Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Animus-
ie
PETER LANG
Frankfurt am M a in •Berlin •Bern •New York •Paris •W ien
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Giegerich, Wolfgang:
Animus-Psychologie / Wolfgang Giegerich. - Frankfurt am
Main ; Berlin ; Bern ; New York ; Paris ; Wien : Lang, 1994
ISBN 3-631-46628-5
ISBN 3-631-46628-5
© Peter Lang GmbH
Europäischer Verlag der Wissenschaften
Frankfurt am Main 1994
Alle Rechte Vorbehalten.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des
Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für
Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die
Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Einleitung ............................................................................................................. 7
I. Die Psychologie und der Animus, der Animus und die Psychologie ................ 13
Der Animus als Negation und als das Andere der Seele -
Die dreifache Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen...................... 175
I. Stellung: Verschwinden und Hochzeit mit dem Tode................................. 176
II. Stellung: Der Frauenmörder und das Zurückschrecken in Todesangst ....... 185
III. Stellung: Standfestigkeit angesichts des Todes ........................................ 202
Die »IV. Stellung« der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen ..................... 213
Der Animus als der dreieinige Gott und die Trinität als
das Gefäß und die Substanz der Geschichte der abendländischen Seele ............... 323
Die Quatemität —eine Lösung der Trinitätsproblematik? .............................. 323
Die Trinität - ein Problem des persönlichen Glaubens oder
der öffentlichen Erkenntnis? .................................................................. 326
Die Trinität als Kristallisationspunkt der Animusthematik............................ 331
Die Gebundenheit durch die Trinität und ihre Verleugnung.
Oder die Neurose des Abendlandes ........................................................ 334
Die Unvollständigkeit der Trinität oder
die (negative) Er-inncrung in ihre Bodenlosigkeit................................... 344
Literatur............................................................................................................ 359
Einleitung
4 J.W. v. Goethe, Westöstlicher Divan, Buch der Sprüche. Der Spruch beginnt mit folgenden Zei
len: »Was wiUst du untersuchen, / Wohin die Milde fließt.« Bei Hafis heißt es: »Tue Gutes und
w irf s in die Fluten hinab.«
I. Teil
Die Psychologie und der Animus,
der Animus und die Psychologie
Wenn ich vom Animus rede, dann spreche ich aus einer bestimmten Tra
dition heraus, der der Lehre Jungs. Keine andere Schulrichtung der Tiefenpsy
chologie oder der akademischen Psychologie kennt den Begriff Animus. Und
wenn ich die die Animus-Thematik betreffenden Fragen und Probleme aufrolle,
dann spreche ich in diese Tradition hinein. Meine diesbezüglichen Fragen und
Überlegungen treten nicht in einem Freiraum auf. Ohne daß man das immer
merkt, bewegt sich unser Denken immer schon auf Bahnen, die es nicht selbst
gebahnt hat. Die Tradition, bestimmte aus dieser Tradition hervorgehende me
thodische wie inhaltliche Grundüberzeugungen, vielleicht sogar so etwas wie ein
»Menschenbild« sind immer schon mit von der Partie, sind gewissermaßen stille
Ko-Autoren, wenn ich mich der Animus-Thematik zuwende. Es ist also gut, sich
das eigens zu vergegenwärtigen. Je mehr es im Bewußtsein bleibt, desto eher
könnte es möglich sein, etwas von den Bahnen, auf denen sich das Denken über
den Animus bewegt hat, selber zu reflektieren und dann auch in der Sache des
Animus ihrerseits weiterzukommen. Ich beginne mit einigen recht äußerlichen
Beobachtungen zu den Gefühlen, Affekten, der Atmosphäre und der Einstellung,
die sich mit dem Animus-Thema sei es unterschwellig, sei es ausgesprochener
maßen verbinden oder die er innerhalb der Tradition der analytischen Psycholo
gie mit sich gebracht hat.
Zunächst fällt auf, daß der Animus das Stiefkind der Psychologie Jungs
ist. Jung hat dieses Thema ziemlich vernachlässigt. Es hat ihn offenbar nicht um
seiner selbst willen interessiert. Er hat natürlich nicht versäumt, es anzusprechen
und abzuhandeln - wenn dem so wäre, hätten wir den Begriff Animus gar nicht
- , aber man bekommt den Eindruck, daß er dies mehr nur pflichtschuldigst getan
hat: wenn er, z.B. in einer Schrift über die Beziehungen zwischen dem Ich und
dem Unbewußten, von der Bedeutung der Anima für den Mann sprach, mußte
zwangsläufig auch etwas über die Frau und ihren Animus gesagt werden. Die
Anima hat von Jung eine ganz andere Anteilnahme erhalten. Bei dem, was er
über sie sagt, spürt man, daß es eigenes Leben in sich hat, daß es auch aus Jungs
persönlichem Erleben stammt - vor allem aber, daß Jungs Interesse dem Thema
Anima und der Anima-Welt, den Mythen und Symbolen, ganz natürlich zu
strömt. Die Passagen über den Animus sind trockener und dürftiger. Sie erschei-
nen eher als Anhängsel an die Ausführungen über die Anima denn als Abhand
lung über ein gleichgewichtiges und gleichwertiges Thema.
Auch aus der Feder von Jungs Schülern ist nicht viel über das Wenige
hinaus, das Jung selbst gesagt hat, über den Animus beigetragen worden. Eigen
ständig und nicht uninteressant ist der Aufsatz von Emma Jung, auch bei Esther
Harding und anderen der frühen Schülerinnen Jungs finden sich solide zusam
menfassende Darstellungen wie auch manche einzelne Ergänzungen zur Phäno
menologie des Animus. Aber insgesamt verbleibt das Ausgeführte ganz auf der
von Jung vorgegebenen Linie. In dem, was Spätere dann über den Animus zu
sagen hatten, wurde zumeist nur das von C.G. Jung, Emma Jung, Esther Harding
u.a. gezeichnete Bild, in andere Worte gekleidet, wiederholt und vielleicht auch
etwas breitgetreten. Eine gründliche Monographie über den Animus, so wie
James Hillman sie über die Anima geliefert hat,1 wurde bisher nicht vorgelegt.
Immerhin finden sich in seiner Schrift auch einige entscheidende Hinweise für
die Psychologie des Animus, wenn er nämlich die Korrelation der Anima mit
dem Mann und des Animus mit der Frau (also die Gegengeschlechtlichkeit die
ser Archetypen) kritisch beleuchtet, wenn er das Thema Syzygie anschneidet
und dabei auch auf die Abgrenzung der vom Wortstamm her identischen, aber in
ihrer psychologischen Bedeutung grundlegend differenzierten Wörter Animus
und Anima eingeht und z.B. den Zusammenhang von Animus und »dem Ich«
aufzeigt.
Die Kritik an der Verteilung von Anima und Animus auf die Geschlech
ter, die Hillman zuerst vorgelegt und im Rahmen einer differenzierten Würdi
gung der Gesamtproblematik begründet hatte, wurde dann auch besonders von
feministischen Autoren aufgegriffen, wobei das Jungsche Animus-Konzept
ziemlich kontrovers diskutiert wurde. Von vielen Feministinnen wurde das Kon
zept sogar rundweg abgelehnt, die Existenz von so etwas wie Animus bestritten
und die Theorie als aus einem typisch männlichen Vorurteil stammend ver
dammt. Diese Infragestellung der Gegengeschlechtlichkeit von Anima und Ani
mus und die Bestreitung der Validität des Animus-Konzeptes überhaupt sind die
wirklichen Neuerung gegenüber der herkömmlichen Animus-Theorie, wohl die
einzigen.
An dieser Stelle soll uns die Gegengeschlechtlichkeits-Frage noch nicht
beschäftigen. Ich möchte hier noch nicht in eine inhaltliche Diskussion des
Animus-Konzeptes einsteigen. Es geht mir hier zunächst nur um die Herausstel
lung einiger formaler und affektiver Züge der Animus-Theorie, um ihre Stellung
und ihren Stellenwert innerhalb der gesamten Jungschen Psychologie und um
die Frage nach ihrem theoretischen wie phänomenologischen Grund (Funda
ment).
1 James Hillman, Anima. An Anatomy o fa Personified Notion, Dallas (Spring Publications) 1985.
Der erste ins Auge springende Zug der Animus-Theorie war der Mangel
an Interesse, das ihr zuteilwurde. Der zweite ist ihre negative Besetzung. Der
Animus hat, allen nachträglichen gegenteiligen Versicherungen zum Trotz, ei
nen schlechten Ruf. Die Grunderfahrung, die zu dem Animuskonzept führte, ist
der negative Animus. Es ist die Erfahrung von der »animus-besessenen« Frau,
d.h. der Frau, die starre, dogmatische Meinungen hat, die nicht »auf ihrem eige
nen Mist gewachsen« sind, sondern von irgendwelchen Autoritäten, vom Vater,
von Lehrern, von bewunderten Geistesgrößen »blind« übernommen wurden,
aber eben nur als tote Prinzipien, nicht zusammen mit der lebendigen Geistig
keit, aus der sie bei jenen erwachsen sind und durch die sie allein ihre Berechti
gung erhalten. Auch die Anima macht sich in der persönlichen Psychologie des
Mannes zunächst meist negativ bemerkbar, durch Launenhaftigkeit. Dennoch
überwiegt bei ihr die positive Bewertung. Selbst wenn die Gefährlichkeit der
Anima betont wird, so kann dies die wohlwollende Einschätzung ihrer und das
Fasziniertsein von ihr nicht wesentlich beeinträchtigen. Natürlich soll es auch ei
nen positiven Animus geben. Wenn der anfangs negative Animus nämlich diffe
renziert und entwickelt ist, wenn aus dem Komplex, von dem das Bewußtsein
der Frau »besessen« war, durch die Integration ins Bewußtsein eine psychische
Funktion geworden ist, dann soll daraus eine echte Geistigkeit, Pneuma, Sinn
entstehen. Aber man gewinnt doch den Eindruck, daß dies mehr nur ein Gerücht
bleibt oder eine Verheißung, deren Erfüllung noch nicht so recht gesichtet und
schon gar nicht glaubwürdig vorgeführt (dokumentiert) wurde.
Jeder Archetyp hat, wie man so sagt, eine positive und eine negative »Sei
te«. Er kann heilbringend und unheilvoll wirken. Beim Animus jedoch scheint
das Prädikat »negativ« weniger einen von zwei grundsätzlichen Zuständen, in
denen der Animus auftreten kann, zu bezeichnen, als daß es seinen allgemeinen
Ruf beleuchtet. Mag man auch theoretisch noch so gut wissen, daß es auch einen
»positiven Animus« gibt, so verbindet sich affektiv das Wort Animus, allein
ausgesprochen, doch unwillkürlich und stillschweigend mit der Vorstellung vom
»negativen Animus«. Überspitzt gesagt ist es daher fast so, als ob die Formulie
rung »negativer Animus« ein Pleonasmus, ein »schwarzer Rabe« wäre.
Zusätzlich zu der stiefmütterlichen Behandlung und der negativen Ein
schätzung, die dem Animus-Konzept zuteilwurden, ist als drittes Merkmal das
Mechanische des Denkens zu nennen, mit dem der Animus der Anima entgegen
gesetzt wird. Mit einer gewissen Automatik wird, so scheint es, der Animus aus
der Anima einzig durch ihre Verkehrung ins Gegenteil abgeleitet. »Da nun die
Anima ein beim Mann hervortretender Archetypus ist, so steht zu vermuten, daß
bei der Frau ein Äquivalent vorhanden sein muß, denn wie der Mann durch
Weibliches kompensiert ist, so die Frau durch Männliches.«2 Weil die Anima =
2 C.G. Jung, GW 9/II § 27. Jung fügt freilich hinzu: »Mit dieser Überlegung möchte ich allerdings
nicht den Anschein erwecken, als ob diese Kompensationsverhältnisse etwa deduziert worden
wären.«
Eros ist, ist der Animus = Logos. Dem Seelenbild im Mann muß (!) ein umge
kehrtes Seelenbild in der Frau entsprechen. So wie biologisch Penis und Vagina
exklusiv an die Männer und an die Frauen verteilte Gegenstücke sind, so schei
nen auch Anima und Animus komplementär auf die Geschlechter verteilt zu
sein. Man muß gewissermaßen nur das Vorzeichen an der Anima ändern, tun ei
nen Animus aus ihr zu machen. Er hat sein Wesen nur durch den Kontrast zu
seinem Gegenstück, als Stelle in einem vorgegebenen System. Er ist offenbar
nicht eine eigenständige Wirklichkeit, die vorgefunden würde und erst nach und
nach aus ihr selbst heraus in ihrem Sosein erfahren werden müßte, sondern es ist
mehr so, als ob er aus der Anima deduziert werden könnte, da wie bei dem Pla
tonischen Kugelmenschen ein in der Idee gegebenes Ganzes in seine gegensätz
lichen Hälften auseinandergelegt und auf die Männer und die Frauen verteilt
worden zu sein scheint.
Viertens fällt auf, daß der Animus nicht nur als Thema der Psychologie
eher stiefmütterlich behandelt wird, sondern daß auch die Jungsche Psychologie
selbst in ihrem Stil des Vorgehens, in dem, worauf sie abhebt, und in ihren Ge
danken sich nicht besonders von dem Animus inspirieren und leiten läßt. Der
Animus bleibt Bestandstück der Lehre, er wird in Patientinnen angesiedelt und
soll dort, in ihnen, behandelt, differenziert und von ihnen ins Bewußtsein aufge
nommen werden, während die Psychologie sich in ihrem eigenen Tun und Ver
halten nicht der Entwicklung ihres »eigenen« Animus annimmt. Es fragt sich, ob
er in den Frauen besser aufgehoben ist, als er es in der Psychologie selber wäre,
und ob es den Frauen überhaupt gelingen kann, den Animus zu »entwickeln«,
wenn die Psychologie, innerhalb von deren Rahmen sich die Entwicklung ab
spielen soll, selber diese Aufgabe nicht geleistet hat und auch weiterhin von sich
weist.
Und sie weist diese Aufgabe von sich. Der Animus, soviel können wir
auch schon vor Eintritt in die eigentliche Untersuchung sagen, hat nun einmal
etwas mit Logos, d.h. mit Logik und Denken zu tun. Damit tut sich aber die
Jungsche Psychologie schwer. Sie pflegt (neben dem Gefühl) hauptsächlich die
Imagination. Es geht ihr um die Bilder, die Mythen und Märchen, die Phanta
sien, kurz das Imaginale. Die Bilder haben für sie zwar durchaus Sinn, aber der
Sinn ist primär nicht zu denken, in streng denkender und disziplinierte begriffli
che Arbeit nicht scheuender Weise anzueignen, sondern er muß teils in den
Bildern selber »angeschaut« und durch das Anschauen »erfahren« oder »erlebt«
werden, teils im realen Leben »praktisch umgesetzt« werden. In der Psychologie
zu denken ist unpopulär, ja sogar verpönt. Das Denken ist als »bloß theoretisch«,
als rein »intellektuell« verschrien. Kein Wunder, daß der Animus seinerseits in
der Psychologie so schlecht wegkommt. Denn er würde u.a. auch die anstren
gende, entsagungsvolle Arbeit des Denkens von uns fordern. Aber wer will die
se Arbeit schon auf sich nehmen? Es ist soviel schöner, Bilder anzuschauen
(einfach anzuschauen und mit Gefühl zu erleben), Vorstellungen zu entwickeln
und in der psychologischen Theorie wahmehmend an Vorstellungen und Gefüh
len entlangzugehen, ohne je in den Prozeß des Denkens eintreten zu müssen.
Häufig hält sich sogar die Tätigkeit des Vorstellungen Entwickelns und Vorstel
lungen Habens und Vorstellungen durch andere Vorstellungen Begründens
schon für ein Denken. Wenn aber schon der Begriff des Denkens in der Psycho
logie konfus ist, wie sollte da der Animus, als die archetypische Gestalt, in deren
Zuständigkeit das Denken gehört, angemessen gewürdigt werden können?
Wenn der Animus so kontrovers ist, daß seine Existenz, wenn auch nur
von einigen radikalen Feministinnen, in Bausch und Bogen bestritten werden
kann, ganz abgesehen davon, daß keine andere Schule der Psychologie das
Animus-Konzept zur Kenntnis genommen oder gar übernommen hat, stellt sich
dringend die Frage nach der Legitimität des Animus-Konzeptes. Es macht kei
nen Sinn, etwas untersuchen zu wollen, wenn es vielleicht nur ein Phantasma,
eine Ausgeburt der Jungschen Phantasie ist, dem in der Realität nichts ent
spricht. Bevor wir die Frage nach dem Animus ernsthaft aufnehmen, müssen wir
uns Rechenschaft darüber ablegen, daß das Wort Animus überhaupt auf etwas
und nicht auf nichts hinweist. Sonst könnte das ganze Unterfangen ein selbstge
fälliges, in sich selbst eingesponnenes Spiel sein ohne Bezug zur Wirklichkeit.
Wir müssen als erstes gewissermaßen einen Animus-Beweis, einen Beweis vom
Dasein des Animus, erbringen.
Dabei tun sich für uns folgende Fragen auf. Woher bekommen wir unse
ren Animus-Begriff? Was ist seine Basis? Woher hatte Jung seinen Begriff vom
Animus? Oder genügt es, sich einfach auf Jung als Autorität zu berufen und, un
abhängig davon, was ihm das Recht zur Rede vom Animus gegeben haben mag,
kurzerhand von der nun einmal bestehenden Lehre vom Animus aus weiterzuge
hen? Was ist das Kriterium dafür, bestimmte Erfahrungen und Bilder in Traum
und Mythos als Animus-Manifestationen anzusprechen?
In der Krankheitslehre ist die Frage nach der Wirklichkeit von Krankhei
ten gestellt worden, die Frage nach der »nosologischen Einheit«. Ist der Animus
in diesem Sinn eine »psychologische Einheit«, eine real existierende Entität, ein
Komplex oder eine Funktion? Das wäre von dem mittelalterlichen Universalien
streit her gesehen die realistische Variante. Oder ist »Animus« nur nominali-
stisch eine Benennung als handliche Wortmünze für lediglich nach menschlich
pragmatischen Gesichtspunkten, also mehr oder weniger willkürlich, aus der
Vielfalt der Wirklichkeit herausgeschnittene Aspekte, ein praktisches Mittel zur
Verständigung (ein Etikett), ohne eine eigene Realität zu besitzen, so etwa, wie
das Geld ein praktisches Mittel ist, mit dem es sich sehr viel leichter bezahlen
läßt als mit Eiern, Hühnern, Schweinen, Kühen oder Säcken von Kom, so je
doch auch, wie das Geld, wenigstens das Papiergeld und das Plastikgeld, keinen
eigenen substantiellen Wert mehr besitzt. In anderen Worten, hat der Animus
ein »esse in re« oder nur ein »esse in intellectu«? Gibt es den Animus in der
Psyche so, wie es das Herz, die Lunge, den Magen im Organismus gibt? Woher
nehmen wir das Recht, aus der Vielfalt der Phänomene manche herauszugreifen
und zu sagen: das ist Animus, und woher das Recht, überhaupt von »dem« Ani
mus zu sprechen?
Es ist klar, daß uns die Berufung auf die Autorität Jungs nicht genügen
kann. Dann wären wir noch im Mittelalter. Es muß für uns nachvollziehbar sein,
was die Basis des Animus in der Wirklichkeit ist. Es ist üblich, sich auf die em
pirische oder phänomenologische Erfahrung zu berufen. Diese Erfahrung kann
ihrerseits von zweierlei ausgehen: von dem Verhalten des Organismus bzw. der
Persönlichkeit oder von den von der Psyche hervorgebrachten bildhaften Pro
dukten. Aus beiden hier nicht separat behandelten Bereichen gibt es einige Phä
nomene, die dem Animus zugeordnet werden. 1. Als Verhalten von Menschen
findet man das sture Meinungenhaben und -vertreten, was gewöhnlich als die er
ste (negative) Manifestation des Animus gilt. 2. In Träumen, in der Mythologie,
in Sagen usw. kommen typische Gestalten vor, die Animus-Charakter haben sol
len, etwa die Gestalt des »Schattengeliebten«. 3. Ebenfalls in der Mythologie
und in der metaphysischen Naturphilosophie kommen Paare vor, von denen der
eine, männliche Partner den Animus, der weibliche die Anima darstellen soll
(Götterpaare, Begriffe wie netkos und philia bei Empedokles, yin und yang in
der chinesischen Philosophie). Aber die Berufung auf die Phänomenologie hilft
uns nicht wirklich weiter. Diese scheint zwar dem Animus-Begriff einen reellen
Anhalt zu geben, aber nicht mehr als einen Anhalt. Denn diese Bilder und Ge
stalten ebenso wie das animushafte Verhalten treten ja nicht mit einem Schild
chen am Hals auf, auf dem zu lesen steht: ich bin ein Animus-Phänomen. Son
dern es sind immer noch wir, die aus der ganzen Fülle der Phänomene diese be
sonderen herausgreifen und ihnen die Zugehörigkeit zum Animus zuschreiben.
Die Frage, mit welchem Recht wir das tun, bleibt offen.
Es ist überhaupt fragwürdig, direkt mit der »empirischen Erfahrung« be
ginnen und sie zugrunde legen zu wollen. Das große Problem mit der Empirie
ist, daß man dann seine Voraussetzungen im Rücken hat. Die Mitwirkung der ei
genen Psyche beim Sehen dessen, was dann draußen vorgefunden wird, bleibt
verborgen. Auch wenn Jung sich immer wieder als Empiriker hingestellt hat, so
war er doch nicht naiv genug, diese Probleme nicht zu durchschauen. Er hat ver
standen, »... daß insbesondere die Naturwissenschaften bestrebt sind, ihre For
schungsresultate so darzustellen, als ob sie ohne die Intervention des Menschen
zustande gekommen wären, d.h. die unerläßliche Mitwirkung der Psyche bleibt
unsichtbar.«3 Jung konnte diese Einsicht auch auf eigene Hypothesen, die er für
empirisch erwiesen hielt, anwenden und so etwa von einer Hypothese sprechen,
»die sicherlich aus mir selber stammt —auch wenn ich mir einbilde, ich hätte sie
aus Erfahrung gefunden«.4 Der Begriff Animus stammt nicht aus der Erfahrung.
3 C.G. Jung, GW 10 § 498.
4 C.G. Jung, GW 4 § 778.
Wenn der Animus draußen im empirischen Material vorgefunden wird, stammt
er schon aus dem Sehen, das ihn vorfindet. »Bewiesen« ist damit also gar nichts.
Die Berufung auf die Empirie ist zirkulär, eine Petitio principii. Es ist immer
schon ein Vorbegriff vom Animus nötig, um bestimmte Bilder und Verhaltens
weisen als Animus-Manifestationen zu identifizieren.
Es gibt einen zweiten Weg der Legitimierung von psychologischen Be
griffen, die wir anwenden. Dieser Weg ist, soweit ich sehe, nur von Jung be
schritten worden und ist ein wahrhaft psychologischer Weg. Daß Jung diesen
Weg erkannt und beschritten hat, zeichnet ihn als Psychologen aus. Der Grund
gedanke hier ist, daß nur solche Begriffe in der psychologischen Theorie benutzt
werden dürfen, die aus dem, was Jung den »consensus omnium« oder »Consen
sus gentium« nannte, stammen. Die Begriffe müssen aus der Tradition validiert
sein. Jung begründete so den Libido-Begriff mit den archaischen Vorstellungen
von »Energie«, die »überall« in der Welt Vorkommen (Mana, wakanda, churin-
ga, manitu usw.), den Begriff »Archetyp« aus dem Gebrauch dieses Begriffs in
der antiken Philosophie (Platonische Akademie, Augustin usw.), und für seine
typologischen Begriffe Extraversion und Introversion, Denken und Fühlen, griff
er auf eine iri seinem Typen-Buch breit dargelegte Tradition von den Kirchenvä
tern über die Scholastik und den Abendmahlsstreit von Luther und Zwingli bis
zu Schiller, Nietzsche und noch modernere Autoren zurück.
Es ist wichtig zu eikennen, daß Jung dies nicht nur und nicht in erster Li
nie in historischer Absicht tat. Diese historischen Ausführungen haben vielmehr
eine systematische Bedeutung: sie dienen der Fundierung (Legitimierung) seiner
Begriffe. Das ist für den an den modernen Wissenschaften Orientierten sicher
befremdlich. Was für einen Aufschluß über die Legitimation von in einer Wis
senschaft zu benutzenden Begriffen soll die Tatsache geben können, daß analo
ge Begriffe schon von anderen und anderswo benutzt wurden? Früher wurden ja
gerade auch allerlei abstmse Begriffe benutzt, die unsere Wissenschaft nicht
mehr verwenden kann, weil sie deren Berechtigung gerade widerlegt hat (z.B.
Äther, Sphärenmusik). Und doch hat Jung hier mit diesem Begründungsversuch
wenigstens grundsätzlich ins Schwarze getroffen. Dazu muß man nur im Ge
dächtnis behalten, daß es hier um psychologische Begriffe geht. Die Begrün
dung psychologischer Begriffe kann nur unter Berufung auf die Phänomenolo
gie der Seele selbst geschehen. Genau dies liegt dem Jungschen Versuch, die
Begriffe in einer Tradition zu gründen, zugrunde. In der Tradition hat sich im
mer schon die Seele selber artikuliert. Werden die Begriffe der Psychologie aus
den Selbstmanifestationen der Seele gewonnen, dann werden sie offenbar nicht
von außen und aus einer willkürlichen Position heraus an sie herangetragen. Die
Psychologie bleibt bei ihrem Leisten. Sie reflektiert ihren Gegenstand imma
nent. Sie läßt sich ihre Kategorien, mit denen sie das Leben der Seele betrachten
will, von dem schon sichtbaren und bewährten Leben der Seele selber geben. Da
jedoch schlechterdings alle Begriffe aus der Psyche kommen, ist es noch wichtig
zu sehen, ob die Begriffe dem Alter und der weltweiten Verbreitung nach eine
gewisse Universalität haben, weil sonst irgendeine extravagante, ausgefallene
Seelenmanifestation zur Kategorie für das Seelenleben überhaupt erhoben wer
den könnte. Daher das Kriterium des »consensus gentium«.
Nun ist freilich der »Animus« durch die Tradition kaum bewährt. »Der«
Animus kommt nicht vor. Das ist eine Jungsche Schöpfung unter geschicktem
Rückgriff auf die lateinischen Wörter anima und animus, lateinische Wörter der
normalen Sprache wohlgemerkt und meist keineswegs Begriffe von terminologi
scher Bedeutung, wie das bei Jung der Fall ist. Der Glücksfall, daß im Lateini
schen das Wort für Seele in zwei lautlich und grammatisch nur geringfügig dif
ferenzierten Formen, nämlich einmal männlich und einmal weiblich, vorkam,
kam Jung offenbar bestens zupaß, um seine Theorie von einer Anima des Man
nes und einem Animus der Frau mit ihrer komplementären Gegensätzlichkeit
ausdrücken zu können. Aber diese Theorie ist gerade nicht durch die Tradition
und den consensus gentium abgedeckt. Vor wenigen Jahren hat Thomas Moore
eine detaillierte Untersuchung über das Wort Animus im Lateinischen vorge
legt.5 Er glaubte offenbar, aus dem Sprachgebrauch des Wortes animus im La
teinischen den Begriff des Animus, wie er in der Jungschen Psychologie termi
nologisch gebraucht wird, besser begründen und differenzieren zu können. Er
stieß dabei sogar auf einen »Animus mundi«, womit das Gegenstück zu der
schon lange besonders aus Jungs alchemistischen Studien bekannten »Anima
mundi« gefunden und dem Animus über seine Rolle in der persönlichen Psyche
hinaus auch eine kosmologische Dimension vindiziert wäre.
Aber diese Untersuchung vermag nicht zu überzeugen. Das große Pro
blem, inwieweit der Sprachgebrauch des Wortes animus der gewöhnlichen latei
nischen Sprache für »den« Animus im terminologischen Sinn in Anspruch ge
nommen werden darf, bleibt ungeklärt. Besteht, wenn der Psychologe von Ani
ma und Animus redet, eine echte Identität oder wengistens Kontinuität mit den
lateinischen Begriffen, die über die Wortgleichheit wesentlich hinausginge?
Ebenso bleibt die Frage ungeklärt, inwieweit in bestimmten lateinischen Sätzen
die Wortwahl animus statt anima zufällig sein könnte (vielleicht hätte genauso
gut anima da stehen können) und inwieweit sie signifikant ist. Im Deutschen
kann man etwas in seinem »Herzen«, in seinem »Gemüt«, in seiner »Brust«, in
seinem »Busen«, in seinem »Sinn«, in seinem »Geist« oder in seinem »Bewußt
sein« erwägen. Jedes dieser Wörter hat sicher verschiedene Assoziationen und
ist mit verschiedenen Gefühlstönen verbunden. Aber in bestimmten Sätzen
könnte das eine oder das andere Wort mit mehr oder weniger gleichem Recht
und in gleicher Bedeutung Verwendung finden. Vor allem müßte nicht unbe
5 Thomas Moore, »Animus mundi: or the Bull at the Center of the World«, Spring 1987, S. 116-
131.
dingt auf eine je andere Sache, sozusagen ein je anderes Organ der Seele, hinge
wiesen sein. Ich vermute, daß genauso auch lat. anima und animus in vielen Sät
zen ohne allzugroßen Bedeutungsverlust austauschbar wären, trotz aller Bedeu
tungsnuancen, und vor allem, daß nicht wirklich immer zwei verschiedene psy
chologische »Organe« oder »Funktionen« damit gemeint sind. Ganz deutlich
scheint mir dies bei dem aus Ficino entnommenen Animus mundi, der bei die
sem offensichtlich nicht, wie Moore annimmt, parallel zur Anima mundi auf ei
nen zweiten Faktor in der Welt hinweist, sondern nur ein anderer, austauschba
rer Name für Anima mundi ist. Denn Ficino benutzt oft beide Sprachformen in
ein und demselben Absatz für ein und denselben Sachverhalt ohne ersichtliche
Bedeutungsdifferenzierung, wie übrigens auch die einfachen Formen anima und
animus. Anima und animus können also durchaus Synonyma im strengen Sinn
sein, nur mit einer kleinen formalen Differenz, so wie im 18. Jahrhundert noch
im selben Sinn »das Erkenntnis« und »die Erkenntnis« gesagt werden konnte.
Es scheint keine externe (philologische, biologische, empirische) Recht
fertigung für den Begriff Animus zu geben. Wir können ihn nicht wirklich an et
was festmachen und so der eigenen Verantwortung für diesen Begriff enthoben
sein. Der Begriff ist nicht durch irgendwelche außerpsychologischen Begrün
dungen (Autoritäten, Empirie, Phänomenologie, Tradition) zu sichern. Auch der
Rekurs auf den Geschlechtergegensatz und die Gene ist uns nicht möglich,
schon gar nicht die Berufung auf irgendeine Art von Eingebung oder Erleuch
tung. Wir werden vielmehr auf uns selbst, auf unser eigenes Denken zurückge
worfen. Wir müssen selber Farbe bekennen, gleichsam unseren Kopf hinhalten.
Der Animus bei Jung ist eine Intuition, eine Schau, ein Gedanke. Seine Recht
fertigung steht oder fällt damit, daß wir vermögen, den Animus zu denken. Die
Frage muß sein: läßt sich aus dem, was in Jungs Intuition war, ein Begriff ent
wickeln, aus dem sich das, was zur Phänomenologie und zum Charakter des
Animus gehören soll, als innerlich zusammenhängend entwickeln läßt und mit
dem gleichzeitig auch etwas begriffen wird, etwas vom Leben der Seele?
Wir müssen schon den Jungschen Gedanken des Animus, so wie er sich
unmittelbar darstellt, in seiner Unsicherheit und Grundlosigkeit aufgreifen und
das so Aufgegriffene konsequent (rigoros) entfalten. Wir müssen schon den feh
lenden empirischen Beweis, das Fehlen jeglicher externen Rechtfertigung ertra
gen. Genau in dieser Ungewißheit ob der Berechtigung des Animus-Konzeptes
gilt es auszuharren, bei seiner Bodenlosigkeit zu verweilen, anstatt wegen der
Unbehaglichkeit ob einer solchen Ungewißheit Reißaus zu nehmen und sie kur
zerhand z.B. durch eine Entscheidung gegen das ganze Konzept zu beenden. Es
hilft uns nicht zu fragen: gibt es den Animus, ist das, was Jung gelehrt hat rich
tig oder falsch? Von außen können wir keine Hilfe bekommen. Wir können da
her auch nicht vorneweg bei irgendwelchen von außen herangebrachten Argu
menten pro oder contra unsere Zuflucht nehmen. So leicht macht es der Animus
uns nicht. Wir müssen vielmehr Jungs Gedanken im eigenen Denken nachvoll
ziehen, ihn erweitern, vertiefen, radikalisieren, weil sich erst in unserem Vollzie
hen des Gedankens heraussteilen kann, ob ihm »Wahrheit« und »Autorität« in
newohnt oder nicht - und ob unserem Denken Kraft innewohnt oder nicht. Es
braucht den Mut zum Begriff, zum eigenen Denken. Wie anders soll der Ani
mus, der doch Logos sein soll, sein Dasein beweisen als einzig durch den Voll
zug der Anstrengung des Begriffs durch uns selber? Nur Gleiches kann Gleiches
erkennen.
Der Animus ist nur als eigene Sinn-Erfahrung zu begründen. Ich selbst
muß den Sinn von »Animus« und den Sinn oder die Stimmigkeit des Unter
schieds von Anima und Animus begriffen haben und aus der Mitte dieses Be
griffs alles Weitere sei es entwickeln oder beurteilen —und dann dafür gerade
stehen. Der Animus ist nur als ein (denkerischer) Ansatz (was von »Setzen«
kommt). Ich darf gerade nicht von vornherein auf Bilder ausweichen. Denn der
Geist ist niemals etwas wie ein vorhandenes, anschaubares Ding. Er ist kein sei
endes Phänomen. Seiende Phänomene und Bilder können immer nur Anhalt für
die Konstatierung des Animus sein, nicht mehr. Und erst aus dem schon erfahre
nen und begriffenen Sinn von »Animus« heraus können die wirklich für ihn rele
vanten mythologischen Bilder ausgewählt werden und können diese zum Anhalt
der Erörterung des Animus werden.
Daher scheint mir auch der Rückgriff Jungs auf die Abälardsche Lösung
des Universalienproblems durch die Idee des esse in anima6 problematisch zu
sein. Viel hängt davon ob, wie man sie versteht. Legt man das naheliegende
Verständnis dieser Formel zugrunde, daß die Universalien ein Sein in der Seele
in demselben Sinn von Sein hätten, wie er in »esse in intellectu« oder »esse in
re« vorliegt, dann könnte und müßte man im Anschauen verharren, man könnte
sozusagen ruhig zuwarten, ob und wie der Animus »sich zeigt«, z.B. als Bild im
Traum. Er wäre (imaginaler) Gegenstand, draußen, uns gegenüber. Bei der Ani
ma mag dies angemessen sein: anima habet »esse« in anima, die Seele hat ein
Sein in ihr selbst, in der Seele, und sie ist immer auch der Archetyp der Ontolo-
gisierung. Aber der Geist? »Ist« er?
Es hat sich als unsere Aufgabe gezeigt, uns in die in Jungs Werk und der
Jungschen Psychologie überhaupt enthaltene Intuition von dem Animus zu ver
senken, um einen Begriff von ihm zu entwickeln. Es hat keinen Sinn, dies gera
dezu zu tun. Denn dann bliebe ungeklärt, innerhalb von welchem Horizont unser
Bemühen, den Animus auf den Begriff zu bringen, sich vollzieht. Je nach dem,
wie weit oder eng und was genau der Horizont des Denkens ist, innerhalb von
dem die Frage nach dem Animus gestellt wird, kann das, was sich als Ergebnis
ergibt, oberflächlicher oder tiefer sein. Es gilt, den geistigen Horizont zu finden,
der dem Denken Jungs angemessen ist. Es wäre ungereimt, einen Terminus aus
Jungs Psychologie herauszugreifen und ihn dann innerhalb eines ganz anderen
geistigen Horizontes näher bestimmen zu wollen. Die einzelnen Konzepte einer
Psychologie sind immer die Einheit ihrer Definition im engeren Sinn und des
ganzen Geistes, der in der jeweiligen Psychologie weht. Auf diesen Geist
kommt es vielleicht noch sehr viel mehr an als auf die nähere inhaltliche Be
stimmung der einzelnen Terme.
Nach vier Richtungen werde ich den für alles folgende zugmnde gelegten
Horizont erörtern. Ich frage erstens nach dem treibenden Anliegen hinter der
Jungschen Psychologie oder nach Jungs »Hauptfrage«. Was war, über all die
einzelnen Forschungen und Erkenntnisse hinaus, das, was Jung eigentlich wis
sen und vielleicht auch erreichen wollte? Dies ist die Frage nach dem Motiv, der
Bewegkraft, des psychologischen Forschens. 2. Ich frage nach dem inhaltlichen
Referenzpunkt, »Modell« oder »Paradigma«, das bei der Betrachtung einzelner
Phänomene ausgesprochen oder unausgesprochen das Denken leitet. 3. Ich frage
nach der persönlichen »Haltung«, die eingenommen sein muß, um psychologi
sche Themen angemessen in den Blick zu bekommen. Die 4. Frage betrifft
schon spezifisch den Animus. Es ist die Frage nach dem »Element«, innerhalb
von dem sich der Animus allein sinnvoll erörtern läßt.
Die Hauptfrage. Hier möchte ich etwas weiter ausholen. Vor zweitau
send Jahren wurde die Frage aufgeworfen: »Was hülfe es dem Menschen, so er
die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?« (Mt. 16,
26; vgl. Mk. 8, 36f.) In diesem Satz werden zwei Möglichkeiten gegeneinander
abgewogen. In die eine Waagschale wird die ganze Welt gelegt, in die andere
die psyche, das Leben bzw. die Seele des Menschen. Die Frage ist: Kann ein
noch so großer Nutzen, der Weltgewinn, einen bestimmten Schaden, den See
lenverlust, aufwiegen? In der Konsequenz dieses gegeneinander Aufwiegens
liegt dann auch, daß Welt und Selbst als solche in eine schroffe Alternative ge
bracht werden. Entweder kann man die Welt gewinnen und muß dafür zwangs
läufig mit der Beschädigung der Seele bezahlen oder umgekehrt: so klingt der
Satz für ein unbefangenes Hören. Man kann nur eines haben, die Welt oder das
Heil der menschlichen Seele.
ln dieser Alternative scheinen wir auch heute zu leben. Der bei weitem
größere Teil der Gesellschaft in unseren Breiten dürfte dem Ziel des »Weltge
winns« hingegeben und von einer wirklichen Sorge um das Heil der Seele weit
gehend unberührt sein. In der großen Welt, der Welt der Wirtschaft und der In
dustrie, aber auch der sonstigen Öffentlichkeit zählen Wachstum, Gewinn, be
ruflicher Aufstieg, Lebensstandard und natürlich zum Ausgleich auch noch das,
was man heute »Kultur« nennt. Die Psyche und die Psychologie sind hier mehr
oder weniger unbekannt und uninteressant. Es darf nicht vergessen werden, daß
es sich bei der Tiefenpsychologie um eine vergleichsweise belanglose Rander
scheinung des heutigen gesellschaftlichen Lebens handelt.
Dem steht freilich die andere Tatsache gegenüber, daß es bei einem klei
neren Teil der Gesellschaft in den letzten Jahren einen regelrechten Psychologie-
Boom gegeben hat. In unterschiedlichem Ausmaß scheint hier das oben zitierte
Bibelwort, freilich in einem neuen, nicht mehr unbedingt auf Christus bezoge
nen, sondern säkularen Sinn, befolgt zu werden. Mehr und mehr Menschen be
mühen sich in verschiedensten analytischen, meditativen und sonstigen
Gruppen- oder Einzelverfahren wie auch durch Lektüre aus dem enorm an
schwellenden Psycho-Büchermarkt um Selbstfindung, um Spontaneität und Kre
ativität, um den Zugang zur eigenen Tiefe. Man wird sich bewußt, daß man
Schaden an der eigenen Seele genommen hat, sei es im Sinn regelrechter psy
chischer Stömngen oder nur im Sinn einer fühlbaren Leere des Lebens. Die Auf
merksamkeit wendet sich nach innen, oft in entschiedener Abkehr von äußeren,
materiellen Werten. Das muß hier nicht weiter ausgeführt werden.
Die Frage »Was hülfe es dem Menschen, so er die ganze Welt gewönne
und nähme doch Schaden an seiner Seele?« klingt heute freilich anders als vor
zweitausend Jahren, denn sie spricht in eine völlig veränderte Situation hinein.
Damals besaß die Welt eine selbstverständliche Unerschütterlichkeit. Die Ab
wendung von der Welt und den äußeren Schätzen, die der Rost und die Motten
fressen, tat der Welt keinen Abbruch. Sie ruhte, so mußte es scheinen, für ewig
in sich selbst. Ob der Mensch sich ihr zuwandte und ihr gar verfiel oder ob er
sich von ihr abkehrte, ließ die Welt unberührt. Es machte nur für ihn persönlich
einen Unterschied. Damals war das Bibelwort offenbar eine gültige Antwort auf
die wirkliche Situation der Zeit, die Situation des spätantiken Menschen. Unser
heutiges Problem wird aber von der Abwägung, die in dem Bibelwort vorge
nommen wird, nicht erreicht. Wir können uns nicht mehr auf die Unvergänglich
keit der Welt verlassen. Wir müssen um ihren Bestand, den Bestand der Wälder,
Atmosphäre, Gewässer, Pflanzen- und Tierarten, ja, angesichts der modernen
Vernichtungswaffen, um den Bestand des ganzen Planeten Erde bangen. Wenn
man wirklich in unsere heutige Situation hineinsprechen wollte, müßte da die
Frage nicht eher genau umgekehrt lauten: »Was hülfe es dem Menschen, wenn
er seine Seele rettete, die Welt draußen aber kaputtginge?«? Und ferner, wenn
man bedenkt, daß in der Dritten Welt - und auch sie ist unsere Welt - Millionen
als Flüchtlinge oder Ärmste der Armen um das nackte Dasein einen nur zu oft
vergeblichen Kampf kämpfen, will dann nicht die Suche nach dem eigenen See
lenheil als der unverschämte Luxus einer Überflußgesellschaft erscheinen? Rette
ich wirklich meine Seele, wenn ich sie nur dadurch retten kann, daß ich mich in
mein eigenes Inneres versenke und damit automatisch wegsehe von der Not, die
draußen in der Welt herrscht? Eine Seele, die ihr Heil nur im eigenen Inneren
hätte, hätte sich als gefühl- und seelenlos entlarvt. Sie müßte vor Scham zerge
hen. Die Not der Welt draußen zeigt sich so zugleich als die ureigenste Not der
Seele.
So hatte auch Jung als Psychologe, der wie kein anderer den Weg nach in
nen wies, dennoch immer schon den Bezug des Menschen zur Welt im Auge.
Wenn er sagt: »Die Seele ist leider kein Hormon, sondern eine Welt von sozusa
gen kosmischen Ausmaßen«1, so könnte diese Welt noch als rein innerliche
Welt genommen werden. Aber schon das Wort »kosmisch« deutet darüber hin
aus. Und die Not der Psychologie, d.h. hier die Not, der sich zu stellen die Psy
chologie die Aufgabe hat, ist zwar die Neurose, die sich zunächst einmal als per
sönliche Stömngen im einzelnen Menschen bemerkbar macht. Aber auch diese
individuelle Neurose sieht Jung letztlich in einem welthaften Kontext. Sie ist
nicht nur drinnen, sondern auch draußen, etwa in der großen weltpolitischen Si
tuation. So stellt er sich und uns in seiner Schrift »Gegenwart und Zukunft« aus
dem Jahr 1957 die Frage: »Was will jener Riß, der durch den >eisemen Vor-
hang< verdeutlicht wird und der die Menschheit in zwei Hälften teilt, bedeu
ten?«12 Das politische Problem des Kalten Krieges erscheint als Not der abend
ländischen Seele. Und Jung weiß, daß die Neurose der einzelnen Patienten nicht
ausschließlich, aber doch in hohem Maße relativ zu unserer Zeit, zu dem moder
nen Weltzustand ist. Er schreibt so etwa3:
Unter den sogenannten neurotischen Patienten unserer Tage gibt es nicht wenige, die
in früheren Zeiten nicht neurotisch, d.h. entzweit mit sich selber, geworden wären.
Hätten sie in einer Zeit und in einem Milieu gelebt, wo der Mensch noch durch den
Mythus mit der Ahnenwelt und dadurch mit der erlebten und nicht bloß von außen
gesehenen Natur verbunden war, so wäre ihnen das Uneinswerden mit sich selber er
spart geblieben. Es handelt sich um Menschen, die den Verlust des Mythus nicht er
tragen und weder den W eg zu einer nur äußeren Welt, d.h. zum Weltbild der Natur
wissenschaft, finden, noch sich am intellektuellen Phantasiespiel mit Wörtern, das
mit Weisheit nicht das Geringste zu tun hat, sättigen können.
22 Emma Jung, Animus und Anima, Zürich und Stuttgart (Rascher) 1967, S. 36.
23 Th. Moore, »Animus mundi: or the Bull at the Center of the World«, Spring 1987, hier S. 126.
In diesem Kapitel geht es dämm, einen Einstieg in das Thema Animus zu
finden. Insofern als der Animus nicht einfach als Phänomen gegeben ist, so daß
man einfach auf ihn deuten und ihn betrachten, analysieren könnte, geht es bei
der Bemühung um die Gewinnung eines Standpunktes und die Findung eines
Anfangs in der Tat um so etwas wie eine Petitio principii. Man könnte auch sa
gen: es geht, wie ähnlich schon im vorangegangenen Kapitel über denjenigen
Horizont, in dem in diesem Buch die Animus-Thematik betrachtet werden soll,
um eine Offenlegung der Voraussetzungen, von denen die weitere Untersuchung
ausgehen soll und deren nähere Entfaltung sie sein soll.
Die Syzygie. Wir wissen schon, daß man, wenn man in der Psychologie
weiterkommen oder überhaupt einmal in sie hineinkommen will, sich in die
Grandmetapher der Psychologie, die »Seele«, hineinfallen lassen muß. Aber was
heißt das, wie »macht« man das? In erster Linie heißt es, die Unbekanntheit der
»Seele« einzusehen und festzuhalten. Wir haben keine Antwort auf die Frage,
was »Seele« ist. Wir beginnen mit dem nicht Wissen und gründen uns in ihm.
Die Antwort auf die Frage nach dem, was »Seele« ist, könnte nur die Psycholo
gie als ganze und das heißt als der wesenhaft unabgeschlossene, unabschließbare
Prozeß der psychologischen Erfahrung und »Forschung« sein. Wir setzen also
nicht eine wenn auch noch so allgemein gehaltene Definition an den Anfang.
Damit wäre schon ein fester Rahmen gesteckt und eine Voraus-setzung ge
macht, so daß das voraus Gesetzte den Ausgangspunkt und den stabilen Grand
für alles weitere Fragen und Forschen abgäbe. Statt uns »fallen« zu lassen, stün
den wir schon auf einem Boden und in einem abgesteckten Feld. Wir wären als
Ich hinzugetreten und hätten in einem eigenmächtigen Vorgriff der Unsicherheit
ein Ende gesetzt. Am Anfang wissen wir aber noch nichts von der Seele. Wir
wissen nicht, ob sie identisch mit oder etwas anderes ist als »Geist«, »Bewußt
sein«, »Natur«, »Welt«, »Leben«, »Person«, »Individuum« usw. Wir wissen
auch nichts über ihre etwaigen Teile, Komponenten, Aspekte, nichts von Ich,
Selbst, Schatten, Überich, von Komplexen und Trieben. »Seele« ist zunächst ein
bloßes Wort. Ein Wort, nichts weiter. Wir wissen nicht einmal, ob es auf Etwas
hinweist oder auf nichts.
Wir lassen uns in die Grandmetapher »Seele« fallen, wenn wir die »See
le« ein bloßes Wort sein lassen und darin ausharren. Soll dieses Wort eine be
stimmte Bedeutung erhalten, dann nicht durch unsere eigenmächtige Festlegung,
sondern dadurch, daß wir uns die Bedeutung(en) von dem Wort, von der Spra
che selbst geben lassen. Sprache heißt hier nicht schon positivierte Sprache im
Sinn der Sprachwissenschaft, insbesondere nicht »Wörterbuch«. Sprache meint
die geschichtliche Wirklichkeit des Sprechens. In der Geschichte des Sprechens
von der Seele hat sich »Seele« schon selber ausgelegt (oder begonnen sich aus-
zulegen, denn der Selbstauslegungsprozeß der »Seele« geht unabschließbar wei
ter).
Eine der frühesten Selbstauslegungen der »Seele« ist ihre Indifferenz von
Seele und Geist und von Leben und Tod. Seele ist Lebensprinzip, aber auch To
tenseele, Gespenst, Geist. Sie ist der den bloßen Körper belebende Atem, aber
auch der kalte Hauch, der aus der Unterwelt und dem Geisterreich in unser Da
sein hereinweht.1 Die Zeugung des Lebens geschieht für dieses Welterleben ge
rade aus der unterweltlichen psyche, aus dem Totenreich heraus.12 Im Lateini
schen hat die »Seele« dann zwei Aspekte ihrer selbst ausdrücklich auseinan
dergelegt als anima und animus, und Jung hat, auf diesen glücklichen Fund zu
rückgreifend, gezeigt, daß die Seele von Hause aus in zwiefacher Gestalt auf-
tritt: als Anima und als Animus. Diese lateinischen Wörter deuten zweierlei an:
die Identität beider (ausgedrückt im Wortstamm anim-) und die Differenz beider
(ausgedrückt in den Endungen -a [weibl.j vs. -us [männl.] und damit in ihrer Ge
gengeschlechtlichkeit). Unsere Grundmetapher »Seele« ist also nichts Eindeuti
ges, sondern in ihr selbst different.
Will man diesen Aspekt eigens betonen, kann man auch statt Seele »Sy-
zygie« sagen oder die Seele als Syzygie begreifen. Unter der Syzygie ist zu
nächst einmal ganz konkret das archetypische Bild des mannweiblichen Götter
paares zu verstehen, in dem wir mit Jung psychologisch eben Anima und Ani
mus oder auch, mehr philosophisch, Eros und Logos erkennen dürfen, wobei
freilich bei dem letzteren Paar die Gegengeschlechtlichkeit nicht mehr zum Aus
druck kommt. Das Bild des Götterpaares erstreckt sich laut Jung von den Dun
kelheiten primitiver Mythologie bis in die philosophische Spekulation des Gno
stizismus und der klassischen chinesischen Philosophie, wo es als das kosmogo-
nische Begriffspaar von yin und yang auftritt.3 Es erstreckt sich darüber hinaus
auch, was nicht mehr bei Jung steht, zu solchen philosophischen Begriffspaaren
wie Anschauung und Denken, Rezeptivität und Spontaneität bei Kant, und - wie
dürfte man das vergessen - zu dem psychoanalytischen Begriffspaar Eros und
Thanatos, Lebens- und Todestrieb bei Freud. Jung sagt, daß die Imagination
durch dieses Motiv gebunden ist, so daß sie an allen Orten und zu allen Zeiten in
hohem Maße veranlaßt ist, immer wieder dasselbe zu projizieren.4 Das Syzy-
gienmotiv drückt nach Jung aus, »daß mit einem männlichen zugleich immer
auch ein entsprechendes Weibliches gegeben sei. Die ungemeine Verbreitung
und Emotionalität des Motivs beweisen, daß es sich um eine fundamentale und
1 Vgl. dazu die verstreuten Äußerungen Jungs (z.B. GW 9/1 § 385ff.) und die Schriften von Edgar
Herzog (Tod und Seele), Onians (Origins of European Thought), James Hillman (The Dream and
the Underworld).
2 Griechen: Onians, a.a.O. S. 109 ff.; Taoismus: Eliade, Geschichte der religiösen Ideen Bd. II, S.
361 f.; Ägypten: Heino Gehrts, »Die Opfemng des zeugerisch verbundenen Paares«, S. 26.
3 C.G. Jung, GW 9/1 § 120.
4 Ebd.
dämm praktisch wichtige Tatsache handelt, unbekümmert dämm, ob der einzel
ne Psychotherapeut oder Psychologe versteht, wo und in welcher Weise dieser
seelische Faktor sein spezielles Arbeitsgebiet beeinflußt«.5 Im »Gebiet der Sy-
zygien, nämlich der Gegensatzpaamngen«, ist »das eine niemals vom anderen,
Entgegengesetzten, getrennt«.6
Zwei Dinge gilt es in unserem Zusammenhang noch einmal entschieden
hervorzuheben und festzuhalten. 1. Es handelt sich bei dem Syzygiemotiv nicht
um ein beliebiges archetypisches Motiv unter der Vielzahl der mythischen Bil
der, sondern um dasjenige archetypische Motiv, das für die Konstitution der
Psychologie selber entscheidend ist. Es bezeichnet die Perspektive oder Grund
metapher, die nicht nur, wie all die anderen archetypischen Bilder, ein Gegen
stand der Psychologie ist, sondern unter deren Ägide die Psychologie ihrerseits
steht. 2. Diese Gmndmetapher, die also sowohl ein Objekt als auch das leitende
»Subjekt« der Psychologie ist, die Seele, ist zweideutig, zwiefaltig, in sich diffe
rent. Sie erscheint in zwei distinkten, ja gegensätzlichen Gestalten, Anima und
Animus, Seele im engeren Sinn und Geist. Und streng genommen kann man die
Anima nicht losgelöst von ihrer Paarung mit ihrem eigenen Entgegengesetzten,
dem Animus, betrachten und verstehen und den Animus nicht getrennt von der
Anima. Sie involvieren jeweils ihren Gegensatz. Haben wir es mit der Anima zu
tun, dann ist unweigerlich »zugleich«, auch der Animus zur Stelle und umge
kehrt, selbst dann, wenn der einzelne Psychotherapeut davon nichts bemerkt,
wie wir von Jung gerade hörten.
Wenn die Syzygie die die Psychologie konstituierende Grundmetapher ist
und wenn Anima und Animus unweigerlich einander implizieren, kann die Psy
chologie der Syzygie nicht entgehen. In ihr, der Psychologie selbst (und nicht
nur draußen im Objekt: in der Seele des Menschen), werden immer Anima und
Animus wirksam sein. Die Frage, die mit Jung zu stellen ist, ist jedoch, ob die
Psychologie dies »bemerkt« oder ob ihr die Wirkung des je anderen nur de fac
to, aber unbemerkt widerfährt. Ist sie sich, mit Faust zu reden, »nur des einen
Triebs bewußt«, oder nimmt sie beide in ihre Hut? Anders gewendet: wird die
Psychologie aus der ausgehaltenen Gegensatzspannung von Anima und Animus
heraus vollzogen, so wie J. Hillman sagt: »Eben dies ist Psychologie, die wech
selseitige Durchdringung von Psyche und Logos im Rahmen der Syzygie«7? Es
läßt sich zeigen - wir werden in den nächsten Kapiteln darauf zurückkommen
- , daß bei der real existierenden Psychologie, so sehr sie sich auch in der Praxis
um die coniunctio oppositorum mühen mag und von der Syzygie als ihrem Ge
genstand handelt, ihr eigenes Tun einem Entzweitsein der Syzygie entspringt.
Die Psychologie hält sich in ihrem Vollzug nicht in dieser.
8 C.G. Jung, Unveröffentlicher Seminarbericht, Vol. 1, 1925. Zit. nach Erinnerungen, »Glossar«
s.v. Anima und Animus, S. 409.
9 Vgl. C.G. Jung, GW 9/1 § 27.
halten, von Bildern oder personifizierten Gestalten. Die Stimmung in ihrem prä
zisen, wenn auch schwer faßbaren Gefühlston ist die erste noch undifferenzierte
Ahnung von dem, was in ihr an bildhaften Qualitäten geborgen liegt.
Beim animushaften Meinen könnten wir nun unsererseits der Meinung
sein, daß es auch in ihm um Inhalte ginge. Aber der Ton liegt hier nicht auf dem
Gehalt der Meinung, sondern auf dem Meinungen-//aöen, das als animushaftes
gegenüber dem spezifischen Gehalt weitgehend gleichgültig ist. Es ist mehr oder
weniger Zufall, welche Meinung der Animusbesessene gerade vertritt. Es hätte
unter Umständen auch die entgegengesetzte Meinung sein können. Jung betont
beim Animusgebaren den Machtaspekt, also das »Pochen auf«, das Rechthaben
wollen, den dogmatischen Charakter der Meinung. In anderen Worten: es geht
um »das Prinzip«, genauer: um die Prinzipienhaftigkeit der jeweils behaupteten
Meinung. Der Animus als psychische Funktion verweist auf eine seelische Akti
vität, die sich des besonderen Gehalts nur bedient, um an ihm sein eigenes Tun,
das Behaupten und einen Standpunkt Beziehen, auszuüben. Im animushaften
Meinungenhaben sind die Inhalte dessen, was jeweils gemeint wird, nur als auf
gehobene Momente enthalten. Der Animus als psychische Funktion bewirkt so
die Aufhebung (im Hegelschen Sinn) der Bilder und ihrer unmittelbaren Quali
täten oder Gehalte. Wenn die Animusreaktion dann, über das erste bloße Mei
nungenhaben hinaus, voll entwickelt und differenziert ist, zeigt sie sich als Be
griff. Sie zeigt sich als der begriffene, d.h. prinzipiell (als generelles Prinzip) er
faßte Gehalt. Wir können demnach sagen: das Meinungenhaben ist die erste Un
mittelbarkeit des Begriffs, der Prinzipien - der Reflektiertheit der unmittelbar
gegebenen bildhaften Inhalte.
So stehen sich also mit Anima und Animus von hier aus gesehen das
Reich der Inhalte, Bilder, Gestalten einerseits und das des Reflektiertseins und
der Erfassung des Bildes im Begriff andererseits gegenüber. Die Anima verweist
uns auf die ganze Phänomenologie der psychischen oder archetypischen Wirk
lichkeit in ihrer Breite und Vielfalt, die Phänomenologie des Mythos oder des
Imaginalen. Sie ist die unerschöpfliche mythenschaffende Tätigkeit der Seele,
sie stellt plastische Gestalten vor uns hin, personifiziert, produziert Gehalte,
spinnt, dichtet, fabuliert und erzeugt so eine faszinierende Welt vor unsren inne
ren Augen. Und als die Zauberin, die sie ist, verleiht sie dem, was sie aus sich
herausspinnt, schlechterdings überzeugendes Sein, Subtantialität, Gegenständ
lichkeit, »Objektivität«, so daß sie, in dem Maße, wie sie die Bilder als Wirk
lichkeiten aus sich herausspinnt, sich oder das Bewußtsein gleichzeitig auch in
sie einspinnt. Sie glaubt an ihre Bilder. Sie ist die Funktion des Fasziniertwer
dens von ihnen, des für sie und von ihnen Eingenommenwerdens, ja möglicher
weise des ihnen Verfallens. Der Animus bezieht dieser substantiell erlebten
Welt gegenüber Stellung. Er geht mit dem bildhaft und substantiell vor uns Ste
henden um und verwandelt Substanz in Funktion oder Prinzip. Er entgegen-
ständlicht, abstrahiert, vergeistigt. Er nimmt dem Geschauten das schlechthinni-
ge Sein. Er ist die Funktion der alchemistischen putrefactio, destillatio, sublima-
tio, des psychoanalytischen Durcharbeitens, des analytischen Denkens, der kriti
schen Reflexion. Er ermöglicht das Durchschauen der animahaften Projektion.
Er ist die Auflösung der »Ontologie« in »Logik«, in geistige Bewegung. Er ist
nicht nur, wie die Anima auch, Funktion; er ist der Archetyp des Funktionalen,
der Funktionalität (im Unterschied zur Anima als Archetyp der Substantialität),
der Archetyp der Operationen und Akte, des Eingriffs. Er steht somit in der Sy-
zygie nicht einfach neben der Anima wie ein schlichtes Komplement oder Pen
dant, sondern gleichsam quer zu ihr als die Aufhebung der von der Anima pro
duzierten Welt und als die Negation der Anima selbst. Seine Funktion ist die Tö
tung der Unmittelbarkeit der Seele.
Animus und Anima sind veritable Gegensätze. Aber wie schon die Na
mensgleichheit zu erkennen gibt, ist die Negation durch den Animus die der
Anima eigene Aufhebung der Anima. Im Animus hat die Anima ihr eigenes An
deres. Die Aufhebung geschieht innerhalb der Syzygie, nicht von außen, als der
Anima völlig fremdes und willkürlich zugefügtes Geschehen.
Die Anima wird oft mit dem »Inneren« verbunden, weil sie mit den Bil
dern des kollektiven Unbewußten verbindet. Man könnte dann denken, daß die
Anima aus der äußeren Welt abziehe und in das Innere hineinziehe. Aber das
wäre ein völliges Mißverständnis. Der Anima liegt von Hause aus am Außen.
Sie setzt aus dem Inneren hinaus, projiziert in die und bevölkert die Welt. Aber
sie spinnt auch in das Hinausprojizierte ein, verlockt und verstrickt in dessen
Tiefe hinein, die archetypische, bildhafte, Sinnes-Tiefe ist. Das ist ihre Innerlich
keit, die dem modernen Gegensatz von Innenwelt und Außenwelt gegenüber in
different ist. Es ist bei diesem Nachaußenprojizieren also gleichviel, ob das Au
ßen ein »reales« oder ein »visionäres« ist. Letzteres ist nicht »in« uns, sondern
ebenfalls ein wirkliches Draußen. Der Schamane begab sich auf Seelenawrfahrt.
Mit Introversion hat die Anima nichts zu tun, ganz abgesehen davon, daß sie es
ist, die für das Erleben des Wirklichkeitscharakters der Realität zuständig ist (die
pathologischen Zustände der Depersonalisation und Derealisation sind Anima-
Störungen10).
Wenn schon, dann zielt der Animus auf das Innere, freilich nur wenn sei
ne Idee von der Anima gerade in einem äußerlichen Sinn aufgegriffen und sub-
stantialisiert wird. Von Hause aus dagegen bringt der Animus das kritisch-
reflektive Zurückschrecken von dem, was die Anima nach draußen projiziert
hat. Er bringt, was wir noch als (absolut negative) Er-innerung näher kennenler
nen werden. Aber so wenig das Außen der Anima identisch ist mit dem Außen
in dem Gegensatz Inneres - Außenwelt, so wenig das Zurückschrecken kraft des
Animus oder die Er-innerung mit dem Inneren in demselben Gegensatz.
Ich greife damit weit voraus, denn sowohl die Blaubart-Geschichte als
auch die zitierten Sätze von Frau von Franz werden uns noch näher beschäfti
gen. An dieser Stelle interessiert uns diese Thematik nur im Zusammenhang mit
dem Bemühen, einen Vorbegriff des Animus zu entwickeln. Blaubart ist sicher
die extremste Animus-Gestalt, die es gibt. Ich sehe in dieser Extremform nicht
das Extravagante und Exzentrische, das gerade femgehalten werden sollte, weil
es aus dem Rahmen fällt. Ich sehe in ihr vielmehr eine ganz zentrale Gestalt,
weil sie als Extrem den Animus in seiner letzten Konsequenz und in seinem äu
ßersten Begriff zeigt. Blaubart wirft noch einmal ein entscheidendes Licht auf
die Negativität des Animus: auf den Animus als Töter und damit zugleich auch
auf sein syzygisches Zusammengespanntsein mit der Anima. Wenn der Animus
sein Wesen darin hat, Töter zu sein, dann ist er nichts ohne sein Opfer. Er ist auf
dieses, d.h. auf die Anima angewiesen, und diese Angewiesenheit des einen auf
die andere ist das Joch, das beide aneinander bindet. Vor dem Animus, sagt von
Franz, kann man nur fliehen. Darin würde sich wieder die agierte Negativität
zeigen: in der Flucht schlägt sich das negative Wesen des Animus selber nieder.
Der Animus als Mörder und als »Leichenfresser« vernichtet nur. Er verbreitet
einen kalten Hauch um sich. Er verweist aus dem Leben und der »Biologie« hin
aus, ins ghostland, ins Unsinnliche: weg vom Empirischen und Anschaulichen
und hinaus aus Wahrnehmung und Vorstellung hin in die kalte Sphäre des rei
nen Denkens.
Einheit von Einheit und Differenz der Gegensätze. Die beiden Seiten
der Syzygie stellen kein einheitliches Paar dar. Um das syzygische Verhältnis
beider zu erkennen, gehe ich von Jungs bekanntem geschichtspsychologischem
Diktum aus: »Der Stufe von Animus-Anima entspricht der Polytheismus, dem
Selbst aber der Monotheismus«.13 Dieser Satz ist problematisch. Zwei Dinge
verlangen unsere Aufmerksamkeit. Erstens fällt an Jungs Satz auf, daß er Ani
mus und Anima als eine unkomplizierte Einheit nennt. Sie bilden hier ein Ge
spann ohne innere Spannung und Gegensätzlichkeit. Ich kann nicht nachvollzie-
12 Marie-Louise von Franz, An Introduction to the Psychology of Fairytales, Zürich (Spring Publ.)
1973, S. 125.
13 C.G. Jung, GW 9/II § 427.
hen, wieso bei der Stufe des Polytheismus der Animus im gleichen Atemzug
und mit der gleichen Gewichtung wie die Anima genannt werden dürfte. Gewiß,
wenn zwischen beiden eine Syzygie besteht, dann ist immer da, wo die eine ist,
irgendwie auch der andere. Aber eben nur irgendwie. Charakteristisch für die
Stufe des Polytheismus und manifest in ihr ist allein die Anima, wenigstens im
Vergleich zu späteren Stufen und von diesen her gesehen. Diese Stufe ist ja in
ausgezeichneter Weise die Stufe der mythenschaffenden Psyche, die Stufe der
Bilder und der mit ihnen einhergehenden logischen Unschuld, die eine Voraus
setzung des polytheistischen Erlebens sind. Logische Widersprüche oder Dis
krepanzen werden hier nicht zum Problem. Über denselben Gott oder Helden
können verschiedene Geschichten über dasselbe, etwa über seine Geburt und
Genealogie, erzählt werden, ohne daß dies als Widerspruch erlebt werden wür
de. Mit Recht, weil es eben nur, animahaft, Geschichten sind. Geschichten oder
Bilder ruhen in sich selbst. Verschiedene Versionen einer Geschichte können
sich gar nicht widersprechen, weil sie nicht miteinander konkurrieren. Jede ist
für sich, was sie ist. Der Animus als das Vermögen logischer Begriffe und des
Ordnens nach Prinzipien ist auf der Stufe des polytheistischen Mythos nicht
ganz abwesend, aber er ist nur latent, nur eingewickelt gegeben. Er schläft noch
gleichsam. Er kommt erst durch den Monotheismus zu sich selbst, durch die Set
zung und Festhaltung des Einen, dem die Vielheit subsumiert wird, wodurch
dann a) die Widersprüche als solche erlebt, aber auch b) durch logische Unter
ordnung und dergleichen entschärft bzw. vermieden werden können.
Ich sehe in der Tatsache, daß Jung Animus und Anima hier umstandslos
zusammennennt, eine Nichtbeachtung des Animus in seiner Eigenständigkeit.
Die Spannung der Syzygie ist nicht ausgehalten worden. Der Animus wird, sa
lopp ausgedrückt, der Anima untergebuttert. Dem entspricht dann auch, worauf
schon kurz hingewiesen wurde, daß die Syzygie als der Rahmen der Psychologie
nicht ausgehalten worden ist. Der Gegensatz von Anima und Animus ist ja von
Jung in der Hauptsache aus der Psychologie in die Biologie und ins Personalisti-
sche abgedrängt, nämlich auf den Gegensatz der Männer und Frauen reduziert
worden. Jetzt ist er nicht mehr als der Rahmen der Psychologie selbst im Be
wußtsein der Psychologie, als das Spannungsfeld, innerhalb von dem sich alles,
was Psychologie heißt, ereignet. Er gilt nur noch als ein Inhalt der Psychologie,
ein einzelnes Datum ihrer Erfahrung. Und Anima und Animus werden zu »ge
gengeschlechtlichen Persönlichkeitskomponenten«.14 Jung sagt so gerade auch
auf derselben Seite, auf der der Satz über Poly- und Monotheismus steht, aus
drücklich: »Ihr Gegensatz [der Gegensatz von Animus und Anima] ist derjenige
der Geschlechter«.15 Psychologisch müßte es demgegenüber heißen: Der biolo
gische Gegensatz der Geschlechter ist das vorzügliche mythische Bild, in dem
20 Dieses Verhältnis ist heute im Begriff, auch in das Bewußtsein zu dringen, nämlich kraft der
Chaosforschung, wo man z.B. auf die sogenannten »Fraktale« gestoßen ist, bei denen jedes Teil
element immer auch ein Bild des Ganzen ist.
nommen, wie dies da der Fall war, wo die Negativität des Animus gegen ihn
verwendet, d.h. ihm zum Vorwurf gemacht wurde.
Innerhalb der Syzygie gilt jedoch, was Hegel erkannt hat: »... nicht das
Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt,
sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält ist das Leben des Geistes. Er ge
winnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst fin
det. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen weg
sieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit
fertig, davon weg zu irgend etwas anderem übergehen; sondern er ist diese
Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt.«21
Syzygisch oder uroborisch betrachtet scheint es - nicht ausschließlich,
aber auch - zum Wesen der Seele zu gehören, sich selbst Gewalt anzutun, sich
zu verwunden, sich ihre eigene Unschuld zu rauben, ihre pieromatische Einhel
ligkeit mit sich zu zerstören, so freilich, daß diese Tötungsgewalt ihr nicht als
das absolut Fremde von außen, sondern von ihr selbst widerfährt und daß sie
durch das sich Zugefügte über sich hinausschreitet, wodurch sie dann gerade erst
zu ihrer höchsten Bestimmung gelangt.
Ich sprach von logischer Bewegung, nicht logischer Struktur. Die Gleich
zeitigkeit oder Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit ist also nicht ein stati
sches Nebeneinander, nicht die Einheit des Gattungsbegriffs in bezug auf die'
»unter« ihn »fallenden« Arten, sondern sie ist die Gleichzeitigkeit der Akte des
Trennens und Vereinigens. Die Uroboros-Schlange ist entsprechend die Bewe
gung des Zeugens und Gebärens, des Eindringens und Ausspeiens, des ur
sprünglichen Anfangens und des immer schon aus Bedingungen Hervorgegan
genseins und zugleich als Kreis das ewig sich drehende Rad. Und das, wovon
Demokritos sprach, ist das pulsierende Leben des in »träumender Unschuld«
(Tillich) in sich Rühens, sich selbst Bekriegens und über sich Herrschens, so je
doch, daß, weil dies nicht sauber getrennt nacheinander erfolgende Akte sind,
dieses Leben nicht natürliches Leben in oder an einem »Geist« oder »Seele« ge
nannten Seienden, sondern nur logisches Leben, logische Bewegung schlechthin
sein kann.
Die Syzygie als Selbstauslegung der Seele. Wir sind von Jungs Satz über
den Zusammenhang von Anima-Animus und Polytheismus einerseits und von
Selbst und Monotheismus andererseits ausgegangen und haben das erste Pro
blem, das für uns in der darin ausgesprochenen Sicht liegt, erörtert. Wir kom
men nun zu dem zweiten Problem. Es ergibt keinen Sinn, zwei geschichtliche
Stufen zu unterscheiden, wenn für jede der beiden ein anderes Unterscheidungs
kriterium oder ein anderer Gesichtspunkt gewählt wird. Man kann die Geschich
te unter dem Aspekt der Gottesbilder betrachten und anhand der Wandlungen
21 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke Bd. 3, Theorie Werkausgabe, Frankfurt
(Suhikamp) 1970, S. 36.
und Symbole dieser Bilder z.B. die Stufe des Polytheismus und die des Mono
theismus herauskristallisieren. Man kann die ganze Geschichte auch unter dem
Gesichtspunkt von Animus-Anima (also der Seele) betrachten und dann die
Wandlungen und Symbole von Animus-Anima herausarbeiten, um dementspre
chend geschichtliche Stufen anzusetzen. Man kann dieselbe Geschichte auch un
ter dem Blickwinkel des Selbst betrachten und entsprechend den Wandlungen
und Symbolen des Selbst unterschiedliche Stufen entdecken. Aber von der
Animus-Anima Perspektive zu der des Selbst zu springen und trotzdem eine
Stufenfolge zu behaupten, ist verfehlt (eine katäbasis eis ällo genos), weil Stu
fen nur anhand der Wandlungen eines sich durchhaltenden Selben zu erkennen
sind. Die so postulierten Stufen sind dann nur das hypostasierte Resultat des ei
genen Tuns, nämlich des Springens von einer zur anderen Perspektive.
Jungs Satz ist wieder ein kleiner Hinweis darauf, wie leicht es ist, aus der
Syzygie herauszuspringen und die Geschichte nicht durchgängig psychologisch,
als Syzygie-intemes Geschehen, zu begreifen. Anima und Selbst sind zwei völ
lig verschiedene und so unbezogen nebeneinanderstehende Archetypen oder
Perspektiven. Es gibt keine Begründung, warum der Weg von der Anima zum
Selbst fuhren soll. Das Postulat einer solchen Folge wäre reine Willkür oder,
was im Grunde dasselbe ist, bloße Empirie. Doch gibt es eine solche Empirie,
die diese Folge bestätigen würde, gar nicht bzw. höchstens für dasjenige Be
wußtsein, das eben bei seiner Betrachtung der Empirie seinerseits von der einen
zur anderen Perspektive springt.
Was für uns freilich noch schwerer wiegt, ist, daß mit dem Rekurs auf das
Selbst die Grundmetapher der Psychologie, die Seele, verlassen ist. Unsere Ein
sicht war es jedoch, daß wir nur im Horizont dieser Grundmetapher weiter
schreiten können. Es gilt, so sagten wir, sich rückhaltlos in diese Grundmetapher
und ihre Unbekanntheit hineinfallen zu lassen. Tun wir das, dann sind Begriffe
wie Ich, Selbst, Persönlichkeit, Mann, Frau, Mutter, Vater, Mutter-Kind-Dyade,
Libido als Grundbegriffe ausgeschlossen. Sie sind, selbst wenn, nein, gerade
wenn sie »empirische« Begriffe sind, sachfremde, von außen herangetragene
und insofern in einem gewissen Sinn innerhalb einer wirklichen Psychologie
ideologische Begriffe. Ganz anders ist es mit Anima und Animus. Sie treten von
Hause aus, ganz ohne unsere Zutat, als Selbstauslegung der Seele auf. Der Be
griff Seele hat sich selbst in der Geschichte seines Lebens in die Begriffe Anima
und Animus ausgelegt und auseinandergelegt. Er hat sie aus sich heraus als See-
/enbegriffe generiert. Mit ihnen geht man nicht aus dem Begriff Seele hinaus zu
etwas anderem über, man bleibt bei ihm und innerhalb seiner. Denn Anima und
Animus heißen beide, mit unterschiedlichen Akzentuierungen, Seele, und des
halb können, nein, müssen sie als Grundmetaphem der Psychologie dienen.
Damit ist natürlich nicht gesagt, daß jene hier abgewiesenen Begriffe
überhaupt keinen Platz in der Psychologie haben dürften. Gesagt ist nur, daß sie
nicht als Grundmetapher dienen können. Sie können immer nur als abgeleitete
Begriffe in das psychologische Denken Eingang finden, nur dann nämlich, wenn
sie aus dem Begriff der Seele (von der Seele her gesehen) generiert oder (von
uns aus gesehen) hergeleitet worden sind. »Empirie« genügt nicht. Man muß
zeigen können, ob, daß, wie und inwiefern von der »Seele« und aus der Syzygie
von Anima und Animus »Ich«, »Selbst«, »Libido«, »Mutter-Kind-Einheit«,
»Person«, »Triebwünsche« usw. tatsächlich gebildet werden oder nicht. Wo
nicht, haben sie in der Psychologie nichts zu suchen. Dann sind sie, gerade als
empirische, eingeschmuggelte »mythologisch« oder »metaphysisch« bleibende
Begriffe, so wie mutatis mutandis in der Physik der »Äther« oder die »Sphären
harmonie« es waren. (Daß z.B. »das Ich« in der Tat von der Seele als Syzygie
selbst generiert wird, werde ich später in diesem Buch zeigen.)
Es scheint außerordentlich schwer zu sein zu begreifen, daß psychologi
sche Begriffe nicht Seiendes benennen. Da ist nicht eine Anima, ein Animus, ein
Ich als Gegebenheiten, so wie Steine, Pflanzen, Tiere in der Natur und Herz,
Lunge, Leber im menschlichen Organismus sind. Herz, Lunge, Leber kann man
aus dem Körper herausschneiden und vorweisen. Diese Wörter haben ein gegen
ständliches Substrat. Psychologische Wirklichkeiten jedoch nicht. Sie gibt es
nicht. »Syzygie« ist nicht ein formallogischer Oberbegriff für die angeblich rea
len, empirischen Phänomene Anima und Animus. Unter ihr werden sie nicht
subsumiert. Vielmehr handelt es sich genau um das Umgekehrte: die Seele,
wenn sie sich selbst überlassen und nicht in ihrer imaginalen oder genauer logi
schen Selbstentfaltung gestört wird, legt sich selbst in den syzygischen Gegen
satz auseinander. Anima und Animus stammen nicht aus einer primären empiri
schen Erfahrung, sondern umgekehrt aus dem sich selbst auslegenden und aus-
-ein-anderlegenden Begriff Seele. Diese setzt Anima und Animus, Seele und
Geist innerhalb ihrer aus sich heraus und einander entgegen. Und sie ist nichts
anderes als eben dieses aus sich Heraussetzen und einander Entgegensetzen ihrer
inneren (nicht seienden, sondern in dem Heraustreten erst gesetzten) Gegensät
ze, mithin nichts anderes als diese (logische) Tätigkeit. Die Syzygie von Anima
und Animus ist die erste Selbstdifferenzierung von Seele. Bewußtsein, Herz,
Busen, Seele, Gemüt, engl, mind, Anima und Animus als psychologische Be
griffe sind - so banal und evident dies ist, scheint es doch immer wieder gesagt
werden zu müssen - keine realen Seienden, nicht Namen für Etwasse, die als
Substrat empirisch gegeben wären. Sie sind Phantasien der Seele über sich
selbst, genauer: Selbstbestimmungen der Seele, wobei wir, der Leser wird es ge
merkt haben, mit dem Ausdruck Seele seinerseits schon von einer Selbstbestim
mung ihrer Gebrauch machen.
Westliche Geschichte als Geschichte des Animus. In der westlichen Ge
schichte wird das erste manifeste Auftreten des Animus als des Anderen in der
Syzygie mit der ersten »Erfindung« und Entwicklung des philosophischen Den
kens in der Zeit der Vorsokratiker, der griechischen Sophisten, des Sokrates und
des Plato sichtbar, was sich dann verschärft fortsetzte besonders in der »zwei
ten« Aufklärung mit dem Beginn der Neuzeit.
Das gezielte Sich-Abstoßen von der Anima-Welt zeigt sich in der grie
chischen Aufklärung schon ganz äußerlich in der Kritik am Mythos, anhand von
der sich das Denken allmählich die formale Logik und die reinen Begriffe er
oberte. An Platos überhimmlischen Ideen ist noch deutlich zu sehen, daß sie auf
gehobene mythische Bilder sind. In ihnen wird das, was einst in Götterbildern
und -geschichten ausgedrückt war, nach wie vor aufbewahrt. Von ihnen aus
wird dann auch sichtbar, daß die Ideen oder Allgemeinbegriffe immer schon im
mythischen Bild geschlummert haben. Aufbewahrt in den Ideen sind die mythi
schen Bilder aber zweitens in nicht mehr mythischer Form, sondern in der Form
von Universalbegriffen, weil die Ideen eben auch die Aufhebung der mythischen
Bilder im Sinn ihrer Überwindung, d.h. Tötung, sind. Drittens sind die ehemali
gen Bilder mit den Ideen auch aufgehoben worden im Sinn von »auf eine höhere
Stufe emporgehoben«.
Mit der Rede von einer höheren Stufe setze ich keine Hierarchie der Wer
te an. Ich trage vielmehr nur der offensichtlichen Tatsache Rechnung, daß die
Platonische Idee, weil sie die Aufhebung des mythischen Bildes ist und dieses
als eines ihrer Momente in oder unter sich hat, von einer komplexeren, differen
zierteren logischen Struktur ist als das logisch einfach strukturierte mythische
Bild. Die höhere Stufe wird aber mit einer größeren Primitivität und Armut be
zahlt. Denn die Idee ist in ihrer abstrakten Blässe dem unerschöpflichen Bezie
hungsreichtum des Bildes weit unterlegen. Noch leerer wird es mit dem fort
schreitenden Prozeß der Abstraktion und Reduktion, wie wir heute sehen, wo
die ehemaligen platonischen Ideen auf bloße informationstheoretische Plus- und
Minuswerte reduziert sind. Der Gang nach oben zu höheren logischen Stufen ist
zugleich der Weg nach unten, in die größere Primitivität.
Die griechische Aufklärung und die ihr nachfolgende Philosophie erweist
sich als die Stufe des Animus, weil sie die erste Negation und Reflexion des
Mythos brachte. Das Ergebnis dieser Reflexion ist: Der Mythos ist bloßer
Schein. Es sind erfundene Geschichten. Während die Anima die ruchlose my
thenschaffende Tätigkeit der Seele selber ist, bringt der Animus die Reflexion
darauf, daß die Mythen von der Seele geschaffen wurden. Die Anima verleiht
ihren Gebilden gewissermaßen objektiven, metaphysischen Charakter. Sie stellt
die Gestalten vergegenständlicht, personifiziert aus der Seele heraus, so daß sie
wirklich wie Dinge an sich draußen zu stehen scheinen. (So sieht sie auch sich
selbst, die Anima, im biologischen Mann, und ihr Anderes, den Animus, in der
biologischen Frau.) Der Animus durchschaut dies und macht bewußt, daß das
draußen Gesehene aus ihr, der Seele selber, stammt und in die Psychologie
(nicht die empirischen Personen) gehört. Er ist der Archetyp des »Erinnems« im
Gegensatz zum »Agieren«. Das ist die wichtige psychologische Bedeutung der
Aufklärung und ihrer reduktiven Deutungen.
Das Denken im Abendland begann im tragischen Zeitalter der Griechen.
Das ist kein Zufall. Das tragische Lebensgefühl, das der psychologische Ur
sprung der Tragödie ist, entspringt dem und bezeugt den Verlust der unhinter-
gehbaren Einbettung in der pieromatischen Welt des Mythos und des Rituals.
Das philosophische Denken bewirkt die Vertreibung aus dem Pieroma ebenso,
wie es das Vertriebensein und Draußenstehen voraussetzt, um überhaupt mög
lich zu sein. Es hebt an mit dem thaumäzein (sich wundem), als dem Zeichen
des Draußenstehens, und damit mit dem Fragen, Infragestellen. Die Urerfahrung
in der schamanischen wie rituellen Kultur war weder Frage, noch Antwort auf
eine Frage (z.B. auf eine angebliche »Frage nach dem Sinn«). Sie war fragloses
Wort (»mythos«), fraglose Wahrheit, schlechthin erfahrener Sinn. Weil das
Menschsein im Pieroma inständig war, mußte und konnte nicht nach einem Sinn
gefragt oder nach ihm gesucht werden, und weil man im Wunder lebte, konnte
es auch das Sich-Wundem nicht geben. In der Urerfahrung atmete man Sinn ein,
wie wir die Luft einatmen.
Die Grundfrage der griechischen Philosophie, die Frage nach dem Sein,
die sofort auch den Begriff des Nichts mit sich bringt, ist nichts anderes als das
aufgehobene Pieroma selbst (und zugleich die fortgesetzte Aufhebung seiner).
Es ist dasselbe Pleroma, in dem der Mensch der mythologisch-ritualistischen
Zeit eingebettet war, das er nun aber, im tragischen Zeitalter, nur noch von au
ßen sieht, worin eben das Tragische dieses Zeitalters, aber auch die philosophi
sche Chance besteht. Im Sein ist das Pleroma ebenso bewahrt wie negiert. Und
eben deswegen gibt es jetzt den Gegensatz von Sein und Nichts. In der Spaltung
beider voneinander drückt sich, psychologisch gesehen, noch einmal eigens das
Abgespaltensein des philosophisch fragenden Menschen von dem Pleroma der
Urerfahrung aus (das ebenso beides, seiend und nichtseiend, wie keines von bei
den war). In der Einheit der philosophischen Begriffe »das Sein« und »das
Nichts« verbirgt sich die ganze Welterfahrung der schamanistisch-rituellen Kul
turen. Sie ist die reflektierte und durch die Reflexion zur Abbreviatur kollabierte
vorangegangene ganze Kulturstufe, die jetzt nicht mehr das Element war, in dem
sich das Leben abspielte, sondern der Gegenstand oder das Thema des philoso
phischen Inderweltseins ist. Wir könnten auch sagen: die Animawelt ist als gan
ze nur noch Moment der Animus-Stufe.
(Anmerkungsweise sei bemerkt, daß sich von hier aus vermuten läßt, daß
sich Heideggers »Schritt zurück« zur Frage nach dem Seyn selbst als zu kurz er
weist. Er meinte wohl, daß mit dem Seyn auch der Grund des Mythos und der
Götter benannt sei. Aber »das Seyn« ist gerade schon und nur die zugeschlagene
Tür zum Mythos und zu den Göttern. Das Seyn ist schon das Schwarze Loch, in
dem die ganze Farbigkeit der Welt und polytheistische Fülle der Wirklichkeit
verschluckt ist. - Mutatis mutandis dürfte dies für den Begriff des »absoluten
Nichts« der fernöstlichen Philosophie [z.B. Keiji Nishitani] gelten. Beidesmal
kommt man nur bis an die Grenze der ersten Reflexion, aber nicht über diese
Grenze hinaus, nicht zu der Wirklichkeit der Welt, die im Seyn selbst oder im
absoluten Nichts immer schon verschwunden ist und nur als verschwundene
noch darin bewahrt wird.)
Neben der Entwicklung der offiziellen Philosophie gibt es noch einen an
deren Strang der abendländischen Geschichte als Geschichte des Animus, der
von nahöstlichen, iranischen Anstößen ausgehend über hellenistische Mysterien
kulte, den spätantiken Synkretismus, gnostische Systeme, die mittelalterliche
Alchemie bis zur modernen Psychologie des Unbewußten verläuft. Dabei geht
es um ein Welterleben, das geprägt ist von der Idee eines seit der Schöpfung in
der Physis gefangenen »unteren« Geistes, verbildlicht als der kugelförmige,
zwiegeschlechtige in der Kreatur versenkte Urmensch (Anthropos), der aus der
Physis erlöst werden muß. In dem Auftauchen der Idee von der Gefangenschaft
des Geistes in der Natur manifestiert sich das Hereinbrechen des Animus in die
Welt des mythischen Erlebens. Für letzteres war die Wirklichkeit immer ganz
stofflich-konkretistisch und ganz geistig-symbolisch in einem, Gott-Natur, um
Goethes Chiffre zu benutzen. In diesem Rahmen hätte nie von einer Gefangen
schaft des Geistes gesprochen werden können. Es bedarf dort keiner Erlösung
des Geistes aus der Natur, weil er immer schon in der Natur »erlöst« ist. Wenn
auf einmal mit einer kühnen, »willkürlichen« Setzung das, was ehedem die
Geistigkeit und Göttlichkeit der natürlichen Wirklichkeit war, als die Gefangen
schaft eines unteren (dem oberen Geist des Schöpfers gegenüberstehenden)
Geistes behauptet wird, so bedeutet dies, daß ab damals das Menschentum vom
Animus in Anspruch genommen worden ist, und zwar für sein Projekt, die ani
mahafte (mythische) Einheit von Natur und Geist radikal zu zerbrechen und den
Geist für sich zu setzen (herauszuisolieren) - um das Welterleben im ganzen auf
eine geistige Stufe zu haben.
Damit der Animus eigens zum Zuge kommen konnte, mußte er sich radi
kal von dem Reich der Anima und damit von dieser abstoßen. Um dies zu ver
mögen, mußte er die Syzygie gerade zerreißen. Er mußte reiner Animus sein
wollen, wie der Animus ja überhaupt der Trieb zur Reinheit unter der Führung
des Identitätsprinzips ist, der Trieb zur sauberen Trennung. Aber dieses Zerrei
ßen der Syzygie vollzog sich immer noch innerhalb der Syzygie, ja als das ani
musgemäße Walten der Syzygie. Unter der Dominante des Animus zeigt sich die
Paarheit der Syzygie eben nicht mehr als gleichrangiges Nebeneinander, sondern
als Bezogenheit in der Weise des Sich-Abstoßens-von, als Widersachertum. Der
Animus oder Logos hat sich so nicht tatsächlich von der Anima abgespalten, er
benutzt das Animareich nur um seiner Selbstermächtigung willen als Absprung
basis. Er hat die Syzygie nur so zerrissen, daß er sein Bewußtsein von seiner Zu
sammengehörigkeit mit der Anima und dem Mythos abgeschnitten hat. Um sich
recht eigentlich von dem Mythos abzustoßen, mußte er diesen verdammen. Der
Mythos gilt nicht nur als Schein, sondern als bloßer Schein, Lügenmärchen,
Aberglauben, dem die nunmehr »eigentliche« Wahrheit, die des Animus, gegen
übersteht.
Weil der Animus nur in der Syzygie die Syzygie gespalten und sich von
der Anima abgeschnitten hat, ist die Anima jetzt keineswegs verschwunden,
sondern das Denken ist ihrer nur unbewußt geworden und ihr eben dadurch ge
nau umgekehrt richtiggehend verfallen. Die Verfallenheit der Animusstufe an
die Anima zeigt sich darin, daß der Animus sein eigenes reflektierendes Tun
mythologisiert üild vergegenständlicht. Er macht eine Metaphysik daraus. Er
glaubt an die Ideen als an die eigentliche und höchste Wirklichkeit, er glaubt an
die formale Logik und 8n die Zahlen und Gesetze der Mathematik als an ewige,
gleichsäffi göttliche Ideen, er hypostasiert (d.h. »personifiziert« gleichsam) sein
eigenes Begreifen des Mythos zu metaphysischen Wesenheiten. Sein eigener
neuer Gott wird zum Höchsten Seienden (höchsten Wesen) verdinglicht. Auch
seine herabsetzenden Nichts-als-Erklärungen des Mythos ontologisiert er. So
sagt er etwa mit Euhemeros, die mythischen Götter seien bloß menschliche
Heroen gewesen, die von den Nachkommen in den Himmel gehoben worden
seien. In all dem ist eine Animawirkung innerhalb des Animus zu sehen.
Der Animus ist, eben weil er rein sein wollte (und wollen mußte), nicht
voll zu sich selbst gekommen. Als rein sein Wollender verfällt er in und mit sei
ner rein logischen Tätigkeit der mythenbildenden Anima. Er könnte offenbar nur
dann wahrhafter, »reiner« Animus sein, wenn er nicht rein von seinem Anderen
bleiben wollte, sondern sich des Zusammengespanntseins mit der Anima gerade
bewußt bliebe. Das Denken wäre nur dann frei von der personifizierenden und
ontologisierenden Anima, wenn es sich bewußt in der Gebundenheit an die Ani
ma hielte.
Kants kritische Philosophie bedeutet in der abendländischen Seelenge
schichte das Ereignis der Selbstreflexion des Logos. Kant, wie vor allem Bruno
Liebmcks22 gezeigt hat, macht einen ersten großen Schritt in Richtung auf das
Durchschauen des Durchschauens und entdeckt dabei das Geheimnis der ersten
(das Erwachen des Animus markierenden) Reflexion, welche der Abstoß vom
Mythos war. Kant beginnt zu verstehen (so könnte man seine Leistung in unsere
Sprache und für unseren Zusammenhang einmal übersetzen), daß die Ideen Pla-
tos und der Metaphysik nicht Wirklichkeiten bezeichnen, sondern von dem
menschlichen Logos nur erstellt worden sind, um einem ganz bestimmten
Zweck zu dienen, dem nämlich, eine formallogisch widerspmchsfreie, konsi
stente Erfahrung zu garantieren. Diese Erfahrung bezieht sich nach Kant dann
allerdings auch nur auf die Erscheinung, also eine zum Zwecke der Wider-
spruchslosigkeit und Behandelbarkeit eigens zubereitete, immer 'schon konstru
ierte (positivierte) Welt, nicht auf die wirkliche Welt, das Ding an sich.
22 Bruno Liebmcks, Sprache und Bewußtsein, 7 in 9 Bänden, Frankfurt, jetzt Bern, 1964-79.
Kant zeigte damit, was der Preis war, den wir für die formallogische Ein
helligkeit bezahlen. Der Preis für die Sicherheit der wissenschaftlich erfahrenen
Welt ist die Unwirklichkeit dieser Welt, die Unwirklichkeit der Welt also, in der
wir im Zeitalter der Wissenschaftlichkeit alle leben. Wir könnten hier sagen: es
beginnt dem Bewußtsein mit Kant zu dämmern, daß die Kritik, die vom Animus
aus an der Animawelt des Mythos als eines bloßen Scheins und eines Produktes
der Seele geübt wurde, ebenso auf den Animus seinerseits, d.h. auf die angeblich
wahre Welt, die aus der ersten Animusreflexion hervorging, zutrifft. Auch sie ist
nicht wirkliche Erkenntnis, sondern von der Seele, von Kants transzendentalem
Bewußtsein selbst erzeugt und dann als so erzeugte vergegenständlicht, also
gleichsam animahaft personifiziert, so freilich, daß das Erzeugen vergessen
bleibt. Die formale Logik hat ihre Götter ebensogut wie der Mythos und ist so
ihrerseits mythisch, nur daß der Mythos, der sie ist, in abstrakt-begrifflichem
Gewand vorgetragen wird.
Kant beginnt also damit, uns die Chance zu geben, die Animaverfallenheit
des Logos selber zu durchschauen. Mit Hegel tritt dies wirklich und ausdrück
lich ins Bewußtsein, auch wenn Hegel das, was er zu sagen hatte, natürlich nicht
mit den Jungschen Begriffen Animus und Anima ausdrückte. Hegel klärt gewis
sermaßen die Aufklärung (oder den Animus) in einer zweiten Aufklärung über
sich auf. Er durchschaut vollends die Gesetztheit dessen, was er »Wesen« (2.
Teil der Wissenschaft der Logik) nennt, also der ganzen formalen Logik und der
abstrakten Allgemeinbegriffe. Sie sind, modern gesagt, Konstrukte, die nicht der
Erkenntnis der Wahrheit dienen, sondern erfunden sind zu dem Zweck, die Welt
technisch-praktisch berechenbar und behandelbar zu machen. Weil die Allge
meinbegriffe im Sinn der Tradition gar nicht wirklich »begreifen«, nicht die
wirkliche Welt erreichen, entzieht Hegels Sprache ihnen auch den Ehrennamen
Begriff. Der wirkliche Begriff entsteht nach Hegel erst durch das Zugrundege
hen des formallogischen, reflexionsphilosophischen Begriffs an seinen eigenen
inneren Widersprüchen. Der zu sich selbst gekommene Animus ist erst der, der
sich seiner eigenen Animaverhaftung und Mythenbildung bewußt geworden ist
und damit die Syzygie wieder anerkennt.23
Als Gegenbewegung gegen die abstrakte Welt des Logos unter der Ägide
des Animus entsteht die Romantik. Von ihr her führt ein teils direkter, teils un
tergründiger Weg zur modernen Psychologie des Unbewußten. Diese will uns
des anderen Pols der Syzygie, der Anima, wieder bewußt machen. Insbesondere
Jungs Psychologie darf insgesamt als ausdrückliche Wiederentdeckung der Ani
ma gelten. Damit soll im Unterschied zur romantischen Position nicht eine ein
fache Repristinierung versucht werden. Es ist kein Rückfall in die Welt vor der
ersten Reflexion. Die moderne Psychologie steht selbst dort, wo sie nicht sehr
23 Mein Hegel-Verständnis, das für dieses ganze Buch tragend ist, verdanke ich zum großen Teil
dem genannten Weik von Bruno Liebrucks.
wissenschaftlich ist, voll auf dem Boden der modernen Wissenschaftlichkeit und
damit auf dem vom Animus eroberten Terrain. Man könnte denken, daß damit
die Syzygie als Syzygie voll ins Bewußtsein getreten und Wirklichkeit gewor
den wäre.
Aber ich glaube, daß dem nicht so ist. Die Psychologie, auch die von Jung
inaugurierte, hält sich nicht in der Syzygie und ist nicht wahrhaft als lebendige
Gespanntheit der Gegensätze.
