben« bietet, d.h. für die Mystika, für das göttliche Drama oder archetypisch­
mythische Heilsgeschehen, in dem der wirkliche Weltumgang des Menschen als
9 C.G. Jung, Briefe II, S. 241 (an Erich Neumann, 5 . 1 .1952).
solcher und im ganzen seinerseits gestalthaft geschaut wird (als Gestalt entge-
genkommt)? Es ist dieses menschliche »Triebleben« (d.h. das archetypisch-my­
thische Heilsgeschehen), als Bezug zu welchem die Religion verstanden werden
muß, nämlich als bewußte, »kultische« Anerkennung (religio von relegere) von:
einerseits der Gebundenheit durch es (religio von religare), andererseits von den
bestimmten Gehalten und Gestalten selbst, durch die das menschliche Leben als
menschliches und nicht nur natürliches gebunden ist und in denen sich der ganze
Weltbegegnungszusammenhang je konkret manifestiert.
Jung spricht aus der Einsicht heraus, daß die Frage nach Gott erstens kei­
ne abstrakt intellektuelle, keine bloß »akademische« oder »theoretische«, keine
Frage von persönlichen Meinungen oder Bekenntnissen, kein Problem, über das
mit Argumenten zu diskutieren wäre, sondern eine reale, weil in unserer Vitali­
tät und der Vitalität unserer Kultur verwurzelte Wirklichkeit ist und daß es in
dieser Frage zweitens keine Wahl gibt, weil die Wahl uns immer schon durch
unser Sein (Verwurzeltsein in einer bestimmten geschichtlich gewachsenen Kul­
tur) abgenommen ist. Wir kommen als wählen Wollende und für eine rechte
Wahl Gründe Suchende immer schon zu spät. Unsere Wahrheit und unseren
Gott können wir uns nicht nach unseren Vorlieben wie Gebrauchsgüter im Su­
permarkt oder aus einem Versandhaus-Bestellkatalog aussuchen und bei Nicht-
Gefallen gemäß Rückgabegarantie gegen einen anderen austauschen. Wir haben
sie als reelle Faktoren unseres Daseins wie unsere Muttersprache, unsere Eltern,
unsere frühkindliche Biographie längst hinter uns und stecken auf Gedeih und
Verderb in ihnen.101
Aber wir haben durchaus die Möglichkeit, uns etwas vorzumachen und
uns so, wie wir uns auch in den anderen Gestalten je anders einnebeln können,
an exotischen Glaubenslehren und exotischen geistlichen Praktiken intellektuell
zu berauschen. In diesem Tun ist zwar Geist, aber er ist nicht der unsere, nicht
der für uns authentische. »Zwar können wir viel vom indischen Denken lernen,
aber niemals drückt es jene Vergangenheit aus, die in uns aufbewahrt ist.« »Wer
daher glaubt, östliche Anschauungsformen unmittelbar übernehmen zu können,
der entwurzelt sich selbst, denn sie drücken die abendländische Vergangenheit
nicht aus, sondern bleiben blutleere, intellektuelle Begriffe, welche die Saiten
unseres tieferen Wesens nicht zum Erklingen bringen. Wir wurzeln in christli­
chem Boden.«11 Die Ungemäßheit, ja Unbekömmlichkeit der einer viertausend­
jährigen Erfahrung der Menschen der indischen Kultur entstammenden Weisheit
für uns Abendländer bringt eine andere, satirische Briefstelle von Jung auf köst­
liche Weise zum Ausdruck, ohne daß damit ein abfälliges Urteil über den sachli­
chen Gehalt dieser Weisheit innerhalb ihres eigenen authentischen Kontexts aus­
gesprochen wäre:

10 Was Gott anlangt, so ist »Sein« für Jung wohl ein »reales Prädikat«.
11 C.G. Jung, GW 9/II § 271,273.
Paramhansa Yogananda: Autobiography o f a Yogi: 100% reines Kokosöl, wird von
40° im Schatten und 100% Luftfeuchtigkeit an immer glaubwürdiger, bester psycho­
logischer Reiseführer vom löten Breitengrad an südlich, setzt etwas zuviel Amöben­
dysenterie und Malariaanämie voraus, um die moralischen Szenenwechsel und die
Hochfrequenz mirakulöser Intermezzi erträglicher zu gestalten; bewährt sich neben
Amy McPherson und ähnlichem trefflich als metaphysischer Lunapark an der Pazi­
fikküste südlich von San Francisco, ist kein gewöhnlicher Ersatz, sondern authen­
tisch indisch für alle fünf Sinne und offeriert garantiert jahrhundertelange Spazier­
gänge ins große Hinterland bei zunehmender Verdunkelung des Vorderlandes, macht
alle Illusionskünste überflüssig und bietet schlechthin alles, was man sich von einer
negativen Existenz nur wünschen kann, unübertrefflich als Antidot bei hoffnungslo­
ser Bevölkerungszunahme und Verkehrsdichte und drohender geistiger Unterernäh­
rung, dermaßen vitaminreich, daß Eiweiße, Kohlehydrate u. dgl. Banalitäten über­
flüssig werden. Herr Martin Buber könnte damit seinen Bart um 2 Meter verlän­
gern.12

Mit exotischen Lehren kommt man in den Besitz »höherer« Weisheiten. Man
psychologisiert nicht; der Geist wird nicht in das Individuum hineingestopft als
dessen empirisches Erlebnis und so emotionalisiert. Er führt vielmehr zu einer
wahrhaft spirituellen Berauschung. Man könnte in bezug auf seine Wirkung
vielleicht sogar von einer Art pneumatischem Zustand reden: aber er ist erschli­
chen, er ist nicht aus unserer Wirklichkeit und Wahrheit als Lösung des uns see­
lengeschichtlich aufgegebenen Problems hervorgegangen, sondern von außen
entlehnt und unserer Situation nur kurzerhand aufgesetzt. Daher ist auch das
mehr auf eine positive, empirische Befindlichkeit am Menschen hinweisende
Wort »Zustand« hier am Platz, während ich für das Gesuchte eigentlich das nur
noch auf die Logik des Inderweltseins abzielende Wort pneumatischer oder
quintessentialischer »Status« des Bewußtseins vorziehen würde. Der Zustand
des im Besitz »höherer« Weisheiten Seins ist »metaphysischer Lunapark«. Des­
halb vermag er auch unsere Welt nicht zu erreichen. Seiner Form als (intellektu­
ell) berauschender Weisheit nach bleibt er bei aller Geistigkeit seines Inhalts
noch gegenständlich und so geistlos: konsumierter Besitz.
In den vorangegangenen vier Gestalten der Manifestation der Trinität
(und ihrer Abwehr) wurde der Geist in je verschiedener Weise als etwas Positi­
ves genommen (Doktrin, Trieb, Erlebnis, Weisheit). Es folgen fünf weitere Ge­
stalten, in denen verschiedene Aspekte der Negativität des Geistes sich darstel­
len, die aber ihrerseits wieder literalisiert und so abgewehrt werden.
5) In der manichäischen Kulturkritik, wie wir sie in unterschiedlichen
Formen am deutlichsten in der Lebensphilosophie bei Klages und in den heute
populären Angriffen auf die »patriarchale« Prägung unserer Kultur finden, wird
der Geist als der böse Feind, der Zerstörer (des »Lebens«, der »matriarchalen
Kultur«) gesehen. Damit nimmt diese Gestalt eine Mittelstellung zwischen den

12 C.G. Jung, Briefe II, S. 251 (an Erich Neumann, 28. II. 1952).
positiven und den negativen ein. Denn der Geist wird hier als positiv seiendes
Wesen oder substantielle Macht vorgestellt, an der sich nur inhaltlich die Nega­
tivität des Geistes insofern geltend macht, als der Geist eben als durch die be­
sondere (gegen das »Leben« gerichtete) Eigenschaft der Destruktivität ausge­
zeichnet gilt. Hier liegt also unmißverständlich die christlich-trinitarische13 Er­
fahrung der Negativität des Geistes vor, aber die Negativität wird ihrerseits noch
ganz äußerlich, natürlich-positiv (also selber ungeistig) als das Böse, als Wider­
sacher bewertet (vorgestellt). Diese Gestalt drückt demnach nur die erste Unmit­
telbarkeit der Negativität des Geistes aus.
Gleichzeitig hält sich das Bewußtsein aus ihr heraus, indem es in dem Ge­
halt seiner Lehre entschieden gegen den Geist und für sein Anderes (die Seele,
das Leben, die »matriarchale« Natur) Partei ergreift und sich ihm, ihn verdam­
mend, in entschiedener Geistfeindlichkeit gegenüberstellt (als ob der Geist
natürlich-räumlich auf der einen, das Leben oder die Seele fein säuberlich ge­
trennt auf der anderen Seite stünde oder gestellt werden könnte). Diese Gestalt
hat so als einzige aller hier aufgeführten Gestalten (vielleicht mit Ausnahme der
Wissenschaft) eine ausdrücklich negative Beziehung zum Geist. Sie will gerade
nicht eine Gestalt des Geistes sein und glaubt auch, zumindest letztlich, tatsäch­
lich außerhalb seines Machtbereichs zu stehen und ihn so bekämpfen zu können.
Andererseits macht sie, ohne dies zu realisieren, in ihrer unversöhnlichen Entge­
gensetzung der beiden Gegenspieler, also in ihrem eigenen Tun, doch selber von
dem Geist Gebrauch, ist ihm also dienstbar. Sie verleiht ihm Ausdruck, nicht ob­
wohl, sondern indem sie sich gegen ihn wendet bzw. indem sie sich durch ihn
bedroht fühlt (Abwehrhaltung).
6) Im säkularen Messianismus-Utopismus (wie z.B. im Marxismus)
wird das Moment der Negativität als Unerfülltheit des Geistes (und so als trans­
zendente Funktion) gesehen. Das heißt, die Negativität wird schon geistiger,
schon weniger buchstäblich, aber doch immer noch positiv als ein »Noch nicht«,
d.h. als ein anzustrebendes und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu realisie­
rendes Ziel in der Zukunft angesetzt, altem chiliastischem Denken folgend.
Auch hier hält sich das Bewußtsein aus der Trinität heraus, während es doch zu­
gleich von ihr gebunden und getrieben ist, indem es ihre Präsenz und Wirklich­
keit aus der Gegenwart hinaussetzt und immer vor sich herschiebt.
7) In Psychoanalyse und personalistischer Psychologie wird das die Tri­
nität in höchstem Maße auszeichnende und wahrhaft geistig-negative Moment
der Negativität: die Er-innerung (die Innerlichkeit des Geistes) aufgegriffen,
aber dann doch auch wieder positiviert und verabsolutiert. Statt diese Innerlich­
keit geistig als intensionale Vertiefung im Sinn der alchemistischen destillatio,
sublimatio, putrefactio usw. walten zu lassen, wird sie räumlich-natürlich als

