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14

2018
26. Juli 2018
71. Jahrgang

FORSCHUNGSERGEBNISSE ZUR DISKUSSION GESTELLT

Digitalisierung und Steuer­


politik
Clemens Fuest
»Made in China 2025«:
Fast 1 000 Milliarden Target-
Forderungen der Bundesbank:
Technologietransfer
Was steckt dahinter?
Hans-Werner Sinn und Investitionen in
Abstimmungen in der
UN-Generalversammlung: ausländische Hoch-
Donald Trump und der Westen
Martin Mosler und Niklas Potrafke technologiefirmen
Chinas Weg zum Konkurrenten
um die Zukunftstechnologien
Frederik Kunze und Torsten Windels, Max J. Zenglein und
Anna Holzmann, Horst Löchel, Antonia Reinecke und
Hans-Jörg Schmerer, Oliver Emons, Markus Taube
ifo Schnelldienst
ISSN 0018-974 X (Druckversion)
ISSN 2199-4455 (elektronische Version)

Herausgeber: ifo Institut, Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München,
Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: ifo@ifo.de.
Redaktion: Dr. Marga Jennewein.
Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Clemens Fuest, Annette Marquardt, Prof. Dr. Chang Woon Nam.
Vertrieb: ifo Institut.
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Satz: ifo Institut.
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im Internet:
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SCHNELLDIENST 14/2018