Hindernisse. Oder: Von der Psychologie, die außer sich ist
Die Frage nach dem Animus kann nur innerhalb einer Psychologie ver
nünftig gestellt und beantwortet werden, die den Animus in ihren eigenen An
satz einbezieht, d.h. ihn nicht nur zu ihrem Gegenstand macht, sondern sich in
ihrem Vorgehen auch selber von ihm leiten läßt. Eine Psychologie jedoch, die
den Animus in ihren Ansatz einbezieht, muß sich auf der Höhe der Syzygie be
wegen. Denn der Animus ist nur innerhalb der Syzygie und als diese. Und er er
füllt sich geradezu in der Syzygie, in der Syzygiestufe, und nicht, wenn er für
sich genommen wird, weil er dann der Anima innerhalb der Syzygie verfällt. Er
ist nicht als isoliertes Phänomen, außerhalb seiner Bezogenheit auf und seiner
Verwicklung in seinen Gegensatz, zu fassen. Aber die Syzygie bringt in arge
Verlegenheit, weil sie uroborisch-widersprüchlich ist. Sie stört die Einhelligkeit
des Bewußtseins und damit ein Grundbedürfnis. Es gibt drei Haupthindernisse,
die einer Betrachtung des Animus aus der Syzygie heraus im Wege stehen. Statt
Hindernisse könnte man vielleicht auch Widerstände oder Abwehrformen (im
psychoanalytischen Sinn) sagen. Erstens kann die Syzygie dadurch vermieden
werden, daß man das in ihr Zusammengespannte durch Trennungen fein säuber
lich auseinanderhält. Zweitens kann der sich dem Animus verdankende Charak
ter der Syzygie als logische Bewegung und Negativität durch das Festmachen
der Seele an der Positivität eines soliden Substrats abgewehrt werden. Auch hier
wird die Einhelligkeit des Bewußtseins gerettet. Denn indem man die Gegensät
ze als bloße Erscheinungsformen an einer ihrerseits außerhalb der Syzygie ste
henden, ja sie eben nur an oder in ihr habenden Substanz festmacht, steht die
gru/wflegende Eindeutigkeit nicht in Frage. Drittens kann sich der subjektive
Wille oder der Eigensinn der Syzygie gegenüber behaupten, indem er mit exter
nen Interessen an die Seele herantritt. Hier läßt sich das Bewußtsein schon gar
nicht mehr auf die Syzygie ein. Es steht völlig draußen. Inwiefern und wie ge
nau auch die beiden ersten Abwehrformen eine Psychologie begründen, die au
ßer sich ist, wird zu zeigen sein.
Trennungen.
Jung hat uns überhaupt erst auf Anima und Animus und ihr syzygisches
Zusammengespanntsein aufmerksam gemacht. Wie kein anderer hat er sich dar
um bemüht, die Gegensätze sowohl auseinanderzuhalten als auch zu vereinigen.
Und doch gibt es Beispiele dafür, daß er den von der Syzygie erforderten logi
schen Spannungsbogen: Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit der Gegen
sätze, nicht immer durchgehalten hat. Dies ist sicher nicht ein Fehler, der ihm
persönlich anzulasten wäre; es ist vielmehr Ausdruck dafür, daß Jung trotz dem
erstaunlichen Maß, in dem er über die Beschränkungen, die das allgemeine Den-
ken des späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allem darin sich
ereignenden Denken auferlegte, hinausgeschritten ist, diesem doch auch einen
Tribut entrichten mußte.
Ich habe schon davon gesprochen, daß Jung bei der Ansetzung von ge
schichtlichen Stufen von der Animus-Anima-Perspektive zu der des Selbst
springt. Dasselbe geschieht auch bei ihm im Hinblick auf die große praktische
Aufgabe der Psychologie, der Heilung des »Risses« »zwischen dem Bewußtsein
[hier in etwa = Animus] und dem Unbewußten [hier in etwa = Anima]«. Sie soll
nach seiner Auffassung durch »Ganzheitssymbole« [also Selbstsymbole], die
das Unbewußte kompensatorisch herstellt, geschehen.1 Jung meint also, daß der
Riß durch die Ganzheit, der Gegensatz von Anima und Animus durch das Selbst
geheilt werden müsse. Das ist eine allopathische Medizin, der Sprung aus der
Syzygie zum Selbst. Homöopathisch müßten similia similibus, Gleiches durch
Gleiches, geheilt werden. Der Riß darf nicht bekämpft, abgewehrt, durch das
Ganz Andere der Ganzheit ersetzt werden. Es bedarf gegen die Gegensätze von
Animus und Anima nicht des Gegengiftes des Selbst. Die Heilung bestünde in
Wahrheit darin, daß der Riß sein darf und in unser Bewußtsein voll hereingelas
sen, von ihm durchlitten würde, so daß wir uns in ihm hielten und er uns durch
waltete: weil nämlich der Riß, die Entzweiung, nichts anderes als die freilich
noch negativ erlebte, abgewehrte Syzygie ist. Der Riß hat die Ganzheit nicht au
ßer sich in einem anderen Archetyp, dem Selbst, sondern er ist als Syzygie
selbst die Ganzheit, so wie die Ganzheit nur als die aktiv ertragene Zerrissenheit
ist. Es genügt nicht, von der Vereinigung der Gegensätze zu sprechen. Syzygie
ist wie gesagt die Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit der Gegensätze.
Jung selber hat das im Grunde auch schon so gesehen, wenn er z.B. sagte:
»Nicht, wie man eine Neurose los wird, hat der Kranke zu lernen, sondern wie
man sie trägt.« Und: »Eine Neurose ist dann wirklich >erledigt<, wenn sie das
falsch eingestellte Ich erledigt hat. Nicht sie wird geheilt, sondern sie heilt
uns.«12 Wir könnten auch sagen: Sie ist schon die Heilung, die aber dadurch nicht
als solche erfahren wird, daß sie abgewehrt wird. Denn die Neurose als Dissozi
ation ist in ihrem Wesen, so verkehrt ist die Welt der Seele, nichts anderes als
gerade die Abwehr ihrer selbst - und so auch die Abwehr ihrer Heilung. (Die
Abwehr von etwas schlechterdings anderem, irgendeinem »Feind«, wäre nicht
neurotisch. Sie wäre psychologisch unproblematische Feindschaft.)
Ebenfalls habe ich bereits darauf hingewiesen, daß Jung dazu neigte, den
psychologischen Gegensatz von Anima und Animus in den biologischen Gegen
satz der Männer und Frauen abzudrängen. Wenn der syzygische Widerspruch
von Anima und Animus aus der Psychologie hinaus in die biologischen Fakten
Mann und Frau projiziert sind, dann hat sich die Psychologie erfolgreich seiner
1 GW 9HI § 428
2 C.G. Jung, GW 10 § 360f. (Jung hat das ganze erste Zitat im Druck hervorgehoben.).
entledigt. Die Syzygie kann jetzt höchstens noch ein Gegenstand der (dann mehr
oder weniger positivistischen, personalistischen) psychologischen Forschung
sein und nicht mehr ein Gegensatz, der die Psychologie selbst durchherrscht. Er
ist jetzt dort draußen, und die Psychologie scheint frei von ihm. Die Syzygie
wird vergegenständlicht, ontologisiert, aber nicht im eigenen Bewußtsein oder
als das eigene Bewußtsein durchlitten. Dies ist ein Zeichen dafür, daß die Psy
chologie hier einer Animaverführung verfallen ist.
Aus der Syzygie wird ein moderner Mythos im pejorativen Sinn des
Wortes gemacht, wenn sie in das draußen außerhalb der Psychologie, außerhalb
des eigenen hier und jetzt denkenden Bewußtseins Gelegene projiziert wird, in
die Biologie oder die realen Männer und Frauen, wie sie dem Allerweltsbewußt-
sein gegeben sind. Warum wird sie ein bloßer Mythos? Weil sie dann an etwas
glaubt und etwas lehrt, was sie nur von außen als etwas empirisch Gegebenes
auf Treu und Glauben hinnehmen kann, wofür sie aber nicht selbst zuständig ist.
Wir kommen auf diese Problematik im nächsten Abschnitt über die Positivität
oder die »anthropological fallacy« noch ausführlich zu sprechen.
Durch die Hintertür macht sich die aus der Psychologie abgedrängte Paar-
heit freilich doch wieder bemerkbar, indem jetzt an die Stelle der eigentlichen
(psychologischen) Syzygie als unerkannte neue »Syzygie« die Beziehungen
zwischen der männlichen oder weiblichen Ichpersönlichkeit und ihrem gegenge
schlechtlichen Seelenbild tritt (der Mann und seine Anima, die Frau und ihr Ani
mus). Diese neue »Syzygie« ist freilich keine psychologische mehr, insofern ihr
eines Glied die empirische (d.h. außerpsychologischel) Ichpersönlichkeit ist.
Denn die Ichpersönlichkeit ist nach Jung der »empirische, gewöhnliche, bisheri
ge Mensch«,3 sie ist der Mensch, wie er sich alltäglicherweise, als »natürliches
Bewußtsein«, also vor der Berührung durch »Psychologie« versteht. (Jung sagt
sowohl »das Ich, d.h. der empirische Mensch« als auch »der Mensch, d.h. sein
Ich«.4)
Die Syzygie wird dabei zwar anerkannt, aber ihre Glieder sind damit
komplementär auf zwei Verschiedene, faktisch Getrennte verteilt. Der Ge
schlechtergegensatz hält beide Seiten sicher auseinander. Sie können einander
nicht mehr begegnen, weil sie sich in verschiedenen Leibern aufhalten. Das Dra
ma, das zwischen Anima und Animus als Paar spielt, kann nicht mehr stattfin
den, da die Anima in dem »Theater« auftritt, das »Mann« heißt, und der Animus
in einem gänzlich anderen »Theater«, das »Frau« heißt. Aus der einen innersee
lischen Paarbeziehung sind zwei ganz andersartige Paarbeziehungen geworden,
weil beide Partner aus der Syzygie ausgebrochen sind und jetzt fremdgehen: Der
Mann muß seine Anima entwickeln, die Frau ihren Animus. Aber damit gehen
sie nicht nur fremd, sondern die jeweilige Beziehung ist dazu auch ein für alle-
6 Erinnerungen S. 227.
7 Erinnerungen S. 229.
8 Erinnerungen S. 241.
9 Erinnerungen S. 150.
Impulse aus dem Unbewußten kompensiert. Und in der Kompensation sieht
Jung etwas Heilendes. Aber, so frage ich, was nützt der Ausgleich der Einseitig
keit, wo doch das Kompensierende die Einseitigkeit dessen, was es ausgleicht,
gerade bestätigt? In dem Denken hinter diesem Begriff steht das Modell der
Waage. Kompensation besagt: Je mehr in der einen Waagschale ist, desto mehr
soll auch in der anderen sein. Die Gegensätze wiegen einander auf, aber eben
dadurch bleiben sie in ihrer jeweiligen Waagschale für sich. Die Theorie der
Kompensation läßt keinen Raum für die gegenseitige Durchdringung, für die le
bendige Dialektik der Gegensätze, kraft welcher Dialektik sich der eine von dem
anderen abstoßen würde, und zwar so, daß er diesen gleichzeitig überwinden
und mit sich führen würde.
Wir brauchen keine Kompensation der Aufklärung durch Romantik oder
neuplatonische Renaissance und keine Kompensation der Romantik durch die
Aufklärung, weil die Kompensation das, was sie kompensiert, unverwandelt lie
genläßt und ihm nur etwas anderes äußerlich entgegensetzt. Wir brauchen keine
Kompensation des Monotheismus des Bewußtseins durch einen Polytheismus
der Anima. Es genügt nicht in unserer rationalistischen, verwissenschaftlichten
Welt sich umstandslos den Träumen zuzuwenden, »einfach so« den Weg nach
innen zu gehen. Uns Modernen hilft nicht weiter, zu versuchen, uns unmittelbar
auf den Individuationsweg zu begeben und »Urerfahrang zu machen«, wie Jung
sagte.10 Als Kompensation des rationalistischen Geistes der Aufklärung bedeutet
die Romantik mitsamt der aus ihr hervorgegangenen Tiefenpsychologie den
kurzerhand vollzogenen Ausstieg aus unserer wirklichen Tradition durch den
Versuch, unmittelbar an einer alternativen Tradition anzuknüpfen, die jedoch
nicht (mehr) die unsere ist. Die Tiefenpsychologie geht nicht auf dem durch die
Stichworte Aufklärung, Kant, Hegel bezeichneten Weg weiter, sie stellt sich als
Kind der Romantik und/oder des wissenschaftlichen 19. Jahrhunderts einfach
nur daneben. Mit dem Jahr 1831, dem Jahr von Hegels Tod, ist unsere wirkliche
Geschichte, die Geschichte der abendländischen Seele, in einem tieferen Sinn
abgerissen, eingefroren worden. Was danach kommt, ist letztendlich geschichts
los. Es hat die Tradition und das in ihr erreichte seelische Problemniveau nicht
aufgenommen und lebendig fortgeführt. Auch Jungs Rückgriff auf die unter
gründigen neuplatonischen Traditionen wie die der Alchemie verknüpft uns
nicht mit unserer wirklichen Geschichte; er dient auch nur der allopathischen
Kompensation durch alternative Traditionen, die der offiziellen und wirklichen
Tradition entgegengesetzt werden. Der Rückgriff auf die Alchemie erreicht un
sere Zeit und die Tiefe des Problems nicht.
Eine weitere Trennung im Denken Jungs, mit der die Syzygie abgewehrt
wurde, ist die von Erfahrung und Wissenschaft von dieser Erfahrung. Auf der
Seite der Erfahrung ließ Jung sich voll und ganz auf die seelische Wirklichkeit,
die Anima ein. Der Bilderwelt der Seele, der Mythologie, den phantastischen
Vorstellungen der Alchemie ließ Jung freien Raum in seinem Denken. Auf der
Seite der Wissenschaft beharrte er auf seiner Wissenschaftlichkeit im Sinne der
empirischen Forschung. Reine Anima hier, reiner Animus dort, in völliger Dis
junktion, wenigstens was den ausdrücklichen Ansatz anlangt. Denn Jung war
viel zu sehr wirklicher Psychologe, als daß sich die Syzygie nicht auch entgegen
der aus dieser logischen Bewußtseinsstufe stammenden Trennungen in seiner
Arbeit, seinem Werk, ja sogar in seinem Stil fruchtbar durchgesetzt hätte. In sei
nem expliziten Ansatz hält Jung aber an der Trennung fest. Ja, die Hartnäckig
keit, mit der Jung entgegen aller Plausibilität auf seiner empirischen Wissen
schaftlichkeit bestand, verrät in sich selber eine Animusreaktion im negativen
Sinn, das Festhalten an einer bloßen Meinung, einem Prinzip.
Ich glaube, dieses animushafte Pochen auf seiner Wissenschaftlichkeit
war die Kompensation dafür, daß der Animus nicht in die animahafte Urerfah-
rung selber hineingelassen wurde, so wie die Erfahrung des Individuationspro
zesses, also der Entwicklung der seelischen Bilderwelt, die Kompensation dafür
war, daß Jung auf der Selbsterhaltung der Persönlichkeit Nr. 1 und ihrer an seine
Zeit angepaßten Wissenschaftlichkeit bestand. Die seelische Erfahrung war als
Inhalt der wissenschaftlichen Psychologie gegen diese immunisiert, wie die
Wissenschaftlichkeit gegen die Gehalte der seelischen Erfahrung immunisiert
war und die Beziehungen zwischen dem (außerpsychologischen) Ich und dem
Unbewußten sich an die Stelle der Beziehungen zwischen Animus und Anima
zu drängen neigten.
Jung betrieb also reine Psychologie. Und um die Psychologie rein zu hal
ten, wurde das Zusammenkommen von Anima und Animus dadurch verhindert,
daß die Anima ihren ausschließlichen Ort in der Erfahrung und der Animus sei
nen ausschließlichen Ort in der Wissenschaftlichkeit der psychologischen Lehre
erhielt. In der Erfahrung, d.h. im Erleben und als Inhalt oder Thema der Psycho
logie, durfte und sollte die coniunctio stattfinden. Hier wurde der Syzygie breiter
Raum eingeräumt. Aber die Psychologie selber ist in ihrem eigenen Tun die
Auseinanderhaltung und Verhinderung der Syzygie durch die Verteilung von
Anima und Animus auf zwei getrennte Seiten, Theorie, empirische Wissenschaft
hier - Praxis, psychischer Erlebnisprozeß und Gehalte der Erfahrung dort. Die
reine Psychologie bleibt wie die vorangegangene Animus-Logos-Stufe, die sie
doch kompensieren will, einseitig der Anima verfallen, der Anima, die bewirkt,
daß die Psychologie die seelischen Inhalte, hier die Syzygie, nicht erinnert und
aushält, in sich austrägt, sondern sie aus sich herausstellt und agiert als selbstän
dige objektivierte Gebilde draußen, außerhalb ihrer selbst als Subjekt: empiri
sche Wissenschaft und Urerfahrung.
Aus Jungs verständlichem Wunsch heraus, daß seine Psychologie dem
Wissenschaftsbegriff seiner Zeit genügen möge, entsteht eine Trennung, die uns
bei der Diskussion der Syzygie ganz unmittelbar etwas angeht: die Trennung
zwischen »Seele« (»Anima«) und »Psyche«, die bezeichnender Weise in einem
»Definitionen« überschriebenen Kapitel des Typenbuches vorgenommen wird.
Es heißt dort sub voce Seele:
Ich habe mich ... veranlaßt gesehen, eine begriffliche Unterscheidung durchzuführen
zwischen S. [Seele] und Psyche. Unter Psyche verstehe ich die Gesamtheit aller psy
chischen Vorgänge... Unter S. dagegen verstehe ich einen bestimmten, abgegrenzten
Funktionskomplex...11
Diese Unterscheidung macht die Seele als Syzygie innerhalb ihrer. Aber sie hebt
diese Unterscheidung innerhalb ihrer auch wieder auf. Denn Anima, Seele oder
Psyche ist gerade die Einheit von Identität und Differenz von Seele als Anima
(»Seelenbild«, »bestimmter, abgegrenzter Funktionskomplex«, »innere Persön
lichkeit«) und Seele als Syzygie (»Psyche«, »Gesamtheit aller psychischen Vor
gänge«, ja sogar »Anima mundi«), so, wie sie auch die Einheit von Seele als
»bestimmendem Selbst« und Seele als »bestimmbarem Selbst« ist, die Kant
trennen wollte.1112 Schreiben wir die Differenz oder Dissoziation definitorisch
fest, dann folgen wir zwar der einen Bewegungsrichtung der inneren Dialektik
des Seelenbegriffes, nämlich der zur Unterscheidung, verschließen jedoch uns
und die Psychologie der ihr ebenso wesentlichen anderen Richtung zur Aufhe
bung dieser von der Seele selbst getroffenen Unterscheidung. Damit würde die
Psychologie zwar wissenschaftlich salonfähig, aber sie würde auch aufhören,
Psychologie zu sein.
Es ist bewegend zu sehen, daß Jung die psychologische Größe besessen
hat, sich gerade nicht an die von ihm selbst aufgestellten Definitionen zu halten,
die nämlich psychologisch haarsträubend wären, wenn sie als Definitionen die
Macht über das Denken ergriffen. Jung benutzt das Wort Seele indiscriminately
für »Seele«, Anima, »Seelenbild« (Anima oder Animus) und Psyche. Es bleibt
dem Leser überlassen, durch eigenes Mitdenken aus dem Zusammenhang zu er
schließen, worauf gerade der Akzent liegt. Das hat der englische Übersetzer der
Werke Jungs zu spüren bekommen, aber er hat offenbar die wahrhaft psycholo
gische Zumutung, die darin liegt, nicht ausgehalten und nicht an den englischen
Leser weitergeben wollen, sondern diesen durch eine sprachliche Unterschei
dung von ihr entlasten wollen:
The translation o f ... Seele presents almost unsuperable difficulties ... because it com-
bines the two words >psyche< and >soul<...
... either Psyche or Seele - has been used with reference to the totality of all psychic
processes...13
11 GW 6 § 877.
12 KrV A 402.
13 CW 12 §9 Fußnote 2.
Nachdem Jung noch ohne explizite Begründung die eigene definitorische
Festlegung auf eine eindeutige Unterscheidung von Psyche und Seele / Anima in
seiner eigenen Praxis des Redens Lügen gestraft hatte, war es das nicht hoch ge
nug zu schätzende Verdienst von James Hillman, auch theoretisch die Einheit
von Anima und Seele herausgestellt und sogar als aus Jungs eigenen Äußerun
gen begründbar erwiesen zu haben.14 The »distinction between soul and the soul
or my soul did not bother the alchemists, and it was a distinction upon which
Neoplatonism refused to insist, for Plotinus was able to discuss psychology on
both levels at once...«15 Wir sollten ihm folgen. Die Uneindeutigkeit von »See
le«, »Anima«, »Psyche« ist psychologisch unverzichtbar.
Die vielleicht entscheidendste Trennung im Denken Jungs kommt in sei
nen folgenden Feststellungen zum Ausdruck:
Wenn ich daher als Psychologe sage, Gott sei ein Archetypus, so meine ich damit
den Typus in der Seele, was bekanntlich von typos = Schlag, Einprägung herkommt.
Psychologie als Wissenschaft von der Seele hat sich auf ihren Gegenstand zu be
schränken und sich davor zu hüten, ihre Grenzen etwa durch metaphysische Behaup
tungen oder sonstige Glaubensbekenntnisse zu überschreiten. ... Über eine mögliche
Existenz Gottes ist damit weder positiv noch negativ etwas ausgesagt...16
Jung übt hier die von Kant gelernte Scheidekunst zwischen phainomenon
und noumenon (freilich in einer Kant nicht gemäßen Weise); er praktiziert, ohne
Flusserl zur Kenntnis genommen zu haben, dessen Epoche. Die Frage der Wirk
lichkeit und Wahrheit bleibt ausgeklammert. Die Psychologie muß rein bleiben,
sie darf sich nur mit dem bloßen Gottesbild in der Seele und mit der Phänome
nologie von zeitlosen Wesenheiten befassen, dieses Bilderreich der Anima bleibt
aber jungfräulich unberührt. Das mag zwar die Tugend der Wissenschaftlichkeit
sein, aber es ist der Verzicht auf wirkliche Psychologie. (Daß Jung auch ganz
anders denken und reden konnte, habe ich oben in den Abschnitten über das Pa
radigma der Psychologie anhand seiner Ausführungen über die visionäre Dich
tung gezeigt, wo dem Erlebten gerade nicht die Wirklichkeit abgesprochen wur
de.)
Hier waltet eine Arbeitsteilung. Die Psychologie betreibt empirische Phä
nomenologie der zeitlosen Wesenheiten und hütet sich, die Wahrheitsfrage zu
stellen, die dann einem anderen Fach, der Theologie oder Metaphysik überlassen
14 James Hillman, Anima: An Anatomy ofa Personifled Notion, Dallas (Spring) 1985, S. 73ff. Siehe
auch ders., The Myth o f Analysis, Evanston (Northwestern University Press) 1972, S. 49-61. Al
lerdings versucht er mehr einseitig, Psyche und Psychologie aus dem Archetyp der Anima abzu
leiten, während ich von der Syzygie her kommend gleichermaßen auch die Setzung (und Heraus
fällung) der »begrenzten« Anima durch die und aus der umfassenden Psyche (als Syzygie) beto
ne: die Seele als »Psyche« gründet in den Anima-Stimmungen nur in dem Maße, wie auch umge
kehrt die Anima die (eine Seite der) Selbstauslegung der Psyche ist.
15 James Hillman, Anima S. 79.
16 GW 12 §15.
bleibt, welche zwar ihrerseits die wirkliche Wahrheit Gottes behaupten mögen,
aber für die von ihnen behauptete Wahrheit nur subjektiven Glauben verlangen
können, weil sie, entsprechend, von der empirischen Phänomenologie des wirk
lichen Erlebens logisch abgeschnitten sind. Das ist die festgeschriebene Neuro
se, die sanktionierte Entzweiung, welche zu heilen die Psychologie doch eigent
lich angetreten war. Jedes der beiden Fächer hat sein eigenes unverzichtbares
Anderes immer nur außer sich in dem je anderen Fach. Beide spielen zusammen
das Spiel von Hase und Igel. Wenn der Hase auf der einen Seite anlangt, ist der
Igel immer schon auf der anderen. Wenn die Rede von Gott sich nur auf das
Bild in der Seele bezieht (»nichts als«!) und für dieses keine Erkenntnisdignität
beansprucht, dann ist das nicht ein Zeichen von erkenntnistheoretischer Beschei
dung, sondern die unerkannte und unfreiwillige Anmaßung, welche da vom
Höchsten (von Gott) zu reden vorgibt, wo sie doch selber eingestanden hat, von
gar nichts zu reden, insofern sie den Bezug des Bildes zur Wirklichkeit aus
drücklich aus der Psychologie ausgesperrt (eingeklammert) hat.
Reine Psychologie, das heißt Psychologie rein unter der Ägide der Anima,
der Seele, ist keine wirkliche Psychologie. Wirklich würde die Psychologie erst,
wenn sie in ihr selber vom Animus infiziert würde, weil, wie wir von Hillman
hörten, die Psychologie eben die wechselseitige Durchdringung von Psyche und
Logos im Rahmen der Syzygie ist. Diese Durchdringung könnte sie aber nur
sein, wenn sie sich selber von der Syzygie durchdringen ließe. Erst durch ihr ei
genes Anderes, den Logos, käme die Psychologie zu sich selbst. Wenn Jungs
Einsicht stimmt, daß jemand, »der die ... Bedeutung des Syzygienmotivs (Paa
rungsmotiv) in der Psychologie ... nicht kennt,... in der Angelegenheit des Ani
mabegriffes schwerlich mitreden« kann,17 dann müssen wir auch einsehen, daß
man der Anima nichts Gutes tut, wenn man sie für sich, also rein und unschul
dig, zu fördern sucht. Die Anima findet sich selbst erst in ihrem eigenen Gegen
satz, in dem, was sie nicht ist, dem Animus. Der Weg zu ihr führt von ihr weg.
Wir dürfen freilich nie vergessen, daß auch die Abwehr der Syzygie nur
wieder eine Manifestation eben der Syzygie ist. In der Psychologie rein unter
der Ägide der Anima macht sich gerade das Reinheitsstreben des Animus gel
tend; dieses zeigt also gleichsam eine Animusverfallenheit der Anima, so wie
auf der reinen Animusstufe die Anima zur Hypostasierang der Ergebnisse des
animushaften Tuns verführte. Dies rührt daher, daß die Syzygie die Einheit von
Einheit und Gegensätzlichkeit ist und beide Seiten sich nicht als abstrakte Ge
gensätze gegenüberstehen.
In der reinen Psychologie taucht das Thema der animushaften Reinheit
animahaft als das Inzestmotiv auf. Eine wirkliche Psychologie wäre nun die, die
die Überschreitung der Inzestschranke nicht nur dem Innenleben des Patienten
zumutete, sondern diesen Tabubruch in ihrem eigenen Ansatz selber wagte. Sie
würde sich nicht mit großbürgerlicher Entsagung auf »bloße Psychologie« zu
rückziehen, sondern sie würde den Übergriff und die Überschreitung ihres zum
Zwecke ihres Harmlosbleibens säuberlich abgesteckten Fachbereichs in Rich
tung auf Wirklichkeitserkenntnis und gnösis toü theoü zu begehen haben, frei
lich nicht mir nichts dir nichts. »A psychology of transgression« (Hillman) darf
die Transgression nicht nur fordern oder ins Erleben abdrängen; sie muß auf ihr
als längst vollzogener beruhen, muß sie selbst sein, ganz so, wie auch der My
thos diese Transgression immer schon war. Denn der Mythos, das waren nicht
nur unterhaltsame Geschichten, sondern Erkenntnis der wirklichen Welt, wie sie
an und für sich war. Jung: Der Primitive ist »noch träumend eingeschlossen in
seine Seele, in die Welt, wie sie wirklich ist, noch nicht verzerrt durch die Er
kenntnisschwierigkeiten eines dämmernden Verstandes. « 18
Eine wirkliche Psychologie würde sich demnach nicht um die Frage der
Wirklichkeit und Wahrheit der Bilder drücken, aus bloßer Angst, den Wissen
schaftsstatus zu verlieren, weil sie eingesehen hätte, daß wirklicher Mythos, der
uns mit den Ahnen verbindet, und wirkliche Urerfahrung nur dann gegeben ist,
wenn die Bilder der Seele wahrhaft unsere Weltwirklichkeit treffen. Die Psycho
logie ist nur in dem Maße wirklich, wie sie Wirklichkeit erreicht. Gott als bloßes
Bild in der Seele gehörte, gerade wenn damit weder positiv noch negativ etwas
über eine mögliche (nicht einmal wirkliche!) Existenz Gottes ausgesagt ist, ins
Kino. Psychologie als Fach der bloßen Innerlichkeit wäre nichts als subjektivi-
stischer Ästhetizismus, dem dann natürlich durch den Appell an die ethische
Verantwortung die nötige Verbindlichkeit erst nachgeliefert werden muß. Die
Husserlsche Epoche ist das ins Philosophische gehobene Verhütungsmittel, die
sublimierte Enthaltsamkeit. Wirkliche Erkenntnis der Wahrheit darf weder für
Husserl noch für die sich wissenschaftlich gebende Psychologie sein. Aber Er
kenntnis, besonders in dem Sinn von Erkenntnis, wie Adam sein Weib erkannte,
ist psychologisch nichts anderes als das Ereignis der coniunctio, der wirklichen
Begegnung von Mensch und Welt im Rahmen der Syzygie.
Mit der Wirklichkeit Gottes steht oder fällt die Wirklichkeit des Menschen
(als Menschen), steht oder fällt auch die Möglichkeit, wirkliche Psychologie zu
treiben. Genauso hängt an der Wirklichkeit Gottes die Wirklichkeit der Welt als
Welt des Menschen, im Unterschied zur positivierten Realität. Warum das so ist,
kann hier nicht näher gezeigt werden. Ich setze es wie schon in dem Kapitel
über das inhaltliche Paradigma der Psychologie einfach nur hierhin. Es hat aber
keinen Sinn, sich um das Aussprechen dieser Einsicht hemmzudrücken oder sei
es aus Rücksicht auf den Zeitgeschmack, sei es zur Schonung der Unschuld des
herrschenden Bewußtseins oder sei es aus Zärtlichkeit gegen sich selbst sie eu
phemistisch zu verpacken, —auch wenn obige Sätze noch so peinlich sind. Das,
worum es geht, ist zu wichtig. Wir müssen, wohl oder übel, Farbe bekennen.
18 C.G. Jung, GW 8 § 682 (meine Hervorhebung).
Aber dies nicht im Sinn eines G/awbenjbekenntnisses oder »metaphysi
scher Behauptungen«, die Jung mit vollem Recht von sich wies, die ihm aber
mich als so große Gefahren erschienen, daß er Gott meist in bis zur Unkenntlich
keit entstellender wissenschaftlich-psychologischer Redeweise glaubte verstek-
ken zu müssen, sicher nicht nur aus Angst vor dem Geschrei der Böotier, son
dern mehr wohl, weil er meist nur als einzige Alternative von »im Glauben be
hauptetem Gott« den Gott als bloßes Bild in der Seele annahm. Aber das ist ge
rade keine wirkliche Alternative. Beide gehören vielmehr auf dieselbe Seite in
nerhalb der eigentlichen Alternative, welche jenen beiden den logisch angewie
senen Gott gegenüberstellt und mit welcher der »mittelalterliche« Bewußtseins-
slulus, in dem jene beiden Seiten der ersten Alternative angesiedelt bleiben, zu
gunsten einer neuen logischen Stufe überschritten wird. Damit wäre dann auch
Jungs großes, weil bereits die Wahrheit eines höheren logischen Bewußtseins-
slalus (wenn freilich immer noch nur behauptendes und sie so gerade noch von
der festgehaltenen obsoleten Stufe aus) benennendes Wort zum Thema Gott:
»Ich glaube nicht, ich weiß« ins Recht gesetzt. Jung vermochte vielfach bereits
auf der höheren Stufe zu erfahren, aber ihm fehlten die logischen Mittel, diesen
Slatus und die innerhalb seiner gemachten Erfahrungen in einer dem Status ge
mäßen Sprache wirklich auszusprechen.
In einem Artikel über »Nietzsche’s Madness as Soul-Making« 19 werden
Jungs und Nietzsches Grundhaltung und Grundanliegen verglichen.
Unlike Nietzsche, Jung was committed finally not to the soul but to spirit Nietzsche
used spirit as he used matter: he mined it for soul. W hat Nietzsche was after was not
gold but silver. Jung was after the gold. His real object was God.
Uns braucht hier nicht die Frage nach der Stimmigkeit der (fragwürdigen)
Nietzsche- und Jungdeutungen zu beschäftigen, auch nicht die Frage, ob dann,
wenn sei es »spirit«, sei es »matter« benutzt oder verwendet (»used«) wird, man
überhaupt erwarten darf, am Ende bei »soul« anzukommen. In diesem Kapitel
(Iber die Trennungen interessiert nur, daß hier soul und spirit, Silber und Gold
gegeneinander ausgespielt werden. Das ist ein Topos, dem man in der Archety-
pischen Psychologie öfter begegnen kann. Die ungeheuer wichtige Differenzie
rung von Seele und Geist (und damit indirekt auch von Anima und Animus), die
Hillman besonders in seinem Aufsatz »Peaks and Vales« 20 herausgearbeitet hat,
wird einseitig zum Entweder-Oder festgeklopft und auf zwei Denker verteilt.
Die für die Syzygie genauso wie die Trennung unverzichtbare Seite der Vereini
gung der Gegensätze fällt aus. So wie der frühe Jung die Anima auf die Seite der
Männer, den Animus auf die der Frauen gebracht hat, so wird die Seele hier in
I*) Ross Woodman, »Nietzsche’s Madness as Soul-Making«, Spring 1986, S. 101-118, hier S. 111.
James Hillman, »Peaks and Vales«, in: Ders. u.a., Puer Papers, Irving (Spring Publications)
1979, S. 54-74.
die »Nietzsche« beschriftete Schublade und der Geist in die »Jung« beschriftete
Schublade eingesperrt, so daß die coniunctio von vorherein ausgeschlossen ist.
Jetzt muß man wählen: entweder Gold oder Silber, entweder Sol oder Luna, ent
weder Jung oder Nietzsche, entweder Gott oder die Seele. Die Psychologie, die
sich der Seele verschreibt, bleibt dann in ewiger Unschuld und Unberührtheit in
einem reinen Bilderreich eingeschlossen. Sie wird zu einem Hesseschen Glas
perlenspiel. Die Seele spiegelt sich unendlich in ihr selbst, ohne je die Wirklich
keit zu berühren oder von ihr berührt zu werden. Und umgekehrt die Seele, die
sich dem Geist verschreibt, wird rein spirituell; sie hebt ab und berührt die Wirk
lichkeit ebenfalls nicht mehr. Aber eine wirkliche Psychologie verschreibt sich
weder der Seele noch dem Geist, sondern beiden (was freilich ein Widersprach
ist). Denn: »Eben dies ist Psychologie, die wechselseitige Durchdringung von
Psyche und Logos [Anima und Animus, Sol und Luna, Silber und Gold] im
Rahmen der Syzygie.« Die Frage nach Gott, die Jung in der Tat stellte, kann
nicht als rein spirituell abgetan und aus der Psychologie verdrängt werden. Sie
drückt das ureigenste, unverzichtbare Verlangen der Seele aus, so wie es die ur
eigenste Sehnsucht des Geistes ist, Seele zu werden, ja sogar konkrete, »leibhaf
te« Wirklichkeit zu werden (Inkarnation). Die saubere Trennung (Spaltung) die
ses einen, in sich widersprüchlichen Ganzen wird veranstaltet, um das herr
schende Bewußtsein in Sicherheit zu wiegen und das Leben in der (alles andere
als harmlosen) Harmlosigkeit und Beliebigkeit von Nietzsches Letztem Men
schen anzusiedeln, jenem Menschen, der sich heute selbst als »postmodem« ver
steht.
Eine Psychologie, die durch Trennung konstituiert wird, ist außer sich,
aber nicht weil sie sich von der Syzygie entfernt hätte, sondern weil sie im Ge
genteil zu tief in die Syzygie eingetreten ist, so tief, daß sie diese ganz hinter
sich und vor sich nur noch ihre gegensätzlichen »Seiten« oder »Teile« hat, in die
die Syzygie dann zerfallen ist. Eine solche Psychologie sieht gleichsam den
Wald vor lauter Bäumen nicht mehr. In dem Augenblick, wo sie die Gegensätze
sauber getrennt vor sich hat, sind diese auch schon zu Positivitäten geworden,
während sie von Hause aus flüssige Momente im syzygischen Leben der Seele
gewesen wären. Mit dem Stichwort Positivität sind wir bereits bei dem Spezifi
kum der zweiten Form der Abwehr der Syzygie, nämlich ihres rein logischen
(und nicht seienden) Charakters, angelangt. Für die Erörterung dieses Aspekts
nehmen wir einen Satz aus dem oben gebrachten Zitat von M.-L. von Franz über
den Blaubart als Ausgangspunkt: »He draws woman away from life and murders
life for her«. Woman? Die Frau? Nein, nicht die Frau. Nicht diese ist Partnerin,
Gegenspielerin oder Opfer des Blaubart. Zumindest nicht, wenn aus der Syzygie
heraus gedacht wird. Es wäre dies so, wie wenn man das chinesische yang, weil
es männlich ist, zum Partner der empirischen Frau, das yin, weil es weiblich ist,
zum Partner des empirischen Mannes machen wollte. Natürlich sind yin und
yang ihre eigenen Partner oder Gegenspieler, und Animus und Anima genauso.
Wir müssen also sagen: Der Animus in der Gestalt des Blaubart zieht die Anima
aus dem Leben heraus und tötet das Leben für sie.
Die psychologische Differenz. Es ist schon rein methodisch zu fragen:
Mit welchem Recht wird innerhalb des Märchens die eine Gestalt als Archetyp,
nämlich als Animus, genommen, die andere jedoch mit der realen Frau gleichge
setzt? Wenn die Frau die Partnerin des Animus ist, dann ist primär sie zuständig
für seine Erfahrung, und er gehört nur oder zumindest hauptsächlich in die weib
liche Psychologie. Die reale Frau mit ihren Gefühlen, Bedürfnissen und Konflik
ten wird damit nicht nur zum Bezugspunkt, sondern auch zu dem Horizont, in
dem dann die Frage nach dem Animus einzig noch sinnvollerweise gestellt wer
den kann. Wir haben schon erörtert, was die Kuppelung des Animus mit der
realen Frau unter dem Aspekt der sauberen Trennungen bedeutet. Hier beschäf
tigt uns nun ein anderer Gesichtspunkt dieser Paarung: Die Angst vor dem Ab
sturz in die Grundmetapher der Psychologie und damit in die Psychologie selbst,
ein Absturz, der der freie Fall ins Bodenlose des Logischen ist. Indem die Frau
zuständig für die Erfahrung des Animus gemacht wird (wie umgekehrt der
Mann für die Erfahrung der Anima), gerät die Psychologie außer sich, ganz
buchstäblich. Die Ansetzung der Frau als des Ortes des Erscheinens des Animus
wirft grundsätzliche Fragen über die Konzeption der Psychologie im ganzen auf.
Es ist freilich ein Gemeinplatz, daß die Psychologie es mit den Menschen
und so auch mit den Männern und Frauen, mit den Müttern und Vätern und vor
allem natürlich auch mit den Kindern und Säuglingen zu tun habe. Psychologie
soll das Fach sein, das die Aufgabe hat, das, was »im Innern« der realen
Menschen vorgeht, zu erforschen. So ist es auch nichts Besonderes, wenn M.-L.
von Franz den Animus aus dem Blaubart-Märchen die Frau aus dem Leben zie
hen läßt. Mehr oder weniger alle Jungianer, die sich über den Märchentypus
vom Blaubart (um jetzt nur einmal bei diesem zu bleiben) geäußert haben, ganz
gleich ob Helmut Barz, Verena Käst, Kathrin Asper oder wer immer, machen
soweit ich sehe das Geschehen in der einen oder anderen Weise am realen
Menschen fest und gehen vom realen Menschen aus. Ganz selbstverständlich
setzen sie voraus, daß das Märchen von den Frauen, ihrer Entwicklung, ihren
Erfahrungen (Barz nennt es sogar ein »feministisches Märchen«!) oder auch um
gekehrt von den Männern und ihrer Blaubarthaftigkeit handele (Theodor Seifert:
»Ritter Blaubart lebt in jedem Manne, lebt in mir«. Barz: »Blaubart: Wenn einer
vernichtet, was er liebt«). Jetzt ist, anders als bei von Franz, der Blaubart nicht
einmal mehr der archetypische Animus, sondern so etwas wie eine Eigenschaft
der Männer, und das Märchen spielt jetzt in dem, was man beziehungsreich die
»Beziehungskiste« nennt. Anderswo wird die Psychologie sogar ganz ungeniert
als »humanistische Psychologie« definiert.212Die Psychologie scheint eine Un
terabteilung der Anthropologie zu sein: spricht man als Psychologe, dann spricht
man, so sieht es jetzt aus, eo ipso vom Menschen. Die »psychologische Diffe
renz«22, die Differenz zwischen Mensch und Seele, zwischen Anthropologie
(Menschenkunde) und Psychologie (Seelenkunde), wird nicht beherzigt.
Ich behaupte: Das ist ein perverses, neurotisches Verständnis von Psycho
logie; wobei ich mit pervers und neurotisch nicht auf eine persönliche Patholo
gie der Menschen, die ein solches Verständnis haben, anspiele, sondern aus
schließlich eine logische, theoretische Perversität des methodischen Ansatzes der
Psychologie selbst meine. Ich setze ihm zunächst einmal ganz unvermittelt, ohne
nähere Begründung, ein anderes Verständnis entgegen, indem ich von einem
Wort Jungs ausgehe:
In Mythen und Märchen wie im Traum sagt die Seele über sich selbst aus, und die
Archetypen offenbaren sich in ihrem natürlichen Zusammenspiel, als »Gestaltung,
Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung«.23
Es ist dies ein Wort, das den menschlichen Rang und die Größe des Psychologen
Jung sichtbar werden läßt. Träume, Mythen, Märchen sprechen nicht über den
realen Träumer, den Patienten oder den Menschen im allgemeinen. Sie handeln
- primär oder letztlich - nicht von dem, was in diesen vorgeht, auch nicht von
seinen Störungen oder den Möglichkeiten seiner inneren Entwicklung. Es ist die
Seele, die mit sich selbst über sich selbst redet, mit Plato zu reden: der lögos
oder diälogos tes psychis prös hauten24. Es ist ein sich selbst genügendes, in
sich geschlossenes Spiel. Ein »objektives« Spiel der Seele mit sich selbst, zu ih
rer »ewigen« »Unterhaltung«, nicht zu unserem Nutzen, nicht für die Lösung
unserer Probleme und Störungen oder für die Förderung unserer »Selbstentwick
lung«. Und es ist, im Rahmen unseres Zusammenhangs, das »natürliche Zusam
menspiel« der Archetypen Anima und Animus innerhalb der und als die Syzy-
gie. Es ist als Gestaltung, Umgestaltung jenes Spiel, das auch Pseudo-Demokri-
tos im Sinn hatte, wenn er von der Natur, die sich erstens ihrer selbst erfreut, die
21 Eine tiefgreifende Diskussion der ganzen Problematik der als »humanistisch« konzipierten Psy
chologie (im Unterschied zu einer archetypischen Psychologie »mit Göttern«) fmdet sich in
James Hillman, Re-Visioning Psychology, New York u.a. (Harper & Row) 1975.
22 Diesen Ausdruck habe ich zum erstenmal benutzt in W. Giegerich, »Die Gegenwart als Dimen
sion der Seele - Aktualkonflikt und archetypische Psychotherapie«, Anatyt. Psychol. 9 (1978), S.
99-110. Die psychologische Differenz ist nicht einfach identisch mit der Differenz, die oben bei
der Diskussion des Paradigmas der Psychologie vor uns trat: der Differenz von dem Menschen
als Erdensohn und dem Menschen als Gottessohn. Aber letztere Differenz tut sich nur dann auf,
wenn die psychologische Differenz eröffnet ist, oder sie ist eine Weise, wie sich die psychologi
sche Differenz darstellen kann.
23 C.G. Jung, GW 9/1 § 400, mit einem Zitat aus Faust II, V. 6287f.
24 Vgl. Plato Theaitetos (189e: Ldgon hön autö prös hautön he psychö diexörchetai ...), Sophistes
(263e:... entös tfis psychös prös hautön diälogos äneu phonös ...). Was genau Plato selbst mit die
sen Formulierungen im Sinn hatte, braucht uns hier nicht zu interessieren.
sich zweitens selbst besiegt, die drittens über sich herrscht, sprach. Es ist das lo
gische Leben der Seele.
Hier wird sich natürlich sofort der abstrakte Verstand melden und mit
wegwerfender Geste fragen, wofür die Psychologie, wenn die Träume und My
then, die sie untersucht, gar nichts über den realen Menschen aussagen, dann
überhaupt noch gut sein solle. Aus dem sich selbst genügenden Spiel falle der
Mensch offenbar ganz heraus, und so habe dieses Spiel uns auch nichts zu sa
gen. Wir lassen diesen Einwand des gesunden Menschenverstandes hier auf sich
beruhen, werden ihn aber im Sinn behalten und zu gegebener Zeit auf ihn ant
worten.
Von dem her, was über das sich selbst genügende Spiel der Syzygie ge
sagt wurde, können wir sagen: das Blaubart-Märchen handelt nicht davon, was
der Animus mit der Frau, schon gar nicht davon, was die Männer mit den Frauen
machen; Goethes »Fischer« (»halb zog sie ihn, halb sank er hin«) handelt nicht
davon, was die Anima (oder die Frau) mit dem Mann macht. Beide handeln da
von, was die Seele in ihrer »Gestaltung, Umgestaltung« sich selbst antut. Es ist
jeweils ein wahrhaft 'maexseelisches Geschehen (im Unterschied zum subjektiv
inneren [subjektstufigen] oder intrapersonellen Geschehen).
Da sind auch nicht zwei verschiedene Seelenteile, Aspekte, Komponen
ten, innere Persönlichkeiten als eigenständige Substanzen oder Wesenheiten, de
ren Interaktion oder Beziehung in dem syzygischen Drama dargestellt würde. Es
geht auch nicht darum, was das Männliche mit dem Weiblichen und umgekehrt
macht. Sondern es ist ein und dieselbe »Seele«, die, wenn es ihr um ihre Vergei
stigung, um die erschreckende Kälte des Begriffs (des von ihr selbst Begriffen
werdens), um die schonungslose Analyse und Reflexion ihrer selbst geht, sich
z.B. als die vom männlichen Animus vergewaltigte oder bedrohte Anima dar
stellt und die ein anderes Mal, wenn es ihr um den Sog in ihre eigene mythische
Tiefe geht, sich selbst z.B. als den Fischer und die ihn verführende und hinabzie
hende Nixe imaginiert. In beiden Fällen handelt es sich nicht um eine Auseinan
dersetzung zwischen buchstäblich »Zweien«. Vielmehr sind sowohl die beiden
jeweiligen Gegenspieler als auch das sich zwischen ihnen abspielende Gesche
hen im ganzen die Gestalt, die sich die Seele gibt, um sich, also nicht »das
Weibliche« und »das Männliche«, nicht irgendwelche Teile oder Aspekte von
sich, sondern wirklich sich selbst als ganze in einem der vielen, aber bestimmten
Augenblicke ihres Spiels (ihrer archetypischen Situationen und seelischen An
liegen) darzustellen. Sie faltet sich selbst in die Zweiheit von Anima und Ani
mus auseinander, kleidet sich in die Kostüme von z.B. Nixe und Fischer oder
Blaubart und Mädchen und legt so die logische Komplexität und die innere Be
wegtheit je eines einzigen archetypischen Momentes oder Status ihres Lebens in
das narrative oder rituelle Nacheinander einer dramatischen Handlung auseinan
der. Ganz ähnlich, wie sich die Seele in ihrem einen archetypischen Moment als
»christliche Seele« in das Nacheinander von Geburt, Kreuzigung, Auferstehung,
Himmelfahrt, Zweites Kommen auseinanderlegt, was zusammen auch nur ein
einziges Mysterium ist, das seine Erfüllung, seinen Sinn, seine Grausamkeit und
seine Legitimität in sich selbst hat. Auch in diesem Spiel gibt es, bei der Kreuzi
gung, nicht wirklich »zwei«, nicht wirklich Täter und Opfer, kein Tun als mora
lischen Übergriff, sondern das rituelle Handeln der Seele an ihr selbst.
Dieses Handeln jedoch ist logisches Handeln, nicht, wie es der narrativen
oder rituell-dramatischen Auseinanderlegung entsprechen würde, Handeln in der
Zeit, im Nacheinander einzelner Akte. Und die Gewalttat ist nicht buchstäbliche
Gewalttat, sondern logische - selbst wenn dieses logische Drama sich (eben des
wegen, weil es noch nicht als logisches aufgenommen, d.h. noch nicht gedacht
und begriffen werden kann, sondern noch auf die Hilfe der Anschauung ange
wiesen ist) als rituelles oder geschichtliches Drama in der Zeit darstellt und dann
eo ipso auch als faktische Gewalttat auftritt. >Logisch< ist genauer als >imaginal<.
Mit beiden Wörtern wird eine Abgrenzung gegenüber dem Buchstäblich-
Natürlichen vorgenommen. Aber >imaginal< bleibt noch zu sehr der Vorstellung
und Anschauung und damit dem natürlichen Bewußtsein verhaftet.
Aus dem logischen Leben der Seele bricht die Denkweise aus, die den
Animus mit der realen Frau und die Anima mit dem realen Mann korreliert. Wir
haben schon gezeigt, daß die Paare gar nicht Zusammenkommen können, wenn
ihre Glieder verschiedenen Seins- oder logischen Ebenen angehören. Vereinigen
könnten sich Mann und Frau, aber nicht Frau und Animus. Der rechtmäßige
Partner des Animus ist die Anima. Die psychologische Vereinigung wäre daher
die Vereinigung von Anima und Logos, Seele und Denken, Urerfahrung und
wacher Vernunft in einem jeden von uns und in dem Inderweltsein des Men
schen. Die Beziehungen von uns zur Anima, die »Beziehungen zwischen dem
Ich und dem Unbewußten« dagegen gehören als ichhaft bestenfalls in eine psy
chologische Propädeutik, nicht in die Psychologie selbst. Jung selbst hat diese
Problematik an einer Stelle klar ausgesprochen, in der er sich über Goethes
Faust äußert.
Was im >Faust< geschieht, drückt sich wohl am deutlichsten in der Paris-Helena-
Szene aus. Für den mittelalterlichen Alchemisten hätte diese Szene die geheimnis
volle >coniunctio< von Sol und Luna in der Retorte bedeutet..,; der Mensch der neue
ren Zeit aber, verkleidet in der Figur des Faust, erkennt die Projektion und setzt sich
an Stelle des Paris oder Sol und bemächtigt sich der Helena oder Luna, seines inne
ren weiblichen Gegenstückes. Damit wird nämlich der an sich objektive Vorgang der
Vereinigung zum subjektiven Erlebnis des >artifex<, d.h. des Alchemisten. Anstatt es
zu erkennen, wird er selber zu einer Figur des Dramas. Die subjektive Einmischung
Fausts hat den Nachteil, das eigentliche Ziel des Prozesses, nämlich die Herstellung
des Inkomiptibeln, zu versäumen ... - ein Mißgeschick für den Alchemisten und ein
Anlaß für den Psychologen, Faust zu kritisieren... (Faust kann) es nicht lassen, Paris
bei Helena zu verdrängen ,..25
Indirekt distanziert sich Jung mit seiner Äußerung über Faust und Paris
auch von seiner frühen Idee der »Beziehungen zwischen dem Ich und dem Un
bewußten«, in denen sich ja ebenfalls die subjektive Einmischung, die Verdrän
gung des »Paris« durch das Ich bemerkbar macht, während es doch eigentlich
dämm ginge, das »an sich objektive« Drama oder das sich selbst genügende
Spiel der Syzygie zu »erkennen«, zu begreifen (was freilich immer auch soviel
heißt wie: sich im Begreifen seiner auch von ihm eikennen und begreifen zu las
sen!).
Warum muß der Psychologe Faust wegen seiner subjektiven Einmischung
kritisieren? Sol oder Paris und Helena oder Luna können, wie wir schon gezeigt
haben, einander nicht mehr begegnen, sitzen sie jetzt doch gleichsam in zwei
verschiedenen Käfigen, in dem Mann einerseits und der Frau andererseits, und
sind die in einer fundamentalen, nämlich ontologischen Mesalliance verbunde
nen neuen Partner a priori durch ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Seinsebe
nen unwiderruflich voneinander geschieden, so daß der ganze eigentliche Vor
gang der Vereinigung unmöglich wird. Die Herstellung des Inkorrubtibeln
scheitert zwangsläufig. Und vielleicht ist daraus, daß sich Anima und Animus
heute nicht mehr im objektiven Vorgang der Vereinigung begegnen dürfen und
statt dessen das Ich auf seinem subjektiven Erleben und auf der persönlichen Be
ziehung besteht, auch die Entartung der geschlechtlichen Begegnung zwischen
Mann und Frau zum Sex und zur sexuellen Technik zu verstehen. Die reale ge
schlechtliche Begegnung könnte nur seelische Tiefe haben, wenn sie von dem
»objektiven« com'wncfio-Geschehen zwischen Sol und Luna umgriffen, in ihm
einbegriffen wäre und dann auch von ihm durchwirkt würde, aber es nicht erset
zen wollte. Hier ist daran zu erinnern, daß im Zaubermärchen vom Goldvogel-
und vom Nachtwachenabenteuer-Typus der Held zu der »Prinzessin«, einer Jen
seitigen, in einer Seelenfahrt gelangt und ihr in einem trancehaften Zustand bei
wohnt. Gehrts bemerkt dazu: »Insofern die Zeugung im Schlafe stattfindet, be
zeichnet dieses Märchenbild überhaupt den tieferen Sinn der zeugerischen Be
gegnung und des Wortes Beischlaf. Es bezieht sich keineswegs allein auf Zeit
und Stätte des Liebesschlafes, sondern weit mehr darauf, daß die eigentliche
Verwebung und Verschmelzung des Paares sich in den niemals erwachenden
Zonen ihrer Leibseele vollzieht.«26 Damit ist schon eine erste andeutungsweise
Antwort auf die oben zurückgestellte Frage gegeben, wofür das syzygische Spiel
denn überhaupt gut sei, wenn es ein sich selbst genügendes und nicht direkt auf
den Menschen bezogenes sei.
25 GW 12 §558.
26 Heino Gehrts, »Vom Beischlaf im Zaubermärchen«, in: Liebe und Eros im Märchen, Kassel
(Röth) 1988, S. 61-78, hier S. 70.
Das dogmatische Vorurteil und der mittelalterliche Zustand der Psy
chologie. Ein Gemälde, sagen wir eine Kreuzigung von Rembrandt, kann Ge
genstand verschiedener Disziplinen sein. Es kann vom Kunstkenner unter rein
künstlerisch-ästhetischen Gesichtspunkten betrachtet werden. Es kann vom
Theologen auf die in ihm sich niederschlagende Christologie hin untersucht wer
den. Es kann vom Kultur- oder Sozialgeschichtler vorgenommen werden, um
aus ihm Rückschlüsse auf ideengeschichtliche Zusammenhänge und soziologi
sche Zeitumstände zu gewinnen. Es kann auch dem Chemiker vorgelegt werden,
damit er es auf das Alter der Leinwand, die Zusammensetzung der Pigmente und
Bindemittel analysiere. Man sieht, der faktische Gegenstand determiniert nicht
automatisch das wissenschaftliche Fach, in das er zu »gehören« scheint. Kunst
gegenstände rufen nicht ausschließlich die Kunstwissenschaft auf den Plan.
Theologie ist nicht einfach die Wissenschaft von der Bibel und den Dogmen,
und die Bibel kann auch den Literaturwissenschaftler oder den Archäologen in
teressieren. Wissenschaftliche Disziplinen liegen nicht tatsächlich kraft ihrer
Ausrichtung auf unterschiedliche Bereiche der Wirklichkeit wie »Fächer« ne
beneinander, sie werden vielmehr durch ihre Grundmetapher bestimmt, an die
sie sich gebunden haben, und ihre Wissenschaftlichkeit hängt wesentlich von
der Strenge der Bindung an die Grundmetapher ab. Nichts darf von außen in die
Grundmetapher eindringen, was nicht hineingehört, nichts darf außerhalb der
Grundmetapher belassen werden, was als Gegenstand der betreffenden wissen
schaftlichen Disziplin anerkannt wird. Jede Wissenschaft ist dadurch Wissen
schaft, daß sie sich auf Gedeih und Verderb in ihre Grundmetapher stürzt und in
ihrer ganzen Forschung nichts anderes betreibt als die Entfaltung dieser.
Der Chemiker, der das Kreuzigungsgemälde von Rembrandt zu analysie
ren hat, mag zusätzlich zu seinem Chemikersein als Privatmann auch ein kunst
sinniger und ein religiös eingestellter Mensch sein. Aber insofern er das Bild
chemisch analysiert, sieht er darin kein »Bild«, weiß er nicht, was »Kreuzigung«
bedeutet, und ist ihm gänzlich unzugänglich, daß es sich um ein »Werk« von
»Rembrandt« handelt. »Kreuzigung« und »Rembrandt« sind keine Begriffe der
Chemie. Das Gemälde ist für ihn, und muß für ihn sein, nichts als toter Stoff.
Gelingt es ihm nicht, von seinem sonstigen Wissen als gesunder Menschenver
stand, gebildeter Bürger, Kunstliebhaber, religiöser Mensch zu abstrahieren,
kann er keine chemische Analyse vornehmen. Alles, was er in die Finger kriegt,
muß ihm als toter Stoff und nichts weiter gelten. Und was sich nicht als chemi
sche Substanz ansehen läßt, das darf cs für ihn qua Chemiker nicht geben.
Wie der Chemiker die auf Leinwand geschmierten Farbpigmente nicht als
Werk und Ausdruck von Rembrandt, Rembrandt nicht als ihr Substrat ansehen
darf, weil er sie dann gar nicht mehr als rein chemische Substanzen apperzipie-
ren könnte, so darf auch der Psychologe das seelische Geschehen nicht an
Menschen als seinem Substrat festmachen. Als Psychologe weiß er nichts von
Menschen, nichts von Männern und Frauen, von Müttern und Kindern, auch
nichts von Sexualität - wenigstens nicht, insofern diese Wörter als auf das hin
weisend genommen werden, worauf sie im Alltagsleben, in der Biologie, in der
Soziologie hinweisen. Purusha, dnthropos, homo maximus, homunculus, adam
Icadmon sind psychologische Begriffe. Aber der Mensch als positiver Gegen
stand, als Exemplar der Art Homo sapiens, nicht. Die Lebensäußerungen der
Seele als Äußerungen des Menschen anzusehen ist psychologisch Schmu. Es ist
eine dogmatische, metaphysische Setzung. Es ist so unverträglich mit Psycholo
gie, wie es mit Physik unvereinbar wäre, das Wirken Gottes als mögliche Ursa
che von Naturereignissen in Betracht zu ziehen. Täte der Physiker das doch,
müßte seine Forschung überall, wo er an etwas Unbekanntes stößt, aufhören,
weil er immer mit einem göttlichen Eingriff würde rechnen müssen, den er aber
per definitionem als Wissenschaftler nicht erforschen könnte. Kepler wurde erst
da wirklich zum Wissenschaftler, als er nach schweren inneren Kämpfen die aus
der natürlichen Theologie stammende Idee von der Kreisbahn der Planeten und
damit die Idee der Göttlichkeit des Universums zur Disposition zu stellen bereit
war, um sich einzig von den Befunden und den mathematischen Notwendigkei
ten, d.h. von der Grandmetapher der »rein physikalisch begriffenen Natur« lei
ten zu lassen. »Gott« könnte nur ein Begriff innerhalb der Physik sein, wenn der
erste rassische Sputnik-Kosmonaut ihn als physisches Faktum im Weltraum ent
deckt hätte, was freilich, weil mit dem Sinn von »Gott« unvereinbar, widersin
nig wäre.
Daß die Psychologie gewöhnlich jedoch dem anthropologischen Vorurteil
ohne den mindesten Zweifel erliegt, zeigt, daß sie sich noch in einem unkriti
schen, »mittelalterlichen« Zustand der Ausbildung ihrer selbst zur methodisch
geklärten Disziplin befindet. Sie ist zwar nicht, wie die mittelalterliche Physik,
eine Magd der Theologie, sehr wohl aber eine Magd der Metaphysik des Alltags
(die in der »Physik« ihre höchste Formulierung findet). Unbesehen wird aus
dem Vorstellen und Meinen des »Manns auf der Straße« der Begriff des
Menschen (oder »Person«, »Mann«, »Frau«) aufgelesen und an diesem als ei
nem schlechterdings Gegebenen und so Unhinterfragbaren das Seelische aufge
hängt, wie an einem Kleiderbutler ein .Jackett. Dieser »Mensch« ist in der Tat
ein dogmatisches Vorurteil, weil er innerhalb der Psychologie erschlichen ist.
Die Psychologie setzt dann ein Substrat des Psychischen an, für das sie
nicht selbst zuständig ist. Sie kann mit ihren eigenen Methoden nichts dazu sa
gen, sie muß diese Substratgegenständlichkeit blindlings, d.h. auf Treu und
Glauben, hinnehmen. Dieses Substrat soll in der Psychologie gelten, bleibt aber
gleichwohl ein ihr externer Tatbestand. Die Psychologie bleibt in der äußerli
chen Reflexion stecken. Sie behält für sich im »Menschen« ihren geheimen ex-
tramundanen Gott: extramundan (in einem methodischen, nicht metaphysischen
Sinn), weil er außerhalb des von der Psychologie konstituierten Mundus seinen
Ort hat. Der »Mensch« in der Psychologie ist ein Stück Mythologie oder Ideolo
gie. Er ist der berüchtigte Schwarze Kasten (black box) der Psychologie, in den
man als Psychologe bei Strafe des Verlusts der Wissenschaftsehre nicht hinein
blicken darf.
Das gilt überhaupt für den anthropologischen Begriff des Menschen. Hei
degger sagt: »Anthropologie ist jene Deutung des Menschen, die im Grunde
schon weiß, was der Mensch ist und daher nicht fragen kann, wer er sei. Denn
mit dieser Frage müßte sie sich selbst als erschüttert und überwunden bekennen.
Wie soll dies der Anthropologie zugemutet werden, wo sie doch eigens und nur
die nachträgliche Sicherung der Selbstsicherheit des Subjectum zu leisten
hat?«27 Von dieser Einsicht her läßt sich auch die Frage stellen, warum die Na
turwissenschaften einerseits es vermocht haben, sich in ihre jeweiligen Grund-
metaphem rückhaltlos hineinfallen zu lassen, wodurch sie in den sicheren Gang
der Wissenschaft gekommen sind, während es die Psychologie andererseits sy
stematisch vermieden hat, sich auf ihre Grundmetapher einzulassen, und zwar
gerade und umso mehr dann, wenn es ihr um strenge Wissenschaftlichkeit ging.
Wamm ist es möglich gewesen, daß kluge, mit allen Wassern der Wissen
schaftstheorie gewaschene Psychologen eine Psychologie konzipieren konnten,
die ausdrücklich aus der Grundmetapher der Psychologie herausgesetzt sein
sollte, wie ein Fisch aus dem Wasser: eine »Psychologie ohne Seele«, eine Psy
chologie als Wissenschaft vom »Verhalten des Organismus« oder auch von dem
Innenleben des »Menschen«? Das ist so offensichtlich schizophren im Alltags
sinn des Wortes, daß man es nicht für möglich halten würde. Und doch ist es
nicht nur möglich, sondern wirklich. Es mußte also notwendig sein.
Wie wenig das Festhalten an dem Menschen als Substrat der Psychologie
auf der Höhe der Zeit ist, nämlich auf der Höhe des in den Institutionen der ge
sellschaftlichen Wirklichkeit bereits inkarnierten und gegenständlich sichtbar
gewordenen objektiven Bewußtseinsstufe, wird an der Logik des Fernsehens
deutlich. Wir sind alle von Femsehwellen allseits umgeben. Der Femsehbild-
schirm ist nur der gleichgültige Ort, wo sie zufällig für uns sichtbar werden.
Aber gleichzeitig werden sie auch an Millionen anderen Bildschirmen anderswo
sichtbar. Damit ist die Logik der Einzeldinge, die hinter der »anthropologischen
Substrat-Psychologie« steht, als obsolet vorgeführt. In der Psychologie noch von
Persönlichkeiten (Individuen) als Substrat des Seelenlebens auszugehen, ist das
Mißverständnis, das die Fernsehbilder als Selbstausdruck des individuellen
Fernsehapparates ansehen würde. Die Bilder redeten dann über die inneren Pro
bleme, Gedanken und Gefühle des Fernsehapparats. Verrückt. Aber so verrückt
ist die Konsultationszimmer-Psychologie. Ich sage: die Seele spricht über sich
selbst, und »das Phantasiebild hat alles in sich, dessen es bedarf« (Jung), ganz
ähnlich wie Fernsehbilder sich selbst ausdrücken und die Femsehwellen sichtbar
werden lassen. Die Differenzen zwischen dem Seelenleben verschiedener
Menschen kann verdeutlicht werden durch die Analogie der Differenzen, die
28 Vgl. z.B. folgende Äußerung: »... anstelle von Psychologie die Anwendung psychologischer Me
thoden ...« (Briefe II, S. 163, an Dorothy Thomson, 23. IX. 49). Siehe auch unsere obigen Aus
führungen über die Differenz von Psychologie und Psychologie im Abschnitt über »Das Paradig
ma«.
»dem Inneren«. Denn alle Forschung über das Innere hat sich immer schon aus
der immanenten Reflexion hinausgesetzt und sich in der äußerlichen Reflexion
etabliert. Nur für das von außen Blicken gibt es das Innere, welches immer das
Innere von einem Substrat, von einem stabilen Etwas ist.
Damit sind wir in der Lage, auch die zweite Hälfte der Antwort (und da
mit zugleich die ganze Antwort) auf die Frage nach der Notwendigkeit des Au-
ßersichseins der Psychologie zu geben. Dafür greifen wir auf Heideggers Aussa
ge zurück, daß die Anthropologie doch eigens und nur die nachträgliche Siche
rang der Selbstsicherheit des Subjectum zu leisten habe. Die anthropologisch
begründete Psychologie dient der Abwehr der Bodenlosigkeit ihrer Grandmeta
pher, der Abgründigkeit und inneren Unendlichkeit jener black box, die Seele
heißt. Es darf einfach nicht wahr sein, daß Psychologie keinen festen Boden hat.
Das würde der ganzen herrschenden Metaphysik (die aber natürlich vermeint,
keine Metaphysik zu sein) den Garaus machen. Und da es nun doch wahr ist,
muß man der Psychologie wenigstens mit einem methodischen Trick einen sta
bilen Grund von außen beschaffen. Es braucht einen Rettungsanker, an dem man
sich halten kann, eine seiende Grundlage (obwohl wissenschaftstheoretisch na
türlich klar ist, daß es keine von außerhalb des eigenen Gebietes stammenden
Annahmen geben darf, die nicht innerhalb dieses Fachgebietes und mit den aus
ihm entwickelten Methoden kritisch reflektiert werden können).
Das Motiv für die Setzung eines unerschütterlich festen Fundamentes
oder eines realen Substrats ist das Verlangen des natürlichen oder Alltagsbe
wußtseins nach seiner Selbsterhaltung. Es möchte nicht abstürzen müssen in die
Psychologie oder immanente Reflexion, nicht einem grundstürzenden Perspek
tivwechsel oder Paradigmenwechsel ausgesetzt sein. Es will unbedingt vor der
Psychologie als Außebung des gewöhnlichen Inderweltseins bewahrt bleiben.
Daß es den Menschen als Substrat des Psychischen gibt, garantiert, daß im Ent
scheidenden alles beim alten bleiben darf. Die Anthropologie stellt in dem rea
len Menschen als Substrat dem Bewußtsein das Bild seiner (des Bewußtseins)
eigenen Unerschütterlichkeit vor Augen. Darin liegt die eigens besorgte und
nachträgliche Sicherung der Selbstsicherheit des Subjectum.
Jetzt kann es zwar immer noch Entwicklungen oder gar sogenannte
Wandlungen geben —aber immer nur als wesenhaft akzidentelle an oder in einer
wesenhaft unberührt bleibenden Substanz. Genau dieses Verhältnis ist mit dem
Bild des Schwarzen Kastens ausgesprochen. Von der Seele als einer »autono
men« Wirklichkeit kann nicht mehr ernsthaft die Rede sein. Das Seelische ist in
der anthropologisch gegründeten Psychologie logisch längst zum Epiphänomen,
zu etwas Sekundärem reduziert. Wenn dann von Psychologen die Rede Jungs
von der »autonomen« oder »objektiven« Wirklichkeit der Seele trotzdem über
nommen wird, wird diese Rede zur Farce.
Die subjektstufige Deutung gewährleistet nach dem über äußerliche und
immanente Reflexion Gesagten noch lange nicht, daß die Deutung wahrhaft psy-
chologisch sei. Wenn Blaubart z.B. als innere Möglichkeit genommen wird
(»wir alle haben unsere Frauenleichen im Keller«, »eine destruktiv gewordene
eigene Männlichkeit der Frau«), ist im Grande und gerade nur das nach wie vor
äußerliche Verstehen verinnerlicht, der biologisch-faktische Geschlechtergegen
satz nur introjiziert worden, ohne daß das Verstehen in ein wahrhaft seelisches
verwandelt worden wäre. Der Gesichtspunkt bleibt immer noch der von »den
Männern« und »den Frauen« her (beides anthropologisch).
Wenn der Animus als Blaubart, wie von Franz sagte, vom Leben wegzieht
und mit ghostlands zu tun hat, dann ist das Festhalten an einem Substrat für die
Psychologie ein Zeichen für die Abwehr des Animus.
Die Logik eines die Psychologie von außen begründenden stabilen Bo
dens, der eben wegen seines Außerhalbseins für die psychologische Forschung
imerreichbar bleibt, kommt in größter Klarheit bei Freud zum Ausdruck. Freud
glaubte (in seiner Reflexion über die endliche und die unendliche Analyse), mit
bestimmten auf Biologisches verweisenden Themen, die uns hier nicht näher in
teressieren, »durch alle psychologische Schichtung hindurch zum gewachsenen
Fels< durchgedrungen und so am Ende der Tätigkeit« zu sein. »Das muß wohl so
sein, denn für das Psychische spielt das Biologische wirklich die Rolle des un
terliegenden gewachsenen Felsens.« 29 Mit diesem Bild gibt sich die Psycholo
gie, die außer sich ist, selbst zu erkennen. Da ist der gewachsene Fels, die seien
de Grundlage. Als Grundlage ist er »unterliegend«, der Psychologie selbst vor
aus liegend, weswegen dann, wenn man sich bis an ihn vorgearbeitet hat, die
psychologische Tätigkeit unweigerlich an ihr Ende kommt. Hier stößt sie an ihre
Grenze, die sie schweigend respektieren muß, und jenseits von ihr liegt das, was
für sie grundsätzlich unerreichbar ist, aber gleichzeitig mit Allmacht das, was in
nerhalb des Psychischen geschieht, bestimmt. Es ist offensichtlich, daß sich in
dieser Gestalt des Biologischen als Grand des Psychischen der (freilich materia
listisch gewordene) Gott der klassischen Substanzmetaphysik verbirgt, ein ver
borgener Gott, der als Schöpfer und Erhalter der Welt grundsätzlich außerhalb
und über der Welt stand und für den Menschen als das schlechterdings Uner-
forschliche nur im Glauben zugänglich war. Innerhalb der Psychologie kann ich
an das Biologische wie genauso an den »Menschen« auch nur »glauben«, da ich
in ihr eben nichts von ihnen wissen kann, weil sie methodisch als unerreichbar
außerhalb der Psychologie anzusiedeln gesetzt sind. An sie zu glauben ist psy
chologischer Fundamentalismus, und als psychologischer ist dieser wohl auch
das psychologische »Fundament« des heute auf vielen Lebensgebieten (Reli
gion, Moral, Politik) überall in der Welt grassierenden Fundamentalismus.
Freud hat die psychoanalytische Grundregel als für die Therapie unum
stößliche Regel aufgestellt. Er erkannte: »Es ist sehr merkwürdig, daß die ganze
29 Sigmund Freud, Die endliche und die unendliche Analyse, Studienausgabe, Ergänzungsband,
Frankfurt (S. Fischer) 1975, S. 392.
Aufgabe [der Analyse] unlösbar wird, sowie man die Reserve an einer einzigen
Stelle gestattet hat. Aber man bedenke, wenn bei uns ein Asylrecht, zum Bei
spiel für einen einzigen Platz in der Stadt, bestände, wie lange es brauchen wür
de, bis alles Gesindel der Stadt auf diesem Platze zusammenträfe.« 30 Sind nun
aber nicht der gewachsene Fels des Biologischen sowie allgemein »der Mensch«
als Substratgegenständlichkeit in der Theorie genau das, was Freud für die Pra
xis versagt hat: die nicht nur gestattete, sondern systematisch festgeschriebene
Reserve, der Asylplatz, auf dem sich alles »Gesindel«, nämlich allerlei unge
prüfte und (weil durch das Asyl geschützt) unüberprüfbare weltanschauliche
Voraussetzungen, sammeln können? So wie die Reserve in der Therapie nicht
gestattet werden kann, weil dann die Aufgabe der Analyse unlösbar wird, so ist
es auch einfach aus wissenschaftstheoretischen Gründen unhaltbar, wenn der
Grand der Psychologie aus ihr herausgesetzt wird.
Die Psychologie muß ihren Grund in sich haben, im Bereich ihrer eigenen
Zuständigkeit, weil diese Innerlichkeit einfach zum Begriff ihrer Grandmeta
pher, zum Begriff der »Seele« gehört, im Unterschied zur Grandmetapher der
Physik, zum Begriff der physikalischen Natur. Wird der Grand (und damit »die
Realität«) jedoch in sie (in das »Phantasiebild«) hereingelassen, dann wird er
zwangsläufig zum Abgrund, zur Bodenlosigkeit. Man kann nicht darauf stehen,
man gerät ins Schwimmen. Denn Fels kann der Grund nur sein, wenn er hinaus
komplementiert wurde: das Felssein des Grandes liegt einzig darin, daß durch
die Hinaussetzung des inneren (Ab-) Grundes der Phantasiebilder aus ihnen hin
aus in der Gestalt der Idee des Menschen oder der Biologie (des Organismus)
für die als Wissenschaft konzipierte Psychologie eine methodische Grenze ge
setzt wurde, die sie nicht überschreiten darf; wegen dieses systematischen Hin
ausgesetzseins des Grundes stößt sich die verwissenschaftlichte Psychologie
notwendig an dem nun außer ihr liegenden Grund als an ihrer Grenze wie an ei
ner Betonmauer. Das erzeugt das Felssein des Grundes. Der gewachsene Fels
bedeutet aber natürlich nicht, daß das Biologische oder das Anthropologische
tatsächlich so etwas wie ein Fels oder eine Betonmauer (als Vorhandenes) wäre:
daß es so erscheint, verdankt sich nur der Tatsache, daß es methodisch gesetzt
wurde, draußen und so absolut unerreichbar zu sein.
Die Physik hat jedoch dieses Problem nicht, nicht etwa, weil bei ihr der
Grund nicht aus den Phantasiebildem, mit denen sie arbeitet, herausgesetzt wä
re, sondern genau umgekehrt, weil ihre Grandmetapher das Herausgesetztsein
des Grundes vorschreibt und immer schon vollzogen hat, so daß dieser sie mit
methodischer Notwendigkeit schlechterdings nichts mehr angeht. Er ist einfach
kein Thema für sie; die Frage nach ihm, z.B. in der Gestalt der Frage nach Gott
als Grund der Natur, wäre unwissenschaftlich, »irrational«. Und so kann sie sich
30 Sigmund Freud, Zur Einleitung der Behandlung, Studienausgabe, Ergänzungsbd., Frankfurt (S.
Fischer) 1975, S. 195, Arun.
an ihm auch nicht wie an einer Betonmauer stoßen. Sie hat diese Frage immer
schon abgetan und hinter sich, so daß sie auf dem, was sie hinter sich hat, als auf
einem sicheren Fundament stehen kann, ohne zu wissen und wissen zu müssen,
ja wissen zu dürfen, worauf sie steht und daß sie darauf steht. Die Gewißheit ih
rer Erkenntnisse beruht gerade auf diesem nicht Wissen, auf der unerbittlichen
Strenge, mit der die Frage nach ihrem Grund oder dem Grand ihrer Phantasien
und Begriffe a priori als nicht stellbar ausgeschieden und hinter sich gebracht
ist.
Hinaussetzung der Bodenlosigkeit der Seele aus ihr selbst Die herr
schende Psychologie ist außer sich, von ihr selbst entfremdet. Unsere Antwort
auf die Frage nach der Notwendigkeit dafür war sozusagen der »horror vacui«,
die Angst vor der Bodenlosigkeit der Psychologie. Diese Antwort ist jedoch nur
vorläufig. Sie rekurriert selber noch auf den Menschen als das Subjectum, näm
lich auf seine Angstgefühle. Es gilt aber, die Notwendigkeit auch aus der Seele
selber zu begreifen. Dies bedeutet, die Angst als von der Seele gesetzt zu verste
hen. Es ist ja nicht selbstverständlich, vor der Bodenlosigkeit Angst zu haben.
Wenn wir diese Angst hätten, von Natur aus haben müßten, dann könnten wir
alle nicht einschlafen, weil das Einschlafen das Fallen in die Bodenlosigkeit der
Nacht, in den Schwarzen Kasten der Seele ist (to fall asleep). In der Regel aber
macht dies dem Menschen keine Angst, sondern eher sogar Lust. Auch die Men
schen früherer Zeiten, die unbekümmert Mythologie und Alchemie ersonnen,
hatten keine Angst vor der darin liegenden Bodenlosigkeit. Sie lebten, insofern
sie im Mythos und Ritual lebten, eo ipso auch in der Bodenlosigkeit, weswegen
wir heute Mythologie und Alchemie mit Recht als frühe (ansichseiende) Formen
von Psychologie verstehen können. Denn das, was die Bodenlosigkeit der Seele
artikuliert, gibt den Logos der Seele (Psycho-logie). Erst in neuerer Zeit entsteht
Angst vor der Haltlosigkeit. Daß die Haltlosigkeit unerträglich und unzumutbar
sei, ist ein Gefühl, das von der Seele für ihre Zwecke gleichsam künstlich er
zeugt wird. Es verdankt sich dem Animus.
Es gehört zu den Zwecken der Seele als Syzygie, daß sich der Animus in
ihr gegen die pieromatische Harmonie innerhalb der Syzygie wendet. Als der
Töter, als der Geist der Negation, zielt er auf Trennung. Er will die Seele von ihr
selbst entfremden und ihr ermöglichen, sich von außen zu reflektieren. Ihr in
sich Eingesponnensein soll beendet werden. Die projizierende und substantiali-
sierende Anima greift jedoch, da Anima und Animus unweigerlich Zusammen
wirken, diesen Impuls ihres Gegenspielers auf. Sie bemächtigt sich seiner. Der
Animus in seiner ersten Unmittelbarkeit steht immer noch unter dem Bann der
Anima. Sie verleiht dem Hinaussetzen aus der Syzygie, das in Wahrheit ein Hin
aussetzen immer nur innerhalb der Syzygie aus der Syzygie hinaus ist, den Ein
druck der Buchstäblichkeit des Draußen. Sie gibt dem »Hinaus« oder »Drau
ßen« Substantialität, die Solidität des Faktischen. Jetzt sieht es so aus, als ob da
tatsächlich eine Faktenaußenwelt wäre und ein selbstidentisches Ich, das als
»das Ich« buchstäblich da draußen, dem Imaginalen (Unbewußten) einerseits
wie der Welt andererseits gegenüberstünde und nichts als gegenüber. Das heißt,
die Anima agiert das animushafte Hinaussetzen. Sie macht es konkretistisch und
veranlaßt die Seele, sich immer mehr in das Hinausprojizierte einzuspinnen, im
mer mehr von sich in das (so erst entstandene) Äußere zu investieren. Der Ort
des Lebens der Seele wird aus ihr selbst hinausverlagert in das (oder als das) so
erst entstehende Außen.
Es ist die Anima, die den Horror vacui hat und die die Angst vor dem
nichtseienden, rein logischen Leben der Syzygie erzeugt (so wie die Anima auf
eine leere Wand sofort irgendwelche Gestalten oder Bilder projiziert). Diese
Angst entspricht keineswegs dem Animus, der das Heraussetzen eigentlich ur
sprünglich betreibt. Denn er ist immer auch Todesdämon, Geist, Gespenst, dem
Sinnlichen und Substantiellen abhold. Er ist gerade in der Abwesenheit und Un
anschaulichkeit in seinem Element. Aber er ist dennoch auf diese von der Anima
erzeugte Angst vor der Leere angewiesen. Warum? Ohne sie bliebe das Heraus
setzen aus der Syzygie seinerseits immer noch eingesponnen in das immanente,
gleichsam träumende logische Leben der Syzygie. Es hätte keine Schärfe, ver
möchte keinen radikalen Einschnitt oder Brach zu bewirken, so wenig wie der
Tod oder wie Naturkatastrophen im Strom des natürlichen Geschehens einen
wirklichen Unterschied machen. In der Animawelt, der Welt der ruchlosen Na
tur, sind Geburt und Tod, Wachsen und Welken, Sonne und Regen, Stillstand
und Katastrophe einerlei: nur je andere Naturereignisse. Erst mit der abgründi
gen Angst vor der Abgründigkeit der Seele und mit dem buchstäblich genomme
nen Draußen als Positivität treibt sich die Seele selber wirklich (wirksam) aus ihr
selbst hinaus. Sie kommt so erst in eine merkliche Gegenstellung zu ihr selbst
hinein und kann sich selbst von außen gegenübertreten.
Die animahafte Täuschung ist also nötig. Die Seele schafft sich selbst den
Schein eines Außerhalb der Syzygie oder Seele.
Das kausal begründende Denken gerät bei konsequenter Fortsetzung be
kanntlich in einen unendlichen Regreß. Die Unerträglichkeit der Unabschließ-
baikeit des Begründungsvorgangs kann dadurch beendet werden, daß man die
Unendlichkeit des Regresses aus dem Denken hinaus und ihm voraus als die
(seiende) Erste Ursache setzt: als das Unendliche, Unbedingte: die causa sui,
den Ersten Beweger. Genauso hat sich die Seele aus der Haltlosigkeit und Ab
gründigkeit ihres logischen Lebens diese ihre Abgründigkeit aus ihr hinaus und
sich voraus als ihren festen Grund gesetzt, auf dem sie selbst aufrahe. Dieser
Grund ist rein positiv, nicht weil er tatsächlich (»objektiv«) positiv wäre, son
dern nur deswegen, weil er per definitionem aus der Negativität des syzygischen
Lebens hinausgesetzt ist, d.h. gesetzt ist, von dem Zusammenhang mit dem pul
sierenden logischen Leben in seiner Bodenlosigkeit abgeschnitten zu sein. So
entsteht die »Realität«, die undurchdringliche Substanz, die Faktizität, die reale
Außenwelt. Wir sehen: Die Außenwelt ist generiert. Sie ist ein Kunstprodukt.
Da ist nicht wirklich ein Außen außerhalb der Syzygie. Sondern die Fiktion ei
nes Außen entsteht innerhalb der Syzygie dadurch, daß die Seele in ihrem logi
schen Leben die Haltlosigkeit dieses ihres Lebens diesem selbst (diesem ihrem
logischen Leben, das eigentlich alle Wirklichkeit ist) als Voraussetzung voraus
setzt, und daß sie sich in die so gesetzte Fiktion eingesponnen hat, so daß diese
mit sekundärem Leben erfüllt wurde. Die Hinaussetzung erfolgte ins »Leere«
hinein, in den »luftleeren Raum«, das Nichts, weil es in Wahrheit ja gar kein
Außerhalb der Syzygie gibt. Insofern jedoch die Seele sich in ihr fiktives, aber
felsenfest geglaubtes Außerhalb eingesponnen hat, ist auch der Mensch, in dem
diese Seele wirksam ist, aus dem Leben der Seele heraus und diesem voraus ge
setzt in das fiktive Nichts. Dieses ist der »reale, empirische Mensch«, der
Mensch der Anthropologie. Dieser Mensch ist wesenhaft »the man who came in
from the cold«, ein Fremder in der Welt, die ihrerseits, als in dem gesetzten
Nichts angesiedelte, eine nihilistische ist.
Der »luftleere Raum« »da draußen« ist freilich innerhalb der Syzygie ge
setzter luftleerer Raum und innerhalb der Syzygie gesetztes Draußen. Und er ist
nichts anderes als die positiv gesetzte Bodenlosigkeit selbst. Aber daß er nur in
nerhalb ist, wird nicht durchschaut, weil er ja innerhalb der Syzygie gerade ge
setzt ist, außerhalb der Syzygie zu sein. Indem die Seele als Syzygie ihre Ab-
gründigkeit setzt, außerhalb ihrer und deswegen fester Grund zu sein, schafft sie
sich zwei Möglichkeiten: sie kann den Akzent darauf legen, daß der Grund als
außerhalb seiend gesetzt ist. Dann fällt sie sozusagen auf ihre Setzung herein.
Sie spinnt sich tiefer und tiefer in eine Illusion, die sie sich gemacht hat, ein. Das
ist die Situation der »Physik« (der Naturwissenschaften und des heute in das Le
bensgefühl des Mannes auf der Straße abgesunkenen naturwissenschaftlichen
Weltbildes) - aber auch der »Psychologie, die außer sich ist« (die ja dasselbe
Steckenpferd reitet wie der Mann auf der Straße oder wie dessen Metaphysik).
Daß dies eine unverzichtbare Stufe ist, wurde schon ausgeführt.
Sie kann aber auch den Ton darauf legen, daß der Grund (als außerhalb
seiend) gerade nur gesetzt ist. Dann »erinnert« sie ihr eigenes Tun. Das ist der
Anfang der »Psychologie«.
Der Mensch war wie gesagt nicht immer »der reale, empirische Mensch«,
der als ein Fremder in der Welt der Welt gegenübersteht. Zu Zeiten der Anima
stufe der Syzygie hatte die Seele sich selbst und damit die Welt noch nicht aus
sich hinausimaginiert. Die ganze Welt einschließlich des Menschen war einbe
halten in der Flüssigkeit des syzygischen Lebens der Seele und deswegen von
seiner Geistigkeit durchpulst. Alles war »innen« (was natürlich gerade nicht, im
Sinn der personalistischen Psychologie, heißt: im Innern des schon positivierten,
also aus der Seele herausgesetzten Menschen, etwa in seinem »Schädel«). Es
hatte noch teil an der Negativität des Geistes und seiner Unendlichkeit. Dies ist
der Zustand des Mythos und der rituellen Kulturen, der Zustand, den wir den
sympathetischen Weltzustand nennen. Es ist auch die Befindlichkeit, die Levy-
Bruhl unter dem Titel »participation mystique« angesprochen hat, worunter eben
kein ontisch-emotionaler, wie das meist geschieht, sondern ein logischer Zu
stand verstanden werden muß. So wie wir heute noch immer in den Schlaf »fal
len«, so hatte sich die Seele auf dieser Stufe in das, was wir heute den »Schwar
zen Kasten« nennen, fallen lassen. Nur wenn Gott, Welt und Mensch in diesem
»Schwarzen Kasten« ihren logischen Ort haben, sind sie nicht positiviert und
kann der Mensch in dem, was er sich gegenüber in der Welt findet, sich selbst
begegnen. Nur wenn die Welt und der Mensch innerhalb der Syzygie ihren logi
schen Ort haben, kann erkennend und handelnd Wirklichkeit - als beseelte
Wirklichkeit und Wirklichkeit des Menschen - wirklich erreicht werden. Aber
wenn Gott, Welt und Mensch im Schwarzen Kasten ihren logischen Ort haben,
dann ist der Schwarze Kasten nicht Schwarzer Kasten, sondern »Mythos«, »Ri
tual«.
In der positivierten Welt dagegen ist Wirklichkeit nicht zu erreichen. In
ihr Wirklichkeit erreichen zu wollen ist, wie wenn jemand mit ausgestrecktem
Arm eine Fackel vor sich hielte und dann im Schneilauf sich ihr zu nähern such
te. Mit dieser Haltung macht sich die Seele das Erstrebte auf ewig unerreichbar,
weil sie es selbst fortwährend von sich weg hält (aus sich hinausprojiziert, ob
wohl sie in Wahrheit doch schon längst bei ihm ist und dieses der Projektion
zum Trotz auch weiterhin bei ihr bleibt).
Wir sind von dem Satz ausgegangen, daß der Animus als Blaubart die
Frau aus dem Leben herausziehe, und haben ihm entgegengesetzt, daß er die
Anima aus dem Leben herausziehe. Wir haben auch den Einwand des gesunden
Menschenverstandes gegen die Konzeption der Psychologie im Sinn des Spre
chens oder des Spiels der Seele mit sich selbst vernommen und sind bei unserer
Erörterung inzwischen zu einem Verständnis des syzygischen Spiels der Seele
mit ihr selbst gelangt, das uns zeigt, daß mit jener Konzeption durchaus nicht die
wirklichen Menschen aus der Betrachtung herausfallen. Im Gegenteil. Nur in ihr
besteht eine Chance, daß überhaupt die Rede vom Menschen, von dem Mann
und der Frau, die wirklichen Menschen trifft. Je mehr man die logische Bewe
gung in den Patienten (oder allgemeiner: in die reale Person) hineinstopft, desto
mehr veräußerlicht und positiviert man sie. Statt sich in die Positivität zu ver
hohlen, kann man aber auch genau umgekehrt von dem sich selbst genügenden
Spiel der Seele mit ihr selbst berührt und für dieses, in dieses eingenommen
werden. Statt zu sagen: der Ort der Syzygie ist das Innere des Menschen (sein
inneres Erleben), kann man auch sagen: der Ort der Syzygie ist die Psychologie
selbst, und statt der Syzygie in uns ihren Ort anzuweisen, können wir auch be
greifen, daß wir und unser ganzes Leben in der Syzygie, als welche die Psycho
logie ist, ihren Ort haben. Dann kann man sich auch bewußt in dem sich selbst
genügenden Reden der Seele mit sich selbst ansiedeln und ihm die Führung
überlassen. Dann wird auch dem wirklich gelebten, wirklich erlebten Leben Ge
nüge getan. Dieses kann in diesem Eingenommensein für die syzygische Bewe
gung der Seele zu sich selbst kommen, seine Offenbarkeit (Wahrheit) und Erfül
lung finden.
Genau dies ist auch, was in den polytheistischen Religionen und in der
Alchemie geschah. Sie redeten nicht direkt vom Menschen. Sie versuchten ihn
und seine Situation nicht unmittelbar zu erfassen. Die Alchemie sprach vom
Menschen und von der Seele, indem sie nicht vom Menschen, sondern von che
mischen Stoffen und Prozessen sprach. Die polytheistischen Religionen sahen
das wirkliche Dasein auf der Erde vom sich selbst genügenden Spiel der Götter
getragen. Der Baum war nicht einfach faktischer Baum, sondern auch Dryade.
Mein Verliebtsein, das war nicht »meine« Emotion, es war Aphrodite. Und gera
de wegen dieser Indirektheit vermochten sie den Menschen und seine Not in sei
ner Wirklichkeit zu erreichen. »Der Herrscher, dem das Orakel in Delphi gehört,
verkündet nichts und verbirgt nichts, sondern er deutet nur an« (Heraklit, Fr.
93). In dem Absehen von der Unmittelbarkeit des eigenen Daseins und in dem
Begriffenwerden von dem sich selbst genügenden Reden der Seele mit ihr selbst
findet der Mensch sich selbst, während er dann, wenn er nur bei sich bleiben
will, sich selbst verpaßt.
Die ganze Alternative von »Im Traum redet die Seele von sich selbst«
oder »Der Traum redet über den Träumer« ist schon falsch, wenn sie nämlich ei
ne echte Alternative im Sinn eines Entweder-Oder sein soll. Es geht demgegen
über dämm, eine ganz andere Grundstellung zu bekommen, wo der Traum gera
de und nur dann von m s (als wirklichen Menschen) und zu uns spricht, wenn er
von sich selbst, von der Seele selbst, z.B. von Tieren und Göttern, Steinen und
Stoffen und nicht von uns spricht.
Die Vorstellung, daß die Syzygie, die ich in der Tat als ein sich selbst ge
nügendes Spiel ansehe, ein von der Wirklichkeit abgetrenntes Spiel sei, verdankt
sich dem Festhalten an dem durch das Sich-Hinausdenken der Seele aus ihr
selbst geschaffenen Spaltungszustand. Man glaubt dann - der Setzung der Seele
aufsitzend - tatsächlich, außerhalb des schwarzen Kastens zu sein und außerhalb
seiner die Wirklichkeit zu finden, während innerhalb seiner nur das Nichtige, Ir
reale sei. Aber in dieser Sicht spiegelt sich nur die Abgespaltenheit zusammen
mit dem Bestehen auf Positivität und dem Verbot, sich in das »Nichtige« des lo
gischen Lebens der Seele fallen zu lassen.
Die Hinaussetzung der M änner und Frauen aus der Negativität der
Seele in die Positivität der >Beziehungskiste<. Es gibt eine frühe Theorie der
Archetypen bei Jung, die von der Idee der Erfahrung ausgeht, die der Mensch an
der Realität gemacht habe. Die Anima z.B. soll »ein >Typus< (>Archetypus<) von
allen Erfahrungen der Ahnenreihe am weiblichen Wesen, ein Niederschlag aller
Eindrücke vom Weibe« sein.31 Das läßt sich so nicht halten. Die Ahnenreihe
konnte vor dem Wirken der Syzygie (und damit vor dem Wechselspiel von Ani
34 Andrew Samuels, The Plural Psyche: Personality, Morality and the Father, London und New
York (Routledge) 1989, S. 17.
35 Samuels wehrt sich vehement gegen den Vorwurf der Nivellierung. Er wolle durchaus nicht die
Differenzen zwischen den verschiedenen Schulen übergehen. Das kann ihm zugestanden werden.
Er stellt in der Tat die Differenzen zwischen den verschiedenen Richtung deutlich heraus. Aber
da er nur inhaltliche Differenzen behandelt und insofern, als er sie dann doch »pluralistisch« ver
rechnet, zeigt sich, daß sein Ansatz in einem fundamentaleren Sinn differenzlos ist: der Pluralis
mus kennt nicht den logischen Unterschied zwischen grundlegend verschiedenen Reflexionsstu
fen, auf denen die Schulrichtungen angesiedelt sind. Samuels behandelt sie alle (stillschweigend,
weil dieser Unterschied nicht in seinem Horizont liegt) als auf derselben logischen Ebene ste
hend. So ist sein Pluralismus in der Tat die Nivellierung, nur in einem tieferen Sinn. Ich meine, er
ist tödlich.
common process«36) bestimmt. So ganz entsprechend sagt Samuels in der refe
rierten Stelle im Grunde, daß Hillman offene Türen einrenne: die Forderung, die
in Hillmans Vorwurf an die Adresse der Entwicklungspsychologie liegt, ist nach
Samuels von dieser längst erfüllt. Streiten kann man sich höchstens noch über
die Details. Das ist die Heilsbotschaft des Pluralismus.
Von unserem Zusammenhang her läßt sich sagen, daß die entwicklungs
psychologische Fixierung auf Kleinkind und Eltern ein Paradebeispiel für den
Vorgang ist, in dem die Seele ihre eigene Bodenlosigkeit aus sich hinausproji
ziert und sich dann in die so erzeugte Positivität einspinnt. Sie stellt diese ihre
Bodenlosigkeit selbst aus ihr hinaus, so daß sie qua empirisch beobachtbares
Kind als stabiles Fundament erscheint. Das seelische Geschehen wird aus der
Seele hinausgeschafft und so zu einer »äußeren Faktizität« gemacht.
Hier ist es nun entscheidend, nicht zu sagen: das aus der Seele Herausge
setzte wird auf das empirische Kind projiziert und in dieses hineingestopft.