13 Freilich auch weit vor das Christentum in eine einzelne von dessen Wurzeln, nämlich das altirani
sehe dualistische Denken zurückreichende.
»das Innere«, das, was »in uns« ist, vorgestellt. Das Bewußtsein konzentriert
sich immer mehr auf sich selbst, auf seine ganz persönlichen Gefühle und Re­
gungen, insbesondere auch auf seine Sexualität. Die Aufmerksamkeit wird in
unerbittlicher Engführung mehr und mehr von der wirklichen Welt als politisch­
gesellschaftlicher Öffentlichkeit abgezogen und introspektiv in die Tiefe des ei­
genen Inneren wie in ein Schwarzes Loch hineingesaugt. Das Ich verliert sich in
sich selbst. Indem die Er-innerung zur ichhaften Erinnerung der frühkindlichen
Traumen und der Erlebnisse der weiteren Biographie zusammen mit den »inne­
ren« dazugehörigen Gefühlen positiviert wird, läßt es sich auch hier sehr gut der
Negativität des Geistes entgehen, während man sie doch gerade agiert.
8) Auch Heidegger, Derrida und die Dekonstruktionisten stehen ganz
im Bann der Trinität. Wenn es bei ihnen vor allem dämm geht, die »Anwesen­
heit« zu bekämpfen, um der Negativität als »Abwesenheit«, als Leere und Offen­
heit, Raum zu geben, dann darf man als das tiefere treibende Motiv dieser gan­
zen Richtung dies sehen, die christliche Parusie abzuwehren. Vielleicht ist Hei­
deggers ganze Philosophie in der Weise durch die Trinität und den Heiligen
Geist gebunden, daß sie in erster Linie als Generalangriff auf die Pamsie des
Geistes auftritt, ein Generalangriff, der in der Gestalt einer Kritik an der klassi­
schen Metaphysik auf dem Boden der griechischen philosophischen Tradition
daherkommt.
Mit dem Wort Pamsie wird gewöhnlich auf die vom Urchristentum als
nahe bevorstehend erwartete Wiederkunft Christi als des erhöhten Herrn Bezug
genommen. Albert Schweitzer hat die These aufgestellt, daß die Urkirche durch
das Ausbleiben der Pamsie fundamental erschüttert worden sei, was zu einer
völligen Umorientierung des Christentums geführt habe. Ganz gleich, ob man
Schweitzer zustimmt oder nicht, d.h. ob man der Ansicht ist, daß die verzögerte
Pamsie tatsächlich die von ihm behauptete tiefe Krise auslöste, oder nicht, - die
Wiederkunft Christi in seiner Glorie hat nicht stattgefunden. Die Lösung dieses
Problems der Pamsie liegt nun darin, daß sich ihr Bezug innerhalb der Trinität
verschiebt: von Christus zu dem Geist, womit sich zugleich auch die Bedeutung
(der Begriff) von Pamsie verändert. Erwartet worden war die buchstäbliche
Wiederkunft des erhöhten Herrn. Das ist eine geistlose Erwartung unter dem
Diktat der Positivität und des natürlichen Bewußtseins. Das Ausbleiben der Pa­
rusie in diesem Sinn bedeutet nicht, daß es mit der Pamsie schlechterdings
nichts sei, sondern sie bedeutet die Abarbeitung der Positivität des Parusiever-
ständnisses und damit seine Verwandlung im Sinn seiner Vergeistigung. Die so
entstehende negativ gewordene Pamsie meint jetzt die Anwesenheit oder Gegen­
wart des (niemals sichtbaren, selber negativen) Geistes als der wahren Gestalt,
in der der erhöhte Herr wiederkehrt: als die Flüssigkeit der logischen Bewegung,
die alles in der Welt, alle »Inhalte« des Bewußtseins und dieses selbst durch­
wirkt. In diesem Sinn hat Hegel gesagt, daß das Absolute an und für sich schon
bei uns ist und sein will.14
Von den Denkern der Postmodeme soll letztlich, wenn auch unausgespro­
chenermaßen, diese Anwesenheit des Absoluten »dekonstraiert« und verhindert
werden. Die in Analogie zum Stil einer negativen Theologie und als Fortsetzung
des äußerlichen Tuns der Bilderstürmer in neuer, sublimierter Form betriebene
Dekonstraktion hat psychologisch die Aufgabe, die Gegenwart des Absoluten
immer neu zu ver-nichten und so durch die eigene Aktivität oder Praxis, die die
Dekonstruktion ist, aus der Wirklichkeit zu vertreiben (nicht als nicht wirklich
zu erkennen!). »Meaning is forever deferred« (David Miller). Das ist ein metho­
disches Tun. So wird die Wirklichkeit von aller Verbindlichkeit (Wirklichkeit)
befreit und für das Spiel pluralistischer Möglichkeiten freigehalten: ein Zelebrie­
ren des Nihilismus.
In der Dekonstmktion als aktiv ausgeübtem Tun manifestiert sich der
Animus als Töter. Während freilich in der manichäischen Kulturkritik das Tun
des Geistes als von einem bedrohlichen Widersacher ausgehend erlebt wurde, ist
es hier vom Bewußtsein in die eigene Regie übernommen. Dieses vollzieht
selbst die Dekonstruktion. Und während dort ein natürlich-räumliches Vorstel­
len waltete, indem man den Geist auf der einen Seite glaubte und sich meinte
auf die andere Seite stellen zu können, sind die Dekonstmktivisten schon zu ei­
nem wahrhaft geistigen Verstehen der Negativität fortgeschritten: nicht »böse«
(von einem Widersacher ausgehende) Destruktivität, sondern (die Positivität al­
ler Sinngebilde zugunsten eines frischen, lebendigen geistigen Verstehens auf­
brechende) Dekonstmktion. Und doch manifestiert sich auch bei ihnen der Ani­
mus als Töter noch auf natürliche, ungeistige Weise, nämlich als prinzipiell end­
los fortsetzbare Aktivität der Dekonstruktion. Die Negativität des Geistes wird
positiv agiert: als buchstäbliches Beseitigen der »Präsenz« durch das methodi­
sche (wenn auch hochgeistige) Tun des Ichs.
Daß die Abwesenheit jedoch nicht positive, sondern selber negative Ab­
wesenheit ist und daher weder methodisch hergestellt werden muß noch kann,
weil sie nur als immer schon Waltende begriffen werden muß, als solche aber
auch nicht das undialektische Gegenteil von Anwesenheit, sondern gerade wirk­
liche Parusie ist, die ihrerseits immer schon die Abwesenheit in ihr und nicht
außer sich hat, wird hier nicht gesehen. Als fortwährender Nachweis des Vor­
handenseins der Trias Zentrum, Präsenz, Ursprung ist die Dekonstruktion dann
aber auch im Widersprach zu ihrem Anliegen der Bekämpfung der Präsenz ge­
rade der positive Nachweis der Ubiquität und Unentgehbarkeit der Präsenz.
9) Mit dem Übergang zur nächsten Gestalt der Trinität, Jungs Q uaterni­
tät, verändert sich die Szene mit einem Schlag. Bisher war die Trinität ganz un­
bewußt. Man lebte einfach in ihr als der waltenden Wahrheit des christlichen
Abendlandes, aber wußte nicht,

14 Vgl. G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 69.


erstens daß man in ihr lebte (und sie nicht nur ein mehr oder weniger inter­
essanter Vorstellungsinhalt war) (Faktizität und Wirklichkeit),
zweitens daß sie unser wirklicher Mythos, unser authentisches Haus des
Seins, unsere unveräußerliche Wahrheit ist, nämlich die verbindliche
Form, die der Weltbegegnungszusammenhang im ganzen heute und für
uns Abendländer hat (logischer Status), und
drittens was es mit dem, worin man solchermaßen lebte, eigentlich auf sich
hatte (Wesensgehalt).