ZUR DISKUSSION GESTELLT

»Made in China 2025«: Technologietransfer und Investitionen in ausländische


Hochtechnologiefirmen 3
Chinas Weg zum Konkurrenten um die Zukunftstechnologien

»Made in China 2025«, die Strategie Chinas sieht neben der Stärkung der Binnenkonjunktur gezielte Investiti-
onen in ausländische Hochtechnologiefirmen vor und umreißt die Ziele für die Entwicklung von zehn inländi-
schen Industriezweigen mit der Absicht, China zu einem Konkurrenten um die weltweite Technologieführerschaft
aufzubauen. Ist ein größerer Schutz notwendig, um Übernahmen und Technologie- und Know-how-Abfluss ent-
gegenzutreten? Für Frederik Kunze und Torsten Windels, Norddeutsche Landesbank (NORD/LB), steht fest, dass
Chinas Griff nach der Technologieführerschaft in wichtigen Schlüsselbranchen und die weiter voranschreitende
Integration in die globalen Wertschöpfungsketten kein vorübergehendes Phänomen ist. Mit erfolgreich erwirt-
schafteten Handelsüberschüssen warte das Land nicht mehr passiv auf Technologietransfer durch Direktinvesti-
tionen, sondern kaufe gezielt Technologie ein. Die generellen Vorteile von offenen Märkten und die Chancen, die
durch die Zusammenarbeit mit einem Investor aus China entstehen könnten, seien hinlänglich dokumentiert.
Es sei aber nicht der richtige Weg, mit den Regeln eines fairen Wettbewerbs einem strategischen und dominan-
ten Spieler wie China gegenüber zu treten, sondern die Forderung nach Reziprozität in China sei geboten. Nach
Ansicht von Max J. Zenglein und Anna Holzmann, MERICS, möchte China bis 2049 eine, vielleicht sogar die glo-
bale Führungsmacht unter den Industrienationen werden. »Made in China 2025« formuliere das Ziel, das Land
in zehn Schlüsselindustrien nach vorne zu bringen. China habe zwar alles Recht, seine eigene Wirtschaft weiter
zu entwickeln. Dennoch müssten chinesische und ausländische Akteure in einen fairen Wettbewerb miteinan-
der treten können. Deshalb sollten hiesige Regierungen und Unternehmen die chinesische Innovationsoffensive
nicht aus den Augen verlieren und sich aktiv für Rahmenbedingungen einsetzen, die ihnen Manövrierspielraum
lassen. Horst Löchel, Frankfurt School of Finance & Management, sieht in dem »Made in China 2025« zunächst
einmal beträchtliche Chancen für westliche Unternehmen. Um Spitzentechnologie einzusetzen, benötige China
diese zunächst einmal. Das eröffne Verkaufschancen für die europäische und deutsche Industrie. Möglicherweise
entstehen auch neue industrielle europäisch-chinesische Konglomerate und Joint Ventures. Des Weiteren seien
chinesische Direktinvestitionen in Europa und Deutschland durchweg positiv zu beurteilen, da sie neues Kapital
für die Unternehmen bringen und oftmals größere Geschäftsmöglichkeiten in China eröffnen. Andererseits sei es
auch richtig, auf Reziprozität gegenüber China zu pochen. Aber letztendlich sei es gut, dass »Made in China 2025«
den Wettbewerb belebe. Antonia Reinecke und Hans-Jörg Schmerer, FernUniversität Hagen, sehen erste Erfolge
der Strategie Chinas, verstärkt in Industrien der Hochtechnologie aktiv zu werden, auch durch den Erwerb von
Hochleistungstechnologie aus dem Ausland. Ob es China gelinge, auf diesem Wege den technologischen Wandel
voranzutreiben und Technologieführerschaft in der internationalen Welt zu erlangen, könne zum aktuellen Zeit-
punkt weder bestritten noch bestätigt werden. Fest stehe, dass China viel in den technologischen Fortschritt
investiere und national sowie international versuche, die Lücke zu den Industrienationen zu schließen. Oliver
Emons, Hans-Böckler-Stiftung, stellt die Frage, inwieweit China Partner oder Rivale sei und verweist auf unter-
schiedliche Perspektiven und Erfahrungen mit chinesischen Investoren. Seiner Ansicht nach gab es in den letzten
Jahren durchaus unterschiedliche Gründe für einen Aufkauf. Zwar scheinen die einzelnen Übernahmen bis jetzt
überwiegend positiv zu verlaufen, aber auf der anderen Seite schaue das Top-Management in übernommenen
Unternehmen sehr skeptisch und mit einer hohen Unsicherheit auf diese Investitionen. Ob chinesische Unterneh-
menskäufer ihre Zusagen langfristig ernst nehmen oder nur als juristische Formalie betrachten, bleibe abzuwar-
ten. Markus Taube, Universität Duisburg-Essen, rechnet fest damit, dass China in den nächsten Jahren im globalen
Wettstreit um Zukunftstechnologien substanzielle Erfolge erzielen wird. Für ausländische Akteure gleiche die
Interaktion mit China zunehmend »einem Tanz auf Messers Schneide«. Wichtige Impulse und Ressourcen für die
Wissensakkumulation und Technologieentwicklung in China stammten aus dem Ausland. In der längeren Frist
drohe die Gefahr, von chinesischen Akteuren verdrängt zu werden, die aus der Kombination von absorbiertem
ausländischem Wissen, staatlicher Protektion und Förderung sowie eigenem smartem Unternehmertum erhebli-
che Konkurrenzkraft auf den globalen Märkten entwickeln könnten. In den nächsten Jahren müsse es nun darum
gehen, die wohlfahrtssteigernden Möglichkeiten der Interaktion mit der chinesischen Volkswirtschaft und ihrer
Unternehmen so intensiv wie möglich zu nutzen und gleichzeitig die wettbewerbsverzerrende Rolle des chinesi-
schen Staates zu neutralisieren.
FORSCHUNGSERGEBNISSE

Digitalisierung und Steuerpolitik 21


Clemens Fuest

Die Digitalisierung führt in vielen Bereichen der Wirtschaft zu einem tiefgreifenden Wandel. Das Erfassen und
Verarbeiten von Daten spielt eine wachsende Rolle, immaterielle Wirtschaftsgüter werden für die Wertschöpfung
immer bedeutender, neue Geschäftsmodelle entstehen, die Grenze zwischen Güter- und Dienstleistungshandel
wird unschärfer und Wettbewerbsmärkte verändern sich. Mittlerweile sind die sechs wertvollsten Unternehmen
der Welt ausnahmslos Technologieunternehmen mit starkem Digitalisierungsbezug. Fünf davon kommen aus den
USA, eines aus China. Die ökonomischen Veränderungen, die mit der Digitalisierung der Wirtschaft einhergehen,
betreffen auch die Steuerpolitik. Die derzeit diskutierten Vorschläge zur Einführung einer europäischen Digital-
steuer führen jedoch in die Irre. Die von der Europäischen Kommission angeführten Argumente und Zahlen, mit
denen sie die These eines unerwünschten Steuergefälles zu Gunsten der Digitalwirtschaft untermauern will, sind
teilweise irreführend. Die Tatsache, dass einige US-Technologieunternehmen mit mehr oder weniger stark digi-
talen Geschäftsmodellen in der EU viel Geld verdienen, ist nach den geltenden Grundsätzen der internationalen
Besteuerung kein hinreichender Grund dafür, sie in der EU stärker zu besteuern. Die Steuerpolitik in Europa sollte
sich vielmehr darauf konzentrieren, für eine ordnungsgemäße Erhebung der Umsatzsteuern auch bei digitalen
Dienstleistungen zu sorgen. Es spricht nichts dagegen, neue Konzepte wie die digitale Betriebsstätte oder eine
Umsatzbesteuerung der Datenbereitstellung im Rahmen der Regelungen zum Tausch zu prüfen. Das sollte aber
international abgestimmt erfolgen, und große Mehreinnahmen sollte man sich davon nicht versprechen.