Denn das bedeutete, daß da zunächst das reale Kind wäre, das als Projektions
schirm dient (kraft der Projektionen aber nicht »real« gesehen werden kann),
und daß da zusätzlich innere Bilder oder Phantasien der Seele wären, die auf das
Kind projiziert würden. Das »reale Kind«, das Projektionsschirm wäre, gibt es
gar nicht. Es ist ein Konstrukt. Ganz allgemein gesagt: das Phänomen der Pro
jektion oder auch der Übertragung hat es nicht wirklich mit zweien zu tun, dem
als Projektionsschirm dienenden Realen hie und den inneren Bildern dort, oder
in einer anderen Sprache: mit dem Ding-an-sich hie und dem, wie dieses er
scheint, da. Sondern da ist nur eines, die Wirklichkeit der unmittelbaren Erfah
rung oder des Phänomens des so oder so erfahrenen Kindes. Es ist das Bewußt
sein oder die Seele, die (kraft des Animus) innerhalb dieses einen einzig Wirkli
chen eine Unterscheidung zwischen der »Phantasie von dem Kind« und dem
»Kind selbst« (quasi als Ding-an-sich) setzt. Dieses Kind selbst, auf das die Pro
jektion erfolgt sein soll, ist nicht wirklich vorhanden. Es verdankt sich nicht ei
ner Wahrnehmung oder einer Erkenntnis. Sondern es verdankt sich einem logi
schen (dann aber dazu noch hypostasierten) Unterscheidungsakt (also einer
Operation) der Seele, die ein und dasselbe, das wirklich erfahrene Kind, ein
mal als das Ding-an-sich vor aller Erfahrung und dann noch einmal als seine Er
scheinung oder unsere Erfahrung von ihm ansetzt.
Diese Unterscheidung zu machen, das nennen wir Bewußtsein. Das Be
wußtsein ist als dieses Unterscheiden. »Es ist in ihm [dem Bewußtsein] eines für
ein anderes, oder es hat überhaupt die Bestimmtheit des Moments des Wissens
[wir könnten auch sagen: des so oder so Erfahrenseins, der Erscheinung]; zu
gleich ist ihm dies andere nicht nur für es, sondern auch außer dieser Beziehung
36 Andrew Samuels, »Pluralism and the Post-Jungians: A Reply to Peter Bishop«, Spring 1988, S.
189-196.
oder an sich; das Moment der Wahrheit.«37 Aber, so müssen wir betonen, außer
dieser Beziehung ist dies andere gerade auch nur ihm, dem Bewußtsein selbst.
Das heißt, es ist nur in ihm (innerhalb seiner) gesetzt, außer ihm zu sein. Es ist
nicht »tatsächlich« außer ihm. Das ist die verkehrte Welt, als welche das Be
wußtsein ist.
Die Anima, die ja in das Unbewußte verführt, hat diese, seit wir Bewußt
sein sind, immer schon gemachte Unterscheidung unterbelichtet, so daß das er
fahrene Kind einfach das Kind ist, wie es wirklich, also als schlechthinnige Sub
stanz, ist. Innen und außen sind nicht eigens geschieden. Die Wirklichkeit ist
»sakramentalisch«, mit einem Male natürlich und psychisch (archetypisch, gött
lich). Die Unterscheidung ist wirksam, aber sie wird nicht durchschaut. Das war
die Anima-Stufe, und das ist auch heute noch der Charakter der unmittelbaren
Erfahrung. Das wirkliche Phänomen ist so verfaßt. Tritt nun der kritische Ani
mus erneut in Aktion, um die Anima aus ihrer Einbettung in ihr selbst zu brin
gen und damit dem Bewußtsein ein Bewußtsein von dem Bewußtsein selbst zu
geben, dann wird jene Unterscheidung ausdrücklich. Bei Kant tritt sie wie er
wähnt als die von Ding-an-sich und Erscheinung und in der Psychologie als Dif
ferenz von Projektion und Projektionsträger auf. Was für den Animus eigentlich
nur eine logische Unterscheidung innerhalb der Seele oder des Bewußtseins
selbst ist, wird, wenn es wiederum unter den Bann der Anima oder des vorstel
lenden Denkens gerät, buchstäblich genommen. Aus der logischen Unterschei
dung wird eine ontologische. Aus internen Momenten des Bewußtseins wird
jetzt der Gegensatz von innerem Bild und realem Seienden, das als Projektions-
schirm tatsächlich und buchstäblich außerhalb des Bewußtseins sein soll. Jetzt
erst kann gesagt werden: »die und die Phantasien werden auf das empirische
Kind projiziert; der Patient hat eine Mutterübertragung auf den Analytiker; die
Primitiven haben das archetypische Bild der Dryade auf den realen Baum proji
ziert; der psychische Inhalt >Mut< oder >Beherztheit< wurde früher auf das Kör
perorgan Herz projiziert.«
Die Vorstellung von der Projektion auf das reale Kind ist jedoch die Her
aussetzung des wirklichen Kindes aus der Seele / Psychologie in die positive
Außenwelt / »Physik«. Und diese Heraussetzung des Kindes in die Außenwelt
ist die Hineinsetzung seiner in den Schwarzen Kasten. Da ist eben nicht zuerst
(vor der Projektion) das von der Projektion freie empirische Kind, das dann
noch mit der Projektion befrachtet und von ihr in seiner wahren Wirklichkeit
verzerrt wird. Sondern dieses projektionsfreie, von der Seele des es Wahmeh-
menden noch unberührte, (im gnoseologischen Sinn) »reine« Kind ist eine Chi
märe, eine mythologische Idee. Es ist aus der bewußtseinsintemen logischen
Unterscheidung herausgeklaubt und dem Bewußtsein buchstäblich voraus ge-
37 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Theorie Werkausgabe, Frankfurt, Suhr-
kamp, Bd. 3,1970, S. 76f.
setzt worden als Ding-an-sich, das vor (unabhängig von) und nur außer der Be
ziehung, als welche das Bewußtsein ist, sein soll. Die Heraussetzung dient der
immer neuen Bestätigung oder auch immer neuen Erzeugung des Weltbildes der
»Physik«. Wenn die Psychologie von der Projektion a u f... redet, redet sie sich
selbst aus ihr selbst hinaus und in die neuzeitliche Metaphysik der Vorhanden-
heit oder die Physik hinein. Sie hat sich selbst von der psychologischen Betrach
tungsweise verabschiedet.
Wie müßten wir psychologisch sagen?: In der Entwicklungspsychologie
setzt (projiziert) die Seele das wirkliche (sichtbare, greifbare) Kind selbst,
das von Hause aus nicht positiv-faktisches ist, sondern als dieses wirkliche Kind
gerade seelisches Kind ist (nämlich ein Goldkind; ein Engel; ein Schatz; ein
Sonnenschein; ein Geschenk Gottes; vielleicht auch der wiedergeborene Ahne,
der ersehnte Stammhalter, noch ein durchzufüttemder Esser mehr usw.), logisch
aus sich hinaus, so daß es dadurch erst zum positivierten, empirisch
gegenständlich beobachtbaren Kind der Entwicklungspsychologie wird. Der Pa
tient mit der Mutterübertragung hat den wirklichen, da vor ihm sitzenden Ana
lytiker immer schon in den seelischen Topos der archetypischen oder persönli
chen Mutter hinüber getragen (das ist der eigentliche Sinn von griechisch meta-
phorä). Er projiziert nichts von innen nach draußen auf ihn. Sondern er weist
ihm innerhalb der Seele einen bestimmten logischen Ort an, und in dem Maße,
wie er das tut, wird auch umgekehrt der Analytiker zum Ort der »Mutter«. In
den alten Kulturen wurde der wirkliche Baum, der nicht rein innen, nicht rein
außen ist, innerhalb der Seele in den Mythos und in das Bild der Dryade einge
sponnen, nicht etwas Inneres auf den »realen« Baum »draußen«, den es ja gar
nicht gab, projiziert, und in einem Zug damit erhielt dann auch die Dryade ihren
Wohnsitz in dem Baum. Dem wirklichen Herzen wurde sein logischer Ort in
der Beherztheit gegeben, wie umgekehrt eodem actu der Beherztheit als logi
scher Ort dieses Herz, das noch nicht »somatisches« Herz war, zugewiesen wur
de.
Das Wirkliche ist immer die ursprüngliche Einheit von dem, was erst von
der Spaltung der Einheit her als die Zweiheit von projizierter Phantasie und
»Projektionsschirm« erscheint, so, daß beides gleichzeitig gegeben ist und man
nicht sagen kann, was früher und was später ist. Wenn projiziert wird, dann pro
jiziert sich folglich die Projektion zusammen mit den projizierten Bildern ihre
eigene »Kinoleinwand« immer selbst gleich mit, auf die sie erfolgt. Diese ist ihr
nicht als ihr voraus bestehende (also physikalisch vorgestellte) Realität gegeben.
Projiziert wird die unhintergehbare Einheit von Phantasie und »Projektions
schirm« als diese Einheit, und sie wird projiziert aus einem logischen Status
oder Topos der Seele in einen anderen. Als einbehalten in die Einheit ist der
Projektionsschirm oder das »Ding-an-sich« genauso sehr phantastisch wie die
Phantasie, die angeblich auf ihn projiziert wird. Darin, daß beide Seiten seelisch
oder »fiktiv« sind, liegt die Bodenlosigkeit. Aus der gleichursprünglichen Ein
heit macht die empirische Psychologie aber die Zweiheit von einem unerschüt
terlich festen Gegebenen, das außerpsychisch sein soll, auf der einen Seite und
dem darauf nur projizierten Phantasieanteil auf der anderen. Damit hat die Pro
jektion ein »Substrat« und ist die Sicherheit des Subjectum gewährleistet, die
Bodenlosigkeit abgeschafft. Der gesunde Menschenverstand ist gerettet. Denn
jetzt gibt es etwas, was, da es allem psychischen Erfahren vorausgesetzt ist, un-
hinterfragbares Fundament alles psychischen Erfahrens ist und gegen den Vor
wurf des bloß Imaginierten immun ist. Die Operation der Aufspaltung des mit
einem Mal Gegebenen (»Konstellierten«) der wirklichen Erfahrung in die Zwei
heit von »Kinoleinwand« und »Spielfilm« oder von empirischer Realität und
dem Irrealen oder Irrationalen ist stehendes Bild geworden in dem »Schwarzen
Kasten«.
Es ergibt sich demnach, daß die psychologische Theorie der Projektion
selber eine Projektion darstellt. Diese gängige Imagination von Projektion ist
nichts anderes als die vorzügliche Methode, mit der die Seele - nicht ihre Bo
denlosigkeit, sondern: die ganze Wirklichkeit oder die wirkliche Welt sowie die
Psychologie und den Psychologen selber innerhalb ihrer aus sich und ihrer Bo
denlosigkeit hinaus in ein (durch diese Imagination erst erstehendes) buchstäbli
ches, positives Außen hinaussetzt, womit sie sich aber gerade nur in den
Schwarzen Kasten als das von ihr selbst bereitgestellte neue Haus der Welt hin
einprojiziert. Warum tut sie das? Um zusammen mit dem fixen Gegensatz von
innen und außen die Metaphysik der »Physik« oder des Alltagsbewußtseins im
mer neu zu bestätigen: den Glauben an ein positives Fundament.
Jetzt hat sich die Seele einen Baum erzeugt, der seelenloser Baum ist und
auf den dann die Dryade oder Baumnymphe erst projiziert worden sein soll. Und
sie hat sich ein Herz erfunden, das ein bloßes Körperorgan ist, auf das aber in
frühen Zeiten Mut und Innigkeit projiziert worden sein sollen. Und sie hat jetzt
ein Kind vor sich, das bloß-empirisches Kind ist, auf das der Psychologe die
Phantasien der Seele projiziert. Das Kind ist nicht mehr in Wahrheit ein Kind
Gottes, sondern »in Wahrheit« ist es jetzt ein Exemplar der Spezies Homo sa
piens, ein menschlicher Organismus und dergleichen, in den dann, was völlig
absurd ist, in der Tat eine »Seele« von den Psychologen hineinprojiziert wird.
Jetzt ist nicht mehr das Kind in der Seele (im Mythos oder Goldgrund),
die Seele soll jetzt angeblich in dem Kind selbst sein. Deswegen ist auch die mi
nutiöse empirische Beobachtung des Kindes so wichtig, weil man nämlich jetzt
die Seele nur noch in ihm (und in den Erzählungen der Erwachsenen von ihrer
Kindheit) auffmden kann. Sie ist nicht mehr das Medium oder Element der
Menschenwelt, des Lebens, und nicht mehr das Medium der Psychologie selber.
Damit ist das wirkliche Kind selber zum Schwarzen Kasten gemacht worden. Es
ist, wie alles in der Welt, aus dem Goldgmnd der Seele vertrieben und in den
Schwarzen Kasten hineingesetzt worden, wo alles, was darin ist, selber den Cha
rakter des Schwarzen Kastens annimmt, ganz so, wie alles, was vor dem Gold
grund aufleuchtet, selber die Goldgrundnatur hat. Alle Forschung über »innere
Vorgänge« im Menschen hat sich immer schon aus dem Goldgmnd der Seele
und aus der Psychologie hinaus- und in die äußerliche Reflexion, in die »Phy
sik« hineingesetzt. Psychologie hat aber gerade die Aufgabe, nicht ein »Fach«
(das den »subjektiven« Aspekt der aufgefächerten positivierten Gesamtwirklich
keit erforscht) zu sein, sondern die Aufgabe, die Betrachtung von allem in der
Welt aus dem Standpunkt der immanenten Reflexion zu sein: aus dem Stand
punkt des auf allen Seiten von Seele Umgebenseins.
Der Schwarze Kasten, das haben wir gesehen, besitzt die Widersprüch
lichkeit, daß man gerade dann in ihm sitzt, wenn man sich außerhalb seiner
dünkt und meint, unmöglich in ihn hineinschauen zu können. Er ist die Verkeh
rung der verkehrten Welt, der unmenschliche und unpsychologische Versuch,
die Welt »normal«, »richtig«, nicht-verkehrt zu sehen.
Die gängig-psychologisch verstandene Projektion erfolgt immer schon im
Schwarzen Kasten und aus der ihm entsprechenden Erlebnisweise heraus. Man
geht von dem tatsächlichen Gegenüber von zwei fixen Größen aus. Es wird nach
dieser Konzeption immer schon Psychologisiertes (»Vorstellungen«, »Affekte«,
»Wünsche«) auf als längst draußen objektiv-real gegeben Verstandenes proji
ziert. Hier dagegen bei der logisch verstandenen Projektion wird z.B. das Kind
selbst als wirkliches projiziert! Und mit ihm zugleich die ganze Grundstellung
des Menschen. Die Seele bewegt sich selbst aus einem bestimmten logischen
Gefäß oder Haus, in dem sie sich selbst imaginiert, in ein anderes, indem sie das
Wirkliche aus dem einen in das andere übersetzt, so daß sich das ganze Sosein
der Wirklichkeit verändert. Wir könnten statt Gefäß und Haus auch sagen: logi
scher Status, logisches Verfaßtsein. Aber es ist nicht so, daß etwas Innerseeli
sches in eine imaginäre Außenwelt einträte. Vielmehr gibt es - so verrückt geht
es in der »verkehrten Welt« zu - die ganze Außenwelt nur in dem Haus der See
le für uns, nur innerhalb der Sprache, innerhalb des Mythos oder Goldgrundes
oder aber des Schwarzen Kastens. Und alle Projektion bewegt sich innerhalb
solcher logischer Behältnisse oder zwischen ihnen. Nie jedoch aus einem Be
hältnis hinaus auf ein Draußen. Aber weil die wirkliche Welt, ja sogar alle Wirk
lichkeit in dem Haus der Seele ist, konnten wir oben mit Recht die Idee eines
»schlechten« Idealismus zurückweisen, nach der die Wirklichkeit der Welt auf
Seelisches als Inneres (bloße subjektive Vorstellungen) reduziert würde.
Die Entwicklungspsychologie nistet sich (und so auch uns) mehr und
mehr ein in etwas, was draußen »an sich« sein soll (aber - undurchschauterma
ßen - gerade nur von ihr als »an sich« gesetzt wurde). Sie tut auf der Ebene der
psychologischen Theorie das, was im psychosomatisch Kranken auf der Ebene
des persönlichen Lebens geschieht: sie »somatisiert« ihre eigene logische Bewe
gung, übersetzt sie aus dem Seele-Sein in äußere Realität und Faktizität. Darauf
die Psychologie aufzubauen, wäre dasselbe, wie wenn man in der Therapie auf
Somatisierungen (auf die Übersetzung von seelisch erlebten Konflikten in die
Dumpfheit körperlicher Symptome) hinarbeiten würde. Je mehr die Entwick
lungspsychologie sich auf das Kind und die Mutter-Kind-Beziehung einschießt,
desto mehr Seele wird aus der Seele als Seele abgedrängt und in die so erst er
zeugte äußere Realität (in die Seele in ihrer Gestalt als verschlossener Schwarzer
Kasten) hineingestopft. Ob Beziehungskiste, ob Geschlechter-Machtkampf, ob
Kinderstube - es ist jedesmal die gleiche Selbstprojektion hinaus aus der logi
schen Bewegung der Seele in etwas, was faktisch gegeben sein soll. Insofern
auch das Sich-aus-sich-Hinausimaginieren zum syzygischen Leben der Seele ge
hört, ist es psychologisch legitim. Aber insofern es ein diesem Hinausimaginie-
ren Aufsitzen und es Agieren ist, ist es gänzlich ungeeignet, den Rahmen ausge
rechnet einer wirklichen Psychologie abzugeben. Gewiß, auch eine so konzipier
te Psychologie wäre immer noch »Psychologie«. Aber nur Psychologie in An
führungszeichen, d.h. uneigentliche Psychologie, Psychologie, die außer ihr ist
und mit sich im Streit liegt. Denn sie sucht ihrem Gegenstand und ihrem Funda
ment, derjenigen Bodenlosigkeit, die Seele heißt, zu entkommen, verschafft sich
aber zugleich dafür ein Alibi, ist doch das positiv genommene Kleinkind nicht
mehr ein eigentlicher Ausdruck der Seele selbst. Es ist das Alibi (das »Anders
wo«) der Seele, oder - die Seele in ihrem äußeren Exil.
Daß man sich mit dem empirisch-entwicklungspsychologischen Ansatz
auch aus der Psychologie Jungs hinausimaginiert, sei nur am Rande erwähnt.38
Dagegen möchte ich noch durch einige Zitate belegen, daß Jung seine Psycholo
gie wirklich in der Bodenlosigkeit der Seele gründete. Die Seele ist für ihn »ein
in letzter Linie unerfaßbares Etwas«39, sie »könnte ein mathematischer Punkt
sein und zugleich eine ganze Fixstemwelt.«40 Genau dieses ob seiner Wider
sprüchlichkeit Bodenlose nennt Jung aber »die Realität des Psychischen«41, und
er sagt: »Wenn ich meinen Begriff von Realität42 auf die Psyche verschiebe, wo
er einzig wirklich am Platz ist, so hört damit auch der Konflikt zwischen Natur
und Geist als Erklärungsgründen auf. Sie werden zu bloßen Herkunftsbezeich
nungen ß r die psychischen Inhalte, die sich in mein Bewußtsein drängen.« Die
Verschiebung des Begriffs von Realität auf die Psyche ist genau die Gegenbe
38 Vgl. z.B. GW 18/1 § 296: »Was die Frage nach den Kindern angeht, so hat man in den letzten
Jahrzehnten derart viel über Kinder geredet, daß ich mir bei solchen Zusammenkünften manch
mal an den Kopf greife und mich frage: >Sind das alles Hebammen und Kindermädchen?<... Las
sen wir doch die am en Kinder aus dem Spiel.« Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob man
(mit einer seelischen Fragestellung) die Mythen und die Alchemie oder das Wandlungssymbol in
der Messe und den Geist Mercurius studiert und damit diese Welten und Themen zum Horizont
der Psychologie macht, oder ob man das empirische Kind zum Horizont macht und dann allen
falls mythische und alchemistische Bilder in diesen Horizont hineinzieht.
39 GW 8 § 680. »Etwas« ist freilich schon zu bestimmt.
40 Ebd. §671.
41 § 680.
42 Jung meint, wenn man den Hegelschen Sprachgebrauch zugrundelegen woUte, »Wirklichkeit«,
nicht »Realität«.
wegung zu dem Hinaussetzen der erlebten Wirklichkeit aus dem Seelischen in
ein Außen, also das »Erinnern« oder Heimholen der Seele aus ihrem Exil zu ihr
selbst (und damit zugleich das Zurückholen der Welt in ihr Heim, die Seele).
Diese Verschiebung ist damit auch der Gründungsakt der Psychologie. Natur
und Geist sind Distinktionen, die die Seele in ihr selbst (als das Reden der Seele
mit ihr selbst) macht. Die Dinge der Außenwelt haben genauso wie die psy
chischen Erlebnisse im engeren Sinn ihren Ort in der Seele.
Das sagt auch das folgende Zitat: »Versuchen wir tiefer in diesen Begriff
[Realität des Psychischen] einzudringen, so erscheint es uns, als ob gewisse In
halte oder Bilder von einer sogenannten physischen Umwelt, zu der auch mein
Körper gehört, herrührten, andere kommen aus einer sogenannten geistigen
Quelle, die von den physischen Dingen verschieden zu sein scheint, aber sie sind
deshalb nicht minder real.«43 Jung setzt weder die physische Umwelt als
schlechthinnige Wirklichkeit, noch den Geist. Er begreift, daß »Umwelt« und
»geistiger Ursprung« zwei Benennungen für Eindrücke sind, mit denen die See
le je nachdem ihre Erlebnisse ausstattet. Wir haben schon von Jung gehört: Der
Primitive ist »noch träumend eingeschlossen in seine Seele, in die Welt, wie sie
wirklich ist...«4445Dies besagt: Dann, wenn der Mensch sich noch nicht aus der
Seele hinausimaginiert hat, sondern in der Seele die Welt erfährt, dann ist die
Welt so, wie sie wirklich ist. Das In-der-Seele-Sein der Welt ist dort noch nicht
verschleiert. Dann ist der Mensch zwar noch träumend, naiv, aber er ist dafür
auch nicht einer Fiktion von einer buchstäblich ansichseienden Außenwelt ver
fallen, wie der nicht mehr so naive moderne Mensch es ist.
»Ich möchte weder die relative Gültigkeit des realistischen, des esse in re,
noch die des idealistischen Standpunktes, des esse in intellectu solo, bestreiten,
sondern ich möchte diese äußersten Gegensätze durch ein esse in anima, eben
durch den psychologischen Gesichtspunkt vereinigen. Wir leben unmittelbar nur
in der Bilderwelt.«4* Oben hatte ich kritisiert, daß in dem »esse in anima« noch
das Sein steckt. Als vorläufige Formel mag es genügen - sofern man nur mit
ihm ernst macht. Sind nämlich Realität und Idealität in die Seele als syzygisches
Leben /jeremgenommen, erinnert, dann wirkt das, wohinein sie hereingenom
men sind, sofort auf sie zurück. Es zersetzt ihren festen ontologischen Charakter,
der sich der Hinaussetzung aus der Bodenlosigkeit der Seele und der Substantia-
lisierungstendenz der Anima verdankt, und löst sie (kraft des Animus innerhalb
der Syzygie) in das flüssige Medium des Geistes, der Logik, auf. Dann wäre das
»esse« in esse in anima zu übersetzen als: wohnen, angesiedelt sein, seinen logi
schen Ort haben. Heidegger sagt ganz in diesem Sinn: die Sprache ist das Haus
43 §681.
44 § 682. (Meine Hervorhebung.)
45 §624.
des Seins. Wir würden wie schon oben sagen: Die Sprache oder die Seele ist das
Haus der Welt. Das ist ontologisch nicht mehr zu verstehen. Es ist poetisch. Psy
chologisch.
Externe Interessen.
Die Syzygie kann auch dadurch abgewehrt werden, daß sich ein eigener
Wille oder Sinn der Syzygie zuwider aufspreizt. Wo das geschieht, hat man sich
ganz auf den Boden der aus sich herausgesetzten Seele, nämlich den Boden des
anthropologisch verstandenen Menschen, gestellt und trägt von dort aus dessen
der Seele äußerliche Interessen an die Seele heran. Man ist der Bewegung der
Heraussetzung aus der Seele so konsequent gefolgt, daß man sich draußen ange
siedelt hat. Und man hat draußen so fest Wurzeln geschlagen, daß man dort
nicht länger in der Richtung weg von der Seele blicken muß, sondern mit einer
Kehrtwendung sich ihr jetzt gerade wieder zuwenden kann, aber aus der neuge
wonnenen, absolut stabil gewordenen äußerlichen Reflexion heraus. Der neue
Standpunkt hat sich so sehr seiner selbst versichert, daß er von dem, von dem er
sich bisher hat radikal abstoßen und abgrenzen müssen, um selber äußerliche
Reflexion werden zu können, nicht mehr erschüttert werden kann.
Um diese Form der Abwehr zu beschreiben, nehme ich wieder ein Stück
aus dem Zitat von Frau von Franz über den Blaubart zum Ausgangspunkt und
Aufhänger. Bluebeard »embodies the death-like, ferocious aspects of the animus
in his most diabolical form; from him only flight is possible.« Vor Blaubart kann
man also nur fliehen. Was ist das für eine Reaktion? Es ist eine, bei der das Be
wußtsein dem Blaubart-Motiv aufsitzt. Es nimmt den Animus, der in der Tat das
Andere ist, als das abstrakt Andere, und den Animus, der der Töter ist, ebenso
abstrakt als Mörder und nichts weiter. Weil er so der abstrakt Andere ist, muß
die Frau, für die er nach von Franz das Andere ist, gleichermaßen ganz getrennt
von ihm auf der anderen Seite stehen. Wenn dieses total Andere sich nun nähert,
dann bleibt selbstverständlich nichts als die Flucht. Denn sich dem eigenen
schlechterdings inkompatiblen Gegensatz auszusetzen oder ihm standzuhalten,
wäre eine Katastrophe.
Das Bewußtsein, das die Dinge so sieht, nimmt das Verhältnis beider
nicht von der Syzygie aus wahr, sondern sitzt der Syzygie auf, so daß es das sy-
zygische Drama nur innerhalb und unterhalb ihrer (nämlich auf der Ebene der
Gegensätze, in die sich die Syzygie auseinandergelegt hat) als Tragödie zwi
schen Täter und Opfer apperzipiert. Es ist identifiziert mit der einen Seite in der
Syzygie, nämlich der des Opfers, der Frau, der Anima, und hat die andere Seite
als das absolut Fremde und Bedrohliche nur sich gegenüber. Es kann nicht
mehr durchschauen, daß das Fremde das eigene Fremde ist und daß das »Be-
wußtsein ... also diese Gewalt ... von ihm selbst (leidet)« (Hegel46*). Das Spiel
der Seele als Syzygie, als fortwährende »Gestaltung, Umgestaltung« ihres inter
nen Verhältnisses von yin und yang oder von Anima und Animus, in dem die
Negation der einen durch die andere Seite eine notwendige und gerade nicht zu
vermeidende, ja, eine gar nicht hoch genug zu schätzende Rolle spielt, bleibt un-
erahnt. Die Psychologie kommt hier an ihre Grenze. Jetzt gilt nur noch: Rette
sich, wer kann. Die nackte Notwendigkeit des »survival« setzt das seelische
opus außer Kraft.
Dieses Bewußtsein, so sagte ich, ist mit der einen Seite innerhalb der Sy
zygie identifiziert. Das heißt freilich gerade nicht, daß es innerhalb der Syzygie
(auf dem Niveau der Syzygie) seinen Ort hätte. Vielmehr verdankt sich dieses
Sehen, für das beide Protagonisten als abstrakte, fixe Gegensätze auf total ge
trennten Seiten stehen, dem Umstand, daß das syzygische Spiel aus der Syzygie
hinausgesetzt worden ist. Nur deswegen, nur weil sie draußen und d.h. äußere
sind, sind die Gegner füreinander das abstrakt Andere. Nur weil das Leiden der
Gewalt von dem Blaubart der realen Frau aufgebürdet wird und nicht bei der
Anima belassen werden kann, weil ferner mit der realen Frau auch das Ich kon-
stelliert ist, zu dessen Natur es ja gehört, das aus der Syzygie Hinausgesetzte zu
sein, muß sich das Bewußtsein ichhaft mit dem Opfer identifizieren und sich ge
gen das Opfersein durch Flucht wehren. Das ganze Geschehen wird aus dem
Gesichtspunkt des aus der Syzygie herausgestellten Menschen gesehen. Nur weil
das Bewußtsein draußen steht und sich fest auf den Boden des anthropologisch
verstandenen Menschen gestellt hat, kann und muß es sich mit seinen subjekti
ven Interessen, insbesondere dem der Selbsterhaltung, der Rettung der eigenen
Existenz, in das Reden der Seele über sie selbst einmischen, denn die Einmi
schung erfolgt immer von außen. Man sitzt umso leichter der Abspaltung der
Gegensätze (neurotische Dissoziation) auf und verfällt der Identifikation mit
dem einen der beiden innerhalb der Syzygie, je mehr die Gegensätze aus der Sy
zygie herausgesetzt und so einander äußerlich gegenüberstehende sind.
Umgekehrt verleiht erst das Gefühl der absoluten Notwendigkeit sich zu
retten dem ganzen Unternehmen der Heraussetzung der Seele aus ihr selbst den
nötigen Druck. Die gestiftete Angst vor dem Nichtüberleben mobilisiert letzte
Kräfte, durch die das Heraustreten aus dem Pieroma real werden kann.
Eine besondere und hauptsächliche Form der subjektiven Einmischung
(Jung sprach von der subjektiven Einmischung Fausts in das mythische Drama
von Paris und Helena durch Verdrängung des Paris) in die inneren Angelegen
heiten des logischen Prozesses der Syzygie ist die moralistische Bewertung. Im
Sinn dieser Bewertung ist Blaubart der Animus in seiner »diabolischsten Form«.
Es liegt auf der Hand, daß diese moralische Verdammung des Animus ebenso
46 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke, Theorie Werkausgabe, Bd. 3, Frankfurt
(Suhrkamp) 1970, S. 74.
sehr aus der Todesangst des mit der Rolle der Anima identifizierten Ichs hervor
geht wie umgekehrt diese Todesangst aus der Wahrnehmung des Blaubart als
des absolut Diabolischen. Beides sind die zwei gleichursprünglichen Seiten ei
ner psychologischen Wirklichkeit. Gut und böse, positiv und negativ als Prädi
kate für archetypische Gestalten bezeugen, daß die herrschende Perspektive die
des praktischen, persönlichen Nutzens für das Ich ist (Lebenssteigerung, Stö
rungsfreiheit). Das Moralische dient der technischen Lebensbewältigung. Das
gehört so wenig in eine Psychologie, wie die moralisierende Rede von »Un
kraut« oder »Raubvögeln« in einer wissenschaftlichen Biologie Platz hat.
Das Bewußtsein ist bei dieser Haltung ganz auf den abstrakten Stand
punkt der Realität und der technischen Lebensbewältigung festgelegt. Der Blau
bart erscheint nur noch als »Störung« des Status quo bzw. als dessen furchtbare
Gefährdung. Wenn er diabolisch ist, dann ist damit im Grunde dies gesagt, daß
er bzw. seine Manifestation absolut sinnlos ist und uns nichts mehr zu sagen und
zu bringen hat - oder andersherum gesagt: daß wir uns unter keinen Umständen
auf ihn - seinen Gehalt, seinen Sinn, seine Notwendigkeit - einlassen oder für
ihn öffnen wollen: Er darf uns nichts mehr zu sagen haben! So wie Blaubart als
jeglicher Wandlung unfähig und Wandlungsermöglichung abhold beschrieben
wird, so kann er auch kein möglicher Sinnbringer sein. Und wenn er ein Mörder
und nichts weiter ist, dann ist er als psychologisches Phänomen längst totge
schlagen. Das Einzige, was bleibt, ist: Wir müssen ihn loswerden. Daher Augen
zu und weg. Wir werden auf die Abwehr festgelegt. Die Abstempelung seiner
als absolut böse ist in ihr selbst schon der Vollzug der ausdrücklich propagierten
Flucht. Und die Flucht ist nicht nur eine Flucht vor dem schrecklichen Blaubart,
sie ist auch die Flucht aus Sprache und Bewußtsein als Medium der Begegnung
mit dem Anderen und des Austrags der Begegnung in die nackte (sprachlose)
Aktion (des Fliehens). Aber genau dies dient der Hinaussetzung der Seele aus
ihrer syzygischen Bewegung.
Das Bewußtsein sympathisiert mit dem Ich. Damit ist der Standpunkt der
Psychologie längst verlassen. Die Seele hat ausgespielt. Es geht nur noch um
ichhafte Interessen, die immer, von der Seele her gesehen, externe Interessen
sind. Es ist dies, wenn man überhaupt noch von Psychologie sprechen will, eine
sei es »pädagogische«, sei es »politische« Psychologie; eine Psychologie, die
noch etwas will, parteiliche Psychologie im Dienst der Lobby des Ichs und im
Dienst der Metaphysik des gewöhnlichen Inderweltseins. Der habituelle Be
wußtseinsstatus soll gegen alle Anstrengungen der Seele konserviert werden.
Das Ichbewußtsein darf nicht sterben! Es darf keine Negation, keine Aufhebung
des am Alltag und am Überleben orientierten Bewußtseins geben! Als Alibi muß
man dann »an sich arbeiten«, »sich entwickeln«, man muß »bewußt machen«:
diese ontischen Veränderungen und Mühen sollen einen der logischen Verände
rung entheben. Psychisches Mobiliar wird innerhalb des Hauses verrückt, damit
das Haus und die Fundamente (die Metaphysik) nicht ins Wanken kommen.
Selbstverständlich wollen wir alle überleben, gesund und glücklich sein,
Erfolg haben. Und gegen diese Wünsche ist auch überhaupt nichts einzuwenden.
Es wäre sogar verlogen, wollte man sich gegen sie stellen - weil man dies, so
lange man Lebewesen ist, gar nicht kann. Man könnte nur so tun als ob, könnte
nur sich selbst und anderen eine entsprechende Attitüde vormachen. Aber eine
ganz andere Frage ist, ob diese natürlichen Wünsche einfach so zum Maßstab
und Standpunkt der Psychologie erhoben werden dürfen. Kann man als der na
türliche Mensch, der man ist, einfach so schon Psychologie treiben? Kann man
die Werte und Ziele, die uns im natürlichen Alltagsleben bewegen, kurzerhand
über das Alltagsleben hinaus in die Psychologie hinein extrapolieren? - Man
darf selbstredend in einer wirklichen Psychologie psychische Vorgänge nicht
von den aus den natürlichen Lebensinteressen genommenen Präjudizien beurtei
len wollen. Man muß sich die psychologischen Maßstäbe, so wie alle Grundbe
griffe, erst von der Grundmetapher der Psychologie, der Seele, geben lassen.
Der enge Zusammenhang von Seele und Tod, Seele und Unterwelt47 legt nahe,
daß nur dem der Eintritt in die Psychologie gelingt, der, wenigstens insoweit er
Psychologe sein will, ein als natürliches Bewußtsein Gestorbener ist.
In psychologischen Schriften, wobei ich jetzt nur Beispiele aus Publika
tionen zum Blaubart-Thema herausgreife, kann man heute Sätze lesen wie:
»Wenn aber das Patriarchat überwunden werden soll, dann kann das kaum ... (so
oder so) geschehen, sondern es bedarf ... (dieses oder jenes).« Es wird also als
ganz selbstverständlich angesetzt, daß das patriarchale Denken überwunden
werden solle. Ich frage: was geht die subjektive Zielsetzung der Überwindung
des Patriarchats den Psychologen an? Kann die Psychologie mit einem (dann
auch noch quasi gesellschaftspolitischen) Programm auftreten? - Nimmermehr,
außer mit dem Programm, gute Psychologie zu treiben. Es ist offensichtlich un-
professionell, solche utilitaristischen Zwecke von außen in die Psychologie hin
einzutragen. Hier will jemand - unausgesprochenerweise - sein eigenes Süpp
chen kochen, oder eines, das zu kochen ihm vom Zeitgeist oder einer einzelnen
Modeströmung aufgegeben wurde. Ob das Patriarchat überwunden wird oder
nicht, muß dem Psychologen - als Psychologen - gleich viel gelten; und er muß
sich das Ob und Daß von dem Leben der Seele selber geben lassen, ohne subjek
tive, »populistische« Parteinahme für oder gegen. Von einem »Sollen« weiß er
ohnehin nichts. Mit der Rede von Patriarchat und Feminismus werden wir nur
tiefer in einen völlig unbewußten Mythos unserer Tage (also in eine Ideologie)
hineingeritten. Diese Rede trägt zur Verdummung, nicht zur Bewußtmachung
bei; sie hilft, dem syzygischen Drama der Seele seinen Charakter als seelisches
Drama zu nehmen und es zu einem nur noch menschlichen, zwischenmenschli-
47 Edgar Herzog, Psyche und Tod, Zürich u. Stuttgart (Rascher) 1960; James Hillman, Suicide and
the Soul, New York u.a., Harper & Row, 1964 (Dt. Selbstmord und seelische Wandlung, Zürich
[Daimon-Verlag] 21980); ders., The Dream and the Underworld, New York (Harper & Row)
1979 (Dt. Am Anfang war das Bild, München [Kösel] 1983).
chen Drama des buchstäblichen Geschlechterkampfes zu reduzieren. So werden
wir aus dem logischen Leben der Seele immer entschiedener in die Enge des
Bloß-Pragmatischen eingesperrt.
Man kann auch Sätze wie diesen lesen: »Wie können sie [die im Schatten
geliebten steckenden Werte] in die eigene Seele zurückgeholt werden, und wie
kann ihre Kraft für die bewußte Selbstentwicklung nutzbar gemacht werden?«
Auch das ist nicht Psychologie, es ist Pädagogik, Pragmatismus, Lebenstechnik:
technische Ausbeutung der seelischen Produkte für ichhafte Zwecke. Der Ani
mus wird im Licht der biologischen und realistischen Alltagsinteressen der em
pirischen Persönlichkeit gesehen. Von hier aus können Animus-Phänomene wie
der Rückzug in die Traumwelt und das Abgezogenwerden von der Realität nicht
mehr psychologisch gewürdigt werden. Sie müssen negativ bewertet, abgelehnt,
bekämpft werden.
»Man muß sich diese Bilder [gemeint sind die Bilder der scheinenden
Sonne und des grünenden Grases gegen Ende des Blaubartmärchens] selber in
nerlich vergegenwärtigen, um sie in ihrem tröstlichen Gegengewicht [zu dem
messerwetzenden Blaubart] zu erfahren.« Auch solche Sätze finden sich des öf
teren in sogenannten psychologischen Texten. Aber hat die Psychologie die
Aufgabe, erbaulich zu sein? Soll sie trösten? Ist sie ein Religionsersatz? Dient
sie der Bedürfnisbefriedigung der Iche? Leider scheint sie dies in ihrer Form als
real existierende Psychologie zu sein. Aber ihrer Bestimmung nach ist sie dies
nicht. Sie ist vielmehr ein ernsthaftes Unterfangen.
Psychologie und Psychotherapie haben grundsätzlich nicht die Aufgabe
der Veränderung oder des Korrigierens der Zustände, der Weltrettung und
Menschenverbesserung, streng genommen nicht einmal die Aufgabe des Helfens
und Heilens sei es im religiösen oder modem-medizinischen Sinn. Psychothera
pie ist kein Fach der Medizin.
Man muß wohl die weitverbreiteten Bedürfnisse, zu erbauen und zu bes
sern, sowie die ganze Psychologie, die selbst noch etwas will, sich selbst über
lassen. Sein eigenes Süppchen zu kochen ist ein zu mächtiges Bedürfnis, als daß
es Sinn hätte, dagegen anzureden. Ich möchte jedoch durch einfache Anführung
von vier ganz verschiedenen und z.T. gar nicht direkt auf Psychologie bezügli
chen Zitaten die Richtung andeuten, in der die Haltung zu suchen ist, deren sich
der Psychologe, wenn er sie eingenommen hätte, nicht schämen müßte.
1) Im Zusammenhang mit den verschiedenen Schulrichtungen der Tiefen
psychologie sagte Jung einmal: »Einige suchen Wunscherfüllung [das geht ge
gen Freud], andere Machterfüllung [das geht gegen Adler], und wieder andere
[das bezieht sich auf Jung selbst] wollen die Welt so sehen, wie sie ist, und die
Dinge in Ruhe lassen. Wir wollen nichts ändern. Die Welt ist gut, so wie sie
ist.«48* Nichts ändern, überhaupt nichts wollenl Einfach nur erkennen. »Der
48 C.G. Jung, GW 18/1 § 278. Ich habe das abschwächende »Die Welt ist recht« der Übersetzerin
(das englische Original hat »good«) durch »Die Welt ist gut« ersetzt.
moralisch-hygienische Standpunkt unserer Zeit will natürlich immer wissen, ob
ein solches Ding [Jung spricht über das Symbol] schädlich oder nützlich, richtig
oder unrichtig sei. Eine wirkliche Psychologie kann sich darum nicht kümmern;
ihr genügt es zu erkennen, wie die Dinge an und für sich sind.«49 So spricht ein
wirklicher Therapeut. Denn das eigentlich Therapeutische ist nichts anderes als
das Einschwingen in die erkannte Wahrheit der Wirklichkeit, der eigenen wie
der der Welt. Das Ändemwollen muß er den Behavioristen und den Predigern
überlassen.
Auch der schlimmsten Pathologie gegenüber kann der Therapeut nicht mit
dem Willen zur Änderung auftreten. Ändemwollen heißt Weghabenwollen.
Weghabenwollen jedoch bedeutet Seelenverlust. Wenn Jung sagt: »Die Welt ist
gut, so wie sie ist«, spricht daraus nicht die Naivität desjenigen, der alle Not,
Krankheit, Ungerechtigkeit, alles Böse und alles Leiden verleugnet. Es spricht
vielmehr nichts anderes als das therapeutische Temperament und die therapeu
tisch notwendige methodische Prämisse daraus, die sogar dem argen Symptom
eine letzte »Gutheit« ansinnen, weil nur so der in ihm verborgene und geborgene
Gehalt an Seele und Sinn im Sinn einer »Rettung des Phänomens« entfaltet wer
den kann. Es ist in diesem Geist, daß Jung davon sprach, daß man seiner Neuro
se sogar dankbar sein könne.
Man darf »Die Welt ist gut, so wie sie ist« und »wir wollen nichts än
dern« auch nicht imdialektisch als den Willen zu ihrem einfachen Gegenteil
mißverstehen, so daß das quietistische »wir wollen, daß alles beim alten bleibt«
herauskäme. Es geht nicht um die Konservierung der bestehenden Verhältnisse,
weder im Individuum, noch in der Gesellschaft. Sondern die Gutheit, von der
hier die Rede ist, ist nichts als der positive Ausdruck für das Negative des Abge
tretenseins als wollendes Ich, das die Wirklichkeit an seinen subjektiven
Wunschvorstellungen mißt. Da das wollende Ich abgetreten ist, kann auch nicht
gewollt werden, daß alles so bleibe, wie es ist. Es wird überhaupt nicht mehr ge
wollt, sondern die »Welt wird so gelassen, wie sie ist«. Es wird ihr, oder dem
Ablauf des Geschehens, oder dem inneren Prozeß der Therapie überlassen, ob
eine Änderung und was für eine eintritt. Wenn es nämlich eine Änderung geben
soll - das ist hier verstanden - , dann muß »es« sich ändern, nicht wir es. Die so
gar der Symptomatik »objektiv« angesonnene »Gutheit« bedeutet »subjektiv«
die Gelassenheit, kraft der der wirklichen Symptomatik die Freiheit (die Freiheit
von dem Druck unserer willensmäßigen Forderungen) gegeben wird, sich zu än
dern - oder eben auch nicht. Die Naivität der Meinung oder Hoffnung, daß sich
die Welt von oben herab, vom grünen Tisch aus, durch unser »Machen« ändern
ließe, und das eifernde darauf Bestehen, daß sie sich doch unseren Vorstellun
gen und Wünschen bequemen müsse, ist zurückgelassen.
50 Das pragmatische, technische Handeln wie auch den tatkräftigen politischen Einsatz scheide ich
mit diesen Bemerkungen nicht aus dem Leben überhaupt aus: nur aus der wahrhaft therapeuti
schen Sphäre.
51 C.G. Jung, GW 12 § 32 (meine Hervorhebung).
Vermeidung [des Strebens nach] Lösungen. Es ist das Verlangen nach Lösun
gen, das so sehr destruktiv ist.«52
3) Als Jonathan Z. Smith in einer Diskussion gefragt wurde, ob er je auf
eine bestimmte Form von Opferritual mit einer normativen Wertung würde rea
gieren und etwa sagen können: »I object to this because I feel that it threatens
the continued existence of our species«, antwortete er: »I have no interest in the
continued existence of our species. I have a deep interest in the continuing exi
stence of the academe. What I’m interested in is the health of academic discour-
se.«53 Diese (in Bosnaks Sinn »apokalyptische«) Haltung verdient Respekt. Das
Interesse des Wissenschaftlers an dem Gesundbleiben des akademischen Diskur
ses - unbekümmert um die Frage der Erhaltung der Spezies Mensch - entspricht
des Psychologen Bosnaks Hingabe an die unbekümmert um Lösungen und Er
folge vollzogene Arbeit mit dem Traumbild. Der Wissenschaftler als Wissen
schaftler kann sich nicht mit einem subjektiv-ideologischen Interesse in den
Gang der Erkenntnis einmischen, selbst wenn es das Interesse an der Erhaltung
der Menschheit ist. Eine Frage wie die Nietzsches: »Vom Nutzen und Nachteil
der Historie für das Leben« und die - heute allerdings weitverbreitete und sich
selbst beweihräuchernde - Perversion, sich erkenntnisfremde Interessen wie z.B.
das an der »Ethik« der Wissenschaft innerhalb der Wissenschaft und innerhalb
der Psychologie zu leisten, können auch nur sich selbst überlassen werden.
4) Hegel sagt mit Bezug auf das philosophische Denken: »In den stillen
Räumen des zu sich selbst gekommenen und nur in sich seienden Denkens
schweigen die Interessen, welche das Leben der Völker und der Individuen be
wegen.« Nach Hegel fragt es sich, »ob der laute Lärm des Tages und die betäu
bende Geschwätzigkeit der Einbildung, die auf denselben sich zu beschränken
eitel ist, noch Raum für die Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur
denkenden Erkenntnis offen lasse.«54 Und: »Wenn die Philosophie ihr Grau in
Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau
läßt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva be
ginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.«55
Was Hegel für die Philosophie sagte, gilt mutatis mutandis auch für die
Psychologie: nur erkennen, nicht verjüngen wollen, nicht verändern wollen. Die
Psychologie tut einfach ihre Arbeit an der schon längst gegebenen Wirklichkeit,
dem schon längst (so weit) gelebten Leben. Die Zukunft ist kein Thema. Aber
indem die Psychologie ihre Arbeit an der Gegenwart als der Vergangenheit des
52 Robert E. Bosnak, Briefliche Mitteilung an Daniel C. Noel, zitiert von diesem in: Lyonesse Letter
#5,11. August 1992 (privat vervielfältigt und verteilt), S. 9. (Meine Übersetzung.)
53 In: R.G. Hamerton-Kelly (Hg.), Violent Origins, Stanford (Stanford Univ. Pr.) 1987, S. 222.
54 G.W.F. Hegel, Wissenschaft der Logik I, Werke, Theorie Werkausgabe, Frankfurt (Suhrkamp)
1969-71, Bd. 5, S. 23 u. 34. Meine Hervorhebungen.
55 G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Werke, Theorie Werkausgabe, Frankfurt
(Suhrkamp) 1969-71, Bd. 7, S. 28.
Vergangenen tut und die Zukunft sich selbst überläßt, baut sie keine Widerstän
de gegen die Ankunft der Zukunft auf, Widerstände, die würden verhindern sol
len, daß die wirklich offene, unbekannte (also auch vielleicht erschreckende)
Zukunft zur neuen Gegenwart als der neuen Vergangenheit des Vergangenen
wird.
Ebenso ist Psychologie (insbesondere als therapeutische Psychologie) wie
die Philosophie »ihre Zeit in Gedanken gefaßt«; ist sie die Form, die die »Ge
staltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung« in ihrer Zeit an
nimmt, in Gedanken gefaßt. Auch die Psychotherapie hat es mit der »kalt fort
schreitenden Notwendigkeit der Sache« zu tun, nämlich mit dem wirklichen lo
gischen Leben der Seele. Sie muß fern aller Aufgeregtheit und fern allen persön
lichen Eifers um externer Ziele willen betrieben werden. Sie hat ihre eigene
Würde. Ihr Ziel ist Wahrheit (Erkenntnis der Wahrheit und Leben in der Wahr
heit).
Nach diesen Zitaten wird sich wieder der Widersprach regen, damit sei
die Psychologie als ein Luxusuntemehmen für im Elfenbeinturm vom Leben ab
geschirmte Forscher konzipiert. Aber wir durchschauen längst das Mißverständ
nis. Dieser Widersprach stammt aus der äußerlichen Reflexion, das heißt: aus
der aus ihr selbst herausgesetzten Syzygie. Die Alternative, um die es hier in
Wahrheit geht, ist gerade nicht die von »Elfenbeinturm« und »im Leben Ste
hen«. Sie ist vielmehr die, ob man draußen in dem von der Seele abgespaltenen
Standpunkt verharrt und ihn als für die Erfahrung von Leben und Welt maßgeb
lich beibehält, um nur noch technisch und manipulativ auf die Seele zu reagie
ren, oder ob man die Welt und das Leben als in dem logischen Leben der Seele,
d.h. in der Retorte ihren Ort habend erkennt, der Retorte, die von außen der
schwarze Kasten, von innen jedoch der goldene Hintergrund der Welt ist; ob
man sich in die Retorte einnehmen läßt oder nicht; ob man in der schlichten,
aber tiefen denkenden Erkenntnis des logischen Lebens der Seele an diesem Le
ben partizipiert oder sich ihm gegenüber als Ich aufspreizt und in Szene setzt.
Die subjektive Parteilichkeit für ichhafte Zwecke ist die emotionale Energie,
durch die das Leben mehr und mehr aus der Syzygie ausgesiedelt und immer
weiter in der Entfremdung gehalten wird.
Die Not der Psychologie. Wir verdanken Jung sowohl das Konzept des
Animus überhaupt, als auch das Wissen um die Syzygie. Jung hat auch in dem
Vollzug seines eigenen psychologischen Denkens in hohem Maße »syzygisch«
gedacht. Jene »feinere Intelligenz«1, die man ansonsten in der Psychologie so
schmerzlich vermissen muß, jene Kraft des Denkens, die es nicht nötig hat, um
der Vermeidung von Widersprüchen willen vor der logischen Komplexität aus
zureißen und bei Simplifikationen und Reduktionen ihre Zuflucht zu suchen,
zeigt sich immer wieder bei ihm. Und doch hat sich auch seine Psychologie, so
wie sie konzipiert ist, nicht immer wirklich in der Syzygie zu halten vermocht.
Wenn Jung syzygisch denkt und spricht, dann kommt dies aus der Tiefe seines
eigenen Ingeniums. Doch wo Jung mehr systematisch reflektiert und zum Theo
retiker wird, da, wo er so etwas wie eine psychologische Lehre vor uns hinstellt,
kommt die syzygische Verschränkung nicht voll zum Tragen. Wir haben uns
schon mit den »Trennungen« befaßt.
Darüber hinaus gibt es noch ein zentrales Problem, dessen Lösung nur in
nerhalb der Syzygie, also nur in einer diese zu ihrem systematischen Gmnd ma
chenden Psychologie möglich sein dürfte, dessen Lösung aber in der Jungschen
Psychologie nicht wirklich gelungen ist. Es ging Jung ja um die Wiederherstel
lung des sympathetischen Zusammenhangs von Mensch und Welt, worin eben
die Hauptaufgabe der Psychologie: die Behebung der Neurose, bestünde. Schon
1912 hatte er geschrieben:
W ir finden im Kranken immer einen Konflikt, der an einem gewissen Punkt mit den
großen Problemen der Sozietät zusammenhängt, so daß, wenn die Analyse zu diesem
Punkt vorgedrungen ist, der anscheinend individuelle Konflikt des Kranken sich als
ein allgemeiner Konflikt seiner Umgebung und seiner Zeit enthüllt. Die Neurose ist
somit eigentlich nichts anderes, als ein individueller (zwar mißglückter) Lösungsver
such eines allgemeinen Problems...12
Für Jung kann trotzdem eine wirkliche »Wandlung aber nur beim Einzel
nen anfangen«3. Er grenzt sich entschieden von solchen Versuchen, die Not der
Zeit zu heilen, ab, die bei der Gesellschaft ansetzen, wie dem Marxismus. Auch,
ja gerade angesichts der Frage nach der Wiedergewinnung eines sympatheti
schen Weltzustands muß Jung »den individuellen Menschen als Maß aller Dinge
ins Zentrum« setzen4, den Menschen in seiner Einmaligkeit.
Der Individuationsweg jedoch schließt nach Jung »die Welt nicht aus,
sondern ein«5. Indem der Einzelne seinen ganz individuellen Weg nach innen
1 Vgl. C.G. Jung, Briefe Bd. III, S. 14S (an L. Kling, 14.1. 58).
2 C.G. Jung, GW 7, S. 289, meine Hervorhebung.
3 C.G. Jung, GW 12 § 563.
4 C.G. Jung, GW 10 § 523.
5 C.G. Jung, GW 8 § 432.
geht, stößt er in sich auf ein Zentrum, das Jung das Selbst nannte, welches nicht
mehr ein bloßes Ich ist, sondern »ebenso der oder die anderen wie das Ich«6. Im
Selbst ist der Mensch nach Jung mit seinen Mitmenschen und mit dem consen
sus gentium zusammengeschlossen. Im Selbst ist das kollektive Unbewußte er
reicht, das ihn auch mit seiner Welt als Natur wieder zusammenschließt, wie
Jung mit seinen Arbeiten über die Synchronizität, also den akausalen Zusam
menhang eines inneren und eines äußeren Ereignisses, und über den unus mun-
dus und die anima mundi zeigte. Auf dem Weg zum Selbst findet er auch den
Anschluß an die Tradition, so wie für Jung selbst sein eigener Individuationsweg
ihn über seine Träume auf die Alchemie stoßen ließ, in der er das geschichtliche
Bindeglied zwischen unserer modernen Welt und der mythischen Welt des Al
tertums fand.
Dieser ganze Ansatz Jungs darf als gescheitert gelten, sofern er den An
sprach erhebt, in der Hauptsache der Psychologie, der Wiederherstellung des
großen Zusammenhangs, wirklich etwas zu bewegen.
Ich sage dies nicht, weil ich dächte, daß all das, was Jung erarbeitet hat,
einfach falsch wäre und daß Jung uns in die verkehrte Richtung führe, weil etwa
doch der Weg der gesellschaftlichen Veränderung der richtige wäre; oder weil
ich dächte, daß derjenige, der sich auf den Individuationsweg begibt, nicht wirk
lich genau solche Erfahrungen machen könnte, wie Jung sie beschrieben hat,
und daß er nicht dadurch so sehr bereichert und belebt werden könnte, daß er ei
ne wirkliche, ins Archetypische sich erstreckende Erweiterung über die engen
Grenzen seiner Ichpersönlichkeit hinaus erführe. All dies muß Jung vielmehr ge
rade zugestanden werden. Ich darf sogar sagen, daß eben dann, wenn ich von
dem Scheitern des Jungschen Ansatzes spreche, ich gleichwohl, wie aus allem
schon Gesagten zu sehen ist, Jungs Ansatz inhaltlich voll mittrage, von Einzel
heiten und gewissen Akzentsetzungen vielleicht abgesehen. Ich bestreite Jung
mit meiner Rede von dem Scheitern des ganzen Ansatzes also nicht die Gültig
keit dessen, was er entdeckt und vorgetragen hat. Ich bestreite lediglich, daß das,
was er positiv bietet, in Ansehung seines großen Ziels genügt. Oder noch deut
licher: ich bestreite, daß Jung seinen eigenen Ansatz wirklich durchgeführt hat
und daß Jung die Mittel hatte, das, was er selbst mit seiner ganzen Psychologie
anstrebte und was er mit seiner Idee und der Praxis des Individuationsprozesses
auch erreicht zu haben glaubte, wirklich zu erreichen.
Der Boden, von dem aus Jung seinen durchaus »richtigen« Ansatz unter
nahm, ist zu schmal, um diesen Ansatz tragen zu können. Oder richtiger: Jungs
Psychologie des Individuationsprozesses hat eigentlich keinen wirklichen Bo
den, weil Jung sofort und immittelbar in den Individuationsprozeß einstieg, ohne
sich um die Frage nach seinem »Boden« zu kümmern. Er wollte also nur den
6 Ebd.
»zweiten« Schritt tun, ohne den ersten getan zu haben. Dadurch bleibt auch bei
ihm der Einzelne, zumindest so, wie er in Jungs Psychologie theoretisch gefaßt
ist (wohl nicht, wie Jung ihm aufgrund seiner in seiner persönlichen Natur ver
wurzelten psychologischen Haltung begegnete), abstrakter Einzelner. Jung hatte
nicht die logischen Mittel, den konkreten Einzelnen zu denken. Er hatte nicht die
Mittel, das Problem wirklich auf die Ebene der Syzygie zu heben, so sehr ihm
dies auch vorschwebte. Mit seinen Forschungen über die Synchronizität hatte er
das ausdrückliche Ziel, die Kluft zwischen »Psychologie« und »Physik«, beide
Begriffe als Chiffren, den einen für die subjektive Welt des inneren Erlebens
und den anderen für die objektive Welt der äußeren Natur, genommen, zu über
winden. Doch weil er dies auf einer noch immer dem naturwissenschaftlichen
Denkduktus verhafteten Ebene nur inhaltlich versuchte, während es eigentlich
darum ginge, diesen (selber »neurotischen« Denkduktus oder logischen Status)
zu überwinden, blieb er in dem, wie er es sagte, hinter dem zurück, was er sagen
und erreichen wollte. Und so vermag auch der Individuationsprozeß, so sehr er
intendiert ist, die Spaltung von Innen und Außen, von Individuell und Allge
mein, von subjektivem Erleben und wirklicher Welt aufzuheben, nicht wirklich
aus der subjektiven Ecke herauszukommen.
Jung sagt einmal (1929), und diesen Satz hat er selbst im Druck hervorge
hoben: »Wir Modernen sind darauf angewiesen, den Geist wieder zu beleben,
das heißt Urerfahrung zu machen«7. Geist steht hier nicht im Gegensatz zu See
le, denn Jung weiß, daß der Geist heute »aus seiner feurigen Höhe herunterge
stiegen« und zu seelischem Wasser geworden ist8. Auf der zweiten Eranos-
Tagung 1934 und später in anderen Schriften hat Jung als Beispiel dazu den Fall
eines protestantischen Theologen vorgetragen, der wiederholt träumte, »er stehe
an einem Abhang, von wo aus er eine schöne Aussicht auf ein tiefes Tal mit
dichten Wäldern hat. Er weiß, daß ihn bisher immer etwas davon abgehalten hat
te, dorthin zu gehen. Dieses Mal aber will er seinen Plan durchführen. Wie er
sich dem See nähert, wird es unheimlich, und plötzlich huscht ein leiser Wind
stoß über die Fläche des Wassers, das sich dunkel kräuselt. Er erwacht mit ei
nem Angstschrei«.9
Der Träumer steigt in diesem Traum in seine eigene Tiefe hinunter. Der
Weg führt ihn zum geheimnisvollen Wasser. Da geschieht das Wunder des Tei
ches von Bethesda: ein Wind, das Pneuma, weht und belebt das Wasser. Dieses
Geschehen macht dem Träumer aber eine unheimliche Angst. Wie Jung in sei
nen Erinnerungen berichtet,10 überwand nun dieser Theologe seinen Schrecken
nicht, so daß er seinen eigenen Weg nicht weiterging. Das ist vom psychologi
schen Standpunkt aus für ihn persönlich gewiß höchst bedauerlich. Aber ich
15 Siehe dazu W. Giegerich, »Über die Neurose der Psychologie oder das Dritte der Zwei«, Analyt.
Psychol. 9 :99-110 (1978).
Psychologie eben die wechselseitige Durchdringung von Psyche und Logos im
Rahmen der Syzygie ist. Diese Durchdringung könnte sie aber nur sein, wenn
sie sich selber von der Syzygie durchdringen ließe. Erst durch ihr eigenes Ande
res, den Logos, käme die Psychologie zu sich selbst. Die Anima fmdet sich
selbst erst in ihrem eigenen Gegensatz, in dem, was sie nicht ist, dem Animus.
Der Weg zu ihr führt von ihr weg. Der Animus müßte in den Ansatz der Psycho
logie eingelassen sein. Und die Überschreitung ihrer eigenen Fachgrenzen —hier
ist an das zu denken, was wir oben kritisch gegen Jungs Selbstbeschränkung be
züglich der Rede von Gott auf das bloße Gottesbild in der Seele einwendeten -
ist nicht die Selbstverabschiedung der Psychologie und ihr Sichverlieren in den
Gefilden der »schlechten« Metaphysik, sondern sie ist ihr Anfang.
Wenn Jung davon gesprochen hatte, daß der moderne Mensch wieder Ur
erfahrung machen müsse und den Verlust des Mythus nicht ertragen könne,
dann klingt das so, als ob es die Urerfahrung als gesonderte Erfahrung neben der
sonstigen Erfahrung gebe und der Mythos als ein eigenständiges Gebilde irgend
wo aufzusuchen wäre. Das wäre im Grunde reiner Platonismus, die Hypostasie
rung des Mythos oder der Urerfahrung als einer zweiten Welt ewiger höherer
Wahrheiten, so wie ja auch die Setzung der Archetypen als »Archetypen an
sich« Platonismus ist. Aber der Mythos ist nichts, was wie eine für sich beste
hende höhere Wahrheit, wie ein schwer zu findender Schatz aufzusuchen wäre.
Er ist in Wahrheit nur die gestalthaft wahrgenommene Sphäre und so das »Be
hältnis« unserer wirklichen Weltbegegnung selber. Wenn der Mythos zu einem
selbständigen Gebilde vergegenständlicht wird, das durch Introspektion in ei
nem besonderen Prozeß erfahren werden soll, dann geht diese Erfahrung gezielt
an der wirklichen Welt vorbei. Sie ist, um es nochmals zu sagen, im Grunde blo
ßes, wenn auch erhabenes, Kino.
Solcher »Mythos« ist auch gar nicht wirklicher Mythos, und er verbindet
uns auch nicht mit der Ahnenwelt, sondern mit einem caput mortuum. Denn die
ser Mythos und seine »ewigen Wahrheiten« sind relativ auf eine vergangene
Welt, sie sind, um es mit einer Chiffre zu sagen, die Welt zur Zeit Homers in ih
rer Tiefe gestalthaft erfaßt, dann aber platonisierend in zeitlose wesenhafte Bil
der übersetzt und diese in der Psyche unterschwellig aufbewahrt und als solche
in spätere, ganz andere Zeiten hinübergerettet, was dann zum Begriff des Arche
typischen verführte. Die Welt Homers war seinerzeit die wirkliche Welt, und der
Mythos war »state of the art«, weil er die wirkliche Erkenntnis der wirklichen
Welt war. Das sind die Welt Homers und der Mythos aber heute nicht mehr. Wir
leben in einer anderen Welt. Die wirkliche Welt der Ahnen ist nicht das Anti
quariat, nicht die Gegenwart des Vergangenen, Toten. Sie ist vielmehr die Ge
genwart der Vergangenheit des Vergangenen, was man erst von Hegel her wirk
lich begreifen kann, was aber auch Jung wenigstens andeutete, wenn er einer
seits sagte, daß das Unbewußte »die jeweilige geistige Vergangenheit dar
stell(e)« und »jene Vergangenheit« ausdrücke, »die in uns aufbewahrt ist«,16
und andererseits wußte, daß »der Mythus [also eben jene je kulturspezifische in
uns aufbewahrte geistige Vergangenheit] in jedem erneuerten Äon eines neuen
Gewandes bedarf«.17 Die Gegenwart der Vergangenheit des Vergangenen kann
freilich nur sein, wenn nicht die Anima unmittelbar für sich waltet, denn die
Anima ist von Hause aus »positivistisch« und führt als solche nur zu Antiquitä
ten, sondern wenn der Animus hinzutritt und ihrer Unschuld Gewalt antut. Er ist
es, der den Mythos seinem alten Gewand entfremdet und die Gewinnung eines
neuen Gewandes für ihn nötig macht.
Daher brauchen wir, was die große Aufgabe der Psychologie anlangt,
nicht mehr Animaprodukte, mehr Träume, Mythen, alchemistische Bilder, mehr
inneren Prozeß. Sie gehen an der wirklichen Not der Zeit vorbei und lenken so
gar von ihr ab. Sie heilen zwar durchaus, aber nur in der Weise der Erbaulich
keit, nur »archäologisch« sozusagen. Sie erreichen nur den vormodemen, ver
gangenen, bloß persönlichen »Teil« in uns,18 trotz »kollektivem« Unbewußtem.
Denn sie sprechen uns nur auf einer Ebene an, die wir zwar wirklich in uns ha
ben, aber eben in uns und so unter uns, als bloßes aufgehobenes Moment unserer
heutigen vollen Wirklichkeit. Dieses kollektive Unbewußte ist nur die zum Mo
ment in jedem Individuum herabgesunkene und als solche vergessene, seinerzeit
freilich modernste Erfahrung des archaischen Menschen. Wenden wir uns ihm
zu, dann versteht die Anima als Führerin zu den Ahnen sich selbst allzu wört
lich, allzu animahaft, wie immer, wenn sie sich selbst verstehen will, anstatt sich
von ihrem Anderen, dem Animus, in Liebe umgreifen und begreifen zu lassen.
Gerade in solcher Animaverfallenheit verpassen wir die Anima, so wie der rein
sein wollende Animus sich selbst verpaßt hat und der unmittelbare Mythos heute
nichts als (durch die Intensität des Erlebens vielleicht mit dem Schein psy
chischer Kraft aufgeladene) schlechte Metaphysik ist, die die wirkliche Welt
überfliegt.
Unserer wirklichen heutigen Anima würden wir nur begegnen, und wirk
licher Mythos wäre nur dann, wenn wir die ganze Sphäre unseres modernsten
Wissens-und-Nichtwissens und unseres wirklichen Weltumgangs als Gott erfüh
ren. Was in unserem Inneren ist, ist immer nur abgesunkenes Kulturgut, das sich
in der Seele über Jahrhunderte und Jahrtausende als vergessenes bewahren
kann,19 wodurch, wie gesagt, der Schein des Archetypischen entsteht. Das wirk
lich Mythische dagegen ist immer an der vordersten Front unseres Denkens, Er-
fahrens und Tuns. Nur dort, wo wir der je heutigen Unbekanntheit des wirkli
chen Weltumgangs als unserer Sphäre begegnen, erreichen wir auch unsere
16 C.G. Jung, GW 9/II § 272. Meine Hervorhebungen.
17 C.G. Jung, GW 9/II § 281.
18 Das »Persönliche« ist wesenhaft Vergangenheit, die wir in uns tragen.
19 Ich propagiere damit keine Vererbungstheorie im Sinn von Lamarck. Das sich selbst vergessende
Bewahren ereignet sich vielmehr als die Sprachlichkeit des Menschen.
Ganzheit, die, wie leicht einzusehen ist, grundsätzlich nicht in uns erreicht wer
den kann. Natürlich ist es, durchaus auch im positiven Sinn, erbaulich, ja per
sönlich heilsam und insofern notwendig, an das vergessene abgesunkene Kultur
gut, das wir in uns tragen, also an den Sinn vergangener Epochen, wieder ange
schlossen zu werden. Aber dieser vergangene Sinn ist, weil er in jeden von uns
abgesunken ist, als solches kollektives Unbewußtes doch gerade nur persönli
ches Unbewußtes. Und indem die Erbauung durch es uns ermöglicht, uns sub
jektiv wohler zu fühlen inmitten unserer Zeit, enthebt sie uns der Aufgabe, unse
re wirkliche Zeit wirklich zu erfahren, so tief, bis sie gestalthaft als neuer My
thos begegnen würde. Die Wirklichkeit unserer Welt erreichen wir so nicht.
Jung wußte um die zwei großen Probleme, die den abendländischen
Menschen von seiner wirklichen Welt abschneiden und damit die Neurose im
großen Sinn verursachen. Jung hat sie beide als persönliche Aufgabe auf sich
genommmen. Aber weil er unvermittelt Psychologie treiben wollte und den Ani
mus extra portam hielt, konnte dieser ihm auch nicht die logischen Mittel in die
Hand geben, wie er diese Probleme hätte überwinden können. Das erste Problem
ist das von Plato her zu benennende Methexis-Problem, das heißt das Verhältnis
von Idealität und Realität. In einem Brief berichtet Jung von einem Gespräch
über das Archetypenkonzept, das er einmal mit dem Paracelsus-Forscher Pater
Betschart geführt hatte20:
Die Platonische Philosophie gab uns eine willkommene gemeinsame Grundlage, auf
der wir uns relativ leicht über die ideelle Seite des Problems verständigen konnten.
Von da aus konnten wir uns mit Erfolg auch der Diskussion des naturwissenschaftli
chen Aspektes zuwenden. Die Schwierigkeit dieses Aspektes besteht hauptsächlich
darin, daß die ewigen Ideen aus ihrem »überhimmlischen Orte« heruntergeholt wer
den in eine biologische Umgebung...
Der Philosoph als uneigentlicher Psychologe und der Psychologe als unei
gentlicher Philosoph - hätte diese Einsicht nicht Anlaß sein können, sich auf die
Syzygie wirklich einzulassen? Hier taucht, wie im Ineinander von yin und yang
des chinesischen T ’ai-ki-t’u, das andere im einen und das eine im anderen auf.
Jungs Satz könnte als Ausdruck der freilich abgewehrten Ahnung davon verstan
den werden, daß jede der beiden Disziplinen ihr Eigentliches in der je anderen
hat und daß erstens die Philosophie nur wirkliche Philosophie ist, wenn sie sich
gerade nicht rein, d.h. im formallogischen, platonistisch-wesensphilosophischen
Denkduktus, zu halten versucht (freilich ohne diesen undialektisch, d.h. total,
über Bord zu werfen), und daß zweitens die Psychologie nur dann wirkliche
Psychologie ist, wenn sie sich auf ihrem eigenen Boden, also uneigentlich, auf
den Boden der Philosophie, und zwar der Logik, begibt.
Jung glaubte, wie weniger aus diesem Zitat als aus anderen, mit deutlicher
Animosität gegenüber Hegel vorgetragenen Äußemngen hervorgeht, daß Hegel
durch die Apostrophierung als »imeigentlicher Psychologe« als Denker disquali
fiziert sei,25 obwohl er dann genauso auch sich selbst durch die Prädizierung
»imeigentlicher Philosoph« als Psychologe für disqualifiziert hätte halten müs
sen. Die Animosität, mit der Jung öfters über Hegel wie auch über Heidegger
und insbesondere über ihre Sprache spricht, zeigt, daß Jung sich nicht wirklich
auf das Andere der Psychologie einlassen konnte, daß die Anima sich jungfräu
lich der Begegnung mit dem Animus widersetzte, in welcher Jungfräulichkeit
wir aber gerade eine undurchschaute Wirkung des Animus in der ureigensten
Sphäre der Anima erkennen. Denn die Anima selber ist immer auch Hure.
Bei dem Verhältnis Jungs zu Hegel ging es - gleichursprünglich mit der
Frage nach der Syzygie - um die große Entscheidung zwischen: Kompensation
unserer Geschichte - oder: lebendige Fortsetzung unserer Geschichte.
Hätte Jung sich auf Hegel, und das heißt hier den Hegel der Hauptwerke,
Phänomenologie des Geistes und Wissenschaft der Logik, eingelassen, dann hät
te er sehen können, daß Hegel, psychologisch ausgedrückt, die Heilung der Neu
rose des Abendlandes geglückt ist, und zwar nicht nur in der Idee, sondern wirk
lich. Er hätte sehen können, daß in Hegel, psychologisch gesprochen, der Ani
mus zum ersten und wohl einzigen Mal in der abendländischen Geschichte »rei
ner«, nicht mehr animabesessener Animus geworden und das Denken zum er
sten und wohl einzigen Mal wirklich zu sich selbst gekommen ist - dies aber
eben dadurch, daß der Animus sich nicht in einer reinen Animuswelt einhausen
wollte, sondern bereit war, seinem eigenen Anderen zu begegnen. Hegel hat von
Anima und Animus und von der Syzygie nichts gewußt. Aber diese waltet in
seiner, nein als seine Logik. Jung spürte das ganz richtig, aber er kreidete es He
gel als uneigentlich gewordene denkerische Form an. Warum richtete Jung die
sen und den Vorwurf des Romantischen nicht gegen Schopenhauer, wo sie ge
paßt hätten? Warum schätzte Jung den letzteren? Ich glaube deswegen, weil
Schopenhauer wirklich eine romantische »Philosophie« bringt, d.h. eine Weltan
schauung, der die denkerische Form schon uneigentlich geworden ist; weil
Schopenhauer schon ins 19. Jahrhundert hineingehört, das unsere Geschichte
25 In einem Brief (an Joseph F. Rychlak, 27.IV. 1959, Briefe III S. 246) drückt sich Jung nämlich
krasser aus: Hegel sei »nicht einmal ein echter Philosoph, sondern ein mißratener Psychologe«
gewesen. Siehe auch die Ausführungen in »Theoretische Überlegungen zum Wesen des Psy
chischen«, GW 8 § 358 ff., wo Jung von Hegels »Identifikation und Inflation, [der] praktische[n]
Ineinssetzung des philosophischen Verstandes mit dem Geist schlechthin« spricht, was man nicht
anders denn als ein völliges Mißverständnis bezeichnen kann.
mit all seinen Sinngebungsversuchen (ich nenne nur Kierkegaard, Marx, Nietz
sche) nicht fortsetzte, sondern kompensierte und mit seiner offiziellen Entwick
lung (Wissenschaft, Wirtschaft, Politik) unter dem in der Geschichte bereits er
reichten seelisch-geistigen (psycho-logischen) Problemniveau einfach vorbei
ging.
Hegel war gerade eigentlicher Denker, dadurch daß er den Gedanken so
konsequent vorantrieb, daß dieser an der eigenen, der Animaverfallenheit zu
verdankenden Sistierung in dem formallogischen Wesensstatus zugrundeging
und sich eben dadurch als Gedanke zur Wirklichkeit wirklich öfftiete. Hegel gibt
nicht eine Weltanschauung, die die Welt außer sich hat, nicht nur eine philoso
phische Theorie über Gott und die Welt; sein Gedanke erreicht auch nicht nur,
wie die Wissenschaften und die Philosophie Kants, Welt als Realität, also nur
insoweit sie manipulierbar ist, er erreicht innerhalb des Gedankens die Wirk
lichkeit, die wirkliche Welt des Menschen. Der Gedanke ist zum Begriff gewor
den, zum »Behältnis«, das die Welt in sich begreift. So ist er die Nachfolgerge
stalt des »Mythos«, des »Goldgrundes«, des Vas. Und er erreicht Wirklichkeit,
er wechselt nicht nur, zwischen hüben und drüben wie zwischen »Nr. 1« und
»Nr. 2« pendelnd, zu ihr über. Ich gebe hier davon nur die Nachricht, also etwas
selber Unwirkliches, weil der Erweis nur durch unseren eigenen wirklichen
Nachvollzug-im-Leben der Hegelschen Logik selbst in all ihren einzelnen klei
nen Schritten zu erbringen wäre.
Sehr schön wird das syzygisch gespannte Verhältnis von Psychologie und
Philosophie, Anima und Animus und Jungs eigene Schwierigkeit damit noch
einmal eihellt durch eine Textstelle aus »Der Gegensatz Freud und Jung«
(1929). Jung versucht darzulegen, was ihn von Freud »am strengsten sondert«.
Und da heißt es:
Sehr zu Unrecht wohl hat sich Freud der Philosophie verweigert. Nie kritisierte er
seine Voraussetzung, nicht einmal seine persönlichen psychischen Prämissen. Im
Lichte meiner bisherigen Ausführungen läßt sich dies leicht als Notwendigkeit ver
stehen, denn die Kritik seiner eigenen Grundlagen hätte ihn wohl der Möglichkeit
beraubt, seine eigentümliche Psychologie naiv [Anm. Jungs: Freud, Die Traumdeu
tung] darzustellen. A uf alle Fälle hätte er die Schwierigkeiten zu kosten bekommen,
die ich verspüre. Ich habe den süßbitteren Trank der kritischen Philosophie nie ver
schmäht, sondern wenigstens in refracta dosi vorsichtig zu m ir genommen. Viel zu
wenig - werden meine Gegner sagen. Fast zu viel - sagt mein eigenes Gefühl.
Leicht, allzuleicht vergiftet die Selbstkritik das köstliche Gut der Naivität, jene Gabe,
die jedem schöpferischen Menschen so unerläßlich ist.26
Hier finden wir beides: erstens das rückhaltlose Bekenntnis zur Einsicht
in die Unabdingbarkeit der »kritischen Philosophie«, und dies nicht aus irgend
welchen äußerlichen intellektuellen Bedürfnissen, zum Zweck einer nachge
schobenen erkenntnis- oder wissenschaftstheoretischen Legitimation der Psy
chologie, sondern aus einer innerpsychologischen Notwendigkeit heraus: weil
Psychologie nicht naiv, nicht logisch arglos betrieben werden darf, wenn sie
nicht ihre Aufgabe, ein über die engen Grenzen der rein persönlichen Psycholo
gie des jeweiligen Psychologen hinausgehendes Bild der ganzen seelischen
Wirklichkeit zu geben und die Neurose wirklich zu heilen, schon vom Ansatz
her verfehlen soll (wie Jung ebenda zu verstehen gibt). Verharrt sie in der Un
schuld, dann sitzt sie dem »subjektiven Bekenntnischarakter« (»persönliche
Gleichung«, psychologischer Zirkel) auf - d.h. in unserem Zusammenhang: sie
erliegt blind einer Animaverführung.
Zweitens finden wir aber auch die Halbherzigkeit dieses Bekenntnisses,
indem Jung ihm mit seinem anderen Bekenntnis zu eben dem »köstlichen Gut
der Naivität«, das er bei Freud gerade kritisiert hatte, wieder den Wind aus den
Segeln nimmt. Jungs ganzes Gefühl neigt der romantischen, der Anima-Seite zu,
was auch schon die romantische Sprache bei der Charakterisierung der kriti
schen Philosophie als »süßbitterer Trank«, der dazu noch als potentiell »vergif
tend« erscheint, verrät. Nicht nur Jungs Gegner, gerade seine Freunde, die
Freunde wahrer Psychologie und der Anima, werden sagen: »viel zu wenig« hat
Jung diesen »Trank« genossen; er selber wird von seiner Kritik an Freud getrof
fen, freilich in ganz anderem Sinn als dieser. Denn die Naivität beider ist entge
gengesetzt. Bei Freud ist es die Naivität und Arglosigkeit der rationalistischen
Aufklärung (die »Animaverfallenheit der Animusstufe«), mit der er die psycho
logische Phänomenologie apperzipiert und dergegenüber Jungs Darstellung des
Seelenlebens ein höheres Maß an kritischer Reflektiertheit aufweist; bei Jung
dagegen ist es die Naivität der Animasphäre.
Jung war sich des subjektiven Bekenntnischarakters jeder psychologi
schen Aussage wohl bewußt, er verschmähte jenen »süßbitteren Trank der kriti
schen Philosophie« nicht, aber indem er ihn als giftig beschreibt und sagt, daß er
ihn nur in refracta dosi zu sich nahm, zeigt er, daß er noch immer auf der einen
Seite, auf dem Animastandpunkt steht, von dem aus er die philosophische Kritik
auf der anderen Seite sich gegenüber hat. So muß er in ihr eine von außen kom
mende Gefahr sehen, auf die er sich nur »vorsichtig« einlassen darf. Er hat der
Kritik nur wie einem mächtigen Fremdherrscher den unausweichlichen Tribut
entrichtet, um sich dadurch, wenigstens innerhalb des von diesem belassenen
Freiraums, noch einen Rest von ungestört-naivem Zugang zur Urerfahrung zu
erkaufen. Der Trank der Kritik durfte nicht wirklich in seine Animawelt eindrin-
gen. Er durfte seine Grundstellung nicht verrücken. Im Gegenteil: er sollte das
Arglosbleiben der Anima (freilich innerhalb bestimmter kritischer Grenzen) le
gitimieren.
Inhaltlich und intuitiv sieht Jung die Notwendigkeit des Zusammen von
Kritik und Naivität ein, aber logisch vermag er das Verhältnis beider nur als Ge
trenntsein zu denken. Wenn Jung sich der philosophischen Kritik öffnete, tat er
dies mit der (für die Anima unerreichbaren) »Persönlichkeit Nr. 1«, wandte er
sich dagegen der Phänomenologie der seelischen Wirklichkeit oder der Urerfah
rung zu, so kam die (von der Kritik unberührte) »Persönlichkeit Nr. 2« zum Zu
ge, beides sauber getrennt, sozusagen »er hüben und sie drüben« (Mörike). Ja,
logisch diente ihm die (bei ihm wesentlich an Kant orientierte) philosophische
Kritik gerade dazu, die grundsätzliche Scheidung von kritischer Reflexion und
Naivität der psychologischen Erfahrung, von noumenon und phainomenon, zu
rechtfertigen und festzuschreiben.
Zeigt der Satz »allzuleicht vergiftet die Selbstkritik das köstliche Gut der
Naivität, jene Gabe, die jedem schöpferischen Menschen so unerläßlich ist«
nicht dieselbe falsche Ängstlichkeit in bezug auf das Verhältnis philosophische
Kritik - Erfahrung des Bilderreichs der Seele, die in bezug auf das Verhältnis
Psychoanalyse - Künstlertum Hermann Hesse an den Tag gelegt hat, wenn er in
einem Brief an Jung vom Sept. 193427 schreibt: »Eben darum ist ja die
Ps.analyse für Künstler so sehr schwierig und gefährlich, weil sie dem, der es
ernst nimmt, leicht das ganze Künstlertum zeitlebens verbieten kann«? Dieser
letzteren Auffassung hat Jung mit Recht immer das Recht abgesprochen. Die
Ängstlichkeit beruht eben auf jener Logik, die Anima und Animus abstrakt-ein
seitig als Gegensätze trennt, sie aber nicht dialektisch als Syzygie ansetzt. Ihr
liegt eine entscheidende Verwechslung zugrunde: die der Tötung einer
unschuldig-naiven Bewußtseinsstufe, innerhalb von der das Schöpferische auf-
tritt, mit der Tötung des Schöpferischen in einem Menschen schlechthin. Die
schöpferische Kraft vor Gefährdung zu bewahren, ist ein legitimes Anliegen.
Aber was in jenen Äußerungen Hesses und Jungs jungfräulich rein gehalten
werden soll, ist nicht diese Kraft selbst, sondern die Bewußtseinsstufe, auf der
sie sich, der eine als Künstler, der andere als Psychologe, aufhalten. Und die
Verwechslung hat vermutlich den tieferen Zweck, vor dem Tod der Bewußt
seinsstufe eine schlechterdings unüberwindliche Schranke aufzubauen und sie
damit endgültig abzusichem, während ohne diese Ineinssetzung das Bewußtsein
ganz selbstverständlich an seinen Widersprüchen zugrundegehen und auf neuer
Stufe wiederauferstehen könnte, weil zu sterben und wiederaufzuerstehen zur
Natur des Bewußtseins gehört. Auf der hier festgehaltenen Stufe hat das schöp
ferische Bewußtsein das Anliegen der kritischen Analyse nur außer sich, sich
gegenüber. Was ist das aber für eine armselige Auffassung von Künstlertum,
schöpferischem Sein, Psychologie, die sie durch kritische Differenziertheit ge
fährdet meint? Denken wir demgegenüber an das schon zitierte Wort von Hegel
zurück:
Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein
bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes.
Wie die Jungfrau in der geschlechtlichen Begegnung mit dem Manne ei
nen Tod erleidet, aber an diesem Tod nicht buchstäblich stirbt (nicht sie als die
ses Individuum, sondern nur sie als das jungfräuliche Bewußtsein dieses Indivi
duums), wie sie sich vielmehr darin erhält und als etwas ganz Neues, als Weib,
aufersteht, so fanden die Anima in ihrer Tötung durch den Animus und die Psy
chologie in ihrer Vergiftung durch den Trank der philosophischen Kritik nicht
das absolute Ende ihres schöpferischen Seins, sondern durch eben diesen Tod,
und nur durch ihn, wahrhaft sich selbst, nämlich sich selbst auf einer neuen,
nicht mehr naiven Bewußtseinsstufe.
Vom Standpunkt der Syzygie aus begriffen stünden sich Schöpferkraft
und kritische Philosophie nicht abgespalten gegenüber; sie wären von Hause aus
miteinander verquickt oder verschränkt. Die Gabe des schöpferischen Menschen
wäre gerade die, das schon in sich selbst kritische, logisch über sich aufgeklärte
(also seine »Vergiftung«, ja seinen Tod längst in sich tragende) Bild naiv zu ge
stalten: ein ungemilderter (aber dialektisch oder, was dasselbe ist, syzygisch zu
sammengehaltener) Widerspruch (der sich dem Animus innerhalb der Syzygie
verdankt) anstelle des Versuchs der äußerlichen Vermittlung des Gegensatzes
von Naivität und Kritik durch solch ein hilfloses Denken, wie es zum Ausdruck
kommt in dem paradoxen Oxymoron »süßbitter« oder in dem quantitativen Ge
danken der gerade noch verträglichen Dosierung (»viel zu wenig« - »fast zu
viel«). Gerade noch verträglich: die Anima in ihrer Unschuld soll also noch da
vonkommen, der wirkliche Tod des sauber trennenden Bewußtseins (und damit
die wirkliche coniunctio oder Syzygie!) soll abgewehrt werden.
Die logische Form als Kriterium der W irklichkeit Warum kann eine
reine Psychologie unter der alleinigen Ägide der Anima, warum kann die Un
schuld des Imaginalen die Welt nicht erreichen? Weil die Welt seit den Tagen
Homers wirklich eine andere geworden ist und diese Andersheit sich dem Ani
mus, dem Logos verdankt. Eine Welt des Tauschhandels ist eine logisch sehr
viel einfachere als eine Welt des Papiergeldes und des bargeldlosen Girover
kehrs. Man kann nicht erwarten, daß jener Mythos, welcher die Wirklichkeit ei
ner bäuerlichen Welt in den (nicht formallogischen, sondern Hegelschen) Be
griff bzw. das ihm entsprechende Bild gefaßt ist, umstandslos auf die Zeit der
modernen Großstädte und der Massengesellschaft übertragen werden kann. Eine
Zeit, in der man sich zu Fuß oder zu Pferd fortbewegte, erzeugt logisch (nicht
unbedingt inhaltlich) andere, anders konstituierte Bilder und Gestalten als eine
Zeit, in der sich der Mensch logisch von der Erde in den Luftraum und sogar in
den Weltraum abgestoßen hat, ganz so wie das Leben, das in allen seinen For
men unteilbar eines ist, sich auf der Stufe der Säugetiere in einer komplexeren
Logik abspielt als auf der Stufe der Einzeller.
Homer hatte keine Wissenschaften neben sich. Er lebte nicht in der Spal
tung von erlebter, gefühlter, geglaubter Lebenswelt und wirklichem Wissen. Für
ihn gilt noch, was Jung über den »naiven Primitiven« sagte: er »glaubt nicht, er
weiß...« »Er lebt in einer Welt, wir aber nur in der einen Hälfte und glauben
bloß, oder auch nicht, an die andere.«28 Die Wissenschaften sind das Zeichen
darauf, daß wir und unsere Welt die logische Unschuld verloren haben und
wirklich in einem anderen Status stehen. So, wie sich der Mensch physisch
durch die Erfindung von Flugzeug und Raumschiff von der Erde abgestoßen hat,
so hat er sich auch psychisch durch die Aufklärung und die Wissenschaften von
der ungestörten mythischen Imagination abgestoßen. Abgestoßen besagt nicht:
total hinter sich gelassen, sondern aufgehoben im Sinn von überwunden, als
Überwundenes mitgeführt und dadurch auf ein anderes logisches Niveau geho
ben. Ich sprach oben von der Syzygie als der Einheit von Einheit und Gegen
sätzlichkeit der Gegensätze und von der Gegenwart der Vergangenheit des Ver
gangenen. Was damit gesagt ist, und mit welchem Recht diese Formeln hinge
stellt werden, das zu verstehen würde wie gesagt den Gang durch die ganze Lo
gik erfordern. Aber es mag für uns hier genügen zu sehen, daß damit eine innere
logische Komplexität und Gestufiheit ausgedrückt ist. Es geht weder um eine
einfache Einheit noch um eine einfache Gegensätzlichkeit, sondern um die Ein
heit von Einheit und Gegensätzlichkeit der Gegensätze, eine Wendung in der
beide Begriffe je verdoppelt auftreten. Und es geht weder um eine platte Gegen
wart, noch um eine immer noch einfache Gegenwart der Vergangenheit oder des
Vergangenen. Sondern es geht um eine Gegenwart der Vergangenheit des Ver
gangenen, welche der erfüllte Augenblick (kairös) oder die Wirklichkeit ist.
Ob etwas auf der Höhe der Zeit ist und wirklich die Gegenwart als die be
griffene Vergangenheit des Vergangenen ausdriickt, ist nun freilich ein Problem,
das, wie Jung in der oben zitierten Briefstelle über Hegel sagte, »... nicht an den
Inhalten, die innerhalb der Kulturgeschichte sozusagen immer dieselben geblie
ben sind [also auf der Seite des Imaginalen und der Anima], sondern an der
Form abzuhandeln wäre«. Diese Form ist logische Form, die logische Form, in
der dem Menschen Welt gegeben ist. An der logischen Form zeigt sich der je
weilige logische Bewußtseinsstatus, innerhalb von dem Weltbegegnung und
Weltumgang stattfinden.
Ahnen können wir etwas von dem, was mit der Komplexität der logischen
Form gemeint ist, wenn wir als Negativbeispiel die Problematik der Katho
lischen Kirche betrachten und uns zum Zweck einer entfernten positiven Analo
gie der modernen Kunst und Dichtung zuwenden.
Die Katholische Kirche beansprucht katholisch, kath’ hölou (allgemein,
universal), zu sein und in einer ungebrochenen, direkt auf Petrus und Jesus zu
rückgehenden Tradition zu stehen. Aber das ist eine gelebte »Lüge«. Die Katho
lische Kirche lebt aus einer gebrochenen Tradition. Das Große Schisma ist die
(reelle, nicht argumentative) Widerlegung der Katholizität. Der Bruch ist nicht
einfach nur damals durch die Reformation erfolgt, sondern in der protestanti-
sehen Kirche, die überdies ihrerseits nur als ein Plural von Kirchen und Sekten
existiert, hat die Katholische Kirche die Widerlegung ihres Katho-
lizitätsanspruchs fortwährend sichtbar vor Augen. Das »Leben Christi im corpus
mysticum oder das christliche Leben hüben und drüben ist mit sich selber ent
zweit, und keiner, der es ehrlich meint, kann diesen Zwiespalt leugnen. Wir sind
daher ganz in der Lage eines Neurotischen, der sich der peinlichen Einsicht be
quemen muß, daß er in einem Konflikt steht.« Der moderne Mensch kann ver
stehen, »daß das konfessionelle Drängen ihn zu einer Einseitigkeit wider besse
res Wissen, d.h. also zu einer Sünde wider den Heiligen Geist veranlassen
möchte.«29
Die katholische Kirche stammt daher auch nicht direkt aus der auf Jesus
und Petrus zuriiekgehenden Tradition. Sie stammt vielmehr aus der Gegenrefor
mation und bezeugte spätestens 1870 mit dem Unfehlbarkeitsdogma des 1. Vati
kanischen Konzils ihre logische Obsoletheit. »Der sich selbst nicht wahrhaben
wollende Unglaube an die Überzeugungskraft der Dogmen ist es, der sich im
Unfehlbarkeitsdogma ausspricht...«30
Entscheidend ist zu sehen, daß es hier nicht um die Behauptung geht, die
Katholische Kirche verkünde eine falsche Lehre, sie habe eine unhaltbare Inter
pretation des Christentums und andere Kirchen, Religionen oder Glauben seien
wahrer, richtiger, besser. Ich lasse die gelehrten und geglaubten religiösen Ge
halte und Vorstellungen vielmehr ganz aus dem Spiel und zeige nur eine ganz
anders als inhaltlich zu begründende Unwahrheit auf, wobei mir die Katholische
Kirche auch nur als besonders offensichtliches und zugleich als das vornehmste
und gediegenste Beispiel für eine solche Unwahrheit in unserer Zeit dient. Ließe
ich mich auf den interkonfessionellen Meinungsstreit oder allgemeiner auf Reli
gionskritik ein, dann bliebe ich auf der Ebene der konkurrierenden Lehren, des
Substantiellen, und damit auf der Ebene der »subjektiven« Logik, d.h. hier (an
ders als bei Hegel): der Logik der subjektiven Vorstellungen des Bewußtseins.
Worum es mir dagegen einzig geht, ist die Feststellung, daß die Katholische Kir
che an ihr selbst ihre Überholtheit und ihr Widerlegtsein offen zur Schau trägt,
weil die objektive logische Form ihrer Wahrheiten, als fundamentalistischer, al
so defensiv-reaktionärer (d.h. gegen das ganze wirkliche Leben des modernen
Abendlandes künstlich und wider besseres Wissen konservierter) Wahrheiten,
ihr logisches Abgeschnittensein von der lebendigen Wahrheit offenbar macht.
Die Dogmen mögen zum großen Teil als archetypische Inhalte »ewige Wahrhei
ten« sein. Nur weil sie in die »mittelalterliche« Form der Wahrheit eingefroren
29 C.G. Jung, GW 16 § 392. - Es ist bezeichnend, wenn auch für unseren Zusammenhang hier uner
heblich, daß Jung den Zwiespalt nicht nur auf die menschliche Seite (die Kirchen als menschliche
Institutionen) verlegt, sondern als Entzweiung des Lebens Christi selber erkennt. Es ist ein Riß
schon auf der archetypischen Ebene.
30 Christoph Türcke, »Die pervertierte Utopie. Warum der Fundamentalismus im Vormarsch ist«,
in: Die Zeit Nr. 16,10. April 1992, S. 67 u. 69, hier S. 67.
sind, sind sie logisch unwahr geworden, so unwahr, wie die Kostümierung der
Pfarrer, Bischöfe, Päpste oder der Schweizer Garde in unserer Zeit es ist. Was
ist von diesem einfachen, sich ungerührt den Wandlungen der Z e it entgegen
stemmenden Bewahren zu halten? Wir lassen es uns von Jung sagen: »Der Frie
de der Kirche ist eines und hinter der Zeit zurückzubleiben ein anderes.«31 Auch
»ewige Wahrheiten« haben ihre Zeit!
In vielen künstlerisch bedeutenden Kirchen findet der Tourist heute häu
fig eine Tafel, auf der er gemahnt wird, der Tatsache in Kleidung und Verhalten
Rechnung zu tragen, daß dies ein Gotteshaus sei. Auch mit dieser Mahnung wird
eine »Lüge« ausgesprochen. Das Gebäude war einmal ein Haus Gottes. Heute
jedoch hat es, so traurig dies sein mag, aufgehört, ein Haus des Herrn zu sein.
Jetzt ist es ein Kunstwerk, eine Sehenswürdigkeit, ein historisches Monument.
Mag es auch formaljuristisch einer Kirche gehören, so gehört es doch längst in
Wahrheit dem Bildungsbürgertum und dem Massentourismus. Gott und Seele
sind längst aus dem Gebäude ausgewandert und haben das, was im Mittelalter
von ihnen erfüllt war, als bloße Antiquitäten und Museumsstücke entleert zu
rückgelassen. Nur weil das Kirchengebäude heute kein Gotteshaus mehr ist,
muß es die den Touristen ermahnenden Schilder überhaupt geben. Wirkliche
Wahrheiten brauchen keine Beteuerung. »Sie sagen nur >Gotteshaus, Gottes
haus^ und ist doch kein Gotteshaus« (frei nach Jes. 4:14 und öfter).
Das ist ein krasses Beispiel für das Problem, vor das sich ähnlich auch die
Psychologie gestellt sieht. Auch sie behält den logischen Bewußtseinsstatus des
»Mittelalters« mitten in der Welt der Moderne bei. Aber, wie Jung schon wußte:
»Wir können nicht mehr auf antike oder mittelalterliche Weise denken.« Es ge
nügt nicht, sich auf die zuzugestehende archetypische und so »zeitlose« Wahr
heit der Gehalte der Bilder zu berufen, als ob damit ihre wirkliche Wahrheit
auch für unsere Zeit garantiert wäre. Das Hauptproblem ist die Frage nach der
Wahrheit der logischen Form unserer Wahrheiten, von all dem, was wir als
wahr glauben und wonach wir unser Leben ausrichten. Die Symbole formulieren
unsere Wahrheit nicht mehr, sie drücken nicht mehr die Wahrheit unserer Zeit
aus, sondern wirken als Bilder, die man bestenfalls nur »erleben«, anstaunen
kann: »die Wirkung (bleibt) daher in der Gefühlssphäre stecken, meist aber er
reicht sie nicht einmal diese.«32 »Welchen Erfolg aber hätte die Predigt Pauli ge
habt, wenn er sich der Sprache und des Mythus des minoischen Zeitalters be
dient hätte, um darin das Evangelium den Athenern zu verkünden? So wird lei
der gänzlich von der Tatsache abgesehen, daß an den heutigen Menschen viel
größere Zumutungen gestellt werden als an den des apostolischen Zeitalters
[oder gar, so dürfen wir hinzufügen, als an die Menschen z.B. der Zeit Homers]:
für letzteren bedeutete es keinerlei Beschwernis, an die jungfräuliche Geburt des
31 C.G. Jung, Briefe Bd. II, S. 474 (an Victor White, 2. IV. 55).
32 C.G. Jung, GW 9/II § 275.
Heroen und Halbgottes zu glauben... >Hermes ter unus< [Hermes dreimal einer]
war keine intellektuelle Absurdität, sondern eine philosophische Wahrheit. Auf
diesen Grundlagen konnte das Trinitätsdogma überzeugend aufgebaut werden.