Sie wurde in den Kirchen als Glaubenslehre zu einem bloßen Vorstellungsinhalt


reduziert und formelhaft »nachgebetet«, wobei man sich selbst in ihr eingemot­
tet hat (auch dies eine Weise, der Trinität zu entgehen); sie wurde als Dynamik
der abendländischen Kulturentwicklung faktisch, aber geleugnetermaßen erfah­
ren, pfmgstlerisch als emotionaler Zustand agiert, als Spiritualität und Weisheit
erschlichen, manichäisch bekämpft, in verschiedener Weise als Negativität prak­
tiziert. Mit all diesen Gestalten war man zwar faktisch in der Trinität und von ihr
bewegt und gebunden, aber sie waren auch alle auf ganz verschiedene Weise der
Versuch, sich aus der Trinität hinauszusetzen oder hinauszudenken.
Mit Jung tritt die Trinität als sie selber ausdrücklich (thematisch) ins Be­
wußtsein - erstmals, wenn man nämlich von der großen Ausnahme Hegel ab­
sieht. Jung durchschaut, daß sie nicht nur irgendeine (vom Allerweltsbewußtsein
der Moderne her gesehen) »exotische« symbolische Lehre ist, die nur die weni­
gen Theologen oder Gläubigen etwas angehe. Er sieht, daß sie über unsere
Wirklichkeit herrscht, weil wir uns immer schon in ihr bewegen. Er drückt sich
hier auch nicht um die Benennung unseres wirklichen Problems und unserer
wirklichen Wahrheit durch ihren wahren Namen, den Gottesnamen, herum
(ohne dies jedoch wie die Kirchen im harmlosen Kontext eines religiösen Glau­
bens zu tun). Er ziert sich hier nicht, benutzt keine Ausflüchte und apotropä-
ischen Euphemismen, sondern stellt sich unserem Problem ohne Reserve, ohne
sich bedeckt zu halten, gleichsam von Angesicht zu Angesicht. Und in einem
damit, daß er die göttliche Trinität als die Macht über die abendländische Seele
und Kultur und Geschichte durchschaut, erkennt er auch das Zweite, ihre Un­
vollständigkeit, das Unerledigte ihrer, als das aufgegebene Problem unserer Ge­
schichte, als ihr Treibendes. Jung steht so nicht mehr einfach nur in ihrem Bann
und wird von ihr bestimmt, sondern er ist, während er nach wie vor in ihrem
Bann steht, zugleich auch aus ihr heraus und ihr gegenüber getreten, so daß er
ihr gegenüber Stellung beziehen und sie als aufgegebene Aufgabe sehen kann.
Die Unvollständigkeit der Trinität oder die (negative) Er-innerung in
ihre Bodenlosigkeit. Jetzt können wir wieder zu der Frage zurückkehren, ob
Jungs Lösung der Trinitätsproblematik durch den Übergang zur Quaternität und
durch die Ergänzung der rein männlichen Trias durch das Weibliche als Ablen­
kung vom ursprünglichen Problem zu sehen ist und ob sie wirklich als Lösung
des Problems seines Vaters gelten darf.
Dazu müssen wir feststellen, daß, so sehr Jung die psychologische Wirk­
lichkeit der Trinität und ihr problematischer, ihr Aufgabencharakter bewußt ge­
worden ist, er doch gerade der von ihm erkannten Unvollständigkeit der Trinität
aufgesessen ist. Er hat sie buchstäblich, geistlos als das nach Ergänzung Verlan­
gende genommen und ist so äußerlich zum Vierten übergegangen. So wie man
dem Beinamputierten ein Holzbein anpaßt, so hat Jung gemeint, der rein männ­
lichen Trinität das gleichsam amputierte Weibliche als Viertes anstücken zu
müssen. Der Mangel wurde in äußerlicher Reflexion als ein buchstäblicher Man­
gel und nicht in immanenter Reflexion gerade als das Wesen des Geistes, näm­
lich seine Negativität, seine Geistigkeit, verstanden. Die äußerliche Reflexion
geht, weil der Trinität etwas fehlt, über die Trinität zur Quaternität hinaus. Sie
sucht also die Lösung »allopathisch« außerhalb des Problems, durch Kompensa­
tion. Jung harrte zumindest bei der unmittelbaren Beschäftigung mit der Trinität
nicht bei dem und in dem sich so stellenden Problem aus, um es auf seinem ei­
genen Boden zu lösen.
Die immanente Reflexion würde begreifen, daß zur Lösung des Problems
der Mangelhaftigkeit der Trinität der Mangel nicht durch die Prothese eines
Vierten kompensiert, ja überhaupt nicht behoben werden darf. Die Lösung liegt
nicht außer ihr und außer der Unvollständigkeit, sie liegt vielmehr »homöopa­
thisch« in der Unvollständigkeit selber. Der Weg führt tiefer in diese hinein. Er
ist ihre Vertiefung. Die Erfüllung des Geistes ist die Würdigung und Vertiefung
seiner Unvollständigkeit oder Negativität. Man könnte dies für den zum Pro­
gramm erhobenen Nihilismus halten. Aber es ist das Gegenteil von Nihilismus.
Die Vertiefung der Negativität endet nicht im Nichts. Sie ist Erfüllung, Präsenz,
»Glück«. Die Pamsie oder Anwesenheit des Geistes liegt darin, daß seine unauf­
hebbare Abwesenheit ausgehalten, als Verpflichtung übernommen und so ausge­
tragen wird. Die Unvollständigkeit darf gerade nicht korrigiert werden. Der
Mangel ist nicht ein Fehler, sondern genau umgekehrt die Lösung (auch im Sinn
der alchemistischen solutio). Er ist schon der versprochene Beistand, der Psy-
chopompos, der zu beschreitende Weg und sein Telos. Der Psychopompos wo­
zu? Zum Überschritt - nicht nach draußen zur Quaternität, sondern - innerhalb
der Trinität selbst in den Grund ihrer Bodenlosigkeit hinein und so zu einem
neuen logischen Status, dem der Negativität des Geistes und der Flüssigkeit des
logischen Lebens, zum »pneumatischen Zustand« oder zur »quintessentialischen
Form«. Durch ihre Unvollständigkeit zieht die Trinität wie ein Schwarzes Loch
das Bewußtsein tiefer in sich selbst, in ihre Abgründigkeit und Negativität, in
unser von ihr Immer-schon-Hintergangen-, Immer-schon-Unterlaufensein, hin­
ein. Dadurch macht sie mehr bewußt (im Sinn von einem psychologischen Ge­
wahren [awareness], das immerein »Rückwärtserkennen« ist15).
15 Das übliche Sehen und Erkennen hat das Gesehene vor sich. Auch die Introspektion und die Ni-
Dieses für die Trinität spezifische und unverzichtbare Moment des immer
tiefer intensional in den eigenen Grund Hineingezogenwerdens war schon in
manchen Aspekten der Mystik zur Geltung gekommen und auch in großer me­
thodischer Ausdrücklichkeit (als Destillation, Sublimation, Faulung usw.) von
der Alchemie herausgestellt worden, wo es freilich als solches geistiges, wirklich
negativ-intensionales Geschehen doch auch wieder animahaft-substantiell in na­
türliche Vorgänge an chemischen Stoffen hinein versenkt wurde, so daß das Be­
greifen seiner in der Anschauung und Vorstellung stecken blieb. Die Alchemie
konnte, wie wir gesehen haben, nicht zu ihrem eigenen Ziel, der quinta essentia
im Sinn der geistigen, logischen Form, wirklich Vordringen. Dieses Moment war
dann als Innerlichkeit im 18. Jahrhundert vom Pietismus und im 20. Jahrhundert
von der personalistischen Psychologie positiviert worden. Daß die Tiefenpsy­
chologie dieses Moment überhaupt ausdrücklich zur Darstellung bringt, begrün­
det ihre herausragende Bedeutung und Notwendigkeit. Der psychologische
Standpunkt ist eine unhintergehbare Errungenschaft. Aber dieses ihr Markenzei­
chen, die Er-innerung in die eigene Tiefe, das in der personalistischen Tiefen­
psychologie selber noch in geistloser Weise positiviert wird (als die biographi­
sche Erinnerung und als das Innere als die Summe »meiner Konflikte, Gefühle,
Bilder«), muß seinerseits in seiner Negativität begriffen werden, damit der Geist
Geist sein kann, was er nur ist, wenn er nicht mehr Gegenstand oder seiendes
Wesen (der Geist, das Innere), sondern geistig (die pneumatische Form des Be­
wußtseins oder des ganzen Weltbegegnungszusammenhangs) ist.
So wie in den anderen Gestalten der Manifestation der Trinität je ein Mo­
ment der Trinität einseitig gelebt (vorgeführt, agiert) wurde,
♦ von den Kirchen die Nennung der Trinität beim rechten Namen und das Aus­
sprechen und Darstellen ihrer in ihrer wahren, verbindlichen Form als der ab­
soluten Wahrheit (d.h. ihre Heilighaltung) sowie
♦ die Verwurzelung unserer Gottheit in der eigenen lokalen Tradition
♦ von der Wissenschaft der Triebcharakter der Wahrheit (die objektive Getrie-
benheit, die von der Trinität ausgeht)
♦ von den Pfingstlem die subjektive, »barbarische« Ergriffenheit durch sie