Fast 1 000 Milliarden Target-Forderungen der Bundesbank: Was steckt dahinter? 26


Hans-Werner Sinn

Der Target-Saldo der Bundesbank steigt schon zehn Jahre lang und liegt nun ungefähr bei einer Billion Euro. Zyk-
lisch hat sich der Wert von ca. 70 Mrd. Euro Ende 2007 auf den Wert von 976 Mrd. Euro Ende Juni 2018 hinbewegt.
Hans-Werner Sinn sieht darin ein System, das unbegrenzte Überziehungskredite zulasse und nicht überleben
könne, weil es nicht zur Knappheit der Ressourcen in der Wirklichkeit passe. Es führe zwangsläufig zur Überdeh-
nung der Ansprüche, bis es aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen zerbreche. In seinem Artikel diskutiert
Hans-Werner Sinn mehrere Möglichkeiten, die allein oder in Kombination realisiert werden könnten, um diese
Konsequenz zu vermeiden. All diese Möglichkeiten werden Interessengegensätze zwischen Deutschland, den
internationalen Kapitalanlegern und den Schuldnerländern aufbrechen lassen. Dennoch sollte niemandem die
Diskussion der Optionen ersparen werden.

Donald Trump und der Westen  38


Eine Beschreibung des sich ändernden Verhältnisses auf Basis von Abstimmungsdaten
in der UN-Generalversammlung
Martin Mosler und Niklas Potrafke

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich im ersten Amtsjahr von Donald Trump von ihren westlichen
Verbündeten entfremdet. Das zeigt eine Studie des ifo Instituts, die das Abstimmungsverhalten in der UN-Ge-
neralversammlung von den Ländern der G 7, NATO, OECD und WEOG analysiert. Die Übereinstimmungsrate bei
UN-Resolutionen sank um bis zu 13,2 Prozentpunkte im Vergleich zum Durchschnitt des ersten Amtsjahres aller
US-Präsidenten vor Trump. Trotzdem sind die Differenzen bisher kleiner als in den Anfangsjahren der US-Präsi-
denten Bush sen. und Bush jun. Donald Trump steht also bislang überraschenderweise besser da, als man auf-
grund der medialen Darstellung erwarten würde. Inhaltlich entfernen sich die Vereinigten Staaten von Amerika
derzeit vor allem beim Israel-Palästina-Konflikt und in Fragen der ökonomischen Entwicklung von ihren west-
lichen Verbündeten in der UN-Generalversammlung. In geringerem Umfang gilt dies auch für Resolutionen zur
Rüstungs­kontrolle, bei denen die Zustimmungsrate der Vereinigten Staaten von Amerika ebenfalls sank. Die
meisten Abstimmungen in der UN-Generalversammlung finden im Herbst bis Winter eines Jahres statt. Zu ver-
muten ist, dass der gegenwärtig von Donald Trump angezettelte Handelskrieg zu einer weiteren Entfremdung
zwischen den USA und den westlichen Verbündeten führen wird. Eine wichtige Frage ist, wie sich abnehmende
Gemeinsamkeiten zwischen den Industrieländern und gegebenenfalls verändernde politische Allianzen auf öko-
nomische Größen wie Außenhandel, ausländische Direktinvestitionen und Wirtschaftswachstum auswirken.
ZUR DISKUSSION GESTELLT

»Made in China 2025«: Technologie­


transfer und Investitionen in
ausländische Hochtechnologie­f irmen
Chinas Weg zum Konkurrenten um die Zukunfts­
technologien

»Made in China 2025«, die Strategie Chinas sieht neben der Stärkung der Binnenkonjunk­
tur gezielte Investitionen in ausländische Hochtechnologiefirmen vor. Die Initiative wurde
2015 als Zehnjahres-Wirtschaftsplan der chinesischen Regierung vorgestellt. Sie umreißt
die Ziele für die Entwicklung von zehn inländischen Industriezweigen mit der Absicht,
China zu einem Konkurrenten um die weltweite Technologieführerschaft aufzubauen. Ist
ein größerer Schutz notwendig, um Übernahmen und Technologie- und Know-how-Abfluss
entgegenzutreten?