Für den modernen Menschen bedeutet dieses aber entweder ein unzugängliches
Mysterium oder eine historische Kuriosität...«33 Die viel größere Zumutung, die
an uns heute gestellt ist, besteht darin, daß wir uns auch intellektuell, mit unse
rem nicht mehr naiven Bewußtsein, den Symbolen gewachsen zeigen, sie be
greifen oder ihnen eine Form unseres Bewußtseins anbieten müssen, in der sie
wieder für das kritisch gewordene Bewußtsein »objektiv« überzeugend sein
können.
Damit komme ich zur modernen Kunst und Dichtung als positivem Bei
spiel für ein Bewußtsein von der entscheidenden Wichtigkeit der logischen
Form. Ich nenne etwa (als untereinander völlig unterschiedliche Künstler) Picas
so, Kafka, Hölderlin, James Joyce. Was für ein Unterschied, nicht einfach nur
des imaginalen Inhalts, sondern in erster Linie des logischen Status ihrer Werke,
zu denen eines Homer. Die logische Komplexität zeigt sich darin, daß man die
genannten Dichter nicht umstandslos, mir nichts, dir nichts, aufnehmen kann.
Dann verstünde man gar nichts. Homer ist sofort zugänglich, und er dürfte es
auch für seine Zeitgenossen gewesen sein. Die logische Kategorie der Aufhe
bung macht sich in der modernen Literatur darin geltend, daß man auch ein pri
märes Verstehen eines James Joyce oder Kafka nie beim ersten Lesen gewinnt,
sondern immer und notwendig erst bei einem »zweiten« Lesen, das sich von der
vollzogenen, aufgehobenen, aber mitgeführten ersten Lektüre abstoßen kann.
Wenn man Joyce einfach nur liest, liest man ihn gar nicht. Die wirkliche Lektüre
ereignet sich nicht als umstandslose Lektüre, sondern nur als Kommentierung,
als ständiges Vor- und Rückwärtsverweisen und Verweisen auf die ganze abend
ländische Kulturgeschichte, die als aufgehobene präsent sein muß. Dieses Lesen
und diese Texte sind nicht gemütlich, erbaulich. Sie verlangen mühselige Arbeit.
Dies ist das Zeichen darauf, daß sich die moderne große Kunst auf ihre Weise in
der Syzygie hält. Sie fabuliert heute nicht einfach drauflos. Täte sie es, wäre sie
bloße Sonntagsmalerei oder Unterhaltungsliteratur, die immer unter dem er
reichten logischen Niveau bleibt. Sie überläßt sich nicht arglos der Imagination,
erzählt nicht nur Geschichten, malt nicht nur große symbolträchtige Bilder. Das
tut sie auch, aber sie tut es so, daß sie die Geschichten immer schon logisch auf
gehoben hat.
Was heißt es, wenn in der Kunst dieses Jahrhunderts eine Verschiebung
von einem an der Wahrnehmung zu einem am Begriff orientierten Zugang zur
Wirklichkeit vorgenommen wurde? Braque und Picasso »shifted from a percep-
tual to a conceptual approach to reality« im Jahr 1911.34 Nach Juan Gris haben
33 C.G. Jung, GW 9/II § 274. Meine Hervorhebungen.
34 Douglas Cooper und Gary Tinterow, The Essential Cubism, London (The Tate Gallery) 1983,
S. 11.
die Kubisten die Gegenstände dargestellt »as the mind conceives them to be and
not as they actually appear to the eye«.35 »Space was thus >materialized< instead
of being invoked by an illusion.«36 Was bedeutet »the violence inherent in Pi-
casso’s early cubism«?37 All dies bedeutet den Abschied vom natürlichen, an
Wahrnehmung und Vorstellung orientierten Bewußtsein und den Versuch, nicht
mehr die natürliche Welt darzustellen, sondern die aufgehobene natürliche Welt,
die Logik selbst der Welt, die gedanklich erfaßte Welt. Gemalt wurden gewis
sermaßen die platonischen Ideen selber, die Allgemeinbegriffe, und nicht die
sinnliche Wirklichkeit, von der und für die die Ideen die Ideen sind.
Dem Übergang der Kunst innerhalb ihrer selbst von dem von der Wahr
nehmung geleiteten zu einem begrifflichen Zugang zur Wirklichkeit entspricht
auch eine geschichtliche Wandlung der Symbolik des Gottessohnes von seiner
z.B. theriomorphen zur begrifflichen Form. Jung hat gezeigt, daß die frühchrist
liche und die »alchemistische Fischsymbolik in direkter Linie zum lapis philoso-
phorum, dem salvator, servator und deus terrenus, das heißt psychologisch, zum
Selbst« führt. »Damit entsteht ein neues Symbol an Stelle des Fisches, nämlich
ein psychologischer Begriff von der menschlichen Ganzheit. Ebensoviel und
ebensowenig als der Fisch Christus ist, bedeutet das Selbst Gottheit... Es i s t ...
eine weitere Verwirklichung des Gottessohnes, [aber] nicht mehr in theriomor-
pher, sondern in begrifflicher (>philosophischer<) Symbolik. Damit ist, gegen
über dem stummen und unbewußten Fisch, deutlich eine Bewußtwerdung ausge
drückt.«38*Nicht so sehr der Inhalt, sondern die logische Form hat sich geändert.
Das Symbol hat sich fortbestimmt und in der Fortbestimmung auf eine andere
Ebene gehoben.
Mit dem Hinweis auf die Kirnst sollte kein unmittelbares Vorbild für die
Psychologie aufgestellt werden. Die Psychologie muß ihre eigene Form finden,
und überdies fragt es sich auch, ob die große Kirnst dieses Jahrhunderts nicht
vielleicht mehr nur dank der ruchlosen persönlichen Genialität ihrer Schöpfer
zur Form gefunden hat als kraft dessen, daß diese das unserer Zeit wirklich ge
mäße logische Niveau erreicht hätten. Doch wie dem auch sei, im Vergleich mit
der Kunst zeichnet sich der Diskurs der Psychologie durch eine Animusverges
senheit aus. Freud, Jung und die vielen, die nach ihnen kommen - ich selbst ein
geschlossen - , schreiben direkt. Der Inhalt, das Gemeinte, wird unmittelbar aus
gedrückt und ist unmittelbar zugänglich. Die logische Form wird sich selbst
überlassen, und das Gesagte erreicht daher den Rang des Logischen nicht. Das
Ringen um die Form geht nicht in die psychologische Arbeit ein, geschweige
denn, daß es als zentral für die Psychologie erkannt würde. Das Ringen gilt nur
39 So sagt Jung (GW 9/II § 275) von der heutigen christlichen Kerygmatik, aber seine Worte gelten
genauso Air den unmittelbaren Gebrauch, der von Bildern und Symbolen in der Psychologie ge
macht wird.
40 C.G. Jung, Briefe III, S. 246.
sem Zusammenhang auch für Hegels Sprache einsteht. »Wir bewundern diese
Sprache,..., gerade als wissenschaftliche Sprache... Wir nennen sie ursprünglich,
wie in der deutschen Philosophie nur noch Hegels Sprache ursprünglich ist, wie
heute überhaupt kein Mensch deutscher Zunge, sämtliche Dichter inbegriffen,
ursprünglich spricht... Und in solcher ursprünglichen Meisterlichkeit ist diese
Sprache nüchtern, wie alles Echte, das Philosophisch-Echte wie das Dichterisch-
Echte immer nüchtern ist.«41 Und auch über 30 Jahre später sprach Staiger von
»dieser vielgeschmähten Sprache, die mir auch heute noch als eine der größten
Leistungen auf dem Gebiet der philosophischen Prosa erscheint.«42
Was eigentlich war nun der Grund, warum Jung Hegel mit solcher affekti
ven Heftigkeit herabsetzen mußte, anstatt einen Bruder im Geiste in ihm zu er
kennen, wenn er doch andererseits in ihm den (uneigentlichen) Psychologen
sah? Warum mußte Jung Hegel die denkerische Form absprechen? Hier geht es
in der Tat um ein Problem Jungs mit dem Problem der Form. Ich vermute, daß
Jung die Psychologie auf der Ebene der logischen Form der Anima-Stufe nieder-
halten wollte, auf der Ebene der Bilder, Vorstellungen, Personifikationen, kurz
der Imagination. Vergröbert gesagt: Psychologie - das sollten die Träume,
Phantasien, aktiven Imaginationen, visionären Erlebnisse und deren einfache
Aufnahme ins Bewußtsein sein. Jung ließ also die Psychologie ausschließlich
durch ihre Inhalte definiert sein, nicht durch die logische Form der Psychologie.
Gewiß, die zu seiner Zeit herrschende naive Definition durch Inhalte hatte Jung
weit hinter sich gelassen, diejenige, die die Psychologie subjektivistisch als die
Wissenschaft von den persönlichen Gefühlen, Gedanken, Vorstellungen, Wün
schen im Inneren des Menschen im Gegensatz zur objektiven Realität definiert.
Jung bestimmte die Psychologie innerhalb eines zu dem genannten querstehen
den Gegensatzes von »Wissenschaft« über Bild und Sinn/Bedeutung (Psycholo
gie) und Wissenschaft über sinnlose Fakten, Vorgänge, Mechanismen (Natur
wissenschaft). Doch auch wenn damit eigentlich schon ein logischer Gegensatz
angedeutet ist und Jung auch immer wieder, wie man fairerweise sagen muß, ge
legentliche Aussagen macht, die zeigen, daß er den Unterschied durchaus schon
als einen solchen der logischen Form oder der Form der Reflexion sehen konnte
- wir sind schon öfter darauf aufmerksam geworden und werden noch weitere
Belege kennenlemen - , so gab er in der Regel doch dem Gegensatz eine ontolo
gische, inhaltliche Fassung, etwa wenn er von der Bilderwelt als der psychi
schen Realität sprach, die die gleiche Würde wie die physische Realität habe.
Innerhalb des ontologischen Ansatzes läßt sich eine wirkliche Psycholo
gie nicht plausibel machen. Sie ist in Wahrheit definiert durch eine andere logi-
41 Emil Staiger, »Noch einmal Heidegger«, Neue Zürcher Zeitung vom 23. Jan. 1936. Jetzt in: Ant
wort. Martin Heidegger im Gespräch, hg. G. Neske, E. Kettering, Pfullingen (Neske) 1988, S.
270.
42 Emil Staiger, »Ein Rückblick«, in: Heidegger. Perspektiven zur Deutung seines Werkes, Köln-
Berlin 1969, S. 242.
sehe Form oder durch einen anderen, sich dem wahrgemachten Animus (also der
Syzygie) verdankenden Bewußtseinsstatus.
Indem Jung Hegels Denken die denkerische Form absprach und ihm zu
gleich eine Inflation seines Denkens durch psychologische Gehalte vorwarf, ge
lang es ihm, schon den Begriff des Denkens grundsätzlich unter dem Niveau der
Hegelschen dialektischen Logik und auf dem vergleichsweise harmlosen Niveau
des formallogischen (oder auch des Kantischen) Denkens zu fixieren (einzufrie
ren), womit dann gleichzeitig auch das Denken der Jungschen Psychologie (wie
alles Denken überhaupt) der Aufgabe enthoben wurde, innerhalb der Psycholo
gie über diese Stufe des Psychologischen zu einer neuen Form hinausschreiten
zu müssen, weil alles Denken, das über das formallogische Denken hinausging,
dann als bloß »romantisch«, »inflationiert« und als »undenkerische Form« abge
tan werden konnte. Die Norm war von vornherein auf niedriger Stufe festge
schrieben, und was darüber hinausging, durfte dann als Verirrung gelten, der
man nicht folgen durfte. Die Psychologie konnte sich so im Recht glauben,
wenn sie davon ausging, auf der Anima-Stufe der Anschauung und der »Erfah
rung« (des Erlebens) einfach verharren zu dürfen und nicht selber über sich hin
ausschreiten zu müssen, um für sich und ihre Gehalte die denkerische Form zu
erringen. Dem Imaginalen, das inhaltlich immer schon logisches Leben darstellt,
mußte nicht auch die flüssige, geistige Form der logischen Bewegung gegeben,
es mußte ihm nicht die Kränkung zugefügt werden, auf die Stufe der Erkenntnis,
des Begriffs gebracht zu werden. Wandlung sollte sich nur als Veränderung der
erlebten Inhalte des Bewußtseins innerhalb derselben alten, intakt gehaltenen
Bewußtseinsstufe ereignen, aber nicht die Auflösung und Aufhebung dieser be
deuten. Es ist also Jungs eigene Furcht vor der denkerischen Form, die es nötig
machte, die Heraufforderung, die Hegels Denken darstellte, mit pathologisie-
renden Diagnosen und der Behauptung, daß Hegel die denkerische Form fehle, a
priori abzuqualifizieren. Jung hielt dagegen Kant und Schopenhauer zeit seines
Lebens hoch, weil er durch ihre denkerische Form sich nicht in seiner denkeri
schen Form herausgefordert oder gar bedroht fühlen mußte. Worin bestand die
Bedrohung? Darin, daß durch das Problem der Form das Bewußtsein aus der
splendid isolation, in der es seinen Gegenständen (Erlebnissen, Bildern) gegen
übersteht und auf diese reagiert oder sie »verarbeitet«, selber als Gefäß, als Re
torte, in den sich innerhalb seiner abspielenden alchemistischen Prozeß der pu-
trefactio, sublimatio usw. rückhaltlos hineingezogen würde.
Gleichzeitig wird mit der Brandmarkung des Hegelschen Unternehmens
als romantisch und der Form nach undenkerisch die Trennung zwischen Psycho
logie und Philosophie, Anschauung und Denken, Erfahrung und Metaphysik, al
so die klare Arbeitsteilung zwischen beiden aufrechterhalten, die doch offenbar
ein Ausdruck eben des »Risses, der durch die Metaphysik geht« ist, welcher ge
rade auch nach Jung überwunden werden soll. Die Philosophie ist dann dazu
verdammt, rein denkerisch im formallogischen Sinn zu sein und sich vor dem
logischen Leben der Seele abzuschirmen, und die Psychologie dazu, sich um das
reine Erleben der Bilder zu kümmern, ohne die denkende Verantwortung für sie
übernehmen zu müssen. Jungs Wort »romantisch« für Hegel ist die pejorative
Benennung für das Erreichthaben der Syzygiestufe.
Jung hat zwar keineswegs eine medizinische Diagnose aussprechen wol
len, wenn er bei Joyce und Picasso zum Zweck der Typisierung die Analogie,
nicht mehr!, zur Schizophrenie im Unterschied zur Neurose zog. Aber es ist
doch bezeichnend, daß er überhaupt ein Problem der künstlerischen Form auf in
dividuelle typische Dispositionen und damit auf »Psychologie« glaubte zurück
führen zu dürfen, was ihn natürlich der Aufgabe enthob, es als ein logisches Pro
blem, eines des logischen Status, zu erkennen und zu würdigen. Jung fand es
nicht zu mühsam, in jahrelanger Arbeit die abstrus wirkenden Bilder der Alche
mie zu entziffern - weil er hier auf der Ebene der Gehalte und damit der Anima-
Stufe bleiben konnte und nicht zur Stufe der Syzygie, also der Logik, Vordringen
mußte, wozu ihn die modernen Künstler und die wirklichen Philosophen genö
tigt hätten. -
Jetzt ist einsichtig, warum die Psychologie die Neurose als die Entfrem
dung des Menschen von der Welt und der Welt vom Menschen nicht heilen
kann: sie hält sich systematisch unter dem logischen Niveau, das der Weltum
gang heute wirklich innehat, und geht so notwendig an der Wirklichkeit vorbei.
Sie stellt bestenfalls kompensatorisch Bilder, d.h. Möglichkeiten, neben sie hin.
Nur wenn sich die Psychologie in der Syzygie hielte und das heißt gleichzeitig
mit dem Anliegen der imaginalen Gehalte auch die Aufgabe der logischen Form
dieser Gehalte entsprechend unserem erreichten Status in ihre eigene Verant
wortung übernähme, anstatt sie dem »Philosophen von Fach« zu überlassen,
könnte sie die Welt in sich haben, und nur wenn sie sie in sich hätte, könnte sie
sie wirklich erreichen. Nur in der Syzygie gibt es Wirklichkeit, weil nur sie ge
währleistet, daß wir uns logisch auf der wirklichen Höhe der Zeit bewegen, also
auf derjenigen Höhe, auf der der wirkliche Weltumgang sich heute nun einmal
befindet und auf der dann auch wirkliche Welt allein angetroffen werden könnte.
Die Selbstaufhebung der Psychologie. Aber um sich in der Syzygie hal
ten zu können, müßte die Psychologie sich jener rückhaltlos ausliefem. Sie müß
te sich von ihr durchherrschen lassen und die splendid isolation der Imagination
und der zeitlosen archetypischen Urerfahrung aufgeben. (Wohlgemerkt: ich
fordere nicht die Abkehr von der archetypischen Urerfahrung, von Träumen, Vi
sionen und Phantasiebildem, sondern die Abkehr allein von der splendid isola
tion, in der sie durch unseren bisherigen logischen Status gehalten werden.) Das
heißt aber, die Psychologie müßte den Bmch in der Geschichte, den Bruch von
den homerischen Zeiten eines arglosen Mythos43 zur Verwundung der Anima
43 Es sei hier dahingestellt, ob der Mythos der homerischen Zeit für diese Zeit selbst so arglos war,
wie ich es hier sage. Er ist es jedenfalls von unserer Zeit aus gesehen. Allgemein gilt: Der Gegen
satz arglos - logisch gebrochen oder Animastufe - Animusstufe darf nicht seinerseits literalisiett
durch den Animus, nicht nur zugeben, sondern bedingungslos durchleiden. Ohne
den bewußt vollzogenen logischen (nicht erlebnismäßigen) Abschied vom My
thos keine Gegenwart der Vergangenheit des Vergangenen und damit auch kein
die heutige Wirklichkeit erfassender Mythos. Ohne ein Bewußtsein der Stufen
des Bewußtseins44 bliebe die Psychologie unberührt, naiv - eingehaust in das
über der Erde schwebende platonistische oder auch Husserlsche Wesen. Dieses
Stufenbewußtsein würde aber den Zusammenbruch des logischen Status der ge
samten bisherigen Animus-Stufe bedeuten, auf der die im Unbewußten gehalte
ne Anima dem Ich einflüsterte, den formallogischen Denkduktus konkret zu
nehmen und seine eigene Existenz von der formallogischen Stimmigkeit (Ein
deutigkeit) abhängig zu machen.
Dieser Zusammenbruch wäre dann natürlich zugleich auch die Aufhebung
des Ichs, ja der Psychologie selber. Die Syzygie hätte das Ich, hätte die Psycho
logie aufgehoben und übernähme jetzt selbst die Führung. Die Syzygie wäre
nicht mehr nur von einem ihrer Momente, von Anima oder Animus, her erfah
ren, sondern von der Syzygie selbst her, welche diese Momente als aufgehoben
in sich umfaßt. Jetzt endlich wäre die Syzygie erfüllte Syzygie, sie wäre bei sich
selbst angekommen: und erst damit wäre auch der Animus wahrhaft zu sich
selbst gekommen. Mit Hegel zu reden, sie wäre nicht mehr nur »an ihr« Syzy
gie, was sie immer war und ist, auch zur Zeit ihrer Abwehr und Zerreißung, son
dern sie wäre es auch »für sich«. Mit diesem Schritt von der Ebene der Momen
te zu der Ebene des sie aufgehoben in sich Enthaltenden wäre eine höhere Stufe,
ein neuer logischer Status erreicht.
Der Einbrach des Animus in die pieromatische Welt der Anima-Stufe (in
der sowohl Anima als auch Animus als auch die Syzygie selbst Vorkommen,
nämlich als Bilder, Gestalten oder archetypische Dominanten) darf, so scheint
mir, nicht als Beginn einer vollgültigen und mit der Anima-Stufe gleichrangigen
Animus-Stufe gesehen werden. Vielmehr bedeutet die Initiation in den Animus
als einen solchen (d.h. in seine Stufe) die Aufforderung, zusammen mit der
Anima-Stufe auch eine etwaige Animus-»Stufe« ganz und gar zu überschreiten,
weil letztere, wie ich gezeigt habe, immer noch animageleitet und damit gar kei
-------------------------------- (Forts.)
und fixiert werden, als ob er sich auf reale historische Epochen verteilte. Er ist ein stets mitgehen
der Gegensatz. Historische Epochen verhelfen uns, ihn zu artikulieren.
44 Ich hoffe, der Leser spürt, daß das von mir gemeinte Bewußtsein der Stufen des Bewußtseins
durch einen Abgrund von den Bewußtseinsstufen des Entwicklungsdenkens in der Psychologie
(etwa Erich Neumann) getrennt ist. Ich betrachte den Neumannschen Entwicklungsansatz einer
seits und das Stufendenken in Hierarchien (etwa Rudolf Steiner) andererseits gerade als die zwei
hauptsächlichen Weisen des Rettungsversuchs der Kontinuität und der Einhelligkeit des Bewußt
seins mit sich. Mit der Rettung von Kontinuität und Einhelligkeit soll letztlich die Zeitlosigkeit
des »Wesens« (im Sinn des 2. Teils der Hegelschen Logik) gerettet werden. Negativ gewendet:
»Entwicklung« als Wachstum und »Hierarchien« dienen der Abwehr von Diskontinuität, logi
schem Brach, Tod, Zerrissenheit - auf die ich mit meinen »Stufen« des Bewußtseins hinziele.
ne wirkliche Animus-SfM/e wäre. Die Rede von einer solchen wäre ein Mißver
ständnis. Der Animus kommt nicht voll zu sich selbst, wenn er sich auf einer be
sonderen Animus-»Stufe« einhausen will. Diese bliebe immer noch irgendwie
auf der Anima-Stufe und bedeutete nur die Verschiebung des auf dieser Stufe
herrschenden Gesichtspunktes von der Anima auf den Animus, nicht ihre Aufhe
bung und die Gewinnung einer neuen Stufe. Die wahre »Animus-Stufe« ist viel
mehr die Stufe der Syzygie!
Wenn ich im vorigen von der Animus-Stufe, auf der sich das geschichtli
che Abendland etwa seit der griechischen Aufklärung befunden hat, gesprochen
habe, dann erweist sich dies von hier aus als ein uneigentlicher Ausdruck. Rich
tiger wäre es, von der Animus-Zeit zu sprechen, welche aber auf der alten Stufe
der Anima verblieb. Es ist ja gerade das Problem dieser Animus-Zeit, daß sie le
diglich die Verschiebung des Standpunktes bewirkt hat, aber auf derselben alten
Stufe verharrte. Es gibt so nicht drei Stufen: Anima, Animus, Syzygie, sondern
nur zwei: Anima und Syzygie. Die Animus-Zeit muß daher als eine bloße Über
gangszeit gesehen werden. Sie hat nur den Rang der Vorläufigkeit, den Rang ei
ner Vorbereitungszeit. Wenn man dem folgt, dann mag man begreifen, daß so,
wie die Anima die Geleiterin in das Unbewußte als substantielles Reich der
Bilder und Gestalten ist, der Animus der Psychopompos von einer Stufe zur an
deren ist. Die Animus-Zeit erweist sich so, die Zeit der mählichen Initiation in
die Stufe der Syzygie gewesen zu sein.
Von diesem Punkt aus sei noch einmal zusammenschauend ein Blick auf
die Erscheinungsformen der Syzygie auf ihren verschiedenen geschichtlichen
Stufen zurückgeworfen. Auf der Anima-Stufe, der des Mythos und der mythi
schen Philosophie, begegnet die Syzygie gegenständlich (»personifiziert«) als
das differenzierte Nebeneinander des Götterpaares und als das Zusammenspiel
von Prinzipien, z.B. von yin und yang. In der Zeit des Animus erscheint sie in
der Weise der Diastase, der Gegensätzlichkeit. Hier sind, dank des Auseinan-
derfallens der Gegensätze, grundsätzlich zwei Richtungen möglich, die der Auf
klärung und die der Romantik (beides in weitestem Sinn, als Chiffren, genom
men). Die Aufklärung stellt sich auf die Seite des Animus und bekämpft die
Anima, die Romantik erklärt sich umgekehrt mit der Anima-Welt solidarisch
und verdammt das vom Animus gebrachte Geschehen. Letztere im Grande ma-
nichäische Position wurde in unserem Jahrhundert mit größter intellektueller
Redlichkeit und Kraft von Ludwig Klages dargestellt: »Der Geist als Widersa
cher der Seele«. Beide Positionen, so entschieden sie für das je eine sind, bezeu
gen jedoch gerade das andere, das sie bekämpfen, und sind ihm verfallen: die
Aufklärung bezeugt die Anima, indem sie die Produkte ihres eigenen aufkläreri
schen Tuns wesensphilosophisch absolutsetzt, also animahaft hypostasiert, der
Manichäismus umgekehrt den Geist, indem er mit seiner eigenen Kategorie des
Widersachers, also des unversöhnlichen Gegensatzes, gerade die Wahrheit des
Animus ausspricht.
Der Manichäismus erkennt also wirklich etwas. Aber er stellt sich nicht
auf den Boden seiner eigenen Einsicht, um sich von ihr, der lebendigen Fortent
wicklung zugewandt, zu etwas Neuem abzustoßen, sondern er wehrt sich gegen
sie, indem er sie bzw. ihren Inhalt als böse verdammt. Dies daher, weil er das zu
Recht konstatierte Widersachertum des Geistes als Töter als gegen das Leben
gerichtet versteht, während es doch nur die Unmittelbarkeit, die Unschuld oder
Unberührtheit des Lebens töten soll. Er geht mit Bewußtsein unter das Bewußt
sein, d.h. unter das von ihm erreichte logische Niveau. Die Aufklärung verfällt
in den umgekehrten und so genau entsprechenden »Fehler«. Sie stellt sich rück
haltlos auf den Boden des Widersachertums, sie agiert dieses, aber sie hat die
Einsicht in das Mörderische dieses ihres Tuns, das der Manichäismus wirklich
erkannt hat, nicht und kann sich so ebenfalls nicht von dem Boden, auf den sie
sich gestellt hat, zu etwas Neuem abstoßen. Die Aufklärung behauptet nur
(gleichsam mit der Faust auf den Tisch schlagend und so ohne Bewußtsein) das
erreichte logische Niveau des Bewußtseins.
Jung strebte, versöhnlicher und damit mehr der Anima dienend, wieder
das Nebeneinander und Zusammenspiel der Gegensätze an. Sein »Mysterium
Coniunctionis« kann zumindest als eine indirekte Antwort sowohl auf die Ein
seitigkeiten eines Klages wie die entgegengesetzten der Aufklärung verstanden
werden, indem er die Versöhnbarkeit und Versöhnung von Natur (Leben, Ani
ma) und Geist zeigen wollte. Er versuchte dies aber unmittelbar, nach wie vor
auf der Ebene der Momente verbleibend, auf der es aber dam kein wirkliches
Zusammenspiel mehr geben kann, wenn einmal der Animus ausdrücklich als ein
solcher in die Unschuld des Bewußtseins eingebrochen ist. So blieb es in Jungs
Werk letzlich bei dem äußerlichen Nebeneinander, der Kompensation. Anima
und Animus wurden noch immer wie auf der längst überwundenen Anima-Stufe
substantiell vorgestellt und gegenständlich dargestellt (z.B. Bollingen - Küs-
nacht). Mit dem Einbruch des Animus als eines solchen ist jedoch, wie wir be
reits gesehen haben, die substantiell-gegenständliche Stufe der Momente der Sy
zygie obsolet geworden und die Auffordemng an das Bewußtsein ergangen, die
Überschreitung zur Ebene der Syzygie selbst hin zu leisten. Der Animus hat sei
ne Aufgabe, sich abzustoßen, allzu buchstäblich-gegenständlich und ichhaft ver
standen und damit mißverstanden. In Wahrheit ging es gar nicht um sein Sich-
Abstoßen um seiner selbst willen und nicht um den Kampf gegen den Inhalt
Anima, d.h. um die Verdammung ihrer Bilder als Aberglauben, oder um den
Kampf gegen die Anima als archetypische Dominante des Bewußtseins, wobei
beidesmal die alte Ebene unangetastet bliebe, sondern es ging viel radikaler um
das Sich-Abstoßen des Bewußtseins bloß vermittels des Animus als seines Psy-
chopompos, und zwar um das Sich-Abstoßen von dem ganzen (animahaften)
Status der Gegenständlichkeit (in dem sowohl die Anima wie auch der Animus
selbst zunächst auftreten) hin zum nicht mehr gegenständlichen Status der Syzy
gie. Die Aufklärung hat es sich zu leicht gemacht. Sie glaubte die Aufgabe
objektiv-inhaltlich leisten (also agieren) zu können, ohne den Brach von dem
Status der Momente zu dem sie Enthaltenden erinnern, d.h. selber logisch da
durch erleiden zu müssen, daß sie sich auch von sich selbst abgestoßen hätte,
was gerade die vornehmste Aufgabe des Animus ist. Darin lag ihre Animaver-
fallenheit. Die Syzygie will jedoch im Bewußtsein heimkommen, zu sich selbst
kommen, und das kann sie nur, wenn sie als solche ins Subjekt er-innert wird
und das menschliche Dasein damit logisch zum Selber-a/i-Syzygie-Sew wird,
das Anima und Animus nicht länger vor sich und außer sich hat.
Die Überschreitung der Stufe der Momente ist die Überschreitung der ein
fachen Diastase hin zur Dialektik, in der allein es wieder, wie auf der Stufe des
Mythos, aber auf völlig neuer Ebene, das wirkliche Zusammenspiel der Gegen
sätze geben kann als die Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit des Gegen
sätzlichen.45 Die Überschreitung ist freilich nur, wenn sie die Aufhebung des
ganzen jetzigen Bewußtseinsstatus ist, d.h. der Absturz aus ihm.46
Jung wußte im Grande schon darum. Seine Psychologie hat diese Aufhe
bung trotz Jungs Bestehen auf dem empirischen Wissenschaftsstatus der Psy
chologie einerseits und der (von mir hier ganz einseitig herausgestellten) Anima-
verfallenheit seiner Psychologie andererseits in vielen ihrer Züge an ihr, wenn
auch nicht w irklicher sich. Jungs Psychologie war auch immer schon über die
se hier besprochenen Einseitigkeiten hinaus. Aber wie gesagt, sie hatte diese
Überwindung nur an ihr, sie war diese nicht voll und ganz, nicht in ihrer logi
schen Form.
An einer Stelle wird die Einsicht in die Notwendigkeit der Selbstüberwin
dung der Psychologie bei Jung deutlich ausgesprochen. Er sagt: die Psychologie
»muß sich als Wissenschaft selber aufheben, und gerade darin erreicht sie ihr
wissenschaftliches Ziel«47. Wirkliche Psychologie, das sah Jung hier, kann nicht
wissenschaftliche Psychologie sein, nicht ein einzelwissenschaftliches Fach im
Konzert des interdisziplinären Gesprächs.48*Aber sie kann auch nicht das undia
lektische Gegenteil von Wissenschaft sein, sondern sie ist das bestimmte, das
negative Nichts der Wissenschaft, aufgehobene Wissenschaft. Als solche hat sie
ihre eigene Wissenschaftlichkeit nicht mehr außer und über sich und die anderen
45 Diese Einheit würde nur dann erreicht, wenn das Bewußtsein die wache Einsicht in das Widersa
chertum des Geistes hätte, aber sie bis zu dem Grad aushielte, daß es sich trotzdem auf eben die
ses Widersachertum als seinen Boden stellte; oder wenn das Bewußtsein rückhaltlos das Werk
der Aufklärung vollbrächte, aber sich gleichzeitig das Mörderische seines Tuns eingestehen wür
de, ohne deshalb a) von jenem Werk abzulassen und ohne b) dem Schock, der in dem Prädikat
»mörderisch« liegt, durch irgendwelche Abmilderungs- oder Rechtfertigungsversuche auszuwei
chen.
46 Statt Absturz aus ihm könnte ich auch mit einem umgekehrten Bild sagen: Abstoß von ihm. Das
Sich-Abstoßen ist nur als Absturz.
47 C.G. Jung, GW 8 § 429.
48 Siehe dazu: W. Giegerich, »Zur Fonn der Differenz von Psychologie und Theologie. Antwort auf
Ulrich Manns kritische Gegenfragen«, Analyt. Psychol. 19 (3): 223-228 (1988), hier S. 225-28.
Fächer (all die Wissenschaften) nicht neben sich, sondern in sich. Alles, was die
Wissenschaften erforschen, ist Moment und Stoff innerhalb des psychologischen
Fragens.
Genauso muß sich die Psychologie als Religion oder säkularisierter Reli
gionsersatz (Heilslehre) aufheben, weil sie nur so ihr therapeutisches Ziel er
reicht. Wirkliche Psychologie ist aufgehobene Religion. Sie ist die Gegenwart
der Vergangenheit der Religionen. Sie ist als Heilungs weg nicht selber Religion,
aber auch nicht undialektisch das krasse Gegenteil von Religion, nämlich Athe
ismus oder religiöse Indifferenz. Sie hat vielmehr die Religionen als ihre aufge
hobenen Momente in sich. Im Grande sah Jung dies auch. Er lehrte uns ja den
Abschied von der Religion und führte uns in das ehrlich ertragene Wissen um
die Kahlheit unserer entgötterten Welt49, ohne damit freilich das religiöse Anlie
gen ganz über Bord zu werfen. Im Gegenteil, er hat sich, mit deutlicher Abgren
zung von seiner anderweitig praktizierten Epoche zu einem Wissen von Gott be
kannt, wenn er über sein Verhältnis zu Gott sagte: Ich glaube nicht, ich weiß.
Das ist bereits aufgehobene Religion.
Was Jung dagegen nicht gesehen zu haben scheint, ist, daß wirkliche Psy
chologie sich auch selber als reine Psychologie aufheben muß und nur damit ihr
psychologisches Ziel erreicht. Wirkliche Psychologie darf sich nicht umstands
los kompensatorisch neben die Not der Zeit stellen und schriftstellerisch
unmittelbar zu Bewußtsein und Gefühl sprechen, sondern muß sich von Wissen
schaft, Glaube und sich selbst wie von allen künstlichen Trennungen abstoßen,
weil sie nur so die Not der Zeit berühren und mitführen und nur so den wirkli
chen Menschen erreichen kann. Wirkliche Psychologie ist aufgehobene, sich
selbst aufhebende Psychologie, ist das bestimmte Nichts der unmittelbaren Psy
chologie. Sie findet sich nur in dem ihr Fremden. Die wahre Not der Psycholo
gie ist mit rein psychologischen Mitteln nicht einmal aufzufinden. Sie liegt näm
lich schon in der unbewußten Logik, als die die unmittelbare Psychologie agiert
wird: Die Not ist ein logisches Problem, das Problem des logischen Status und
der ihm entsprechenden Form.
Weil die Psychologie die Transgression über ihre eigenen Grenzen ist, ist
der Ort, an dem sowohl über Geschehen oder Verfehlen der coniunctio entschie
den wird, nicht mehr der Raum der (eng verstandenen, unmittelbaren) Psycholo
gie selbst, sondern es sind die fernen Räume der Logik. Die wirkliche Wand
lung, die die Psychotherapie anstrebt, ereignet sich, wenn überhaupt, dort und
nicht in dem Individuum, wie Jung noch meinte, noch in der Gesellschaft, wie
Marx meinte. Sie ereignet sich im Dritten der Zwei (das aber kein buchstäbli
ches Drittes, kein positives, seiendes Etwas mehr ist, sondern die Form des
ganzen Inderweltseins, der Weltbegegnungszusammenhang im ganzen), in dem
die Zwei aufgehoben und als aufgehobene versöhnt sind. Erst in der logischen
1. Methodisch-theoretisch:
♦ »Psychologische Differenz«: die Differenz von Mensch und Seele; das logi
sche Tun des systematischen Sich-Abstoßens - innerhalb dieser stets wach
gehaltenen Differenz - vom anthropologisch oder positiv verstandenen
Menschen, dadurch »Psychologie mit Seele«', oder umgekehrt gesagt: das
methodische Tun der rückhaltlosen Hingabe an die Grundmetapher »Seele«
und so die Inständigkeit in deren Negativität (»Bodenlosigkeit« der Seele;
»absolut negative« Er-innerung in die Seele).
♦ Aufgehobenes natürliches Bewußtsein: aufgehobene Wissenschaft, aufge
hobene Religion, aufgehobene Psychologie52), was der Psychologie ihren
»unterweltlichen«, unsinnlichen Charakter gibt; Begreifen des kollektiven
Unbewußten als logisches Unbewußtes, als die verborgene Logik des Welt
umgangs im ganzen.
52 Psychologie hat die Aufhebung ihrer selbst oder das Sich-Abstoßen von sich selbst als von der
positiven Lehre, die sie zunächst einmal ist, in ihr selbst, zu ihrer (freilich nicht naturgegebenen,
sondern stets wieder neu erst zu gewinnenden oder zu leistenden) Voraussetzung.
♦ Phänomenologische Psychologie: Psychologie der »unmittelbaren Erfah
rung«, wie Jung sagen würde, oder, wie ich es formulieren würde, des Aus
harrens beim Scheinen des Jeweiligen (jeweiligen Phänomens), oder auch
Psychologie der Gegenwart53 (nicht: ist es das Wahre?, sondern: ist es meine
Wahrheit, mein Märchen, die heutige Wahrheit, und bin ich der Rechte für
diese Wahrheit?); die Einmaligkeit des Wirklichen.
♦ Uroborisch-dialektische Bewegung: die Bewegung gleichzeitig in entge
gengesetzte Richtungen, so, daß die Annäherung an die Unbekanntheit des
Objekts vor einem zugleich als Annäherung an die Unbekanntheit des Grun
des des fragenden, wahmehmenden Subjekts hinter einem gewußt wird (Ein
heit von intentio recta und intentio obliqua); entsprechend keine Trennung
von Forschung und Wissenschaftstheorie, von Therapie (Analyse) und psy
chologischer Theorie; einschwingen in das als Denken sein statt Gedanken
(Vorstellungen) über die Seele zu haben', Hineingezogenwerden der »Retor
te« in den sich innerhalb ihrer abspielenden alchemistischen Prozeß der pu-
trefactio, sublimatio; oder umgekehrt Übergreifen des gärenden, sich zerset
zenden Inhalts auf das ihn enthaltende Gefäß; daher Psychologie als »Über
tragung« (nicht nur »Psychologie der Übertragung«): »dialektische Psycho
logie«, Psychologie, die sich selbst nicht absolut (im emphatischen Sinn des
Wortes) nimmt, sondern sich selbst als eine Manifestation ihres eigenen Ge
genstandes, der Seele, weiß, die sich also ein Ereignis im geschichtlichen Le
ben der Seele zu sein und in einer Tradition zu stehen weiß (»geschichtliche
Psychologie«).
♦ Kritische Psychologie: in sich reflektierte Psychologie, d.h. eine Psycholo
gie, die sich von dem, was sie »draußen« erfährt oder auf das »Draußen« pro
jiziert, über sich selbst belehren läßt; Psychologie, die um die »persönliche
Gleichung« weiß, kraft welchem Wissen das, was man draußen vor sich
sieht, als von dem eigenen Sehen, mitbestimmt bewußt ist, d.h. mitbestimmt
von dem Vorurteil, das man nicht nur »hat«, sondern selbst ist; die berührt
und verwundet wird durch das eigene Andere, so daß die träumende Un
schuld des in sich, in den eigenen Vorstellungen, in der »bubble« einer Bil
derwelt Eingehülltseins des Bewußtseins durchbrochen ist.5354*
53 Hierher gehört Jungs Aktualkonflikt-Theorie der Neurose.
54 Das bedeutet zweierlei: a) daß das Bewußtsein sich selbst ein Fremder geworden ist (d.h. sich von
sich selbst unterscheiden, sich selbst »von außen« sehen und konfrontieren kann, ja letztlich als
längst gestorbenes, aber im Tod sich erhaltendes Bewußtsein ist), b) daß es sich nicht mehr nur
anschauend und aufblickend, gegebenenfalls anhimmelnd, zu seiner Wahrheit als einer reinen
Bilderwelt verhält, sondern auch als der existierende Begriff, in kalt und rigoros denkender An
eignung (was die einzige Möglichkeit von wirklicher Aneignung ist). Aneignung: das, was vorher
als Dach über einem schwebte, zu seinem Boden machen, auf dem man steht; das, was vorher an
geschauter Gegenstand oder Bild vor einem war, so ins Bewußtsein aufhehmen, daß es dieses
durchwirkt und die Basis oder der Hintergrund für alle künftige Gegenstandswahmehmung wird.
Die Psychologie versucht diesen Vorgang mit dem Terminus »(ins Bewußtsein) Integrieren« zu
benennen, stellt sich darunter aber wohl meist etwas anderes vor.
♦ Immanente Reflexion: der Standpunkt, für den nichts aus der Seele heraus
fällt, auch das Äußerliche, ja das Seelenwidrige nicht (»wir sind auf allen
Seiten von Seele umgeben«), ein Standpunkt, der sich daraus ergibt, daß man
rückhaltlos in die Grundmetapher Seele eingetreten ist, sich von ihr binden
läßt und folglich wirklich »innen« ist; daher: Betrachtung des ganzen Lebens,
aller Wirklichkeit, allen Geschehens von innen, als »das Tun der Seele an ihr
selbst«, »das Reden der Seele mit ihr selbst«55; auch im äußeren Geschehen,
selbst wenn es grausam ist, kommt uns Seele entgegen (und nicht das reine
Gegenteil von Seele); »Psychologie, die nicht außer sich ist«.
♦ »Pneumatische Stufe« des Bewußtseins: »pneumatischer« logischer Status
des Inderweltseins, »quintessentialische« Verfaßtheit des Weltbegegnungszu
sammenhangs; Stufe der logischen Form; der Mensch sich selbst als dieser
Weltbegegnungsprozeß und d.h. als Geist [Hegel] wissend und sich nicht nur
für ein innerhalb dieses Weltbegegnungszusammenhangs vorkommendes
»innerweltliches« Naturwesen haltend (»Bewußtheit«); Betrachtung des Le
bens vom absoluten Standpunkt aus (»absolut« im Sinn Hegels): »absolute
Psychologie«.
2. Ethisch-existentiell bestimmt:
♦ Gesinnung der Ganzheit (dies ist die ethische Seite der immanenten Refle
xion): die Voraussetzung des Beisichbleibens im Anderen / Fremden ma
chen; sich auf den Standpunkt stellen, daß mir mein Eigenes, wenn über
haupt, nur aus dem Anderen erst entgegenkommen und so erfahrbar (bewußt)
werden kann; sich in der Einsicht halten, daß mir in dem, was mir widerfährt
und aus der Welt begegnet, und sei es das Widrigste, nur mein (freilich nicht
im ichhaften Sinn) Eigenes, nur meine Wahrheit entgegenkommt; sich davon
belehren lassen; die sittliche Haltung, gemäß der ich dem wirklichen Leben
mit der Vorstellung entgegentrete, daß mir im Leben nichts anderes als »Ge-
55 Dann muß das Geschehen nicht von außen oder oben herab moralisch als gut oder böse, nicht als
nützlich oder gefährlich beurteilt werden, sondern kann einfach eikennend und fühlend (statt be
wertend) von innen, in seinen »wirklich seienden« seelischen Gefühlswerten, sinnlichen Qualitä
ten und in seinem Sinn für die Seele gewürdigt weiden. - Indem das Andere (auch das gewaltsam
und bedrohlich begegnende Andere) als das eigene Andere des ersten Anderen begriffen wird,
kann die Situation oder das Bild als ganzes gesehen werden (im Unterschied zu einer Betrachtung
nur aus dem Blickwinkel der innerhalb seiner auftretenden verschiedenen Personen oder Kräfte
je für sich und in ihrer Interaktion, wo es dann darum ginge, was der einen von der oder den an
deren als schlechthin äußeren angetan wurde); so daß es, im Hinblick auf dieses so als ganzes ge
sehene Phänomen, dann auch möglich wird, sich methodisch auf den Standpunkt der Selbstge
nügsamkeit des Jeweiligen (W. Giegerich, »Die Selbstgenügsamkeit des Jeweiligen; Zu Ulrich
Manns Antwort auf James Hillmans Buch über Pan«, in: Analyt. Psychol. 15 (1984), S. 182-200)
zu stellen: Das Phantasiebild oder das Jeweilige hat »alles in sich, dessen es bedarf«; nichts, was
nicht hereingehört, darf von außen hereingelassen werden.
rechtigkeit« wird56 und daß mir das, was ich selber wegschenke57 oder was
mir vom Leben genommen wird, nicht verloren gehen kann (»Psychologie
aus dem Geist der Liebe«).
♦ Gesinnung der Notwendigkeit: die sittliche Haltung, die - allem »Alternati
ven«, allen »Utopien«, allem Verharren in einem Raum bloßer Möglichkei
ten (Potentialitäten oder Optionen [willkürlich Wählbares, »Wünschbares«])
und allem nostalgischem Zurück entsagend - sich in der irreversiblen Zeit
und der imaufhebbaren Einzelheit des irdischen Daseins ansiedelt, sich unter
unser unerbittliches Eingeschlossensein (Stichwörter: Okeanos, Ananke, te-
los58) im Jeweiligen59 stellt und dieses zwingende Band des wirklichen Hier
56 »Es ereignet sich aber das Wahre«. - Daß mir in allem, was geschieht, Gerechtigkeit widerfahre,
ist dabei nicht eine Tatsachenbehauptung, sondern eine Gesinnung, die Gesinnung der Ganzheit.
Und diese Gesinnung tritt hier nicht als weltanschauliche Überzeugung auf, sondern als für die
Psychologie konstitutives Erfordernis. Erst wenn ich, dem methodischen Erfordernis der imma
nenten Reflexion entsprechend, auch ethisch der Wirklichkeit Gerechtigkeit (als ihr Gerechtsein
mir gegenüber) »ansinne«, beginne ich das wirkliche Leben als seelisches Leben zu apperzipie-
ren, gleichsam das Leben als einen sinnvollen Satz zu lesen (mit einem Schlag zu erfassen), wäh
rend dann, wenn ich das Geschehen als Zufall oder als ärgerliche bis unerträgliche Zumutung er
lebe, ich das Leben gleichsam als aus einzelnen Buchstaben oder Wörtern bestehend nur buchsta
biere (zusammenstücke) und so nur für irgendwelche anderen als eine psychologische Zugangsart
zur Welt befähigt werde, u.a. etwa zum technisch-praktischen Weltumgang im Sinn der Wissen
schaften (Ändemwollen). Dieser ist nicht »falsch«, der psychologische nicht »der richtige«. Man
muß sich nur im klaren sein, was jeweils aus welcher Gesinnung hervorgehen kann und was
nicht. Ein jeder solcher Weltumgang ist in seiner Weise eine Form der Wahrheit Dennoch sehe
ich das Verhältnis zwischen a) der subjektiven Gesinnung der Absichtlichkeit (persönliche Beloh
nung oder Heimsuchung: emotionales Erleben innerhalb eines auf die ganze Welt ausgedehnten
»Familienromans« und daher - im Fäll der Heimsuchung - naiver Verdruß, Groll oder Empö
rung), b) der objektiven, neutralen Gesinnung der Zufälligkeit (die abstrakt-prinzipielle Gesetz
mäßigkeit der zufällig so eingerichteten Natur Wissenschaft, Technik, also emotionslose Mani
pulation) und c) der absoluten Gesinnung der Ganzheit und Notwendigkeit (die konkrete Wahr
heit und Sinnhaftigkeit des Geschehens: Standpunkt der Seele, Psychologie, und so die Bereit
schaft, sich von dem Geschehen etwas sagen zu lassen) nicht als das Nebeneinander gleichrangi
ger Optionen an. Ich sehe darin vielmehr eine Abfolge von je höheren Reife- oder Bewußtheits-
graden. Wenn der »Satzsinn« als ganzer mit einem Schlag soll erfaßt werden können (Psycholo
gie), muß das Bewußtsein eine ganz andere logische Ebene erreicht haben, als sie fürs Buchsta
bieren (Wissenschaften) nötig ist.
57 Das gilt auch für das Sic/i-Verschenken, die Hingabe. »Sie sehen nur, was ich aufopfre, und nicht
was ich gewinne....... daß ich täglich reicher werde, indem ich soviel hingebe.« Goethe, Brief an
die Mutter, 11. Aug. 1781. »... Liebe / So tief ja wie das Meer. Je mehr ich gebe, / Je mehr auch
hab ich; beides ist unendlich.« Romeo und Julia, 2. Aufzug, 2. Szene.
58 Vgl. dazu.Wolfgang Giegerich, »Die Erlösung aus dem Strom des Geschehens: Okeanos und der
Blutkreislauf«, in: GORGO 9/1985, S. 35-55. Zu denken ist hier auch an Kafkas Bild von dem
unerbittlich in die Strafmaschine eingeschlossenen Verurteilten, dem die »Egge« der Strafmaschi
ne das Urteil tiefer und tiefer ins Fleisch schneidet (»In der Strafkolonie«), ein Bild, das ich in der
zweiten Hälfte meines Eranos-Vortrags »Die Alchemie der Geschichte« ausführlich gedeutet ha
be. Diesen existentiellen Bildern entspricht in methodischer Hinsicht das auch soeben in einer
Fußnote wieder erwähnte Wort: Das Phantasiebild (oder überhaupt das Jeweilige) hat »alles in
sich, dessen es bedarf« usw.
59 In dem, was jeweils wirklich ist: diese meine unaustauschbare Individualität, meine reale Situa-
und Jetzt und Mein als verbindlich und verpflichtend anerkennt, es als »mein
Eigen«60 (als eigene zu verantwortende Aufgabe) auf sich nimmt: theräpeia,
religio (als sorgfältiges Beachten und in die Hut Nehmen); Freiheit (gerade
nicht als Willkür, sondern als erkannte Notwendigkeit - Hegel); Psychologie
der Treue zur »Erde«.
♦ Gesinnung der Wirklichkeit: sich durch die (eigenen) Taten und das Ge
schehen (in der Welt) über die eigene Wahrheit61 belehren lassen, anstatt sich
an die eigene Absicht oder das »eigentlich Gemeinte« zu klammem; Bereit
schaft, sich unter die Wirklichkeit der Zeit und der Gesellschaft als die eige
ne zu stellen, anstatt sich über sie erhaben zu fühlen oder sie als »falsch« ab
zutun, um sie von sich weisen zu können als eine Wirklichkeit, mit der man
selber nichts zu tun habe; sich durch die Begegnung mit seiner Wirklichkeit
selbst ein Fremder werden, sich von sich unterscheiden.
♦ Gesinnung der Existenz: sich von dem, was einen im Guten wie im Bösen
oder Schlechten auszeichnet, also von seinem Sosein oder Wesen oder seinen
Eigenschaften, unterscheiden; sich zurückwerfen lassen auf das eigene nack
te Sein; die eigene Nacktheit, Unbedarftheit des Seins, die eigene »atome
Subjektivität« (Hegel) ertragen, sie nicht als Einwand gegen sich nehmen,
sondern sie (vor allem auch im Unterschied zu dem, wie man sein sollte, oder
dem Wesen, das man haben sollte) gerade als das einzige »Argument« neh
men; sich rückhaltlos auf den Boden dieses seines Seins stellen; sich nicht
auf vorweisbare Leistungen, Begabungen, Fähigkeiten, Vorzüge meinen be
rufen zu müssen (»Hier stehe ich! Ich kann nicht anders. Gott helfe mir.
Amen«), »Initiatische« Gesinnung. In diesem Sinn auch:
♦ Gesinnung der Wahrheit: »der unverschämte Versuch, die Wahrheit zu sa
gen« (Liebrucks) und sich verbindlich in der Einfachheit des Wahren anzu-
------------------------------------- (Forts.)
tion, meine Vergangenheit, meine Gaben, Fehler und Schwächen, mein Schatten, der eigene Leib,
dieses Traumbild, das, was mir als mir Widriges schicksalhaft widerfährt
60 Man beachte die Dialektik von Entfremdung und Aneignung: indem ich mir selbst ein Fremder
werde und so lerne, mir »objektiv« gegenüberzustehen, kann ich z.B. den Schatten, als meinen
Gegenspieler, erkennen. Ich bin nicht länger mit ihm identisch und unbewußt von ihm getrieben.
Indem ich den Schatten aber erkenne und mich von ihm unterscheide (distanziere), kann ich mich
unter ihn stellen und ihn bewußt zu tragen bereit werden, so daß er, als das mir Fremde, als mein
Eigenes erkannt werden kann, genauso wie umgekehrt das, was zunächst als das mir Eigene er
schien, als das mir unerbitüich gegenüberstehende »objektive« Wesen meiner selbst durchschaut
werden mußte. Die Auflösung des mit sich selbst Identischseins und die Einsicht darin, daß ich
nicht für mein Wesen verantwortlich bin, ermöglicht es mir, mich unter mein Wesen und Schick
sal als mir aufgegebene »objektive«, »archetypische«, »göttliche« Gegebenheiten (Data) zu stel
len, sie gleichsam als mein zu tragendes Kreuz auf mich zu nehmen, um sie so als das Eigene in
die Verantwortung zu übernehmen. »Mein Eigen« meint also nicht ein natürlicherweise bestehen
des Eigentumsverhältnis, sondern wirklich einen sittlichen Standpunkt, auf den man sich erst stel
len muß, wenn das Eigentumsverhältnis walten soll, was man aber auch unterlassen kann.
61 »Eigene« Wahrheit meint hier nicht nur die persönliche Wahrheit, sondern auch die Wahrheit von
mir als Glied meiner Gesellschaft und als meiner Zeit Zugehörendem. Den größten Teil unseres
Wesens haben wir ja nicht in uns, sondern in unserer Welt.
siedeln62 - womit zugleich auch der Versuch benannt ist, sich von der Neuro
se, der eigenen und der unserer Kultur, von allen Trennungen der Hinsichten
zu verabschieden.
♦ Gesinnung der Unendlichkeit: Denken und Erleben aus der ausgehaltenen
Differenz von dem Menschen als Erdensohn und dem Menschen als Gottes
sohn heraus63; theoretische Unterscheidung zwischen menschlich-allzu-
menschlicher Komplexreaktion und numinoser Erfahrung oder zwischen
neurotisch bedingter und archetypisch bedingter Unfreiheit; methodische Un
terscheidung zwischen reduktiv-analytischer (d.i. reflektiv-kritischer) und
konstruktiv-synthetischer (symbolischer, imaginaler) Deutung; sich selbst ein
Fremder werden können, dies jetzt (anders als oben64) im Sinn der Begeg
nung mit dem »Anthropos«, dem »homo maximus« (oder wie die Namen da
für lauten mögen) verstanden, etwa wie in dem Satz Nietzsches »Da wurde
eins zu zwei, und Zarathustra ging vorbei«; sich nur als kraft seiner Abhän
gigkeit von Gott frei wissen (»archetypische Psychologie«, »Psychologie mit
Göttern, mit Gott«).
♦ Gesinnung der Finalität: das Erreichen des transzendenten Ziels des opus
nicht vor sich her und in ein Jenseits abschieben; der Mut zum Jetzt (zum
Setzen des Jetzt), zum Einschneiden in die Unschuld des natürlichen Seins
und zu dem sich ihm Zumuten (der Mut, als Zumutung zu sein: sein Sein der
atomen Subjektivität darleben)', das Emstmachen damit, mit dem opus anzu
fangen, dadurch, daß man ihm »unverschämterweise« das schon Erfülltsein
62 Die hier gemeinte Wahrheit ist dabei nicht eine abstrakte, prinzipielle (sein sollende, »höhere«)
Wahrheit, an der die Wirklichkeit zu messen wäre, sondern die Wahrheit, die ich bin oder die das
Wirkliche ist. Jung: »Ob (die Geschichten, die ich erzähle) wahr sind, ist kein Problem. Die Frage
ist nur, ist es mein Märchen, meine Wahrheit?« Die Einfachheit des Wahren ist immer schon die
dialektische Einheit von Dichtung (Schein) und Wahrheit sowie von Wahrheit (als Allgemeinem)
und Wirklichkeit (als einzelnem faktischem Sein, welches in dem betonten »meine [Wahrheit]«
zum Ausdruck kommt). Für die Gesinnung der Wahrheit ist das Meinsein wichtiger als die Be
wertung: wichtiger, daß ein Gefühl, eine Meinung, eine Tat tatsächlich die meinen sind, als daß
sie vielleicht »falsch«, dumm, primitiv, schlecht sind. Eben: »Hier stehe ich! Ich kann nicht an
ders. Gott helfe mir. Amen.« Zur Gesinnung der Wahrheit gehört die Einfalt, die Ungeschützt-
heit. Die Wahrheit ist nackt. Wer auf sie baut, gibt sich eine Blöße, weil er sich auf nichts anderes
und Solideres als den Schein dessen, was sich ihm zeigt, beruft.
63 Stichwörter: »Transgression« (Hillman), Initiation, »Individuation« (Jung). Theräpeia und religio
(sowohl als sorgfältiges - rite - Beachten, hier aber mehr noch als bindende Verpflichtung) haben
auch hier, und hier sogar in noch höherem Maße als oben, ihren Platz.
64 Oben war es die Verwundung durch das Andere als Animus, Logos, Reflexion und das sich als
der Ichpersönlichkeit, die man unreflektiert immer schon war, Bewußtwerden (Entzweiung als
sich »objektiv« Gegenübertreten). Hier ist es das Auftauchen des Anderen als der »Größeren Per
sönlichkeit« (und der Göttlichkeit des Menschen) im Sinn einer Erfahrung in der Anima-Sphäre
und die dadurch erfolgende Relativierung der Ichpersönlichkeit. Hier ist also das Andere
objektiv-inhaltlich das Andere der Ichpersönlichkeit selbst (Entzweiung als Entdeckung »Zara
thustras«, welcher für sich Raum in mir und meinem Leben beansprucht), während es dort
logisch-formal das Andere (nicht der Ichpersönlichkeit selbst, sondern) für den animahaften Sta
tus des Insicheingesponnenseins der Ichpersönlichkeit war.
des doch erst anzustrebenden Ziels voraus setzt und sich herausnimmt, sich
ohne jegliche Gewähr im erstmaligen Beschreiten des Wegs auf das Ziel zu
bereits auf den Standpunkt des Zieles als eines schon erreichten zu stellen
(wodurch das Anfängen erst wirkliches Anfängen, wirkliches inire [Initia
tion] wird); Entschlossenheit als das den Schluß (das finale Ende) zum An
fang gemacht Haben; nicht die anscheinende »Illegitimität« der Vorausset
zung, ein Kind Gottes zu sein, scheuen (»wirkliche Psychologie«),
♦ Haltung der Empfänglichkeit oder des Vernehmens: kraft der das Bewußt
sein, ob es will oder nicht, das Jeweilige dann auch vorbehaltlos bis zum bit
teren Ende (telos) auskosten und durchleiden muß, wodurch das Bewußtsein
in die Tiefe der Gegenwart gezwungen wird (»77e/e«psychologie«) und den
Sinn, der sich ihm aus ihr zuspricht,65 zu vernehmen vermag (Psychologie
des »Wortes«, des sprachlichen Verfaßtseins der Wirklichkeit); umgekehrt
gesagt, wodurch die Gegenwart in ihrer Tiefe sich dem Bewußtsein ein
schneidet.66
♦ Gesinnung der Indirektheit, der achtungsvollen Distanz: ein Denken, das
innerhalb seiner selbst - also indirekt, ohne gezielten Zugriff auf das außer
halb seiner liegende Reale in seiner Positivität - im bloßen Umkreisen (cir-
cumambulatio) oder Umsprechen des Wirklichen67 Wirklichkeit (den wirkli
65 Als seelisch apperzipierte spricht die Wirklichkeit. Sie begegnet als Sprache, als Wort.
66 Indem sich der urbildliche Sinn der jeweiligen Gegenwart so dem Menschen inskribiert (ins
Fleisch schneidet), kann die aus ihr sich zusprechende göttliche Wahrheit in dem Menschen und
durch ihn hindurch zum Scheinen, ihr archetypisches Inbild in ihm zum Leuchten kommen; in
dem der Mensch die Gegenwart »am eigenen Leibe« erfährt (vom Leben eingeschnitten be
kommt) und aufhört, selber über die gegenwärtige Wirklichkeit reden, selber seine Sätze über sie
ihr entgegensetzen zu wollen, wird die Gegenwart zum Aufschließen dieser ihrer Tiefe und
Wahrheit (ihres urbildlichen Sinnes) freigegeben. Dabei ist die Erfahrung der göttlichen Wahrheit
der Gegenwart (oder ihrer Wahrheit als Gott) die Erfahrung des das wirklich gelebte Leben be
stimmenden Weltumgangs des Menschen dieser Gegenwart oder des ganzen konkreten Weltbe
gegnungszusammenhangs (Weltauseinandersetzungsprozesses) selber, welcher gewöhnlich gera
de nicht erfahren wird und nicht erfahrbar ist, weil der Mensch innerhalb seiner steht und nur in
nerhalb und vermittels seiner alles, was ist, wahmehmen kann; welcher freilich als solcher alles
gewöhnliche Erfahren umgreifende und stiftende Zusammenhang doch auch seinerseits aus der in
letzter Tiefe erfahrenen Wirklichkeit dem (zu einer Erfahrung in solcher Tiefe fähigen) Men
schen, seine gewöhnliche Erfahrung durchbrechend und ihn selber entgrenzend, entgegenkommt,
sei es gestalthaft (als Gott oder Götter), sei es als der Goldgrund oder das goldene Licht der Welt
oder sei es als Sprache (das Wort, der Logos).
67 Das Korrelat des - dank des unerbittlichen Eingeschlossenseins in das Jeweilige - in seine Tiefe
Gezwungenwerdens (die sich ins Fleisch einschneidende Strafmaschine Kafkas) ist das gerade
von Indirektheit und Distanzhaltung bestimmte, seine Mitte frei lassende, aussparende Umkreisen
dieses Jeweiligen. Unser Inskribiertwerden durch das, was ist, und sein in unserem es Umspre
chen Unangetastetbleiben sind das Selbe (wenn auch nicht das gleiche): begreifende Erfahrung
der Wirklichkeit, so wie umgekehrt der direkte positivistische Zugriff (das Sich-Einschießen) auf
die Realität (nicht »Wirklichkeit«) einerseits und das methodische Sich-Heraushalten und von der
Erfahrung Unberührtbleiben andererseits korrelieren, welche den distanzierten Beobachter in der
wissenschaftlichen Forschung wie ebenso den Techniker auszeichnen. In diesen Verhältnissen
macht sich überall der dialektische Widerspruch geltend.
chen Menschen, das Individuum ineffabile, das wirkliche Phänomen in seiner
unverwechselbaren Einmaligkeit, die wirkliche Welt) wirklich erreicht, inso
fern a) Wirklichkeit, als die Einheit des Inneren und des Äußeren, nichts an
deres ist als die zusammen mit dem ganzen Weltumgang selber und von ihm
her begriffene Realität68 und insofern b) erst mit dem Gewahren seines ihn
sonst nur unbemerkt umgreifenden Weltumgangs im ganzen als eines sol
chen der Mensch das, was wir psychologische Bewußtheit nennen, erreicht
und wahrhaft Mensch wird (existierender Begriff; Eintritt in den »pneumati
schen« logischen Status des Bewußtseins), womit zugleich die Psychologie
wahrhaft kritische Psychologie wird, nämlich »komplexe Psychologie«
(Jung; besser wäre »konkrete Psychologie«).69*
Es versteht sich, daß die so begriffene Psychologie nicht wie jede andere
Wissenschaft oder Technik einfach erlernt werden kann. Sie erfordert etwas Un
erhörtes, ein anderes, gewandeltes: ein revolutioniertes Sein (Bewußt-Sein) des
Menschen, das nur entsteht durch einen Tod seiner als Bewußtsein, z.B. durch
ein als dasjenige Bewußtsein, das sich nur als innerweltliches Lebewesen ver
steht, Sterben und ein über dieses (über sich) Hinauswachsen zu einem wirkli
chen Begreifen seiner selbst sowie der Wirklichkeit als des Weltbegegnungszu
sammenhangs und damit als immanenter Transzendenz. Daher ist es nicht mög
lich, die Psychologie allein mit methodischen Begriffen (als Verfahrens- oder
Betrachtungsweise) zu definieren, schon gar nicht, sie nur inhaltlich von einem
68 Die Realität (die positivierte Welt) ist also nur Moment der Wirklichkeit, was man sich aber nicht
wie eine Art Bestandteil oder Baustein in der Wirklichkeit vorstellen darf, sondern begreifen muß
als ein solches »Ingredienz« in Anführungszeichen, das, für sich genommen, Wirklichkeit gerade
überfliegt (ihr so transzendent ist).
69 So freilich, daß der das jeweilige Reale immer umgreifende Weltauseinandersetzungsprozeß gera
de nicht als der äußere längst bekannte Rahmen oder große Hintergrand für das Begreifen des Je
weiligen, insofern dieses auch tatsächlich Wirklichkeit und nicht bloße positivierte Realität ist,
fungiert, sondern gerade nur »im kleinen« als besondere Erfahrung in der (doch in Wahrheit von
ihm allseits umgriffenen) Welt erfahren wird, als etwas, das quasi »gegenständlich« (genauen als
übergegenständlicher Gegenstand) vor einem aus der eigenen innersten Mitte und Tiefe des je
weils erfahrenen einzelnen Realen überhaupt »erstmals« und ursprünglich hervorleuchtet (in ur
sprünglicher Frische - »so herrlich wie am ersten Tag« - aufbricht) und so im Erfahren- und Be
griffenwerden das begreifende Bewußtsein selber ergreift und durchherrscht. Weil das Verhältnis
dialektisch-widersprüchlich ist, indem das alles Übergreifende nur als »Kleines«, scheinbar »In
nerweltliches« (freilich innerweltliches Ewramundanes, immanente Transzendenz, diesseitiges
Jenseits) erfahrbar ist, ist die Erfahrung auch auf das unerbittliche Eingeschlossensein in dem Je
weiligen und das rückhaltlose Durchleiden seiner angewiesen. Nur das von der Ananke unaus
weichlich in die Enge seiner wirklichen Gegenwart getriebene Bewußtsein kann den Okeanos als
den »Weltumringler« und den »Ursprung von allem« - den menschlichen Weltumgang oder
Weltbegegnungszusammenhang / Weltauseinandersetzungsprozeß als solchen - erfahren und
wirklich erfahren (nicht nur »glauben« oder behaupten oder erträumen), während das aus seiner
wirklichen Situation in die Weite des Wünschbaren und an die Ränder der Welt ausschweifende
Bewußtsein den (doch gerade als der äußerste Rand der Welt angesetzten) »Bitterfluß« und »Va
ter der Götter«, wie der Urozean auch genannt wird, nie zu Gesicht bekommt
schon abgesteckten Gegenstandsfeld her zu bestimmen, sondern nur so, daß sie
als die Doppelheit oder richtiger widersprüchliche Einheit von methodischem
Standpunkt und sittlicher Haltung, von (prinzipieller) Sehweite und (wirkli
chem) eigenem Sein begriffen und gelebt wird.70
Beisichsein im Anderen: Hölderlin. Nach diesem Exkurs über die Frage
»Was ist Psychologie?« folgt nun ein weiterer, in dem versucht werden soll, das
Beisichsein im Anderen ganz knapp am Beispiel Hölderlin zu illustrieren, so
wohl mit seinen theoretischen Ausführungen als auch mit dem, was seine Dich
tung und Sprache wirklich leistet. Mit dem Absturz auf die Stufe der Syzygie,
die nur noch zu denken, nicht mehr vorzustellen ist, verliert man sich nicht im
Abstrakten. Die Syzygie enthält ja auch die Anima, das Imaginale. Das vormali
ge abstrakte Denken, das aber nur abstrakt war, weil es animahaft der Stufe der
Momente verhaftet blieb, kann daher in der Syzygie zur Sinnlichkeit und zum
Bild zurückkehren. Nur der Status, auf dem sich das Denken jetzt bewegt, ist ein
nicht mehr gegenständlicher, nicht mehr logisch unschuldiger. Er ist ein Status,
der um die Status und den Bruch vom einen zum anderen weiß.
Hölderlin, wie nur kurz angedeutet sei, spricht von einem Zusammen
hang, den er das Harmonisch-Entgegengesetzte nennt (Ȇber die Verfahrens
weise des poetischen Geistes«). Es ist also eine Gegensatzspannung, die zu
gleich eine Harmonie darstellt. In diesem Harmonisch-Entgegengesetzten findet
nun ein Austausch, eine Verschränkung, statt. Dies ist ganz offensichtlich ein
Denken nicht nur innerhalb der Syzygie (denn alles Denken und Erleben spielt
sich innerhalb ihrer ab), sondern unter ihrer ausdrücklichen Ägide. Mit dem Ge
danken des Austauschs innerhalb des Harmonisch-Entgegengesetzten stellt sich
Hölderlin dem Geschehen der Geschichte, das er freilich nicht im Bild von Stu
fen, sondern von nationalen Begabungen faßt. Er vergleicht die Situation von
uns Modernen mit der der Griechen. Den Griechen war der Zugang zum My
thos, zu den Göttern, gleichsam angeboren. Hölderlin spricht von der »Innig
keit« oder dem »heiligen Pathos«, das ihnen das Natürliche war. Mit Jungs Aus
druck können wir sagen, daß den Griechen die Urerfahrung unmittelbar zugäng
lich war. Für Hölderlin ist nun aber nichts schwerer zu lernen als der freie Ge
brauch des Nationellen, also des Angeborenen. Deswegen waren die Griechen
die Meister - gerade nicht der Urerfahrung, also ihres Eigenen, sondern der
Form, weil sie sich die ihnen fremde »junonische Nüchternheit« für ihr heiliges
Pathos zu erbeuten und so wahrhaft das Fremde sich anzueignen wußten.
Bei uns ist es umgekehrt. Weil uns von Haus aus die junonische Nüch
ternheit, psychologisch gesprochen also die Kraft des Animus, zu eigen ist, ist
der freie Gebrauch dieses unseres Eigenen das schwerste. Wir (und das gilt be-
70 In dieser widersprüchlichen Einheit drückt sich die Syzygie aus: im methodischen Standpunkt
macht sich überwiegend das Anliegen des Animus geltend, in der sittlichen Haltung überwiegend
das Anliegen der Anima, beides freilich nicht ohne die syzygische Verschränkung mit dem je
weils Anderen.
sonders für die Psychologie) neigen deswegen zuerst immer dem uns eigentlich
Fremden zu, den zeitlosen Sinngehalten und mythischen Bildern, dies sogar
dann, wenn wir uns, wie die wissenschaftlicher Moderne insgesamt, der Nüch
ternheit verschreiben, weil an der modernen Nüchternheit ja gerade die Verfal-
lenheit des Animus an die Anima auftrat. Hölderlin erkennt nun, daß das Erler
nen des freien Gebrauchs des Eigenen, also der junonischen Nüchternheit, unse
re eigentliche Aufgabe ist.71 Dieser freie Gebrauch würde sich als zu sich selbst
gekommene logische Form zeigen.
An dieser Stelle ist ein Vergleich mit Jungs Konzeption aufschlußreich.
Auch er kennt ja eine Verschränkung innerhalb der Syzygie: die weibliche Ani
ma ist im Mann, der Animus in der Frau. Was bei Jung dagegen fehlt, ist der
Gedanke, daß der freie Gebrauch des Eigenen das Ziel sei. Jungs Ziel ist ganz
direkt, einsinnig, der Bezug zu dem je Fremden. Der Mann muß seine Anima
entwickeln - dies ist das Meisterstück der Psychotherapie - , die Frau ihren Ani
mus. Darin zeigt sich die Unmittelbarkeit - und das Verpassen der Syzygie als
solcher. Diese wird platt als einfache Vereinigung der Gegensätze begriffen, wo
sie doch dialektisch die Einheit von Einheit und Gegensätzlichkeit der Gegensät
ze sein müßte. Diese dialektische Komplikation ist bei Hölderlin ausgesprochen,
von dem her gesehen der Weg des Mannes zur Anima gerade nicht das Meister
stück, sondern nur das Erste und Leichte wäre. Das Meisterstück ist der freie
Gebrauch des Eigenen, welcher aber seinerseits nicht unmittelbar angestrebt
wird, sondern das »Strömen« auf das »Fremde« zu voraussetzt und in sich ent
hält. Dadurch wird die Syzygie erfüllte Syzygie.
Freilich mußte die Beziehung des Mannes zur Anima Jung als kaum zu
erreichendes Meisterstück Vorkommen, weil er - in der Standard-Version seiner
Lehre - Anima und Animus auf die Männer und Frauen verteilt hatte, was, wie
wir gesehen haben, zu einer aporetischen Situation führt.
Hölderlin hat sich der Aufgabe, den freien Gebrauch des Eigenen zu erler
nen, selbst unterzogen. Er hat sich nicht umstandslos der Urerfahrung zuge
wandt, vor deren Unmittelbarkeit er im Zusammenhang mit seinem Empedo-
kles-Drama als dem »Übermaß der Innigkeit« warnte, genauso, wie er umge
kehrt auch die Gefahr eines Übermaßes der Nüchternheit erkannte. Er erarbeite
te sich mühsam eine logisch-poetisch aufgeklärte Dichtersprache, die sich in ihr
selbst von sich selbst abgestoßen hat und von der Rilke daher sagen konnte:
die Zeile schloß sich wie Schicksal, ein Tod war
selbst in der lindesten... (An Hölderlin)
Seine Sprache ist nicht unmittelbare Rede. Hölderlin spricht zugleich als
wirklicher Mensch und als bereits Gestorbener.72 Mit dieser Sprache gelang
71 Hölderlin, Brief an Böhlendorff, 4. Dez. 1801.
72 Zu diesem ganzen Thema siehe Bruno Liebrucks, »Und«. Die Sprache Hölderlins in der Spann
weite von Mythos und Logos, Realität und Wirklichkeit, Band 7 von »Sprache und Bewußtsein«,
ihm, nicht eine Remythisierung, sondern ein wirklich neuer Mythos. Er ver
mochte diese unsere moderne Welt (in ihrem neuen logischen Status) in sinnli
chen Allgemeinbegriffen, im universale fantastico Vicos, in mythischen Gestal
ten wahrzunehmen. Er hat die moderne Situation aufgenommen, an ihr ange
knüpft. Er hat sie nicht kompensiert. Er ist in die Nacht des Abendlandes, in der
die Welt als bloß empirische in stummer Dinglichkeit vor uns liegt, hineinge
gangen und hat das moderne empirische Sehen als Blindheit erkannt.
... Sie haben mein Auge
M ir genommen. (Elegie Vers 51f.)
Damit vollzieht Hölderlin wie Hegel, aber auf seine Weise, die Aufklä
rung der Aufklärung, die Reflexion der Reflexion. Der Grund der modernen
Zerrissenheit wird nicht nur inhaltlich als die Nacht der Todesgötter behauptet,
sondern auch logisch-poetisch als solche erkannt. Die Todesgötter werden von
der Seele gestalthaft erfahren. Und wie bei seinem Jugendfreund Hegel das Be
wußtsein in der Zerrissenheit das Glück des (Hegelschen) Begriffs erfährt, so er
fährt bei Hölderlin die Seele in der Nacht, inmitten der nigredo, die aurora con-
surgens als die Erhebung ihrer natürlichen und geschichtlichen Welt in das Licht
des Tages. So ruft er Germanien zu (was wir auch als Aufruf an uns verstehen
dürften, wenn wir nur die logischen Mittel dazu hätten):
O trinke Morgenlüfte,
Biß daß du offen bist,
Und nenne, was vor Augen dir ist.
(Germanien, Vers 81 ff.)
— ~ — —— (Forts.)
Bern u.a. (Peter Lang) 1979, dem ich viel für mein Hölderlin-Verständnis verdanke und an dessen
Darstellung meine Ausführungen sich vielfach anlehnen.
wir niemals aus dem sympathetischen Weltzustand herausgefallen sind und nie
mals aus ihm herausfallen können, genausowenig wie aus der Syzygie. Gerade
wenn das Band zwischen Mensch und Welt zerrissen ist, bestätigt sich die Sym
pathie von Mensch und Welt: der stummen Dinglichkeit der Welt draußen ent
spricht sympathetisch das stumme, isolierte, in sich uneins gewordene Subjekt.
Wir müssen den Mythos nicht suchen. Wir leben längst in ihm, heute freilich
nicht mehr im Homerischen, sondern (noch) in dem, der formale Logik heißt
und der sich dank der unbewußten Animaverfallenheit des Animus nicht für ei
nen Mythos, sondern für die schlechthinnige Wahrheit hält. Wir müssen dies nur
logisch begreifen. Dann könnte uns vielleicht sogar inmitten der Nacht, die die
ser unser wirklich gelebter Mythos ist, wie Hölderlin das Licht des Tages aufge-
hen.
II. Teil
Wesen und Erscheinung des Animus
(Animus-Phänomenologie)
Der Animus als Negation und als das Andere der Seele:
Die dreifache Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen
Um das, was der Animus im tiefsten ist, zu sehen, ist es ratsam, mit den
Bildern zu beginnen, in denen er sich in seiner äußersten Konsequenz zeigt,
auch wenn das nicht die Form ist, in der er sich üblicherweise zeigt. Dieser sei
ner extremsten Form sind wir schon in dem Zitat von Marie-Louise von Franz
über den Animus als Blaubart begegnet: dem Animus als Mörder. Als von Franz
davon handelte, sprach sie nicht einfach vom »Mörder«. Sie sagte: »Mörder und
nichts weiter«. Wir haben uns damit schon befaßt. So sehr diese abqualifizieren
de Rede eine Abwehr des Phänomens ist, so hat sie sich doch gezeigt, auch (als
diese Abwehr) selber zu dem Phänomen zu gehören und etwas Entscheidendes
über dieses zu offenbaren: ist die Anima nämlich der Archetyp der Bilder und
Mythen, der Substanzen und Gehalte, der Vergegenständlichung oder Personifi
zierung, so hat der Animus sein Wesen gerade darin, nichts Positives zu sein,
nicht etwas, das wie die Anima wäre und neben ihr (wie der Bruder neben der
Schwester) als eine lediglich mit anderen substantiellen Qualitäten ausgestattete
Gestalt bestünde. Er hat überhaupt keinen eigenen substantiellen Gehalt, kein ei
genes qualitatives Wesen. Er ist nicht einfach anders, sondern er geht im tiefsten
darin auf, das schlechthin Andere der Anima »und nichts weiter« zu sein. Er ist
primär die reine Negation, das Un- oder Nicht-. Eben deshalb erscheint er, wenn
er als mythische Gestalt auftritt und bildhaft geschildert wird, charakteristischer
weise als Mörder. Es wäre ganz streng genommen nicht einmal sinnvoll, ihn als
den »Geist, der stets verneint« zu bezeichnen, weil diese Formulierung ihm noch
ein eigenes substantielles Sein zuschriebe, nur mit der Besonderheit, daß er dazu
auch noch die Wesensart der oder die Neigung zur Verneinung hätte. Der Ani
mus ist aber nicht zuerst ein seiender Geist (so wie Gespenster, Engel usw.
Geister sind), der dann auch noch zu verneinen liebt. Er ist das Verneinen selbst
»und nichts weiter«; er ist nicht so sehr Killer, als vielmehr die reine Funktion
des Tötens. Und diese substanzlose Negativität »und nichts weiter« zu sein, das
macht gerade das Wesen des Geistes aus.
Der Animus ist daher an ihm selber nichts. Als reiner Geist, reine Vernei
nung, ist er, um selbst etwas zu sein, darauf angewiesen, daß es etwas zu Vernei
nendes gibt. Dieses Angewiesensein ist der Grund der Syzygie - oder hat seinen
Grund in der Syzygie. Die Ehe zwischen zwei Menschen ist als soziale Institu-
tion eine kontingente Verbindung. Da haben sich zwei Personen »zufällig« in
einander verliebt und beschlossen zu heiraten, wenn es nicht gar aus anderen
ganz äußerlichen Bedingungen (Geld, Familien- und Standespolitik usw.) zur
Eheschließung kam. Es hätte prinzipiell immer auch ein anderer Partner sein
können - oder gar keine Vermählung geben müssen. Deshalb kann die Ehe auch
geschieden werden und kann der Geschiedene sich wieder neu vermählen. Die
Verbindung ist, da sie auf einer Partnerwahl beruht, willkürlich und bleibt den
Verbundenen äußerlich. Nicht so bei der Syzygie. Hier liegt die syzygische Ver
bundenheit mit der Anima schon im Begriff des Animus, insofern er »nichts als«
ihr eigenes Anderes, als ihre Verneinung ist. Es ist dem Animus wesentlich, mit
der Anima zusammengeschlossen zu sein.
Insofern dürfen wir den Animus nicht isoliert betrachten. Wir müssen ihn
immer innerhalb der Syzygie und als den einen Pol dieser sehen. Daher gilt es,
das ganze Wechselspiel zwischen Anima und Animus oder das Verhältnis der
Seele (als Animus oder Töter) zu ihr selbst (als Anima oder Opfer) in den Blick
zu fassen, mitsamt den Spielarten dieses Verhältnisses. Ich unterscheide drei
Stellungen der Seele zu ihrer Erfahrung ihres eigenen Anderen, wobei jeweils
das ganze Verhältnis von Anima und Animus bald mehr unter der Ägide des ei
nen, bald mehr unter der des anderen Pols seiner selbst stehen kann.
Die I. Stellung: Verschwinden und Hochzeit mit dem Tode. Zur
Anima-Stufe gehört das Einbehaltensein in den natürlichen Ablauf der Dinge
und das Pieroma der Seele, es gehört zu ihr das Hingegebensein an das, was je
weils ist, die Participation mystique und das sympathetische Welterleben, so wie
zur Anima als Gestalt Verführung, von ihr Verführtwerden und Fasziniertsein
gehören. Die Anima ist laut Jung rachlose Natur, und innerhalb ihrer Sphäre ist
auch die Welt ruchlose Natur, reines Geschehen und Sich-Wandeln. Wenn in ihr
die Tiere einander fressen, vielleicht sogar einander ausrotten (viele kleinere Ar
ten auf Südseeinseln sind infolge des Eindringens von Ratten ausgestorben),
wenn Waldbrände, Vulkane, Wirbelstürme, Überschwemmungen, Erdbeben,
Meteoreinschläge ungeheure Verwüstungen anrichten und der Erde im weitesten
Sinn tiefe Wunden schlagen, so fällt dieses von uns aus gesehen brutale Gesche
hen doch nicht aus dem ungestörten Ablauf der Natur heraus. Auch die größte
Katastrophe verbleibt in der Unschuld des Werdens, im Pieroma des Seins. Die
Verwüstung ist selber nur wieder ein neues, nur ein anderes archetypisches Na
turereignis, genauso »legitim« (ein allerdings von außerhalb dieser Stufe an sie
herangetragenes Wort), genauso gehaltvoll, sinnträchtig und göttlich wie beseli
gende Ereignisse, was man aus Taten und Charaktereigenschaften der Götter in
der polytheistischen Götterwelt ersehen kann. Geburt und Tod, Wachsen und
Welken, Blühen und Verwüstung, Liebe und grausame Gewalt sind ein in sich
einhelliger Zusammenhang. Auch im menschlichen Bereich verursacht auf der
Anima-Stufe die Gewalt (als Opfertötung, Blutrache, Totschlag, Massaker,
Krieg) zwar Wunden, aber keinen Brach des grundsätzlichen Einsseins mit dem,
was ist und geschieht. Die Störung bleibt bloß ontische, inhaltliche Störung des
Jeweiligen, sie wird nicht zur ontologischen Störung, nicht zur Störung der
»Welt« in ihrem Begriff oder der »Weltordnung« (»Kosmos«: Ordnung,
Schmuck), d.h. des erlebten, das ganze Sein des Menschen tragenden Sinnzu
sammenhangs. Die menschliche Reaktion auf Unglück ist daher einfache Trau
er, einfacher Schmerz, nicht Kränkung, Verdruß, Empörung. Ob man gerade auf
der Sonnenseite des Lebens steht oder durch das finstere Tal der Tränen wan
deln muß - die grundsätzliche »Gottergebenheit« hält sich durch.
Der Erdgeist in Goethes Faust drückt den Charakter dieser Stufe aus: »In
Lebensfluten, im Tatensturm / Wall’ ich auf und ab, / Webe hin und her! / Ge
burt und Grab, / Ein ewiges Meer, / Ein wechselnd Weben, / Ein glühend Leben,
/ So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und wirke der Gottheit leben
diges Kleid.« Man darf sich nicht dadurch beirren lassen, daß der Erdgeist
männlich ist, er ist unbeschadet seines Geschlechts eine Manifestation der
Anima-Stufe, wenn auch nicht eine Anima-Gestalt.
Wenn in dieser Stufe der Animus als das (der Seele eigene) Töten der
Seele (Anima) auftritt, dann kann dem Charakter dieser Stufe entsprechend hier
offenbar noch kein Gegensatz zwischen beiden Polen erlebt werden. Es kann
hier nicht einen unerträglichen Konflikt der Interessen, nicht ein fundamentales
Erschrecken und Sich-Widersetzen geben, obwohl doch der Animus auch hier
schon das schlechterdings Andere, und d.h. Negation, Tod, ist. Tritt unter der
Ägide der Anima (also auf der Anima-Stufe) das Andere auf, dann neigt sich die
Anima ihm zu. Sie geht hier mit der durch das Auftauchen dieses Moments an
gezeigten Bewegung zum Tod einfach mit, ohne ihm einen Widerstand entge
genzusetzen. Das Andere wird nicht als brutale Gewalt, Einbruch, Bedrohung
apperzipiert. Indem die Seele als Anima sich mit dem Animus selber die Erfah
rung des Todes zufügt, bleibt sie gleichwohl im Einklang mit sich. Es kommt
nicht zur Entzweiung oder Selbstentfremdung.
Die Erscheinung des Animus scheint hier also selber beinahe nur so etwas
wie eines der vielen Ereignisse der polytheistischen Anima-Sphäre zu sein, inso
fern er der Anima noch nicht schroff als von außen in sie einschneidendes Ge
schehen zustößt, sondern in dem natürlichen Fluß des Geschehens einbehalten
bleibt. Und doch muß man schon von einer Manifestation des Animus sprechen.
Er hat, obzwar innerhalb der Anima-Welt verbleibend und aus ihr heraus auftre
tend, doch auch schon den Charakter des wahrhaft Anderen, Ver-nichtenden,
des Geistes im Gegensatz zum Natürlichen. Wir dürfen diesen Widersprach
nicht eliminieren oder mildem wollen. Wir müssen ihn gerade als das erkennen,
worum es hier geht.
Ich möchte die erste Stellung der Seele zur Erfahrung ihres Anderen an
Beispielen verdeutlichen.
Im Buch Tobias aus den alttestamentlichen Apokryphen ist Sara, die
Tochter Raguels, in der Meder Stadt Ekbatana, in einer fürchterlichen Situation.
Man hatte ihr nämlich sieben Männer nacheinander gegeben, und ein böser
Geist, Asmodi genannt, hatte sie alle getötet, als sie - in der Hochzeitsnacht -
zum Beilager zu ihr kamen (Tobias 3:8). Jetzt wird sie von ihrer Magd als
»Männermörderin« beschimpft. Soweit dieses kleine märchenhafte Stück aus
dem Tobias-Buch, das zu dem Märchen-Typus AT 507A gehört. (Ich beschrän
ke unsere Betrachtung der Tobias-Geschichte auf diesen kleinen Ausschnitt der
ganzen Erzählung, weil dies der Teil ist, der sich mit den später zu besprechen
den Märchen unter der n. und III. Stellung vergleichen läßt.) Von der orthodo
xen Theorie der Jungschen Psychologie her ist Sara eindeutig das Bild einer ani
musbesessenen Frau. Wir sollten uns nicht bei der - sicher richtigen - Diagnose
und dem Wort »Animusbesessenheit« beruhigen, sondern die Logik des hier Ge
schilderten herauszuarbeiten suchen. Und wir sollten nicht mit aus dem Alltags
leben genommenen Interessen und Wertungen an die Erzählung herantreten (wo
es dann klar wäre, daß Sara doch eigentlich hätte eine dauerhafte Ehebeziehung
haben sollen und das Nichtzustandekommen einer solchen auf eine »Störung«
der Persönlichkeit zurückzuführen ist), sondern sie mit dem Blick auf die Be
dürfnisse der Seele betrachten. Unsere Frage muß sein: was macht sich die Seele
selber mit diesem Geschehen erlebbar, welche Erfahrung bringt sie sich bei, in
dem sie den Geist Asmodi in sieben Hochzeitsnächten sieben Bräutigame töten
läßt? Was hier geschieht, ist psychologisch betrachtet nicht »falsch« (das ist es
nur unter sozialen oder ichhaften Gesichtspunkten), es ist eine »legitime« Mani
festation des Animus.
Zunächst fällt auf, daß Sara nicht einfach ein männerfeindlicher Blau
strumpf oder eine Amazone ist. Sie will (und soll auch von ihrer Familie her)
heiraten. Mit unglaublicher Beharrlichkeit wird die Beziehung zum Mann ange
strebt und bejaht. Und daß bei ihr oder in ihr der Geist Asmodi tätig wird, zeigt,
daß eine tiefe Beziehung zum Männlichen auch wirklich besteht. Das Besondere
dieser Beziehung ist nur, daß sie eine Beziehung zum Männlichen - nicht als
Mann und im Fleisch, sondern - als Geist ist. Was von unseren menschlichen
Interessen her als großes Unglück erscheint, ist von der Seele her ein Ereignis,
in dem diese sich selbst die Erfahrung ihres eigenen Anderen, des Geistes, zu
fügt. Unter der Ägide der Anima ginge es in der Beziehung des Weiblichen zum
Männlichen um die Erfüllung. Natürlicherweise würden der Mann sich in der
Frau, die Frau sich im Manne finden. Die geschlechtliche Vereinigung bliebe
auf der Anima-Ebene durchaus nicht rein sexuell. So wie vielmehr Faust nach
Einnahme des Liebestrunks Helenen in jedem Weibe sehen kann, so läßt die
Anima den Mann in seiner realen Geliebten und die Frau in ihrem realen Gelieb
ten immer auch das göttliche Urbild, also etwas Ideelles, erleben. Das Ideelle
hier bleibt jedoch animahaftes Ideelles: solches, das sich gerade in der leibhaften
Wirklichkeit erfüllt. Zur Anima-Sphäre gehört das sympathetische Welterleben,
bei dem im Realen des Ideale, im Irdisch-Natürlichen das Göttliche anwesend
und erfahrbar ist.
Hier dagegen wird die Ehe zwar geschlossen, aber nur als eine solche, die
nicht vollzogen werden und nicht zur Erfüllung führen kann. Die Ehe wird nicht
völlig vermieden. Es ist keine abstrakte Verneinung der Beziehung zum Männ
lichen. Die Ehe findet sehr wohl statt. Aber sie findet statt nur als die Negation
ihrer selbst. Die Erwartung der Erfüllung wird zunächst genährt und dann aber
zugleich frustriert. Die Ehe, die hier geschlossen wird, ist von Hause aus keine
unmittelbare, natürliche Ehe mehr. Sie ist nicht-natürliche, aufgehobene Ehe, ei
ne Ehe mit getöteten Gatten oder mit den Gatten als getöteten, d.h. als nicht
mehr Seienden. Nicht überhaupt keine Ehe, sondern sozusagen eine Un-Ehe: das
bestimmte oder negative Nichts (im Unterschied zum abstrakten Nichts) der im
Reisch vollzogenen Ehe. Die Bräutigame werden nicht einfach beseitigt, gleich
als ob es sie gar nicht geben dürfte. Es bedarf ihrer, und zwar durchaus im
Fleisch, aber nur, um an ihnen die Aufhebung des natürlichen Seins im Fleisch
ausüben zu können.
Man könnte denken, daß der Geist Asmodi, der von Sara Besitz ergriffen
hat, eifersüchtig auf die anderen Liebhaber ist und sie deswegen tötet. Er will sie
allein besitzen und duldet keinen anderen neben sich. Obwohl es in der Erzäh
lung nicht näher ausgeführt wird, kann man davon ausgehen, daß dies impliziert
ist. Erzählungen übersetzen logische Verhältnisse in narrative, psychologisch
motivierte oder kausal determinierte Zusammenhänge und Handlungsabläufe,
wie sie dem natürlichen Vorstellen gemäß sind. Erzählungen qua Erzählungen
sind daher ihrem logischen Stil nach immer von der Anima geprägt. Die Deu
tung der Erzählung muß diese Übersetzung rückgängig machen, wenn die Deu
tung eine psycho-logische und das Verständnis von Psychologie eines sein soll,
nach dem der Animus in den Stil des psychologischen Denkens selbst hineinge
lassen werden muß. Logisch betrachtet gibt es hier keine Eifersucht: weil es
nämlich gar keine zwei Parteien als Rivalen (hier Asmodi, da die Bräutigame)
gibt. Vielmehr ist das, was narrativ als Täter und Opfer auf zwei verschiedene
Seiten gestellt wird, in Wahrheit ein und dasselbe. Asmodi ist als Geist die Per
sonifizierung des abgezogenen, abstrahierten Wesens der sieben Bräutigame, er
ist die Gestalt gewordene Aufhebung ihrer als natürlicher und im Fleisch vor
handener. Geist ist das negierte, getötete, aufgehobene Natürliche, sein bloßes
Wesen (im Unterschied zu seiner leibhaften Existenz).
In der Realität wäre es kaum vorstellbar, daß eine junge Frau siebenmal
hintereinander in der Hochzeitsnacht vor Vollzug der Ehe ihren Bräutigam
durch Tod verliert. Schon nach dem zweiten, bestimmt aber nach dem dritten
Mal würden die Angehörigen stutzen. Man könnte ihr nicht mit gutem Gewissen
einen vierten, fünften, ja sechsten und siebten Mann geben. Hier jedoch ist keine
Rede von einem skeptischen Zögern. Einer nach dem anderen wird ihr angetraut
und stirbt. Die Zahl sieben ist daher nicht als empirische Zahl zu verstehen. Sie
ist symbolisch. Sieben Tage der Woche, sieben Metalle in der Alchemie, sieben
Tugenden und Todsünden, sieben Planeten - immer ist ein Ganzes, Vollständi
ges angezeigt. Die Siebenzahl der Männer bedeutet entsprechend hier: die Män
ner überhaupt. Sara heiratet dem tieferen Sinn nach nicht sieben einzelne Indivi
duen. Sie heiratet überhaupt keinen einzelnen Mann als Individuum. Ihre Bezie
hung ist vielmehr die zum Männlichen überhaupt. Asmodi ist demgemäß sozu
sagen das alchemistische Destillat der Männer, die Essenz, das geistige Wesen
oder so etwas wie die platonische Idee des Männlichen. Und die real gesehen
eher absurde Siebenzahl bedeutet symbolisch die Aufhebung der konkreten Ein
zelheit der realen Ehe zugunsten des abstrakt Allgemeinen.
Die Männer als natürliche, leibliche werden gleichsam verdampft. Sie
verschwinden. Aber sie verschwinden nicht total. Sondern sie wesen weiter in
dem Geist Asmodi, der nicht mehr, wie die seienden Männer, im Plural, son
dern, als Nicht-Seiender (Geist, Wesen), nur noch im Singular vorkommt. Die
sieben Männer als Einzelne, d.h. alle Männer als Einzelne überhaupt, sind dem
Wesen des Männlichen als dem abstrakt Allgemeinen oder dem Gattungsbegriff
subsumiert worden. Es ist nicht einfach so, daß der Geist der Bräutigam oder
Gemahl von Sara ist und die sieben Männer es nicht wären. Denn dann wäre Sa-
ras »Partnerwahl« einfach nur auf einen »exotischen« statt auf einen »gewöhnli
chen« Gatten gefallen, der Geist wäre einfach auf der Anima-Stufe ein (durch
aus positives, wenn auch seiner Artung nach »zufällig« mythisches oder arche
typisches) männliches Wesen neben anderen (positiven, nun aber empirisch
realen) Männern, die grundsätzlich alle für eine Partnerwahl in Frage gekommen
wären. Beide Gruppen wären anders, aber wesenhaft gleichrangig. Asmodi kann
so nicht erfaßt werden. Damit das, was er ist, sichtbar werden kann, bedarf es
zusätzlich zu der Rede von ihm auch noch des Motivs der geheirateten und getö
teten Männer. Asmodi ist nicht ein Exote unter Gewöhnlichen (wie es ein Mon
gole oder ein Schwarzer unter Weißen ist), er gehört einer anderen logischen
Ebene an. Er ist nichts Eigenes, keine positive Gestalt, sondern er ist das getöte
te oder aufgehobene natürliche Männliche. Die Doppelheit von Asmodi einer
seits und sieben Männern andererseits ist nötig, um die logische Natur des Gei
stes als Negativität und als Abstraktion (Asmodi) von dem Sinnlichen (den rea
len Männern) sichtbar zu machen.