■i i.i (Forts.)
colai Hartmannsche »intentio obliqua« sind in diesem Sinn ein Vorwärtserkennen, weil beide sich
der Umkehrung der Blickrichtung verdanken. Beim psychologischen Gewahren als »Rückwärts­
erkennen« wird, während man gerade nach vorne auf sein Objekt blickt, etwas mehr von dem zu­
nächst unbewußten Hintergrund, in dem man selber steht und aus dem heraus man blickt,
mirwahrgenommen. Dieselbe Blickrichtung wird beibehalten, man dreht sich nicht nach hinten
um, so daß mm das, was zuvor hinter einem lag, vor einem läge. Es handelt sich vielmehr um ei­
ne rückwärtige Gesichtsfelderweiterung, eine Verlagerung des Standpunktes, von dem aus man
vorwärts blickt, weiter nach rückwärts. Das Bewußtsein geht in seinen Grund (was immer auch
einen Tod bedeutet, den Tod des Bewußtseins in seinem alten Status). Dies ist das, was wir Be­
wußtseinsentwicklung oder den Fortschritt in der (psychologischen) Bewußtheit nennen.
♦ von den Anhängern der Weisheiten exotischer religiöser Lehren und Prakti­
ken ihr Erkenntnischarakter
♦ von der manichäischen Kulturkritik die Negativität des Geistes als positives
Widersachertum (Lebensfeindlichkeit: der Geist als Töter),
♦ vom Utopismus die Negativität als immer noch ausstehende Erfüllung
(»Noch nicht«, Zukünftigkeit)
♦ von der Psychoanalyse die Negativität als Er-innerung
♦ von den Dekonstruktivisten die Negativität als Aufhebung der Natürlichkeit
(Substantialität, Positivität) durch Herstellung von »Abwesenheit« als der
Form der Wirklichkeit des Geistes,
so hat auch Jung ein einzelnes Moment des trinitarischen Geistes einseitig agiert
und positiviert:
♦ die Negativität der Ganzheit des Geistes, die Abgründigkeit seines Charak­
ters als Vollständigkeit, Erfüllung, Gegenwart.
Jung gelangte zu ihm durch seine Wahrnehmung der Negativität des Geistes als
einer seienden Leerstelle. Er hat die Negativität qua Mangelhaftigkeit positiv als
fehlendes Bestandstück des Ganzen angesetzt.
Die Einseitigkeit (das rein Männliche) der Trinität bedeutet nicht einfach
den rückgängig zu machenden Verlust der einen, weiblichen Hälfte von einem
(ursprünglich das Männliche wie das Weibliche umfassenden) Ganzen, sondern
auch - im Sinn der transzendenten Funktion - das vorwärtstreibende Moment zu
etwas ganz Neuem, der Weg von einem alten Ganzen zu einer unerahnt neuen
Ganzheit. Die Einseitigkeit ist »beabsichtigt«, wesentlich. Aber sie kann nicht
mehr (natürlich) vorgestellt werden als das bestimmter essentieller Bestandstük-
ke Beraubtsein, sie will (geistig, »im Geist und in der Wahrheit«) gedacht wer­
den. Die Einseitigkeit, anstatt kompensiert zu werden, will begriffen werden und
eo ipso uns ergreifen. Dadurch daß sie begriffen wird und den Menschen begrif­
fen hat, wird die Einseitigkeit (gerade schon sie selber) sichtbar, die Erfüllung
oder die neue Ganzheit zu sein, insofern in diesem Begreifen der logische Status
unseres ganzen Inderweltseins verwandelt - durchgeistigt, zum pneumatischen
Status - wird.
Obwohl »von Natur« Dialektiker, scheute Jung doch vor der wahren, der
Trinität selbst und auch ihm persönlich einzig gemäßen, weil geistigen Lösung
zurück, nämlich der dialektischen, denkerischen. Jung zog die (positive) Kom­
pensation dem der Psychologie eigentlich einzig entsprechenden Heilungsweg,
der (absolut negativen) Er-innerung, vor. Das war wohl auch der tiefste Grand,
aus dem er Hegel verschmähen mußte. Und daher wohl auch hat er sich immer
wieder in irreführender Weise als empirischen Naturwissenschaftler ansehen
müssen (denn die Naturwissenschaft denkt nicht16 und er-innert nicht, sie sucht
die Lösung ihrer Probleme draußen - äußerlich, geistlos, positiv - am beobacht­
baren Material abzulesen, um sich selbst - die Seele - möglichst ganz heraushal­
ten zu können). Vielleicht war die Verführung durch die Anima zu stark. Jeden­
falls blieb Jung (hier, nicht überall und immer) auf der natürlichen Anima-Stufe
der Bilder, des Ontischen, der kompensatorischen Ergänzung durch die fehlen­
den symbolischen Inhalte, wo es doch in Wahrheit um den Überschritt von ei­
nem ersten zu einem anderen logischen Status, dem des pneumatischen Inder­
weltseins oder der quintessentialischen logischen Form, gegangen wäre, der aber
weniger ein Überschritt über etwas hinaus als vielmehr der immanente logische
Absturz in die Tiefe unserer Wahrheit, der Trinität, ist. Und er regredierte ent­
sprechend zur mittelalterlichen, ja paganen (naturreligiösen: katholischen) »Lö­
sung«: zur Mater, obwohl diese doch spätestens mit dem Aufkommen des (ein­
seitig auf den »Vater« und den Geist orientierten) Protestantismus seelenge­
schichtlich obsolet war.
Was Jung bei Freud kritisierte, die »historische Abschweifung«17, das Zu­
rückgehen in die buchstäblich historische (biographische) Kindheit und zu den
buchstäblichen Eltern, das unterläuft ihm auf seiner eigenen, der kollektiven, re­
ligiösen Ebene selber: die positive Erinnerung an die archetypische »Mutterfi­
gur« vergangener Kulturstufen, wo die negative Er-innerung in die Negativität
der Trinität am Platz gewesen wäre. Aus diesem Grund ist David Millers Buch
über die Trinität so bedeutsam, weil es, obwohl aus einem der Jungschen Psy­
chologie verpflichteten Denken kommend, nicht der dort herrschenden Tendenz
zur Überschreitung der Dreiheit zur Vierheit erliegt, sondern bei der Drei selbst
aushält und sie in ihre eigene Tiefe und Wahrheit erinnert. Weil es andererseits
die Trinität remythologisiert, also in die Anima-Stufe zurückbindet, und so z.B.
in »Holy Ghost« auch die gewöhnliche Bedeutung des Wortes »ghost« (Geist
als Gespenst) mitheraushört, dringt es allerdings doch nicht zu der von mir ge­
forderten Ebene der »logischen Form« vor.
Wir kommen zu der Erkenntnis, daß Jung, gerade indem er sich dem The­
ma der Trinität und des Animus mit allem Emst und in voller Ausdrücklichkeit
widmete, doch in Wahrheit, wenn auch ihm selbst unbewußt, von ihm »deser­
tierte« (nämlich zur Quaternität und zur Anima). Selbst er hat sich damit, und
dies ganz ausdrücklich - nämlich eben zur Quaternität - , aus der Trinität hinaus­
gedacht. Auch sein Versuch, die Trinität um das Weibliche zu ergänzen, bestä­
tigt einmal mehr das Wort über den Logos: »Er kam in sein Eigentum; und die
Seinen nahmen ihn nicht auf« (Joh. 1:11). Insofern hat Jung mit genau dem
Schritt, der die Neurose des Abendlandes heilen sollte, diese entgegen seiner
Absicht eher noch vertieft (wobei wir freilich hinzufügen müssen, daß in der mit

16 Martin Heidegger, Was heißt denken?, Tübingen (Niemeyer) 31971, S. 4.


17 C.G. Jung, GW 10 § 363.
der Ausdrücklichkeit einhergehenden Zuspitzung auch schon die reelle Möglich­
keit der Bewußtmachung der Hinaussetzung aus unserer unveräußerlichen
Wahrheit liegt).
Zwar ist Jung, wenn wir von dem Satz »Unser wirklicher Gott ist dreifäl­
tig« ausgehen, dem Satzsubjekt treu geblieben. Er ist nicht zu antiken oder exo­
tischen Göttern übergewechselt. Es ist noch der lokal und heute gültige kanoni­
sche Gott. Aber vom Satzprädikat ließ Jung sich nicht binden; er ist aus ihm hin­
ausspaziert, um es manipulativ von außen durch ein anderes zu ersetzen. So hat
er auch das von seinem Vater übernommene todesträchtige Problem nicht wirk­
lich gelöst. Wenn dieser von der Trinität »eigentlich nichts verstand«, so nicht
deswegen, weil ihm der Zugang zum Weiblichen als dem Vierten gefehlt hätte,
sondern weil ihm der Zugang zur dritten Person der Trinität, dem logischen Le­
ben des Geistes, der Negativität der Geistes als Er-innerung, fehlte, in der und
kraft der allein der Widerspruch, wie eine Einheit eine Dreiheit sein kann, aufge­
löst würde.
Zu dem Verhältnis Jung - Freud schrieb Jung einmal:
Rückschauend kann ich sagen, daß ich der Einzige bin, der die zwei Probleme, die
Freud am meisten interessiert haben, sinngemäß weitergeführt hat: das der »archai­
schen Reste« und das der Sexualität. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum zu meinen, ich
sähe den Wert der Sexualität nicht. ... Es war aber mein Hauptanliegen, über ihre
persönüche Bedeutung und die einer biologischen Funktion hinaus ihre geistige Seite
und ihren numinosen Sinn zu erforschen und zu erklären; also das auszudrücken, wo­
von Freud fasziniert war, was er aber nicht fassen konnte.18