Frederik Kunze* und Torsten Windels** EIN HISTORISCHER PERSPEKTIVENWECHSEL IST


GEBOTEN
Chinas Aufstieg als Heraus­
forderung – historischer Es darf schließlich schon fast als Grundvoraussetzung
angesehen werden, dass für das Verständnis der aktu-
Perspektivenwechsel kann ellen Lage im Reich der Mitte der Blick in die Vergangen-
die Debatte bereichern heit unverzichtbar ist. Dies gilt für Fragen im Kontext
einer mehr oder weniger kollektiven politischen und
Die aktuellen westlichen Beurteilungen mit Blick gesellschaftlichen Identität, aber auch für die Bewer- Frederik Kunze

auf Chinas »Going-global«-Strategie und den damit tung der aktuellen wirtschaftspolitischen Agenda in
im Zusammenhang stehenden industriepolitischen Peking.
Masterplan Pekings »Made in China 2025« gleichen So rasant der volkswirtschaftliche Aufstieg Chi­
einer Mischung aus Ablehnung, Angst, Bewunde- nas im Zuge der Ära Deng Xiaopings und der darauffol-
rung, Goldgräberstimmung, Kampfgeist und sogar genden weiteren wirtschaftspolitischen Weichenstel-
einer Prise ökonomischer Zustimmung. So bunt diese lungen auch gewesen sein mag, relativiert sich doch
Mischung auch sein mag, so schwierig ist es wieder­ der aktuelle Anteil Chinas an der weltweiten Wirt-
­um, ein klares Statement abzugeben, wie mit die- schaftsleistung im historischen Kontext. Dabei muss
ser Entwicklung auf dieser Seite umzugehen ist. Nur der Blick nicht zwangsläufig bis in die Ming-Dynastie Torsten Windels
so viel steht fest: Chinas Griff nach der Technologie­ vor mehr als 500 Jahren zurückgehen, als das Reich
führerschaft in wichtigen Schlüsselbranchen und die der Mitte – je nach Schätzung – einen Anteil am glo-
weiter voranschreitende Integration in die globa- balen BIP von mehr als 30% auf sich vereinte. Denn
len Wertschöpfungsketten ist kein vorübergehendes sogar noch um das Jahr 1900, kurz vor dem Nieder-
Phänomen, das sich wie auch immer aussitzen lässt. gang der letzten chinesischen Kaiserdynastie, teilten
Diese Erkenntnis selbst ist nicht neu, die Debatte um schon einmal die USA und China die Plätze 1 und 2
eine angemessene strategische Antwort der EU oder unter sich auf. Bei allen Einschränkungen in Bezug auf
der USA bleibt hingegen im vollen Gange. Das mag die Übertragbarkeit auf die heutige Zeit sollten die
auch daran liegen, dass, trotz der nunmehr inten- Implikationen dieses historischen Perspektivwech-
siv geführten Diskussionen, in Bezug auf die Bewer- sels nicht ignoriert werden. Dies gilt insbesondere
tung der Entwicklung noch allzu häufig versucht wird, auch vor dem Hintergrund der Einschätzung, dass der
zwischen »gut« und »schlecht« oder »schwarz« und Niedergang des chinesischen Kaiserreichs durch das
»weiß« zu unterscheiden. Vielleicht hilft ein Perspekti- Ende der Qing-Dynastie zu einem großen Anteil auf die
venwechsel, um aus anderer Richtung auf die Entwick- Verschlossenheit der chinesischen Machthaber bzw.
lung zu schauen. Gelehrten vor den technologischen Errungenschaften
*
Dr. Frederik Kunze ist Volkswirt und Fixed Income Analyst bei der
der westlichen »Barbaren« zurückzuführen ist. Wie es
Norddeutschen Landesbank (NORD/LB), Fixed Income & Macro heute scheint, ein Fehler, den Peking nicht wird wie-
Research.
**
Torsten Windels war bis Mitte 2018 Chefvolkswirt bei der Nord-
derholen wollen – das beste Indiz dafür ist »Made in
deutschen Landesbank (NORD/LB. China 2025«.