Die Erfahrung, die sich die Seele hier zufügt, ist also die des Un- oder
Nicht- im Sinn der Ver-nichtung und Ver-wesung oder Verwesentlichung des
natürlicherweise Gegebenen. Der Geist ist un-gegenständlich, un-greifbar, un
sichtbar, un-sinnlich, un-vorstellbar. Um dies narrativ nahezubringen, braucht es
die ausdrückliche Tötung dessen, was greifbar und vorstellbar ist. Getötet wer
den aber der Potenz nach nicht die realen Männer selber, sondern nur die Leben
digkeit und Leiblichkeit des Gatten und die diesseitige Positivität der Ehe. Die
Erfahrung, die sich die Seele hier zufügt, ist näher die der Nicht-Erfüllung, des
Verlusts, Entzugs, des Unerreichbarwerdens, des Verschwindens, der Abwesen
heit. Der Animus bewirkt das opus contra naturam. Er hält den natürlichen Ruß
der Energie auf. Er verhindert, daß sich das Verlangen einfach natürlicherweise
in die natürliche Erfüllung ergießt und sich für diese und in ihr verausgabt. Er
verhindert zwar nicht das Erreichen des Ziels (Ehe) überhaupt, aber er biegt die
Richtung, in der das Ziel zu suchen ist, um, so daß es auf einer qualitativ ande
ren Ebene - in einem logisch anderen Status - liegt.
Das Entschwinden zeigt sich nicht nur an den Männern. Es zeigt sich auch
für die Umgebung der Frau an der Frau selber. Denn diese ist für Männer, viel
leicht sogar für jedermann absolut unerreichbar, dem normalen Bezug zu ande
ren entrückt. Am deutlichsten kommt dieses Entrücktsein der Frau selbst durch
den Animus in einer anderen Geschichte, einem Fallbericht, zum Ausdruck,
nämlich in Jungs Schilderung der Geschichte einer achtzehnjährigen katatonen
und mutazistischen Patientin, bei der er es nach vielen Wochen fertigbrachte, sie
zum Sprechen zu bringen.
Nach Überwindung heftiger Widerstände erzählte sie mir, daß sie auf dem M ond ge
lebt hätte. Dieser sei bewohnt, aber zuerst hätte sie nur Männer gesehen. Die hätten
sie sofort mit sich genommen und in eine »untermondliche« Behausung gebracht, wo
sich ihre Kinder und Frauen aufhielten. Auf den hohen Mondbergen hauste nämlich
ein Vampyr, der Weiber und Kinder raubte und tötete, so daß das Mondvolk von
Vernichtung bedroht war. Das war der Grund für die »untermondliche« Existenz der
weiblichen Bevölkerungshälfte.
M eine Patientin beschloß nun, etwas für das Mondvolk zu tun und nahm sich vor,
den Vampyr zu vernichten. Nach langen Vorbereitungen erwartete sie den Vampyr
auf der Plattform eines Turmes, der zu diesem Zweck gebaut worden war. Nach ei
ner Reihe von Nächten sah sie ihn endlich von fern wie einen großen schwarzen Vo
gel heranschweben. Sie nahm ihr langes Opfermesser, verbarg es in ihrem Gewand
und erwartete seine A nkunft Plötzlich stand er vor ihr. Er hatte mehrere Flügelpaare.
Sein Gesicht und seine ganze Gestalt waren von ihnen bedeckt, so daß sie nichts se
hen konnte als seine Federn. Sie war verwundert, und Neugier packte sie zu erfahren,
wie er aussähe. Sie näherte sich ihm, die Hand am Messer. Da öffneten sich plötzlich
die Flügel, und ein überirdisch schöner Mann stand vor ihr. M it eisernem Griff
schloß er sie in seine Flügelarme, so daß sie sich des Messers nicht mehr bedienen
konnte. Überdies war sie so gebannt von dem Blick des Vampyrs, daß sie gar nicht
mehr imstande gewesen wäre, zuzustoßen. Er hob sie vom Boden auf und flog mit
ihr davon.1
Diese Patientin war von dem Geist-Wesen völlig aus dieser Welt entrückt
worden und für die Menschen verschwunden, was sich nach außen in ihrem ka
tatonen und mutazistischen Zustand unmißverständlich dokumentierte. Sie lebte
in Wahrheit auf dem Mond. Wie Asmodi in der Geschichte von Sara die Männer
tötete, so zeigt sich hier der Geist auch als Töter, indem er ein »normales«, na
1 C.G. Jung, Erinnerungen Träume Gedanken, hg. A. Jaffd, Zürich und Stuttgart (Rascher) 1967, S.
135.
türliches Leben für die Patientin unmöglich macht und sie durch Katatonie und
Mutazismus für die Welt gestorben sein läßt. Aber so, wie wir bei Sara eine
Doppelheit konstatieren mußten, indem nämlich der Geist sowohl in der Tötung
der Männer als auch in Asmodi als der Aufhebung der natürlichen Männer zum
Ausdruck kam und Sara einerseits - natürlich betrachtet - unvermählt blieb, an
dererseits jedoch mit Asmodi »verheiratet« war, so kommt an dieser Patientin
ebenfalls die Doppelheit zum Ausdruck. Sie lebt nämlich gerade als die psy
chisch »Tote« als die Gemahlin des Monddämons in aller Pracht.
Der Vampyr wird als Töter geschildert. Die Idee der Bedrohung ist deut
lich genug da. Aber entsprechend der Anima-Stufe kommt es nicht zu mehr als
einer Andeutung eines Konflikts. Die überirdische Schönheit des Dämons ist so
überwältigend, daß sich die Patientin von ihm (buchstäblich) einnehmen und für
ihn gewinnen läßt. Sie entschwindet mit ihm ohne Gegenwehr. Der Bezug der
Seele zum Anderen der Seele bleibt hier wie bei Sara2 ich-synton. Auf Fausts
Ansinnen, Gretchen möge ihn in ihre Stube einlassen, antwortet diese: »Du lie
ber Gott! was so ein Mann / nicht alles, alles denken kann! Beschämt nur steh’
ich vor ihm da, / und sag’ zu allen Sachen ja.« Dies gehört wahrlich nicht zu
dem Thema der Erfahrung des Animus als extramundaner Geist und Todesdä
mon. Es stammt aus der gänzlich anderen, sehr viel harmloseren Sphäre zwi
schenmenschlicher Beziehungen. Aber es mag uns, aus seinem Kontext genom
men, trotzdem als Formulierung für das animahafte Sich-Verführenlassen und
Mitgehen mit dem eigenen Anderen der Seele dienen. Ein Konflikt wird gespürt,
das Fremde, Andere dringt an, der Gegensatz spitzt sich jedoch nicht zu einem
wirklichen Gegensatz und somit zur Entzweiung zu, sondern die Seele »sagt zu
allen Sachen ja«. Sie gibt sich an das Andere hin, wechselt auf seine Seite über.
Das ganz natürliche Eingenommenwerden sogar von dem Anderen als schreckli
chem Dämon ist die Wirkung der Anima (hier nicht als Gestalt, sondern als den
Status oder die Stufe des Erlebens oder das ganze syzygische Verhältnis prägen
der Charakter) innerhalb der Manifestation des Animus. Die ganze Erzählung -
bei Sara wie bei Jungs Patientin - hat entsprechend der Animasphäre betont nu-
minosen, mythischen, archetypischen Charakter. Es bleibt beim gegenständli
chen Bild, bei der Imagination, dem Vorstellbaren. Der Geist, obwohl er der
Geist der Ver-nichtung und Verwesentlichung ist, tritt selber noch animahaft
substantiell als Dämon auf, nicht schon als auch seinerseits verwesentlicht, näm
lich nur noch als geistige, logische Bewegung oder als Geistig/te/r ohne substan
tielles Substrat. Er ist also nicht reine Negativität, sondern verharrt noch in dem
2 Hier muß ich einschränkend hinzufügen: in dem kleinen Anfangsteil der Tobias-Geschichte, den
ich wiedergegeben habe und um den es uns hier allein geht. Schon mit dem Schmähen der Magd
wird die Einhelligkeit Saras mit ihrem Geist-Gemahl beendet. Die Magd als Stimme des common
sense reißt Sara so aus der »Symbiose« mit Asmodi heraus, wie Jung seine Patientin dadurch aus
ihrem Eingesponnensein in die Mondexistenz herausholte, daß er sie zum Erzählen ihrer Tiefen
erlebnisse und damit zum Verrat an dem übernatürlich schönen Vampyr veranlaßte.
Zustand einer durchaus positiven, sinnlich wahrnehmbaren Gestalt. Und die Be
gegnung mit dem Monddämon, obwohl eine Begegnung mit einem Töter, führt
gerade zur höchsten Erfüllung. Der Ort ist ebenso die nur zu deutlich als Anima-
Welt gezeichnete Welt des Mondes. Diese ist ein Todes- und Geisterreich, und
doch ist sie so positiv wie die irdische Wirklichkeit. Trotzdem manifestiert sich
hier, wenn auch innerhalb der Anima-Sphäre und in einem ihr gemäßen Stil, be
reits der Animus, freilich nur der Animus in seiner lunaren, animaverhafteten
Form.
Man kann hier viele Sagen, Mythen und Märchen als Parallelen heranzie
hen. Ich führe kurz einige Geschichten aus ganz verschiedenen Genres, Berei
chen und Zeiten an. In dem Mythos von Hades und Kore / Persephone ist Hades
(der »Un-sichtbare«) der Tod. Er ist der Kore (das »Mädchen«, die Anima) Rau
bende, Vergewaltigende, Tötende. Doch die Anima läßt sich ins Reich der Toten
entführen, sie bleibt bei ihm und wird sogar seine Gemahlin und Königin: Kore
wird Persephone. Das Totenreich ist zwar eine andere Welt, aber in ihr gibt es
den Herrscher und die Herrscherin wie in der hiesigen Welt. - Ein bretonisches
Volksmärchen, »Die Gattin des Todes«, oder wenigstens ein Teilaspekt von
ihm, macht dies noch deutlicher. Darin besucht ein junger Mann seine Schwe
ster, die einst dem Tod als Gattin ins Jenseits gefolgt war. In dem Märchen, das
zum Typus AT 470/471 gehört, geht es eigentlich um die Erlebnisse des jungen
Mannes im Totenreich, um Jenseitsstrafen und Erlösungen. Diese Haupthand
lung interessiert mich hier jedoch nicht. In unseren Zusammenhang gehört nur
das zum Anlaß der Jenseitsreise genommene Motiv von der Hochzeit mit dem
Tode. Die Schwester lebt im Jenseits so gut, wie sie auch herüben gelebt hatte.
Der Unterschied zwischen Totenreich und irdischer Wirklichkeit ist da, aber auf
beiden Seiten ist Leben. In der I. Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres An
deren geht es zwar um Verschwinden, Entrückung und Nichtung, aber die
Nichtung ist nicht letztlich tödlich, nicht absolute Vernichtung, nicht
unerbittlich-endgültige und grausame Erfahrung. Sie ist höchstens von einem
gewissen Schauer umgeben, un-heimlich, mysteriös. - Auch die Sage von dem
Rattenfänger von Hameln zeigt den animushaften Geist ausgestattet mit der ani
mahaften Kraft der Verführung und Faszination. Ohne Gewalt, einfach durch
seine Musik, vermag der Pfeifer von Hameln die ganze Schar von Kindern in ei
nen Berg auf Nimmerwiedersehen zu entrücken.
In dem Film von Peter Weir »Picknick am Valentinstag« (Australien,
1975) wird ebenfalls eine Entrückungsgeschichte erzählt. In der viktorianischen
Zeit vor dem ersten Weltkrieg wird von einem Mädchenintemat in Australien
am Valentinstag ein Ausflug mit Picknick zu einem Bergmassiv veranstaltet.
Während die meisten Schülerinnen mit ihrer Lehrerin sich dort an ihrem Lager
platz ausruhen oder sich mit Spielen, Gesprächen und Lektüre unterhalten, ver
suchen vier befreundete Mädchen, alle in der Pubertät, ein wenig den Berg zu
erforschen. Sie kehren nicht zurück. Die verzweifelte Lehrerin muß bei Dunkel
heit die Gruppe ohne sie zum Internat zurückbringen. Eine tagelange Suche
durch verschiedene Suchtrupps kann sie nicht aufspüren. Nur eine der drei wird
noch aufgefunden. Sie war wegen ihrer Dicklichkeit hinter den schnell gehenden
anderen zurückgeblieben und hat deswegen nicht mitbekommen, was mit ihnen
geschehen ist. Es wird jedoch klar, daß sie nicht einem banalen Unglücksfall
oder Verbrechen zum Opfer gefallen sind. Sie sind im buchstäblichen Sinn in
den geheimnisvollen Berg hinein entschwunden.
Eine andere, aus unserer Zeit, wenn auch aus einem anderen Kontinent
stammende Geschichte entnehme ich einer ghanesischen Zeitung vom Anfang
August 1985, die ich zufällig einmal in die Hand bekommen habe. Es handelt
sich bei ihr jedoch nicht um das Genre einer märchenhaften Phantasiegeschich
te, sondern um das eines dokumentarischen Berichts (einer Reportage) von ei
nem Ereignis, das als ganz reales Problem geschildert wird und in ähnlicher
Form des öfteren Vorkommen und für viele Familien eine echte Sorge und Not
sein soll.
Ein Mädchen von 12 oder 13 Jahren namens Lydia war verschwunden. Zwei Jahre
vorher hatte ein Fetischpriester den Eltern, die Angehörige einer christlichen Kirche
waren, erzählt, daß Zwerge ihre Tochter zu sich nehmen wollten, um sie dazu bereit
zu machen, ihnen als ihre Priesterin zu dienen. Die Eltern [als Christen] ignorierten
das. Dann, eines Tages im Mai dieses Jahres [1985], berichtete ihr jüngerer Bruder,
daß Lydia in den Wald gegangen sei, daß er ihr eine Strecke weit gefolgt sei, daß sie
aber alle seine Rufe ignoriert habe und offensichtlich entschlossen gewesen sei, tie
fer und tiefer in den Wald hineinzugehen. Da der Junge erst neun Jahre alt war, sei er
dann aber umgekehrt und allein heimgekommen. Von Lydia war keine Spur zu fin
den, obwohl mehrere Suchtrupps während der nächsten Tage ausgeschickt worden
waren.
Die Eltern wandten sich deswegen wieder an den Fetischpriester, und dieser be
stätigte, daß es die Zwerge gewesen seien, die sie fortgeholt hätten. Er fügte hinzu,
daß Lydia wieder zurückkommen würde und deutete sogar an, daß sie sie sehen wür
den. Lydia würde, so erklärte er, zur gegebenen Zeit eine große Priesterin werden.
An dem festgesetzten Tag erschien der Priester. Er, die Eltern und viele andere Leute
machten sich auf, um Lydia entgegenzugehen. Und in der Tat, da war sie, auf dem
Kamm eines Hügels, sie stand alleine und war voll angetan mit der Kleidung einer in
Ausbildung befindlichen Priesterin. Viele Riten wurden durchgeführt, um ihr zu er
möglichen, wieder zur Schule zu gehen, falls sie es wollte. Aber es hieß, sie würde
wieder verschwinden, um ihre Einweihung zu vollenden. Dieses Vorkommnis er
schreckte die Menschen sehr. Die Eltern wollten nicht, daß Lydia eine Priesterin
würde, und sie selbst hatte offensichtlich Angst und wagte gewiß nicht, alles, was ihr
widerfahren war, zu erzählen. Laut Fetischpriester konnte sie sich einfach nicht erin
nern.
So weit dieser Bericht. Auch dies ist bei aller Realitätsnähe eine Ge
schichte von »Verschwinden«, von »Entrückung« und radikalem Herausgezo
genwerden aus der gewöhnlichen Welt, aus der Einbettung in die eigene Familie
und die natürliche soziale Umgebung, zu der man von Geburt her gehört. Das ist
der Animus-Aspekt dieser Erfahrung. Das Verschwinden geschieht auch hier
ohne Gewalt und Widerstand. Lydia läßt sich von den Zwergen verführen; sie
folgt einer Verlockung oder Berufung. Und das, wozu Lydia aus der vertrauten
Welt gerissen wird, hat, auch wenn dies von den christlich gewordenen Eltern
wie vom »aufgeklärten« Zeitungsberichterstatter nicht mehr so erlebt werden
kann, einen tiefen Sinn, es bringt zumindest der Potenz nach seine eigene Erfül
lung mit sich. Denn es ist eine Initiation, die Begegnung mit dem »Extramunda-
nen«. Dies ist das Animahafte des Geschehens.
Die II. Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen: der
Frauenm örder und das Zurückschrecken in Todesangst. Hier ist der Animus
nicht nur das, was erfahren wird, sondern er zeigt sich auch in der Form des Er
lebens. Das ganze Verhältnis von Anima und Animus steht jetzt unter der Ägide
des Animus selber. In der I. Stellung war die Manifestation des Animus sozusa
gen ein Schlag ins Leere. Er erschien zwar, und auch als er selbst, nämlich als
Negation, aber insofern, als die Anima sich dem Animus als Töter einfach hin
gab, blieb im wesentlichen alles beim alten. Seine Manifestation »verpuffte« so
zusagen, sie vermochte dort nicht die Anima aus der ihr gemäßen Stufe heraus-
und auf eine andere hinaufzubringen, sein Töten vermochte sie nicht wirklich zu
töten. Nur inhaltlich war innerhalb der Anima-Welt der Animus aufgetaucht.
Aber er ist nur wirklicher Animus, wirklicher Töter, wirkliche Negation, wenn
er auf einen Widerstand stößt, so daß sein Töten auf etwas trifft, das tatsächlich
getötet werden kann, weil es sich ihm gegenüber behaupten (am Leben erhalten)
will. Der Animus ist nicht nur anders, nicht nur ein anderes Phänomen unter den
vielen Phänomenen, er ist das Andere der Phänomene überhaupt.
Als Anhalt für die Analyse der II. Stellung der Seele zu ihrem Anderen
eignet sich das Märchen vom Blaubart. Es kann hier nicht dämm gehen, be
stimmte Blaubart-Märchenfassungen mit ihren konkreten Einzelheiten und Be
sonderheiten zu interpretieren und zu vergleichen. Uns muß einzig die Grand
handlung und der Grundgedanke dieses Märchentyps (AT 312) interessieren,
wobei wir uns an die Perraultsche Fassung halten. Ein junges Mädchen heiratet
einen reichen, aber besonders wegen seines blauen Bartes unheimlich wirkenden
Mann und folgt ihm auf sein Schloß. Dort leben sie in Reichtum und Sorglosig
keit. Eines Tages sagt Blaubart, er müsse verreisen. Er übergibt seiner Frau
sämtliche Schlüssel mit der Erlaubnis, alle Türen zu öffnen, bis auf eine be
stimmte Tür, die sie unter keinen Umständen öffnen dürfe. Die Frau erliegt ihrer
Neugierde, öffnet die Tür und findet dort die Leichen der früheren Frauen des
Blaubart. Der Türschlüssel, der ihr vor Schreck zu Boden in eine Blutlache ge
fallen war, läßt sich mit keinem Mittel reinigen, so daß Blaubart bei seiner un
vermittelten Rückkehr erkennt, daß sie sein Verbot übertreten hat. Er kündigt ihr
ihren sofortigen Tod an. Sie weiß sich einen Aufschub für ein Gebet auszubitten
und wird gerade noch in letzter Minute von ihren Brüdern gerettet.
Im Kontext dieses Märchens ist es ganz ausgeschlossen, daß die Frau dem
Töter einfach folgen würde. Die Begegnung mit ihm ist traumatisch. Wir haben
hier den krassen Gegensatz von unschuldigem Opfer und, wie von Franz sagte,
diabolischem Mörder. Einhelligkeit zwischen beiden ist undenkbar. Sie sind
schlechterdings inkompatibel. Die Erfahrung des Animus hat hier den Charakter
der Bedrohung, des Einbruchs in die behütete Welt der jungen Frau, des absolut
entsetzlichen Widerfahmisses. Er ist der Widersacher, und sie ist zu Tode er
schrocken und zittert um ihr Leben.
Indem sie für ihr Leben zittert, ist sie, auch wenn sie noch nicht von dem
frisch gewetzten Messer des Frauenmörders getroffen ist, dem Sinn nach doch
schon vom Tode getroffen. Zunächst war sie - trotz Eheschließung und, wie an
zunehmen ist, vollzogener Ehe - doch psychologisch unschuldig, jungfräulich
unberührt. Von dem Anderen als Anderen, von der Negation ihrer selbst, hatte
sie nicht gewußt. Sie war vollkommen ahnungslos hinsichtlich des Tötungscha
rakters des Männlichen oder des Animus und hätte sich niemals träumen lassen,
daß sie in der verbotenen Kammer gemordete Leichen finden könnte. Sie lebte,
mit Tillich zu sprechen, einbehalten in träumender Unschuld. Damit ist es vor
bei. Auch wenn z.B. in der Perraultschen Fassung das Ende die Rettung bringt,
so liegt das ganz und gar nicht in der Konsequenz des Geschehenen. Die Brüder,
die Blaubart umbringen, tauchen völlig unmotiviert wie der deus ex machina
auf. Sie bringen eine nur äußerliche Lösung. Die Rettung mit anschließender In
besitznahme all seiner Reichtümer würde bedeuten, daß der Bösewicht wie eine
bloße Störung einfach beseitigt und gleichzeitig der vorige Bewußtseinszustand
wiederhergestellt würde. Das Motiv der Rettung ist eine Konzession des Erzäh
lers an die Bedürfnisse des Publikums.
Aber das Happyend ist fehl am Platz. Denn erstens hat dem tieferen Sinn
nach die Tötung des unschuldigen Mädchens schon stattgefunden. Es bedurfte
gar nicht noch eigens eines Schlags mit dem gewetzten Messer. Dieser hätte nur
noch einmal ausdrücklich gemacht, was bereits geschehen ist. Schon der An
blick der Leichen ihrer Vorgängerinnen war der Tod der harmlosen Anima. Sie
ist an dieser ihrer Entdeckung zerbrochen. Das - aus der Sicht der träumenden
Unschuld - Unausdenkbare war damit nämlich in die Sphäre dieser Unberührt
heit und Ahnungslosigkeit eingebrochen und hat eo ipso diese ganze pleromati-
sche Sphäre zerstört. Ein Zurück ist nicht mehr möglich. In den Leichen (im
Plural) hatte sie das Getötetsein oder die logische Aufgehobenheit ihrer selbst
oder des Weiblichen überhaupt oder der animahaften Unschuld als vollendete
Tatsache angeschaut. Wie Sara in den sieben Männern als getöteten ihren As
modi als das aufgehobene Männliche hatte, so erblickt das Mädchen als Anima
hier nicht die Leichen irgendwelcher einzelner Frauen im Plural, sondern das
Getötetsein des Weiblichen oder der Anima überhaupt, also auch ihr eigenes Ge
tötetsein. Das Todesurteil Blaubarts macht nur noch einmal eigens gegenständ
lich sichtbar, was längst Moment im Anblick des grausigen Fundes ist.
Zweitens hätte sich die Seele auch mit einem Happyend um genau den
Gewinn gebracht, den sie doch damit, daß sie sich selber mit der Blaubart-
Erfahrung zu Tode erschreckt, erzielen wollte. Der ganze Aufwand, die Begeg
nung mit dem Blaubart als ihrem Anderen zu erfinden und sich selbst dem grau
sigen Fund auszusetzen, wäre umsonst. Außer einem gewissen temporären Ner
venkitzel wäre nichts geschehen. Es wäre so, wie wenn man aus einem Alp
traum aufwacht und dann sagen würde: Gottseidank war es nur ein Traum; jetzt
bin ich wieder in der Realität, ich kann den bösen Traum vergessen und mich
den Alltagsaufgaben zuwenden, als ob nichts gewesen wäre.
Wir müssen immer im Sinn behalten, was wir von Jung gehört haben,
In Mythen und Märchen wie im Traum sagt die Seele über sich selbst aus, und die
Archetypen offenbaren sich in ihrem natürlichen Zusammenspiel, als »Gestaltung,
Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung.«
Wir dürfen nicht Partei für die eine Seite und gegen die andere ergreifen. Wir
dürfen uns nicht, bloß weil wir von dem narrativen Stil her alles aus der Per
spektive des Mädchens erleben, mit diesem identifizieren, uns seinen Stand
punkt und seine Interessen zu eigen machen und sein Wohlergehen mit dem An
liegen der Seele gleichsetzen. Wir dürfen nicht den Blaubart als das schlechter
dings Außerseelische und Seelenfeindliche abstempeln. Sondern wir müssen
sehen, daß auf beiden Seiten Seele ist und daß das Wahre dieser Geschichte das
ganze Verhältnis beider zueinander ist. Es wäre freilich schön, wenn man
hübsch säuberlich trennen könnte, wenn man das Mädchen als das Schützens
werte ganz eindeutig auf die eine und den Blaubart als den absolut verdammens-
werten Bösewicht ebenso eindeutig auf die andere Seite stellen könnte. Dann
könnte man bei Verstand bleiben. Man wüßte, woran man ist. So einfach kann
es sich jedoch eine aus dem Blickwinkel der Seele kommende Betrachtung nicht
machen. Sie muß ihren Standpunkt in der Syzygie nehmen und den Widersprach
ertragen, daß - obwohl sich in dem Mädchen und dem Blaubart wirklich unver
trägliche Gegensätze gegenüberstehen - doch auf beiden Seiten zugleich das
Selbe: die Seele steht; daß der Blaubart, obwohl er tatsächlich das schlechter
dings Andere, nämlich Tödliche, für die Seele ist, dennoch zugleich nur das in
nerseelische Andere, nur das der Seele selbst eigene für sie Tödliche ist; und daß
das arglose Mädchen, obwohl es in der Tat schützenswert ist, gerade als die
Schützenwerte von der Seele selbst der Erfahrung des Frauenmörders ausgesetzt
wird und werden soll.
Die Geschichte von dem ahnungslosen Mädchen und dem mörderischen
Blaubart ist eine Momentaufnahme (oder eine einzelne archetypische Situation)
aus dem ewigen Spiel der Seele mit sich selbst, so wie die Geschichte von Sara
und Asmodi und all die anderen Mythen, Märchen und Traumerzählungen je an
dere Momentaufnahmen aus diesem Spiel sind. Es gäbe das Märchen vom Blau
bart gar nicht, wenn es nicht das Bedürfnis der Seele gewesen wäre, sich selbst
mit dem unerträglich Schrecklichen zu konfrontieren und sich - als der unschul
digen Anima - dadurch selber den Tod beizubringen. Auf die Tötung der Arglo
sigkeit ist es hier von vornherein abgesehen. Die Seele hat offenbar ein Interesse
daran, sich ihre eigene Unschuld zu nehmen, sich selbst zu verwunden, sich
selbst zu Tode zu erschrecken und sich aus der pieromatischen Einheit mit sich
selbst »herauszuschocken« - sonst hätte sie sich die grausige Gestalt des Blau
bart überhaupt nicht ausgedacht. Das ganze Drama wird nur bemüht, weil in der
Tötung (d.h. dem Getötetwerden) ihrer selbst zugleich auch der von ihr und für
sie zu erzielende Gewinn liegt: der Tod der Anima-Sru/e. In dem grundstürzen
den Erschrecken, in das sich die Seele dadurch, daß sie sich mit der Leichen
kammer konfrontiert, hineinbringt, gelingt es ihr, sich aus ihrer Einhelligkeit mit
sich hinauszusetzen, sich selbst ihr selbst als einem absolut Fremden, mit ihr
Unverträglichen gegenüber zu setzen und sich so in ein (innerpsychisches) Au
ßen zu bringen. Wir erleben hier die Erfindung oder Setzung des »Außerpsychi
schen«, die Erzeugung jenes Abstandes der Seele zur Seele, der - wenn er ent
wickelt ist - die äußerliche Reflexion ebenso ermöglicht wie erzwingt.
von Franz hatte gesagt: Bluebeard »cannot transform his wives or be
transfonmed himself. He embodies the death-like, ferocious aspects of the ani
mus in his most diabolical form; from him only flight is possible.« Dies ist so
richtig, wie es falsch ist. Die Charakterisierung stimmt haargenau und geht doch
zugleich haarscharf an dem Sinn vorbei. Die Verfehlung liegt darin, daß impli
ziert ist, daß eigentlich eine Verwandlung, sei es der Frauen, sei es von Blaubart
selbst, sein sollte. Und weil dies in diesem Fall jedoch de facto aussichtslos ist,
bleibe einem kein anderer Ausweg als die Flucht, von Franz sitzt mit dieser
Sicht der Sicht nur der einen Gestalt des Märchens, nämlich der erschrockenen
Anima, auf. Sie nimmt diese als reale Person (wie eine empirische Patientin)
und identifiziert sich mit deren Interessen. Sie wird selbst Partei in dem Gegen
spiel der beiden Protagonisten. Das heißt, sie läßt sich ganz von der Wirkung,
die die Seele mit der Erfindung dieses Märchens erzeugen will, mitreißen, ohne
zu realisieren, daß die Wirkung »mit Absicht« erzeugte Wirkung ist. von Franz
bleibt in der durch den Schrecken erzeugten äußerlichen Reflexion und nimmt
sie als einzig möglichen (schlechthin selbstverständlichen) Standpunkt. Sie teilt
die eine Wirklichkeit des Märchens so auf, daß sie seine eine Seite, den Blau
bart, als nacktes Faktum nimmt, das nun einmal so ist, wie es ist, während sie
der anderen Seite, der des Mädchens, die Freiheit des Handelns (des Reagierens
auf die unabänderliche Gegebenheit »Blaubart«) zuschreibt, ganz so, wie das
Mädchen selbst es aus seiner Situation erleben dürfte. Blaubart ist hier als in sei
nem Wesen schlechterdings (wie von einem blinden äußeren Fatum und somit
völlig unabhängig von dem Mädchen) gegeben gesehen, so daß das Mädchen
dann, wenn es »zufällig« oder schicksalhaft mit ihm konfrontiert wird, vor der
Wahl steht: entweder es kann noch fliehen, oder es ist aus mit ihm.
Wir machen dagegen mit dem psychologischen Ansatz ernst und treten
selber in das Märchen ein, so daß wir es von innen, aus seiner Ganzheit heraus,
mithin in immanenter Reflexion reflektieren können. Wir ergreifen nicht inner
halb seines Geschehens Partei, wodurch wir seiner beabsichtigten Wirkung nur
aufsitzen und von ihr fortgerissen (sie weiter agieren) würden. Wie kommt man
in das Märchen und in den Standpunkt der immanenten Reflexion hinein? Da
durch, daß man der vom Märchen innerhalb seiner gezielt erzeugten Wirkung
nicht verfällt, d.h. sie nicht als natürlich, unabänderlich, schlechthin selbstver
ständlich nimmt, sondern das Ganze: die beabsichtige Wirkung und ihre absicht
liche Erzeugung und damit auch den seelischen Zweck der ganzen Veranstal
tung ins Bewußtsein aufnimmt. Man steht erst dann und in dem Maße im Mär
chen, wenn und wie man es - scheinbar über ihm stehend - als Märchenerfin
dung (als Rede der Seele von ihr selbst und zu ihr selbst) weiß. Wer sich von
dem Schrecken einfach nur mitreißen und zum Reagieren hinreißen läßt, steht
zwar im Bann des Märchens, aber er findet gerade nicht in es hinein, weil er es
für bare Münze, für buchstäbliche (äußere) Realität nimmt. Er sitzt dem Mär
chen auf, das den Blaubart innerhalb seiner so erfunden hat, daß er wie etwas
außerhalb des Märchens tatsächlich Existierendes erscheint. Bleibt man im Bann
des Märchens, dann wird man gerade durch den von ihm innerhalb seiner er
zeugten Schrecken aus ihm hinaus in die äußerliche Reflexion getrieben. Die
imaginativen Produkte der Seele sind - natürlich - so angelegt, daß ihre Gebilde
als außerhalb der Imagination der Seele bestehend genommen werden. So wi
dersprüchlich geht es hier zu.
Wird das Märchen aus dem Standpunkt der inneren Reflexion betrachtet,
ist der Gedanke an Flucht im Sinn eines buchstäblichen Entkommens haltlos.
Denn dann sind mörderischer Blaubart und die unschuldige Anima syzygisch
zusammengespannt. Sie gehören unauflösbar zueinander. Sie sind zwei »Hälf
ten« von ein und demselben Ganzen, zwei Pole, in die die Seele hier sich selbst
in diesem einen archetypischen Moment ihres Spiels mit sich selbst auseinan
dergelegt hat. Blaubart ist nicht das schlechterdings Gegebene, mit dem das
Mädchen nur konfrontiert wäre. Beide sind gleichermaßen und mit einem Male
als eine Kon-stellation von dem Märchen gesetzt. Das Mörderische auf der einen
Seite ist das Pendant der Ahnungslosigkeit auf der anderen Seite. Sie spiegeln
einander. So wie das Nichts-als-Fliehen-Wollen das Resultat der Begegnung mit
dem grausigen Frauenmörder ist, geht auch umgekehrt die Grausigkeit des Mör
derischen auf das Konto der Fluchttendenz des unbedingt unberührt bleiben wol
lenden Mädchens. Gerade weil die Anima hier absolut ahnungslos bleiben und
deshalb nichts als fliehen möchte, erzeugt sie selber ihr eigenes Gegenteil, das
Mörderische, so wie dieses umgekehrt die völlige Unschuld erzeugt. Wir könn
ten sagen: Zeige mir, was du in der verbotenen Kammer entdeckst, und ich sage
dir, wer du bist; zeige mir, wen du umbringen mußt, und ich sage dir, wer du
bist. Warum? Weil sich beides innerhalb der Syzygie abspielt. Beide stecken je
weils schon in ihrem Gegensatz mit drin. Sie sind syzygisch verschränkt, was in
dem Symbol des zweifach die Hände wechselnden Schlüssels und dem mit ihm
verbundenen Motiv der Neugier des Mädchens, die dem Ahnungslosbleiben wol
len zuwiderläuft, auch von einer anderen Seite her eigens ausgedrückt ist.
Deswegen ist die Flucht hier sinnlos. Sie würde, weil sie Flucht nur inner
halb der Syzygie ist, das, wovor sie fliehen will, gerade mit sich nehmen. Und
sie wäre mehr als sinnlos; sie wäre widersinnig, kontraproduktiv. Dies deshalb,
weil sie als Beharren auf dem Freibleiben von dem syzygisch an ihren Gegen
satz Gebundensein die extreme, mörderische Form dieses ihres Gegensatzes nur
verstärken würde. Die Flucht wäre nicht das, was aus der Blaubart-Situation her
ausbrächte, sondern das Fliehenwollen ist selber die eine »Seite« der Blaubart-
Konstellation (Anima) und zugleich die ganze Blaubart-Konstellation (Anima
und Blaubart-Animus). Die absolut schreckliche Gestalt des Blaubart ist nichts
anderes als das bildgewordene und, so verdichtet, anschaubar vor das Bewußt
sein gestellte Gefühl, unbedingt fliehen zu müssen. Das Fliehenwollen geschieht
nicht nur am Ende der Geschichte und als ihr Ende, sondern es ist gerade auch
der Anfang des Blaubart-Märchens, nur daß aus Gründen der narrativen Technik
der Anfang erst am Ende ans Licht kommt.
Wir erleben hier an diesen Zusammenhängen das Widersprüchliche, daß
die äußerliche Reflexion, die die eine Seite, hier gewöhnlich den Blaubart, als
von außen schlechterdings gegebenes separates Faktum und somit als der ande
ren Seite nur zufällig oder Fatum-gleich zustoßend ansetzt und die damit aus der
syzygischen Identität der beiden Seiten ausbrechen will, nichtsdestoweniger ge
rade nicht aus der Syzygie herauskommt. Die Leugnung der Syzygie gehört sel
ber gerade in die Syzygie hinein und bestätigt diese. In dem Gedanken »from
him only flight is possible« bindet sich die Seele gerade an den mörderischen
Animus, ja sie treibt sich selbst erst recht in dessen Arme, so daß die Flucht weg
von ihm die Flucht zu ihm hin ist. Das Märchen macht dies ganz klar. Der Ver
such, das Blut als das Zeichen der gewonnenen Erkenntnis abzuwischen und
diese so wieder »ungeschehen« zu machen, bewirkt, daß Blaubart, der doch ei
gentlich auf eine lange Reise gehen wollte, plötzlich wieder da ist und sein To
desurteil ausspricht.
Folgt die Seele der immanenten Reflexion, dann kann sich die Anima im
Animus und dieser in jener erkennen. Am Mörderischen des Animus kann die
Anima den Grad ihrer Ahnungslosigkeit, ihrer Isoliertheit und Behütetheit able
sen, und der Animus kann in der Unschuld der Anima seine eigene, von keinen
Bedenken getrübte Naivität und Unmittelbarkeit im Töten erblicken. Beide fin
den im Anderen ihrer sich selbst gespiegelt. Beide sind als das Gegenteil des
Anderen gesetzt. Daher besteht zwischen ihnen eine Identität, allerdings eine,
die die Differenz in ihr hat. Diese Identität ist beider äußerste Abstraktheit. Die
abstrakte Unschuld will nichts, als von dem Anderen ledig zu bleiben, die ab
strakte Mordlust will nichts, als das Andere zu vernichten. Hüben wie drüben
haben wir dieselbe Verneinung der syzygischen Zusammengehörigkeit und
nichts als dies.
Entsprechend der Voraussetzung der äußerlichen Reflexion, daß die bei
den Protagonisten unabhängig voneinander bestehende und unabhängig vonein
ander so seiende Gestalten sind, wie sie eben sind, wird die äußerliche Reflexion
auch in dem Blaubart nebst Partnerin und z.B. in Asmodi nebst Partnerin je zwei
ganz verschiedene Figuren und Verhältnisse erblicken. Aber ich sage, daß es das
selbe (wenn auch nicht das gleiche) Verhältnis ist, das Verhältnis der Seele zu
ihrem eigenen Anderen. Dieses Verhältnis, immer das selbige, ist nur gemäß der
»Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung« in ein je
anderes Licht getaucht, erscheint in einem je anderen Status oder auf einer ande
ren Stufe. Wenn von Franz mit Recht sagt, daß der Animus als Blaubart seine
Gemahlinnen nicht verwandeln und er selber nicht verwandelt werden kann,
dann ist dies so zu verstehen, daß die Seele hier ihr Verhältnis zu ihrem Anderen
in demjenigen »Aggregatzustand« zeigt, in dem dieses Verhältnis zum äußersten
Extrem und zur abstrakten Gegensätzlichkeit zugespitzt ist, so daß eine Wand
lung ausgeschlossen ist. Die Unmöglichkeit der Wandlung ist nicht ein Fehler
oder ein unglücklicher Zufall, sondern genau die Intention. Die absolute Flucht
und das absolut Mörderische sind die Darstellung derjenigen einen Form des
Verhältnisses, bei der die Psyche ihre eigene Syzygie dem Wesen der Syzygie
zuwider als rein äußerliche Beziehung total Getrennter und Inkompatibler ima-
giniert, in dem sie also selber ihre inneren Gegensätze als äußere, als solche der
äußerlichen Reflexion vorstellt.
Warum dies? Eine Antwort könnte sein, daß die Seele eben sämtliche
Möglichkeiten des syzygischen Verhältnisses durchspielen möchte. Die Syzygie
muß sämtliche ihrer möglichen Stationen und Konstellationen ihrer selbst durch
laufen und vorführen, und nur alle archetypischen Konstellationen ihrer sind die
volle Wirklichkeit der Syzygie. Das mag sein. Weiter führt freilich die Überle
gung, was das innersyzygische Sich-aus-der-Syzygie-hinaus-Imaginieren, wie
wir es in der Blaubart-Konstellation vorfinden, bringt. In der I. Stellung, bei As
modi und Sara, ließ sich die Seele für ihren eigenen Gegensatz gewinnen. Und
dies, so zeigten wir, machte gerade das Wesen der Anima-Stufe der Erfahrung
ihres Gegensatzes aus. Wenn sich hier nun die Seele ihre Erfahrung ihres Ande
ren so gestaltet, daß dieses Andere ein Mörder und nichts weiter ist und ihr sel
ber nichts als die Flucht vor ihm bleibt, dann erarbeitet sich die Seele in dieser
Phantasie die rückhaltlose und ungemilderte Erfahrung des Anderen als eines
wahrhaft, d.h. unversöhnlich Anderen. Sie erarbeitet sich im totalen Zurück
schrecken das Widerstehenkönnen, das Fürsichbleibenwollen, die Fähigkeit, der
Verführung durch das Andere sich zu widersetzen. Sie muß sich ihre eine Seite
zum Mörder, der nichts als Mörder ist, zuspitzen, um auf der anderen Seite die
abgrundtiefe Angst zu erzeugen, die zur Flucht motiviert und verhindert, daß die
Anima, wie Jungs Patientin, von der übernatürlichen Schönheit des Dämons fas
ziniert zu diesem überläuft und einfach seine Gemahlin wird. Es bedarf der
grausigen Entdeckung, um die Seele in einen Gegensatz zu ihr selbst zu bringen:
und um eben dadurch die ganze Anima-Stufe der Erfahrung ihres Anderen zu
überwinden und nunmehr dieselbe Erfahrung als die Erfahrung auf der Animus-
Stufe zu gewinnen.
Auf der Anima-Stufe ist die Anima Gemahlin des Todes, Geliebte des
Dämons, niemals jedoch Opfer. Um sich selbst aus dem Eingesponnensein in
sich selbst und aus dem widerstandslosen Sich-Hingeben an ihr eigenes Ande
res, ganz gleich, in was für einer Gestalt es ihr erscheinen mag, und damit aus
dem Sich-Hingeben an sich selbst herauszubringen, muß sich die Seele selbst
das Erlebnis des aussichtslosen Opferseins verschaffen. Erst in der totalen
Angst, erst in dem absoluten Erzittern der absoluten Unschuld der Seele vor dem
diabolischen Mörder geht die Seele nicht mehr in ihrer Einhelligkeit mit sich
selbst auf, sondern ist aus sich heraus- und sich gegenübergetreten, so daß sie
sich nunmehr in äußerlicher Reflexion gegenübersteht. Dies ist die Geburt des
Animus als Animus.
Es ergibt sich das Merkwürdige, daß man nicht so sehr auf die Animus-
Seite der Syzygie blicken darf, um zu sehen, ob wirklich eine Animus-Erfahrung
vorliegt. Man kann dies gerade nur an der Anima-Seite erkennen. Asmodi, Ha
des, der Monddämon und Blaubart sind als Todesdämonen mehr oder weniger
dieselbe Gestalt in geringfügiger Variation. Auf ihrer Seite ist zwischen der I.
und der II. Stellung kaum ein Unterschied zu konstatieren. An Sara, Persephone,
Jungs Patientin, der Gattin des Todes aus dem bretonischen Märchen einerseits
und dem Mädchen im Blaubart-Märchen andererseits jedoch ist ablesbar, daß
der Überschritt von der I. zur II. Stellung, d.h. von der Anima-Sphäre zur
Animus-Stufe stattgefunden hat. Der eigentliche Animus-Charakter kommt an
der Anima zum Ausdruck: diese ist jetzt ihrerseits animushaft. Anima und Ani
mus tauschen, so scheint es, ihre Funktionen aus, worin sich noch einmal die Sy
zygie als Einheit von Einheit und Differenz der Gegensätze bemerkbar macht.
Die Animus-Stufe ist in einem gewissen Sinn höher als die Anima-Stufe,
insofern sie deren Überwindung und die Kraft zum Gegensatz darstellt. Aber
gleichzeitig zeigt sich, daß die höhere Stufe primitiver, d.h. ärmlicher, und nai
ver ist. So unschuldig, ahnungslos und so eng wie hier war die Anima auf der
Anima-Stufe nicht. Dort wußte sie, daß sie die Gemahlin oder Geliebte des To
des war. Das mußte nicht verdrängt werden, und es bedeutete keine Inkompati
bilität. Die Faszination und die Tödlichkeit konnten zusammen erfahren werden,
ohne einander auszuschließen. Das Bewußtsein der Anima war weit genug, um
beiden Aspekten in sich Raum geben zu können. Hier dagegen ist die Anima die
Unschuld pur. Sie hat für nichts Augen als für die nackte Bedrohung ihrer Exi
stenz. Ganz abstrakt sieht sie im Blaubart den Mörder und nichts weiter. Und sie
muß die abstrakte Unschuld sein, um zurückschrecken und im Zurückschrecken
verharren zu können, anders als Jungs Patientin, die zwar zunächst durchaus ei
ne Opposition zu dem Dämon verspürte, welche dann aber bei dem Anblick sei
ner einfach dahinschmolz.
Dabei ist wichtig sich klarzumachen, was wir im Prinzip schon herausge
arbeitet haben, daß die unterschiedliche Reaktion der Frauen nicht darauf zu
rückzuführen ist, daß im einen Fall der Dämon als übernatürlich schöne Gestalt
und im anderen als Mörder und nichts weiter erschien. Vielmehr spiegelt sich in
der Form der Manifestation des Animus die Verfassung der Anima und umge
kehrt. Bei Jungs Patientin ist der Monddämon so berückend schön, weil die Er
lebende sich ihm willenlos hingibt. Die Hingabe ist so sehr das Resultat der Be-
rückung durch die Schönheit, wie die berückende Schönheit die äußere Spiege
lung der Hingabebereitschaft ist. Wie wir schon sagten: die Anima kann sich
(ihr Eigenstes) im Animus und der Animus Sein Eigenstes in der Anima erken
nen. Wäre der Monddämon, sofern wir uns auf ein solches Gedankenexperiment
überhaupt einlassen wollen, in der Welt des Blaubart-Märchens erschienen,
dann wäre er auch nicht schön, sondern nur grausig gewesen, weil hier die Fas
zination und Hingabe der Anima-Stufe schon nicht mehr gilt. Der Fehler der äu
ßerlichen Reflexion ist, daß sie innerhalb der Syzygie das Verhalten der einen
Seite aus der nur von der äußerlichen Reflexion selbst aus der Syzygie her
ausgesetzten anderen Seite erklären will, während es doch das Wesen der Syzy
gie ist, daß ihre beiden Seiten jeweils mit einem Male und als einander spiegeln
de frei gesetzt sind; gesetzt sind, als ganze und als Zusammenspiel diese oder je
ne Stellung der Seele zu ihrem Anderen darzustellen.
Wie die Anima in der Blaubart-Geschichte auf die abstrakte Unschuld re
duziert ist, so ist auch der Blaubart selbst als der »Mörder und nichts weiter« auf
die äußerste Ärmlichkeit reduziert, nichts als die reine Negation zu sein. Inner
halb der I. Stellung waren die Dämonen zwar Töter, aber darüber hinaus waren
sie auch noch sehr viel mehr. Sie waren z.B. als Hades auch Pluto, als Monddä
mon auch von berückender übernatürlicher Schönheit. Sie besaßen ein substan
tielles Sein. Wenn Blaubart dagegen der »Mörder und nichts weiter« ist, dann
heißt dies, daß der Animus in der Form des Blaubart darin aufgeht, Mörder zu
sein. Er ist nicht mehr zuerst ein seiender Dämon, der dann auch noch dazu
neigt, Frauen zu morden. Sondern dem tieferen Sinn nach, wenn auch nicht den
narrativen Notwendigkeiten des Märchengenres gemäß, wo auch das Substanz
lose doch immer als substantielle Gestalt gezeigt werden muß, ist der Blaubart
kein Jemand mehr, nichts substantiell Seiendes, sondern einzig die abstrakte
Funktion des Tötens, d.h. des Vemeinens, ganz wie das Mädchen die abstrakte
Funktion des Zurückschreckens oder der Selbsterhaltungstendenz ist. Eben des
halb ist aber hier auch der Animus wirklicher Animus geworden, Animus in sei
nem ureigensten Element, auf der Animus-Stufe. Jetzt werden nicht mehr nur
wie bei Asmodi die natürlichen Männer ver-nichtet und ver-west, sondern der
Animus selber ist hier, als »Mörder und nichts weiter«, von Hause aus gesetzt,
immer schon die Verwesung oder Verdampfung seines substantiellen Seins zur
nur noch prinzipiellen Funktion zu sein.
In der Doppelheit der abstrakten Negation und der abstrakten Unschuld
des Mädchens, das nur noch Opfer und nichts weiter ist, drückt sich der Animus
als solcher in seiner ersten Unmittelbarkeit aus.
Weil es jedoch der Animus in seiner ersten Unmittelbarkeit ist, bleibt der
Animus, obgleich bereits Animus als solcher, doch noch einbehalten in die
Anima-Stufe. Das zeigt sich besonders an dem unschuldigen Mädchen. Sein Zu
rückschrecken vor dem eigenen Anderen der Seele ist rein inneres Zurück
schrecken. Dieses vermag sich noch nicht zu artikulieren, in der Realität auszu
drücken. Es bleibt im bloßen Wünschen und Hoffen stecken. Es vermag noch
nicht den Überschritt aus der bloßen Potenz in die Tat, die ein reelles Sich-
Widersetzen, das Widerstand Leisten wäre. Das Mädchen selber vermag nur zu
zittern und zu beben, ohne selber etwas Tatkräftiges zu ihrer Rettung unterneh
men zu können. Sie vermag sich nicht dem Bösewicht zu stellen, vermag nicht
dem Schrecklichen (und damit zugleich ihrer eigenen Angst) standzuhalten und
ihm, indem sie ihm ins Gesicht blickt, Paroli zu bieten. Sie kann nur im Gebet
Gott um Hilfe von außen bitten, womit sie dokumentiert, daß sie sich als sie sel
ber absolut ohnmächtig fühlt. Und die Rettung kann so auch nur, wenn über
haupt, von außen kommen, ganz unmotiviert, wie der deus ex machina. Das
Mädchen ist seinem eigenen Zurückschrecken noch nicht gewachsen. Dieses ist
als animushaftes Zurückschrecken doch immer noch das (zwar schon »animus
hafte«) Zurückschrecken der unschuldig, backfischhaft bleibenden Anima, für
die das, was ihr widerfährt, schlechterdings unausdenkbar bleibt und die des
halb, obgleich sie mit von Franz durchaus bereits erlebt, daß nur Flucht vor
Blaubart möglich ist, doch nicht positiv zur realen Flucht kommt. Sie flieht nur
so, daß sie schier vor Angst vergeht. Die Flucht verbleibt innerhalb der anima
haften Unschuld und führt nur negativ in das eigene Innere, so daß das Mädchen
äußerlich gerade wie gebarmt am Ort des Schreckens verharren muß. Die Flucht
ist hier eine intensionale, keine extensionale. Sie ist schon Flucht, aber sie ver
mag noch nicht aus dem animahaften Bann der Seele, aus ihrer Negativität, hin
aus ins wirklich Außerseelische, die Positivität, auszubrechen.
In der Geschichte von Asmodi fügte sich die Seele die Erfahrung der Ne
gation der Männer als leiblicher Partner zu. In dem Blaubart-Märchen setzt sie
sich der Erfahrung ihres eigenen Aufgehobenwerdens, ihrer eigenen Ver-nich-
tung aus. Sie läßt sich nicht dem Sinnlich-Natürlichen entrücken, wo sie dann
des realen Ehemannes im Fleisch verlustig ginge, dafür aber mit dem Geist in
inniger Verbindung lebte. Sie bleibt im Sinnlichen, muß dafür aber vor Angst
vergehen. Und statt mit einem übernatürlich schönen Geliebten hat sie es ent
sprechend mit dem nur Abscheu erregenden Mörder zu tun. Das Un- oder Nicht-
findet sich gleichermaßen in beiden Stellungen, einmal eben im Geisterreich als
die Negation der natürlichen Wirklichkeit überhaupt, einmal in der natürlichen
Wirklichkeit als die Negation des eigenständigen Seins dessen, was am realen
Sein festhält.
Wir sagten, daß die Tötung des Mädchens schon stattgefunden hat, auch
wenn Blaubart in letzter Minute doch noch gehindert wird, zur Tat zu schreiten.
Es ist die Tötung ihrer animahaften Unschuld. Aber es gilt auch zu sehen, daß
dieselbe abstrakte Unschuld, die getötet wird, gerade auch das ist, worin das Ge
tötetsein der Anima besteht. Die Unschuld ist in ihr selbst widersprüchlich, und
dieser Widersprach entfaltet sich innerhalb des Märchens als das Gegeneinander
von Blaubart und Mädchen. Wäre das Mädchen nicht so extrem imschuldig, d.h.
müßte es nicht das - erst aus der Sicht der abstrakten Unschuld zum abstrakt
Mörderischen werdende - Mörderische absolut außer sich und sich gegenüber
halten, dann würde es sich ja wie die Gestalten der I. Stellung an den Töter als
an einen Todesdämon ohne Selbsterhaltungstendenz verlieren können. Es ist die
extreme Harmlosigkeit des Bewußtseins, die das Tötende im Männlichen, d.h.
im Animus, total abgespalten als diabolischen Frauenmörder setzt, als den ex
trem grauenhaften Fund der Frauenleichen in die verbotene Kammer sperrt und
gegenständlich anschaubar macht. Und es ist dieselbe instinktlose Harmlosig
keit, die das Mädchen dazu verleitet, die Kammer zu öffnen und in der grausi
gen Entdeckung, die es dort macht, den Tod ihrer, der Harmlosigkeit, selbst zu
erleiden. Es hat wohl im Traum nicht daran gedacht, darin Leichen zu finden; es
hoffte vermutlich, auf irgendwelche herrlichen Schätze oder auch ein erheben
des Mysterium zu stoßen. Die Unschuld ist in sich gegenwendig. Sie setzt sich
als Unschuld in Szene, behauptet sich als Unschuld und ist selber ihr eigener
Untergang, ja, als dies: als schon längst untergegangen zu sein, ist sie von An
fang an gesetzt. Denn zugleich mit der absoluten Unschuld des Bewußtseins, das
das diabolisch Mörderische total abgespalten außer sich hat, ist auch schon das
längst Getötetsein ihrer, eben dieser Unschuld selbst, in Gestalt der Frauenlei
chen gesetzt. Da ist nicht zuerst eine Unschuld, die dann getötet würde. Sondern
diese abstrakte Unschuld beginnt schon als getötete, aber eben auch von ihrem
schon Getötetsein abgespaltene und fliehen wollende. Die verbotene Kammer
enthält das Perfekt der Aufgehobenheit der Anima-Stufe. Die Leichen darin sind
die Leichen ihrer »Vorgängerinnen«, also dessen, was der Unschuld des Anima-
Bewußtseins und der ganzen Erzählung gerade vorausliegt und wohl auch zu
grundeliegt. Das früheste Ereignis, von dem wir in dem Märchen hören, ist der
Mord an den Frauen im Plural. Das ist die arche dieser einen ganzen hier narra
tiv auseinandergefalteten logischen Situation. Aber zu dieser arche gehört auch,
daß sie in die verbotene Kammer gesperrt, aus dem Bewußtsein ausgesperrt ist,
wodurch dieses als nur unschuldiges entsteht.
Das Märchen hat seinem tieferen Sinn nach keine Handlung. Nur seiner
narrativen Form nach gibt es eine Bewegung oder Entwicklung in der Zeit von
der Unschuld über den Todesschreck hin zur Rettung in letzter Not. Dem Sinn
nach jedoch geschieht nichts. Das Märchen gibt eine »Momentaufnahme« der
Syzygie in einem ihrer Status oder auf einer ihrer Stationen und entfaltet nur die
in diesem archetypischen Augenblick (Situation, Konstellation) liegenden logi
schen Verhältnisse. Diese Verhältnisse sind nicht statisch, keine »Strukturen«.
Sie sind durchaus bewegt. Aber es ist dies eine rein logische Bewegung, die Be
wegung von Gedankenbestimmungen, keine »Handlung« oder zeitliche Ent
wicklung von einem Anfangs- zu einem Endzustand. Der eine Moment der Sy
zygie, der sich im Blaubart-Märchen selbst darstellt, ist der des »Animus als sol
chen in seiner ersten Unmittelbarkeit«. Dieser Moment ist in ihm selbst die Be
wegung
♦ erstens des gesetzten fluchtartigen Zurückschreckens der Anima vor dem
Animus und somit vor der längst bestehenden Wahrheit ihres Negiert- oder
Aufgehobenseins, in welchem Zurückschrecken sich freilich gerade das Ani
mushafte des Animus in der Anima selber (d.h. ihr ihm schon Verfallensein
oder aus sich schon Herausgesetztsein) manifestiert; das Zurückschrecken ist
nämlich ganz offenbar das Zeugnis für das längst schon Erreichtsein der ple-
romatisch in ihrer eigenen Sphäre eingeschlossenen Anima von ihrem Ge
gensatz, dem Animus, als von einem wahrhaft ihr Äußeren, so daß ihre Un
schuld (ihr in sich Eingehülltsein) in Wahrheit längst durchbrochen ist. Die
ses der Erzählung und dem Zurückschrecken »a priori« vorausliegende Ge-
troffenre/n vom Animus wird in der Erzählung im Bild der Kammer mit den
schon getöteten Frauen dargestellt; es gehört nur als unaufhebbar vor der Er
zählung liegendes in die Erzählung, und diese ist die Erzählung von dem Ein
geholtwerden durch das und/oder von dem versuchten Einholen des eigenen
Apriori;
♦ zweitens des daraus folgenden Rückzugs aus dem konkreten Erleben in eine
äußerste Abstraktheit durch die Extraktion aller Unschuld, die auf die eine
Seite gestellt wird, sowie durch die Extraktion des dadurch verbleibenden
diabolisch Bösen, das total abgespalten auf die andere Seite gestellt und der
Unschuld als absolut unverträglich entgegengesetzt wird, wodurch die Auf-
gehobenheit der Anima zum unausdenkbar Grausigen der Kammer mit den
Leichen geformt wird und zugleich, zwecks Gewährleistung der Unschuld, in
der absolut verbotenen Kammer ausgesperrt bleiben muß;
♦ drittens des Sichtbarwerdens des wahren Wesens des Animus als des Abwe
senden und absolut Gewährenlassenden; und gleichursprünglich damit des
völlig ahnungslosen, wenn auch vom eigenen Unbewußten (Neugierde!) ge
triebenen Hineinstolpems der Unschuld in den Anblick ihres eigenen längst
Getötetseins, wodurch das eigene Apriori eingeholt wird und die Unschuld in
der Tat ihre Unschuld verliert;
♦ und viertens einerseits des (allem Erfahrenen zum Trotz) immer noch Insi-
stierens der Anima auf der »Bewahrung« oder »recovery«3 der (doch längst
3 Hiermit spiele ich auf die in Amerika populären »recovery groups« für Opfer aller möglichen Un
bilden (Vergewaltigung, Süchte, Scheidungen usw.) an.
verlorenen) Unschuld in der Weise des vor Angst Vergehens und auf Rettung
Höffens (auf Rettung vor dem, was schon längst - perfektisch - geschehen
und in der Kammer gegenständlich anschaubar ist!); andererseits des mit
dem Verlorenhaben der Unschuld sowie dem hartnäckigen Widerstand dage
gen einhergehenden plötzlichen Wiederauftauchens des Animus als des
messerwetzenden, der also das erreichte Wissen entgegen der Abwehr seiner
wachhält. Beides ist gleichursprünglich. Die Einheit von a) dem Gerettetwer
denwollen, das narrativ erst am Ende der Geschichte auftaucht, und b) der
Bedrohung durch den messerwetzenden Blaubart ist nichts anderes als die
anfängliche Einheit von a) Begegnung mit dem Animus als Negation und b)
Abwehr dieser Begegnung (in der Weise der Abspaltung des »Bösen« auf
grund des von ihm Unberührtbleibenwollens), womit sich der Kreis schließt
(und sich die logische Bewegung als uroborische, in sich geschlossene Bewe
gung erweist).
Die logischen Momente dieses einen archetypischen Augenblicks in der
Selbstdarstellung der Syzygie sind »gleichzeitig«. Die anfängliche abstrakte
Trennung, die die reine Unschuld hier und das reine Mörderische dort erst setzt,
geschieht aus der erzählungstechnisch am Ende gezeigten Todesangst vor dem
gleichwohl erst durch sie selbst Gesetzten heraus. Es ist dies ein archetypischer
Augenblick, weil er nicht aus einer früheren Situation entsteht, nicht in eine
neue Situation hineinmündet, sondern, in sich selbst kreisend, seinen Anfang
(innerhalb seiner) selber erst setzt und ihn als sein (ebenso internes) Ende offen
bart - und so »ursprünglich« aufsteht.
Eine neue Stellung der Seele zu ihrem Anderen kann nur entstehen, wenn
die (je) vorliegende Stellung in ihrer ganzen Komplexität ihres logischen Lebens
durchschaut, erkannt, begriffen und im Begreifen erlitten ist. Das heißt vor al
lem, daß der Seele vollkommen durchsichtig geworden ist, daß sie (um es am
vorliegenden Fall zu exemplifizieren) im Blaubart-Märchen mit sich selbst um
geht und sie sich selbst das antut, was sie dort den Blaubart dem Mädchen bzw.
seinen Vorgängerinnen äntun läßt, und daß sie als unschuldiges Mädchen eben
so gerade das abwehrt, was doch aus ihr selbst stammt und einzig um ihretwillen
da ist. Dies nämlich bedeutet, daß der sich im Blaubart-Märchen darstellenden
Stellung der Seele zu ihr selbst Genüge getan wurde. Sie wurde voll ausge
schöpft und hat sich dadurch erschöpft. Genüge wird jeder Stellung dadurch ge
tan, daß sie rückhaltlos als Selbstdarstellung der Syzygie auf je einer ihrer Sta
tionen anerkannt wird. Ohne dies kann die Bewegung auf der jeweiligen Stufe
»ewig« in ihr selbst kreisen (Stichwort »Wiederholungszwang«).
Ich habe die Rettung des Mädchens am Ende als nicht in der Konsequenz
des Geschehens liegend bezeichnet. So, wie es erzählt wird, ist sie in der Tat ei
ne Konzession an die Bedürfnisse der Hörer (d.h. an das Ich), die nach einem
Happyend verlangen. Es gibt jedoch auch eine Möglichkeit, diesem Motiv eine
Berechtigung innerhalb der entfalteten Logik dieser archetypischen Situation zu
zuerkennen. Die Rettung könnte verstanden werden als Herausstellung des logi
schen Charakters der hier vorliegenden Tötung: Die Tötung ist selbst schon eine
aufgehobene, vergeistigte. Nicht das Mädchen in seiner faktischen Existenz,
sondern nur die logische Unschuld des Mädchens ist logisch, nicht im Fleisch,
getötet worden.
von Franz sprach dem Blaubart die Kraft zum Verwandeln oder Verwan
deltwerden ab. Ich glaube, daß nach unseren Ausführungen sichtbar geworden
ist, daß mit dieser Idee von Verwandlung eine von außen kommende unschuldi
ge, diesseitige, rein lebensorientierte Erwartung an den Blaubart herangetragen
und diejenige Verwandlung oder derjenige seelische Gewinn, den er der Seele
bringt, systematisch übersehen wird. Was für ein Gewinn? Derjenige, der genau
in dem (von von Franz’ Erwartung her gesehen) verwandlungslosen Blaubart als
Mörder und nichts weiter liegt: das Hineingetreibenwerden in das absolute Zu
rückschrecken und das dadurch erfolgende Erreichen der Animus-Stufe (in ihrer
ersten Unmittelbarkeit).
Es gehört zur Dialektik der Syzygie, daß der Blaubart die Leichen in der
Kammer verbirgt und das Verbot ausspricht. Damit betreibt und erhält er als
Animus die Unschuld der Anima. Das Verbot als der Schutz vor dem Aufwa
chen zu ihrem eigenen Getötetsein würde eigentlich ja gerade im Interesse der
Anima liegen, während dem Animus an der Tötung der Unschuld gelegen sein
müßte. Aber so einfach stehen sich die Gegensätze in der Syzygie eben nicht ge
genüber. Blaubart ist zunächst wirklich ein liebevoller Ehemann. Er schützt und
schont die Anima, obwohl er sie als Töter doch gerade würde umbringen wollen.
Dagegen entspricht es der Anima, eine Beziehung zum Verdrängten herzustellen
und damit hier sich selber dem Animus ans Messer zu liefern. So wie sonst z.B.
die Nixe das Männliche in ihr fremdes Element verlockt und verführt, so dringt
das Mädchen hier in das ihm Verbotene ein und zieht selber ein Schicksal auf
sich herab. Beide Seiten arbeiten einander in die Hände. So verschränkt sind die
Gegensätze innerhalb der Syzygie, und so absolut gewaltlos tut sich die Seele
selber Gewalt an. Blaubart ist nicht wie ein Lustmörder. Er überfällt sein Opfer
nicht von sich aus, um es grausam umzubringen. Er hat es nicht in sein Haus ge
lockt, um es zu töten. Er läßt ihm vielmehr völlige Freiheit und warnt es aus
drücklich vor der Kammer.
Hätte das Mädchen seine eigene Unschuld bewahren können, wäre Blau
bart nie von seiner Reise zurückgekehrt. In der Reise Blaubarts ist nicht ein zu
fälliges Ereignis innerhalb einer Kette von vielerlei Ereignissen zu sehen. Die
aus narrativen Gründen als später eintretendes Ereignis erzählte Reise bringt
vielmehr nur eigens ans Licht, was Blaubart als Animus und Geist von Hause
aus (also logisch) ist: ein Abwesender, Verschwundener (Negativität). Das ist er
aber nur für die unschuldige Anima. Diese wäre, wenn sie imschuldige Anima
bliebe, mit einem wesensmäßig Nicht-Daseienden verheiratet. In dem Augen
blick, wo sie jedoch - nicht schuldig wird, sondern - ihre Unschuld und Harm
losigkeit verliert, weil sie einen Einblick in das Getötetsein des Weiblichen be
kommen hat, ist er sofort wieder da, aber jetzt eben als »Mörder und nichts wei
ter«. »Der Mörder« ist die Form des Anwesens des Nichtanwesenden, der Posi-
livität der Negation.
Und doch müssen wir fragen: Ist er wirklich ein Mörder? Gerade wenn
wir das Ende des Märchens nicht nur als äußerliche Konzession an Hörerbedürf
nisse betrachten, sondern es in dem Sinn ernst nehmen, daß wir ihm eine innere
Stimmigkeit zuerkennen, dann ist Blaubart nicht der Mörder, sondern der Getö
tete, der Untergehende. Sein Ende würde etwas über sein Wesen aussagen. Es
würde noch einmal die merkwürdige Passivität dieses »Mörders« unterstreichen,
der während des ganzen Märchens nicht zur grausamen Tat kommt, sondern nur
unheimlich aussieht, warnt, droht und in dem Mädchen Schrecken hervorruft.
Der Animus als Mörder tötet offenbar nicht durch die Positivität einer vollende
ten Gewalttat. Bis zu seinem Ende und auch in bezug auf sein Töten bestätigt
sich seine Negativität. Tötet er letztlich nicht gerade nur durch die extreme Un
schuld des Bewußtseins der Anima selber, nämlich durch den bloßen Eindruck,
den er für diese Unschuld macht? Das Messer wird zwar gewetzt, aber nicht be
nutzt. Das Messerwetzen ist der Vorgang, mit dem der Blaubart das Töten vor
sich herschiebt und seinen Mördern Zeit gibt, heranzukommen. Und er er
schreckt die Unschuld nicht als der aktive Mörder, sondern durch die für die
Anima unerträgliche Negativität seines Wesens: Seine Abwesenheit ist die grau
sige Entdeckung. Sie, die Abwesenheit und das heißt die innerste Negativität
seines Wesens, wird gegenständlich sichtbar a) in der Verbotenheit der Kammer
und b) in der Negativität dessen, was in dieser ist: Tod, Leichen - die Aufgeho-
benheit das natürlichen Seins. In dem messerwetzenden Blaubart hat die Anima,
die ihren Einblick in die Leichenkammer ungeschehen machen will, aber nicht
ungeschehen machen kann, nur das gegenständliche Bild ihrer eigenen Angst
vor ihrem schon längst erfolgten Tod als unschuldige Anima. Und das fortwäh
rende Wetzen ist die Arbeit, mit der die Einsicht in die Aufgehobenheit der eige
nen Unschuld dieser Unschuld nachhaltig eingegraben wird; es ist der Potenz
nach die langsame Abarbeitung der noch aufrechterhaltenen Unschuldspose.
»Mörder und nichts weiter« ist der Animus also nur aus der Sicht der rei
nen Unschuld der Anima, nicht in der Tat und an ihm selbst. Aus der Sicht der
jenigen reinen Unschuld freilich nur, die anders als in der I. Stellung ihr Un
schuldigbleiben entgegen ihrem besseren Wissen von dem längst Aufgehoben
sein der Unschuld unbedingt noch verteidigen will (im Sinn einer Abwehr:
»Flucht«, Reinigungszwang).
Ein möglicher Einwand hier könnte sein, daß mit dieser Deutung das Mo
tiv der Kammer mit den Leichen in seiner ganzen Schrecklichkeit leichtfertig
überspielt werde. Haben wir in den Leichen nicht objektiv, also gerade auch für
uns und nicht nur für die betroffene unschuldige Anima, den Beweis, daß der
Blaubart ein Töter ist? Selbst wenn er bei der Hauptperson des Märchens nicht
zum Töten kommt, so muß er doch zumindest in all den früheren Fällen zur Tat
geschritten sein und sie auch in der Tat vollbracht haben. Aber das ist die Logik
des natürlichen Bewußtseins, eines Bewußtseins, dem wir in der Realität um der
praktisch-technischen Lebenserhaltung willen immer wieder unseren Tribut zol
len müssen. Doch hier sind wir nicht in der Realität, wir sind in einem Märchen,
einem psychologischen Bild.
Folgen wir Lopez-Pedrazas Aufforderung, »to stick to the image«, und
beherzigen wir Jungs Mahnung bezüglich des Phantasiebildes, das »alles in sich
hat, dessen es bedarf«, der Mahnung: »Dabei hüte man sich vor allem, irgend et
was von außen, das nicht dazu gehört, hereingelangen zu lassen«4, dann dürfen
wir nicht mit der von außen an das Bild herangetragenen Alltagsschlußfolgerung
aus dem Bild der getöteten Frauen eine früher begangene Tat des Tötens und aus
dieser einen Täter »herausklauben«. Wenn es dämm ginge, hätte das Bild uns
Tat und Täter vorführen können und müssen. Es will uns diese aber gerade nicht
vorführen, sondern nur die Leichen, das Getötetsein der Frauen. Wir müssen ge
nau hinsehen, was das Bild selber sagt, und dürfen nicht unsere eigenen Vorstel
lungen, selbst wenn sie für den Allerweltsverstand schlechterdings selbstver
ständliche Implikationen betreffen, hineinschmuggeln.
Der Animus als Blaubart bringt nicht die reale Tat des Mordes, sondern
den Anblick der Leichen, das Bild, d.h. das Bewußtsein oder die dämmernde Er
kenntnis des »a priori« schon Getötetseins des Weiblichen - a priori, also lo
gisch, ohne jemals real begangene oder irgendwann erst noch zu begehende Tat,
d.h. ohne buchstäbliche Tat überhaupt und ohne Töter. Der Animus tut nichts
Grausames. Er bringt nur, nein, er ist nur das Gewahrwerden von etwas, was
zwar immer schon war, aber völlig unbewußt war, und versetzt so nur das Be
wußtsein aus einem in einen anderen logischen Status. Er läßt das Bewußtsein
zu Grunde, in seinen Grund gehen. So ist er nur psychologischer, nicht buch
stäblicher Töter und nur als solcher »grausam«.
Für die Unschuld der Anima ist nicht eigentlich die reale Mordtat mit dem
Messer das absolut Furchtbare und Tödliche. Das wahrhaft Tödliche - für die
Unschuld des Bewußtseins - und das unendlich viel Schrecklichere als jede
buchstäbliche Tat ist das Bild (hier des Getöteten), die Erkenntnis. Denn das
Bild als seelisch-logisches nimmt kraft seines nicht dingfest gemacht werden
Könnens (Negativität, Bodenlosigkeit) unmittelbar für sich und in sich ein, die
Erkenntnis durchherrscht unser Wesen, während die positive Tat uns auch nur in
unserer positiven Zuständlichkeit betrifft, weil ja das Positivierte eben dadurch
konstituiert ist, daß unser Wesen aus ihm herausgenommen ist. Daher ist es im
Ließ sich in der ersten Stellung die Anima-Gestalt von ihrem Anderen
faszinieren und wurde sie in der zweiten Stellung von ihm in maßlose Angst
versetzt, ja beinahe vernichtet, in anderen Worten: widerfuhr in beiden Fällen
der Anima-Gestalt die Erfahrung des Animus, so gelingt es ihr hier, den Spieß
herumzudrehen. Sie hält wenigstens am Schluß das Heft in der Hand, und der
Animus als Räuberhauptmann muß seine Hinrichtung erleiden. Es bleibt nicht
bei der abstrakten Funktion des Zurückschreckens, nicht beim bloßen Fliehen
wollen. Die Flucht wird konkrete Flucht. Das Mädchen flieht tatsächlich aus
dem Bann des Mörderhauses, nachdem genau umgekehrt die Räuber durch den
Schlaftrunk »gebannt« worden sind, und bringt ihren Verfolger schlußendlich
vor Gericht. Was ermöglicht der Anima in dieser Stellung der Seele zu ihrem
Anderen, sich zu behaupten und das Andere ihrer selbst unterzukriegen?
Was für das Mädchen in dem Blaubart-Märchen schlechterdings unaus
denkbar war, nämlich das Getötetwerden, ist für das Mädchen dieses Märchens
offenbar nicht unausdenkbar. Es vermag sogar der Zerstückelung eines anderen
Mädchens beizuwohnen und dabei gefaßt zu bleiben. Es wird zwar auch furcht
bare Angst ausgestanden haben, aber es konnte sich zusammennehmen, sich be
herrschen, so daß es sich nicht durch panische Schreie verriet. Es ist dem
Schrecklichen, das sich vor seinen Augen abspielt, offenbar gewachsen. Es ver
mag diesen »unerträglichen« Anblick zu ertragen. Es erlebt das Entsetzliche
nicht mehr als absolutes Trauma. Es führt ganz buchstäblich vor, was es heißt,
»dem Negativen ins Angesicht zu schauen, bei ihm zu verweilen«. Auch seine
Flucht ist nicht kopflos, es vergißt nicht das Beweisstück, den abgehackten Fin
ger, mitzunehmen, und es graust ihm auch nicht genug vor diesem, so daß es ihn
nicht würde anfassen können. Das heißt, es ist in seinem eigenen Bewußtsein
nicht mehr so arglos und unberührt wie das Mädchen in der zweiten Stellung.
Wenn auch nicht faktisch, so bedeutet das Mitanschauenmüssen der Zer
stückelung eines anderen doch psychologisch immer auch, selber vernichtet zu
werden: nämlich durch die in diesem Anblick (Bild) liegende Kränkung, ja Tö
tung des eigenen Ideals. Die Müllerstocher wird daher nicht »von der Verwü
stung rein bewahrt«, sondern weiß sie zu ertragen und in ihr sich zu erhalten.
Diese Kraft besitzt sie aber nur, wenn und weil sie die zweite Stellung hinter
sich hat, im doppelten Sinn von überwunden und verwunden (»integriert«). Die
Vernichtung durch das Andere ist nicht mehr schlechterdings imausdenkbar,
weil die Blaubart-Situation als längst erfahrene, die Vernichtung der eigenen
Unschuld als längst durchlittene nicht mehr absolut erschrecken und somit die
(jetzt gar nicht mehr in dem Maße vorhandene) Unschuld des Bewußtseins ver
nichten kann. Sie ist grundsätzlich, wenn auch nicht faktisch, bekannt, »inte
griert«. Das zeigt aber, daß die drei Stellungen nicht wie drei alternative Mög
lichkeiten nebeneinander stehen. Die höhere, hier die dritte, setzt die vorange
gangenen logisch voraus und fuhrt sie als aufgehobene, als Moment, mit sich.
Sie ist nur, was sie ist, weil sie ihrerseits die aufgehobene zweite Stellung ist.
Wenn das Mädchen dann am Ende sogar den Räuber in die Flucht treibt
und dazu beiträgt, daß er schließlich hingerichtet wird, dann zeigt sich, daß das
Tötenkönnen, das als das diabolisch Mörderische im Blaubart-Märchen absolut
von dem unschuldigen Bewußtsein des Mädchens abgespalten und an den Blau
bart delegiert war, während die Frauengestalten in der ersten Stellung sich noch
damit hatten aussöhnen können, nunmehr teilweise sogar in das Mädchen selber
hinübergewandert ist. Es hat sich die Kraft der Negation, die zuvor ganz außer
halb seiner in seinem Gegenüber gewesen wäre, selbst zueigen gemacht, nicht
aufgrund einer bloßen (undialektischen) Verkehrung der Unschuld ins Gegen
teil, sondern weil die Vernichtung der Blaubart-Situation durchgestanden, vom
Bewußtsein ins Bewußtsein aufgenommen und ertragen wurde und weil so das
Bewußtsein an dieser Erfahrung gewachsen ist. Deshalb ist hier die Rettung des
Mädchens, ganz anders als im Blaubart-Märchen, überzeugend; sie ergibt sich
zwangsläufig aus dem, wie das Verhältnis beider Seiten zueinander a priori an
gesetzt ist. Und wieder sehen wir, daß der Animus nicht in erster Linie und aus
schließlich an dem männlichen Protagonisten zum Ausdruck kommen muß, son
dern sich ganz entscheidend, ja vor allem, an der weiblichen Gestalt zeigt.
Richtiger wäre freilich zu sagen, er zeigt sich nicht in dieser oder jener Gestalt
innerhalb des Märchens, sondern in dem Märchen als ganzem: in der vernichte
ten Animus-Gestalt ebenso wie in der sich behauptenden Anima und in beider
Zusammenspiel, wozu der Untergang der Animusgestalt wesentlich gehört.
Von hier aus auf das Blaubart-Märchen zurückblickend können wir erken
nen, daß auch dort schon der Übergang der Kraft der Negation vom Animus an
die Anima vorbereitet wird. Denn dort haben die Brüder der Anima-Gestalt
(wenn auch nicht diese selbst) die wirkliche Tötungsgewalt, während der Blau
bart nur geduldig das Messer wetzt und sich durch dieses Aufschieben ihnen
selbst in die Hand gibt, ganz so, wie der Räuberbräutigam sich leichtsinnig trotz
der Flucht seiner Braut und der steinalten Frau (beides Tatzeugen!) noch zur
Hochzeitsfeier draußen begibt und dort selber das Mädchen zu der Erzählung
animiert, die ihn entlarvt und schlußendlich seinen Untergang herbeiführt.
Indem der Animus getötet wird, ereignet sich die Negation der Negation.
Und diese ist gleichbedeutend mit der Kraft der tapferen Selbstbehauptung (Af
firmation) der Müllerstochter. In den beiden ersten Stellungen war das Andere
seinem Status nach einfach nur das Andere der Seele, das der Seele als Anima
zwar imendlich überlegen gegenüberstand, aber doch nur gegenüberstand. Es
war ein einfaches Gegenüber, eine einfache Andersheit, so wie die von Mann
und Frau oder wie Ausländer und Einheimische. Das Andere war noch nicht in
seiner Andersheit ausdrücklich gesetzt und damit aus dem einfachen Gegenüber
herausgesetzt worden. Das geschieht jedoch hier. Dem Anderen wird der Stem
pel des Verbrechers, des Bösen, des Abartigen aufgedrückt und es damit auf ei
ne untermenschliche Stufe niedergedrückt. Damit ist die Andersheit potenziert;
das Andere ist disqualifiziert, aus der Möglichkeit des Partnerseins grundsätzlich
ausgeschlossen. Und in einem damit hat sich das Mädchen über das eigene An
dere erhoben, sich zu sich selbst ermächtigt und sich aus dem Bezug zu ihm
ganz und gar hinausgesetzt. Es ist dies die gleiche Bewegung, wie wenn nicht
nur gesehen wird, daß jemand ein Ausländer, also anders und fremd ist, sondern
wenn darüber hinaus auch noch der Ruf »Ausländer raus« gegen ihn ertönt. Die
Andersheit des Ausländers wird in diesem Slogan noch einmal gesetzt, sie soll
nicht nur einfach sein, sondern auch dazu noch eigens an ihm und gegen ihn
agiert werden. Das Anderssein ist nicht nur Beschreibung, es ist zur Waffe ge
gen den Anderen geworden. Erst damit ist die Andersheit des Animus vollendet
und dieser zu sich selbst gekommen. In seiner Vernichtung lebt er auf als die
Standfestigkeit des Mädchens, das damit zur gestandenen Frau geworden ist.
Die Standfestigkeit ist dabei die Gegenposition zur animahaften Hingabe an den
Töter, die als Motiv durchaus anklingt, wenn es heißt, daß das in das Mörder
haus geratene Mädchen Hochzeit mit dem Tode halten soll. Es zeigt sich, daß
das in diesem Märchen Geschilderte also in der Tat nicht gegenüber den früher
besprochenen Märchen eine ganz neue, selbständige Geschichte ist. Es ist viel
mehr dasselbe Thema »Hochzeit mit dem Tode«, das uns schon ab Sara und As
modi, Hades und Persephone beschäftigte, wobei aber jeweils eine ganz andere
Stellung zu. dem immer gleichen Thema innerhalb der Erzählungen bezogen
wird. Es ist jedesmal dasselbe Verhältnis von Mädchen und Töter, das jedoch
durch verschiedene »Medien« (logische Status: die drei Stellungen) hindurch
wandert und in jedem Medium sich ganz anders darstellt, weil es von diesem
Medium her seine jeweilige besondere Bestimmung erhält.
Weil die Stellungen so verschieden sind, ist auch die Bedeutung von
»Hochzeit mit dem Tode« je ganz anders. Bei Jungs Patientin war es eine buch
stäbliche Hochzeit, die die äußerste Erfüllung brachte, weswegen die Patientin
Jung ja auch verübelte, daß er sie aus der pieromatischen Mondexistenz heraus
gebracht hatte. Hier, in dem Räuberbräutigam-Märchen, dagegen ist die Rede
von der Hochzeit mit dem Tode nur noch eine ironische Metapher. Sie bedeutet
nicht mehr die beseligende Vereinigung mit einem männlichen Wesen, das dar
über hinaus, daß es Gatte, Partner, Geliebter ist, »zufällig« auch noch der Tod
ist. Sie bedeutet jetzt lediglich, daß das Mädchen buchstäblich und sinnlos ster
ben, den Tod erleiden müsse, anstatt mit dem Bräutigam vereint zu werden. Die
Bedeutung von »Tod« hat sich gewandelt. In der I. Stellung waren Tod als Tot
sein des Menschen und Tod als Todesdämon ein und dasselbe, weshalb das Tot
sein nicht schlechthinniges Vemichtetsein war, sondern ein erhöhtes, beseligen
des Sein in pleromatischer Verbindung mit dem Todesgott sein konnte. Jetzt je
doch sind Tod als Totsein und Tod als Todbringer auseinandergefallen. Der
Räuberbräutigam hat allen übernatürlichen Glanz, alles Dämonisch^, verloren;
er ist nur noch ganz profan ein gemeiner Mörder, der, wenn er das Mädchen ge
tötet hätte, gerade nicht mit ihr, und sie nicht mit ihm, vereint wäre. Ein funda
mentaler Bruch hat stattgefunden. Er geht auf das Konto der neuen Stellung zum
gleichen Thema oder das Konto der Sicht, nicht jedoch auf eine Wandlung der
»objektiven Sachlage«.
Das Märchen vom Räuberbräutigam macht die Reflexion auf die Diffe
renz zwischen »Stellung zu« oder »Sehweise« einerseits und dem, was gesehen
wird, andererseits besonders dringlich. Diese Differenz drängt sich nämlich
förmlich auf angesichts des Motivs von der Zerstückelung des zweiten Mäd
chens. So, wie dieses Geschehen aus der im Märchen selbst obwaltenden Per
spektive geschildert wird und so, wie die Personen im Märchen, die Braut, die
steinalte Frau, die späteren Hochzeitsgäste und die Richter es sehen, handelt es
sich dabei um ein sinnloses, banales, wenn freilich auch besonders brutales Ver
brechen, um eine unmenschliche Schandtat. Aber in dem objektiven Gehalt des
Geschehens, das aus dem genannten Blickwinkel heraus geschildert wird,
scheint für uns durch diese so gefärbte Schilderung hindurch und ihr zuwider ei
ne ganz andere, ja entgegengesetzte Sicht hervor. Was dort in der einsamen Hüt
te im Wald geschieht, folgt ganz deutlich dem Muster von Opferritualen oder
schamanistischen Initiationsritualen. Hat man das erkannt und betrachtet man
das Geschehen aus dem so sich ergebenden veränderten Blickwinkel, dann
könnte man sagen, daß das, was eigentlich in dem Märchen angelegt war, eine
Initiation etwa in den Stand einer Schamanin ist. Die »Braut« wird so, wie Lydia
in dem ghanesischen Bericht von den Zwergen in den Wald gelockt wurde, um
dort in die Rolle einer Fetischpriesterin eingeweiht zu werden, hier von dem ge
heimnisvollen »Bräutigam« in die einsame Hütte im Wald geladen, in der wir
eine Initiationshütte erkennen. Dort hat die alte Frau, die Initiationshelferin, die
Vorbereitungen für die Initiation treffen und das Mädchen in der Tat auf die
Hochzeit mit dem Tod vorbereiten sollen. Zur schamanistischen Initiation, kraft
der der Schamane (und mutatis mutandis die Schamanin) sein heilerisches Wis
sen, sein Vermögen der Seelenausfahrt, seine Hilfsgeister und vielleicht seine
Geisterbraut gewinnt, gehört das Erlebnis der Zerstückelung. Zuerst wird ihm
der Kopf abgeschnitten, dieser wird auf den höchsten Balken der Yurte oder auf
eine Stange gesteckt, damit er genau Zusehen könne, wie in der Folge sein eige
ner Körper von den Geistern zerstückelt, das Fleisch von den Knochen abge
trennt, gekocht und dann gegessen wird. Genau das scheint eigentlich auch in
unserem Märchen intendiert zu sein. Was aus der veränderten Sicht des Mär
chens Räuber und Mörder sind, wären dementsprechend im Grunde die Geister,
die an der Initiandin die Zerstückelung vornehmen - nicht aus schändlicher
Mordlust und kannibalischer Gier, sondern um eines höchsten Zieles und Sinnes
willen, der Erlangung eines Zugangs zur Geisterwelt und der damit verbundenen
schamanischen, zauberischen Kraft. Von hier aus können wir rückblickend ver
muten, daß auch im Blaubart-Märchen das Töten eigentlich ebenfalls den dort
freilich überhaupt nicht mehr durchscheinenden tieferen Sinn einer Initiation
hätte haben sollen.
Diese Sicht, die wie gesagt entgegen der expliziten Sehweise des
Räuberbräutigam-Märchens immer noch durchscheint, ist die Sicht, die der er
sten Stellung entspricht. In ihr würde das Geschehen unter der Ägide der Anima
ablaufen. In der Anima-Sphäre entläßt sich die Seele in die initatische Trans-
gression nach Drüben. Sie setzt dem initiatischen Sterbenmüssen keinen Wider
stand entgegen. Sie geht mit dem, was sie sich selbst zumutet, mit. Jung sagte,
die Anima sei die Mediatrix zum (kollektiven) Unbewußten, zu den Ahnen, zur
Tradition. Unser Märchen jedoch ist eines, in dem gerade der Animus sich gel
tend macht. Er erscheint nicht nur als eine einzelne Gestalt, sondern er bestimmt
die ganze Sphäre und damit die Erlebnisweise dessen, was erlebt wird oder er
lebt werden soll. So manifestiert er sich gerade auch in dem Mädchen als der
Anima-Gestalt. Und sein Wesen besteht nun darin, die Negation der Anima zu
sein. Er ist also, wie ich entgegen der orthodoxen Lehre sage, gerade nicht das
(Entsprechende) für die Frauen, was die Anima für die Männer sein soll: näm
lich die »natürliche Funktion« zu haben, »eine Verbindung zwischen dem indi
viduellen Bewußtsein und dem kollektiven Unbewußten herzustellen«.5 Wir
sind ja hier überhaupt nicht mit den Männern und den Frauen befaßt, da wir Psy
chologie (nicht Anthropologie, nicht Pädagogik, nicht Ethologie) treiben und
»Männer« und »Frauen« kein psychologischer Gegenstand sind.
Der Animus ist demnach nicht wie die Anima eine »Brücke oder ein Tor
zu den Bildern des kollektiven Unbewußten«.6 Seine Funktion ist es, ganz wi
dernatürlich (contra naturam) die initiatische Transgression nach Drüben zu
verhindern, den Weg zu den Ahnengeistem, zum Imaginalen, zum kollektiven
Unbewußten zu versperren. Der Animus lehrt den Bruch des Verlöbnisses zur
Hochzeit mit dem Tode, das Nein! zur Initiation, das sich ihr Verweigern und
das sich ihr gegenüber als eigenständig Behaupten. Er setzt aus dem Einbehal
tensein im Pleroma der Seele hinaus. Er macht die für die Anima-Stufe ganz na
türliche Faszination und das selbstverständliche Eingenommenwerden durch das
je Begegnende unmöglich und ermöglicht das Draußen- und Gegenüberstehen.
Er beendet das sympathetische Weltverhältnis, zerbricht die »bubble« der ani
mahaften Seele (die »unio naturalis«) und macht blind für den Sinn der Mythen
und Rituale, für das Wandlungsgeschehen, für Zauber und Mysterium. Die Libi
do der Seele darf nicht mehr, ihrem natürlichen Gefälle folgend, in ihre mythi
sche Genugtuung fließen (Vor-läufigkeit). Sie muß an sich halten, sich für ande
re, eigene Zwecke aufsparen, was uns in einem späteren Kapitel näher beschäfti
gen wird.
5 Aus einem englischen Seminarbericht von C.G. Jung, Bd. 1, 1925, zitiert nach dem »Glossar« in
C.G. Jung, Erinnerungen Träume Gedanken, hg. A. Jaffd, Zürich und Stuttgart (Rascher) 1967, S.
409.
6 Ebd.
Indem der Animus die Seele aus ihr selbst heraus- und in die Positivität
hineinsetzt und sie damit befähigt, sich von außen, in äußerlicher Reflexion und
so auch von äußerlichen Gesichtspunkten aus zu betrachten, schafft er jenen
Standpunkt, den wir »das Ich« nennen. Das Ich ist der von der Seele entfremde
te und ihr fremd gegenüberstehende Standpunkt der Seele, weshalb in der mo
dernen Psychologie soviel von den Beziehungen zwischen dem Ich und dem
Unbewußten die Rede ist, Beziehungen, die eben immer erst hergestellt oder ge
heilt werden sollen, weil sie von Hause aus, und zwangsläufig, »gestört« sind.
Der Animus siedelt die Seele ihr gegenüber in der Realität an, die jedoch
erst durch die Heraussetzung der Seele aus ihr selbst entsteht. Die Realität ist
nicht einfach die Wirklichkeit der Welt, wie sie schlechterdings ist. Ja, das ist sie
gerade nicht. Sie ist die Welt und das Geschehen, wie sie erscheinen, wenn sie
aus dem Blickwinkel des Ichs, also von außen, von einem äußerlichen Stand
punkt aus und als nur noch positive gesehen werden. Der Animus ist die Tren
nung und unversöhnliche Entgegensetzung von Imagination, Traum, Mythos,
Märchen einerseits und Realität andererseits, von dem Ich und dem Unbewuß
ten, von Tag- und Nachtwelt, und er ist die Absperrung zwischen beiden.
Daß die Seele sich nur innerhalb der Syzygie aus der Syzygie in die Reali
tät als positive hinaussetzt, zeigt sich vielleicht am besten dadurch, daß die stei
nalte Frau, die doch in das einsame Haus, in die Initiationshütte, gehört, das
Mädchen warnt und in der Grimmschen Version mit ihr aus dem Haus flieht.
Der Bruch, der von dem Animus bewirkt wird, setzt schon innerhalb der initiati
schen Sphäre selbst ein und läßt die Frau, die doch eigentlich die Initiation be
fördern sollte, gegen diese Stellung beziehen. Indem die wesenhaft in die Initia
tionshütte und die Geistersphäre gehörende Alte aus dem Haus flieht, wird ge
zeigt, daß es die Seele selbst ist, die sich aus ihr selbst und aus ihrer Negativität
heraussetzt. Und nicht das Mädchen kommt mit einer Abwehrhaltung in das
Haus, sondern das Nein! wird ihm erst dort, zunächst von warnenden Vögeln,
dann von der Alten eingegeben. Die Seele selbst hat hier auf derjenigen Station
der Selbstbewegung ihrer Syzygie, die ich die dritte Stellung genannt habe, ein
Interesse daran, ihren natürlichen Hang zu unterbinden, den Hang, ihrem eige
nen Zauber zu erliegen. Sie hat anderes vor.
Freilich ist es nicht ganz gerecht zu sagen, daß dem Mädchen das Nein!
von den Vögeln und der steinalten Frau eingegeben wird. Denn was diese sagen,
ist wesenhaft doppeldeutig. Es kann als Einstimmung in die Initiation ebenso
wie als Warnung und Abschreckung vor ihr gehört werden. Daß es in dem Mär
chen in der Tat eindeutig als Abschreckung klingt, verdankt sich nicht einfach
dem, was die Vögel und die Alte sagen, sondern es verdankt sich dem Medium
der IE. Stellung, das die grundsätzlich auch ganz anders zu verstehende Rede
eben so und nicht anders klingen läßt. Was in einem bestimmten Märchen gesagt
wird, ist immer schon die Einheit von einer archetypischen Aussage und einer
Interpretation, die von der Stellung, in der das Märchen als ganzes angesiedelt
und von der es durchherrscht ist, vorgegeben wird. (Entsprechendes gilt für die
Geschichten, die die Patienten über ihr Leben zu erzählen haben: sie sind immer
die Einheit von einem Geschehen und von der Geschichte, die von diesem er
zählt wird.)
Ob man die »Hochzeit mit dem Tode« als Einladung zur Initiation oder
als in ironische Form gekleidete Warnung hört, ob man in den Zerstückelem
Geister oder Verbrecher sieht, hängt, so könnten wir mit Bezug auf weiter oben
Ausgeflihrtes sagen, davon ab, ob der Hörende und Sehende im Goldgrund oder
im Schwarzen Kasten, in der immanenten oder in der äußerlichen Reflexion
hockt. Der »Grund« gibt die »Kategorien« des Hörens und Sehens vor. Das vor
liegende Märchen hat seinen logischen Ort im Schwarzen Kasten oder in der äu
ßerlichen Reflexion und ist zugleich die - sit venia verbo - Initiation in den
Schwarzen Kasten und seine Kategorien des Welterlebens.
In der schamanischen Initiation wurde dem Schamanen der Kopf abge
trennt, damit er der Zerstückelung zuschauen könne. Ganz entsprechend kann
das Mädchen in unserem Märchen der Zerstückelung des anderen Mädchens zu
schauen. Der gravierende Unterschied ist dabei, daß der Schamane seiner eige
nen Zerstückelung (der Zerstückelung eines Anderen, das er als das Andere sei
ner selbst weiß) zuschaut, während im Märchen das Erleiden und das wache
Wahmehmen auf zwei buchstäblich getrennte Individualitäten verteilt ist. In der
Buchstäblichkeit des Anderen tut sich die äußerliche Reflexion kund. Weil das,
was sich da abspielt, ganz von außen gesehen wird, ist das Eingenommenwerden
von dem initiatischen Geschehen und für es a priori ausgeschlossen. Dieses kann
nicht mehr von innen, als einem selber widerfahrendes, als kraft seiner Bildhaf
tigkeit und seiner logischen Negativität ganz selbstverständlich in sich einneh
mendes und so seelisches, sinnhaftes Geschehen gewürdigt werden. Es muß un
ter völlig äußerlichen Gesichtspunkten apperzipiert werden: ganz »realistisch«,
positiv, als abscheuerregendes Verbrechen. Anders herum bedeutet die äußerli
che Reflexion die Kraft, das im Bild Gesehene zu positivieren; sich aus einem
wirklichen Geschehen logisch herauszuhalten und sich ihm gegenüber zu be
wahren, es gleichsam aus einem Versteck heraus (in welchem sich das eigene
Wesen reserviert) als ausschließlich einen buchstäblich anderen (oder einen
selbst als nur äußerlichen, positiven, von der Negativität des eigenen Wesens ab
gespaltenen) betreffendes Geschehen in seinem abstrakten, rein sachlichen Ge
halt zu sehen, ohne sich widerstandslos von seinem Sinn und seiner Bildnatur in
es einnehmen zu lassen, wodurch es dann initiatisch wirken könnte.