Jung will sagen: Hätte er Freuds Verständnis der Sexualität einfach nur als der
treue Schüler übernommen, wäre er Freud in einem tieferen Sinn untreu gewor­
den. Er bewahrte ihm die Treue gerade dadurch, daß er Freuds Anliegen über
dessen Standpunkt hinaus auf eine ganz andere, nämlich geistige Ebene hob, auf
der das Freud an der Sexualität eigentlich interessierende Geheimnis zum Aus­
druck gebracht werden konnte. Ich erinnere daran nicht, weil mich das Verhält­
nis Jung - Freud interessierte. Ich sehe darin vielmehr einen Wink für unser ei­
genes Verhältnis zu Jung. Wir würden Jung nicht gerecht werden, wollten wir
nicht versuchen, sein Thema, das des trinitarischen Gottes, »sinngemäß weiter­
zuführen«, es über seine positive Bedeutung auf der Anima-Stufe hinaus in sei­
ner Geistigkeit herauszustellen und das darin liegende Problem, von dem Jung
ergriffen war, das er aber nicht auf dem eigenen Boden und in dem eigenen Me­
dium des Problems, dem des Geistes, fassen konnte, in dem der Trinität ange­
stammten Medium zu begreifen. »Sinngemäß weiterführen« heißt im Fall der
Trinität also gerade nicht, über die unvollständige Trinität zur vollständigen
Quaternität hinausgehen, sondern genau umgekehrt das Verweilen in der Un-