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ZUR DISKUSSION GESTELLT

VON PLANWIRTSCHAFTLICHEN MISSERFOLGEN Dabei fußt der Zustrom an ausländischen Direkt-


ZUR WERKBANK DER WELT: AUSLÄNDISCHE investitionen auch auf Seiten der »Geberländer«
INVESTITIONEN ALS ERFOLGSFAKTOR offenkundig auf ökonomischen Kalkülen und ist ohne
diese auch nicht erklärbar. Waren es anfänglich ins-
Auch in Bezug auf die aktuelle Diskussion mit Blick auf besondere die niedrigen Lohn- bzw. Produktionskos-
die globale volkswirtschaftliche Bedeutung Chinas ten, die das Reich der Mitte als Werkbank attraktiv
und die damit einhergehende Frage, inwieweit das gemacht haben, folgte später der Blick auf den chi-
Reich der Mitte zu einem mächtigen Konkurrenten nesischen Binnenmarkt. Das Reich der Mitte hat sich
heranwächst, dessen (staatlich gesteuerten) Unter- nunmehr sowohl als Investitionsstandort als auch als
nehmen im Westen auf Einkaufstour gehen und so Handelspartner rasant gewandelt. Die Werkbänke
ihren ökonomischen Einfluss außerhalb der eige- der Welt finden sich als Ergebnis dieses Wandlungs-
nen Landesgrenzen geltend machen wollen, hilft der prozesses nunmehr immer weniger in China, sondern
Blick zurück. Denn für lange Zeit hat insbesondere sind – ökonomisch nachvollziehbar – in andere auf-
der Gedanke an Chinas planwirtschaftliche Misser- strebende Regionen abgewandert. Die heranwach-
folge den Eindruck auf die tatsächliche, aber auch sende Mittelschicht und der rasche Urbanisierungs-
auf die potenziell mögliche, Wirtschaftsleistung des prozess haben einen Absatzmarkt geschaffen, der
Landes geprägt. Es steht sicherlich außer Frage, dass entsprechende Begehrlichkeiten weckt. An dieser
die wirtschaftspolitischen Anfänge der am 1. Okto- Stelle darf die These gewagt werden, dass Investo-
ber 1949 gegründeten Volksrepublik China wenige ren aus den Industrieländern nicht an Kooperationen
Erfolge hervorgebracht haben. Die seit dem Jahr 1953 oder zum partnerschaftlichen Austausch per se inte-
formulierten Fünfjahrespläne der Pekinger Entschei- ressiert waren, sondern diese vielmehr als »Beipro-
dungsträger haben zwar ambitionierte Ziele beinhal- dukt« einer betriebswirtschaftlichen Ausrichtung ver-
tet. Allerdings erfolgte die Ausrichtung der Vorgaben standen werden sollten.
doch eher einer quantitativ orientierten Richtschnur In der Konsequenz drängt sich nunmehr die Frage
unter dem Schlagwort der Industrialisierung. Die öko- nach dem heutigen Status auf. Chinas Going-out-Stra-
nomischen Umsetzungen – insbesondere der ersten tegie kann als nächster Schritt einer Entwicklungs­
drei fünfjährigen Planungsperioden – brachten auf strategie mit umgekehrten Vorzeichen verstanden
eindrucksvolle Art und Weise die Schwächen der Plan- werden. Mit erfolgreich erwirtschafteten Handels-
wirtschaft zum Vorschein. Negative Begleiterschei- überschüssen wartet das Land nicht mehr passiv auf
nungen wie Nahrungsmittelknappheit und damit Technologietransfer durch Direktinvestitionen, son-
verbundene Hungersnöte sowie Über- bzw. Fehlpro- dern kauft gezielt Technologie ein. Für eine kritische
duktionen sind dramatische Belege für diesen wirt- bzw. historisch reflektierte Annäherung an die aktu-
schaftspolitisch heiklen Kurs, der über mehr als zwei elle Debatte zur Einkaufstour Chinas und der damit
Dekaden hinweg verfolgt wurde und erst nach der Kul- wahrgenommenen wirtschaftlichen Bedrohungslage
turrevolution (1966–1976) bzw. mit dem Tode Maos empfiehlt sich auch hier ein Blick auf den Weg, den
sein Ende gefunden hat. Peking in Bezug auf den Umgang (mit den Chancen ver-
Die volkswirtschaftlichen Erfolge, die in den dar- bundenen) Risiken gewählt hat.
auffolgenden Dekaden zu beobachten waren, basie-
ren insbesondere auf einer teilweisen ökonomischen WTO-BEITRITT: CHINAS UNTERNEHMEN BENACH-
Öffnung des Landes. So war aus heutiger Sicht einer TEILIGT IM GLOBALEN WETTBEWERB?
der entscheidendsten Faktoren für Chinas wirtschaft-
lichen Aufstieg der Wechsel zu einem exportorien- Tatsächlich erlaubt es der historische Rückblick, wenn
tierten Produktionsmodell, das im Unterschied zu auch stark zusammengefasst, nicht nur die ökonomi-
anderen asiatischen Wachstumsmärkten vor China schen Beweggründe eines Engagements im Reich der
(z.B. Japan oder Südkorea) sehr stark auf Investi­ Mitte nachzuvollziehen. Vielmehr leitet sich auch ein
tionen aus dem Ausland gesetzt hat. Seit Beginn der weiterer Aspekt aus der chinesischen Perspektive ab.
1990er Jahre sind demnach allein die von Deutsch- Im Zuge des WTO-Beitritts entstand schließlich für
land ausgehenden unmittelbaren Direktinvestitio- die chinesischen Unternehmen durchaus die poten-
nen den Zahlen der Deutschen Bundesbank folgend zielle Bedrohung, dass ihnen »nun plötzlich Konkur-
sehr stark angestiegen – in den Jahren 1992 bis 2000 renten gegenüberstehen, die es gelernt haben, sich
haben sich die Bestände, ausgehend von einer niedri- im globalen Wettbewerb zu behaupten« (Algieri und
gen Basis, mehr als verzwanzigfacht. Insbesondere im Taube 2002, S. 35). Und genau hier lehrt die Erfah-
Zuge des WTO-Beitritts Chinas zum Jahresende 2001 rung, dass Peking einen eigenen Weg gefunden hat,
hat dieser Investitionsfluss in das Reich der Mitte in mit dieser Herausforderung mehr oder weniger
absoluten Zahlen gesprochen sogar noch einmal an erfolgreich umzugehen. Die WTO öffnete also gewis-
Dynamik gewonnen. Dieser quantitative und lang- sermaßen den Zugang bzw. das Fenster zum chinesi-
fristige Aufbau eines Sachkapitalstocks hat zweifels- schen Markt, allerdings haben die Chinesen weiter-
ohne einen nennenswerten Anteil am chinesischen hin ein engmaschiges Fliegennetz vor dieses Fenster
»Wirtschaftswunder«. gehängt. Für die aktuelle Debatte ist auch über den