Ich sagte, daß der Animus die Trennung und Entgegensetzung von Imagi-
nalem und Realität sei. Daß er dies ist, wird unter der Voraussetzung, daß unser
Märchen ein Animus-Märchen ist, daran offenbar, daß im Märchen die Diffe
renz zwischen initiatisch-ritualistischem Verständnis und realistisch-positivem
Verständnis des Geschehens sichtbar ist, insofern der urtümliche, schamanisti
sche Charakter der an dem Mädchen vollzogenen Operation, wenn auch in ver
deckter und entstellter Form, durchaus bewahrt bleibt. Der Widerstreit zwischen
beiden Sehweisen ein und desselben Vorgangs zeigt, daß wir es nicht mit einer
ganz separaten Geschichte zu tun haben, sondern mit einer, die die alte Ge
schichte als ihre Voraussetzung in ihr selbst trägt und nur dadurch zustande
kommt, daß sie sich durch die Verneinung der alten Haltung zu dem Geschehen
zu einer neuen Haltung ihm gegenüber abstößt.
Die äußerlichen Gesichtspunkte, die überhaupt erst das, was wir Realität
(positive Realität) nennen, ermöglichen, sind die der Moral und des Rechts.
Wenn das, was einst eine Initiation gewesen wäre, nunmehr ein Verbrechen ist;
wenn die, die ehedem als Geister oder Initiandenführer erschienen wären, jetzt
auf einmal ganz banale menschliche Schandbuben sind; wenn das Mädchen aus
dem Erlebnis in der Hütte keinen Heilsgewinn, sondern einzig das profane Cor
pus delicti als juristischen Beweis mitbringt, das gegen jene verwendet werden
kann: dann sind wir aus einer auf einen tieferen Lebenssinn hin orientierten
Sicht zu einer nur noch forensischen Sicht avanciert (es ist dies ein Fortschritt,
der mit größten Verlusten erkauft wird). Alle höhere Weihe, die dem Mythi
schen eignet, ist verschwunden; wir finden uns jetzt in einer durch und durch sä
kularen Welt wieder. In dem moralisch-juridischen Herangehen an die Dinge er
baut sich ganz vorzüglich die positive »Realität«, die ja nichts anderes ist als das
aus der seelischen Bewegung Heraustreten, ihr Gegenübertreten und sich dort
ihr gegenüber Behaupten. (Freilich so, daß auch dieses Heraustreten dennoch in
nerhalb ihrer verbleibt und nur eine interne Differenzierung und Komplizierung
bringt.)
So wie von Franz mit ihrem Satz, daß man vor Blaubart nur fliehen kön
ne, auf das Blaubart-Märchen von der Perspektive der einen Gestalt innerhalb
des Märchens her reagiert hatte, so betrachtet Rene Girard mit seiner
Sündenbock-Theorie des Opfers die rituelle Welt der alten Kulturen ganz aus
der Perspektive der Heldin des Mädchenräuber-Märchens. Er ist ganz mit der
darin erfolgten forensischen Uminterpretation des Rituellen identifiziert.
In Moral und Recht wird das Böse verdammt und gerichtet. Die Unter
scheidung zwischen Gut und Böse dient dem Verdammenkönnen, in welchem
sich das ichhafte Wollen zu sich selbst erbaut. Je mehr und heftiger ich verdam
me, desto mehr wächst die Festigkeit meines Ichs. Dieses Wollen ist der eigent
liche metaphysische Charakter der »Realität«, die also nichts mit Wahrheit und
Wirklichkeit zu tun hat, aber natürlich gerade kraft dieses Wollens als die Wahr
heit und die Wirklichkeit gesetzt wird. Nietzsche nannte es den Willen zur
Macht.
In der Grimmschen Fassung sagt das Mädchen in seiner Erzählung von
dem Erlebten während des Hochzeitsessens immer wieder zu ihrem Bräutigam:
»Mein Schatz, das träumte mir nur«, bis es am Ende der Erzählung sehr effekt
voll das Beweisstück, den abgeschnittenen Finger, hervorzieht, wodurch das,
was als bloßer Traum erzählt wurde, schlagartig in Realität umkippt. Dies ist je
tloch nicht nur erzählerisch sehr wirksam, es bedeutet auch eine letzte Ironisie
rung und Verabschiedung sowohl der »Hochzeit mit dem Tode« als auch desje
nigen Welterlebens, welchem Traum, Vision, Mythos, Ritual etwas bedeuten.
»Mein Schatz, das träumte mir nur« ist die feierliche Inauguration desjenigen
Denkens, für das Träume nichts als Schäume, Mythen nichts als Lügenmärchen
und Rituale nichts als abergläubische Handlungen sind. In der Realität gibt es
keine Bedeutung, keinen Sinn, da wird gehandelt, nämlich den Bösewichtem
der Kopf abgeschlagen, den »Problemem« der Garaus gemacht (was sich der
Usurpation einer Animus-Tätigkeit durch die Anima verdankt). Die Abkehr und
Abwehr von dem blutigen Geschehen im einsamen Haus im Wald, das als Ge
schehen im »Wald«, d.h. entrückt von der Alltagswelt, als ein visionär-ekstati
sches Geschehen in der Negativität der Seele gedacht werden muß, mündet in
ein nicht weniger brutales Geschehen, nun freilich eines in der faktischen Reali
tät und als Positivität.
Aber ist nicht das Geschehen im Räuberhaus, selbst wenn es der Initiation
diente, doch einfach in der Tat unmenschlich, so daß es wie ein Verbrechen un
terbunden werden muß? Diese Frage ist eine Falle. Sie hat das, was sie dann zu
finden scheint: die (Un-)Tat und ihre Tatsächlichkeit, selber schon voraus
gesetzt. Sie nimmt das Geschehen in dem Haus im Wald schon als positive
Realität. Aber daß es dies sei, ist nicht ausgemacht. Das Märchen selbst weist
daraufhin, indem es die Möglichkeit, daß das ganze ein rein innerseelisches, vi
sionäres Geschehen, nämlich ein »Traum« war, ins Spiel bringt. Auch der Satz:
»Mein Schatz, das träumte mir nur« ist doppeldeutig. Er sagt die Wahrheit. In
diesem Satz haben wir den Ursprung des ganzen Märchens. Aber diese Wahrheit
überläßt es dem Hörer oder Sprechenden, sie so oder so, einfach oder ironisch,
zu verstehen. Nur wenn wir der expliziten Tendenz des Märchens aufsitzen, ist
für uns klar, daß realiter ein furchtbares Verbrechen in dem Haus im Wald statt-
gefunden habe. Der impliziten Tendenz nach hat aber in Wahrheit ein Ent
rückungserlebnis, ein Geschehen im »Traum«, stattgefunden; aber gegen den
Gehalt und Sinn dieses Erlebnisses hat sich die Seele hier (kraft des Animus in
nerhalb der Syzygie) gesperrt. Sie hat sich von diesem rein seelischen Erlebnis
in die durch das Abstoßen erst gesetzte Realität abgestoßen. Wir wohnen in die
sem Märchen dem Vorgang bei, wie aus dem innerseelischen Erleben (aus
»Traum«, »Vision«, aus »Goldgrund-Welt« oder mythischer Wirklichkeit, also
der Negativität der Seele) die Realität generiert wird: durch die Abwehr der na
türlichen Vor-läufigkeit der Seele in das Telos und in den Sinn ihres logischen
Lebens. Durch die Abwehr wird das Bewußtsein allererst aus dem psychologi
schen Auffassen hinaus- und in die Mentalität des Staatsanwalts (oder auch des
Verhaltenspsychologen), die Mentalität der standhaften Müllerstochter als des
Urbilds der Feministin hineingebracht.
Das Abstoßen aus der seelischen Wirklichkeit wird ausgedriickt in dem
»nur« des Satzes »das träumte mir nur«. Das Wörtchen »nur« eröffnet und eta
bliert den Gegensatz von zwei ontologischen Bereichen: Traum und Realität.
Die Realität ist dabei selber dieser ontologisch genommene Gegen-satz, durch
den der Traum, der Mythos, das Visionäre in das »Nichts als« hinabgedrückt
werden. Die Realität bleibt in ihr selbst auf das Imaginale bezogen, weil sie
nichts als die systematische Negation oder der Ausschluß alles Imaginalen (des
imaginalen Charakters oder der ursprünglichen Negativität jedweder Erfahrung)
aus dieser Erfahrung selbst ist. Dem Traum, dem Mythos, der Vision wird die
Erkenntnisdignität bestritten. Der Traum eröffhete nicht mehr den Zugang zu ei
ner wirklichen anderen Welt. Da aber der Gehalt des »Traumes« als Bewußt
seinsinhalt bleibt, wird der Bewußtseinsinhalt umgedeutet, eine Erinnerung an
real Erlebtes zu sein. Die Realität ist das Hinabdriicken des Sinnhaften in das
Nichts, das Schein, Aberglauben oder Irrationales heißt. In der seelischen Wirk
lichkeit gibt es diesen ontologischen Gegensatz nicht. Kraft der »Eindimensio-
nalität« des Märchens (Lüthi) ist der Unterschied zwischen visionärer Erfahrung
und »realer« Erfahrung dort kein ontologischer. In der Märchenwelt ist es gleich
gültig, ob, wie in der Geschichte von Lydia, ein Mädchen in eine tatsächliche In
itiationshütte im Wald verschwindet oder ob auch Hütte und Wald und das ritu
elle Geschehen, dem es unterworfen wird, ganz in das visionäre Erleben hinein
gehören. Denn in beiden Fällen gehören sie hier in das Visionäre, in die Seele in
ihrer Negativität, hinein. Auch was von uns aus gesehen real da ist, ist dort ein
genommen in die,/ür die seelische Welt: in und für das Entrückungserlebnis, in
und für Mythos, Goldgrand oder Retorte, d.h. in und für den Sinn. Das Archety
pische ist gegen die Unterscheidung Innerlichkeit - äußerliche Realität, subjektiv
erlebt - objektiv vorhanden indifferent, weil beides in ihm seinen Platz hat.
Was in dem Räuberhaus geschieht, ist also, ganz gleich ob rein visionär
oder auch reales rituelles Tun, in beiden Fällen primär ein archetypisches oder
visionäres Geschehen, in dem nicht Menschen Menschen, sondern die Seele sich
selber etwas zufügt. Das Märchen ist von Hause aus die Erzählung von diesem
archetypischen Tun der Seele an ihr selbst und nicht der Bericht über eine
menschliche Untat. Aber dieses unser besonderes Märchen ist das Märchen von
dem Ausbruch aus dem märchenhaften oder archetypischen Charakter dieses
Tuns in den realen, positiven Charakter seiner. Vor unseren Augen verwandelt
es die Sicht auf das zu Erzählende aus einer märchen- oder traumhaften und ritu-
alistischen in eine strafrechtlich-realistische. Wie schon im Blaubartmärchen der
Anblick der Kammer mit den Leichen, so wird hier das Bild der Zerstückelung,
in dem sich ein seelisch-logisches Geschehen zeigt und das auf Erkenntnis und
Bewußt-Sein (und somit auf ein gewandeltes Sein) zielt, zu einer faktischen Tat
in der empirisch-praktischen Realität niedergedrückt. Die Frage, was tatsächlich
(buchstäblich) geschehen ist und wie dieses zu bewerten sei, läßt sich nicht stel
len und schon gar nicht entscheiden - wenn man nicht schon längst die Stellung,
die im Räuberhauptmann-Märchen erst erarbeitet wird, eingenommen hat. Denn
diese Frage stammt erst aus ihr. Das Geschehen als archetypisches läßt beide
Möglichkeiten zu, und je nach dem, wo wir stehen, müssen wir das Geschehene,
ein und dasselbe archetypische Geschehen!, als strafrechtlich zu verfolgendes
reales Verbrechen oder aber als mißverstandene, abgewehrte Initiation begrei
fen. Das Märchen selber hat sich zwar für die staatsanwaltliche Sicht entschie
den. Aber da diese Entscheidung innerhalb des Märchens erfolgt, ist die Frage,
»was nun tatsächlich wahr ist«, damit nicht beantwortet. Die archetypisch
märchenhafte Wirklichkeit des Berichteten ist unhintergehbar. Und da auch alle
Staatsanwälte, Zeugen, Zeitungsberichterstatter, Historiker ihre Frage »was
wirklich geschehen ist« und »wer es getan hat«, immer nur innerhalb des
Räuberbräutigam-Afd'rcAen^, nämlich aufgrund der in diesem gebahnten Heraus
setzung aus der Märchenwelt in die (freilich dennoch in ihr verbleibende, nur in
ihr aus ihr herausgesetzte und so erst erzeugte) positive Realität, stellen können,
gilt die Unhintergehbarkeit der Märchenwirklichkeit auch für sie. Je mehr das
Bewußtsein in der Realität der Staatsanwälte angesiedelt wird, desto mehr muß
das Spiel der Seele mit ihr selbst, dasselbe Spiel, das ansonsten auch als mär
chenhaftes und seinen initiatischen Sinn mit sich bringendes wie eh und je im
veranstalteten Ritual oder in der Ekstasis der Seele geschehen könnte, sich als
sinnloses, nur noch brutales Verbrechen in der positiven Realität ereignen. Dann
werden nicht etwa Geschehnisse als Verbrechen nur gesehen, weil man für den
»eigentlich immer noch in ihnen liegenden« initiatischen Sinn blind geworden
ist, sondern es geschehen in der Tat unzählige völlig sinnlose Gewalttaten, all
die Vergewaltigungen, Mißhandlungen und Tötungen, von denen die Zeitungen,
aber auch die Bücher über die Geschichte dieses Jahrhunderts voll sind, weil wir
ja von allem Sinn gereinigte positive Realität wollen müssen. Wir bekommen
genau das, was unserem logischen Ort entspricht. Das Geschehen entspricht im
mer dem Gefäß, in dem es sich zu ereignen durch die Logik der Zeit gezwungen
ist. Heute hat es sich dem Schwarzen Kasten, in dem wir und mit uns unsere
ganze Welt sitzen, angepaßt. Und wegen dieser exakten Entsprechung ist auch
heute noch, wie Jung gesagt hatte, die Welt gut, so wie sie ist. »Es ereignet sich
aber das Wahre« (Hölderlin, »Mnemosyne«) - auch in der Welt zunehmender
sinnloser Verbrechen, ja wohl sogar in der Welt von »Auschwitz« und »Gulag«.
Die »IV. Stellung« der Seele zu ihrer Erfahrung ihres Anderen. In der
Überschrift zu diesem Kapitel war die Rede von der dreifachen Stellung der
Seele zu ihrem Anderen. Hier nun taucht plötzlich eine vierte Stellung auf, wenn
freilich auch in Anführungszeichen. Denn was nun zu besprechen ist, führt be
reits über den Animus als Erfahrung des Anderen und über den Animus als Ne
gation hinaus und leitet zu einem neuen Kapitel: »Der Animus als Geist und
Liebe« über. Mit der IE. Stellung sind im Grunde die Stellungen, die die Seele
als Anima dem Animus als ihrem Anderen innerhalb der Selbstbewegung der
Syzygie einnehmen kann, erschöpft. Das Andere ist als solches explizit gewor
den. Es hat sich rückhaltlos durchgesetzt, gerade indem es untergegangen ist.
Denn etwas hat dann seine volle Macht entfaltet, wenn es das, was ihm draußen
als Fremdes gegenübersteht, nicht mehr als Untergebenes beherrschen und mit
Gewalt unter sich halten muß, sondern wenn es dieses selber ohne Zwang und
Gewalt, d.h. von innen durchherrscht, wenn also hier der Animus in seinem Ge
gensatz, der Anima, selber zum Ausdruck kommt und diese nun unmerklich sein
Wesen als ihr eigenes übernommen hat. Er kann jetzt unbesorgt als die eine Sei
te der Syzygie untergehen, weil er damit als Geist der ganzen Syzygie auferstan
den ist. Da der Animus reine Negativität ist, herrscht er auch nicht durch positi
ve Gewalt, sondern auf die gewaltlose Weise der via negativa: durch seinen ei
genen Untergang.
Mit dem, was in Anführungszeichen als die »IV. Stellung« zu bezeichnen
ist, ist demnach die ganze Stufe, auf der der Animus als Negation und als Ande
res erschien, überholt. Er wird sich jetzt als Geist der Liebe zeigen, als die Stufe
der Syzygie selber. Dies allerdings nur, wenn begriffen wird, daß der Animus
dadurch, daß er untergegangen ist, gerade nicht einfach fort ist, sondern in der
Anima selber und als der Geist einer neuen Stufe lebt. Denn der Geist ist nur als
Verschwundener, Unsinnlicher, Unsichtbarer, nicht als substantiell Daseiender.
Identifiziert sich dagegen das Bewußtsein mit der einen, der Anima-Seite, inner
halb der ID. Stellung, dann verharrt es in der ichhaften Selbstbehauptung und
dem moralisch-juridischen Verdammen des Anderen. Dann wird an dem doch
längst untergegangenen, also obsoleten »Anderen« gerade festgehalten, und die
ses muß dann immer weiter als buchstäblich anderes draußenzuhalten versucht
werden. Das sehen wir heute in vielen Teilen der Frauenbewegung. Die Tren
nung beider Seiten wird aufrecht erhalten, obwohl es der Anima-Seite längst
klar sein könnte, daß sie in dem Augenblick, wo sie es vermocht hat, den Spieß
umzudrehen und den Animus als Töter mit seinen eigenen Waffen zu schlagen,
nur das Andere ihrer selbst und so sich selbst bekämpft. Haben wir dies begrif
fen, dann ist der Animus voll in ihr einst jungfräulich abgeschirmtes Bewußtsein
hineingelassen. Der Animus ist nicht mehr das fremde Gegenüber und auch
nicht mehr die Andersheit (Bosheit) dieses fremden Gegenübers. Er muß sich
daher auch nicht mehr aus der Anima heraus gegen dieses Gegenüber, als das er
selbst war, kämpferisch wenden. Sondern er ist jetzt lebendiger Geist, das Leben
des Geistes in der Seele selber. Er ist logische Bewegung, Denken, nicht mehr
seiende Gestalt.
Solange es noch um das Andere ging, war der Animus immer noch abge
wehrt und vorläufig, auch wenn natürlich bei dem Archetyp, dessen Wesen es
ist, Negation zu sein, die Manifestation und Selbstdarstellung seiner gerade in
der Abwehr seiner erfolgt; er wäre ja positiv, wenn er sich nur so voll entfaltet
hätte, daß er seine Macht in und an ihm selber darstellte. Aber auch als die leere,
nicht mehr substantielle, reine Funktion des »Mörders und nichts weiter« aus der
zweiten Stellung und als der gerichtete, untergegangene Räuber aus der dritten
Stellung bleibt der Animus doch noch das (wenn auch leere) Substantielle
(Blaubart) oder die Leerstelle des substantiellen Animus, insofern das Gegen
über sich durchhält. Täter und Opfer, Animus und Anima stehen einander als
Getrennte und Gegner gegenüber, auch wenn dann im Räuberbräutigam die Rol
len sich umkehren. Die Gegnerschaft dient der Abwehr des Widerspruchs, der
Abwehr der Widersprüchlichkeit des Verhältnisses der Seele zu ihr selbst. Es
herrschen klare Verhältnisse, wenn er hüben und sie drüben steht. Man weiß,
woran man ist. Auch Gut und Böse lassen sich dann fein säuberlich verteilen.
Der syzygische Widerspruch kann vermieden werden.
In dem Augenblick jedoch, wo erkannt wird, daß der Animus als selbstän
dige Gestalt untergegangen ist und sein Wesen nunmehr aus der Anima selber
hervorstrahlt, ist diese in ihr selber das Andere ihrer selbst. Das Anderssein wird
nicht mehr auf zwei verschiedene Rollen verteilt. Ein und dasselbe, die Anima,
jetzt in der Bedeutung von Seele, ist die widersprüchliche Einheit beider. Damit
hört auch die Anima als Anima auf zu sein, denn sie ist nur als solche in ihrem
und durch ihr Verhältnis zu ihrem Anderen. Verschwindet dieses, geht sie auch
im Nu unter - und gibt sie sich jetzt als die syzygische Seele zu erkennen. Der
Widerspruch ist in die Seele selbst hineingelassen worden. Sie ist ihr eigenes
Opfer, ihre eigene Negation. Sie ist in ihrer Identität mit sich anders. Die Seele
hat ihr syzygisches, uroborisches Sein eingeholt. Sie ist zum reinen Selbstver
hältnis geworden. Dieses ist ihr jetzt selber ganz durchsichtig geworden. Sie
muß es nicht mehr agieren; es sich mit verteilten Rollen Vorspielen und vor-
-stellen. Das Verhältnis zwischen der Seele und ihrem anderen ist kein »räumli
ches« Gegenüber mehr. Es ist selber in das Medium des Geistigen oder Logi
schen eingetreten, wo sich nichts mehr vorstellen läßt, sondern gedacht werden
muß. Und erst wenn dies der Fall ist, hat sich der Animus erfüllt. Denn was
heißt: der Animus hat sich erfüllt? Es heißt, daß er als Geist nicht mehr substan
tiell wie ein Dämon der Seele gegenübersteht, sondern daß sich die Seele selber
in ihrer eigenen Geistigkeit durchschaut und sich selber als geistiges Leben, als
logische Bewegung weiß. Jung nannte dies den »pneumatischen Zustand«.7
Warum hatte der Animus, insbesondere in der III. Stellung, der Seele den
Weg zum kollektiven Unbewußten abgeschnitten, den Weg in die Initiation, in
die »Hochzeit mit dem Tode« und damit den Weg auch in die Hochzeit mit ihm
selbst? Die erste Antwort darauf haben wir schon gegeben: weil der Animus rei
ne Negativität ist und er seine Erfüllung deswegen nur negativ, nämlich gerade
in der Abwehr seiner findet. Die andere, nicht minder wichtige Antwort ist, daß
der Animus nicht seine Genugtuung findet, wenn er nur Geist im Sinn von Ge
spenst oder Dämon bleibt. Er möchte, daß der Geist als Dämon sich zum Geist
7 C.G. Jung, Briefe Bd. II, S. 354, vom 24.XI. 1953, an Victor White.
als Geistigkeit intensiviere und läutere; daß der Geist im Sinn von Geistigkeit
sich als der Geist der Seele selber oder des ganzen Inderweltseins des Menschen
offenbare. Solange es bei der Anima-Stufe bleibt, wird der Geist substantiali-
siert. Die Anima ist ja die Funktion der Personifikation, der Hypostasierung, die
Funktion des ihre Gedanken aus sich Hinausspinnens, um sich zugleich in das
Hinausgesponnene selber einzuspinnen und in diesem seine Genugtuung zu fin
den. Dieses Geschehen würde sich ewig nur innerhalb der Syzygie, d.h. unter
halb ihrer selbst und zwischen ihren beiden Seiten, abspielen. Um zu sich selbst
zu kommen, mußte daher der Animus seinen Weg über die Heraussetzung der
Seele aus ihr selbst und hinaus aus der Syzygie nehmen. Der Weg der Seele aus
ihrer eigenen Syzygie hinaus zum Gegenüberstehen qua ichhafter Selbstbehaup
tung dem Anderen gegenüber ist der einzige Weg zur Realisation der Syzygie
als solcher, als Stufe der Syzygie. Diese ist gleichbedeutend mit »erfüllter
Animus-Stufe«. Denn die Animus-Stufe als solche ist wesenhaft uneigentlich,
vorläufig, Übergang und daher grundsätzlich in ihr selber unerfüllt. Sie ist nur
Mittel, Brücke. Sie dient dem Transport von der ersten eigentlichen Stufe (der
Anima-Stufe) zur zweiten eigentlichen Stufe (der Syzygie-Stufe). Aber in der
oder als Syzygie kommt auch der Animus wahrhaft zu sich selbst: gerade weil er
darin als er selber verschwunden ist.
Die Syzygiestufe ist anders als die beiden anderen Stufen noch nicht ge
schichtliche Wirklichkeit. Die Anima-Stufe haben wir in der Welt der schamani
stischen und rituellen Kulturen, die Animus-Stufe als abendländische Geschich
te (mit Aufklärung) einigermaßen überschaubar vor uns. Was die Syzygie-Stufe
anlangt, so scheinen wir aber eben erst im Begriff zu sein, in sie einzutreten.
Wenigstens scheint die Animus-Stufe ihre Aufgabe weitgehend erschöpft zu ha
ben und gibt es erste Anzeichen eines syzygischen Bewußtseins. Weil dieses
aber günstigstenfalls erst noch im Kommen ist, kann über es noch nichts Nähe
res gesagt werden. Das noch Unbekannte muß nicht vorweggenommen und da
mit der wirkliche Gang durch die Stadien seines allmählichen geschichtlichen
Wirklichwerdens hindurch übersprungen werden. Erst wenn die Syzygie-Stufe
als eine Gestalt des geschichtlichen Lebens alt geworden ist, läßt sie sich eini
germaßen eikennen. Dieses Altwerden gilt es gelassen abzuwarten —auch wenn
wir als Individuen es nicht mehr erleben werden - , denn das heißt leben, im Le
ben stehen: an die Gegenwart, den nächsten Schritt, hingegeben zu sein und die
künftige Entwicklung sich selbst zu überlassen, eben: sich entwickeln lassen.
***
In der drei- (oder vier-) fachen Stellung der Seele zu ihrer Erfahrung ihres
Anderen ist einerseits eine Entwicklung im Sinn eines linearen Fortschritts zu
beobachten. Der Animus kommt mehr und mehr zu sich selbst. Er tritt allmäh-
lieh in sein ureigenstes Element, die Geistigkeit, ein, nachdem er zunächst nur
eine noch substantielle Verkörperung des Geistes gewesen war. Das ist die eine
Seite der vorgeführten Stellungen, nach welcher Seite sie auch Stufen genannt
werden könnten. Dieselbe Entwicklung hat aber auch eine andere Seite. Keine
Stellung ist »besser« oder »schlechter« als die andere. Alle sind gleich »gut«,
gleich befriedigend und ausgewogen. In jeder erfüllt sich die Wahrheit der gan
zen Konstellation von Geist und Seele. In jeder erhalten beide Gegenspieler ihr
volles Recht. Der Animus triumphiert genausosehr als die Anima berückender
und zu seiner Gattin machender Todesdämon wie als die Anima Zerstückelnder
oder auch als im eigenen Untergang in der Standhaftigkeit der Anima selbst zur
eigentlichen Herrschaft Kommender. Und umgekehrt ist es für die Anima ge
nauso erfüllend, die Gattin des Dämons zu sein und alle Männer töten zu müs
sen, wie selber eine schamanistische Initiation zu durchleiden oder wie sich ge
gen die Mordbuben zu behaupten oder wie das ganze Verhältnis integriert zu ha
ben.
Archetypisch gesehen finden beide, Anima wie Animus, in jeder der drei
oder vier hier vorgeführten Spielarten der Syzygie ihre volle und wahre Genug
tuung. Jedem geschieht ungeschmälert Gerechtigkeit. Jede Stellung ist gleich le
gitim und vollendet - in sich stimmig und in sich gerundet. Nur für uns Men
schen als Personen macht es einen beträchtlichen Unterschied, in welcher Weise
oder auf welcher Stufe Anima und Animus sich erfüllen; nur für uns liegt in den
Stellungen ein Fortschritt - ein Gewinn zusammen freilich mit dem ihm entspre
chenden Verlust. Jede Stellung ist so immer schon die ganze Syzygie. Und die
Syzygie selber ist die Einheit von jeweiliger Stufe und dem Ganzen der Abfolge
von Stufen.
Der Animus darf, von dem Standpunkt der Syzygie her gesehen, nie los
gelöst von der Anima betrachtet werden. In dem Kapitel über den Animus als
Töter war die Beziehung zu seinem Gegensatz offensichtlich. Er war dort aus
drücklich das Andere der Anima. Das heißt, er wurde immer nur daraufhin be
trachtet, was er für die Anima bedeutete. Indem aber das Spiel der Gegenspieler
soweit gediehen ist, daß der Gegensatz nicht mehr extensiv mit verteilten Rollen
ausgelebt, sondern erinnert als inniger, »intensiver« einfach walten kann, ist der
Animus zu sich selbst geworden. Er kann jetzt für sich betrachtet werden und
sich daher als Geist manifestieren.
Als solcher kann er gegenständlich (substantiell) vorgestellt sein. Dann
erscheint er selbst noch animahaft. Ihm gemäßer ist sein Wirken in geistigen
Akten, wobei er dann das Wirken oder die Akte selbst ist und nicht ein seiendes
Wesen, das die Akte nur ausüben würde. Er geht hier darin auf, Verstandeshand
lung zu sein. Drittens kann der Geist dann auch noch als eine Art »Element« er
scheinen, so wie wenn wir von dem Geist einer Zeit sprechen. Und dabei ist be
sonderes Augenmerk zu richten auf die Möglichkeit, daß eine Stufe in ihr selbst
geistig, durchgeistigt ist, im Unterschied zu Stufen, die im Vergleich eher einen
»natürlichen« Geist haben. Schließlich kann der Geist viertens auch als Liebe er
scheinen.
I. Der Geist gegenständlich vorgestellt. Die Phänomenologie des Ani
mus als Gestalt ist schon längst in der älteren Literatur dargestellt worden. Da
mein Interesse diesem Aspekt nicht gilt, liste ich hier nur (ohne Anspruch auf
Vollständigkeit) die Haupterscheinungsformen auf, um ihn nicht ganz zu unter
schlagen, verweise aber im übrigen auf die Literatur.
Als Gestalt erscheint der Animus 1. als Vater, als Onkel, manchmal auch
als der große Bruder. Diese Gestalt zieht die Liebe auf sich, es besteht Nähe,
Verwandtschaft, man ist ihr ganz verbunden, aber sie steht hoch über einem, so
daß man zu ihr aufblicken und sie verehren muß. Sie ist ein (letztlich unerreich
bares) Vorbild. Herrscher, Machthaber, Politiker sind in einem weiteren Sinn
(aus dem Familiären herausgenommene) Vatergestalten. In letzter Instanz gehö
ren auch die Himmelsgötter hierher, nicht zuletzt der himmlische Vater des
Christentums. 2. können Militärs, Helden (insbesondere auch Stierkämpfer und
Drachentöter), auch Sportler, die ebenfalls Bewunderung auf sich ziehen und
den Sieg über die Natur verkörpern, und 3. der Lehrer, der Gelehrte, der Pfarrer,
geistige Autoritäten überhaupt, der Gerichtshof, der »Rat«, der Erfinder, der
Künstler Animus-Verkörperungen sein. Das eine Mal steht mehr der Geist als
Kraft und Macht, das andere Mal das Geistige im engeren Sinn im Vordergrand.
4. sind zu nennen der Prophet, der Wahrsager, der Verkünder einer Heilslehre.
5. Naturhafte Erscheinungsformen des Geistes sind der »Wurzelsepp«, »der wil-
de Mann«, der »Jäger« mit tief ins Gesicht gezogenem Schlapphut und weitem
Mantel (an Wotan gemahnend). Es ist offensichtlich, daß diese Form des Gei
stes, die ihre Geistigkeit aus der Natur, der Erde bezieht, noch ganz einbehalten
ist in die Animasphäre. 6. erscheint der Animus als Verwandlungskünstler, Zau
berer, Tänzer, Flugzeugpiloten, Skifahrer. Hier zeigt sich der Geist als Bewe
gung sowie als Verwandlung, er drückt seine Unabhängigkeit von dem Verhaf
tetsein an einem Ort und von der körperlichen Bestimmtheit aus. Der Geist als
Überwindung der »Erdenschwere«. Hierher gehören der Fliegende Holländer,
der Mercurius, Proteus. 7. Dem Zauberer und Tänzer nahe steht die Gestalt des
Tricksters. Er ist der Geist als Unmhestifter und Aufrührer. Von ihm aus führt 8.
der Weg zum Animus als der Gestalt des Revolutionärs. In ihm als Aufrührer
kommen Macht und Stärke einerseits, Idealismus und Prinzipienhaftigkeit (Mei
nungen!) andererseits zusammen. 9. und 10. sind das Paar von puer und senex
zu nennen. Sie verkörpern unter anderem den Gegensatz innerhalb des Geistes
von hochfliegender Lebendigkeit und konservativer Verknöcherung. Noch mehr
ins Archetypische hinein verweist 11. die Erscheinung des Animus als die Ah
nen, als Geisterheer. 12. Animus ist auch der Mann im Mond. Dieses Animus-
Bild trägt seine Zugehörigkeit in den Bereich der Anima auf der Stirn. Es ist
deutlich eine Animus-Gestalt, aber völlig einbehalten in den lunaren Bereich.
13. Zuletzt nenne ich Geister, Gespenster, Dämonen, wozu auch die Blaubart-
Gestalten gehören.
Bisher habe ich Erscheinungsformen des Geistes in irgendwie personifi
zierter Gestalt aufgezählt. Jetzt wende ich mich den abstrakteren Erscheinungs
weisen des Geistes als »das Geistige« zu. Dazu gehören
1. Das Buch, überhaupt die Schrift, der Buchstabe. Die heilige Schrift.
Der Kodex. Das Pergament. Das Dogma (die richtige, schriftlich fixierte oder fi-
xierbare Meinung). 2. Die geschriebenen Gesetze (im Unterschied zu den tra
dierten Sitten, die der Anima zugehören). Das Recht. Vorschriften, Gebote, Ver
bote. 3. Die Weisheit, das Wissen, Bildung, die höhere Wahrheit. Letztlich auch
das esoterische Wissen, das Geheimnis. 4. Das Ideal. Die Werte, die Ideen im
platonischen Sinn. 5. Das Licht. 6. Die Farbe blau, die Bläue. 7. Die Stimme.
Das Wort (das seinen Sinn nur in und kraft seines Verklingens und Verschwin
dens gewinnt). Die Sprache. Der Namen. Die Macht und Magie des Wortes. Der
Atem. Die Lunge. Dann auch die Musik. 8. Orakel. Auditionen. Stimmen. Die
»Gaben des Geistes«. 9. Der Wind. Der Sturm. Pneuma. Ruach. (Der Geist als
elementare Gewalt.) 10. Die Höhe. Die Vertikale. Der Überblick. Adler und Ha
bicht.
Weder eine einzelne Gestalt, noch etwas Geistiges ist der Geist als Welt
geist oder Weltseele. Er ist als die Idee der anima mundi oder des animus mundi
bei den Pythagoreem und Plato (Timaeus), in der mittelalterlichen Naturphiloso
phie, in der Alchemie, bei Philosophen wie Ficino, Thomasius und Schelling
wie auch noch bei Fechner aufgetreten und hat seit Herder die Bedeutung des
geschichtlichen Geistes angenommen. Bei Hegel ist er im Unterschied zum »ab
soluten Geist« der sich in der Welt zur Wirklichkeit bringende allgemeine, an
und für sich seiende Geist, der in seinem inneren Zusammenhang durch die Ge
schichte der getrennt erscheinenden Nationen und ihrer Schicksale die verschie
denen Stufen seiner Bildung durchläuft.
Wichtig scheint mir zu erkennen, daß auch die Anima mundi eine Manife
station des Animus ist. Dies einzusehen kommt natürlich das an den Worten haf
tende Bewußtsein hart an. Aber wir müssen uns nach dem Sinngehalt, nicht nach
dem Namen richten. Auch die Weltseele ist Geist. Während z.B. die Nixe, der
Donnergott, die Liebesgöttin unmittelbar erfahrene Phänomene waren, ist die
Weltseele nichts mehr, was noch unmittelbar erfahren werden könnte. Sie ver
dankt sich schon der Abstraktion und philosophischen Spekulation, also ganz
spezifischen geistigen Akten. Ist die Rede von der Anima mundi oder Weltseele,
dann hat der Weltgeist zwar in der Tat noch mehr Animacharakter als da, wo er
ausdrücklich Weltgeist heißt und wie bei Hegel auch als Geist gemeint ist. Die
Weltseele impliziert insbesondere, daß die Welt, genauer der Gesamtzusammen
hang der Welt, als lebendiger Organismus aufgefaßt wird. Das ist zweifellos na
turverhaftet, aber es ist doch auch schon ein abstrakter Begriff, der ein höheres
Reflexionsniveau voraussetzt, weil nur von diesem aus das Ganze der Welt kon
zipiert werden kann. Dieses Reflexionsniveau verdankt sich dem Animus. Die
Anima kennt »das Ganze« nicht. Sie kennt nur das Jeweilige, nur Phänomene.
Ficino macht die Zugehörigkeit der Anima mundi zum Animus als Geist aus
drücklich deutlich, wenn er wahllos (mehr der Tradition und der eingebürgerten
Wendung verpflichtet) Anima mundi und (mehr dem genauen Sinn verpflichtet)
Animus mundi sagt.
Umgekehrt ist auch Hegels offensichtlich wirklich geistiger Weltgeist
durchaus ebenfalls noch animahaft, insofern er noch von der sich der Anima
verdankenden Substantialität an sich hat: Er ist der Geist der Geschichte als
höchster Gegenstand, nicht ungegenständlich wahrhafter Geist (»absoluter
Geist« bei Hegel).
II. Der Geist als Akt. Solange der Animus als ein Wesen erschien, war
sein Wesen noch nicht wirklich sein eigenes. Er stand noch in dem Bann der
Anima, deren Anliegen es ist, Gehalte gegenständlich darzustellen, zu personifi
zieren und zu substantialisieren. Er war als Gestalt selber eine archetypische
Person in der »polytheistischen« Anima-Sphäre, in der Phänomenologie der
Seele. Der Animus für sich betrachtet ist jedoch reiner Akt. Seine ihm ganz ei
gentümliche Phänomenologie kann daher nicht die Phänomenologie von Gestal
ten sein. Der Animus manifestiert sich authentischerweise nicht als Bild, nicht in
der Weise der Imagination. Seine ihm spezifische Phänomenologie muß die
Phänomenologie dieses Aktes oder dieser Akte sein. Wir fragen also zunächst
nach der Natur der geistigen Akte.
A. Das logische Wesen der Akte
Wenn die Phänomenologie eine Phänomenologie der Akte und nicht von
gestalthaft Erscheinendem ist, dann verwandelt sich auch der Begriff der Phäno
menologie selbst. Sie wird »inniger«, »intensiver« (intensionaler), geistiger: sie
hört auf, die Frage nach dem Erscheinen des Geistes zu sein und wird zur Frage
nach dem logischen Wesen der Akte. Entsprechend können auch die Akte nicht
einfach beliebig aus der Erfahrung aufgelesen werden. Sie müssen schon aus
dem Wesen von so etwas wie »Akt« hergeleitet werden.
1. Position und Negation. Das Wort »Akt« verweist auf »aktiv« im Ge
gensatz zu »passiv«. Der Animus als Akt bedeutet also gegenüber dem zur Ani
ma gehörigen natürlichen Ablauf der Dinge, dem lückenlosen Strom des Ge
schehens, dem nahtlosen Gewebe der einfach »passierenden« Ereignisse die ei
genmächtige Tat, die nicht mehr einfach aus dem Geschehen hervorgeht und in
ihm aufgeht, sondern sich ihm entgegenstellt oder in es einschneidet. Der Ani
mus als Akt ist in allererster Linie Position, freie Setzung. Was heißt freie Set
zung? Es heißt willkürlicher Eingriff; nicht durch das Geschehen bedingte, son
dern wie aus dem Nichts plötzlich aufstehende Handlung. Zur Idee des Aktes
gehört, daß er einfach aus einem »Nullpunkt« heraus anhebt, nicht schon von
Früherem determiniert ist, sondern Anhub seiner selbst und Ursprung seiner
selbst ist: Prinzip im strengen Sinn. Der Akt der freien Setzung verdankt sich ei
nem Sich-Ermannen, einem Aufstand, einer »Erektion«. Es wäre einfach ein
Mißverständnis, wollte man dahinter zurückfragen, woher er käme, wodurch er
möglich sei. Dann hätte man schon den Begriff des Aktes verfehlt. Der Akt
fängt einfach an. Das verdankt er seiner Willkürlichkeit. (Von hier gehen offen
sichtlich Linien bis zu den theologischen und philosophischen Ideen der creatio
ex nihilo, des actus purus, der causa sui. Mit diesen Begriffen ist im Grunde nur
ausgesprochen, was das Wesen des geistigen Aktes ist.)
Der Animus ist Setzung. Er setzt mitten hinein in das Geschehen einen
Punkt, ein Mal. Er rammt einen Pflock ein, steckt ein Territorium ab, markiert
ein Zentrum. Das ist etwas Ungeheuerliches. Warum kann aus der an einem
Punkt aufgepflanzten Lanze tatsächlich ein Mittelpunkt werden, der um sich
hemm eine »Welt« organisiert, eine Ordnung, einen Kosmos stiftet? Mag er
noch so auffällig sein, natürlicherweise wäre er nur ein beliebiges gleich-
-gültiges Phänomen in der unendlichen Vielfalt der Phänomene. Warum geht er
nicht unter in der Jeweiligkeit all der gegebenen markanten Phänomene? Warum
vermag er sich tatsächlich entgegen der Phänomenalität der natürlichen Wirk
lichkeit, ja sogar gegen seine eigene Phänomenalität, als Punkt und Zentrum zu
behaupten? Denn die aufgepflanzte Lanze ist ja nicht wirklich ein »Punkt«, son
dern ein Ding, ein Phänomen. Daß sie doch ein »Punkt« wird, ist die Leistung
des Animus als Setzung.
Er macht es möglich, daß wir »Hier!« und »Jetzt!« sagen können und das
Wunder vollbringen, in dem, was doch von sich aus ein unablässiger Fluß des
Geschehens und eine kontinuierliche Ausdehnung des Raumes ist, tatsächlich
und völlig entgegen der natürlichen Faktizität einen (also nicht seienden, nicht
gegebenen, sondern frei gesetzten) Mittelpunkt zu erleben. Er vermag dem
Nichtseienden, dem Punkt, der Null, gleichwohl unerbittliche und alles beherr
schende Wirklichkeit zu verleihen. Weil der Punkt nicht natürlich gegeben, ja
überhaupt nichts Seiendes ist, haftet er auch nicht an etwas Faktischem. Der
Jetzt- und der Hier-Punkt wandern ihrer Geismatur gemäß mit, sie gehen sozusa
gen frei durch, unbehelligt durch die Stofflichkeit der Erfahrung.
Der Animus macht es uns auch möglich, »ich« zu sagen und damit uns
selbst tatsächlich als einen ausgezeichneten Punkt im lückenlosen Strom des Ge
schehens und Erlebens und ihm gegenüber zu erfahren. Auch dieser Punkt »geht
frei durch«. Das »Ich« als das Wissen unserer Identität hält sich durch entgegen
der natürlichen Wirklichkeit, die durch unseren unablässigen Wandel, seien es
ganz immerkliche kontinuierliche Veränderungen der Stimmung und des Älter
werdens oder abrupte, revolutionäre Umbrüche, bestimmt ist. Das Ich und die
Identität sind nichts Gegebenes. Sie haften nicht an etwas positiv Gegebenem
und hängen nicht von ihm ab. Sie sind frei gesetzt und besitzen gerade in ihrer
Freiheit von unserem stofflich gegebenen Dasein ihre machtvolle Wirklichkeit.
Genauso wie der Animus uns die Kraft gibt, »ich« zu sagen und aus diesem
Nichts eine Wirklichkeitsmacht zu machen, so befähigt er auch in bezug auf die
Welt um uns herum dazu, durch das »Dieses da« Phänomene aus der Jeweilig
keit herauszugreifen und dingfest zu machen. Der Animus als Setzung setzt sich
über das natürlich Gegebene einfach hinweg.
Darin liegt auch, daß er sich dem Gegebenen aufzwingt. Er ist Eingriff in
das natürliche Geschehen, Gewaltakt, Zugriff. Er ist Sich-Behaupten, auf das Ei
gene Pochen, willkürliche Herrschaft. Er will treffen, durchbohren, eindringen,
zeugerisch durchdringen: erkennen. Er will festnageln, aufspießen: dingfest ma
chen. Er sucht Eindeutigkeit, klare Verhältnisse. Er definiert und zwingt den
Phänomenen eine feste Identität auf. Er bestimmt und verleiht damit auch, wo er
wirksam wird, der Wirklichkeit im ganzen Bestimmtheit, feste Kontur, grie
chisch peras.
Indem er einen Punkt setzt, ist der Animus es auch, der die Kraft gibt, ein
Ende zu setzen: zum Schluß zu kommen, einen Entschluß zu fassen, sich zu ent
scheiden. Unter der Ägide der Anima gibt es keine Entscheidung. Da kann sich
immer nur ergeben, was sich im natürlichen Spiel der Kräfte als das jeweils
Stärkere erweist. Personen mit Entscheidungsschwierigkeiten sitzen in der Ani
ma und warten darauf, daß sich »das Richtige« oder »die bessere Lösung« von
selbst zeige. Und weil es da, wo es um die Notwendigkeit zu entscheiden geht,
gerade nicht das Richtige oder das selbstverständlich Bessere gibt, sondern Vor
züge und Nachteile bunt gemischt sind, sitzen sie da und warten und warten auf
etwas, was gar nicht kommen kann. Der Animus, wenn sie Zugang zu ihm hät
ten, würde sie lehren, selber hinzuzutreten und durch einen freien Eingriff mit
dem Hin und Her des Überlegens kurzerhand Schluß zu machen (Ent-schluß):
nicht, weil das Richtige gefunden wäre, sondern dadurch, daß mit einem Will
kürakt die eine Möglichkeit - durchaus auch auf die Gefahr hin, daß sie sich
später als die falsche erweisen wird - ergriffen und die andere radikal abge
schnitten, ausgeschieden wird. Es ist wie beim Glücksspiel. Man setzt auf ein
Feld, wo sich dann erst im nachhinein entscheiden muß, ob man gewonnen oder
verloren hat.
Der Animus ist so auch die Kraft, das eigene Leben einzusetzen - auch
ein Setzen! sein Glück und Wohlbehagen aufs Spiel zu setzen. Er sagt: »Und
setzet ihr nicht das Leben ein, nie wird euch das Leben gewonnen sein.« Er ist
die Bereitschaft zum Kämpfen, zum Standhalten, zum Widerstand. Er gibt
Standfestigkeit ebenso wie Mut. Er will nicht nur sein Eigenes durchsetzen und
es dem Leben aufzwingen, sondern auch im Sich-Behaupten sich selbst erhalten.
Es geht ihm u.a. auch um die Sicherung des Lebens im Unterschied zu der Ten
denz der Anima, sich zu verströmen, sich hinzugeben, sich treiben zu lassen. Er
ist oft auch Pragmatiker und die Kraft, die zur Realisierung von Vorhaben nötig
ist. Er steht hinter dem Willen zum Überleben, zum Durchstehen von Gefahren.
Er lehrt, den Stürmen des Lebens zu trotzen. Er fühlt sich durch das Geschehen
herausgefordert, nimmt die Herausforderung an und will ihm Paroli bieten. Er
nimmt das Gegebene nicht einfach hin, sondern ruft ihm sein Halt!, sein Nein!
entgegen. So ist er der Archetyp des Gegensatzes, der Entgegensetzung, der An-
dersheit. Er ist wesenhaft Widersacher (Klages: Der Geist als Widersacher der
Seele). Nur weil er schon aus der Andersheit und dem Gegenüberstehen heraus
erlebt, kann er sich überhaupt durch das, was geschieht, herausgefordert fühlen.
Mit dem Nein! kommen wir schon zum Animus als Negation. Sie erweist
sich, hinter der »Position« zu stehen. Denn ohne das Nein! zum Gegebenen hätte
sich der Animus nie zu einem wie aus dem Nichts anhebenden Akt aufschwin
gen können. Er hätte sich immer nur vom Fluß des Geschehens und vom Spiel
der Kräfte willkürlos treiben und bestimmen lassen können. Der Akt als Position
(Setzung) verdankt sich schon der Negation von dem, was einfach ist. Ja, er ist
immer schon in ihm selber diese Negation.
Die Negation geht aber nicht darin auf, die Setzung zu ermöglichen. Sie
hat auch ihre eigene Funktion. Sie ist nicht nur das unmittelbare Töten, Verwun
den, Einschneiden. Sie ist vor allem auch Abstraktion, Loslösung von dem sinn
lich Gegebenen, Entsinnlichung, Entgegenständlichung, Verdampfung. Hierher
gehören auch das alchemistische Destillieren und Sublimieren, die Essenz, das
fleisch- und blutlose Wesen, sowie die Funktion der Kritik. Der Animus schafft
Distanz. Er verwandelt Substanz in Funktion oder Struktur. Er hebt auf das Prin
zipielle und Grundsätzliche ab. Er raubt uns die Möglichkeit, unsere Gedanken
t über Gott und die Welt ontologisch (als Gedanken über Seiendes) zu nehmen,
it und läßt sie als in die Logik gehörend erkennen.
): 2. Scheiden und Zusammenhalten. Der Animus ist der Archetyp der
l sauberen Trennung, separatio. Er sieht sofort, wo Widersprüche vorliegen, und
h hält das einander Widersprechende dadurch auseinander, daß er jeden Aspekt
für sich auf eine Seite stellt. So schafft er klare Verhältnisse. Was für die Anima
n vielleicht gerade der Reiz des Komplexen und Paradoxen ist, erlebt er als uner
r trägliche Inkompatibilität. Er zieht Grenzen, teilt, unterscheidet, und zwar so,
daß auf jede Seite ein eindeutiger Begriff zu stehen kommt. Er kann das Schei
den freilich auch auf die Spitze treiben und dann spalten, dissoziieren und Brü
che verursachen. Statt des kontinuierlichen Flusses oder Übergangs gehört zu
ihm das Diskrete; die Digitalisierung statt des Analogen. Der Animus ist analyti
scher Denker.
Die Ur-Unterscheidung ist die zwischen gut und böse. Die Anima läßt die
Sonne aufgehen über Gerechten wie Ungerechten. Sie verteilt Licht und Schat
ten in freier Mischung, so daß eine farbige Wirklichkeit, die Welt der polythei
stischen Götter entsteht. Nicht so der Animus. Himmel und Hölle, Gott und Teu
fel, Entweder-Oder, schwarz und weiß, Erlösung oder Verdammnis - krasse Ge
gensätze und Alternativen sind sein Element. Man muß wählen. Nieman kann
zween Herren dienen, entweder Gott oder dem Mammon.
Er spricht nicht, schüttet nicht sein Herz aus, sondern er fallt Urteile (von
>teilen<!). Er entscheidet über richtig und falsch, wahr und unwahr. Er besteht
auf dem Wahren, dem Richtigen, das total von dem Falschen abgeschieden ist.
Er bewirkt, daß das, was seinen Standards nicht genügt, zum Irrationalen und Ir
realen eiklärt wird. (Für die Anima hat jedes Phänomen seine ihm eigene Wahr
heit; »das« Wahre wäre für sie eine sinnlose Wortzusammenstellung.)
Aber der Animus ist auch das Gegenteil von dem Trennen. Er ist das Zu
sammenhalten oder Festhalten. Ihm geht es um das Eine, um das Ganze. Er hält
das Diverse und Gegensätzliche fest und schaut das Mannigfaltige zusammen.
Er erlaubt dem Mannigfaltigen nicht, in die beliebige Vielheit des sich selbst ge
nügenden Jeweiligen auseinanderzufallen, des Jeweiligen, das immer frisch an
fängt, so herrlich wie am ersten Tag, und »alles in sich hat, dessen es bedarf«.
Das Einzelne als Jeweiliges im Sinn der Anima ist immer eine (logisch) in sich
geschlossene, »vollkommene« Welt.
Es ist sofort ersichtlich, daß das Trennen und das Zusammenhalten zu
sammengehören. Ohne das Zusammenhalten kein Scheiden. Das Eine, td Mn,
»die Einheit der transzendentalen Apperzeption« usw. ist (als der bei allem
Scheiden festgehaltene rein geistige, nicht seiende Bezugspunkt) die Vorausset
zung der analytischen Zergliederung. Das Trennen bedarf des Zusammenhaltes,
weil dann, wenn kein Widerstand gegen das Trennen und kein Zusammenhang
bestünde, einfach ein Zerfall in das bloße beziehungslose Vierlerlei stattfinden
würde. Für den Animus gibt es einen einzigen Weltzusammenhang: die Welt,
das »Uni-versum«, und es gibt einen einzigen geschichtlichen Zusammenhang
und einen einzigen Argumentationszusammenhang, nicht bloß das Nebeneinan
der und Nacheinander der vielen einzelnen Meinungen, Ereignisse, Bilder oder
Geschichten. Die Annalen und Geschichtschroniken gehören mit ihrer Aneinan
derreihung der res gestae (»Item es geschah aber in demselben Jahr...«) in die
Animawelt der Jeweiligkeit; erst wo die Geschichte als ein einziger Zusammen
hang begriffen wird, tritt der Animus auf die Bühne. Das Einzelne ist, wo er
herrscht, nicht jeweilig, sondern integraler Bestandteil des ganzen Systems. Es
hat seinen Sinn nicht in sich, sondern nur kraft seiner Stellung im Ganzen. Der
Animus ist Synthetiker und Systematiker. Er baut aus den Einzelfakten das Gan
ze auf und leitet zugleich aus dem Ganzen das Einzelne ab (Konstruktion, De
duktion). Er versucht das Ganze zu umfassen und über den Dingen zu stehen, ei
nen Überblick zu gewinnen. Er ist es, der, sich geistig über die Welt und die In
ständigkeit in ihr erhebend, die ersten Weltkarten zeichnete. Er gliedert, unter
teilt und ordnet nach Genus und Spezies.
Weil es einen einzigen Zusammenhang gibt, kann verglichen werden. Es
können Unterschiede und Ähnlichkeiten festgestellt werden. Und es kann gefol
gert werden. Man kann Schlüsse ziehen, und man kann für sich selbst die Kon-
zequenz aus etwas ziehen. Der Animus ermöglicht so das Lernen als Lernen aus
Erfahrung, aus den eigenen Fehlem. Nur der Animus kann »seine Erfahrungen
mit etwas machen«. Für die Anima wäre jeder Fehler viel eher einfach nur eine
neue (jeweilige) Enttäuschung. Hundert Enttäuschungen führen bei ihr noch
nicht zu einer einzelnen Ent-Täuschung im Sinn einer gewonnen neuen Erkennt
nis oder Einsicht. Sie lernt nicht. Doch damit berühren wir schon das nächste
Thema.
3. Reflexion und Selbstverhältnis. Nach Albertus Magnus ist der Silber
spiegel empfängliche Feuchtigkeit [das ist für uns sein lunarer Anima-Anteil].
Aber diese Feuchtigkeit des Silbers setzt zugleich einen »Terminus«, also einen
Widerstand, eine Festigkeit, und ist daher polierbar.1 Das ist ein Bild der Refle
xion. Die Feuchtigkeit, die für die Bilder aufnahmebereit macht, bedarf zugleich
ihres Gegensatzes, nämlich eines Grenzpunktes, der Solidität verleiht, so daß
das feuchte Element des Silbers poliert werden und widerspiegeln kann. Würde
das Bild einfach auf die empfängliche Feuchtigkeit treffen, dann würde es in ihr
versinken. Die feste Widerständigkeit erst macht das an sich feuchte und gren
zenlos aufnahmebereite Silber zum Spiegeln tauglich.
In dieser Widerständigkeit finden wir die Kraft des Animus. Er hält fest
und gibt dem Jeweiligen durch den Bezug auf das Eine Festigkeit, wodurch es
aufhört, noch Jeweiliges im eigentlichen Sinn zu sein. Der Animus ermöglicht
also die Reflexion. Seine kritische Energie stößt nicht ins Leere. Er selber be
In dem vorliegenden Kapitel über den Geist als Akt haben wir bisher die
Akte, als welche der Animus ist, besprochen. Wir kommen jetzt zu einem zwei
ten Teil dieses Kapitels, wo es um die »Aggregatzustände« der Akte geht. Der
selbe geistige Akt kann in verschiedener »Dichte« oder in verschiedenen Me
dien von je anderer Dichte auftreten.
1. Die rituelle Tat. Das ursprüngliche Medium geistigen Handelns oder
der Stoff, an dem es sich vollziehen konnte, dürfte das rituelle Handeln gewesen
sein. Damit ist jenes buchstäbliche Handeln gemeint, das nicht darin aufging,
buchstäblich (technisch-praktisch) zu sein, sondern an ihm selbst schon logi
sches Tun war. Es hatte zusätzlich zu seinem praktischen Zweck auch einen
geistigen Sinn, der aber kein Zusatz, sondern Ursprung und Mitte des Aktes war.
Eine der ältesten rituellen Akte war die Großwildjagd. In der Altsteinzeit wurde
der nur im Feuer gehärtete Speer benutzt. Wenn Gehrts z.B. über die urtümliche
Jagdsituation sagt: »Sobald sich das Jagdtier zeigt, erhält die Wildnis Sinn und
Richtung. Die Wunde des Tieres, vom geschleuderten Speer erzeugt, setzt eine
zeitweise lebenspendende Mitte«3, so finden wir darin ein Beispiel für den
Animus-Akt des Setzens. Wurde dann der noch vom Blut feuchte Speer im Dorf
aufgepflanzt, dann wurde er zum Mittenmal eines so erst erstehenden Mundus,
um das herum sich das wirkliche Leben der Dorfgemeinschaft organisierte.
Nach Nilsson4 war der älteste und wohl am weitesten verbreitete Kult des
Hermes (dessen Namen nach ihm wie schon nach K.O. Müller und Preller »Der
vom Steinhaufen« bedeutet), daß jeder an einem von früheren Wanderern be
gonnenen Steinhaufen Vorübergehende einen Stein auf den Haufen legte (ein
übrigens in aller Welt verbreiteter Brauch). Auch hier ein Akt des Setzens, der
Markierung.
Bei der Anlegung eines Siedlungsplatzes wurde z.B. in der Griindungssa-
ge von Rom der ausersehene Platz rituell umpflügt und so eingehegt. Eine tren
nende Grenze zwischen drinnen und draußen war in die zuvor ortlose offene
Weite gezogen, ein menschlicher Raum geschaffen.
Der Animus als Eingriff in das bloße Geschehen, als Negation, als Sich-
Zueigenmachen und als Aufhebung des Natürlichen zeigt sich z.B. im Opfertö
ten, im kannibalischen Mahl oder im Verbrennen der Leiche. Im Brechen des
Stabes durch den Richter beim Todesurteil erkennen wir einen Animus-Akt wie
ebenso in unzähligen in alten Rechtsbräuchen enthaltenen Akten und wie in den
Operationen der Alchemie. Das muß hier nicht weiter ausgeführt werden.
Entscheidend für uns ist nur die Einsicht, daß in diesem und als dieses ri
tuelle Tun sich wirklich der Animus, der Geist, ereignete. Der Geist lag in dem
Vollzug des Aktes, nicht in einem außerhalb des Aktes bestehenden Bewußtsein,
das durch das Ritual ein zuvor schon Gedachtes oder Erlebtes nur nachdrücklich
hätte »ausdrücken« oder »in die Praxis umsetzen« wollen. Nein, zur Wirklich
keit der Rituale gehört, daß sie wirklich ihren geistigen Sinn gerade nur in ihnen
haben und überhaupt erst durch ihren Vollzug erzeugen. Das ganze Bewußtsein
des frühen Menschen ereignete sich »außerhalb« von ihm (außerhalb von sei
nem Kopf) in dem wirklichen Tun, das nur deshalb die außerordentliche Bedeu
3 Heino Gehrts, »Vom Wesen des Speeres«, Hestia 1984/85, Bonn (Bouvier Verlag Herbert
Grandmann) 1985, S. 71-103, hier S. 95f.
4 Martin P. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion, Handbuch der Altertumswissenschaft
V.2.1,3. Auf!., München (Beck) 1967, S, 503ff.
tung für Jahrtausende des Menschsems haben und die Menschen mit Sinn erfül
len konnte, weil sein Sinn nur durch dieses Tun zu erreichen war und nicht auch
außerhalb bestand.
2. Das Dingsymbol. Der Geist kann dann auch in den Ritualgeräten und
den durch das Ritual hergestellten Dinge selber liegen. Der gesetzte Steinhaufen,
der aufgepflanzte Speer des Jägers oder die Lanze des Kriegers, die tödlich
dreinfahrende Axt des Opferers, das trennende Schwert, das schneidende Mes
ser, der durchbohrende Dolch, der die Identität des Menschen enthaltende Stab,
der sich aufrichtende, aufgerichtete und eindringende Phallos, um nur einige
ganz wenige Beispiele zu nennen, sie alle tragen den Geist in sich. Die Logik
der Akte war in sie investiert, von ihr waren sie erfüllt. Nur deswegen sind sie
symbolisch aufgeladen. Auch hier wäre es völlig verkehrt, zu meinen, sie wären
nur Symbolisierungen von einem zuvor schon bekannten und außerhalb ihrer im
menschlichen Bewußtsein wohnenden Sinn. Dann wären sie eben nur das gewe
sen, was sie vom modernen Bewußtsein aus in der Tat zu sein scheinen, über
flüssige, nichtige Veräußerlichungen eines eigentlich Inneren. Sie hätten nie ein
Menschentum wirklich mit Sinn erfüllen können. Es war aber genau umgekehrt.
Lange bevor die Menschen ihr Bewußtsein in sich trugen, hatten sie es »drau
ßen« zuerst als zeitliches Geschehen in den rituellen Handlungen und dann
dinglich-stofflich in den Zeremonialgeräten.
3. Der spontane Affekt oder Impuls, die psychische Emotion. Im
Schrecken, im Ekelgefühl, im plötzlichen Wutaffekt, im schlechten Gewissen
oder Schuldgefühl, im Gefühl der Peinlichkeit, im Zweifeln, in der Trotzreak
tion, im verletzten Stolz, in der Selbstbeherrschung usw. macht sich der Animus
in je anderer Weise spontan bemerkbar. Er kommt so einfach über den Men
schen. Er bewirkt eine Trennung, Distanz, Abwehr, Selbstbehauptungstendenz,
Dissoziation. Hier ist der Animus zum ersten Mal im Menschen selbst wirksam.
Auch z.B. die Impotenz kann als Animus-Manifestation gesehen werden: sie er
zwingt eine Verabschiedung des Begehrens und des Aufgehens in der Erfahrung
der Vereinigung und der Lust. Begehren und Lust gehören zur Anima. Dagegen
stammt die sexuelle Aggression, die Vergewaltigung, der Sexualmord, aus dem
Animus. Hier will er sich seinem Anderen aufzwingen, es durchbohren, zerstük-
keln. Im Geiz macht sich der Animus geltend als das Festhalten. Auch dies nur
einige Beispiele, die eine Vorstellung von diesem »Aggregatzustand« des Er
scheinens des Geistes durch Andeutungen evozieren sollen.
4. Die Verstandeshandlung. Jetzt erscheint der Animus als Denken, als
Schließen, Begreifen, Analysieren, Urteilen, Vergleichen, Unterscheiden, als
Reflexion und Selbstreflexion. Ebenso als die Bewußtseinsakte des Sich-
Entschließens, des Wollens, des Planens, des Ziele Setzens, der Entsagung, des
Verzichtens, der Selbstdisziplin usw. Damit ist auch der »Aggregatzustand« des
Geistes seinerseits geistig geworden.
5. Geistigkeit Hier ist der Punkt erreicht, wo der Geist als Akt sich selbst
transzendiert und sich als logische Bewegung durchsichtig geworden ist. Wir
haben dies schon berührt in den Ausführungen zu der »IV. Stellung der Seele zu
ihrer Erfahrung ihres Anderen«. Da diese Stufe geschichtlich noch nicht als ab
geschlossene vor uns liegt, wie dies bei den anderen der Fall ist, da sie sich viel
mehr nur mehr ahnungsweise abzeichnet, begnüge ich mich mit diesem Hin
weis. Die folgenden beiden Kapitel führen dieses Thema wenigstens ein wenig
weiter.
HI. Der Geist als Stufe, als logischer Charakter des Inderweltseins.
Solange der Animus als Akt auftrat, war er an die tatsächliche Ausübung der
Akte gebunden. Das Zeitalter der Aufklärung z.B., das als das deutlichste Bei
spiel der Animus-Stufe gelten darf, war eine Manifestation des Animus nur des
wegen, weil Tausende von Menschen immer wieder neu von ihrem Verstand im
Sinn einer Kritik der Tradition und einer Destruktion der »irrationalen« Imagi
nation (Mythos, natürliche Theologie, Brauchtum) Gebrauch machten. Der Ani
mus lebte in den real ausgeübten Denkakten, und er erschien immer nur in die
sen besonderen Akten. Es gibt jedoch auch eine Manifestation des Animus, die
nicht mehr davon abhängig ist, daß Menschen bestimmte geistige Akte ausüben,
ganz gleich ob als rituelle Tat, als Affekthandlung oder als Verstandeshandlung.
Wir leben in der Zeit, in der dies sichtbar wird. Der Animus erscheint in unserer
Zeit unabhängig von uns und von besonderen Akten in einem Allgemeinen: in
dem Geist der Zeit, in der »Luft«, die wir atmen, in dem Element, in dem sich
das Leben unserer Zeit abspielt, in dem logischen Charakter unserer heutigen
Welt.
Was Marx einmal sagte: »Alles Ständische und Stehende verdampft, alles
Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebens
stellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen«, das
ist heute längst Wirklichkeit geworden. Die ganze Anima-Welt ist aufgehoben.
Die Natur ist nicht mehr die allbeherrschende Macht, sie ist vielmehr darge
stellt, fundamental in ihrem Bestand bedroht zu sein. Die Natur wird gespen
stisch, weil sie eigentlich als längst Gestorbene doch noch ihr Wesen zu treiben
scheint. Freizeitparks und Schaugehege für nicht einmal nur exotische, sondern
auch einheimische, ja ehemals auf jedem Bauernhof gehaltene Tiere, zeigen,
wohin die Natur heute eigentlich gehört.
Die Welt, in der wir Menschen leben, ist längst eine außerordentlich
künstliche. Wir leben in Betonhäusem, mit Kunststoffen, in künstlichem Licht,
mit transplantierten Organen und Retortenbabys. Es geht heute um die fabrikmä
ßige Herstellung von neuen Organismen, die durch Genmanipulation »erfun
den« und offiziell patentiert wurden. Durch die Atomphysik hat sich theoretisch
die Ebene, auf der wir die Welt begreifen, fundamental verlagert. Die gestalthaft
wahrnehmbare Natur ist zur Unsinnlichkeit der Elementarteilchen und zur Ab
straktheit von Formeln verdampft worden. Es gibt heute »microengineering«, es
werden ganz neue Stoffe (Keramik usw.) nach Bedarf künstlich hergestellt. Die
Medizin arbeitet mit Laser- und anderen Strahlen und mit Hilfe von Computer
berechnungen und Computerbildem. Kraft der Elektronik hat sich das eigent
liche, pulsierende Leben unserer Zeit, nämlich der Geldverkehr und der Infor
mationsfluß, in die Feme, Unanschaulichkeit und vor allem Immaterialität der
elektronischen Datenübertragung, der Femsehwellen, der durch Satelliten ver
mittelten drahtlosen Kommunikation zurückgezogen.
Wenn wir heute über Satelliten im Weltraum miteinander kommunizieren,
dann ist die Aufgehobenheit der natürlichen und direkten Kommunikation ge
genständlich vor Augen geführt. Wir sehen unsere Erde vom Weltraum aus, was
zeigt, daß wir logisch nicht mehr auf der Erde wohnen, sondern unseren eigent
lichen Standort jetzt im Weltraum haben.
Aller Sinn, den die Sitten, Bräuche, die Tradition und die Religionen einst
gaben, ist verdampft. »Jeder soll nach seiner Fafon selig werden.« Die Beliebig
keit des seit langem bestehenden und sich heute »postmodem« gerierenden Plu
ralismus der Sinngebungen ist offenbar. Man redet heute von den »Sinnangebo
ten«, welche Rede eine contradictio in se ist und unmißverständlich klarmacht,
daß der Sinn eine Ware auf einem Markt geworden ist, auf dem verschiedenste
Gruppierungen oder Einzelpersonen um Marktanteile kämpfen. Sinn wird ver
kauft und gekauft: auf englisch kann man sagen: »I (don’t) buy it«, auf deutsch
»nimmt man jemand dies (nicht) ab«. Die Sinnangebote müssen »präsentiert«,
anziehend aufgemacht, »verpackt« werden. Es ist eindeutig: in dem Augenblick,
wo es »Sinnangebote« gibt, ist Sinn obsolet. Denn wirklicher Sinn ist unaus
wechselbar gegeben. Er ist, was er ist, einzig dadurch, daß man keine Wahl hat,
weil er der Sinn ist, der das Leben einer Gemeinschaft tatsächlich und wirklich
und fraglos trägt. Natürlich wird auch der Sinn, den die Jungsche Psychologie
bietet, brutal vermarktet, nur daß sich diese brutale Vermarktung gerade der Stil
form einer »sanften« und »edlen«, aber gerade als solche erfolgreichen Ver
marktung bedient.
Auch die Werte sind weitgehend zerfallen. Daß sie das Leben nicht mehr
wirklich zu tragen und zu binden vermögen, zeigt sich besonders an der Zunah
me der Süchte. Eine innere Haltlosigkeit und ein Zynismus machen sich breit.
Gewalt als Selbstzweck oder vielmehr als Mittel, sich selbst intensiv zu spüren,
wird entdeckt. Immer mehr erweisen sich Menschen als käuflich. Für Geld ver
kaufen sie ihre Firma, ihren Stolz, ihre Selbstachtung, ihre Scham.
Geld erweist sich als der einzige noch authentische Wert. Aber Geld ist
seinerseits immer schon die Aufgehobenheit der Werte. Es ist der absolute: der
von allem konkreten Wert losgelöste Wert, ganz abstrakt »Wert an sich«, als
Selbstzweck (ganz ähnlich wie l’art pour l’art). Es ist nicht mehr der Wert von
etwas. Ein gewaltiger Prozeß ist dabei, heute möglichst alles in unserer Welt in
Geld zu übersetzen, d.h. als in ihm selbst Bedeutsames zu verdampfen zur Ab
straktheit der Geldform des je so Verdampften. Am deutlichsten wird uns dies in
der Kunst vorgeführt: Unvorstellbare Summen werden für bestimmte Kunstwer
ke gezahlt, der Geldwert setzt sich an die Stelle des Wertes des Werkes.
Auch die ganze »Kultur« ist längst ausgehöhlt, und die Aushöhlung wird
dem Bewußtsein immer neu vorgeführt: als Touristenattraktion, Folkloredarbie
tung, als Fernsehprogramm, als Objekt der Fotografiersucht. Kunst gehört heute
ins Museum, sie wird in Ausstellungen gezeigt, was seinerseits zeigt, daß sie
keinen Platz im wirklichen Leben hat. So wie schon lange Mythen und Märchen
zur Sache der Kinder abgesunken sind, so ist Kultur eigentlich nur noch Frei
zeitbeschäftigung. Das Phänomen »Disneyland« offenbart die Wahrheit über die
Kultur heute. Das verkleinerte Imitat in Modell-Größe setzt sich an die Stelle
des Originals, und das Original wird dann auch selbst schon disneylandhaft be
sichtigt. Im Herumlaufen mit der Kamera auf der Suche nach der zu fotografie
renden Sehenswürdigkeit erarbeitet sich die Seele die Verabschiedung der Un
mittelbarkeit, mit der sie sonst Kunstwerke und andere Kulturgüter betrachtet
hätte. Dabei muß man gar nicht selber mit einer Kamera herumlaufen. In der
Kamera wird lediglich die Weise, wie wir heute generell sehen, ausdrücklich ge
macht: wir sehen die Attraktionen immer schon über die Vermittlung des in der
Fotografie fixierten Anblickes an. Fernsehen, »Kulturveranstaltungen«, Lektüre:
sie dienen dem Verzehr von seiten des Konsumenten.
Gewöhnlich erklingt darüber ein kulturkritisches Jammerlied. Ich möchte
jedoch dieses zweifellos pathologische Bild, das unsere Zeit abgibt, nicht ein
fach abwerten (verurteilen). Ich sehe in eben dem, was aus der Perspektive der
Anima eine furchtbare, unerträgliche Symptomatik ist - die Symptomatik der
ökologischen Entfremdung von der und Ausbeutung der Natur, der Destruktion
der natürlichen »Lebenswelt«, der inneren Zerrissenheit der Menschen, des
Sinn- und Traditionsverlusts, der Vermarktung des Heiligsten, der Verdampfung
aller Werte und Kulturgüter - , eine eigenständige Manifestation des Geistes und
eine Leistung des Animus. Der Animus zeigt sich nicht in der Weise der Positi-
vität. Er ist Negativität und dringt an in der Form der Abwesenheit, des Entzugs,
des Verlusts, der Gebrochenheit, der Abstraktion.
Der Geist hat sich nämlich mit den geschilderten Phänomenen die irrever
sible Einsicht erarbeitet, daß er nicht Natur, nicht ein natürlich Seiendes ist, son
dern gerade nur als die Aufhebung der Natur sein »Sein« hat. Der Mensch lebt
nicht im Sein, nicht in der Natur, sondern er lebt im Geist als seinem ureigensten
Element: im Geist als Seele oder Sprache, im Geist als Goldgrund oder
Schwarzer Kasten. Das war zwar schon immer so, aber durch die neuen Ent
wicklungen hat er sich diesen Sachverhalt unmißverständlich klargemacht und
sämtliche Brücken, die zu einem naturalistischen oder animahaften Mißver
ständnis seiner Situation zurückführen könnten, hinter sich abgebrannt. Der
Geist hat sich diese Erkenntnis seines eigenen Seins nicht in der Form einer phi
losophischen Lehre oder einer subjektiven Einsicht einzelner oder vieler
Menschen erarbeitet, sondern objektiv. Jedoch, gerade weil es eine objektive
Einsicht ist, kann sie subjektiv abgewehrt werden. Das subjektive Bewußtsein
sperrt sich gegen die objektiv dargestellte Wahrheit der Zeit, nämlich daß die
Zeit eine Zeit des Geistes ist, und will die schöne Anima-Welt, die doch seit
langem obsolet ist, festhalten oder restituieren. Es flüchtet sich in Fundamenta
lismus, in Nostalgie, in puritanische alternative Bewegungen und in »recovery
groups«.
Aber mit diesen Formen der Abwehr schreibt sich das Bewußtsein gerade
nur immer weiter die Hohlheit des fundamentalistisch, nostalgisch oder purita
nisch Konservierten ein. Es führt sich nur umso eindrücklicher die innere Gebro
chenheit all der Glaubensinhalte, Werte, Lebensformen vor. Die Abwehr be
treibt, ohne es zu wissen, das Geschäft dessen, was sie abwehren will. Der Fun
damentalismus muß ja nicht bekämpft werden. Er führt, wenn auch auf langen
und schmerzlichen Umwegen, sich selbst ad absurdum, weil er in seinem Dog
matismus und in seinem Eifern den Beweis erbringt, daß der von ihm als heil
behauptete Sinn gar nicht wirklich tragendes Fundament ist, sondern künstlich
behauptet, geflickt und verteidigt werden muß, vielleicht sogar mit Waffenge
walt.
Warum die Abwehr? Worum geht es bei ihr überhaupt? In dieser Abwehr
versucht das Bewußtsein mit aller Gewalt, an der Bewußtseinsstufe der Vergan
genheit, von der es selbst spürt, daß sie unwiderruflich obsolet ist, festzuhalten.
Es ist die Stufe, auf der auch der Geist in natürlicher Form, sei es als besondere
Akte, sei es als das die Gehalte der Anima-Welt belebende Prinzip, gegeben
war. Alles ist das Bewußtsein bereit hinzunehmen, jede interne Veränderung, je
den internen Verzicht, nur nicht den Tod seiner selbst. Der Untergang der Stufe
des natürlichen Bewußtseins bedeutet aber den Tod dieses Bewußtseins über
haupt. Obwohl es nur zu genau weiß, daß schon längst eine neue Bewußtseins
stufe, die Stufe, die ihrer logischen Form nach selbst Geist ist, sich ins Werk ge
setzt hat und überall um uns herum aus unseren Geräten und Institutionen uns
anblickt, versucht es krampfhaft, und wohl in panischer Angst, sich selbst da
durch zu erhalten, daß es das Neue mit den Begriffen und Kategorien des alten
Bewußtseins ausdrückt, um das Neue dadurch in das alte hinabzuzwingen, auf
dieses reduzieren.
Das Bewußtsein verharrt dann in der Situation des Blaubart-Märchens. Es
schreckt zurück vor den Leichen in der Kammer, die es gleichwohl längst gese
hen hat und die sich durch nichts wieder lebendig machen lassen. Es erlebt das
Andrängen des Geistes nur als blanken Blaubart-Mord. Und vor Blaubart »kann
man nur fliehen«. Aber wir wissen schon, daß das Mädchen vor ihm gerade
nicht wirklich fliehen kann und daß es sich an dem Widersprach zwischen dem
unbedingten Fliehenwollen und dem panischen Gelähmtsein angesichts des
messerwetzenden Blaubart aufreibt und als das unschuldige Mädchen seinen
Untergang erleidet, so daß es gerade den Weg zu der neuen Stufe frei macht.
Das »vor ihm kann man nur fliehen«, das aber als äußere, positive Flucht un
möglich ist, erzwingt, daß die Flucht in absolut negativer Er-innerang sich nach
innen, gegen das Bewußtsein selbst wendet: zum Verschwinden dieses Bewußt
seins wird.
Die panische Flucht des natürlichen Bewußtseins tiefer in sich selbst hin
ein läßt sich an einem Kuriosum verdeutlichen. In allem Emst und mit viel In
brunst wird heute, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, von einigen diskutiert, ob
Gott, der Gott der jüdisch-christlichen Tradition, männlich oder weiblich sei.
Vor dreitausend Jahren mag diese Frage einen logischen Sinn gehabt haben, in
sofern als damals der Mythos der Geschlechter noch intakt war. Heute ist sie ab
surd. Nicht nur ist diese Frage längst in der Geschichte entschieden worden, so
daß es müßig ist, daran nachträglich noch etwas auszusetzen. Vor allem gilt aber
auch zweierlei: 1. Der Geschlechtergegensatz ist längst obsolet. Er ist abgesun
ken zu einer bloß-biologischen, also banalen Tatsache, ohne logische, psycholo
gische, metaphysische Bedeutung. Gott kann sich gar nicht auf »die Frauen«
oder »die Männer« beziehen, weil die Männer und Frauen, als mythisch-theolo
gisch bedeutsame Idee, verdampft sind. Wir leben im Zeitalter des Unisex. So
wie in der Religion jeder nach seiner Fafon selig werden darf und damit die Ob-
soletheit der Religion offen zutage liegt, weil ihr der Charakter, die wirkliche
Wahrheit auszudrücken, allgemeinverbindlich abgesprochen ist, so kann heute
auch jeder nach seiner Fafon in punkto Geschlechtlichkeit leben: hetero- oder
homo- oder bisexuell oder abstinent, verheirat, unverheiratet in fester Paarbezie
hung, in vielen lockeren oder in gar keiner Beziehung. Es ist einerlei, dem Belie
ben des einzelnen anheimgestellt. Das Bewußtsein ist längst zu dem Begriff des
Menschen fortgeschritten. Der Mensch jedoch ist —logisch - nicht männlich
oder weiblich. Er ist Geist oder Selbstbewußtsein. 2. Gott, als der Gott des na
türlichen Bewußtseins, ist tot. Das ist nicht nur die private Meinung eines Herrn
Nietzsche, das ist die Wahrheit der Zeit. Gott hat sich in der gesellschaftlichen
Wirklichkeit längst dazu fortbestimmt, Geld zu sein, und in seiner Wahrheit da
zu fortbestimmt, Geist und Liebe zu sein. Mit dem Atavismus der Frage nach
dem Geschlecht Gottes gelingt es dem Bewußtsein, an seinen natürlichen Kate
gorien festzuhalten.
Freilich, all diese auf Selbsterhaltung des natürlichen Bewußtseins ausge
richteten Bestrebungen sind bloße kuriose Randerscheinungen, zwar sich laut
stark zu Wort meldend, aber von dem »mainstream« der gesellschaftlichen Ent
wicklung längst überholt. Das herrschende Bewußtsein, das sich in Industrie,
Wissenschaft, Bankwesen artikuliert und Träger des wirklichen Seelenlebens
heute ist, steht wo ganz anders. Es hat sich längst auf die Stufe der standhaften
Müllerstochter aus dem Räuberbräutigam-Märchen gestellt und betreibt geradli
nig und aufrichtig, wenn auch ohne Bewußtsein, den Fortschritt in die Geldstufe
des Geistes und den ihr entsprechenden Zynismus-Nihilismus.
IV. Der Geist als Liebe. Jung hat den Gegensatz von Anima und Animus
u.a. auch als den von Eros und Logos betrachtet. Die Liebe, das Gefühl, die Be
ziehung fallen nach ihm auf die Seite der Anima. Der Animus dagegen erfüllt
sich, als Logos und Pneuma, nach Jung gerade in der Erfahrung von Sinn. Wie
kann nun hier der Animus oder Geist als der Archetyp der Liebe hingestellt wer
den? Damit gerät alles durcheinander.
Um die entstandene Verwirrung aufzulösen, sind zwei Operationen nötig.
Erstens trennen wir Animus und Sinn. Die Sinnerfahrung gehört in die Domäne
der Anima. Sie ist Transzendenzerfahrung. Die Anima zieht aus der Alltags
wirklichkeit hinaus in die Sphäre der Ahnen, des Religiösen oder Metaphysi
schen, der Archetypen. Der dort erlebte geistige Sinn verbindet dann aber gerade
mit dem wirklichen Leben und der Welt hier und jetzt. Er erfüllt und trägt. Man
hat dann etwas, woran man glauben kann. Es erhält und stabilisiert das Inder
weltsein. Der Sinn ist positiver Sinn-Gehalt.5 Der Animus oder Geist dagegen ist
Negativität. Er produziert keine Gehalte. Er stiftet keinen Sinn. - Die zweite
Operation ist, daß wir Liebe und Liebe unterscheiden. Zur Anima gehört die
Liebe als erotische Liebe, als natürliches Gefühl und Begehren. Sie möchte das
Geliebte haben, besitzen, mit ihm vereint sein, sich ihm hingeben, in ihm ihre
Erfüllung finden. Im äußersten Fall gilt auch, ja gerade, für die Liebe unter der
Ägide der Anima, daß sie »ruchlose Natur« ist. Die Liebe, die der Geist ist, ist
eine ganz andere. Sie hat kraft ihrer Negativität nichts mit Leidenschaft, Begeh
ren und Lust zu tun. Sie ist nichts Natürliches. Sie ist im Gegenteil etwas höchst
Unnatürliches. Sie ist Liebe, wie sie besonders im Neuen Testament als der Hei
lige Geist angesprochen wurde.
Wir haben hier die Schwierigkeit, daß wir von etwas reden, was - ge
schichtlich gesehen - noch weitgehend unbekannt ist. Der Geist als Gestalt, der
Geist als Akt, der Geist als Stufe der Geistigkeit, die sich in der Abstraktheit des
Geldes als des spiritus rector in ausgezeichneter Weise manifestiert, - all das
sind uns zugängliche Formen des Erscheinens des Geistes, weil sie geschichtlich
bereits realisiert sind. Der Geist als Liebe ist noch keine geschichtlich geworde
ne Realität. »Dieser Zustand kann noch nicht ganz verstanden werden. Es han
delt sich um eine reine Antizipation.«6 Wir stehen bestenfalls an der Pforte zu
der Stufe, auf der der Geist als Liebe sein kann. Es beginnt sich —vielleicht - be
reits abzuzeichnen, daß das Bewußtsein in eine neue Stufe eintritt. Unsere Aus
führungen dazu müssen entsprechend dem antizipatorischen Charakter knapp
und nüchtern bleiben, weil das Reden über das, was noch erahnte Zukunft ist, an
5 So ist es nur vom Animus her gesehen bzw. nur für die im tiefsten bereits obsolete Animastufe.
Eigentlich besitzen, wie oben ausgeftihrt wurde, auch die Symbole der Animastufe Negativität,
Gefäßcharakter, und sind sie nicht Gegenstände eines Glaubens. Sie erfüllen auch nur negativ, als
selber in die Flüssigkeit des logischen Lebens der Seele hinein »Verschwindende« und »Hinein
ziehende«.
6 C.G. Jung, Briefe Bd. II, S. 354, vom 24. XI. 1953, an Victor White.
ders leicht sentimental und kitschig werden und weil die Rede durch das ge
ringste Pathos einen predigerhaften Klang bekommen könnte.
Wir stehen an der Pforte zu der Stufe, in der der Geist der Liebe herrschen
kann. Geschichtlich ist zwar das »Geld« als die Abstraktion von allem Sinn und
Wert und als die Verdampfung oder das alchemistische Destillat der ganzen na
türlichen Anima-Welt die höchste Verkörperung des Geistes. Aber diese bisher
höchste Form zeigt den Geist gerade in seinem Unwesen. Seine Negativität ist
hier durch den Einfluß der Anima fixiert worden. Sie ist zum buchstäblich Nega
tiven des Nihilistischen verfestigt worden. Das Geld, einst Gold, hat sich zwar
über den Geldschein bis hin zum bargeldlosen Zahlungsverkehr und zur Kredit
karte immaterialisiert. Gehälter werden heute nicht mehr ausgezahlt. Weder er
hält der Lohnempfänger noch etwas, noch gibt die Firma etwas weg. Das einzi
ge, was geschieht, ist, daß elektronisch einige Datenbits verändert werden. Das
Geld ist also schon in den Status einer reinen Idee, des reinen Scheins gebracht,
bzw. es ist objektiv dargestellt, in diesem Status zu sein. Aber von diesem
Schein kann der Gehaltempfänger tatsächlich leben. Dieses Wunder zu sein, das
Wunder nämlich, als Schein Realität (hier Kaufkraft) zu haben, das ist der Geist.
Aber das Geld, mag es auch noch so sehr zur Immaterialität verdampft
sein, ist immer noch »Etwas«. Es ist gerade das Immaterielle als Etwas, als Sub
stanz. Es ist äußerst real. Es ist noch nicht wahrhaft Geist geworden: es hat nur
alles Natürliche nach und nach in sich reflektiert, aufgehoben, außer Kraft ge
setzt, aber es hat sich selbst noch nicht reflektiert. Es behauptet noch seine
Macht als Gewaltherrscher über das Leben der Menschheit, in den Industrie
nationen genauso wie in der Dritten Welt. Seine Negativität ist selber noch posi
tiv: als absolute Macht über Wohl und Elend in der Welt, als Zynismus und Ni
hilismus. So wie die Wissenschaft auf der Geldstufe (in einem weiteren Sinn des
Wortes) Positivismus ist, so sind auch das Geld und die Geldstufe selber reali
sierter Positivismus. Positivismus jedoch ist die Setzung der Negativität als posi
tive Macht, als Seiendes, worin sich eine Animawirkung manifestiert. Der Geist
kommt erst wirklich zu sich, wenn seine Negativität sich auf sich (die Negativi
tät) selbst richtet: absolut negativ in sich erinnert wird.
Im Geld ist der christliche, monotheistische Gott in die Realität einge
kehrt. Er hat seine Form als jenseitiger, »transzendenter« Gott aufgegeben und
ist dargestellt, realer Geist, nämlich der wirkliche Weltumgang des Menschen,
zu sein. Es kann wohl kein Zweifel bestehen, daß sich im »Kredit«, im Kredit
wesen und in den Kreditkarten das christliche Credo eine gegenständliche Form
gegeben hat. Das Glauben an den Gott hat aufgehört, ein subjektiver Akt oder
Zustand des Menschen zu sein. Als solches ist es längst geschichtlich überholt
(was nicht ausschließt, daß es immer noch vorkommt). Das Glauben an Gott hat
sich von den Zufälligkeiten der persönlichen, inneren Gesinnung, die immer von
Zweifeln und Anfechtungen bedroht war, losgelöst und sich eine davon unab
hängige objektive Realität gegeben. Der Glaube qua Geld oder Kreditwesen ist
nicht mehr eine Privatsache. Er herrscht über das öffentliche Leben mit fragloser
Macht. Er ist gegen das private Glauben wie gegen den Unglauben oder gegen
Irrglauben und Aberglauben indifferent, weil er die logische Stufe, auf der diese
stattfinden, längst überholt hat. Es geht nicht darum, ob er inhaltlich widerlegt
oder bestätigt ist. Das Leben spielt sich de facto bereits auf der höheren Stufe ab,
wo das Glauben wie das Nichtglauben einfach nicht mehr »geht«, aber das Be
wußtsein bleibt auf der überholten Stufe stehen und sucht noch verzweifelt nach
irgendeinem Glauben oder Sinn als Inhalt der inneren Gesinnung. Der christli
che Glaube ist nicht geringer geworden, die Menschen sind nicht von ihm abge
fallen. Der Glaube hat sich vielmehr nur in einen logisch höheren Status über
setzt, wodurch in dem Status, wo er zuvor war, eine Leere eingetreten ist, die
von dem Bewußtsein, das diesen alten Status unbedingt beibehalten will, durch
den Pluralismus der Sinnangebote angefüllt wird.
Weil das Bewußtsein subjektiv unter dem Status bleiben will, den das Le
ben der Seele längst objektiv erreicht hat, wird der Geist, der im Geld und Kredit
schon wirklich auf der höheren Stufe des Geistes und damit der Liebe steht,
noch aus der unteren Stufe heraus wahrgenommen. Er wird vergötzt: denn das
Bewußtsein der Anima-Stufe muß fasziniert und geblendet zu ihm aufblicken,
weil es das Geld zu Recht über sich weiß, insofern es ja die Bewegung in den
neuen Status hinein mitzumachen mit Absicht verweigert hat. Der christliche
Gott oder der Geist, der Animus, als Geld ist die Kompromißbildung zwischen
der objektiv höheren Stufe und dem Festgehaltensein seiner auf der überholten
Stufe. Erst wenn das Bewußtsein sich in den Schwarzen Kasten und somit auch
in den Status des Geldes hineinbegeben hätte, so daß es einerseits nicht mehr zu
ihm aufblicken müßte, insofern es dann auf einer Ebene mit ihm wäre, und an
dererseits ihm die höhere Stufe wirklich zubilligen, freistellen würde, wäre der
Geist frei, die Möglichkeiten dieser Stufe auszuschöpfen, sich auf ihr lebendig
zu entfalten. So jedoch wird er in der Geldform fixiert.
Die wahre Form des Animus ist Liebe. Wie paßt dies jedoch zusammen
mit der Tatsache, daß der Animus Negativität, ein Töter, der Blaubart ist? Der
Zusammenhang ist der, daß seine Liebe in ihr selbst Negativität ist. Sie ist eben
nicht natürliches Begehren, Leidenschaft, Trieb. Auch nicht zärtliches Gefühl
oder affektiver Zustand. Das Töten ist nötig, um die Liebe aus dem Status der im
Sinn des natürlichen Bewußtseins verstandenen Liebe zu sich selbst zu befreien.
Das Töten schockt aus dem natürlichen Status hinaus. Es ist seine Aufhebung.
Aber was es mit dem Töten hier auf sich hat, muß näher untersucht werden.
Bei Blaubart und Räuberbräutigam konnten wir sehen, daß diese »Mör
der« gerade nicht zum buchstäblichen Mord an den Mädchen gekommen sind,
sondern ihrem Widerpart gerade zum fundamentalen Zurückschrecken, zur
Selbsterhaltungstendenz und zum absoluten Widerstand gegen und sogar zum
Sieg über den Animus verhalten. In diesem Widerstand erhielten die Widerste
henden sich, wurden sie aber auch als im Natürlichen Eingebettete getötet. Sie
wurden aus dem Pieroma vertrieben. Indem sie sich erhielten, während sie »dem
Anderen« ausgesetzt waren, konnten sie dem Tötungswerk von seiten des Ande
ren zwar standhalten, wodurch allein es sich an ihnen jedoch auch tatsächlich
vollziehen konnte und sie in ihrem logischen Status verwandelt wurden. In der
Selbstbehauptung lag unbemerkterweise ihr Sich-Tötenlassen - nicht als
Menschen, sondern in ihrem Bewußtseinsstatus. Während die bedrohten Frauen
nämlich ihre Widersacher besiegten, ereignete es sich unbemerkt, daß sie in die
sem ihrem Sieg von den Besiegten gewaltlos beherrscht: von innen - in ihrem
eigenen Bewußtsein - durchherrscht wurden. Das ist die eine Seite, die der Ani
ma, der »Opfer« der Blaubartgestalten. Von der Seite der Mörder und Räuber
selbst her zeigt sich entsprechend, daß die »Bösewichter« nur durch ihre absolu
te Gewaltlosigkeit (ihr Sich-Töten-Lassen, ihren Untergang) herrschen. Die Ne
gativität des Geistes oder der Geist als Töter kann nur in einem Doppelschritt
oder als Zweistufigkeit gedacht werden. Die erste, noch abstrakte Stufe ist das
Negieren des Anderen, alles Positiven, was, wie wir gesehen haben, geschicht
lich in die Geldstufe geführt hat. Aber dies ist, weil selber noch positiv (oder:
noch von der Anima her verstanden), nur ein vorläufiges Stadium. Erst wenn das
Töten des Animus sich in einem »zweiten« Schritt auf ihn selbst anwendet, d.h.
ihn selber trifft, ihn selber zu seinem Opfer (seinem eigenen Anderen) werden
läßt, ist er wahrhaft geistig geworden, weil reines Selbstverhältnis und nicht
mehr positives Verhalten eines »Geist« genannten positiv Seienden an einem
zweiten positiv Seienden als dem Anderen. Der Animus ist die Einheit von Tö
ten und selber Untergehen (auf der Seite der Mörder), von Widerstand gegen die
Zerstückelung und Zerstückelt- oder Getötetwerden (auf der Seite der Animage
stalten), und er ist die Einheit beider Seiten.
Als diese Einheit ist er in seinem eigentlichen Begriff die Kraft des Ster
benkönnens. Er ist auf der einen Seite das gewaltlose Herrschen durch das eige
ne Untergehen, das eigene Verschwinden, und auf der anderen Seite das gerade
im Sieg über den Gegenspieler von diesem als das alte Bewußtsein Besiegt- und
Getötetwerden. Der Animus läßt absolut frei. Er läßt sich auch bekriegen und tö
ten, und herrscht doch eben dadurch. Er versucht auch als Liebe nicht, wie das
im Bereich der Anima wäre, mit der zwingenden Gewalt des Faszinosums für
sich einzunehmen und eine schmachtende Hingabe seines Gegenübers an sich zu
erreichen. Er läßt im Herrschen über das Andere seiner selbst dieses gleichwohl
ganz frei, frei zu seinem eigenen Willen, auch zum Eigensinn, ja sogar zur Ab
wehr seiner. Er bindet es nicht an sich, auch nicht durch animahafte Liebe im
Sinn des Begehrens. Sein Herrschen ist daher gerade nicht Zwang, nicht Herr
schen über das Andere, sondern Herrschen in dem Anderen und aus diesem
selbst heraus. Und weil das Andere als das Andere seiner selbst erkannt ist, ist
das Herrschen des Animus das Herrschen immer nur über sich selbst.
Die Kraft sterben zu können, das ist die Liebe im Sinn des Animus. Diese
Kraft verdankt sich ihrer Negativität, kraft der sie Raum einräumt, sein und ge
währen läßt und selber nur im Verschwinden ihr Sein hat. Sie ist eben nicht posi
tive Liebe (persönliche Zuneigung, Begehren, Mögen, Sich-Hingezogenfütüen),
wo sie dann für sich selbst einen Platz würde einnehmen wollen und ontische
Präsenz beanspruchen würde. Sie will nichts. Sie ist Gelaß, absolutes Lassen,
reine Freiheit. Sie zwingt nicht einmal zum Guten, sie nötigt nicht.
Die wahre Liebe, so sagt man, will das Glück des anderen und nicht das
eigene Glück. Das ist die Negativität der Liebe. Sie kann sich erfüllen, indem sie
zurücktritt, sich entfernt. Sie ist auch die von Hegel angesprochene Kraft, dem
Schrecklichen ins Auge zu sehen, den Tod zu ertragen und in ihm sich zu erhal
ten. Sie ist im Menschen die Fähigkeit, im widerstandslosen Ertragen des Todes
des Bewußtseins und des Verlusts seiner Wahrheit sich vom Schmerz durchwal
ten zu lassen und im einfachen Fühlen des Schmerzes, im einfachen Fühlen der
Trauer sich wandeln zu lassen. Nicht emotionales Leiden, personalistischer
Schmerz, sondern logisches Erleiden, ganz intensional, reflexiv (in Richtung auf
eigenes Verwandeltwerden), ganz in der Stille und ohne moralische Genugtu
ung, als absolut negative Er-innerung. Als die Fähigkeit zu sterben ist die Liebe
im Menschen auch die Kraft des Verzeihens, des Verzichtens, des Sich-Versöh-
nens. Ebenso die Kraft, das, was ist, freizugeben zu seinem eigenen Sein; das
Leben, »es sei wie es wolle«, »doch so schön« zu finden; die geschehenen Übel,
die Schmerzen nicht als Einwand gegen die Wirklichkeit zu nehmen.