18 C.G. Jung, Erinnerungen S. 172. (Vgl. auch Briefe IIIS. 35, an Benjamin Nelson, 17. VI. 1956.)
Vollständigkeit der Trinität selbst; dasjenige freilich, das kein statisches Sich-
Einbunkem mehr ist, sondern sich lebendig als Absturz in ihre bodenlose Tiefe,
als negative Er-innerung in sie, ereignet.
Die Quaternität kann nie eine Lösung des Problems der Trinität selber
sein. Sie ist einfach eine andere archetypische Wirklichkeit, die an die Stelle der
Trinität gesetzt wird. Mit ihr als Lösung ist das Thema der Trinität verfehlt. Das
Problem der Unvollständigkeit der Trinität wird durch das Vierte gerade nicht
gelöst, die Ganzheit gerade verhindert. Denn der Mangel ist nicht als Fehler zu
bemängeln, sondern als das die Trinität auszeichnende Wesen zu begreifen. Der
Mangel der Trinität als zu bemängelnder liegt darin, daß sie noch der Ebene der
Positivität und des natürlichen Bewußtseins verhaftet bleibt; das der Trinität
Fehlende ist so das Fehlen selbst; sie bedarf eines Mehr an »Fehlen«, an Boden­
losigkeit des Geistes, um zu sich selbst zu kommen; das Fehlende muß »homöo­
pathisch« durch Intensivierung des »Fehlens«, durch die Potenzierung oder Ver­
doppelung ihrer Negativität (die Rückanwendung der Negativität auf diese
selbst) geheilt werden (was also wieder nur negativ als Begreifen des Fehlens,
d.h. von ihm Begriffenwerden und es tiefer Erleiden, möglich ist, nicht durch ei­
genes Tun wie z.B. die »Dekonstruktion«). Durch das Hineinsetzen des Vierten
als eines positiven Inhalts in die »Lücke« wird aber diese Lücke, die gerade die
einzige Öffnung in die Bodenlosigkeit ist, zugestellt oder zugemauert. Das Be­
wußtsein bekommt einen Köder vorgesetzt, und so wird durch die Behebung des
Mangels der Mangel verstärkt, weil der Mangel, um den es hier geht, als geisti­
ger ein Mangel an Negativität (nämlich an Negativität der Negativität) ist. Dafür
kann sich jedoch das Bewußtsein durch die mittels des hineingesetzten Vierten
nun hergestellte »Vollständigkeit« in seinem alten Status gesichert fühlen. Nicht
es muß sich im Sinn der negativen Er-innerung in die Negativität wandeln, son­
dern die Trinität muß positiv ergänzt werden. Während das Bewußtsein sich
durch das Hineinsetzen des Vierten in die offene Tür zur Negativität der Negati­
vität in seinem alten Status einmauert, darf es sich gleichzeitig in dem Glauben
wiegen, durch das Schließen der Lücke oder durch die Errichtung der nun lük-
kenlos geschlossenen Mauer fortschrittlich zur Behebung der Unvollständigkeit
der Trinität beizutragen.
Ebensowenig ist die Hinwendung zur Anima die Lösung des Problems
des Animus. Jung hat sich und uns mit seiner Lösung aus der Trinität hinausge­
setzt und hinausgedacht, ganz so, wie er auch vor der von ihm richtig erfahrenen
Not des Christentums überhaupt auswich, indem er dessen Einseitigkeit durch
das alchemistische »untere«, materiell-merkuriale Gegenstück zum »oberen«
Christentum kompensieren wollte, wo er aber doch auch gerade meinte, eben
damit auf diese Not wirklich zu antworten. Diese Ergänzung oder Kompensation
erfolgte durchaus auch in bezug auf die Trinität: Sein Studium der Alchemie er­
möglichte es Jung, der lichten »oberen« Trinität eine »umbra trinitatis«, eine
dunkle Schatten- oder chthonische Trinität, entgegenzusetzen.19 Mit vollem
Recht zwar hat Jung festgestellt, daß das christliche Credo als »Symbolum«
»Praktisch ungefähr alles (umfaßt), was sich gmndsätzlich über die Manifesta­
tionen des psychischen Faktors im Gebiete der inneren Erfahrung feststellen
läßt, aber es erstreckt sich nicht auf die Natur, wenigstens nicht in erkennbarer
Weise.«20 Die Natur wird nicht erfaßt. Dies versuchte die Alchemie laut Jung zu
kompensieren.
Aber das Nichtumfassen der Natur darf gerade nicht als ein Fehler ver­
standen und »korrigiert« werden, weil das Absehen von der Natur, ja die Aufhe­
bung der Natur, und so auch die Überwindung der dunklen chthonischen Trinität
(ebenso wie die der diversen aus der Mythologie bekannten weiblichen Trinitä-
ten), das zentrale Anliegen der christlichen Lehre ist und die Kompensation ihrer
methodisch beabsichtigten Einseitigkeit ihr ganzes Werk zunichte machen wür­
de. In der christlichen Überwindung der Natur liegt gerade die Möglichkeit,
eben das Ziel, das die Alchemie verfolgte, aber dank ihres Festhaltens an der
Natur nicht erreichen konnte, das Ziel der quintessentialischen Form oder des
Pneumatischen, wirklich zu erreichen. Die Kompensation der christlichen »Ein­
seitigkeit« macht also nicht nur das christliche opus zunichte, sie vereitelt auch
das alchemistische wie das psychologische opus selbst. Es ist schon merkwür­
dig, daß Jung ausgerechnet das an der Alchemie faszinierte, was das Scheitern
ihres ureigensten Anliegens vorprogrammierte, nämlich ihr der mythologischen,
paganen Denkform Verhaftetbleiben. Es ist schon merkwürdig, daß Jung nicht
erkannte, daß das Christentum durch genau das, was Jung meinte kompensieren
zu müssen, die »Mittel« bereitstellte, die das eigentliche Ziel auch der Alchemie
selbst hätten erreichen lassen. Die christliche Lehre braucht keine Ergänzung,
sondern die negative Er-innerung in ihre zugestandenermaßen bestehende Ein­
seitigkeit, eine so tiefe Er-innerung, daß sie innerhalb ihrer selbst sich einen Zu­
gang zu dem Fehlenden und Ausgeschlossenen gewinnt.
Doch sind die Worte »Einseitigkeit«, das »Fehlende« und »Ausgeschlos­
sene« im Grunde schon falsch. Sie mißverstehen die christliche Naturüberwin­
dung, wie auch Jung m.E. diese da mißversteht, wo er die Alchemie als »untere
Entsprechung der oberen Mysterien, ein sacramentum nicht des väterlichen
Geistes, sondern des mütterlichen Stoffes« versteht und sagt: »Während die
christlichen Figuren aus Geist und Licht und Gutem hervorgehen, entspringen
die alchemistischen aus Nacht, Schwärze, Gift und Bösem.«21 Auf den ersten
Blick scheint dies ungemein einleuchtend. Aber mit dem Gegensatz von unten
und oben, Licht und Schwärze usw. bewegt sich Jungs Phantasie selber noch in
der natürlichen, mythischen, paganen und positiven Urpolarität von dem lichten
Himmelsgott und der chthonischen Mutter Erde, und er stellt es dann so hin, als
19 S. David Miller, Three Faces of God, S. 35 f.
20 C.G. Jung, GW 9/H § 270 (Satzbau von mir angepaßt, meine Hervorhebung).
21 C.G. Jung, GW 16 § 533 (S. 337).
ob der Geist, von dem im Christentum die Rede wäre, innerhalb dieser mythi­
schen Polarität die eine, obere Seite wäre, die losgelöst von und auf Kosten der
unteren entwickelt worden wäre. Aber der Heilige Geist ist die Negation dieser
ganzen natürlichen (mythologisch vorgestellten) Urpolarität, also von »Himmel«
ebenso wie von »Erde«, von »väterlichem Geist« ebenso wie von »mütterlichem
Stoff«. Als diese Negation beider Seiten, als Negation des Ganzen, ist er also
nicht die eine Hälfte, sondern selber das (freilich negierte, [in das Pneumatische
oder die logische Form hinein] aufgehobene) Ganze: Ganzheit! Er ist die ganze
Logik des Inderweltseins, die alles umfaßt. Er ist die Liebe, die alles trägt und
alles duldet, auch Nacht, Schwärze, Gift und Böses.
Ganz ähnlich wie Jung mit Hilfe der den Geist zwar wirklich, aber nur
immer noch auf naturhafter Animastufe ausdrückenden Alchemie die angebliche
christliche Einseitigkeit kompensieren wollte, wenn auch im einzelnen grundle­
gend anders, hat in der neueren abendländischen Geschichte u.a. schon Nietz­
sche Dionysos gegen den Gekreuzigten ausgespielt. Und in der Psychologie hat
Hillman ebenso den Polytheismus gegen den Monotheismus, Griechenland und
die Renaissance gegen das Christentum ins Feld geführt, von all den anderen
heutigen Bewegungen, in denen das Matriarchale gegen unsere patriarchale Tra­
dition, die Sophia gegen den Vatergott, der Leib oder »Bauch« gegen den Geist,
das Dionysische gegen das Apollinische gewendet werden soll, ganz zu schwei­
gen. Überall hier wird - wenn ich mich um des Ernstes der Sache willen, um die
es hier geht, so hart ausdrücken darf - vor unserem wirklichen Problem davon­
gelaufen. Auch über all diesen Versuchen, vor der Trinität, dem Logos, dem
Geist zum Weiblichen, »Natürlichen« und Dionysischen auszureißen, steht
längst schon das Wort: »Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn
nicht auf«. Man kann aus der Mächtigkeit dieser mannigfachen Bewegungen er­
sehen, wie schwer offenbar, um mit Hölderlin zu sprechen, der »freie Gebrauch«
des Eigenen (»Nationellen«), in unserem Fall: der freie Gebrauch der »junoni­
schen Nüchternheit« (der freie Gebrauch der Möglichkeiten der Animus-Stufe
und so der Eintritt in die Syzygie-Stufe), sein muß, wenn selbst ein so tiefer,
hellsichtiger und wahrhaftiger Geist wie Jung der Versuchung erlag, die Lösung
für das Problem der Animus-Stufe regressiv auf der Anima-Stufe und nicht im
Fortschritt zur Syzygie-Stufe zu suchen, welcher Fortschritt der Schritt tiefer
und tiefer in die Animus-Problematik, in die Not des Christentums, in die Un­
vollständigkeit oder Bodenlosigkeit der Trinität hinein und nicht aus ihnen hin­
aus oder über sie hinaus wäre.
Die Logik hinter all den Kompensationsversuchen unserer Einseitigkeit
ist das zunächst ungemein Einleuchtende, daß die einseitig männlich-patriarchal
orientierte Kultur eine sträfliche Vernachlässigung des Weiblichen, des Körpers
und der Sinne, des Gefühls und des Dionysisch-Ekstatischen mit sich bringe, ei­
ne Einseitigkeit, die einfach unerträglich, ja geradezu sträflich sei. Die Idee ist,
daß eine Alternative entweder zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen,
zwischen Geist und Natur, »Kopf« und »Bauch« oder aber zwischen einer (pri­
mär weiblichen, jedoch Männliches wie Weibliches umfassenden) »Ganzheit«
und der rational-patriarchalen Einseitigkeit zur Entscheidung stünde. Entweder
man gehe auf dem männlich-patriarchalen Weg weiter und verzichte eo ipso auf
die weiblichen und dionysischen »Werte«, oder man sage der patriarchalen Tra­
dition wenigstens partiell ab, um wieder mehr zum Weiblichen zurückzukehren.
Aber in dem, was den Anschein des Einleuchtenden erweckt, steckt in Wahrheit
nur die Abwehr, das unbedingte die Anima-Stufe Festhaltenwollen (wenn frei­
lich auch nur innerhalb der längst gültigen Animus-Stufe); es steckt darin die pa­
nische Angst vor dem als Bewußtsein zu sterbenden Tod. Die Gegensätze
Männlich vs. Weiblich, Geist (»Kopf«, Ratio) vs. Körper (Leib, »Bauch«), abs­
trakter Begriff vs. Bild sind gerade nicht die Kategorien, mit denen man die
christliche Trinität kritisieren kann, weil sie unter deren Niveau bleiben, insofern
sie längst selber gerade von der mit der Trinität als Negation des ganzen
natürlich-mythischen Gegensatzes gegebenen Aufhebung getroffen und außer
Kraft gesetzt sind. Jene Gegensätze sind überholt, haben sich überlebt. Das ist
nicht das geschichtliche Problem heute. Die konsequente Beschreitung des
Wegs der transzendenten Funktion im Rahmen der rein männlichen Trinität be­
deutet weder die Feindschaft gegen das Weibliche und Dionysische, noch die
einseitige Befürwortung männlicher Prinzipien (weswegen auch die unmittelba­
re Umkehrung der Richtung zwecks Wiederbelebung des Weiblichen nicht die
Lösung brächte). So stellt es sich gerade nur aus der Sicht der Abwehr und für
ihre Zwecke dar.
Die Abwehr setzt die zur Trinität gehörige Unvollständigkeit als das Feh­
len des weiblichen Pols an, um von dem wahren Problem, dem eigentlich Uner­
füllten und zu Erfüllenden, nämlich der Aufgabe der Wahrmachung der Boden­
losigkeit oder Negativität als der dem Geist gemäßen Form seiner Parusie, abzu­
lenken, weil dieses Eigentliche mit dem Tod der ganzen Stufe einherginge. Es
soll nicht ins Bewußtsein dringen, daß der eigentliche Gegensatz der zwischen
der Stufe der positiven Inhalte oder Wirklichkeitsbereiche (also dem ganzen Ge­
gensatz von Natur und Geist) überhaupt und der Stufe des pneumatischen Inder­
weltseins ist, die für alle inhaltlichen Bereiche gleichermaßen offen ist, für das
Weibliche, Dionysische ebenso wie das Männliche, Geistige, Apollinische, aber
für beide nur als aufgehobene, weil das pneumatische Inderweltsein gerade da­
durch ausgezeichnet ist, daß es nicht mehr auf der Stufe der Inhalte und Wirk­
lichkeitsbereiche, sondern der der logischen Form angesiedelt ist. Das einseitig
Männliche der Trinität erfüllt sich ja gerade nur in seinem Untergang in ihre Bo­
denlosigkeit hinein: der Weg der einseitig männlichen Trinität führt auch zum
Unter-gang, zum in seinen Grund Gehen der Einseitigkeit selbst. Denn die Trini­
tät will gar nicht eine Antwort auf die coniunctio- oder »zweite Lebenshälfte«-
Problematik (innerhalb der Anima-Stufe) sein, wo Ganzheit in der geglückten
(inzestuösen) Beziehung zwischen Animus und Anima, zwischen dem Männli­
chen und dem Weiblichen liegen würde, sondern eine Antwort auf die Proble­
matik der transzendenten Funktion (Überschritt aus der Anima-Stufe in die
Syzygie-Stufe, »erste Lebenshälfte«-Problematik). Je mehr sich das Bewußtsein
in den Kampf um die Wiedergewinnung des Matriarchalen, des Unteren oder
auch umgekehrt in den Kampf für die Verteidigung des einseitig Männlichen ge­
gen das Weibliche verrennt, je mehr es das mit dem trinitarischen Geist gegebe­
ne Problem geistlos als Wahl zwischen zwei Alternativen (oder als Versöhnung
dieser Alternativen) deutet, um so fester bleibt es fixiert und bleibt die bisherige
Stufe erhalten. Es muß dann die Aufgabe nicht geistig, nicht selber schon im
Geist und in der Wahrheit angehen.
Feministinnen glauben bisweilen, sich Gott als weiblich vorstellen (oder
wie manchmal ungeniert gesagt wird: Gott als Frau erfinden) zu dürfen, da sie in
dem männlichen Gott nicht mitrepräsentiert seien und sich so nicht in ihm wie­
derfinden könnten. Was man davon halten soll, wird schon durch die Wörter
»vorgestellter« oder »erfundener« Gott von selbst gesagt. Man bewegt sich hier
noch immer im Bereich des Vorstellens und der Gemachte des Ichbewußtseins.
Über die Bewußtseinsstufe, auf der wir uns mit unseren natürlichen Besonder­
heiten in Gott würden wiedererkennen wollen, auf der Götter allerlei Spezialitä­
ten hatten und ausdrückten, auf der für jedes Geschlecht, für so ziemlich jede
Krankheit, jedes Gebrechen, jedes Lebensalter, jeden »Beruf«, jeden Wechsel­
fall des Lebens eine andere Gottheit zuständig war, mithin über die polytheisti­
sche oder naturgöttliche Stufe (Anima-Ebene), sind wir nun einmal unweigerlich
hinaus - ob »gottlob« oder zu unserem Unheil kann dahingestellt bleiben, weil
es ja doch einfach so ist, wie es ist. Wir können uns nicht mehr in unseren natür­
lichen Eigenheiten in Gott suchen und finden, nicht weil das Gottesbild mangel­
haft wäre, sondern weil wir selbst über das »natürliche Bewußtsein« in der Tat,
wenn auch nicht in unserem Bewußtsein, hinausgewachsen sind. Das will ein­
fach nicht mehr gelingen. Es zu versuchen und dahin zurückzuwollen, ist ein
Atavismus, Regression, politisch ausgedrückt: Restauration oder reaktionär. Es
ist der Versuch, das tote Vergangene hervorzukramen, festzuhalten und für die
lebendige, zukunftsträchtige Gegenwart auszugeben. Damit ist es der Versuch,
sich der wirklichen Gegenwart und Zukunft entgegen einzubunkem und das Le­
ben zu unterbinden.
Wir müssen zwangsläufig, sofern »Gott« heute noch einen wirklichen lo­
gischen Sinn haben soll und wirklicher, nicht ein selbstgebastelter Gott sein soll,
uns als Menschen (d.h. als der wirkliche Weltumgang, der wir sind, Hegel würde
sagen: als Geist, die Bibel sagt: im Geist und in der Wahrheit) in Gott erkennen
wollen. »Gott« ist der grammatischen Form nach männlich. Aber das heißt gera­
de nicht mehr, daß er auch der Bedeutung nach als Mann vorzustellen und nur
ein Gott für die Männer sei, wie er ja unserem längst wirklichen Bewußtseins­
status nach überhaupt nicht mehr vorgestellt werden kann. Selbst Jung versteigt
sich einmal dazu, den Protestantismus als bloße Männerreligion zu bezeichnen,
die die Zeichen der Zeit nicht erkenne, weil nämlich heute die Gleichberechti­
gung der Frau eine metaphysische Repräsentation der Frau in der Gestalt einer
»göttlichen« Frau verlange (GW 11 § 753). Das ist der blanke Naturalismus der
Anima-Stufe. Die Gleichberechtigung ist in der modernen Welt umgekehrt gera­
de nur deswegen möglich, weil der Geschlechtergegensatz längst metaphysisch
irrelevant und so zu einer »banalen« menschlich-allzumenschlichen Angelegen­
heit geworden ist.
Wenn Jung mit Recht beklagte, daß »das Christentum eingeschlafen« sei
und »es versäumt« habe, »im Laufe der Jahrhunderte seinen Mythus weiter zu
bauen«,22 dann können wir sagen, daß die Weiterentwicklung des christlichen
Mythos sicher nicht mit der Verkündigung des Dogmas von der Assumptio Ma­
riae geschieht, sondern das innertrinitarische Thema und Drama des Heiligen
Geistes - die Ausschöpfung des trinitarischen Gottesbildes durch die Er-inne­
rung in seine absolute Negativität, die rückhaltlose Anerkennung seiner als Gott
(und nicht nur als Gottesbild) - betreffen muß. Das neue marianische Dogma ist
offensichtlich ein »Fortschritt« nur in Richtung Regression zwecks Stabilisie­
rung des Bewußtseins in seinem alten, »mittelalterlichen« Status, zumal mit der
Erhöhung der Mater auch der Rechtsgrund für den Machtanspruch der Heiligen
Mutter Kirche metaphysisch erhöht werden soll, um so die real geschwundene
Autorität / Legitimität einer mittelalterlichen Institution inmitten der modernen
Welt noch einmal im Prinzip zu stützen. (Das gleiche Motiv dürfte hinter dem
fast fanatischen Kampf der katholischen Kirche für das »ungeborene Leben«
und gegen Abtreibung und Verhütungsmittel stehen, wo man doch eigentlich er­
warten sollte, daß das Hauptinteresse der Kirchen nicht dem Ungeborenen, son­
dern der Wiedergeburt aus dem Geist gelten würde.)
Erst in dem von Jung so genannten »pneumatischen Zustand«, der eigent­
lich die sakramentalische Logik des Inderweltseins oder der Durchbruch zur
»quintessentialischen« logischen Form ist, wäre das Problem wahrhaft gelöst
und hätten wir die Vollständigkeit unserer seelischen Wahrheit erreicht. Mit der
Idee der Vierheit und der Himmelfahrt der Mutter Gottes mit ihrem quasi-my­
thologischen Ontologismus und Naturalismus (als irgendwie seiend vorgestellte
göttliche Personen: Vater, Mutter und Sohn) würden wir abgehalten, zu der
Vollständigkeit unserer Wahrheit, nämlich zur Erkenntnis des Geistes und der
Liebe in ihrer absoluten Negativität, fortzuschreiten.
Dieses Fortschreiten allein wäre zugleich auch die wahre Überschreitung
der heute vielfach beklagten und mit Recht zu beklagenden einseitig abstrakt­
rational (der Volksmund sagt gerne: »männlich«, »patriarchal«) ausgerichteten
Kultur. Denn deren Einseitigkeit verdankt sich gerade nicht dem Männlich-
Patriarchalen an sich, sondern dem Abstraktbleiben (d.h. der Anima-Verfallen-

22 C.G. Jung, Erinnerungen S. 334 (und ff.).


heit, Geistlosigkeit, Lieblosigkeit) dieses Männlichen (der Animus-Stufe), also
eben dem, was mit der Idee von der Vierheit und der Assumptio Mariae auf me­
taphysischer Ebene gerade noch einmal sanktioniert würde. Die bloße Kompen­
sation oder Ergänzung der Drei durch das Vierte und des Männlichen durch das
Weibliche23 ist die Idee von dem billigen Weg, wie die Zukunft erreicht werden
könne: ohne daß das Bewußtsein einen Tod sterben und selber in den Geist, in
die logische Bewegung, untergehen müsse. Weniger (nämlich das einfache
Emstmachen mit der Trinität als der Untergang in ihre abgründige Tiefe) wäre
hier mehr, viel mehr. Das fehlende Vierte wird stattdessen einfach »draußen«
(im Bild) angestückt. Das Bewußtsein muß nur zuschauen. Es kann sich selbst
als das alte erhalten. Aber damit, daß die Vollständigkeit nur angeschaut (vorge­
stellt) wird, bleibt auch die Zukunft bloß vorgestellte Zukunft. So wird sie nie
wirklich. Bleibt es dabei, so haust das Leben sich nur in der festgeschriebenen,
eingefrorenen Vergangenheit als der nunmehrigen »Gegenwart« ein (welche
eingefrorene Vergangenheit-Gegenwart empirisch allerdings nicht als statisch,
sondern gerade als der ungeheuer rasante technische »Fortschritt« erscheint).
Wirklich wird die Zukunft nur, wenn sie sich durch den zu sterbenden Tod des
Bewußtseins selbst ereignet.
Oben wurden zwei verschiedene Gestalten der Vier unterschieden:
(Heirats-) Quatemio (mit Transgression nach Drüben) und Quaternität (Vervoll­
ständigung der Drei durch das inkompatible Vierte, sei es als in die Tiefe füh­
rende »Schwachstelle« oder sei es umgekehrt als Beruhigung der Unruhe der
Drei). Das Problem der »nur vorgestellten« Zukunft nötigt uns, eine dritte Ge­
stalt der Vier zur Kenntnis zu nehmen. Es ist die Vier als das aus dem Kreis her­
gestellte Quadrat. Damit ist das uralte Problem der Quadratur des Zirkels ange­
sprochen, die Überführung des idealen (himmlischen, potentialen, transzenden­
ten, ewigen) Kreises in das Quadrat als dessen irdische, in die Endlichkeit über­
führte, realisierte Form. Lü Bu We: »Des Himmels Weg ist mnd, der Erde Weg
ist eckig« (Jung, GW 11S. 183, Anm. 7). Hier wird also die Vier oder das Qua­
drat vom vollkommenen Kreis, nicht von der angeblich zu vervollständigenden,