Die Liebe »trägt alles« und »duldet alles«. So sagt das Neue Testament.
Sie hat auch ihren Gegensatz, den Schatten, den Eigensinn, das Böse, den Haß,
immer schon umfaßt und verwunden. Sie ist das alles Tragende und Umfassen
de, absolute Liebe: losgelöst vom Gegensatz des Liebenswerten und des Has
senswerten, des Freundes und des Feindes7, des Begehrenswerten und des Ver-
abscheuenswürdigen. Sie setzt ihrem Gegensatz keinen Widerstand entgegen.
Sie ist mit ihm versöhnt. Aber dieses Versöhntsein ist nicht ein nachträglicher
großmütiger Akt einem anderen gegenüber. Es ist »immer schon«, d.h. es ist das
Anfängliche, Vorgängige, Zugrundeliegende. Wenn ich oben von der Liebe als
der Kraft des Verzichtens und Verzeihens sprach, so klingt das noch viel zu sehr
nach einer moralischen Leistung des Menschen (als Ich), zu der er sich durchrin
gen müßte. Das ist die Liebe nicht. Sie muß nicht wie ein ethisches Ideal von
uns verwirklicht werden. Sie ist viel einfacher. Sie ist die seiende Wahrheit. Sie
ist. Sie ist »das Sein selbst«. Mythologisch ausgedrückt: sie ist nicht zwischen
menschliche Beziehung oder altruistisches Verhalten im edlen Sinn der soge
nannten »Nächstenliebe«, nicht unsere Liebe, sondern »die Liebe Gottes«, die in
dem Christus Gestalt geworden sein soll.
Jung schreibt über Christus: »Obschon die Attribute Christi (Wesens
gleichheit mit dem Vater, Koätemität, Sohnschaft, Parthenogenesis, Kreuzigung,
das zwischen den Gegensätzen geopferte Lamm, Einer in Viele ausgeteilt usw.)
7 Die Liebe läßt ihre Sonne scheinen über Gerechte wie Ungerechte.
ihn unzweifelhaft als eine Verkörperung des Selbst erkennen lassen, so ent
spricht er doch, vom psychologischen Standpunkt aus betrachtet, nur der einen
Hälfte des Archetypus. Die andere Hälfte erscheint im Antichristus.«8 Dieses Zi
tat enthält zwei Probleme: 1) die Deutung Christi als Selbst und 2) die Deutung
des Verhältnisses von Christus und Antichrist. Ich wende mich zunächst dem
zweiten Problem zu.
Wie ist das Symbol »Christus« in seinem Verhältnis zum Antichrist oder
Satan zu denken? Als die Liebe steht der Christus dem Antichrist nicht einfach
als dem total Anderen und Äußeren gegenüber. Christus und der Antichrist sind
nicht einfach zwei Getrennte, Verschiedene, zwei »Hälften«. So zu denken wäre
eine schon einseitig aus der Position des Antichrist stammende Sicht, eine lieb
lose Auffassung der Liebe. Aus der Liebe heraus gesehen ist der Antichrist gera
de kein Einwand gegen den und keine Widerlegung des Christus. Sie vermag
sich auch im Antichrist zu erhalten. Wäre Christus nur der Christus (nur das abs
trakt Reine und Gute, das seinen Gegensatz außer sich hat), wäre er nicht die
Liebe. Als Liebe sind er und der Antichrist eins, ist der Christus die Einheit von
ihm selbst und dem Antichrist. Mit dieser Einsicht ist die Deutung des Antichrist
als »Schatten«, die Rede vom »Schatten Gottes«, ja die ganze Schattenpsycholo
gie aufgehoben, weil in ihrer Vorläufigkeit durchschaut. Die Liebe im Sinn des
Animus, des Geistes, hat den Blaubart, den Mörder, den Satan nicht außer sich,
sondern in sich. Ihren absoluten Gegensatz ohne Widerstand und ohne sich da
durch bedroht oder widerlegt zu fühlen, immer schon in Liebe umfaßt zu haben
und gewähren zu lassen, dies ist gerade ihr Wesen; nur dadurch ist sie überhaupt
Liebe. Die Liebe ist das Überwundensein der Gegensätze, das Überwundensein
des Abstrakten und Prinzipiellen (des Reinen und Guten), das Ertragen des Wi
derspruchs im Sinn seines immer schon Verwundenseins. Wo es nur Schönes,
Gutes, Liebenswertes gibt, bedarf es der Liebe nicht. Die Liebe ist erst Liebe,
wenn sie Liebe sogar zu dem Bösen und dem Übel ist.
Christus als Bild des Selbst - das ist Jungs bekannte Position. Aber muß
man Christus so sehen? Jung selbst gibt uns einen Wink, wenn er an anderer
Stelle in demselben Buch schreibt: »Auch im Christentum ist die Göttersyzygie
nicht etwa obsolet geworden, sondern steht an höchster Stelle als Christus und
die bräutliche Kirche.«9 Hier ist Christus die eine Seite der Syzygie, er ist der
Animus, der der Kirche als Braut oder Anima in Liebe verbunden gegenüber
steht. Das paßt auch viel besser als die Idee von Christus als das Selbst zu dem
Nebeneinander von Christus und Antichristus: letztere sind die zwei hier ausein
andergelegten, dissoziierten Seiten des Animus, als des Töters und als der Liebe.
Von zwei Hälften des Selbst zu sprechen, macht eigentlich keinen Sinn,
weil zum Begriff des Selbst die alles umfassende Ganzheit gehört. Dagegen pas-
11 Man könnte hier, wenn es nicht zu predigerhaft klingen würde, sondern als psychologische Tatsa
che (Ereignis in der Geschichte der Seele als dämmernde Einsicht, Bewußtwerdungsvorgang)
verstanden werden könnte, an das Wort erinnern: »Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nah
men ihn nicht auf« (Joh. 1:11).
12 Ich sage (verbal) Begreifen, Denken, nicht (gegenständlich) Gedachtes, Begriffenes, nicht Gedan
ke. Es geht also nicht um etwas inhaltlich Positives.
liebe«) oder Erlebnis. Sie nähert sich nur als Wachsen der ganz schlichten, nüch
ternen Erkenntnis dessen oder Bewußtheit darüber, daß wir und alle Wirklichkeit
wirklich und in Wahrheit längst von der Liebe hintergangen sind und daß die
Liebe die Wahrheit oder »das Sein« ist und immer war. Sie ist unserer Anstren
gung, sie zu erreichen und dann auszuüben, sowie aller Werbung für sie und al
len Predigens absolut unbedürftig. Denn wir stehen zusammen mit allem, was ist
und geschieht, schon längst in ihr. Alles sie erreichen Wollen, kommt nicht nur
zu spät, sondern ist Wegbewegung von ihr, vielleicht auch panische Flucht vor
ihr. Ja sogar alle Bemühung, lediglich in der angesprochenen Erkenntnis oder
Bewußtheit von ihr zu wachsen, wäre noch Krampf (und Selbstbefriedigung).
Jene Erkenntnis kommt, wenn überhaupt, nur von selbst, sie holt uns von unten
und hinten, nämlich aus dem wirklich gelebten Leben (z.B. auch durch solche
Schrecknisse wie in Auschwitz und Bosnien oder das unsägliche Elend in den
Hungergebieten der Dritten Welt) mehr und mehr ein. Und nur wo sie uns aus
der Wirklichkeit der Welt und unseres eigenen Lebens und Verfehlens heraus
einholt, ist sie auch wirkliche Erkenntnis und nicht billiges13 Imitat von Erkennt
nis.
Nach Hegel bringt die Entwicklung der Geschichte einen Fortschritt -
nicht der Freiheit, sondern im Bewußtsein der Freiheit. Der Fortschritt ist rein
logischer, nicht ontologischer und negativer (zersetzender, destillierender, subli-
mierender, sich in uns erinnernder), nicht positiver Natur. Entsprechend können
wir sagen, daß die Entwicklung der Geschichte ein Wachsen - nicht der Liebe,
sondern im Bewußtsein der Liebe bringt. Und beide Sätze, der über die Freiheit
wie der über die Liebe, sind wohl ein und derselbe Satz, den wir zugleich auch
noch mit Jungs Idee einer »Individuation der Menschheit« (A. Jaffe) verbinden
können. Nach den hier gegebenen Formulierungen wird also nicht gesagt, daß
sich der Fortschritt der Geschichte auf ein utopisches Gesellschaftsideal, einen
paradiesischen Endzustand der Geschichte hin zubewege, in dem alle Menschen
faktisch in Freiheit und Liebe leben würden. Nicht einmal von einer Entwick
lung zum Besseren ist die Rede. All solche Hoffnungen und Träume die gesell
schaftlichen Zustände und das reale Verhalten der Menschen betreffend werden
durch jene Sätze gerade zunichte gemacht. Die Rede ist vielmehr einzig von ei
ner Veränderung der Bewußtseins^/«.?, also der logischen Form, in der die
Wirklichkeit erfahren wird.14
Ich möchte dieses Kapitel abschließen mit einem Abschnitt über die Liebe
aus Jungs Erinnerungen, mit dem »alles gesagt« ist.
Meine ärzüiche Erfahrung sowohl wie mein eigenes Leben haben mir unaufhörlich
die Frage der Liebe vorgelegt, und ich vermochte es nie, eine gültige Antwort darauf
13 Billig, weü man sie würde gewinnen wollen, ohne den Preis (Tribut) des wirklichen Schmerzes
von wegen des wirklichen Elends an die Wirklichkeit zu entrichten.
14 Was über Geschichte und Individuation der Menschheit gesagt wurde, gilt in kleinerem Rahmen
entsprechend für die Individuation des einzelnen.
zu geben. Wie Hiob mußte ich »meine Hand auf meinen Mund legen. Einmal habe
ich geredet, darnach will ich nicht mehr antworten« (Hiob XXXIX, 34f.). Es geht
hier um Größtes und Kleinstes, Fernstes und Nahestes, Höchstes und Tiefstes, und
nie kann das eine ohne das andere gesagt werden. Keine Sprache ist dieser Paradoxie
gewachsen. Was immer man sagen kann, kein Wort drückt das Ganze aus. Von Teil
aspekten zu sprechen, ist immer zuviel oder zuwenig, wo doch nur das Ganze sinn
gemäß ist. Die Liebe »trägt alles« und »duldet alles« (I Cor. XIII, 7). Dieser W ort
laut sagt alles. M an könnte ihm nichts beifügen. W ir sind nämlich im tiefsten Ver
stände die Opfer oder die Mittel und Instrumente der kosmogonen »Liebe«. Ich setze
dieses W ort in Anführungszeichen, um anzudeuten, daß ich damit nicht bloß ein Be
gehren, Vorziehen, Begünstigen, Wünschen und ähnliches meine, sondern ein dem
Einzelwesen überlegenes Ganzes, Einiges und Ungeteiltes. Der Mensch als Teil be
greift das Ganze nicht. Er ist ihm unterlegen. Er mag Ja sagen oder sich empören;
immer aber ist er darin befangen und eingeschlossen. Immer hängt er davon ab und
ist davon begründet. Die Liebe ist sein Licht und seine Finsternis, deren Ende er
nicht absieht. »Die Liebe höret nimmer auf«, auch wenn er mit »Engelszungen rede
te« oder mit wissenschaftlicher Akribie das Leben der Zelle bis zum untersten Grun
de verfolgte. Er kann die Liebe mit allen Namen belegen, die ihm zu Gebote stehen,
er wird sich nur in endlosen Selbsttäuschungen ergehen. Wenn er ein Gran Weisheit
besitzt, so wird er die Waffen strecken und ignotum per ignotius benennen, nämlich
mit dem Gottesnamen. Das ist ein Eingeständnis seiner Unterlegenheit, Unvollstän
digkeit und Abhängigkeit, zugleich aber auch ein Zeugnis für die Freiheit seiner
Wahl zwischen Wahrheit und Irrtum.15
Und, so füge ich hinzu, wohl auch eine Selbstbezeugung der Liebe selbst.
***
Dieses Kapitel ist überschrieben »Der Animus als Geist und Liebe«. Man
kann diese Formulierung so lesen, als ob sie strukturell parallel zu dem Titel des
vorigen Kapitels »Der Animus als Negation und als das Andere der Seele« wäre.
»Negation« und »das Andere« stehen auf einer Ebene. Sie sind in gewisser Hin
sicht sogar synonym. Mit »Geist« und »Liebe« steht es jedoch anders. Sie gehö
ren verschiedenen Ordnungen oder logischen Ebenen an: »Liebe« gibt an, was
der von außen ganz anders erscheinende »Geist« in seinem innersten Wesen und
in Wahrheit ist. Mit diesem Wort wird das verborgene Geheimnis dessen, was
Geist ist, gelüftet.
Für das, was in diesem Kapitel zu erörtern ist, müssen wir meist nur schon
an verschiedenen Stellen früher Gesagtes oder Angedeutetes Zusammentragen.
Zur Phänomenologie, d.h. in seinem Fall: zum Wesen des Animus gehört, daß er
sich gegen den natürlichen Zustand wendet.1 Er setzt aus dem pieromatischen
Einbehaltensein in der Imagination der Seele hinaus und versetzt das Bewußt
sein in eine neue Stufe. Dies ist nicht nur ein in der jeweiligen Erfahrung der
einzelnen Menschen geschehendes Ereignis. Es ist auch im Großen ein »weltge
schichtlicher« Vorgang. Das gilt es jetzt eigens zu beleuchten.
Geschichte: Fortbestimmung zu neuer Stufe. Geschichte haben alle
Völker. Es ist längst erkannt, daß auch die sogenannten Naturvölker oder Urkul-
turen nicht einfach geschichtslos einen Anfangszustand widerspiegeln, der sich
über Jahrzehntausende oder gar Jahrhunderttausende hinweg unverändert erhal
ten hätte. Aber wenn ich vom Animus als Geschichte spreche, dann meine ich
nicht Geschichte in diesem allgemeinsten Sinn. Ich meine auch nicht Geschichte
als das, was beginnt, sobald schriftliche Quellen vorliegen. Erst da kairn ja ein
wirklicher historischer Sinn entstehen, weil durch die Schrift Ereignisse, die
sonst dem Vergessen anheimfielen oder von mythischen Strukturen absorbiert
würden, über Jahrhunderte hinweg festgehalten werden können. Die Schrift und
das Festhalten gehören zwar unzweifelhaft zur Domäne des Animus. Nur gilt
unser Interesse hier einem anderen Begriff von Geschichte. Ginge es nur um die
Geschichte als die Einheit von dem Geschehen und dem, was über dieses erzählt
wird und sich in den historischen Quellen findet, dann wäre China vielleicht die
größte und reichste Fundgrube von Geschichte. Aber in dem Sinn, wie ich hier
Geschichte verwende, hat China —wenigstens aus der unendlichen Distanz der
westlichen Welt heraus gesagt - keine Geschichte gehabt. Denn seine Geschich
te zeichnet sich bei allen gewaltigen politischen Veränderungen, Eroberung und
Unterwerfung durch fremde Völker, inneren Revolutionen usw. doch durch eine
erstaunliche Kontinuität aus. Bis 1911 erhielt sich der Grundbestand der chinesi
schen Kultur (insbesondere auch des Kultes), des chinesischen Weltbildes, ja
des ganzen Inderweltseins ungebrochen. Auch die schriftliche Kultur und die
ganze Geschichtsschreibung der Chinesen verblieb eingebettet in dem, was wir
aus unserer Perspektive hier die Anima-Stufe nennen.
Geschichte jedoch, wie das Wort hier verstanden wird, entsteht durch den
Einbruch und das Wirken des Animus. (Und erst in diesem Jahrhundert ist Chi
na wahrhaft in die Geschichte in diesem Sinn eingetreten.) Geschichte hat mit
radikalen Brüchen, mit Aufhebungen, substantiellen Verlusten und mit so etwas
1 »Natürlich« verweist hier auf die durchaus schon menschlich-geistige Anima-Welt, nicht auf die
Stufe der als vormenschlich, biologisch verstandenen Natur. Jung sprach in ganz ähnlichem Sinn
vom »natural mind«.
wie »Fortschritt« (im modernen Sinn des Wortes) zu tun. Es geht um jene Art
von Entwicklung, bei der das Bewußtsein sich von einer gegebenen Stufe durch
die radikale Bekämpfung und Destruktion ihrer Wahrheiten zu einer neuen Stufe
abstößt, die kraft dieser Herkunft die frühere Stufe voraussetzt, aber gerade nur
als überwundene, die aber diese Stufe auch unter sich hat und so über ihr steht,
weil sie sich ja von ihr, im Niederstoßen ihrer, abgestoßen hat. Sie ist also nicht
einfach zu etwas völlig anderem übergegangen. Die neue Stufe baut auf Frühe
rem auf in der Weise der Negation ihrer Vorgängerin. Sie verdankt sich also je
weils einem radikalen Bruch. Sie ist beileibe kein Fortschritt im Sinn des einfa
chen Weiterschreitens (wobei ja etwas hinter einem gelassen würde), kein Glei
ten von diesem zu jenem. Sie ist Steigerung durch gleichzeitiges Abstoßen und
Festhalten der vorangegangen Stufe.
Diese Form von Geschichte gibt es in beeindruckender Deutlichkeit wohl
nur im Abendland. Sie verdankt sich einer Wirkung des Animus, nämlich seiner
Rückbezüglichkeit auf sich selbst, im Sinn dessen, was wir anhand des alchemi-
stischen »Pelikan« schon besprochen haben. Es »wandelt« sich etwas in dieser
Geschichte.
Die Aufhebung der Wahrheiten der früheren Stufe zeigt sich vor allem
auch in dem, was wir »Symboltod« nennen können und in unserer Epoche be
sonders deutlich erleben. Wie auch Jung wußte, sind Symbole geschichtlich. Sie
»verwelken«, »verdorren«, um dann »als eine abgelebte Zeit im Strome der
Jahrhunderte zu versinken«.2 Der Animus als Töter zersetzt das ungestörte Ein
gebettetsein im symbolischen Leben. Er setzt hinaus aus der Syzygie, so daß
man wirklich draußen steht und die Symbole »leider großenteils der Vergangen
heit an(gehören).«
W ir können das Rad der Zeit nicht zurückdrehen; wir können nicht zu einer Symbo
lik zurückkehren, die der Vergangenheit angehört. Sobald man weiß, daß etwas sym
bolisch ist, sagt man auch schon: >Ach so, dann bedeutet es vermutlich etwas ande
res^ Der Zweifel hat es getötet, hat es verschlungen. Deshalb kann man nicht dahin
zurückgehen. Ich kann nicht in die katholische Kirche zurückkehren, ich kann das
Wunder der Messe nicht mehr erleben; ich weiß zuviel darüber. Ich weiß zwar, daß
es die Wahrheit ist, aber es ist die Wahrheit in einer Form, die für mich nicht mehr
annehmbar ist. Ich kann nicht sagen: >Dies ist der Leib des Herm< und ihn noch da
bei sehen. Ich kann einfach nicht. Es ist für mich keine W ahrheit mehr; es bringt
meine psychologische Verfassung nicht zum Ausdruck. Meine psychologische Ver
fassung verlangt nach etwas anderem. Ich brauche eine Situation, wo das Ganze
noch einmal wahr wird. Ich brauche eine neue Form.3
Ich will mich nicht auf theologischer, neutestamentlicher Ebene mit der
Autorin auseinandersetzen. Ich möchte vielmehr anhand von dieser Äußerung
eine in ihr vollzogene Denkfigur heraussteilen und ihr eine andere entgegenset
zen. Schroer beschreibt sicher mit Recht, was das Taubensymbol einst bedeutete
und auch wohl noch für die Ohren der Hörer der frühchristlichen Zeit anklingen
ließ. Auch ich würde annehmen, daß man bei einem so wichtigen Text davon
ausgehen muß, daß die vorchristlichen Assoziationen bewußt mit einbezogen
worden sind. (Ebenfalls glaube ich nicht, daß man den Geist der Liebe »rein
geistig und platonisch«, nur im Sinn der »dilectio« oder »caritas« verstehen dür
fe. Ich habe ja mein Verständnis des Geistes als Liebe bereits vorgestellt.) Die
Frage ist nur die: ist die Anspielung auf die altorientalische Liebesgöttin hinun
ter und zurück oder vorwärts zu interpretieren, das heißt: bedeutet das Anklin
genlassen dieser Assoziationen, daß sich der Text in die alte Tradition hinein
stellen und an sie hingeben will, um in ihr aufzugehen - das ist die Richtung von
Schroers Interpretation -, oder - das wäre meine These - greift der Text gerade
nur deshalb auf das alte Symbol zurück, um sich von ihm, seine herkömmliche
Bedeutung gerade hinter sich lassend, zu einer gänzlich neuen Bedeutung abzu
stoßen?
Schroers Überlegung fuhrt die Textstelle zurück in die Anima-Sphäre:
erotisch, sinnlich, Zärtlichkeit, stürmische Leidenschaft, der Geliebte. Wir blei
ben in der Welt der Natur, des Natürlichen. Sie remythologisiert den christlichen
Gott und Christus zu »Jesus Sophia« und »Gott Sophia«. Diese Liebe bleibt im
Begehren, wie ich von meiner Perspektive aus sage, »stecken«. Dadurch wird
dem Bewußtsein ermöglicht, natürliches Bewußtsein zu bleiben und im selben
alten logischen Status zu verharren. Psychologisch würde ich dies für Schmu
halten. Ich kann der Autorin nicht abnehmen, daß sie ihrer Rede von dieser Lie
be als der Liebe des göttlichen Geistes selber wahrhaft einen logischen Sinn ab
gewinnen kann. So wie der moderne Mensch in der Lage ist, wo er gestehen
muß: »Ich kann nicht sagen: >Dies ist der Leib des Herm< und ihn noch dabei
sehen. Ich kann einfach nicht. Es ist für mich keine Wahrheit mehr; es bringt
meine psychologische Verfassung nicht zum Ausdruck«, so ist auch der alte
Sinn des Taubensymbols obsolet und nur noch historisch interessant. Wir wissen
zuviel. Wir wissen, daß dies ein Symbol ist, und damit sind wir schon von seiner
Wahrheit unabänderlich getrennt, und das Rad der Geschichte läßt sich nicht zu-
6 Silvia Schroer, »Der Geist, die Weisheit und die Taube: Feministisch-kritische Exegese eines
neutestamentlichen Symbols auf dem Hintergrund seiner altorientalischen und hellenistisch
frühjüdischen Traditionsgeschichte«, Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 33 -
1986, S. 197-225, hier S. 206. Den Hinweis auf diesen Text verdanke ich Monika Schwerdtfeger.
rückdrehen. Ohne die Autorin zu kennen, möchte ich annehmen, daß auch ihr
Bewußtsein in Wahrheit logisch längst über diese Stufe hinaus ist, wo ihr das
Taubensymbol in dem von ihr dargestellten Sinn noch wirklich und nicht nur der
subjektiven Meinung nach etwas bedeuten könnte.7 Jung sagte einmal, ich mei
ne mit Recht: »Unsere Zeit verlangt neue religiöse Gedanken, denn wir können
nicht mehr auf antike oder mittelalterliche Weise denken, wenn wir in den Be
reich religiöser Erfahrung gelangen«.8 Ich glaube in der Tat, daß wir es nicht
mehr können, und daß wir uns und anderen daher etwas vormachen, wenn wir so
tun als ob. Dies jedoch, uns etwas vorzumachen, vermögen wir sehr wohl.
Ich meine, wir müssen, ganz gleich, ob dies auch in der bewußten Inten
tion des »Autors« der neutestamentlichen Textstelle gelegen haben mag, aus un
seren eigenen psychologischen Notwendigkeiten heraus die Stelle (sofern sie
uns noch etwas zu sagen haben soll) so verstehen, daß in ihr das alte Symbol zu
keinem anderen Zweck als dem aufgegriffen worden ist, um seine Bedeutung zu
einer radikal neuen /ortzubestimmen. Die Fortbestimmung ist von dem einfa
chen zu einem anderen Weitergehen zu unterscheiden. Sie führt nicht zu etwas
Neuem im Sinn von Neuigkeiten, also dem beziehungslos anderen. Sie ist nicht
das Überwechseln zu etwas völlig Verschiedenem, so wie ein Chamäleon seine
Farben oder der Himmel von heiter zu bewölkt wechselt, oder wie man im Ver
lauf des Lebens unter die Dominanz eines anderen Archetyps, unter ein neues
Stemzeichen, in die Kindschaft eines anderes Gottes geraten kann. Dabei wird
der alte Gehalt einfach verlassen, und wenn es hier darum ginge, dürfte das alte
Symbol gerade nicht aufgegriffen werden. Das Überwechseln zum abstrakt an
deren geschieht innerhalb der Anima-Sphäre, wo entsprechend der polytheisti
schen Verfaßtheit der Welt die vielen Götter und Gehalte oder Wiridichkeitsbe-
reiche gerade so nebeneinander stehen und nebeneinander geehrt werden, wie
auch buchstäblich die verschiedenen Tempel in ein und derselben Stadt neben
einander stehen. Aber opfern kann man immer nur jeweils in einem Tempel, um
dann jedoch vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt und in einer neuen Situation
auch in einem anderen Tempel dem dort wohnenden Gott zu dienen.
Beim Fortschritt oder bei der Fortbestimmung dagegen bleibt man gleich
sam in demselben Tempel. Derselbe alte Gehalt oder dieselbe psychische Situa
tion muß gerade festgehalten und explizit vorgeführt werden, damit sie selbst ei
nem Wandlungsgeschehen ausgesetzt und so überwunden wird. Das, wovon
man sich verabschiedet und abstößt, muß ganz klar vor Augen stehen, sonst
bleibt das Bewußtsein ihm unbewußt verhaftet. Das Natürliche und Selbstver
ständliche ist das Eingenommensein in die Symbole, ist, daß alles beim alten
7 Vgl. zu dieser Thematik Wolfgang Giegerich, »>Aphrodites Wiedergeburt< oder der Betrug: Zur
psychologischen Rede von Göttern«, erschienen unter dem von der Redaktion abgeänderten Titel:
»Vom Reden Uber Götter: ein psychologischer Betrug«, GORGO 20-1991, S. 7-28.
8 C.G. Jung, Briefe Bd. III, S. 275 (an Hugh Bumett, 5.XII.59).
bleibt. Beim Ersetzen eines Symbols durch ein neues wird nur der Aufmerksam
keitsstrahl des Bewußtseins woanders hingelenkt, und das alte Symbol steht
dann nicht mehr im Licht. Aber gerade als Unbeleuchtetes bleibt es unverändert
bestehen. Der Fortschritt jedoch ist nicht selbstverständlich. Er bedarf besonde
rer (meist schmerzlicher) logischer Schritte. Ohne das ausdrückliche Festhalten
und Anstrahlen dessen, was sich gerade nicht so erhalten soll, wie es zunächst
ist, gäbe es keine Wandlung. Festhalten und Überwinden liegen beide in dem ei
nen Wort »Aufhebung«. Die Wandlung setzt voraus, daß der festgehaltene (in
die Retorte eingesperrte) Gehalt gleichsam ausgebrütet, alchemistisch weiterge
kocht wird und sich dadurch zu ganz neuen Bedeutungen fortbestimmt. Anders
gesagt: ihm wird zugemutet, einem neuen Kontext ausgesetzt zu sein, der ihn
zersetzt und verwandelt. In der Fortbestimmung wird das Bewußtsein auf eine
neue Stufe oder in einen neuen logischen Status transportiert, in dem das alte
Bewußtsein aufgehoben ist und (freilich gerade nur als aufgehobenes) bewahrt
bleibt, vergleichbar dem Verhältnis, in dem der komplexe mehrzellige Organis
mus zu seinem Vorgänger, dem einzelligen Lebewesen, steht, das der Organis
mus sich als aufgehobenes selbständiges Lebewesen integriert hat.
Was das Symbol der Taube und den Begriff der Liebe anlangt, so war die
Ausgangssituation in der späten Antike die, daß Liebe entweder erotisch
sinnliche oder spiritualisierte (»platonische«) Liebe war. Das waren die Mög
lichkeiten auf der noch ganz der Anima verfallenen Animusstufe der Liebe. Ein
Drittes gab es nicht. Das Entweder-Oder zeigt jedoch schon, daß eine ursprüng
lichere Form der Wirklichkeit der Liebe (Liebe auf der Animastufe), die sinnlich
und geistig zugleich (also sakramentalisch) war, in ihre zwei Aspekte auseinan
dergebrochen war, d.h. daß man es jetzt immer mit einseitigen »Hälften« zu tun
hatte und ein voller Begriff der Liebe nicht mehr gedacht und gelebt werden
konnte. Dies wiederum weist auf eine psychische Not der Spätantike. Die Not ist
nur so zu erklären, daß die Seele aus ihrer ursprünglichen Stufe der Naturgött
lichkeit, auf der die Liebe sakramentalisch war, längst ausgewandert war, so daß
das Sinnlichkeit und das Geistige verbindende Band (das vinculum oder die co-
pula der Alchemie, also das spezifisch Syzygische, die logische Bewegung)
fehlte. Die Seele war schon woanders, auf einer neuen Stufe, das Bewußtsein je
doch hielt an den alten Vorstellungen und Gebilden (und mit diesen an seinem
alten Status) fest, vermochte aber in ihnen nicht mehr das logische Leben der
Seele (das syzygische Spiel von Anima und Animus, Sinnlichkeit und Geist) zu
erfahren und dadurch belebt zu werden, weil die Gebilde »tote«, positive, see
lenlose Gefäße geworden waren, insofern sie ja die Wahrheit der alten Stufe
ausdrückten, aus der jedoch die Seele gerade ausgewandert war. Umgekehrt wa
ren die Gebilde tot, weil sie nicht mehr die Wahrheit oder das logische Leben
auszudrücken vermochten, insofern dieses nur auf der neuen Stufe zu Enden wä
re, vor der das Bewußtsein aber zurückscheut. Die Negativität der Symbole und
damit genau das, worauf es eigentlich angekommen wäre: ihre Fassungskraft als
»Gefäße«, war geschwunden. Sie waren gar keine Gefäße mehr, die durch ihre
logische Leere ausgezeichnet sind, sie waren selber schon positiv zu »Dingen«,
Gebilden geworden, die selber etwas sein wollen und so Raum für sich bean
spruchen. Sie verlangen jetzt, daß sie geglaubt, »akzeptiert«, erlebt, gefühlt wer
den, und erzeugen in einem damit das auf Selbstidentität pochende positive Ich,
während das wahre Symbol nur der als Gebilde unaufdringliche, ja verschwin
dende Träger oder Transporteur der logischen Bewegung der Seele war, was
man noch deutlich an der Sprache sieht, wo der Satzsinn nur dadurch entsteht,
daß die ihn »tragenden« Lautgebilde wie Kölner Heinzelmännchen verschwin
den (verklingen) und der Sprecher sich in der rückhaltlosen Hingabe an das zu
Sagende als er selber vergißt. Solange Symbole noch eigentliche Symbole sind,
gibt es das Glauben und Erleben nicht, weil das intakte Symbol sich und damit
zugleich den Menschen objektiv in die Flüssigkeit des geistigen Lebens der See
le übersetzt. Beide Auffassungsweisen der Liebe, die sinnlich-erotische wie die
rein geistige, wurden der in der Spätantike erreichten logischen Verfassung der
Seele offenbar schon nicht mehr voll gerecht. Das Bewußtsein hatte sich unter
seinem Niveau angesiedelt und lebte damit in dem Selbstentfremdetsein.
Wir nennen dies heute eine Dissoziation. Diese besteht darin, daß erstens
das Bewußtsein das Fortschreiten der Seele nicht mitvollzogen hat, so daß es
von der Seele, hinter ihr herhinkend, entfremdet ist, und daß zweitens deswegen
im Bewußtsein (also auf der einen Seite der ersten Spaltung, der Seite des Hin
terherhinkenden) eine Gegensatz-Problematik entsteht, weil seine bisherige Welt
durch die Auswanderung der Seele in entweder sinnlich oder geistig Aufzufas
sendes als nunmehr unvereinbare Extreme auseinandergefallen ist, unvereinbar
deswegen, weil sie nicht mehr, durch ihr Aufgehobensein in dem logischen Le
ben der Seele, wie glühendes Magma im Zustand der Flüssigkeit sind und so als
erstarrte positive Entitäten (Fossilien) einander gegenüberstehen. Drittens hat
für das Bewußtsein eine Verlagerung des Orts der Wahrheit von der Wirklich
keit hin zu dem stattgefunden, was nur noch eine herausgefällte »Hälfte« der
vormaligen Wirklichkeit ist: zu dem auffassenden oder erlebenden Bewußtsein.
Die Dinge und Rituale genügen nicht mehr sich selbst. Ihre Bedeutung tragen
sie jetzt nicht mehr selbstverständlich in ihnen. Jetzt kommt vielmehr alles dar
auf an, was der Mensch sich bei ihnen bewußt denken, wieviel er von ihnen ver
stehen und ob er etwas dabei empfinden kann. Dies ist die Spaltung von Subjek
tivität (Erleben, Gesinnung, Glaube) und objektiver Realität, in die das, was vor
her die Wirklichkeit (nicht Realität) war, zerfallen ist.
Das Christentum versuchte sich dieser Situation zu stellen und auf sie zu
antworten. Es wollte über die Ausweglosigkeit dieses Entweder-Oder hinausfüh
ren, was nur gelingen konnte, wenn das Bewußtsein auf die Stufe, auf der sich
die Seele schon befand, gehoben werden konnte. Es ging darum, die ganze Situ
ation auf eine völlig neue Ebene des Inderweltseins und damit des Welterlebens
zu heben, nämlich auf eine radikal nachnatürliche, geistige Stufe, die alte Alter
native zu überwinden und so u.a. auch einen bisher uneihörten Begriff von Lie
be zu erzeugen. (Einen freilich, den das Bewußtsein bis heute noch nicht wirk
lich ins Bewußtsein aufgenommen hat.) In diesem Licht ist das Symbol der Tau
be zu sehen.
Es sollte jetzt also weder um den einfachen Gegensatz zur erotischen Lie
be gehen, wo man dann unweigerlich bei dem »platonischen«, ganz spirituali-
sierten Liebesbegriff anlangen würde. Deswegen wurden die alten erotischen
Assoziationen bewußt aufgegriffen. Aber das Denken sollte auch nicht in die al
ten Bahnen des Erotischen zurückfließen, deswegen wurde das erotische Symbol
in einen ganz anderen Kontext gestellt und dadurch verfremdet. Weder so noch
so. Es blieb nur der »Ausweg« nach vorne, zu einer ganz neuen Bedeutung, der
der Liebe als der höchsten Form der Negativität des Geistes. Mit Sophia hat die
se Liebe gerade nichts zu tun. »Denn Gott ist Geist (pneüma)« (Joh. 4, 24) -
nicht Sophia, das ist die christliche Botschaft.
Hier ist es nun entscheidend zu erkennen, daß Geist, wie er hier gemeint
ist, nicht mit der einen Seite der Alternative Sinnlichkeit - Geist oder erotische
Liebe - »platonische« Liebe identisch ist. Der Geist als Gegenpol zur Sinnlich
keit bleibt genauso substantiell und natürlich wie diese. So wie der Geist als
Wind, der Geist als Gespenst selber sinnlich ist und wie der Geist als Himmels
gott genauso sehr in die Animasphäre gehört, wie die Erdgöttin es tut, so geht es
auch bei dem schon philosophisch verstandenen und der Sinnlichkeit oder Mate
rie entgegengesetzten Geist animahaft um Gehalte (das Geistige, das Spirituelle,
die höheren Werte und Ideale) oder Bereiche (das Reich der platonischen Ideen
gegenüber dem Reich der Phänomene). Geist oder das Geistige wird selbstver
ständlich ontologisch genommen, als Seiendes. Hier ist man also unmißver
ständlich in der Anima-Sphäre. Genauso gehört Sophia gerade in die natürliche
Theologie. Sie bleibt wesenhaft mythologische Gestalt und wird unweigerlich
als (seiender) Gehalt vorgestellt. Das Bewußtsein bleibt auf der Stufe der An
schauung und Vorstellung.
Davon stößt sich aber die neutestamentliche »Lehre« von der Liebe ab.
Der Gegensatz von sinnlicher und spiritueller, geistig-»platonischer« Liebe ist
selber ein geistloser, ein natürlicher Gegensatz, also nur die eine Seite des Ge
gensatzes natürliches Bewußtsein - Geist als Liebe. Es gibt innerhalb der christ
lichen Lehre ein ganz deutliches Bewußtsein davon, daß mit ihr eine radikal
neue Stufe erreicht ist und das Erreichen dieses Status ihr eigentliches Anliegen
ist. Auch der Vers vor dem zitierten läßt dies erkennen. »Aber [darin liegt der
Abstoß von dem Vorangegangenen] es kommt die Zeit [darin liegt die neue Stu
fe] und ist schon jetzt [darin liegt, daß das Bewußtsein begonnen hat, in diese
Stufe einzutreten], daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im
Geist und in der Wahrheit...« (Joh. 4, 23). »Im Geist und in der Wahrheit« —das
ist nicht mehr substantiell. Die Stufe seiender »Gehalte« oder positivierten
»Verhaltens« ist überwunden. »Im Geist« verweist stattdessen auf den Geist als
eine ganze Weise des Inderweltseins - auf so etwas wie das Behältnis für Gehal
te, auf Form, Medium oder Element, Verfassung, auf etwas, das jedwede Gehal
te durchwirkt und in ihrem logischen Status bestimmt. Jung nannte es den
»pneumatischen Zustand«.9 Geist ist in dieser Äußerung logisch nicht mehr
»Substantiv«, sondern - einen, Jung sagt: »Zustand« (womit man noch auf der
empirischen Ebene bleiben würde), genauer wäre: einen (logischen) Bewußt-
seinsStatus charakterisierendes - »Adjektiv«.
Es wird dem alten Symbol der Taube etwas anderes abgenötigt, es muß
einen verwandelten Sinn annehmen, der noch nicht in ihm gelegen hatte und
keiner schon bekannten Tradition entspricht. Das Symbol der Taube muß sich
wandeln. Neuer Wein ist in die alten Schläuche gegossen worden.10 Die ganze
alte Logik des Gegensatzes von erotischer vs. »platonischer« Liebe wird aufge
hoben. Über diesen Gegensatz ist die christliche Liebe gerade hinaus. Die Frage
nach Sinnlichkeit vs. Geist in bezug auf Liebe zeigt, daß man den eigentlichen
christlichen Schritt nicht mitvollzogen hat und vielleicht auch gezielt vermeiden
will. Dieser Gegensatz ist christlich gesprochen einfach irrelevant. Um ihn geht
es schlechterdings nicht mehr. Das Christentum in diesem Sinn ist nicht natur
feindlich, antisexuell, sondern es hat die Natur (und damit auch den zur Natur
gehörigen, wenn auch ihr als ihr Gegensatz gegenüberstehenden Geist) über
wunden. Daher muß die Natur, muß das Sinnliche gar nicht bekämpft werden,
aber es ist auch nicht mehr der Ort der Erfüllung. Die Naturüberwindung ist viel
radikaler, als bei der Verteidigung des vorchristlichen erotischen Sinnes der
Taube geahnt wird.
Inwiefern ist die Naturüberwindung radikaler? Weil nicht ein einzelner
Bereich der Wirklichkeit, genannt Sinnlichkeit, Natur, Körper, zugunsten eines
anderen Wirklichkeitsbereiches (des Geistigen) verdammt wird. Mit solcher
Verdammung bliebe man nämlich im Substantiellen draußen, bei Seiendem, bei
Gehalten und nähme nur eine interne inhaltliche Umgewichtung innerhalb des
sich nach wie vor gleichbleibenden Status vor. Die Naturüberwindung des Chri
stentums jedoch hat so etwas wie die Stufe der seienden Gehalte überhaupt, d.h.
die ganze Stufe des natürlichen Bewußtseins oder der ganzen natürlich erlebten
Wirklichkeit einschließlich der geistigen Gehalte dieser Stufe, aufgehoben. Es
hat nicht die sinnliche Taube durch ein abstrakt-geistiges, spirituelles Symbol
ersetzt (»von Symbol zu Symbol«). Sondern es hat dadurch, daß es dasselbe
Symbol, das einst auf die sinnlich-erotische Liebe hinwies, beibehielt, jetzt aber
die Liebe als den heiligen Geist bedeuten soll, unser Denken genötigt, statt ex-
tensional von einem Symbol zu einem anderen fortzugehen, intensional zu ei
9 C.G. Jung, Briefe Bd. II, S. 354, vom 24. XI. 1953, an Victor White.
10 Vgl. W. Giegerich, »Neuen Wein in alte Schläuche: Über verbotenen Sprachgebrauch und den
Unterschied zwischen Neuerungen und Erneuerung«, unveröffentlichtes Manuskript.
nem anderen Status in seinem Verstehen der Bedeutung dieses selben Symbols
(und damit in seinem ganzen Weltverstehen) fortzuschreiten und so sich zu wan
deln. Das Bewußtsein wird gezwungen, über sich hinauszugehen und einen noch
ungeahnten, ungedachten Begriff von Liebe zu denken zu lernen. Das heißt aber,
uns selber wird die Wandlung zugemutet. Es genügt nicht mehr, an den objekti
ven Inhalten des Bewußtseins (an der Symbolik »draußen«: am Hl. Geist, an der
Taube) Änderungen und Umstellungen vorzunehmen (vom Logos zur Sophia,
von der sogenannten platonischen zur auch das Erotische umfassenden Liebe)
und die Aufgabe der Wandlung an die vor das Bewußtsein gestellten Inhalte zu
delegieren. Es geht nicht einfach um das Austauschen unserer Vorstellungen
von Gott und der Liebe, nicht um Änderungen der theologischen Lehre. Es geht
um unser eigenes Sein (Inderweltsein). Nicht einen anderen Gott, sondern Gott
in einer anderen Weise, nämlich »im Geist und in der Wahrheit« sollen wir ler
nen anzubeten. Es ist gerade die Macht des Geistes, aus oder in alten Begriffen
und Symbolen neue Bedeutungen fortzuzeugen, wobei »Bedeutung« hier auf un
sere Kraft des Begreifens und »neu« auf den höheren Status des Begreifens
(nicht auf irgendwelche anderen, aus einem vorhandenen Vorrat, etwa dem po
lytheistischen Schatz an Bildern aufgelesenen Bedeutungen) hinweist.
Jung schloß sich der gängigen Idee an, daß neuer Wein nicht in die alten
Schläuche gegossen werden dürfe.11 Ebenso sagte er: »Da sich Gegensätze auf
ihrem eigenen Niveau nicht einigen lassen (tertium non datur!), so bedarf es im
mer eines übergeordneten Dritten...«1112, und er meinte mit diesem Dritten ein
Symbol, das, weil es ebensosehr dem Bewußtsein wie dem Unbewußten ent
stamme, beide vereinigen könne.13 So sehr ich mit Jungs Intention dabei über
einstimme, so wenig halte ich diese Formulierung für sie geeignet. Das neue Ge
wand oder die neue Form, die der Mythos oder das Dogma braucht, ist kein po
sitives neues Gewand, mit dem das alte ersetzt würde, sondern entsteht nur ne
gativ gerade durch das Hineingießen des neuen Weines in die alten Schläuche,
der die alten Schläuche im Sinn der alchemistischen putrefactio zersetzt und so
von innen, in seiner logischen Form, verwandelt und erneuert. Und die Gegen
sätze lassen sich entsprechend nicht durch ein Drittes, durch andere symbolische
Inhalte, also Positives, vereinigen, sondern nur durch die genauso »negative«
Gewinnung des neuen Niveaus (für jedwede Inhalte) - nämlich nicht als linearer
Aufstieg, sondern gleichsam rückwärts als Absturz in die Bodenlosigkeit, als das
in seinen Grund Gehen des ganzen alten Niveaus: die absolut negative Er-
-innerung.
Mir scheint nicht nur die besondere Rückinterpretation der Taube in das
vorchristliche Welterleben, sondern auch die ganze Alternative zwischen andro-
läßt Fausts Vorhaben von der Aufgabe her verstehen, die Jenseitige zu erlösen
und ihr im Leben, gemeint ist in der raumzeitlichen Leiberwelt, Wirklichkeit zu
verleihen. Zwar liegt die »sehnsüchstigste Gewalt« dem Wortlaut nach auf der
Seite Fausts, was man allenfalls noch für die »subjektive Einmischung« heran
ziehen könnte, aber schamanistisch gedacht gilt sie für beide, denn auch Helena
dürfte danach auf »den heißersehnten Zugang« zum Leben in der hiesigen Wirk
lichkeit warten.
Die Verbindung zwischen einem jenseitigen Wesen und einem Menschen
war für den Schamanen gerade »etwas durchaus Regelrechtes«. Sie ist ebenso
noch auf späterer Kulturstufe das eigentliche Ziel der mystischen Erfahrung,
nämlich als unio mystica, d.h. als die hochzeitliche Vereinigung des Mysten mit
der Gottheit. Und gleichermaßen ist insbesondere der griechische Mythos voll
von Geschichten der zeugerischen Vereinigung zwischen Menschen und Göt
tern. Es bestünde also ganz und gar kein Grund für den Psychologen, Faust zu
kritisieren und ihm eine »subjektive Einmischung« vorzuwerfen. Genau darum
geht es bei diesem Vorhaben ja: um die für Initiation und Individuation unver
zichtbare Transgression25, um die Grenzüberschreitung nach drüben, um die In
zestthematik, die Thematik der therapeutischen »Übertragung«; also um eine so
zusagen »illegitime«, weil zu den fein säuberlich je auf ihrer Seite bleibenden
Vereinigungen eines menschlichen Mannes mit einer menschlichen Frau oder
eines Gottes mit einer Göttin »quer« stehende Beziehung über eine kategoriale
oder Dimensionsgrenze hinweg mitsamt dem Tabubrach, der darin liegt; und um
die (für sie Erlösung bedeutende) Einkörperung der Jenseitigen in einer diessei
tigen, leibhaften Gestalt.
Die »Einmischung« ist also gerade gefordert, weil »auf den älteren Kul
turstufen«, d.h. der seelischen Stufe der Kultur, »es die Jenseitigen (sind), die ei
ner Erlösung durch die Diesseitigen bedürfen.« Die Gegensätzlichkeit in der
coniunctio oppositorum liegt nicht darin, daß sich Männliches und Weibliches
gegenüberstehen und vereinen, und das Unerhörte des Inzests liegt nicht einfach
schon darin, daß dabei das Männliche und das Weibliche als Bruder und Schwe
ster oder Vater und Tochter oder Mutter und Sohn Nächstverwandte (»Gleichar-
25 James Hillman, »A Psychology of Transgression Drawn From an Incest Dream: Imagining the
Case«, Spring 1987, S. 66-76. Dt.: »Eine Psychologie der Überschreitung - gewonnen aus einem
Inzesttraum« in: GORGO 13/1987, S. 27-39.
tige«) sind.26 Der Geschlechtergegensatz bleibt noch auf ein und derselben Ebe
ne, und ebenso bedeutet die exogame Beziehung psychologisch gerade keine
Öffnung zu etwas grundsätzlich Anderem, sondern das Verbleiben im (kategori-
al) Selben. Nein, das eigentlich Gegensätzliche der Gegensätze sowie das Uner
hörte des dieser Gegensätzlichkeit entsprechenden oder sie ausdrückenden In
zesttabus ist die Zugehörigkeit der Gegensätze zu verschiedenen logischen oder
ontologischen Dimensionen, »Hier« und »Drüben«, Leiberwelt und Geister
reich, Mensch und Gott, mehr philosophisch: Realität und Idealität.
Von dem Gelingen dieser inzesthaften Beziehung hängt das sympatheti
sche Weltverhältnis ab. Es geht hier um das Problem, mit dem Plato unter dem
Stichwort »methexis« gerungen hat. Es geht um das Sakramentalische der Wirk
lichkeit, um das, was Goethe mit der Wortbildung »Gott-Natur« chiffrenhaft zu
fassen suchte und was Jung einmal als das Naturgöttliche ansprach. Wir könnten
auch unter Rückgriff auf Jungs Idee der Synchronizität von einer »synchronisti
schen Logik« sprechen.
Weil das Verhältnis, um das es hier geht, ein inzestuöses ist und weil, in
sofern z.B. auch die Initiation als Transgression nach drüben und Gewinnung
der Jenseitsbraut in einem weiteren Sinn inzestuösen Charakter hat und umge
kehrt der Inzest eine Form des Einstiegs in die Initiation ist, der Inzest von größ
ter Bedeutung ist, soll nun tiefer in die seelische - logische - Wirklichkeit, die
der Inzest bedeutet, eingedrungen werden; dies auch deswegen, weil der Inzest
unter dem Titel »Übertragung« auch in die praktische Psychotherapie hineinragt
—wenigstens hat Jung in seiner Betrachtung der Übertragung den Inzest in den
Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt. Ich stimme mit Jungs Sicht und Anlie
gen im wesentlichen überein und lehne mich auch in meiner Erörterung an seine
Darstellung, seine Befunde an, stütze mich auf das von ihm beigebrachte Mate
rial, doch nicht, um das von ihm Ausgeführte einfach zu wiederholen, sondern
26 Das Inzestverbot hat seinen Grund nicht einfach in der Biologie oder Soziologie, nicht in der
»Kultumotwendigkeit«, um der Herstellung eines festen größeren, über die Familie hinausgehen
den Gruppenzusammenhalts willen die endogame Verbindung zugunsten der exogamen zu ver
hindern und die »Verwandschaftslibido« aus dem Biologischen ins Geistige umzuleiten; die Her
stellung des Zusammenhalts größerer sozialer Verbände folgte vielmehr, so müssen wir umge
kehrt annehmen, den von dem immer schon seelisch-geistigen Komplex von Inzest-und-
Inzestverbot vorgezeichneten Bahnen. Anders als John Layard kann ich in der endogamen
(Inzest-) Tendenz fü r sich genommen keinen echten Trieb, kein »primary desire« sehen (John
Layard, »The IncestTaboo and the Virgin Archetype«, Eranos 12-1945, S. 254-307, wiederabge
druckt mit gleicher Seitenzahl in: The Virgin Archetype: Two Essays, New York [Spring Publica-
tions] 1972). Der Inzest und sein Verbot sind vielmehr gleichursprünglich, ein in sich wider
sprüchliches Eines und Einiges. Und sie sind immer schon gesetzt (geistige Setzungen, nicht na-
turhafter Instinkt). Die Faszination des Inzests, ja überhaupt das Erleben der endogamen Verbin
dung als Inzest und so schon der bloße Begriff »Inzest« setzen ebenso das Tabu voraus wie um
gekehrt das Tabu diese Faszination. Biologisch, in der Tierwelt etwa, gibt es weder das Inzesttabu
noch den »Begriff« Inzest, sehr wohl aber endogame Verbindungen, die vom Menschen her gese
hen als inzestuös bezeichnet weiden könnten, es aber für sich keineswegs sind.
um mich kritisch mit der (seinem eigentlichen Anliegen nicht immer angemesse
nen) Fassung, die seine Sicht in seiner Darstellung erhält, auseinanderzusetzen.
Die kritische Auseinandersetzung hat also nicht den Sinn, Jung zu kritisieren im
Sinn von herabzusetzen, sondern genau umgekehrt sein Anliegen vertiefend
weiterzufuhren. Sie soll für uns die schwierigen logischen Verhältnisse, die in
nere Komplexion, die sich hinter dem Wort und in dem Begriff Inzest verber
gen, in schärferes Profil bringen.
Der Inzest, sagt Jung, symbolisiere die Vereinigung mit dem eigenen We
sen, die Individuation oder Selbstwerdung. Er sei die der Uridee der Selbstbe
fruchtung unmittelbar folgende Stufe der Vereinigung von Gleichartigem, und
die Form homosexueller Verbindungen wie in der alchemistischen Arisleusvi-
sion stelle die Vorstufe des Bruder-Schwesterinzestes dar.27 Das ist mißver
ständlich. Es hat nur Bestand, wenn man die Dialektik des Jungschen Selbst-
Begriffs im Sinn behält. Das Selbst heißt für Jung eben gerade nicht »ich
selbst«. Die Vereinigung »mit dem eigenen Wesen« oder mit »Gleichartigem«
ist gerade die Vereinigung mit dem ganz Anderen, Ungleichartigen, Jenseitigen,
der grundsätzlich initiatische (transgressive) Schritt über die Sphäre des
Menschlich-Allzumenschlichen hinaus, über diejenige kategoriale Grenzlinie
hinweg, die Menschen und Götter, Diesseitige und Unterweltliche, trennt; ganz
so, wie die exogame Verbindung nur deswegen unkompliziert und bedenkenlos
ist, weil sie als die Vereinigung biologisch-soziologisch Ungleicher (Nichtver
wandter) psychologisch oder metaphysisch die Verbindung Gleicher (der glei
chen ontologischen Kategorie Angehöriger: menschlicher Mann mit mensch
licher Frau) ist.
Oben, in dem Kapitel über die dreifache Stellung der Seele zu der Erfah
rung ihres Anderen habe ich den Fall Jungs von der achtzehnjährigen katatonen
Patientin, die während der Zeit ihrer Entrückung mit einem überirdisch schönen
Vampyr auf dem Mond gelebt hat, erwähnt. Jung führt die Psychose dieser Pati
entin auf den Inzest mit ihrem Bruder, der sie, als sie fünfzehn Jahre alt war,
verführt hatte, zurück (natürlich nicht im Sinn einer äußeren Kausalität [»Inzest
bewirkt Psychose«], sondern der schöpferisch-freien seelischen Verarbeitung ei
nes faktischen Geschehnisses, kraft welcher die Patientin von der lebendigen in
neren Logik des Inzestarchetyps ergriffen wurde).
Durch den Inzest, den sie als junges Mädchen erlitten hatte, fühlte sie sich in den Au
gen der Welt erniedrigt, im Reiche der Phantasie aber erhöht: sie wurde sozusagen in
ein mythisches Reich versetzt; denn der Inzest ist traditionsgemäß eine Prärogative
des Königs und der Götter. Dadurch trat aber eine völlige Entfremdung von der Welt
ein, der Zustand der Psychose. Sie wurde sozusagen extramundan und verlor den
Kontakt mit den Menschen. Sie geriet in kosmische Entfernung, in den Himmels
raum, wo sie dem geflügelten Dämon begegnete.28
Animus---------------- Anima
so daß die direkte »innere« Beziehung des Adepten nicht zu seiner Anima, son
dern zum Animus oder zu seinem höheren Double geht, während er zur Anima
oder schamanistisch gesprochen zur Geistin in überkreuzter Beziehung steht.
Dagegen hat Jung sein eigenes Schema der Übertragung GW 16 § 422, das auch
dasjenige ist, das von seinen Schülern aufgegriffen wurde, dahingehend abge
wandelt, daß die Personen auf der unbewußten / jenseitigen Ebene vertauscht
sind,
A dept--------------------Soror
so daß der Adept auf der unbewußten Ebene nicht mehr »im Geheimen« und
über Kreuz (wie Jung unmittelbar vor Einführung des Schemas von § 422 selbst
noch gesagt hat), sondern direkt auf seine Anima (Regina, Luna, Geistin) und
dafür nicht mehr direkt, sondern überkreuzt auf den Animus (Rex, Sol) bezogen
ist. Dieses stillschweigend (selber »im Geheimen«) vorgenommene Geraderük-
ken des authentischerweise Überkreuzten hat Jung vermutlich einzig deswegen
vorgenommen, um es mit seiner (sich gerade auch von hier aus wieder als pro
blematisch zeigenden) Theorie von Anima und Animus als inneren »gegenge
schlechtlichen Persönlichkeitskomponenten« (der Adept und seine Anima) in
Einklang zu bringen, womit das Verhältnis de facto, wenn auch entgegen Jungs
erklärter Intention, psychologisiert (ins abgespaltene Innere hineingestopft)
wird.
In der Deutung eines bestimmten russischen Märchens (»Fürst Daniel
hat’s befohlen«), wo ein Inzest beinahe vollzogen und nur durch einen merkwür
digen Ritus der Aufstellung von vier Puppen in den vier Ecken des Zimmers
verhindert wird, setzt Jung einen Gegensatz zwischen Inzest und Heiratsquater-
nio an. »... es handelt sich [bei diesem Motiv] um die Verhinderung des Inzests
und damit eben um die Ersetzung der Zwei durch die Vier«.30 Damit stellt Jung
den Inzest, als buchstäblichen, auf die eine Seite, den Heiratsquatemio als
geistig-seelischen auf die andere. Das paßt mit dem eben von mir Ausgeführten
nicht zusammen, und es scheint mir auch unhaltbar, weil damit zwei ganz ver
schiedene Unterscheidungen und Probleme vermischt werden. Wir versuchen
Es wäre da nur deswegen der Mühe wert, ein Mensch zu sein, weil die Magie in
Wahrheit schon längst von uns, auch von Faust, entfernt ist.31 Faust kann nur so
sprechen, weil er im tiefsten weiß, daß die Zeit des unmittelbaren Zaubems und
der unmittelbar zauberhaften Welt vorbei ist, er diesem seinem Wissen aber
nicht Folge leisten will oder zu können glaubt. Heute gilt: Die Wirklichkeit ist
zerfällt. Sie hat zwei Hälften. Als jenes moderne Ich kann man nicht nur, man
muß immer die eine Hälfte gegen die andere ausspielen. Das ist die Natur des
Ichs. Es kann Wirklichkeit nicht erreichen. So läßt sich auch kein wirkliches In-
korruptibles herstellen. Es könnte immer nur subjektives Erlebnis, in Traum, vi
sionärer Erfahrung oder aktiver Imagination, sein, nicht aber die wirkliche Welt
in sich begreifende Wahrheit und Wirklichkeit.
Daher wäre Faust auch nicht geholfen gewesen, wenn er entsprechend
dem alchemistischen Modell den Paris an der Seite von Helena gelassen hätte.
Denn dann wäre die Aufgabe der coniunctio ebenfalls gescheitert, insofern dann
zwei Jenseitige (zwei mythologische Gestalten) miteinander verbunden gewesen
wären, was fruchtlos wäre. Das ganze Geschehen wird bei dieser Konstellation
gezeigt, sich nur noch in einem Jenseits, in einem imaginalen Raum zwischen
imaginalen Gestalten, Sol und Luna, also in einer von der Wirklichkeit durch ei
ne kategoriale Grenze getrennten »bubble« des Imaginalen abzuspielen. Die
Psychologie wird rein platonistisch, und der Mensch wird unaufhebbar zum blo
ßen Zuschauer, der das mysterium coniunctionis nur noch vor sich oder intro
spektiv in sich in dem Vas des eigenen Innern verfolgt oder rein mythologisch
als Hierosgamos der Götter im überhimmlischen Ort Platos ahnt, ersehnt, fühlt
und »glaubt«. Diese Art von Mythologie gehört schon in die auf die rituelle Stu
fe folgende religiöse Kulturstufe, wo die Verbindung zwischen hier und drüben
gerade schon abgerissen ist und der Mensch mit den Göttern, in einem hier not
wendigen technischen Bild gesagt, nur noch telefonisch (im Gebet, im Glauben
und in der Hoffnung) und über die Television (im andächtigen, »anhimmeln-
31 Wir müssen hier freilich qualifizieren: der aus dem Zauber der Welt Herausgetretene (-gefallene)
und der Natur als ein Mann allein Gegenüberstehende wäre nicht wahrhaft Mensch. Es wäre nur
deswegen wert, in dieser Weise ein Mensch zu sein, weil man dann wieder auf dem Weg zum
Menschsein des Menschen wäre und dieses Auf-dem-Weg-Sein lohnender ist als das Festhalten
am obsolet gewordenen unmittelbaren Menschsein.
den« Aufblick zum Himmel, im Blick in die Retorte) kommunizieren kann; wo
die Verbindung zwischen Mensch und Gott nur noch als ein in einer unwieder
bringlich verlorenen mythischen und so ihrerseits für uns jenseitigen Vorzeit
vorgekommenes Ereignis vorgestellt werden kann, und gerade nicht zwischen
wirklichen, hier und jetzt lebenden Menschen und Jenseitigen, sondern zwischen
»mythischen Heroen« (also halb jenseitigen Halbgöttern) und jenseitigen Gei
stern / Göttern. Ich vermute, daß sich in dieser Hochstilisierung zu Halbgöttern,
mit der die Möglichkeit des mysterium coniunctionis oder der unio mystica kate-
gorial von uns gewöhnlichen Menschen heute fort in das vorzeitliche Jenseits
der Heroenzeit weggeschoben wird, einfach nur das im historischen Übergang
von der rituellen zur religiösen Kultur erfolgte Sich-Verabschiedethaben der
Menschen von der (gar nicht jenseitigen, sondern in ihrer Zeit durchaus irdisch
realen) Institution der Initiation widerspiegelt. Der Heros des Mythos wäre so
nicht wirklich ein eigentlicher Halbgott, sondern er wäre nichts anderes als der
gewöhnliche, aber initiierte (und durch die Initiation selber »vergottete«)
Mensch gewesen, etwa der Schamane, der freilich für den die Initiation grund
sätzlich von sich weisenden Menschen naturgemäß zu einem Fabelwesen wer
den muß.
Damit die logische Form des Bewußtseins errungen wäre, so daß das Be
wußtsein dem logischen Status, in dem sich die »objektive Seele« heute längst
befindet, entsprechen würde und auf einer völlig neuen Stufe wieder eine au
thentische Beziehung nach »drüben« möglich wäre, wo also »das Ganze noch
einmal wahr«32 würde (auch der Zauber der Welt), müßte der Weg der transzen
denten Funktion konsequent weiter gegangen worden sein. Dies hätte den uner
bittlichen Durchgang durch das wache Erleben des schmerzlichen Verlusts der
Inständigkeit in einer zauberhaften Welt und durch das ebenso wache Erleben
des einsamen einer entzauberten »Natur« Gegenüberstehens bedeutet. Fausts
Problem ist nicht eigentlich die Einmischung, sondern es ist die ungenügende lo
gische Form. Er hat sich als dasjenige Bewußtsein eingemischt, das längst über
Antike und Mittelalter hinaus ist, sich aber doch noch den Luxus leistet, in einer
»antiken« oder »mittelalterlichen« Form des Denkens und Erlebens zu verhar
ren.
Von hier aus können wir auch zu Jungs angesichts des russischen Mär
chens geäußerten Ansicht, daß Inzest und Heiratsquatemio gleichsam Alternati
ven seien, Stellung beziehen. Ich glaube, daß die Vermeidung des buchstäbli
chen Inzests nicht deswegen nötig ist, weil der Inzest als die Vereinigung der
Zwei den Quatemio verhindere und die Zwei gerade durch die Vier ersetzt wer
den müßte, sondern weil wir kraft des durch die Historie erfolgten Bruchs nicht
mehr in der sakramentalisch verfaßten Wirklichkeit leben, in der der buchstäbli
che Inzest, wie der des Pharao, auch wirklich in ihm selbst die Vierheit enthielt
36 Man vergleiche die im alchemistischen »Axiom der Maria« ausgedrückte Bewegung, die schein
bar rückwärtsschreitend, in Wahrheit aber sich nach innen, in ihren irreduziblen logischen Kem
hinein vertiefende und ver-einfachende, verwesentlichende Intensivierung der Vier zur Drei zur
Zwei zur Eins.
sperrtsein ins Freie, in die Flüssigkeit des Logischen, er ist der Eintritt in den
ganzen Weltbegegnungszusammenhang als die komplexe logische Bewegung
der Seele, weil er die Gewinnung der sakramentalischen Logik als der von da an
wirklichen Logik des Inderweltseins ist.
Der Mensch, so hat Bruno Liebrucks gesagt, kommt weder mit der Geburt
noch durch Lernen zur Welt. Wir dürfen hinzufügen: auch nicht durch »Ent
wicklung« (bzw. Entwicklung nur als animushafte, wie oben unter dem Titel
Geschichte besprochen). Er verdankt, so können wir es einmal ausdrücken, sein
zur Welt Kommen seiner eigenen Erzeugung jenes Mehrwerts (religiös gespro
chen seiner Wiedergeburt, womit allerdings, animahaft, nur der Erfahrungsan
teil, nicht der aktiv-zeugerische Anteil ausgedrückt ist). Das Wort Mehrwert be
sagt, daß es sich nicht um die Auffindung und Gewinnung von etwas schon,
wenn auch zunächst nur verborgen, Vorhandenem handelt, sondern um etwas
ganz und gar Neues, das in der »Natur« nicht vorkommt. Es ist »künstlich«, et
was »Überflüssiges« - reiner Überfluß über das Natürliche hinaus, so wie die
Kultur überhaupt »überflüssig« ist, und insofern gewissermaßen ein unnützes
»Nichts« (nur weil der Mehrwert künstlich erzeugt wird, kann er überhaupt
Mehrwert sein. Anderenfalls verbliebe er ja gerade naturgegeben, gewöhnlich
und so nicht »Mehr-«). Der Mehrwert ist ein Nichts auch deswegen, weil er
nichts positiv in der Natur des Menschen Vorfindliches ist, sondern sich einzig
der Negation (Aufhebung) des Bloß-Natürlichen, dem sich innerhalb seiner von
ihm Abstoßen verdankt. Aber der Gewinnung dieses »Nichts« verdankt der
Mensch seine Menschwerdung. Näher ist dieser Mehrwert oder dieses Nichts
das Geistige: reine Logik als die logische Bewegung der Seele, als ganz abstrak
te, aber lebendig-dynamische (flüssige) Trennungen-und-Vereinigungen von
Gegensätzen oder anderen Gedankenbestimmungen (z.B. oben - unten, diesseits
- jenseits, gleich - ungleich, Gegensatz - Einheit, heilig - profan, gut - böse, in
nen - außen, Ursprung - Resultat usw.), die als ganz abstrakte sich selbst genü
gen, d.h. von nichts abgeleitet sind und auf nichts außer ihnen hinweisen. Wenn
Jung von der »autonomen Psyche« spricht - dies ist die Wirklichkeit, worauf er
damit in Wahrheit hinweist.
Der »Mehrwert« stellt dabei jedoch nicht, wie der Name zu verstehen ge
ben könnte, eine äußerlich-additive Erweiterung, einen Zusatz (Anbau oder
»Überbau«) dar, sondern erfolgt negativ in der Weise der Er-innerung als eine
interne (logische) Weitung, Öffnung, Selbstdifferenzierung, wie sie etwa auch in
dem Mythologem der Welteltemtrennung ausgedrückt ist und wie wir sie ebenso
als Lichtung des Schlafs zum Traum oder als die innere Verdoppelung und im
manente Transzendierung der Zwei zum Quatemio gesehen haben. Letztere, und
mit ihr der durch sie gezeugte Mehrwert, verdankt sich der selber schon künstli
chen (rein logischen und insofern »mehrwerthaften«, »überflüssigen«, »nichti
gen«) Unterscheidung zwischen der Verbindung Gleichartiger (endogame) und
der Verbindung Ungleichartiger (exogame Tendenz), also der Erfindung der
Idee des Inzests als der Einheit von Inzestfaszination-und-Inzesttabu.
In der alten Welt dienten vor allem die diversen Rituale, die Opfer und
Bräuche in ihrer Kontinuität und periodischen Wiederholung der Erzeugung, Er
haltung (das heißt nicht: Konservierung, sondern: in Bewegung Halten, flüssig
Halten) und der sinnlichen Darstellung der an sich ganz abstrakten und so abso
lut einfachen, aber zugleich höchst komplexen, weil selbstwidersprüchlichen lo
gischen Bewegung. Im Vollzug dieser Rituale, insbesondere in der Institution
der Initiation, brachte der archaische Mensch zugleich sich selbst und die Welt
logisch-wirklich, psychisch-reell in diese Logik hinein und auf die Höhe dieser
Logik und versuchte sich und die Welt in ihr, in dem logischen Leben der Seele,
in der Einfachheit dieser Bewegung zu halten (was sich z.B. darin spiegelt, daß
die heiligen Feuer fortwährend am Brennen gehalten werden mußten). Mit dem
Cusaner gesprochen: ad illam se eleverunt simplicitatem, ubi contradictoria
coincidunt, sie haben sich auf die Höhe (oder Tiefe, s’ist einerlei) jener Einfach
heit gebracht, wo die Gegensätze ineinanderfallen.37 Das war die Gewinnung
des »Mehrwerts«, das Märchen würde mit Symbolen sagen: die Gewinnung von
Prinzessin, Goldschatz oder Lebenswasser, worin wir die Gewinnung seiner (des
Menschen) selbst und der Welt als göttliche, als nur innerhalb des Geistes und
der Seele wirkliche, sehen können.
Wir meinen uns und den »Mehrwert« nicht mehr selbst erzeugen zu müs
sen. Wir haben die initiatische Weise des Inderweltseins längst hinter uns gelas
sen. Dafür spüren wir jedoch einen fundamentalen, kaum erträglichen Mangel.
Um ihm abzuhelfen, umstellen wir uns mit Antiquitäten, mit den positiven Re
likten früherer Selbsterzeugungsakte. Wir rennen zu Hunderttausenden in
Kunst- oder historische Ausstellungen. Wozu? Um den letzten Rest an logi
schem Leben der Seele aus ihnen herauszuquetschen. Wir schmarotzen. Wir
brauen ein Ragout von andrer Schmaus und zehren von den von sämtlichen
früheren Zeiten, ganz gleich welcher, hergestellten Sinnressourcen. Wir nennen
es »Kultur« (wie in »Kulturhaus«, »Kultur im Zelt«, »Kultur unterm Turm«)
und ersetzen, was logisches Leben war, durch unsere Aktionen und unsere emo
tionale Bewegung: die Vampirstufe des Bewußtseins.
Der Inzest, ganz gleich, ob er wie beim Pharao buchstäblich oder wie für
die Alchemisten der modernen Psychotherapie symbolisch-verinnerlicht ist, ist
und bleibt (wenn er denn wirklich Inzest ist, d.h. dessen innere Logik zur Wir
kung bringt) Zwei und Vier zugleich, und der Heiratsquatemio ist und bleibt im
mer logisch wirklicher (wenn auch nicht immer buchstäblicher) Inzest der Zwei.
Anstatt wie Jung zu sagen, daß die vier Puppen im russischen Märchen »Fürst
Daniel hat’s befohlen« ein magisch wirksames Simulacrum bildeten, das die
Umgehung des Inzestes ermöglicht, könnte man das Märchengeschehen auch so
37 Das Cusaner-Zitat nach C.G. Jung, GW 16 § 537 (von mir leicht verändert).
deuten, daß es einfach nur die innere Dynamik oder das Inbild, genauer: die Lo
gik, des Inzestes selbst enthüllt, eben die innerhalb seiner erfolgende (logische)
Öffnung der Erde (»Erde tu dich auf«) als die Vertiefung von der gewöhnlichen
zu einer extramundanen Ebene zusammen mit der Entdeckung der Unterwelts
braut als der logischen Tiefendimension der wirklichen Schwester selbst (nicht
einer völlig anderen Person). Das Wesen des wahren Inzestes ist ja, daß er keine
bloße »Bettgeschichte« und zwischenmenschliche Beziehung ist. Er hat also
das, was, wenn es wie in einer Erzählung empirisch vorgestellt wird, wie eine
Vermeidung seiner aussieht, innerhalb seiner selbst. Er ist in sich die Negation
oder Aufhebung seiner selbst, so daß er - sofern er wirklich Inzest im eigent
lichen Sinn ist - nicht in der buchstäblichen Liebesaffäre der irdisch-menschli
chen Personen aufgeht, sondern sich in sich selbst von sich selbst abstößt: näm
lich von sich als buchstäblichem sexuellem Akt zu sich als Beziehung über die
kategoriale Grenze nach Drüben hinweg.
Der Archetyp des Quatemio ist so oder so immer erfüllt, er kommt, wenn
ich mich einmal so ausdrücken darf, immer auf seine Kosten, und nur für uns
Menschen macht es einen Unterschied, ob so oder so (ob z.B. in der Psychose
oder in der symbolischen Erfahrung oder in der wirklichen Logik der Zeit).
Wenn Jung über die soziale Urordnung sagt, sie stelle »einen Archetypus dar,
der den Gegensatz von Endogamie und Exogamie in glücklichster Weise einig
te, indem sie zwar die Bruder-Schwesterehe verunmöglichte, dafür aber das
cross-cousin-marriage einsetzte«,38 dann würde ich dem entgegensetzen, daß das
cross-cousin-marriage nichts anderes als die archetypische (logische) und ledig
lich im Medium der sozialen Wirklichkeit ausgelegte Bruder-Schwesterehe {zu
sammen mit ihrer »jenseitigen Verdoppelung«) wirklich war, es war die gegen
ständliche Darstellung, im Sozialleben, (speziell von der inneren Komplikation)
der endogamen Tendenz, nicht die Verunmöglichung der Endogamie; was in un
seren modernen Augen und für ein äußerliches Sehen als der inzestuösen Bin
dung entgegengesetzte Exogamie erscheint, ist urtümlich oder psychologisch
verstanden die Widerspiegelung der sich gerade nur innerhalb und kraft des
wirklichen Inzests ereignenden inneren (logischen) Vertiefung und Weitung
zum »Drüben«, der internen Selbstdifferenzierung des Menschen zu einem hie
sigen und einem jenseitigen. Mit einem geometrischen Bild gesagt: Der dreidi
mensionale, weil durch die Vertikale der Transgression von Hier nach Drüben
und die Horizontale der zwischenmenschlichen inzestuösen Beziehung ausge
zeichnete Inzestquatemio wurde auf die horizontale Fläche der Sozietät proji
ziert. Bei dieser Übersetzung ins rein Irdische ging zwangsläufig die eine, näm
lich die vertikale Dimension verloren, aber paradoxerweise gerade so, daß eben
deswegen die Überkreuzung, die Transgression zu einem Jenseits, thematisch
werden und durch einen diesseitigen Ersatz oder eine diesseitige Entsprechung,
43 »Quer« ist als räumlicher Ausdruck ein nur cum grano salis zu genießendes Bild. In Wahrheit
geht es gerade nicht um eine räumliche Bewegung, sondern um die Bewegung aus allem noch als
räumlich Vorstellbaren hinaus in die »Räume« der nur noch zu denkenden logischen Bewegung,
in die »Bewußtheit«.
44 Briefliche Mitteilung vom 2. Juli 1992.
Fall immer Frauen, im anderen Fall immer Männer? Wamm kommt das Umge
kehrte nicht vor? Wir können jetzt, nach dem Durchgang durch die Anima-/Ani-
mus-Thematik, das, was eingangs nur behauptet wurde, mit einem am Material
erarbeiteten Wissen aussprechen, daß nämlich diese Differenz, weit entfernt da
von, über die unterschiedliche Natur der Männer (gewalttätig) und der Frauen
(verführend, anziehend) zu sprechen, die grundlegende Differenz der beiden
Projekte der Seele ausdrückt: erstere Erzählungen handeln von initiatischer
Transgression und coniunctio innerhalb der Animasphäre, letztere gehören in die
Animusthematik des syzygischen Bewußtseins hinein. Beide Anliegen werden
freilich von der Syzygie im weiteren Sinn als der doppeldeutigen »Gestaltung,
Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung« umfaßt (wodurch sich
die Syzygie zeigt, als Zusammengespanntsein der zwei Gegensätze in Wahrheit
in ihr selbst zugleich a) als coniunctio- oder Inzestproblematik zur Vierheit, zum
Quatemio verdoppelt zu sein und b) als Bewußtseins- oder Animusthematik tri-
nitarischen Charakter zu haben, was uns im nächsten Kapitel beschäftigen wird).
Nur wo und in dem Maße wie Männer und Frauen mit den archetypischen
männlichen und weiblichen Bildern identifiziert sind, ist dann auch ihre Natur
entsprechend. Aber diese Natur ist dann nicht die biologische Natur der Gene,
sondern die seelische und kultürliche Natur der Bilder.
Das Anliegen der Syzygie, sich selbst in ihrer Geistigkeit und das heißt
Negativität (Behältnis-Charakter) durchsichtig zu werden, ist nämlich zugleich
das Anliegen des Animus innerhalb der Syzygie. Er hält das unmittelbare Vor
laufen in die Urerfahmng oder Sinnerfahrung auf. Wir haben das im Blaubart-
Märchen und im Räuberbräutigam-Märchen gesehen: anstatt in der Initiations
hütte im Wald die »Urerfahrung« durch die schamanische Zerstückelung zu
durchleben, wird das Mädchen durch den Animus in eine Gegenstellung zur In
itiation gebracht. Der Animus, anstatt wie die Anima auch die Beziehungsfunk
tion zum »Unbewußten« (gemeint ist: nach »drüben«, zum Geisterreich, zu den
Göttern) zu sein, verhindert die Transgression nach Drüben. Er hält im Herüben
fest. Er zwingt, vor der Initiation zurückzuschrecken, er lehrt, ihr gegenüber an-
sichzuhalten, sich aufzusparen, und wirft die Anima auf sich selbst zurück, wo
durch die Reflexion und das Ich entstehen. Er wird geboren als die aufgehalte
ne, gehemmte Initiation, als die aufgesparte Vor-läufigkeit in die Sinnerfah
rung. Der Animus oder die (vom Animus her erfahrene) Syzygie als transzen
dente Funktion ist so nicht etwas völlig Verschiedenes von der coniunctio, son
dern beide sind das Selbe in verschiedenen »Medien«. Die transzendente Funk
tion ist gleichsam die in die Zeit als Geschichte ausgelegte coniunctio selbst. Sie
ist im dialektischen Sinn des Wortes die Aufhebung des Initiatischen, die Aufhe
bung der Anima-Stufe: sie verhindert, daß sich die Seele, wie es natürlich für sie
wäre, in das Drüben ergießt, sich für es »verströmt« und »verausgabt« und sich
in ihm erfüllt; aber der Animus als transzendente Funktion verhindert nicht nur,
sondern bewahrt auch die Dynamik der Initiation. Er nutzt jedoch ihre transgres-
sive Kraft anders, nicht als Grenzüberschreitung über eine kategoriale Grenze
hinweg, sondern als »Fortschritt« im Diesseits, zu neuen Stufen des Bewußt
seins. Die »Transgression« (nach Drüben) auf der Anima-Stufe und die »Trans
zendenz« (zu einer neuen logischen Stufe) auf der Animus-Stufe sind derselbe
Vorgang, dem jeweils nur eine andere Richtung gegeben wird. Indem der Ani
mus die Bewegung bei sich und in sich behält, zwingt er sie, sich intensional: als
alchemistische Steigerung, sublimatio, destillatio auszuwirken und das Bewußt
sein selber - nicht positiv-inhaltlich, durch Zugang zu neuen Gegenständen und
Wirklichkeitsbereichen, sondern - in ihm selbst, in seiner logischen Verfaßtheit
zu verwandeln, im Sinn von Bedeutungsfortbestimmung und -fortzeugung.
Auf der Stufe der Syzygie kann die Form, in der die coniunctio im enge
ren Sinn oder die Urerfahrung erfahren wird, nicht mehr das einfache »Erleben«
sein. Die »Psychologie« als die Blickrichtung auf das persönliche Innere steht
immer schon auf verlorenem Posten. Sie ist ein atavistisches Unterfangen, eine
Totgeburt. Das heutige Problem ist das der logischen Form. Jung wollte mit sei
ner Bemerkung über die subjektive Einmischung Faust sozusagen noch einmal
»zurückpfeifen«: zurück zur »mythologischen« Ebene des Erlebens, zur mittel-
alterlich-alchemistischen Verfassung des Bewußtseins - im Widerspruch zu sei
ner eigenen anderweitig ausgesprochenen Einsicht, daß es kein Zurück für uns
gibt, daß vielmehr »unsere Kulturformen samt ihren historischen Dominanten«
»zerbrochen« und »ausgehöhlt« sind. »Wir haben keine Leitbilder mehr, sie lie
gen in der Zukunft.«45 Die an sich ewigen Urbilder können »nur in neuer Gestalt
... aufs neue begriffen werden. Immer erfordern sie neue Deutung...«. »Haben
sich die Konfessionen dieser säkularen Veränderung angepaßt? Ihre Wahrheit
darf sich zwar, mit ungeahntem Recht, ewig nennen, aber ihr zeitliches Gewand
hat den Zoll der Vergänglichkeit zu entrichten: es sollte der seelischen Verände
rung Rechnung tragen.« »Wo sind die Antworten auf die seelischen Nöte und
Bedrängnisse einer neuen Zeit? Wo überhaupt das Wissen um die seelische Pro
blematik, welche die Entwicklung des modernen Bewußtseins aufgeworfen
hat?«46
Bei der Zukunft, in der unsere Leitbilder liegen, wird es also nicht um in
haltlich neue Leitbilder gehen. Die Suche nach neuen (oder wiederbelebten al
ten) Symbolen, Sinngebungen, Werten, Idealen, Glaubenslehren, Weltanschau
ungen hält gerade am alten Bewußtsein, d.h. an der alten logischen Form von
Bewußtsein, fest. Doch das kann gerade nicht mehr wiederkehren: eine Wahr
heit, die die gegenständliche Form des Symbols oder eines Glaubens, also eines
Inhalts oder eines Was hätte. Auch die Aufstellung neuer ethischer Forderungen
ist die Abwehr der Zukunft. Ethische Forderungen und die Anstrengung, sie zu
erfüllen, sind der bequeme Weg, wie man sich um das Eigentliche drücken und
45 C.G. Jung, Briefe Bd. III, S. 336. An Herbert Read, 2.IX.60. Meine Hervorhebungen.
46 C.G. Jung, GW 16 § 396.
sich dazu noch wer weiß wie edel und rechtschaffen Vorkommen kann. Was ist
das Eigentliche? Es ist, noch einmal sei es betont, den Tod als altes Bewußtsein
zu sterben. Forderungen dienen aber nur dazu, das alte Bewußtsein zu stabilisie
ren, und zwar dadurch, daß die durch es gebrachten Widersprüche mit Gewalt,
vom grünen Tisch herab, wegkommandiert werden. Mit dem Zusammenbruch
der Kommandowirtschaften der Ostblockländer hat sich das Bewußtsein eigent
lich längst die Obsoletheit der ganzen Logik ethischer und idealistischer Forde
rungen unwiderruflich vor Augen geführt, was freilich nicht jedermann hindern
muß, trotzdem in ihr zu verharren und auf neuen Forderungen zu bestehen.
Das, was einst völlig legitim als rituelle Handlungen, visionär-bildhaftes
Erleben, Symbole und Mythen oder auch als alchemistisches Mysterium vollzo
gen und erfahren wurde, ist in ganz neuer logischer Form, nämlich innerhalb
von Bewußt-Sein und als logische Bewegung zu begreifen und darzuleben. Wie
hatte Jung gesagt? »Ich brauche eine Situation, wo das Ganze noch einmal wahr
wird. Ich brauche eine neue Form.« Das ist gleichermaßen die Absage an das
konservativ-nostalgische Zurück im Sinn einer Wiederbelebung alter (fossiler)
Wahrheiten wie an das revolutionär-aufklärerische Fortschrittsdenken oder an
jegliche Utopie. Es ist das Verlangen der Seele nach einer ganz neuen Situation,
in der das der Anima-Stufe Entsprechende oder die zeitlose Wahrheit in der un
serer Zeit entsprechenden Form wahr werden kann. Das kann aber nur sein,
wenn das Bewußtsein aus der Schwarzer-Kasten-Situation herauskommt. Es
kann jedoch - entgegen allen »emanzipatorischen« Adoleszententräumen - nur
herauskommen, indem es, als bisheriges Bewußtsein untergehend, in den
Schwarzen Kasten einkehrt, in ihn erinnert wird, um in seiner Abgründigkeit ge
gründet zu werden. In diesem Kasten steckt nämlich die ganze alte Animawelt -
aber (eben weil sie darin verschlossen wurde und damit ihre natürliche Unmit
telbarkeit unwiderruflich aufgehoben ist) nicht mehr in ihrer alten Form, son
dern so, daß dann, wenn das Bewußtsein sich in den Kasten hineinbegäbe, die
Animawelt logisch wiedergewonnen wäre auf der nach-natürlichen Ebene von
Bewußt-Sein oder auf der Stufe der Syzygie.
In die Zukunft gelangen wir also nicht direkt, nicht durch den Gang weg
von der Gegenwart nach vorne. Aber auch nicht umgekehrt durch den nostalgi
schen Blick zurück in die Vergangenheit oder in das eigene Innere, nicht durch
Festhalten oder Wiederbelebung (Renaissance). Sondern wir gelangen in die le
bendige Zukunft entsprechend der Widersprüchlichkeit, Negativität und Inten-
sionalität des Geistes einzig dadurch, daß wir rückhaltlos in das, wovon wir mei
nen wegstreben zu müssen, abstürzen. Doch steckt in diesem Satz kein Sollen,
die Rückhaltlosigkeit des Absturzes ist keine Leistung. Wir müssen dazu, den
Tod als altes Bewußtsein zu sterben, nichts tun, überhaupt nichts. Wir müssen
nur begreifen, immer tiefer und in allen Einzelheiten, daß wir und unsere ganze
Welt schon längst in dem kleinen Schwarzen Kasten drinstecken, gerade dann,
wo wir noch meinen, draußen zu sein und niemals in ihn als in ein zwar inner
weltlich seiendes, aber gleichwohl mysteriöses Etwas hineinblicken zu können.
Das Begreifen erfordert zwar die Anstrengung des Begriffs. Aber auch diese
Anstrengung ist in erster Linie keine subjektive. Das wahre Begreifen wird uns
durch den objektiven Gang der Geschichte angetan, ganz gleich ob wir wollen
oder nicht. Wir sind seine Opfer. Es wird uns dadurch mehr und mehr ins
Fleisch eingeschrieben, daß wir und unsere Welt in den objektiven Veränderun
gen des gesellschaftlichen Lebens und der Umwelt von der Schwärze des
Schwarzen Kasten begriffen werden und an diesem Begriffenwerden reell den
Tod als altes Bewußtsein sterben.
Bei der Transgression der Seele unter der Ägide der Anima handelt es
sich um eine eindeutige Grenzüberschreitung vorwärts von hier nach drüben
(und dann wieder zurück). Der Transport oder die Transzendenz von Stufe zu
Stufe im Sinn des Animus dagegen vollzieht sich, wie wir gesehen haben, kei
neswegs durch einen Schritt nach vome. Im Gegenteil, sein »Fortschritt« voll
zieht sich gemäß der Dialektik des Animus nur durch den Schritt zurück. Oder
eigentlich gar nicht durch einen aktiven Schritt, der irgendwie noch heroische
Leistung bliebe, sondern dadurch, daß das der Anima-Stufe verhaftete Bewußt
sein absolut negativ in seinen/ihren Grund (und so buchstäblich zugrunde) geht,
dadurch also, daß es tiefer in sich, in sie er-innert wird und in seine, ihre Wahr
heit abstürzt, als das unwahre stirbt - so wie in der Alchemie die Steigerung nur
durch Leiden (durch die Zerkleinerung, Pulverisierung, Schindung, das Wegät
zen und Wegbrennen, die Destillation und Sublimation dessen, was die Steige
rung erfahren soll) erfolgen kann. Nur im Zugrundegehen, nur im negativen Er
innertwerden in ein Begreifen seines schon längst Hintergangenseins von der
Liebe, von dem Schwarzen Kasten, von der Syzygie, kommt es ein wenig mehr
auf die Höhe dessen, wovon es hintergangen ist, und erringt es die neue, »höhe
re« Stufe. Im Sterben als das alte Bewußtsein liegt schon seine Auferstehung als
nunmehr in einem neuen logischen Status stehendes Bewußtsein.
Jung hat in seinem Begriff der Individuation und des Individuationspro
zesses die beiden differenten Anliegen coniunctio und Syzygie nicht ausdrück
lich auseinandergehalten. Er weiß zwar um beide, redet aber meist so, als ob sie
ein und dieselbe »Gestaltung, Umgestaltung« wären. Natürlich gehören beide
auch in der »Individuation« unlösbar zusammen, aber doch so, daß sie auch ent
schieden getrennt werden müssen. Weil die Trennung von Jung nicht deutlich
gemacht wurde, kann der Eindruck entstehen, als ob Jung rückwärtsgewandt sei,
ein bloßer »Mythenschwärmer«. Und es kann bei oberflächlicher Jung-Lektüre
der Eindruck entstehen, als ob die Individuation einfach auf konventionellem in
dividualpsychologischem Weg durch Introspektion und Betrachtung der Bilder
zu erreichen wäre. Ein verhängnisvoller Irrtum. In der Alchemie dagegen sind
beide Anliegen der Seele als getrennte und doch füreinander unerläßliche sicht
bar: die Alchemie strebt die coniunctio an, aber weil sie auch ein Wissen um je
ganz neue Stufen des Werkes hat, muß die coniunctio auf jeder Stufe neu erfol
gen. Das Problem der Alchemie ist nur, daß sie sogar ihr doch inhaltlich weit
über die Anima-Stufe hinausführendes Wissen um die (man kann fast schon sa
gen:) logischen Stufen, also um die transzendente Funktion und damit um die
Problematik der logischen Form, gleichwohl immer noch ganz in einer anima
haften »Sprache« ausdrückte und so die inhaltliche Erkenntnis des Projekts der
Seele als Animus der Form nach in seinem Gegenteil, der Anima-Stufe, nieder
hielt und gefangenhielt - ein Ungenügen, das sicher der Grund für ihren Unter
gang war: So ist sie auch in der Geschichte buchstäblich selbst den Tod als altes
Bewußtsein gestorben.
Dadurch daß sie dem Animus-Anliegen keinen angemessenen Ausdruck
verleihen konnte, hat sie gerade auch ihrem eigentlichen Anima-Anliegen der
coniunctio und der Herstellung des Inkorruptiblen den Boden entzogen. Genau
dasselbe tut man heute wieder, wenn man direkt die Individuation anstrebt. Die
Lehre, die aus dem hier Herausgearbeiteten gezogen werden kann, ist die, daß
der Weg zur Anima (und damit zu coniunctio, Initiation und sympathetischem
Weltverhältnis) von der Anima wegführt und daß das Ziel dieses Weges nur
über den Weg des Animus und dessen Konzentration auf die Gewinnung der
dem modernen Bewußtsein gemäßen logischen Form zu erreichen ist. Die Ani
mus-Psychologie hat also keineswegs den Sinn, das Verlangen der Seele als
Anima zu verdrängen, um den Animus an deren Stelle zu setzen. Es geht über
haupt nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen. Es geht vielmehr um
die Einsicht, daß dank der syzygischen Verschränkung von Animus und Anima
das Verlangen der einen gerade nur über die Leistung des anderen zu erfüllen
ist. Der Animus ist der Psychopompos in das Animaland, weil er der Psycho-
pompos in den logischen Status des Bewußtseins ist, der unserem längst wirkli
chen Weltumgang entspricht.
Die transzendente Funktion, die nicht transzendiert. Oder: Das un
endliche Streben nach dem Ziel als die Weigerung, es zu erreichen. Die Al
chemisten klagten wieder und wieder über die stete Fluchtbereitschaft des »fu
gax ille Mercurius«. Die Alchemie hat auch in der Tat ihr eigenes Ziel, die Her
stellung des Inkorruptiblen, des Goldes, der Quintessenz, nicht erreicht. So sieht
es jedenfalls Jung. Und Jung wußte auch: die Bilder der Alchemie blieben und
die ihnen entsprechenden der modernen Psychotherapie bleiben in ihnen selbst
letztlich nur »Antizipationen einer im Prinzip nur annähernd erreichbaren Ganz
heit. Sie sind auch durchaus nicht immer als subliminale Bereitschaft zu einer
nachfolgenden bewußten Verwirklichung der Ganzheit zu verstehen, sondern
vielmehr bedeuten sie oft nur eine Kompensation vorübergehender Natur für
chaotisches Durcheinander und für Mangel an Orientierung.«47 Mögen sie auch
ihrem Symbolgehalt nach das Höchste ausdrücken, so haben sie, überspitzt ge
sagt, in der Wirklichkeit doch nichts weiter zu bedeuten. Sie sind nicht mehr als
eine Art momentaner Lückenbüßer, eine Beruhigungspille, ein Stärkungsmittel.
Warum das prinzipielle Versagen von Psychotherapie und Alchemie (was
das höchste Ziel anlangt)? Warum mußten die Alchemisten so beharrlich über
die Flüchtigkeit des Mercurius klagen? Ich glaube, dies liegt nicht in der Sache
(in der Seele) selbst begründet, nicht in einer tatsächlich so großen Fluchtbereit
schaft der merkurialen Substanz, sondern ist ein geschichtliches Phänomen. Es
liegt daran, daß die Alchemie ins Mittelalter, also eine auf die ungebrochene
Anima-Stufe folgende, von ihr unerbittlich geschiedene Zeit, gehört, aber ihr
Projekt mit den logischen Mitteln der Anima-Stufe konzipiert. Weil die Zeit
schon für die Alchemisten eine andere geworden war (und erst recht für uns eine
andere ist), hätte das alte Ziel als ein ganz anderes gesucht und gefunden werden
müssen. Erfüllung für sie (und Erfüllung heute) hätte in etwas anderem als wäh
rend früherer Kulturstufen liegen müssen.
In dem Wahmehmen der Flüchtigkeit des Mercurius seinerzeit ebenso wie
in dem der Unerreichbarkeit des Ziels des Individuationsprozesses heute wird
ein in den Ansatz von Alchemie und Psychotherapie eingebauter Fehler wahrge
nommen, nicht einfach ein Aspekt der Wirklichkeit der Seele selbst. Denn in
den rituellen Kulturen wurde eine dem flüchtigen Mercurius der Alchemie ver
gleichbare Not nicht erfahren; in den Initiationsritualen wurde vielmehr das Ziel
des seelischen opus wirklich erreicht; das Äquivalent des alchemistischen See
lenkindes, nämlich das sympathetische Weltverhältnis, wurde offenbar über
Jahrhunderte oder Jahrtausende hinweg erfolgreich gewonnen und erhalten. Es
bedurfte hier, auf der Anima-Stufe, auch keineswegs, wie Jung für die christli
chen Symbole in unsere Zeit sagt, der immer neuen Deutung, weil die Urbilder
nur in neuer Gestalt aufs neue begriffen werden könnten und die zunehmende
Altertümlichkeit ihres Begriffes sie ihrer Bannkraft beraubt hätte.48 in den Ur-
kulturen erwiesen sich die Rituale von größter Konstanz. Der große Konservati
vismus hinsichtlich der Formen der Rituale und Symbole steigerte hier gerade
ihre Wirkkraft, weil ihr (Ur-) Alter ihre Wahrheit mit gewährleistete.
Mit dem Bruch zur Animus-Stufe jedoch änderte sich dies. Weil mit die
sem Bruch ein Ganzes, nämlich eben dieses Weltverhältnis, auseinandergebro
chen war, gab es jetzt auch zwei nebeneinanderherlaufende, jeweils ungenügen
de, Möglichkeiten, a) den offiziellen, dogmatischen Weg und b) den Weg der in
dividuellen Symbolbildung. Auf beiden Wegen konnte das Ziel jedoch nicht er
reicht werden, weil beide jeweils nur die abgespaltene Hälfte eines Ganzen wa
ren: Die Wahrheit des Menschen war in zwei auseinandergefallen und so selber
unwahr geworden.
a) Die dogmatisch formulierten Grundwahrheiten der christlichen Kirche
(wie mutatis mutandis die exotischer Religionen) drückten zwar die Natur der
53 Alle Zitate dieses Absatzes (sowohl die alchemistischen wie die Kommentare Jungs) aus C.G.
Jung, GW 16 § 486 mit Anm.
54 Faust I.
sah, daß die »Wiederherstellung des verschwundenen Lichtmenschen« auf jenen
Anthropos zielt, »der in der gnostischen Symbolik sowohl wie in der christli
chen mit dem Logos identisch ist und vor aller Schöpfung war«55. Die transzen
dente Funktion transzendiert hier nicht wirklich.
Das Verfehlen des äußersten Grads an Verfeinerung ist also das, was das
besprochene Phänomen der »Erfüllung als Leerlauf« unvermeidlich macht. In
Alchemie wie Psychologie blieb die längst erreichte und ihrer Vollendung har
rende Animus-Stufe doch noch auf der Anima-Stufe stecken; Jung selber hat das
auf seine Weise gesehen, spricht er doch von dem Vorliegen einer unbewußten
Identität mit der Anima und sagt er mit Recht, daß die unter diesen Umständen
auftauchenden Symbole am Ende des im Rosarium geschilderten Prozesses
nicht Gestalten des Zieles, sondern des An/angjzustandes seien.56 Überspitzt ge
sagt ist man hier also am Ende nach aller Mühe doch nur »so klug als wie zu
vor«. Der Mercurius bleibt aller mundificatio und sublimatio zum Trotz syste
matisch in der Physis gefangen, aus der ihn jene Operationen gerade befreien
sollten. Dieses systematische dem Natürlichen »Verhaftetbleiben« des die (zur
Befreiung aus dem Natürlichen veranstalteten) Operationen durchführenden und
wahmehmenden Bewußtseins mag in der Alchemie noch die einfache Nachwir
kung der immer noch nicht ganz gebrochenen Übermacht der Animastufe des
Bewußtseins gewesen sein. In der modernen Psychologie - nach einigen Jahr
hunderten des Aufklärung genannten Abarbeitungsprozesses - ist es eher als ei
ne Strategie, als Abwehr gegen die Notwendigkeit der Selbstaufhebung der Psy
chologie zu verstehen, die sich vor allem dreier Abwehrmechanismen bedient.