23 Hier ist daran zu erinnern, daß Jung die Trinität auch unter dem Aspekt von Gut und Böse (Gott
als summum bonum und der Satan) zur Quaternität erweitern wollte. Insofern dieser Gegensatz,
anders als der von Männlich vs. Weiblich, schon kein natürlicher mehr, sondern bereits ein ge­
nuin geistiger ist, ist er für die Thematik des Geistes wie auch für die transzendente Funktion
nicht unerheblich. Und doch haben wir schon gesehen, daß er, und die ganze Schatten-
Psychologie mit ihm, nicht mehr als vorläufige Bedeutung haben können. In der Erfüllung der
Trinität innerhalb ihrer selbst (also ohne Übergang zur Quaternität) durch die Erkenntnis des
Geistes als Liebe liegt auch die wahre Überschreitung oder eher die »Aufhebung« der Schatten­
thematik (Überwindung und Bewahrung), insofern im Animus als Geist diejenige Liebe erfahren
wird, die den Töter oder das Böse nicht außer sich, sondern in sich hat. Es bedarf des Vierten
nicht, weil mit dem Geist sich die ganze Szene verändert, »die Welt neu erschaffen« wird. Dies
ist erneut ein Hinweis darauf, daß mit der Quaternität die wahre Überschreitung vermieden und
die alte Welt stabilisiert würde, weil durch den Ausbau der Trinität zur Quaternität das störende,
vorwärtstreibende Moment regressiv in der alten Ordnung untergebracht und stillgestellt wäre.
weil unvollständigen Drei her gesehen. Es geht um die Verwirklichung der Voll­
kommenheit, d.h. um deren Überführung aus dem Jenseitigen ins Diesseits. Das
Vollkommene soll in dieser Welt wirklich, leibhaft werden, der Himmel auf die
Erde herabkommen. Das ist das (selbst schon zur Thematik der Transgression
nach Drüben gehörige) Gegenstück zur Transgression. Hier muß das Jenseits,
der »Kreis«, schon erfahren sein: er ist der Ausgangspunkt, und die Aufgabe be­
steht jetzt nur darin, das in potentia Erfahrene herüberzubringen in die leibhafte,
raumzeitliche Realität. Die Doppelheit der mit der Transgression nach Drüben
gegebenen Aufgabe spiegelt sich in der Zweiteiligkeit vieler Märchen, wo der
Held im ersten Teil die Jenseitige schon ganz für sich gewonnen hat, ihrer dann
aber merkwürdigerweise doch wieder verlustig geht und sie dann auf einem
mühseligen Weg erst wiedergewinnen muß. Zunächst war sie nur »im Prinzip«
gewonnen, »in der Tat«, d.h. real, gewonnen wird sie erst am Ende.
Jede archetypische Idee ist, als archetypische, vollkommen und vollstän­
dig, die Trinität nicht minder als die Quaternität. Insofern hat sie gleichsam
»Kreis«-Form. Die Trinität ist vollständig und vollkommen, weil ihre Unvoll­
ständigkeit nicht »unvollständige, mangelhafte Idee« bedeutet, sondern besagt,
daß die Trinität die (vollständige) archetypische Idee der Unvollständigkeit, der
animushaften Dynamik im Sinn der transzendenten Funktion ist. Weil der Heili­
ge Geist zunächst nur verheißen ist, ist auch die Trinität zunächst nur als
»himmlische« Idee und geglaubte Wahrheit, also nur potentiell gegeben, noch
nicht erfahrene leibhafte Lebenswirklichkeit. Anstatt an dem »Kreis« der Trini­
tät die Quadratur des Zirkels (im Sinn der negativen Er-innerung ihrer in sich
hinein und des damit einhergehenden Todes des der Anima-Stufe verhafteten
Bewußtseins) auszuüben, um ähnlich, wie im Märchen der Held die errungene,
aber wieder verlorene Jenseitige durch eine lange Suchwanderung (vgl. »negati­
ve Er-innerung«) neu gewinnen muß, die »im Prinzip« schon gewonnene und
doch noch verlorene Trinität auf die Erde herabzuholen, so daß sie als pneumati­
sches Inderweltsein real wäre, hat Jung dies ganz andere versucht, von der einen
archetypischen Idee (Trinität als der unvollständigen Idee) zur anderen (Quater­
nität als der Idee der Vollständigkeit) überzugehen. Und er beanspruchte unter
Berufung auf Platos Timaios für die Quaternität schon Realität. Ich meine aber,
mit der Vervollständigung der Drei bleibt man »horizontal« auf derselben
»himmlischen« Ebene archetypischer Potentialitäten, anstatt »vertikal« von die­
ser auf die ganz andere irdische Ebene hinunterzugehen. Der Wechsel zur Qua-
temität verhindert genau das, was die Quaternität bringen sollte, das Wirklich­
werden, die Realisierung unseres psychischen Seins, weil dieses doch nun ein­
mal der Trinität und damit der transzendenten Funktion, d.h. dem Durchbruch
zur Syzygie-Stufe, verpflichtet ist. Quasi »inhaltliche« Vollständigkeit garantiert
sowieso noch nicht tatsächliche Realisierung, sondern nur die Idee der Verwirk­
lichung. Die »Realität«, die durch das vollständige archetypische Vierer-Schema
gewährleistet sein soll, bleibt selbst noch auf der »himmlischen«, pleromati-
schen Ebene, also potentiell, nur vorgestellt. Wie die Trinität würde auch die
»vollständige« Quaternität und mit ihr die Idee der Realität ihrerseits erst durch
etwas ganz anderes als die »inhaltliche« Ergänzung der Drei durch das Vierte,
nämlich durch eine etwa erfolgende Quadratur des Kreises in der Form der abso­
lut negativen Er-innerung, aus der bloßen Potentialität in die Realität überge­
führt. Vor allem aber vermöchte selbst eine real gewordene Quaternität, weil ih­
re Realität nur eine auf der alten Anima-Stufe wäre, gerade nicht, die Aufgabe
des christlichen Abendlandes zu verwirklichen, die darin besteht, die höchste
Idee der Animus-Stufe, die Trinität, auf die Erde herabzuholen und damit im
endgültigen Abschied von der Anima-Stufe die schon längst herrschende, aber
unerfüllte Animus-Stufe wahrzumachen, zu verwirklichen: wodurch diese dann,
als vollbrachte Animus-Stufe, Syzygie-Stufe wäre.

* * *

Meine Erörterung der Animus-Psychologie ist zu ihrem Ende gekommen,


nicht jedoch sie selbst, und nicht einmal das, was in einem allgemeinen Über­
blick überhaupt zu diesem Thema zu sagen wäre. Ich erwähne nur, daß sich ge­
zeigt hat, wie der Animus in der Seele das Ich, den Willen, die Selbstbehaup­
tungstendenz generiert. Es würde naheliegen, diesem Thema, »Der Animus als
Ich«, ein eigenes Kapitel zu widmen. Mit dem Ich ist nicht nur die Problematik
der Persona gegeben. Auch das Unbewußte als das Verdrängte oder Innere wird
gleichursprünglich mit der Setzung des Ichs (und des Ichbewußtseins) gesetzt.
Von da aus würde sich dann auch zeigen, daß der Schatten als die erste spontane
Manifestation der Gegensatz-Thematik (zumindest in unserer moralisch be­
stimmten Kultur) die Gestalt ist, wie der Animus und mit ihm die Syzygie sich
zunächst dem Bewußtsein aufdrängen - gleichzeitig in noch entfremdeter Form
und doch schon als sie selbst. Die Neurose, die Dissoziation, die Zerrissenheit
sind im Grunde schon das syzygische Bewußtsein, nur in einer sich selbst miß­
verstehenden und abgewehrten Form. Mit dem Ich steht auch die Problematik
des »Selbst«24 vor uns auf, jenes für eine Psychologie als Seelenkunde so frag­
würdigen und in ihr doch so prominenten Begriffs. Mithin: vom Ich aus wäre
das ganze Corpus der Tiefenpsychologie noch einmal neu zu beackern, zu
durchdenken und darzustellen - sicher eine reizvolle Aufgabe, aber auch eine,
die vielleicht doch zu sehr rückwärtsgewandt sein könnte. Vielleicht ist es sinn­
voller, dieses Corpus sich selbst, seiner eigenen Ver-wesung zu überlassen.

24 Welches wesentlich durch die hier schon erörterte Idee der Ganzheit als Quaternität bestimmt ist.
Der Eranos-Vortrag »Die Syzygie: Über die Wirklichkeit der Welt oder die Not der
Psychologie« (Eranos 57-1988, Frankfurt [Insel] 1990, S. 235-305) wurde in dieses
Buch eingearbeitet.

Albertus Magnus, Mineralia.


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zungsband, Frankfurt (S. Fischer) 1975.
Sigmund Freud, Zur Einleitung der Behandlung, Studienausgabe, Ergänzungsband,
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Wolfgang Giegerich, »Die Erlösung aus dem Strom des Geschehens: Okeanos und der
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Wolfgang Giegerich

Tötungen. Gewalt aus der Seele


Versuch über Ursprung und
Geschichte des Bewußtseins
Frankfurt/M., Berlin, Bern, New York, Paris, Wien, 1994.206 S.
ISBN 3-631-46629-3 br. DM 5 9 .-

’Gewalt' und 'Seele' scheinen einander auszuschließen. Dieses Buch


versucht jedoch zu zeigen, daß sich die Entstehung von Seele, Be­
wußtsein, Kultur der Gewalt verdankt: dem urzeitlichen Töten in Jagd
und Opfer. Es greift dabei auf die großartigen Entwürfe von Burkert
und Girard zurück, stößt sich aber von ihrem Reduktivismus zu einer
von der Kategorie des seelischen Sinnes geleiteten Sicht hin ab. Es
wird nachgezeichnet, wie genau in jenem Töten Bewußtsein entsteht,
warum dann aber die Seele in ihrer weiteren Geschichte sich radikal
gegen die Opfer wenden mußte und welchem seelischen Sinn die in
der Folge aufkommenden nicht mehr rituellen Tötungen - von den
Hexenverbrennungen bis hin zu Auschwitz - dienten. Das Stichwort
"virtual reality" erlaubt Ausblicke auf den unbewußten Sinn vieler
gänzlich uneinfühlbarer Gewalttaten unserer Tage.

Aus dem Inhalt: Das gestörte Verhältnis zur Gewalt - Großwildjagd


und Opferschlachtung - Schamanische Erfahrung: Innenschau der
jägerischen Opfertötung - Auseinandersetzung mit Jung, Hillman,
Bäudler, Burkert, Girard - Die Wendung der Seele gegen sich selbst -
Zur Geschichte der Tötungen im Abendland - Der logische Status der
Psychologie

Verlag Peter Lang Frankfurt a.M. • Berlin *Bern • New York • Paris • Wien
Auslieferung: Verlag Peter Lang AG, Jupiters». 15, CH-3000 Bern 15
Telefon (004131) 9411122, Telefax (004131) 9411131
- Preisänderungen Vorbehalten •

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