Diese sind 1. das Bestehen auf dem Erleben, 2. die Utopiisierung des angestreb
ten Ziels und 3. das Festhalten an der »Persönlichkeit«.
1. Wenn Jung davor zurückschreckte, dem Ziel des Werkes wirklich die
»quintessentialische, d.h. spirituelle Form«57, in meinen Worten: die von allem
Ontologischen losgelöste Form des Logischen,58 zuzugestehen, dann vor allem
wohl deswegen, weil er sich vor dem Denken fürchtete, das er zu einer von vier
Funktionen (also zu etwas Abgespaltenem) reduziert hatte und auf das er die
(ansonsten ja auch tatsächlich bestehende) Gefahr eines unverbindlichen Intel
lektualismus projizierte.
Aber das Denken, wie es in diesen Zusammenhängen, und in diesem
Buch durchweg, zu verstehen ist, ist keine Ichfunktion und kein intellektueller
55 C.G. Jung, GW 16 § 458, meine Hervorhebung. Insofern Jung selbst anläßlich dieses Logos auf
den Anfang des Johannesevangeliums verweist, ist mit diesem Logos auch die ganze Thematik
des Heiligen Geistes, der Trinität und des Pneumatischen im Sinn der christlichen Tradition im
pliziert.
56 C.G. Jung, GW 16 § 534 f.
57 C.G. Jung, GW 16 § 489.
58 Nur weil und wenn alles Ontologische oder Substantielle rückhaltlos, d.h. rückstandslos subli
miert ist, kann das Inkorruptible überhaupt inkorruptibel sein. Solange es seiner Form nach noch
an etwas Seiendem anhaftet, hat es auch noch die Form der Endlichkeit, des Relativen.
Sport, keine Theorienbastelei. Es ist vielmehr als das Eine der Vier (als deren
quinta essentia) die Aufhebung aller vier Ichfunktionen und hat diese, sogar die
des als Funktion verstandenen Denkens selbst, als aufgehobene Momente in
ihm. Denken ist dasjenige Verhältnis zum Sein, in dem 1.) sich nicht das Ich,
sondern der Mensch als ganzer für die Wirklichkeit öffnet und ihr entspricht,
auf sie antwortet (auch der große Künstler denkt! Und auch Jung war in diesem
Sinn ein großer Denker); es ist das Verhältnis, in dem 2.) anders als im An
schauen und Vorstellen die gedachte Wahrheit nicht mehr als gegenständliches
Bild vor das ihm gegenüber bleibende Bewußtsein hingestellt wird, sondern das
Bewußtsein in seinen »Gegenstand« und dessen innere Bewegung selber einge
treten ist und sich von ihm durchherrschen läßt (das ist der »initiatische« Cha
rakter des Denkens); in dem 3.) wieder anders als im Vorstellen nicht einfach
empirische Merkmale oder Zustände des zu denkenden Wirklichen erfaßt wer
den, sondern dieses auf den Begriff (Logos) gebracht wird, d.h. es ist das Ver
hältnis, in dem der logische Status, in dem das Wirkliche steht, gegeben wird, so
daß, wenn der Mensch sich im Denken als ganzer für die Wirklichkeit öffnet, er
sich nicht für diesen oder jenen positiven Aspekt des Seins, sondern negativ -
für die Wahrheit der Zeit und die Logik der Wirklichkeit öffnet; es ist das Ver
hältnis, mit dem allein daher auch der Forderung nach der »quintessentialischen,
d.h. spirituellen Form« der Wahrheit vom Bewußtsein Genüge getan werden
kann, insofern es nämlich nicht mehr ein Tun oder Vermögen eines Subjekts ist,
sondern eine sich selbst genügende Form oder ein »Medium«, letztlich und ge
nauer: das logische Leben der Seele selber, ihr sich selbst Denken, in das der
Mensch nur eintritt bzw. eintreten kann.
Besonders dieser dritte Punkt ist es, vor dem Jung zurückschreckte. Seine
Furcht vor dem Denken ist näher zu begreifen als seine Furcht vor dem Errei
chen seines Ziels, vor der wirklichen Geburt des »Seelenkindes« oder dessen,
was er das »Selbst« oder die Ganzheit nannte (eine Einsicht, die schon zur Erör
terung der zweiten der Abwehrstrategien überleitet). Es ist dies die Furcht nicht
vor dem Ziel als Inhalt, insofern dieser gegenständlich vorstellbar bleibt, son
dern vor ihm in der ihm heute einzig gemäßen »spirituellen« Form, mithin die
Furcht vor dem freien Fall in die Wahrheit des Geistes, das Logische. Den frei
en Fall in das Logische fürchtete Jung, hier ganz unter dem Bann der Kantischen
Kritik wie ebenso der Grundstellung der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts ste
hend, als ein Abgleiten in die haltlose metaphysische Spekulation —ein fatales
Mißverständnis, denn der freie Fall in das Logische bedeutet nicht die methodi
sche Befreiung zur Willkür der Gedanken, sondern nur die Befreiung der Ge
danken aus ihrem dem Stofflichen Verhaftetsein hin zu ihrem ureigensten Medi
um, dem der Geistigkeit, zur quintessentialischen logischen Form, bei nach wie
vor bestehender Bindung des Denkens an die wirkliche Erfahrung. Wenn Jung
sich immer wieder als Empiriker und die Psychologie als Naturwissenschaft be-
zeichnete, so drückt sich darin (neben anderen, auch sinnvollen Aspekten) auch
das Bedürfnis aus, den festen Halt des Mediums des Sinnlichen (also das apriori
sche Gefangengesetztsein des Geistes) nicht aufzugeben; das Bedürfnis, »den
Verstand nicht zu verlieren«, den Tod als altes, natürliches Bewußtsein nicht
wirklich sterben, die alchemistische putrefactio oder solutio nicht vollends er
fahren, die Animastufe nicht verbindlich verlassen zu müssen.
Wo eigentlich das Seiber-Begreifen am Platz wäre (Begreifen nicht als
Erklügelung, sondern als jenes Denken, in dem das Bewußtsein selber in seinem
innersten Erfassen von Wirklichkeit und seiner innersten Verfaßtheit, d.h. in der
in ihm waltenden Logik, durchwirkt und verwandelt würde und auf die Höhe
des schon in seinem wirklichen Weltumgang erreichten logischen Status ge
bracht würde), da besteht Jung auf dem Erleben, dem Anschauen, dem Kom
menlassen von Bildern. Das Erleben und Vorstellen setzt per definitionem den
Unterschied zwischen dem Erlebenden und dem von ihm Erlebten. Es spaltet
das wirkliche und in sich einige Phänomen in diese zwei auf (»neurotische Dis
soziation«) und hält so den Prozeß immer noch von dem Erlebenden, von uns in
unserer innersten Subjektivität, weg in einem Draußen der erlebten Bilder oder
Ereignisse, an oder in denen er ablaufen soll, hat diesen Prozeß also lediglich in
den Inhalten des Bewußtseins, so daß das Bewußtsein selbst, d.h. die logische
Form des Bewußtseins, sich immer noch draußenhalten (reservieren) kann: es
hat dann archetypische seelische Erlebnisse, die es durchaus tief empfinden und
verstehen mag, anstatt selber der logischen Form nach als seelische Bewegung,
als »Denken« zu sein, und kann so als das alte Bewußtsein in der Anima-Stufe
verharren. Die Aufgabe der Wandlung wird dem aufgebürdet, was es als seine
Inhalte erfährt. Erregung, Betroffensein, E-motion treten an die Stelle der Wand
lung der logischen Form des Bewußtseins.
Die Kehrseite zu diesem Sich-Heraushalten des Bewußtseins in seiner in
nersten Subjektivität ist, daß mit dem Erleben zugleich eine fundamentale Sub-
jektivierung des Inderweltseins im Sinn eines Rückzugs aus der wirklichen Welt
in die Wagenburg des Subjektiven erfolgt. Der wirklichen Welt werden die Prä
dikate der Wahrheit und Wirklichkeit weitgehend entzogen, und dafür werden
sie jetzt dem subjektiven Erleben zugeteilt. Man kann sich dann angesichts der
schlimmen Entwicklung des Weltgeschehens (ökologische und Sinnkrise, Wer
tezerfall, Zunahme der Gewalt als nur einige Beispiele) der Welt gegenüber füh
len und als »Alternativer« das Bewußtsein pflegen, auf der guten Seite, auf der
Seite der »besseren« Wahrheit zu stehen. Man kann sich, buchstäblich oder bild
lich gesprochen, aus der bösen, auf einem Irrweg befindlichen Welt auf den
Bauernhof zum »biologischen Anbau« oder in innerer Emigration zu den höhe
ren Werten besserer Zeiten zurückziehen, weil man mit all dem Schlimmen in
der heutigen Welt nichts zu tun zu haben glaubt. Aber dem ist entgegenzuhalten,
daß uns aus dem, was in unserer Welt geschieht, unsere eigene Wahrheit entge
genkommt. Ich erfahre aus all den schlimmen Entwicklungen auch, die Wahrheit
über mich, sicher nicht unbedingt die Wahrheit über mich in meinem privaten
Sein (meinem subjektiven Meinen und Fühlen), sehr wohl aber über mich als
wirkliches Glied meiner Gesellschaft und Teil des ganzen Weltumgangs in mei
ner Zeit. Es ist im großen ganz so, wie im kleinen auch der einzelne Analysand
aus seinen neurotischen Symptomen, Fehlleistungen und Projektionen die Wahr
heit über sich (nicht über sich als bewußtes Ich, sondern über sich in seinem
wirklichen Sein) erfährt.
Die Subjektivierung kann dann auch dazu verleiten, unseren abendländi
schen Weg irrtümlich so aufzufassen, als ob er wie der des Ostens ein Weg der
inneren Erfahrung sei. Unser opus ist jedoch nicht mystisch (im allgemeinsten
Sinn), es will nicht subjektiv und individuell Erleuchtung, nicht ein Satori-
Erlebnis und ist nicht in der Meditation zu gewinnen. Dem ist so sowohl nach
der Seite des Gegenstandes wie nach der der Methode. Unser opus läuft hin
sichtlich des Gegenstands statt über innere Erlebnisse über das »Werk«, über die
Verwandlung der wirklichen Welt »draußen« besonders durch die in der Wis
senschaft gründende Industrie und Technik, es läuft über die Geschichte der
ganzen Kultur und die realen Wandlungen unseres Weltumgangs. Dort haben
wir den »Text« unserer aktiven Imagination, unseres wirklichen Traums. Dort
haben wir unsere Seele. Wir müssen daher nicht meditieren. Wir müssen nicht in
uns hineinschauen.59 Wir stehen unter dem Wort: an ihren Taten sollt ihr sie er
kennen. Wir müssen, wenn wir Zugang zur Wahrheit gewinnen wollen, in unse
re wirkliche Welt, in den wirklichen Weltbegegnungszusammenhang blicken,
um sie zu begreifen, das heißt, wir müssen uns von der heutigen Welt darüber
belehren lassen oder aus ihr ablesen, was die in Welt und Weltgeschehen wal
tende Logik oder Wahrheit und damit auch die Wahrheit über uns als das mo
derne abendländische Menschentum ist. Begreifen heißt nicht, auf ein Erleuch
tungserlebnis, auf das plötzliche (und so immer irrational bleibende) Ereignis ei
nes Durchbruchs zu einem wie auch immer gearteten Aha-Erlebnis warten, son
dern - das ist die methodische Seite - mit der Anstrengung des Begriffs die von
uns bewußt zu vollziehende und zu verantwortende (d.h. als im Prinzip von je
dem denkenden Menschen nachvollziehbar zu gestaltende) gewissenhafte Arbeit
der gleichsam »offiziellen« logischen Aufklärung des Bewußtseins über sich
selbst und seine in die wirkliche Welt investierte Wahrheit leisten.
Umgekehrt kann die Subjektivierung dazu verleiten, unter Berufung auf
die Möglichkeit innerer Erlebnisse von »mythischem« Charakter zu behaupten,
daß wir heute doch noch immer wie ehedem »einfach so« Göttliches erfahren
59 Meditation und psychologische Introspektion sollen damit nicht als »falsch« oder »unnütz« hin
gestellt, sondern nur auf die ihrem Status entsprechende Bedeutung zurückgestutzt werden. Sie
haben denselben Status wie z.B. das Jogging. Wie dieses der äußeren, körperlichen Selbstertüch
tigung des Individuums dient, so jene der inneren, seelisch-geistigen. Darüber hinaus jedoch -
d.h. in bezug auf Wahrheit, Sinn, Heil, Gott - haben sie nichts zu bedeuten. Als Mittel oder Me
thoden der Selbstertüchtigung sind sie reines »Privatvergnügen«.
könnten, ganzheitlich erleben könnten, ja sogar vielleicht das naturwissenschaft
liche Denken zur Ganzheitlichkeit hin verwandeln könnten. Das mag ja möglich
sein, aber die Berufung darauf ist eine ins Metaphysische gewendete Appease
ment-Politik. Man tut dann so, als ob in den letzten 2 500 oder mehr Jahren gar
nicht wirklich ein radikaler Bruch geschehen sei. Man sagt gewissermaßen: es
hat sich nicht wirklich etwas grundlegend verändert; letztlich ist doch alles beim
alten geblieben. So versucht sich das Bewußtsein angesichts der wirklichen Not
zu beschwichtigen und sich der Aufgabe zu entziehen, im »Sprung nach dem
Wurf« die uns ungeheuer weit vorausgeeilte objektive (in dem realen Weltum
gang investierte) Wahrheit mit unserem Bewußtsein einzuholen, der Aufgabe,
die durch das Pro-jekt der abendländischen Seele entstandene 2 500 Jahre alte
Hypothek, die das Bewußtsein seitdem vor sich herschiebt, endlich zusammen
mit den aufgelaufenen Zinsen abzubezahlen. Wir leben seit Jahrhunderten unter
dem Niveau unserer tatsächlich gelebten Wahrheit. Wir betrügen uns um sie, in
dem wir sie als etwas falsches Äußeres abtun, um so nostalgisch an alten Wahr
heiten festhalten zu können. Es hat sich wirklich etwas grundlegend geändert.
Ein Erdbeben ist geschehen und hat Klüfte aufgerissen und Brücken zerstört, so
daß der einzelne auch beim besten subjektiven Willen nicht mehr wirklich und
verbindlich in seinem inneren Erleben die wirkliche Bewegung hinüber und her
über vollziehen kann. Die Änderungen in der objektiven logischen »Landschaft«
machen es unmöglich. Diese Verluste müssen vom Bewußtsein in seelischem
Gold aufgewogen werden. Das geschieht im Begreifen, nicht in inneren Erleb
nissen. Selbst das schönste Symbolerleben heute bleibt doch nur subjektiv, pri
vat, weil es nicht mehr abgedeckt wird von dem wirklichen Weltumgang. Die so
erlebten Götter sind keine Götter mehr, weil sie nicht mehr die Götter dieser un
serer Welt sind. In der besprochenen Haltung wird so getan, als ob es nur auf
unser Erleben und Sehen ankäme und dieses schon Wahrheit gewährleistete.
Aber es kommt viel mehr noch an auf das sich in unserer Sprache, in den sozia
len Institutionen, in der Entwicklung der Dinge, des Verhaltens, des Wissens in
unserer Gesellschaft manifestierende wirkliche Weltverhältnis des abendländi
schen Menschen. Das davon abgeschnittene persönliche Erleben ist so gültig
wie eine Privatsprache, die ein einzelner für sich erfunden hat. Die Wahrheit ist
aber nur in der gemeinsamen Sprache auszusprechen, und so begegnet sie uns
auch nur aus der Sprache der gemeinsamen Weltwirklichkeit.
2. Die zweite Abwehrstrategie liegt in der Behauptung, daß das Ziel der
»Ganzheit«, und das heißt für uns: der quinta essentia als der pneumatischen
Form, nur als Idee wichtig und stets nur zu antizipieren und anzustreben, nie zu
erreichen sei und daß dem Ziel gegenüber nur das opus, das annäherungsweise
auf das Ziel hinführe, wesentlich sei.60*Jung spricht ganz ausdrücklich von der
»Antizipation des Lapis« als »einer Vorwegnahme einer Möglichkeit, deren Er-
fiillung überhaupt kein Gegenstand der Erfahrung sein konnte«.61 Das ist die
Fortsetzung sowohl der kirchlichen Verschiebung der eigentlichen Erfüllung ins
absolute Jenseits (auf den Sankt-Nimmerleinstag) als auch der Kantischen Ver
abschiedung der wirklichen Welt (Ding-an-sich) als eines möglichen Gegenstan
des der Erkenntnis. Es ist die Selbstutopiisierung der eigenen Bemühung. Das
Ziel wird zur Kantischen Idee, die zwar aufgegeben, aber per definitionem nie
erreichbar ist, die uns also in ein neurotisches Dilemma stürzt.
Aber demgegenüber muß es heißen: Das »Ziel« ist nur als jetzt längst er
reichtes, nur als wirkliches, immer schon erjullt hinter uns liegendes wichtig,
weil es nur so Wahrheit hat und überhaupt Ziel sein kann, und das opus hat
überhaupt nur Sinn, wenn es das schon wirkliche, erfüllte Ziel jeweils noch ein
mal hier und jetzt ursprünglich-zeugerisch vergegenwärtigt, indem es uns und
der Welt in ihm unseren logischen Ort dadurch verleiht, daß es uns in der logi
schen Verfaßtheit unseres Denkens auf die Höhe seiner Einfachheit hebt, und
wenn es das Ziel für uns und die Welt lebendig (in innerer Bewegtheit) erhält.
Auch das für unerreichbar erklärte Ziel entschärft das opus a priori fundamental;
es befreit uns von der Notwendigkeit, in der Verfaßtheit unseres Bewußtseins
selber wirklich und verbindlich ergriffen und über die Anima-Stufe hinausge
trieben zu werden. Es kann nicht wirklich etwas passieren, wir bleiben ja immer
nur in Antizipationen oder Annäherungen, immer systematisch diesseits der
Schwelle zu dem Raum, in dem allein das Eigentliche geschehen könnte. Der
den Bann der alten Stufe sprengende Überschritt (im Sinn der transzendenten
Funktion) in einen wahrhaft neuen Status oder auf eine wahrhaft neue Stufe wird
systematisch vermieden. Wir bleiben in der »mittelalterlichen« Form der Rela
tion zu dem (zur Substanz eingefrorenen und aus der Seele Zieransgestellten)
Transzendenten stecken, nämlich in dem anhimmelndem Aufblick zu ihm, wir
lassen dieses immer nur als »Dach« über uns schweben, anstatt uns, getragen
von der transzendenten Funktion der Seele als Animus, selber zu ihm aufzu
schwingen, um uns auf es als auf den künftigen Boden unserer Existenz wirklich
zu stellen.
Das hier liegende Problem ist so schwerwiegend (hängt doch die Ver
wirklichung des Ziels der Seele, nicht nur ihrer als Animus, sondern letztlich
auch als Anima, von ihm ab), daß wir die hier waltenden logischen Verhältnisse
näher vorführen müssen.
In meiner Erörterung des »Denkens« habe ich schon den grundsätzlichen
Fehler der Theorie der Ichfunktionen angedeutet. Laut dieser geht es für die Per
sönlichkeit darum, alle vier Funktionen und vor allem die minderwertige Funk
tion zu entwickeln und zu integrieren, um Vollständigkeit zu erzielen. Mit dieser
Theorie hat sich die Analytische Psychologie freiwillig im unaufhebbaren Man
gel (Unvollständigkeit) angesiedelt. Sie hat sich selbst systematisch auf der Ebe-
66 Ebd. S. 64.
67 »Wahrlich die Form, welche der Intellekt des Menschen [d.h. das Denken im genannten Sinn] ist,
ist Anfang, Mitte und Ende im Verfahren«, Gerard Domeus (C.G. Jung, GW 14/11 § 50).
ken, ohne je den Schritt durch das Tor in es hinein zu tun. Aus dem Ziel macht
man eine Utopie. Das eben ist der Unterschied zwischen der initiatischen Quest
und der modernen Sinnsuche, Selbstsuche oder Identitätsfindungsbemühung.
Die Quest hat das Ziel, bevor sie noch begonnen hat, immer schon erreicht, so
gar in den Fällen, wo sie bei ihrer Durchführung dann doch scheitern sollte; die
Sinnsuche hat sich immer schon im Leerlauf angesiedelt, selbst wenn sie dann
erfolgreich zu sein scheint. Nur wer hat, dem wird gegeben werden. Nur der
Rechte und zum rechten Zeitpunkt Kommende vermag in Mythos und Märchen
die Klappfelsen oder die das Schloß umhüllende Dornenhecke zu durchschrei
ten, das Wunderschwert aus dem Holzblock zu ziehen, den Bogen zu spannen.
Nur dem Goldenen, dem Sonntagskind, dem Gotteskind, also dem schon in der
Fülle Stehenden, gelingt es, Schatz, Lebenswasser oder Prinzessin zu erringen,
so wie auch christlich nur der Auserwählte, also der, der schon längst in der
Gnade steht, die Gnade erlangen kann.
Diese (größtenteils aus der Sphäre der Anima und ihres Anliegens der
Transgression nach Drüben genommenen, aber mutatis mutandis auch für das
Animus-Projekt der Transzendenz in die Syzygie-Stufe und zum Ziel der logi
schen Form geltenden) Beispiele untermauern nicht eine fatalistisch zu interpre
tierende Prädestinationslehre. Sie müssen vielmehr als die schlichte Wahrtleit
über die Logik von Suche und Ziel begriffen werden, die es jetzt noch näher zu
klären gilt.
Paris oder New York bestehen unabhängig davon, ob ich sie als mein Rei
seziel wähle oder nicht. Nicht so beim Ziel des Seelenwerks. Zum Begriff dieses
Ziels gehört es, daß es nicht ontologisch, als ein Seiendes, verstanden werden
darf. Es bleibt als seelisch-geistiges Ziel logisch. Das Ziel ist keine Substanz
(die Transzendenz, das Selbst), nicht ein transzendentes (in der als gleichsam
geographischer oder kosmologischer Jenseitsraum vorgestellten Transzendenz
vorhandenes) »Ding« oder Etwas, auch nicht eigentlich ein fünftes »Wesen«
(quinta essentia), insofern als es ja gerade als das Eine der vier Wesen die Auf
gehobenheit alles Wesens, nämlich eine bestimmte Form oder logischer Status
des Bewußtseins, ja des Inderweltseins ist. Weil das Ziel als nicht gegebenes rei
ner »Überfluß« oder »Mehrwert« ist, d.h. nicht natürlicherweise irgendwo in der
Welt schon vorkommt, so daß es wie Paris oder New York dann nur zusätzlich
zu seinem Vorhandensein auch noch als Ziel angestrebt werden müßte, muß die
Seele (logisch, nicht zeitlich) vor ihrem Streben nach dem Ziel dieses selbst
durch einen eigenen Akt erst setzen, ihm Wirklichkeit verleihen, es für sich be
anspruchen, es behaupten, es ergreifen, erstens, weil nur solches entschiedenes
Eintreten und sich dem Vorliegenden Zumuten einem nicht natürlich Gegebenen
(Mehrwerthaften) überhaupt erst Sein verleiht, und zweitens, um so auch sich
überhaupt erst auf die Höhe von so etwas wie »Mehrwert« zu bringen. Sonst
bliebe sie ja auf der Ebene des natürlich und immer schon Vorhandenen - und
damit ihrerseits nicht existent. Sie würde sich verhalten wie jemand, der das
Wort »Ziel« in einem zweibändigen Wörterbuch nachschlagen möchte, aber dies
in dem schon auf dem Tisch liegenden ersten Band (A bis L) versucht, weil er
zu bequem ist, den weiter weg liegenden zweiten Band zu holen. Aber der Ver
gleich hinkt. Denn der Artikel über das Wort Ziel steht auch unabhängig von
dem Nachschlagen und ihm zuvor in dem Wörterbuch. Man muß den Vergleich
daher so umformen, daß man sagt, die Seele muß vor ihrem im Wörterbuch
Nachschlagen das Wörterbuch immer selbst erst schreiben. Die Seele besteht ja
ihrerseits nicht einfach, sondern muß sich immer selbst erst zu ihr selbst erbau
en. Sie muß ihre eigene Wirklichkeit selber erst hersteilen, sich selbst gleichsam
am eigenen Schopf aus dem Nichtsein ins Sein hineinziehen. In der Sprache der
Computertechnologie gesagt: soul must boot itself.
Mit der Frage, ob das Ziel (als Lapis, als das Drüben, als die Göttlichkeit
des Menschen) empirisch-faktisch überhaupt erreicht werden könne, - oder ob
dergleichen nicht nur ein schöner, aber irrealer Wunschtraum, ein »Dichter-
Erschleichnis« (Nietzsche) oder auch ein vermessener Wahn sei, hat man das
Problem des Ziels und des Strebens nach ihm einfach nur mißverstanden, seinen
logischen Charakter verkannt. Da es nicht dinglich-»objektiv« ein anzustreben
des Etwas oder ein Ort im Raum ist, hat das Ziel in ihm selber vielmehr, zu
gleich subjektiv und objektiv seiend, den Charakter von so etwas wie einem
Aufruf an uns zum initiatischen Sich-Aufraffen und Ausgreifen, dem Aufruf zu
einer logischen Kühnheit und damit eo ipso von dem Angenommenhaben einer
Herausforderung, und nicht den rein sachlichen Charakter einer seienden oder
nicht seienden objektiven Tatsache. Es geht also keineswegs um die Entschei
dung über ontologische Verhältnisse in der Wirklichkeit, sondern um die Ent
scheidung, ob wir uns als Geist begreifen und von unserem Geistsein Gebrauch
machen wollen oder nicht. Es geht, statt ontologisch um die Frage nach dem
Realsein oder Irrealsein der Hoffnung auf das Erreichen des Ziels vielmehr dar
um, ob wir uns logisch aus dem metaphysischen Ofenhockertum, aus der Träg
heit des im logischen Status des natürlichen Seins Sein aufraffen und emporrek-
ken; es geht um unser dazu Herausgefordertsein, uns zu erdreisten, entgegen al
lem empirischen Anschein die Gotteskindschaft oder die Auserwähltheit kurzer
hand für uns in Anspruch zu nehmen und uns fest auf diesen Standpunkt als un
seren Boden zu stellen; es geht darum, ob wir uns (nicht nur somatisch, sondern
auch logisch) zum aufrechten Gang aufrichten oder als bloße Naturgegebenhei
ten auf den Vieren kriechen.
Mit der ontologischen Fassung der Frage als einer solchen nach der
empirisch-faktischen Erreichbarkeit oder Nichterreichbarkeit des Ziels hat man
sich schon aus dem Geist- oder Seele-Sein (damit aus dem Mensch-Sein) her
ausgesetzt. Man hat die Herausforderang abgewiesen. Wer den Lapis oder die
quintessentialische Form oder die Göttlichkeit des Menschen zu seinem wirkli
chen Ziel hat, zeigt umgekehrt nicht mehr und nicht weniger, als daß er sich zum
aufrechten Gang aufgerichtet hat oder daß er sich ein Haus gebaut hat und sich
nicht mehr einfach nur in einer naturgegebenen Kuhle unter einem Felsvor
sprung zusammenrollt.
Die Voraus-Setzung des Ziels als eines erreichten ist ja keine absurde Er
schleichung (wie es deren viele gibt) und das Durchschreiten des Tores dem
Torhüter zum Trotz keine schlechthinnige Unmöglichkeit, sondern beide sind
das einfache Gebrauchmachen von unserem Menschsein, das nämlich in jener
»illegitimen Erschleichung«, in jener »Unverschämtheit«, das erst angestrebte
Ziel wirklich schon hinter sich zu haben und eben dadurch auch über die erst
noch zu überschreitende Schwelle gleichwohl schon hinaus zu sein, immer
schon gründet und dadurch »definiert« ist. Das Menschsein muß in einer »Er
schleichung« gründen, weil es aus nichts natürlich Gegebenem hervorgehen
kann, sondern als geistiges frei, künstlich gesetzt, nämlich wirklicher »Mehr
wert« und das wirklich »Überflüssige« sein muß. Und das Menschsein kann da
rin gründen, weil dann, wenn das Ziel in der Dimension des Seelisch-Geistigen
liegt, die Seele als Geist auch selber ganz für Weg und Ziel, für A und O, für
Wollen und Vollbringen zuständig ist. Der Geist strebt dann ja nicht ein Ziel an,
das »in der Realität« vor ihm und außer ihm bestünde, nicht eines, das ihm na
türlich gegeben wäre. Es ist sein eigenes. Und weil er, wenn er das Ziel setzt,
nichts anderes als das Geistig-, Göttlich- und Seelischsein - mithin nur sich
selbst - zum Ziel setzt (etwas anderes könnte er ja auch nicht setzen, weil er
nicht darüber verfügen könnte), setzt er sich selbst sich selbst voraus, das, was er
eigentlich immer schon »ist«. Dies zu tun (sich selbst sich selbst vorauszuset
zen), ist nicht eine Neigung, die er zusätzlich zu seinem Sein auch noch hätte,
sondern es ist das Wesen des Geistes, und nur als dieser widersprüchliche, uro-
borische logische Akt »ist« Geist überhaupt, insofern Geist eben nicht ein vor
handenes Seiendes im ontologischen Sinn ist, sondern logisch, Logos ist. Die
Seele als Geist muß sich selbst erzeugen, sich ihre eigene Existenz erst verschaf
fen. Wie die Sprache hebt Geist, wenn er denn »ist«, immer ursprünglich an, das
heißt er setzt sich sein Ziel - das nichts anderes als er selbst ist - als seinen Ur
sprung selbst voraus; er hebt als dieses sich sein Ziel zu seinem Ursprung immer
schon Gesetzthaben an und ist überhaupt nur als diese Voraussetzung gemacht
habend wirklich. Würde er sich.das Ziel nicht als Ursprung voraussetzen, son
dern nur als anzustrebendes Fernziel vor sich setzen, würde er sein Ziel selber
immer als grundsätzlich unerreichbares vor sich herschieben, da es ja nichts
schon Existierendes ist, - und hätte er sich eo ipso selbst als »inexistent«, un
wirklich, gesetzt (er wäre also nicht einfach inexistent, was er nie sein kann, da
er nichts Ontologisches ist, er hätte sich immer noch selbst als inexistent ge
setzt). Die Wirklichkeit des Geistes besteht in nichts anderem als in seiner »un
verschämten« Selbst-Behauptung, darin, daß er, der doch nicht positiv seiend,
sondern reine Negativität ist, sich gleichwohl für »da«-seiend erklärt. Das Nega
tive kann nur »sein«, indem es sein Sein selbst immer neu erzeugt.
In diesem Sinn ist das »vor dem Gesetz« Verharren nichts anderes als die
bornierte und ängstliche Weigerung des Zenonschen Achilles, von seiner selbst
verständlichen Fähigkeit Gebrauch zu machen, den Limes zu überschreiten und
die Schildkröte einzuholen, ja zu überholen.68 So klinkt man sich aus seinem
Menschsein aus, so wie man sich aus dem eigenen ein sprachliches Wesen Sein
ausklinken würde, würde man allen sprachlichen Äußerungen nicht immer
schon das wirkliche Vorliegen von Sinn im Satz und das eigene Sinnverstehen
dem jeweiligen Versuch zu sprechen oder zu verstehen voraussetzen. Mit dieser
Weigerung setzt sich der Mensch aus seinem »Mehrwert«-Sein, seinem Seele-
Sein und aus seinem in die Götterwelt oder in die Wahrheit Gottes Hineinragen
heraus und borniert sich zum bloßen »Naturwesen« herunter. Er entscheidet sich
dafür, sein Wesen oder seinen Begriff nur noch in einem längst aufgehobenen
Moment seiner selbst sehen zu wollen, nicht in dem, was er als Mensch (inso
fern er Mensch und nicht nur Lebewesen ist) in Wahrheit immer schon ist: ein
sein Natürlichsein immer schon transzendiert69 Habender. Er bricht aus der ar
chetypischen Dimension seiner Existenz aus, wo das Ziel, weil es kein empi
risch oder natürlich gegebenes, sondern ein durch den logischen Akt der Aufhe
bung des Natürlichen gesetztes geistiges ist, uroborisch ist und wo es als urobo-
risches selbstverständlich so (so widersprüchlich) verfaßt ist, daß es immer
schon erfüllt ist und doch immer erst, und zwar von uns Menschen, erzeugt wer
den muß; er bricht aus der uroborischen Verfassung des Inderweltseins aus, um
sich in einer linearen Phantasie einzuhausen (vom Nichts zum Sein im Sinn der
creatio ex nihilo, vom »Affen« zum Kulturmenschen, von dem geknechteten,
ausbeuterischen Gesellschaftszustand zur Utopie der klassenlosen humanen Ge
sellschaft, vom sinnlosen Laut zur sprachlichen Bedeutung, von der Zersplitte
rung der Funktionen zur Ganzheit...). Obwohl er weiß, daß das gesuchte Ziel als
quinta essentia (d.h. für uns: als quintessentialische Form), als Lapis, als Sinn,
als Gott transzendent ist (sonst würde er es nicht als im Prinzip unerreichbar er
fahren), behandelt er es doch, als ob Weg und Ziel wie solche in der geographi
schen Realität wären, wo Anfangs- und Zielpunkt ausschließlich getrennt sind.
Das ist sein »neurotischer« Widerspruch. Aber so zu denken liegt, wie man heu
te sagt, »voll im Trend der Zeit«, einer Zeit, die ja auch solche Fragen wie die
nach der Qualität eines Films oder Buches (die eigentlich die »Unverschämt
heit«, das Wagnis erfordern würden, daß man von seinem Geistsein Gebrauch
machen und in einsamer Verantwortung ein ursprüngliches Werturteil fällen
würde) lieber empirisch-statistisch durch den Blick auf Einspielsumme oder
Verkaufszahlen - gerade nicht entscheidet, sondern abgenommen bekommen
will.
68 Zu Zenons Paradox von Achilles und der Schildkröte siehe W. Giegerich, »Buße für Philemon:
Vertiefung in das verdorbene Gast-Spiel der Götter«, Eranos 51-1982, Frankfurt (Insel) 1983, S.
189-242.
69 Die Transzendierung ist nicht eine positive, sondern erfolgt nur negativ, durch die Aufhebung sei
nes Natürlichseins innerhalb von diesem.
Will man am Menschsein des Menschen teilhaben, muß man - ganz
gleich ob auf der Anima-Stufe oder innerhalb der Animus-Stufe und in bezug
auf sein Projekt, für das Ziel die quintessentialische Form zu gewinnen - auch
selber die »Unverschämtheit« üben, das Erreichtsein des Ziels dem Weg zu ihm
vorauszusetzen, weil 1. nur so das Ziel überhaupt ist, 2. der Mensch erst mit dem
Sich-Setzen des Ziels bzw. dem von ihm Angesprochen- und Herausgefordert
sein zum Menschen wird. Man muß die Frechheit (aber auch das von Jung ange
sprochene Gran Weisheit) besitzen, sich immer schon als Geist, als Sonntags
kind, als Abkömmling der Götter, als Sohn Gottes zu wissen und sich nur als
solcher auf den Weg zum Erreichen der Gotteskindschaft zu begeben. Es ist dies
eine Frechheit, die sich einst z.B. in der Illegitimität des Inzests, wie wir ihn ge
deutet haben, und in ähnlich gravierenden Tabubrüchen (natürlich auch in ganz
andersartigen einschneidenden Initiationsgeschehnissen wie etwa dem schama-
nischen Zerstückelungserlebnis) konkretisieren konnte: nämlich auf der Anima-
Stufe; denn in dem logischen Akt, der Inzest heißt, (sofern er denn psycholo
gisch wirklicher Inzest ist, und das heißt, sofern die innere Logik des Quatemio
tatsächlich ins Spiel kommt) hat der Mensch, ob er es weiß oder nicht, schon
seine Göttlichkeit, sein Pharao-Sein für sich in Ansprach genommen, sich, wie
Jungs katatone Patientin, schon längst logisch auf den »Mond« gebracht oder
wie der Schamane auf die Unterweits- oder Himmelsreise der Seele begeben.
»Treu und freundlich, wie du, erzog der Götter und Menschen / Keiner, o Vater
Äther! mich auf; noch ehe die Mutter / In die Arme mich nahm und ihre Brüste
mich tränkten, / Faßtest du zärtlich mich an und gossest himmlischen Trank
mir... Nicht von irdischer Kost gedeihen einzig die Wesen, / Aber du nährst sie
all mit deinem Nektar, o Vater!« »Im Arme der Götter wuchs ich groß.«70
Bisher habe ich gezeigt, daß nur kraft jener Dreistigkeit erstens das Ziel
überhaupt ist und zweitens die Seele zur Seele, der Mensch zum Menschen wird.
Jetzt kommt etwas Drittes hinzu: Nur mit dieser »Unverschämtheit« macht man
mit dem Erreichenwollen des Ziels überhaupt ernst, nur so fängt man überhaupt
wirklich an, den Weg über Schwelle und Grenze hinweg in die Dimension des
Geistes und der Götter, des »Mehrwerts« überhaupt, zu beschreiten. Übt man
diese »Unverschämtheit« bzw. eine ihr heute entsprechende nicht, dann zeigt
man nichts anderes, als daß man gar nicht zum wirklichen Anfängen mit dem
Werk entschlossen ist; daß man nicht etwa auf dem Weg zum Ziel nie ganz bis
zu diesem gelangen könne, sondern daß man grundsätzlich vor dem erstmaligen
Anfängen mit dem sich auf den Weg Machen verharrt und verharren will, - ähn
lich wie der Mann, der partout nur im ersten Band eines zweibändigen Wörter
buchs ein Wort nachschlagen will, das aber im zweiten Band steht. Man zeigt,
daß man zur Selbstbomierang entschlossen ist (auch das ein Entschluß, ein eige-
Die etwas später erfolgte erste Teilnahme an der Abendsmahlfeier war dann für
Jung »ein fatales Erlebnis«. »Es war leer ausgegangen, mehr noch, es war ein
Verlust.« (Dies deshalb, weil er erfahren hatte, daß das »große Geheimnis«, das
er darin vermutet hatte, ausgeblieben war.) »Ich wußte, daß ich nie mehr an die
ser Zeremonie teilnehmen konnte. Für mich war sie keine Religion und eine Ab
wesenheit Gottes. Die Kirche war ein Ort, an den ich nicht mehr gehen durfte.«
Jung lernte verstehen, daß in der Kirche »kein Leben, sondern Tod« ist. »Heftig
stes Mitleid mit meinem Vater erfaßte mich. Auf einmal verstand ich die Tragik
seines Berufes und seines Lebens. Er rang ja mit seinem Tode, den er nicht
wahrhaben konnte. ... Ich konnte ihn, meinen lieben und generösen Vater, der
mir so vieles überließ und mich nie tyrannisiert hatte, nicht in jene Verzweiflung
und in jenen Frevel stürzen, die nötig waren zum Erlebnis der göttlichen Gnade.
Nur ein Gott kann das. Ich darf es nicht tun. Es wäre unmenschlich.«4
Was Jung hier am Schluß erwägt und verwirft (nämlich den Vater in Ver
zweiflung und Frevel zu stürzen), wäre wohl nicht nur unmenschlich, sondern
auch einfach unmöglich. Denn jene Verzweiflung und jener Frevel, die tatsäch
lich das Erlebnis der göttlichen Gnade bringen können, müssen wohl schon von
Hause aus göttliche Verzweiflung und göttlicher Frevel, der Weg zur Erfüllung
muß schon in der Erfüllung gegründet sein. Sie können nicht von uns »gemacht«
werden und sind nicht nur menschlich. Andernfalls müßte man erwarten, daß in
unserem an Verzweiflung und Frevel überreichen Jahrhundert das »Erlebnis der
göttlichen Gnade« den Menschen in Überfülle zuteil geworden wäre.
Wir wissen von Jung selbst, daß er das geistliche Problem seines Vaters,
das in der Frage der Dreieinigkeit wurzelte und kulminierte, als sein eigenes auf
sich genommen hat, als das, das die Psychologie zu lösen hat, weil es das Pro
blem der abendländischen Psyche ist. Ein großer Teil seiner späteren Schriften
(nicht nur die über ausdrücklich religiöse Themen wie die Trinität selbst oder
das Wandlungssymbol der Messe oder »Antwort auf Hiob«, sondern auch seine
diversen alchemistischen Studien) stellt den Versuch dar, die übernommene
Verpflichtung einzulösen.
Es stellt sich für uns die Frage, wenn Jung dann auf die Erweiterung der
Trinität zur Quaternität und auf das in die (so zur Quaternität werdende) Trinität
aufzunehmende Weibliche (die Mutter Gottes) als Lösung des Problems kommt,
ob diese wirkliche Lösung auch wirklich die Lösung von dem ist, was zur Lö
sung anstand. Es könnte auch sein, daß sie eine Ablenkung vom ursprünglichen
Problem und eine Ersatzlösung ist, daß Jung damit gerade nicht das Problem
Jung siedelt sich hier rückhaltlos in der eigenen, nicht austauschbaren Tradition
an und bekennt sich damit zu dem »instinkthaften«, vitalen Verwurzeltsein der
Wahrheit. Er nimmt die von ihr aufgegebene Problematik in äußerster Redlich
keit auf sich - eben nicht, weil er sie aus persönlicher Vorliebe allen übrigen
vorzöge, nicht, weil er etwa die christliche Religion für die beste, tiefste, wahr
ste, höchste hielte (das implizierte immer noch die Fiktion der Auswahl, den
geistigen Supermarkt: der Mensch vor dem Regal mit Religionen aller »Mar
ken«), sondern einzig, weil sie für uns als die lokal gültige die wirkliche, die
einzig wirkliche, ist.
Nicht die intellektuelle, wissenschaftlich interessante Frage, ob eine Reli
gion »die wahre«, ja nicht einmal, ob sie gut oder schlecht ist, müssen wir stel
len. Die Frage bei jeder Religion und für jeden ist immer nur: ist eine bestimmte
Religion die unsere, wirklich die unsere? Es gibt für uns keine andere, wir haben
nur die eine, so wie jeder auch nur jeweils diesen einen und einzigen Körper hat.
Zu fragen ist: Was ist die Religion, die Wahrheit, der Mythos, den ich wirklich
lebe, der die angemessene »Formulierung« für das von mir - als Glied einer
Kulturgemeinschaft - wirklich und immer schon gelebte menschliche »Trieble
ben« bietet, d.h. für die Mystika, für das göttliche Drama oder archetypisch
mythische Heilsgeschehen, in dem der wirkliche Weltumgang des Menschen als
9 C.G. Jung, Briefe II, S. 241 (an Erich Neumann, 5 . 1 .1952).
solcher und im ganzen seinerseits gestalthaft geschaut wird (als Gestalt entge-
genkommt)? Es ist dieses menschliche »Triebleben« (d.h. das archetypisch-my
thische Heilsgeschehen), als Bezug zu welchem die Religion verstanden werden
muß, nämlich als bewußte, »kultische« Anerkennung (religio von relegere) von:
einerseits der Gebundenheit durch es (religio von religare), andererseits von den
bestimmten Gehalten und Gestalten selbst, durch die das menschliche Leben als
menschliches und nicht nur natürliches gebunden ist und in denen sich der ganze
Weltbegegnungszusammenhang je konkret manifestiert.
Jung spricht aus der Einsicht heraus, daß die Frage nach Gott erstens kei
ne abstrakt intellektuelle, keine bloß »akademische« oder »theoretische«, keine
Frage von persönlichen Meinungen oder Bekenntnissen, kein Problem, über das
mit Argumenten zu diskutieren wäre, sondern eine reale, weil in unserer Vitali
tät und der Vitalität unserer Kultur verwurzelte Wirklichkeit ist und daß es in
dieser Frage zweitens keine Wahl gibt, weil die Wahl uns immer schon durch
unser Sein (Verwurzeltsein in einer bestimmten geschichtlich gewachsenen Kul
tur) abgenommen ist. Wir kommen als wählen Wollende und für eine rechte
Wahl Gründe Suchende immer schon zu spät. Unsere Wahrheit und unseren
Gott können wir uns nicht nach unseren Vorlieben wie Gebrauchsgüter im Su
permarkt oder aus einem Versandhaus-Bestellkatalog aussuchen und bei Nicht-
Gefallen gemäß Rückgabegarantie gegen einen anderen austauschen. Wir haben
sie als reelle Faktoren unseres Daseins wie unsere Muttersprache, unsere Eltern,
unsere frühkindliche Biographie längst hinter uns und stecken auf Gedeih und
Verderb in ihnen.101
Aber wir haben durchaus die Möglichkeit, uns etwas vorzumachen und
uns so, wie wir uns auch in den anderen Gestalten je anders einnebeln können,
an exotischen Glaubenslehren und exotischen geistlichen Praktiken intellektuell
zu berauschen. In diesem Tun ist zwar Geist, aber er ist nicht der unsere, nicht
der für uns authentische. »Zwar können wir viel vom indischen Denken lernen,
aber niemals drückt es jene Vergangenheit aus, die in uns aufbewahrt ist.« »Wer
daher glaubt, östliche Anschauungsformen unmittelbar übernehmen zu können,
der entwurzelt sich selbst, denn sie drücken die abendländische Vergangenheit
nicht aus, sondern bleiben blutleere, intellektuelle Begriffe, welche die Saiten
unseres tieferen Wesens nicht zum Erklingen bringen. Wir wurzeln in christli
chem Boden.«11 Die Ungemäßheit, ja Unbekömmlichkeit der einer viertausend
jährigen Erfahrung der Menschen der indischen Kultur entstammenden Weisheit
für uns Abendländer bringt eine andere, satirische Briefstelle von Jung auf köst
liche Weise zum Ausdruck, ohne daß damit ein abfälliges Urteil über den sachli
chen Gehalt dieser Weisheit innerhalb ihres eigenen authentischen Kontexts aus
gesprochen wäre:
10 Was Gott anlangt, so ist »Sein« für Jung wohl ein »reales Prädikat«.
11 C.G. Jung, GW 9/II § 271,273.
Paramhansa Yogananda: Autobiography o f a Yogi: 100% reines Kokosöl, wird von
40° im Schatten und 100% Luftfeuchtigkeit an immer glaubwürdiger, bester psycho
logischer Reiseführer vom löten Breitengrad an südlich, setzt etwas zuviel Amöben
dysenterie und Malariaanämie voraus, um die moralischen Szenenwechsel und die
Hochfrequenz mirakulöser Intermezzi erträglicher zu gestalten; bewährt sich neben
Amy McPherson und ähnlichem trefflich als metaphysischer Lunapark an der Pazi
fikküste südlich von San Francisco, ist kein gewöhnlicher Ersatz, sondern authen
tisch indisch für alle fünf Sinne und offeriert garantiert jahrhundertelange Spazier
gänge ins große Hinterland bei zunehmender Verdunkelung des Vorderlandes, macht
alle Illusionskünste überflüssig und bietet schlechthin alles, was man sich von einer
negativen Existenz nur wünschen kann, unübertrefflich als Antidot bei hoffnungslo
ser Bevölkerungszunahme und Verkehrsdichte und drohender geistiger Unterernäh
rung, dermaßen vitaminreich, daß Eiweiße, Kohlehydrate u. dgl. Banalitäten über
flüssig werden. Herr Martin Buber könnte damit seinen Bart um 2 Meter verlän
gern.12
Mit exotischen Lehren kommt man in den Besitz »höherer« Weisheiten. Man
psychologisiert nicht; der Geist wird nicht in das Individuum hineingestopft als
dessen empirisches Erlebnis und so emotionalisiert. Er führt vielmehr zu einer
wahrhaft spirituellen Berauschung. Man könnte in bezug auf seine Wirkung
vielleicht sogar von einer Art pneumatischem Zustand reden: aber er ist erschli
chen, er ist nicht aus unserer Wirklichkeit und Wahrheit als Lösung des uns see
lengeschichtlich aufgegebenen Problems hervorgegangen, sondern von außen
entlehnt und unserer Situation nur kurzerhand aufgesetzt. Daher ist auch das
mehr auf eine positive, empirische Befindlichkeit am Menschen hinweisende
Wort »Zustand« hier am Platz, während ich für das Gesuchte eigentlich das nur
noch auf die Logik des Inderweltseins abzielende Wort pneumatischer oder
quintessentialischer »Status« des Bewußtseins vorziehen würde. Der Zustand
des im Besitz »höherer« Weisheiten Seins ist »metaphysischer Lunapark«. Des
halb vermag er auch unsere Welt nicht zu erreichen. Seiner Form als (intellektu
ell) berauschender Weisheit nach bleibt er bei aller Geistigkeit seines Inhalts
noch gegenständlich und so geistlos: konsumierter Besitz.
In den vorangegangenen vier Gestalten der Manifestation der Trinität
(und ihrer Abwehr) wurde der Geist in je verschiedener Weise als etwas Positi
ves genommen (Doktrin, Trieb, Erlebnis, Weisheit). Es folgen fünf weitere Ge
stalten, in denen verschiedene Aspekte der Negativität des Geistes sich darstel
len, die aber ihrerseits wieder literalisiert und so abgewehrt werden.
5) In der manichäischen Kulturkritik, wie wir sie in unterschiedlichen
Formen am deutlichsten in der Lebensphilosophie bei Klages und in den heute
populären Angriffen auf die »patriarchale« Prägung unserer Kultur finden, wird
der Geist als der böse Feind, der Zerstörer (des »Lebens«, der »matriarchalen
Kultur«) gesehen. Damit nimmt diese Gestalt eine Mittelstellung zwischen den
12 C.G. Jung, Briefe II, S. 251 (an Erich Neumann, 28. II. 1952).
positiven und den negativen ein. Denn der Geist wird hier als positiv seiendes
Wesen oder substantielle Macht vorgestellt, an der sich nur inhaltlich die Nega
tivität des Geistes insofern geltend macht, als der Geist eben als durch die be
sondere (gegen das »Leben« gerichtete) Eigenschaft der Destruktivität ausge
zeichnet gilt. Hier liegt also unmißverständlich die christlich-trinitarische13 Er
fahrung der Negativität des Geistes vor, aber die Negativität wird ihrerseits noch
ganz äußerlich, natürlich-positiv (also selber ungeistig) als das Böse, als Wider
sacher bewertet (vorgestellt). Diese Gestalt drückt demnach nur die erste Unmit
telbarkeit der Negativität des Geistes aus.
Gleichzeitig hält sich das Bewußtsein aus ihr heraus, indem es in dem Ge
halt seiner Lehre entschieden gegen den Geist und für sein Anderes (die Seele,
das Leben, die »matriarchale« Natur) Partei ergreift und sich ihm, ihn verdam
mend, in entschiedener Geistfeindlichkeit gegenüberstellt (als ob der Geist
natürlich-räumlich auf der einen, das Leben oder die Seele fein säuberlich ge
trennt auf der anderen Seite stünde oder gestellt werden könnte). Diese Gestalt
hat so als einzige aller hier aufgeführten Gestalten (vielleicht mit Ausnahme der
Wissenschaft) eine ausdrücklich negative Beziehung zum Geist. Sie will gerade
nicht eine Gestalt des Geistes sein und glaubt auch, zumindest letztlich, tatsäch
lich außerhalb seines Machtbereichs zu stehen und ihn so bekämpfen zu können.
Andererseits macht sie, ohne dies zu realisieren, in ihrer unversöhnlichen Entge
gensetzung der beiden Gegenspieler, also in ihrem eigenen Tun, doch selber von
dem Geist Gebrauch, ist ihm also dienstbar. Sie verleiht ihm Ausdruck, nicht ob
wohl, sondern indem sie sich gegen ihn wendet bzw. indem sie sich durch ihn
bedroht fühlt (Abwehrhaltung).
6) Im säkularen Messianismus-Utopismus (wie z.B. im Marxismus)
wird das Moment der Negativität als Unerfülltheit des Geistes (und so als trans
zendente Funktion) gesehen. Das heißt, die Negativität wird schon geistiger,
schon weniger buchstäblich, aber doch immer noch positiv als ein »Noch nicht«,
d.h. als ein anzustrebendes und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu realisie
rendes Ziel in der Zukunft angesetzt, altem chiliastischem Denken folgend.
Auch hier hält sich das Bewußtsein aus der Trinität heraus, während es doch zu
gleich von ihr gebunden und getrieben ist, indem es ihre Präsenz und Wirklich
keit aus der Gegenwart hinaussetzt und immer vor sich herschiebt.
7) In Psychoanalyse und personalistischer Psychologie wird das die Tri
nität in höchstem Maße auszeichnende und wahrhaft geistig-negative Moment
der Negativität: die Er-innerung (die Innerlichkeit des Geistes) aufgegriffen,
aber dann doch auch wieder positiviert und verabsolutiert. Statt diese Innerlich
keit geistig als intensionale Vertiefung im Sinn der alchemistischen destillatio,
sublimatio, putrefactio usw. walten zu lassen, wird sie räumlich-natürlich als
13 Freilich auch weit vor das Christentum in eine einzelne von dessen Wurzeln, nämlich das altirani
sehe dualistische Denken zurückreichende.
»das Innere«, das, was »in uns« ist, vorgestellt. Das Bewußtsein konzentriert
sich immer mehr auf sich selbst, auf seine ganz persönlichen Gefühle und Re
gungen, insbesondere auch auf seine Sexualität. Die Aufmerksamkeit wird in
unerbittlicher Engführung mehr und mehr von der wirklichen Welt als politisch
gesellschaftlicher Öffentlichkeit abgezogen und introspektiv in die Tiefe des ei
genen Inneren wie in ein Schwarzes Loch hineingesaugt. Das Ich verliert sich in
sich selbst. Indem die Er-innerung zur ichhaften Erinnerung der frühkindlichen
Traumen und der Erlebnisse der weiteren Biographie zusammen mit den »inne
ren« dazugehörigen Gefühlen positiviert wird, läßt es sich auch hier sehr gut der
Negativität des Geistes entgehen, während man sie doch gerade agiert.
8) Auch Heidegger, Derrida und die Dekonstruktionisten stehen ganz
im Bann der Trinität. Wenn es bei ihnen vor allem dämm geht, die »Anwesen
heit« zu bekämpfen, um der Negativität als »Abwesenheit«, als Leere und Offen
heit, Raum zu geben, dann darf man als das tiefere treibende Motiv dieser gan
zen Richtung dies sehen, die christliche Parusie abzuwehren. Vielleicht ist Hei
deggers ganze Philosophie in der Weise durch die Trinität und den Heiligen
Geist gebunden, daß sie in erster Linie als Generalangriff auf die Pamsie des
Geistes auftritt, ein Generalangriff, der in der Gestalt einer Kritik an der klassi
schen Metaphysik auf dem Boden der griechischen philosophischen Tradition
daherkommt.
Mit dem Wort Pamsie wird gewöhnlich auf die vom Urchristentum als
nahe bevorstehend erwartete Wiederkunft Christi als des erhöhten Herrn Bezug
genommen. Albert Schweitzer hat die These aufgestellt, daß die Urkirche durch
das Ausbleiben der Pamsie fundamental erschüttert worden sei, was zu einer
völligen Umorientierung des Christentums geführt habe. Ganz gleich, ob man
Schweitzer zustimmt oder nicht, d.h. ob man der Ansicht ist, daß die verzögerte
Pamsie tatsächlich die von ihm behauptete tiefe Krise auslöste, oder nicht, - die
Wiederkunft Christi in seiner Glorie hat nicht stattgefunden. Die Lösung dieses
Problems der Pamsie liegt nun darin, daß sich ihr Bezug innerhalb der Trinität
verschiebt: von Christus zu dem Geist, womit sich zugleich auch die Bedeutung
(der Begriff) von Pamsie verändert. Erwartet worden war die buchstäbliche
Wiederkunft des erhöhten Herrn. Das ist eine geistlose Erwartung unter dem
Diktat der Positivität und des natürlichen Bewußtseins. Das Ausbleiben der Pa
rusie in diesem Sinn bedeutet nicht, daß es mit der Pamsie schlechterdings
nichts sei, sondern sie bedeutet die Abarbeitung der Positivität des Parusiever-
ständnisses und damit seine Verwandlung im Sinn seiner Vergeistigung. Die so
entstehende negativ gewordene Pamsie meint jetzt die Anwesenheit oder Gegen
wart des (niemals sichtbaren, selber negativen) Geistes als der wahren Gestalt,
in der der erhöhte Herr wiederkehrt: als die Flüssigkeit der logischen Bewegung,
die alles in der Welt, alle »Inhalte« des Bewußtseins und dieses selbst durch
wirkt. In diesem Sinn hat Hegel gesagt, daß das Absolute an und für sich schon
bei uns ist und sein will.14
Von den Denkern der Postmodeme soll letztlich, wenn auch unausgespro
chenermaßen, diese Anwesenheit des Absoluten »dekonstraiert« und verhindert
werden. Die in Analogie zum Stil einer negativen Theologie und als Fortsetzung
des äußerlichen Tuns der Bilderstürmer in neuer, sublimierter Form betriebene
Dekonstraktion hat psychologisch die Aufgabe, die Gegenwart des Absoluten
immer neu zu ver-nichten und so durch die eigene Aktivität oder Praxis, die die
Dekonstruktion ist, aus der Wirklichkeit zu vertreiben (nicht als nicht wirklich
zu erkennen!). »Meaning is forever deferred« (David Miller). Das ist ein metho
disches Tun. So wird die Wirklichkeit von aller Verbindlichkeit (Wirklichkeit)
befreit und für das Spiel pluralistischer Möglichkeiten freigehalten: ein Zelebrie
ren des Nihilismus.
In der Dekonstmktion als aktiv ausgeübtem Tun manifestiert sich der
Animus als Töter. Während freilich in der manichäischen Kulturkritik das Tun
des Geistes als von einem bedrohlichen Widersacher ausgehend erlebt wurde, ist
es hier vom Bewußtsein in die eigene Regie übernommen. Dieses vollzieht
selbst die Dekonstruktion. Und während dort ein natürlich-räumliches Vorstel
len waltete, indem man den Geist auf der einen Seite glaubte und sich meinte
auf die andere Seite stellen zu können, sind die Dekonstmktivisten schon zu ei
nem wahrhaft geistigen Verstehen der Negativität fortgeschritten: nicht »böse«
(von einem Widersacher ausgehende) Destruktivität, sondern (die Positivität al
ler Sinngebilde zugunsten eines frischen, lebendigen geistigen Verstehens auf
brechende) Dekonstmktion. Und doch manifestiert sich auch bei ihnen der Ani
mus als Töter noch auf natürliche, ungeistige Weise, nämlich als prinzipiell end
los fortsetzbare Aktivität der Dekonstruktion. Die Negativität des Geistes wird
positiv agiert: als buchstäbliches Beseitigen der »Präsenz« durch das methodi
sche (wenn auch hochgeistige) Tun des Ichs.
Daß die Abwesenheit jedoch nicht positive, sondern selber negative Ab
wesenheit ist und daher weder methodisch hergestellt werden muß noch kann,
weil sie nur als immer schon Waltende begriffen werden muß, als solche aber
auch nicht das undialektische Gegenteil von Anwesenheit, sondern gerade wirk
liche Parusie ist, die ihrerseits immer schon die Abwesenheit in ihr und nicht
außer sich hat, wird hier nicht gesehen. Als fortwährender Nachweis des Vor
handenseins der Trias Zentrum, Präsenz, Ursprung ist die Dekonstruktion dann
aber auch im Widersprach zu ihrem Anliegen der Bekämpfung der Präsenz ge
rade der positive Nachweis der Ubiquität und Unentgehbarkeit der Präsenz.
9) Mit dem Übergang zur nächsten Gestalt der Trinität, Jungs Q uaterni
tät, verändert sich die Szene mit einem Schlag. Bisher war die Trinität ganz un
bewußt. Man lebte einfach in ihr als der waltenden Wahrheit des christlichen
Abendlandes, aber wußte nicht,
■i i.i (Forts.)
colai Hartmannsche »intentio obliqua« sind in diesem Sinn ein Vorwärtserkennen, weil beide sich
der Umkehrung der Blickrichtung verdanken. Beim psychologischen Gewahren als »Rückwärts
erkennen« wird, während man gerade nach vorne auf sein Objekt blickt, etwas mehr von dem zu
nächst unbewußten Hintergrund, in dem man selber steht und aus dem heraus man blickt,
mirwahrgenommen. Dieselbe Blickrichtung wird beibehalten, man dreht sich nicht nach hinten
um, so daß mm das, was zuvor hinter einem lag, vor einem läge. Es handelt sich vielmehr um ei
ne rückwärtige Gesichtsfelderweiterung, eine Verlagerung des Standpunktes, von dem aus man
vorwärts blickt, weiter nach rückwärts. Das Bewußtsein geht in seinen Grund (was immer auch
einen Tod bedeutet, den Tod des Bewußtseins in seinem alten Status). Dies ist das, was wir Be
wußtseinsentwicklung oder den Fortschritt in der (psychologischen) Bewußtheit nennen.
♦ von den Anhängern der Weisheiten exotischer religiöser Lehren und Prakti
ken ihr Erkenntnischarakter
♦ von der manichäischen Kulturkritik die Negativität des Geistes als positives
Widersachertum (Lebensfeindlichkeit: der Geist als Töter),
♦ vom Utopismus die Negativität als immer noch ausstehende Erfüllung
(»Noch nicht«, Zukünftigkeit)
♦ von der Psychoanalyse die Negativität als Er-innerung
♦ von den Dekonstruktivisten die Negativität als Aufhebung der Natürlichkeit
(Substantialität, Positivität) durch Herstellung von »Abwesenheit« als der
Form der Wirklichkeit des Geistes,
so hat auch Jung ein einzelnes Moment des trinitarischen Geistes einseitig agiert
und positiviert:
♦ die Negativität der Ganzheit des Geistes, die Abgründigkeit seines Charak
ters als Vollständigkeit, Erfüllung, Gegenwart.
Jung gelangte zu ihm durch seine Wahrnehmung der Negativität des Geistes als
einer seienden Leerstelle. Er hat die Negativität qua Mangelhaftigkeit positiv als
fehlendes Bestandstück des Ganzen angesetzt.
Die Einseitigkeit (das rein Männliche) der Trinität bedeutet nicht einfach
den rückgängig zu machenden Verlust der einen, weiblichen Hälfte von einem
(ursprünglich das Männliche wie das Weibliche umfassenden) Ganzen, sondern
auch - im Sinn der transzendenten Funktion - das vorwärtstreibende Moment zu
etwas ganz Neuem, der Weg von einem alten Ganzen zu einer unerahnt neuen
Ganzheit. Die Einseitigkeit ist »beabsichtigt«, wesentlich. Aber sie kann nicht
mehr (natürlich) vorgestellt werden als das bestimmter essentieller Bestandstük-
ke Beraubtsein, sie will (geistig, »im Geist und in der Wahrheit«) gedacht wer
den. Die Einseitigkeit, anstatt kompensiert zu werden, will begriffen werden und
eo ipso uns ergreifen. Dadurch daß sie begriffen wird und den Menschen begrif
fen hat, wird die Einseitigkeit (gerade schon sie selber) sichtbar, die Erfüllung
oder die neue Ganzheit zu sein, insofern in diesem Begreifen der logische Status
unseres ganzen Inderweltseins verwandelt - durchgeistigt, zum pneumatischen
Status - wird.
Obwohl »von Natur« Dialektiker, scheute Jung doch vor der wahren, der
Trinität selbst und auch ihm persönlich einzig gemäßen, weil geistigen Lösung
zurück, nämlich der dialektischen, denkerischen. Jung zog die (positive) Kom
pensation dem der Psychologie eigentlich einzig entsprechenden Heilungsweg,
der (absolut negativen) Er-innerung, vor. Das war wohl auch der tiefste Grand,
aus dem er Hegel verschmähen mußte. Und daher wohl auch hat er sich immer
wieder in irreführender Weise als empirischen Naturwissenschaftler ansehen
müssen (denn die Naturwissenschaft denkt nicht16 und er-innert nicht, sie sucht
die Lösung ihrer Probleme draußen - äußerlich, geistlos, positiv - am beobacht
baren Material abzulesen, um sich selbst - die Seele - möglichst ganz heraushal
ten zu können). Vielleicht war die Verführung durch die Anima zu stark. Jeden
falls blieb Jung (hier, nicht überall und immer) auf der natürlichen Anima-Stufe
der Bilder, des Ontischen, der kompensatorischen Ergänzung durch die fehlen
den symbolischen Inhalte, wo es doch in Wahrheit um den Überschritt von ei
nem ersten zu einem anderen logischen Status, dem des pneumatischen Inder
weltseins oder der quintessentialischen logischen Form, gegangen wäre, der aber
weniger ein Überschritt über etwas hinaus als vielmehr der immanente logische
Absturz in die Tiefe unserer Wahrheit, der Trinität, ist. Und er regredierte ent
sprechend zur mittelalterlichen, ja paganen (naturreligiösen: katholischen) »Lö
sung«: zur Mater, obwohl diese doch spätestens mit dem Aufkommen des (ein
seitig auf den »Vater« und den Geist orientierten) Protestantismus seelenge
schichtlich obsolet war.
Was Jung bei Freud kritisierte, die »historische Abschweifung«17, das Zu
rückgehen in die buchstäblich historische (biographische) Kindheit und zu den
buchstäblichen Eltern, das unterläuft ihm auf seiner eigenen, der kollektiven, re
ligiösen Ebene selber: die positive Erinnerung an die archetypische »Mutterfi
gur« vergangener Kulturstufen, wo die negative Er-innerung in die Negativität
der Trinität am Platz gewesen wäre. Aus diesem Grund ist David Millers Buch
über die Trinität so bedeutsam, weil es, obwohl aus einem der Jungschen Psy
chologie verpflichteten Denken kommend, nicht der dort herrschenden Tendenz
zur Überschreitung der Dreiheit zur Vierheit erliegt, sondern bei der Drei selbst
aushält und sie in ihre eigene Tiefe und Wahrheit erinnert. Weil es andererseits
die Trinität remythologisiert, also in die Anima-Stufe zurückbindet, und so z.B.
in »Holy Ghost« auch die gewöhnliche Bedeutung des Wortes »ghost« (Geist
als Gespenst) mitheraushört, dringt es allerdings doch nicht zu der von mir ge
forderten Ebene der »logischen Form« vor.
Wir kommen zu der Erkenntnis, daß Jung, gerade indem er sich dem The
ma der Trinität und des Animus mit allem Emst und in voller Ausdrücklichkeit
widmete, doch in Wahrheit, wenn auch ihm selbst unbewußt, von ihm »deser
tierte« (nämlich zur Quaternität und zur Anima). Selbst er hat sich damit, und
dies ganz ausdrücklich - nämlich eben zur Quaternität - , aus der Trinität hinaus
gedacht. Auch sein Versuch, die Trinität um das Weibliche zu ergänzen, bestä
tigt einmal mehr das Wort über den Logos: »Er kam in sein Eigentum; und die
Seinen nahmen ihn nicht auf« (Joh. 1:11). Insofern hat Jung mit genau dem
Schritt, der die Neurose des Abendlandes heilen sollte, diese entgegen seiner
Absicht eher noch vertieft (wobei wir freilich hinzufügen müssen, daß in der mit
Jung will sagen: Hätte er Freuds Verständnis der Sexualität einfach nur als der
treue Schüler übernommen, wäre er Freud in einem tieferen Sinn untreu gewor
den. Er bewahrte ihm die Treue gerade dadurch, daß er Freuds Anliegen über
dessen Standpunkt hinaus auf eine ganz andere, nämlich geistige Ebene hob, auf
der das Freud an der Sexualität eigentlich interessierende Geheimnis zum Aus
druck gebracht werden konnte. Ich erinnere daran nicht, weil mich das Verhält
nis Jung - Freud interessierte. Ich sehe darin vielmehr einen Wink für unser ei
genes Verhältnis zu Jung. Wir würden Jung nicht gerecht werden, wollten wir
nicht versuchen, sein Thema, das des trinitarischen Gottes, »sinngemäß weiter
zuführen«, es über seine positive Bedeutung auf der Anima-Stufe hinaus in sei
ner Geistigkeit herauszustellen und das darin liegende Problem, von dem Jung
ergriffen war, das er aber nicht auf dem eigenen Boden und in dem eigenen Me
dium des Problems, dem des Geistes, fassen konnte, in dem der Trinität ange
stammten Medium zu begreifen. »Sinngemäß weiterführen« heißt im Fall der
Trinität also gerade nicht, über die unvollständige Trinität zur vollständigen
Quaternität hinausgehen, sondern genau umgekehrt das Verweilen in der Un-
18 C.G. Jung, Erinnerungen S. 172. (Vgl. auch Briefe IIIS. 35, an Benjamin Nelson, 17. VI. 1956.)
Vollständigkeit der Trinität selbst; dasjenige freilich, das kein statisches Sich-
Einbunkem mehr ist, sondern sich lebendig als Absturz in ihre bodenlose Tiefe,
als negative Er-innerung in sie, ereignet.
Die Quaternität kann nie eine Lösung des Problems der Trinität selber
sein. Sie ist einfach eine andere archetypische Wirklichkeit, die an die Stelle der
Trinität gesetzt wird. Mit ihr als Lösung ist das Thema der Trinität verfehlt. Das
Problem der Unvollständigkeit der Trinität wird durch das Vierte gerade nicht
gelöst, die Ganzheit gerade verhindert. Denn der Mangel ist nicht als Fehler zu
bemängeln, sondern als das die Trinität auszeichnende Wesen zu begreifen. Der
Mangel der Trinität als zu bemängelnder liegt darin, daß sie noch der Ebene der
Positivität und des natürlichen Bewußtseins verhaftet bleibt; das der Trinität
Fehlende ist so das Fehlen selbst; sie bedarf eines Mehr an »Fehlen«, an Boden
losigkeit des Geistes, um zu sich selbst zu kommen; das Fehlende muß »homöo
pathisch« durch Intensivierung des »Fehlens«, durch die Potenzierung oder Ver
doppelung ihrer Negativität (die Rückanwendung der Negativität auf diese
selbst) geheilt werden (was also wieder nur negativ als Begreifen des Fehlens,
d.h. von ihm Begriffenwerden und es tiefer Erleiden, möglich ist, nicht durch ei
genes Tun wie z.B. die »Dekonstruktion«). Durch das Hineinsetzen des Vierten
als eines positiven Inhalts in die »Lücke« wird aber diese Lücke, die gerade die
einzige Öffnung in die Bodenlosigkeit ist, zugestellt oder zugemauert. Das Be
wußtsein bekommt einen Köder vorgesetzt, und so wird durch die Behebung des
Mangels der Mangel verstärkt, weil der Mangel, um den es hier geht, als geisti
ger ein Mangel an Negativität (nämlich an Negativität der Negativität) ist. Dafür
kann sich jedoch das Bewußtsein durch die mittels des hineingesetzten Vierten
nun hergestellte »Vollständigkeit« in seinem alten Status gesichert fühlen. Nicht
es muß sich im Sinn der negativen Er-innerung in die Negativität wandeln, son
dern die Trinität muß positiv ergänzt werden. Während das Bewußtsein sich
durch das Hineinsetzen des Vierten in die offene Tür zur Negativität der Negati
vität in seinem alten Status einmauert, darf es sich gleichzeitig in dem Glauben
wiegen, durch das Schließen der Lücke oder durch die Errichtung der nun lük-
kenlos geschlossenen Mauer fortschrittlich zur Behebung der Unvollständigkeit
der Trinität beizutragen.
Ebensowenig ist die Hinwendung zur Anima die Lösung des Problems
des Animus. Jung hat sich und uns mit seiner Lösung aus der Trinität hinausge
setzt und hinausgedacht, ganz so, wie er auch vor der von ihm richtig erfahrenen
Not des Christentums überhaupt auswich, indem er dessen Einseitigkeit durch
das alchemistische »untere«, materiell-merkuriale Gegenstück zum »oberen«
Christentum kompensieren wollte, wo er aber doch auch gerade meinte, eben
damit auf diese Not wirklich zu antworten. Diese Ergänzung oder Kompensation
erfolgte durchaus auch in bezug auf die Trinität: Sein Studium der Alchemie er
möglichte es Jung, der lichten »oberen« Trinität eine »umbra trinitatis«, eine
dunkle Schatten- oder chthonische Trinität, entgegenzusetzen.19 Mit vollem
Recht zwar hat Jung festgestellt, daß das christliche Credo als »Symbolum«
»Praktisch ungefähr alles (umfaßt), was sich gmndsätzlich über die Manifesta
tionen des psychischen Faktors im Gebiete der inneren Erfahrung feststellen
läßt, aber es erstreckt sich nicht auf die Natur, wenigstens nicht in erkennbarer
Weise.«20 Die Natur wird nicht erfaßt. Dies versuchte die Alchemie laut Jung zu
kompensieren.
Aber das Nichtumfassen der Natur darf gerade nicht als ein Fehler ver
standen und »korrigiert« werden, weil das Absehen von der Natur, ja die Aufhe
bung der Natur, und so auch die Überwindung der dunklen chthonischen Trinität
(ebenso wie die der diversen aus der Mythologie bekannten weiblichen Trinitä-
ten), das zentrale Anliegen der christlichen Lehre ist und die Kompensation ihrer
methodisch beabsichtigten Einseitigkeit ihr ganzes Werk zunichte machen wür
de. In der christlichen Überwindung der Natur liegt gerade die Möglichkeit,
eben das Ziel, das die Alchemie verfolgte, aber dank ihres Festhaltens an der
Natur nicht erreichen konnte, das Ziel der quintessentialischen Form oder des
Pneumatischen, wirklich zu erreichen. Die Kompensation der christlichen »Ein
seitigkeit« macht also nicht nur das christliche opus zunichte, sie vereitelt auch
das alchemistische wie das psychologische opus selbst. Es ist schon merkwür
dig, daß Jung ausgerechnet das an der Alchemie faszinierte, was das Scheitern
ihres ureigensten Anliegens vorprogrammierte, nämlich ihr der mythologischen,
paganen Denkform Verhaftetbleiben. Es ist schon merkwürdig, daß Jung nicht
erkannte, daß das Christentum durch genau das, was Jung meinte kompensieren
zu müssen, die »Mittel« bereitstellte, die das eigentliche Ziel auch der Alchemie
selbst hätten erreichen lassen. Die christliche Lehre braucht keine Ergänzung,
sondern die negative Er-innerung in ihre zugestandenermaßen bestehende Ein
seitigkeit, eine so tiefe Er-innerung, daß sie innerhalb ihrer selbst sich einen Zu
gang zu dem Fehlenden und Ausgeschlossenen gewinnt.
Doch sind die Worte »Einseitigkeit«, das »Fehlende« und »Ausgeschlos
sene« im Grunde schon falsch. Sie mißverstehen die christliche Naturüberwin
dung, wie auch Jung m.E. diese da mißversteht, wo er die Alchemie als »untere
Entsprechung der oberen Mysterien, ein sacramentum nicht des väterlichen
Geistes, sondern des mütterlichen Stoffes« versteht und sagt: »Während die
christlichen Figuren aus Geist und Licht und Gutem hervorgehen, entspringen
die alchemistischen aus Nacht, Schwärze, Gift und Bösem.«21 Auf den ersten
Blick scheint dies ungemein einleuchtend. Aber mit dem Gegensatz von unten
und oben, Licht und Schwärze usw. bewegt sich Jungs Phantasie selber noch in
der natürlichen, mythischen, paganen und positiven Urpolarität von dem lichten
Himmelsgott und der chthonischen Mutter Erde, und er stellt es dann so hin, als
19 S. David Miller, Three Faces of God, S. 35 f.
20 C.G. Jung, GW 9/H § 270 (Satzbau von mir angepaßt, meine Hervorhebung).
21 C.G. Jung, GW 16 § 533 (S. 337).
ob der Geist, von dem im Christentum die Rede wäre, innerhalb dieser mythi
schen Polarität die eine, obere Seite wäre, die losgelöst von und auf Kosten der
unteren entwickelt worden wäre. Aber der Heilige Geist ist die Negation dieser
ganzen natürlichen (mythologisch vorgestellten) Urpolarität, also von »Himmel«
ebenso wie von »Erde«, von »väterlichem Geist« ebenso wie von »mütterlichem
Stoff«. Als diese Negation beider Seiten, als Negation des Ganzen, ist er also
nicht die eine Hälfte, sondern selber das (freilich negierte, [in das Pneumatische
oder die logische Form hinein] aufgehobene) Ganze: Ganzheit! Er ist die ganze
Logik des Inderweltseins, die alles umfaßt. Er ist die Liebe, die alles trägt und
alles duldet, auch Nacht, Schwärze, Gift und Böses.
Ganz ähnlich wie Jung mit Hilfe der den Geist zwar wirklich, aber nur
immer noch auf naturhafter Animastufe ausdrückenden Alchemie die angebliche
christliche Einseitigkeit kompensieren wollte, wenn auch im einzelnen grundle
gend anders, hat in der neueren abendländischen Geschichte u.a. schon Nietz
sche Dionysos gegen den Gekreuzigten ausgespielt. Und in der Psychologie hat
Hillman ebenso den Polytheismus gegen den Monotheismus, Griechenland und
die Renaissance gegen das Christentum ins Feld geführt, von all den anderen
heutigen Bewegungen, in denen das Matriarchale gegen unsere patriarchale Tra
dition, die Sophia gegen den Vatergott, der Leib oder »Bauch« gegen den Geist,
das Dionysische gegen das Apollinische gewendet werden soll, ganz zu schwei
gen. Überall hier wird - wenn ich mich um des Ernstes der Sache willen, um die
es hier geht, so hart ausdrücken darf - vor unserem wirklichen Problem davon
gelaufen. Auch über all diesen Versuchen, vor der Trinität, dem Logos, dem
Geist zum Weiblichen, »Natürlichen« und Dionysischen auszureißen, steht
längst schon das Wort: »Er kam in sein Eigentum; und die Seinen nahmen ihn
nicht auf«. Man kann aus der Mächtigkeit dieser mannigfachen Bewegungen er
sehen, wie schwer offenbar, um mit Hölderlin zu sprechen, der »freie Gebrauch«
des Eigenen (»Nationellen«), in unserem Fall: der freie Gebrauch der »junoni
schen Nüchternheit« (der freie Gebrauch der Möglichkeiten der Animus-Stufe
und so der Eintritt in die Syzygie-Stufe), sein muß, wenn selbst ein so tiefer,
hellsichtiger und wahrhaftiger Geist wie Jung der Versuchung erlag, die Lösung
für das Problem der Animus-Stufe regressiv auf der Anima-Stufe und nicht im
Fortschritt zur Syzygie-Stufe zu suchen, welcher Fortschritt der Schritt tiefer
und tiefer in die Animus-Problematik, in die Not des Christentums, in die Un
vollständigkeit oder Bodenlosigkeit der Trinität hinein und nicht aus ihnen hin
aus oder über sie hinaus wäre.
Die Logik hinter all den Kompensationsversuchen unserer Einseitigkeit
ist das zunächst ungemein Einleuchtende, daß die einseitig männlich-patriarchal
orientierte Kultur eine sträfliche Vernachlässigung des Weiblichen, des Körpers
und der Sinne, des Gefühls und des Dionysisch-Ekstatischen mit sich bringe, ei
ne Einseitigkeit, die einfach unerträglich, ja geradezu sträflich sei. Die Idee ist,
daß eine Alternative entweder zwischen dem Weiblichen und dem Männlichen,
zwischen Geist und Natur, »Kopf« und »Bauch« oder aber zwischen einer (pri
mär weiblichen, jedoch Männliches wie Weibliches umfassenden) »Ganzheit«
und der rational-patriarchalen Einseitigkeit zur Entscheidung stünde. Entweder
man gehe auf dem männlich-patriarchalen Weg weiter und verzichte eo ipso auf
die weiblichen und dionysischen »Werte«, oder man sage der patriarchalen Tra
dition wenigstens partiell ab, um wieder mehr zum Weiblichen zurückzukehren.
Aber in dem, was den Anschein des Einleuchtenden erweckt, steckt in Wahrheit
nur die Abwehr, das unbedingte die Anima-Stufe Festhaltenwollen (wenn frei
lich auch nur innerhalb der längst gültigen Animus-Stufe); es steckt darin die pa
nische Angst vor dem als Bewußtsein zu sterbenden Tod. Die Gegensätze
Männlich vs. Weiblich, Geist (»Kopf«, Ratio) vs. Körper (Leib, »Bauch«), abs
trakter Begriff vs. Bild sind gerade nicht die Kategorien, mit denen man die
christliche Trinität kritisieren kann, weil sie unter deren Niveau bleiben, insofern
sie längst selber gerade von der mit der Trinität als Negation des ganzen
natürlich-mythischen Gegensatzes gegebenen Aufhebung getroffen und außer
Kraft gesetzt sind. Jene Gegensätze sind überholt, haben sich überlebt. Das ist
nicht das geschichtliche Problem heute. Die konsequente Beschreitung des
Wegs der transzendenten Funktion im Rahmen der rein männlichen Trinität be
deutet weder die Feindschaft gegen das Weibliche und Dionysische, noch die
einseitige Befürwortung männlicher Prinzipien (weswegen auch die unmittelba
re Umkehrung der Richtung zwecks Wiederbelebung des Weiblichen nicht die
Lösung brächte). So stellt es sich gerade nur aus der Sicht der Abwehr und für
ihre Zwecke dar.
Die Abwehr setzt die zur Trinität gehörige Unvollständigkeit als das Feh
len des weiblichen Pols an, um von dem wahren Problem, dem eigentlich Uner
füllten und zu Erfüllenden, nämlich der Aufgabe der Wahrmachung der Boden
losigkeit oder Negativität als der dem Geist gemäßen Form seiner Parusie, abzu
lenken, weil dieses Eigentliche mit dem Tod der ganzen Stufe einherginge. Es
soll nicht ins Bewußtsein dringen, daß der eigentliche Gegensatz der zwischen
der Stufe der positiven Inhalte oder Wirklichkeitsbereiche (also dem ganzen Ge
gensatz von Natur und Geist) überhaupt und der Stufe des pneumatischen Inder
weltseins ist, die für alle inhaltlichen Bereiche gleichermaßen offen ist, für das
Weibliche, Dionysische ebenso wie das Männliche, Geistige, Apollinische, aber
für beide nur als aufgehobene, weil das pneumatische Inderweltsein gerade da
durch ausgezeichnet ist, daß es nicht mehr auf der Stufe der Inhalte und Wirk
lichkeitsbereiche, sondern der der logischen Form angesiedelt ist. Das einseitig
Männliche der Trinität erfüllt sich ja gerade nur in seinem Untergang in ihre Bo
denlosigkeit hinein: der Weg der einseitig männlichen Trinität führt auch zum
Unter-gang, zum in seinen Grund Gehen der Einseitigkeit selbst. Denn die Trini
tät will gar nicht eine Antwort auf die coniunctio- oder »zweite Lebenshälfte«-
Problematik (innerhalb der Anima-Stufe) sein, wo Ganzheit in der geglückten
(inzestuösen) Beziehung zwischen Animus und Anima, zwischen dem Männli
chen und dem Weiblichen liegen würde, sondern eine Antwort auf die Proble
matik der transzendenten Funktion (Überschritt aus der Anima-Stufe in die
Syzygie-Stufe, »erste Lebenshälfte«-Problematik). Je mehr sich das Bewußtsein
in den Kampf um die Wiedergewinnung des Matriarchalen, des Unteren oder
auch umgekehrt in den Kampf für die Verteidigung des einseitig Männlichen ge
gen das Weibliche verrennt, je mehr es das mit dem trinitarischen Geist gegebe
ne Problem geistlos als Wahl zwischen zwei Alternativen (oder als Versöhnung
dieser Alternativen) deutet, um so fester bleibt es fixiert und bleibt die bisherige
Stufe erhalten. Es muß dann die Aufgabe nicht geistig, nicht selber schon im
Geist und in der Wahrheit angehen.
Feministinnen glauben bisweilen, sich Gott als weiblich vorstellen (oder
wie manchmal ungeniert gesagt wird: Gott als Frau erfinden) zu dürfen, da sie in
dem männlichen Gott nicht mitrepräsentiert seien und sich so nicht in ihm wie
derfinden könnten. Was man davon halten soll, wird schon durch die Wörter
»vorgestellter« oder »erfundener« Gott von selbst gesagt. Man bewegt sich hier
noch immer im Bereich des Vorstellens und der Gemachte des Ichbewußtseins.
Über die Bewußtseinsstufe, auf der wir uns mit unseren natürlichen Besonder
heiten in Gott würden wiedererkennen wollen, auf der Götter allerlei Spezialitä
ten hatten und ausdrückten, auf der für jedes Geschlecht, für so ziemlich jede
Krankheit, jedes Gebrechen, jedes Lebensalter, jeden »Beruf«, jeden Wechsel
fall des Lebens eine andere Gottheit zuständig war, mithin über die polytheisti
sche oder naturgöttliche Stufe (Anima-Ebene), sind wir nun einmal unweigerlich
hinaus - ob »gottlob« oder zu unserem Unheil kann dahingestellt bleiben, weil
es ja doch einfach so ist, wie es ist. Wir können uns nicht mehr in unseren natür
lichen Eigenheiten in Gott suchen und finden, nicht weil das Gottesbild mangel
haft wäre, sondern weil wir selbst über das »natürliche Bewußtsein« in der Tat,
wenn auch nicht in unserem Bewußtsein, hinausgewachsen sind. Das will ein
fach nicht mehr gelingen. Es zu versuchen und dahin zurückzuwollen, ist ein
Atavismus, Regression, politisch ausgedrückt: Restauration oder reaktionär. Es
ist der Versuch, das tote Vergangene hervorzukramen, festzuhalten und für die
lebendige, zukunftsträchtige Gegenwart auszugeben. Damit ist es der Versuch,
sich der wirklichen Gegenwart und Zukunft entgegen einzubunkem und das Le
ben zu unterbinden.
Wir müssen zwangsläufig, sofern »Gott« heute noch einen wirklichen lo
gischen Sinn haben soll und wirklicher, nicht ein selbstgebastelter Gott sein soll,
uns als Menschen (d.h. als der wirkliche Weltumgang, der wir sind, Hegel würde
sagen: als Geist, die Bibel sagt: im Geist und in der Wahrheit) in Gott erkennen
wollen. »Gott« ist der grammatischen Form nach männlich. Aber das heißt gera
de nicht mehr, daß er auch der Bedeutung nach als Mann vorzustellen und nur
ein Gott für die Männer sei, wie er ja unserem längst wirklichen Bewußtseins
status nach überhaupt nicht mehr vorgestellt werden kann. Selbst Jung versteigt
sich einmal dazu, den Protestantismus als bloße Männerreligion zu bezeichnen,
die die Zeichen der Zeit nicht erkenne, weil nämlich heute die Gleichberechti
gung der Frau eine metaphysische Repräsentation der Frau in der Gestalt einer
»göttlichen« Frau verlange (GW 11 § 753). Das ist der blanke Naturalismus der
Anima-Stufe. Die Gleichberechtigung ist in der modernen Welt umgekehrt gera
de nur deswegen möglich, weil der Geschlechtergegensatz längst metaphysisch
irrelevant und so zu einer »banalen« menschlich-allzumenschlichen Angelegen
heit geworden ist.
Wenn Jung mit Recht beklagte, daß »das Christentum eingeschlafen« sei
und »es versäumt« habe, »im Laufe der Jahrhunderte seinen Mythus weiter zu
bauen«,22 dann können wir sagen, daß die Weiterentwicklung des christlichen
Mythos sicher nicht mit der Verkündigung des Dogmas von der Assumptio Ma
riae geschieht, sondern das innertrinitarische Thema und Drama des Heiligen
Geistes - die Ausschöpfung des trinitarischen Gottesbildes durch die Er-inne
rung in seine absolute Negativität, die rückhaltlose Anerkennung seiner als Gott
(und nicht nur als Gottesbild) - betreffen muß. Das neue marianische Dogma ist
offensichtlich ein »Fortschritt« nur in Richtung Regression zwecks Stabilisie
rung des Bewußtseins in seinem alten, »mittelalterlichen« Status, zumal mit der
Erhöhung der Mater auch der Rechtsgrund für den Machtanspruch der Heiligen
Mutter Kirche metaphysisch erhöht werden soll, um so die real geschwundene
Autorität / Legitimität einer mittelalterlichen Institution inmitten der modernen
Welt noch einmal im Prinzip zu stützen. (Das gleiche Motiv dürfte hinter dem
fast fanatischen Kampf der katholischen Kirche für das »ungeborene Leben«
und gegen Abtreibung und Verhütungsmittel stehen, wo man doch eigentlich er
warten sollte, daß das Hauptinteresse der Kirchen nicht dem Ungeborenen, son
dern der Wiedergeburt aus dem Geist gelten würde.)
Erst in dem von Jung so genannten »pneumatischen Zustand«, der eigent
lich die sakramentalische Logik des Inderweltseins oder der Durchbruch zur
»quintessentialischen« logischen Form ist, wäre das Problem wahrhaft gelöst
und hätten wir die Vollständigkeit unserer seelischen Wahrheit erreicht. Mit der
Idee der Vierheit und der Himmelfahrt der Mutter Gottes mit ihrem quasi-my
thologischen Ontologismus und Naturalismus (als irgendwie seiend vorgestellte
göttliche Personen: Vater, Mutter und Sohn) würden wir abgehalten, zu der
Vollständigkeit unserer Wahrheit, nämlich zur Erkenntnis des Geistes und der
Liebe in ihrer absoluten Negativität, fortzuschreiten.
Dieses Fortschreiten allein wäre zugleich auch die wahre Überschreitung
der heute vielfach beklagten und mit Recht zu beklagenden einseitig abstrakt
rational (der Volksmund sagt gerne: »männlich«, »patriarchal«) ausgerichteten
Kultur. Denn deren Einseitigkeit verdankt sich gerade nicht dem Männlich-
Patriarchalen an sich, sondern dem Abstraktbleiben (d.h. der Anima-Verfallen-
23 Hier ist daran zu erinnern, daß Jung die Trinität auch unter dem Aspekt von Gut und Böse (Gott
als summum bonum und der Satan) zur Quaternität erweitern wollte. Insofern dieser Gegensatz,
anders als der von Männlich vs. Weiblich, schon kein natürlicher mehr, sondern bereits ein ge
nuin geistiger ist, ist er für die Thematik des Geistes wie auch für die transzendente Funktion
nicht unerheblich. Und doch haben wir schon gesehen, daß er, und die ganze Schatten-
Psychologie mit ihm, nicht mehr als vorläufige Bedeutung haben können. In der Erfüllung der
Trinität innerhalb ihrer selbst (also ohne Übergang zur Quaternität) durch die Erkenntnis des
Geistes als Liebe liegt auch die wahre Überschreitung oder eher die »Aufhebung« der Schatten
thematik (Überwindung und Bewahrung), insofern im Animus als Geist diejenige Liebe erfahren
wird, die den Töter oder das Böse nicht außer sich, sondern in sich hat. Es bedarf des Vierten
nicht, weil mit dem Geist sich die ganze Szene verändert, »die Welt neu erschaffen« wird. Dies
ist erneut ein Hinweis darauf, daß mit der Quaternität die wahre Überschreitung vermieden und
die alte Welt stabilisiert würde, weil durch den Ausbau der Trinität zur Quaternität das störende,
vorwärtstreibende Moment regressiv in der alten Ordnung untergebracht und stillgestellt wäre.
weil unvollständigen Drei her gesehen. Es geht um die Verwirklichung der Voll
kommenheit, d.h. um deren Überführung aus dem Jenseitigen ins Diesseits. Das
Vollkommene soll in dieser Welt wirklich, leibhaft werden, der Himmel auf die
Erde herabkommen. Das ist das (selbst schon zur Thematik der Transgression
nach Drüben gehörige) Gegenstück zur Transgression. Hier muß das Jenseits,
der »Kreis«, schon erfahren sein: er ist der Ausgangspunkt, und die Aufgabe be
steht jetzt nur darin, das in potentia Erfahrene herüberzubringen in die leibhafte,
raumzeitliche Realität. Die Doppelheit der mit der Transgression nach Drüben
gegebenen Aufgabe spiegelt sich in der Zweiteiligkeit vieler Märchen, wo der
Held im ersten Teil die Jenseitige schon ganz für sich gewonnen hat, ihrer dann
aber merkwürdigerweise doch wieder verlustig geht und sie dann auf einem
mühseligen Weg erst wiedergewinnen muß. Zunächst war sie nur »im Prinzip«
gewonnen, »in der Tat«, d.h. real, gewonnen wird sie erst am Ende.
Jede archetypische Idee ist, als archetypische, vollkommen und vollstän
dig, die Trinität nicht minder als die Quaternität. Insofern hat sie gleichsam
»Kreis«-Form. Die Trinität ist vollständig und vollkommen, weil ihre Unvoll
ständigkeit nicht »unvollständige, mangelhafte Idee« bedeutet, sondern besagt,
daß die Trinität die (vollständige) archetypische Idee der Unvollständigkeit, der
animushaften Dynamik im Sinn der transzendenten Funktion ist. Weil der Heili
ge Geist zunächst nur verheißen ist, ist auch die Trinität zunächst nur als
»himmlische« Idee und geglaubte Wahrheit, also nur potentiell gegeben, noch
nicht erfahrene leibhafte Lebenswirklichkeit. Anstatt an dem »Kreis« der Trini
tät die Quadratur des Zirkels (im Sinn der negativen Er-innerung ihrer in sich
hinein und des damit einhergehenden Todes des der Anima-Stufe verhafteten
Bewußtseins) auszuüben, um ähnlich, wie im Märchen der Held die errungene,
aber wieder verlorene Jenseitige durch eine lange Suchwanderung (vgl. »negati
ve Er-innerung«) neu gewinnen muß, die »im Prinzip« schon gewonnene und
doch noch verlorene Trinität auf die Erde herabzuholen, so daß sie als pneumati
sches Inderweltsein real wäre, hat Jung dies ganz andere versucht, von der einen
archetypischen Idee (Trinität als der unvollständigen Idee) zur anderen (Quater
nität als der Idee der Vollständigkeit) überzugehen. Und er beanspruchte unter
Berufung auf Platos Timaios für die Quaternität schon Realität. Ich meine aber,
mit der Vervollständigung der Drei bleibt man »horizontal« auf derselben
»himmlischen« Ebene archetypischer Potentialitäten, anstatt »vertikal« von die
ser auf die ganz andere irdische Ebene hinunterzugehen. Der Wechsel zur Qua-
temität verhindert genau das, was die Quaternität bringen sollte, das Wirklich
werden, die Realisierung unseres psychischen Seins, weil dieses doch nun ein
mal der Trinität und damit der transzendenten Funktion, d.h. dem Durchbruch
zur Syzygie-Stufe, verpflichtet ist. Quasi »inhaltliche« Vollständigkeit garantiert
sowieso noch nicht tatsächliche Realisierung, sondern nur die Idee der Verwirk
lichung. Die »Realität«, die durch das vollständige archetypische Vierer-Schema
gewährleistet sein soll, bleibt selbst noch auf der »himmlischen«, pleromati-
schen Ebene, also potentiell, nur vorgestellt. Wie die Trinität würde auch die
»vollständige« Quaternität und mit ihr die Idee der Realität ihrerseits erst durch
etwas ganz anderes als die »inhaltliche« Ergänzung der Drei durch das Vierte,
nämlich durch eine etwa erfolgende Quadratur des Kreises in der Form der abso
lut negativen Er-innerung, aus der bloßen Potentialität in die Realität überge
führt. Vor allem aber vermöchte selbst eine real gewordene Quaternität, weil ih
re Realität nur eine auf der alten Anima-Stufe wäre, gerade nicht, die Aufgabe
des christlichen Abendlandes zu verwirklichen, die darin besteht, die höchste
Idee der Animus-Stufe, die Trinität, auf die Erde herabzuholen und damit im
endgültigen Abschied von der Anima-Stufe die schon längst herrschende, aber
unerfüllte Animus-Stufe wahrzumachen, zu verwirklichen: wodurch diese dann,
als vollbrachte Animus-Stufe, Syzygie-Stufe wäre.
* * *
24 Welches wesentlich durch die hier schon erörterte Idee der Ganzheit als Quaternität bestimmt ist.
Der Eranos-Vortrag »Die Syzygie: Über die Wirklichkeit der Welt oder die Not der
Psychologie« (Eranos 57-1988, Frankfurt [Insel] 1990, S. 235-305) wurde in dieses
Buch eingearbeitet.
Verlag Peter Lang Frankfurt a.M. • Berlin *Bern • New York • Paris • Wien
Auslieferung: Verlag Peter Lang AG, Jupiters». 15, CH-3000 Bern 15
Telefon (004131) 9411122, Telefax (004131) 9411131
- Preisänderungen Vorbehalten •