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WTO-Beitritt hinaus im Zusammenhang mit der Abwä- mit den Zielen von »Made in China 2025« verknüpft ist,
gung von ökonomischen Kosten und Nutzen vielleicht schreitet Peking ein und bremst die Akteure aus. Der
sogar die Erkenntnis am wichtigsten, dass konkrete Einfluss der Zentralregierung auf den Strom an Direkt-
Steuerungsansätze umgesetzt wurden, die noch bis investitionen markiert zugleich auch einen der bedeu-
heute nachwirken. Zu nennen sind hier ins­besondere tendsten Kritikpunkte an der wirtschaftspolitischen
die teilweise strengen Investitionsrichtlinien, die vor Agenda von »Made in China 2025«, der besagt, dass
allem in der Automobilindustrie oder durch die räum- sich der chinesische Staat ausländische Technologien
liche Begrenzung auf Sonderverwaltungszonen sicht- mittels unlauterer Methoden aneigne. Hinzu kommt
bar geworden sind. Ein Blick in die aktuellen Regu- die wahrgenommene Asymmetrie in Bezug auf Chinas
lierungsrahmenwerke zum Investitionszufluss oder wirtschaftlich-politische Ausrichtung, unter der chi-
auch die Erfahrungsberichte ausländischer Unter- nesische Unternehmen weitestgehend frei in auslän-
nehmen zeigt, dass für ausländische Investoren längst dischen Märkten agieren und gleichzeitig der heimi-
noch nicht von einem Level Playing Field zu sprechen sche Markt für ausländische Unternehmen in vielen
ist. Als Gastgeber öffnet Peking also freundlich die Tür, Bereichen weitestgehend abgeschottet ist.
gibt aber – auch heute noch – in seiner dominanten
Rolle auf dem Binnenmarkt vor, wer am Tisch sitzt und FAZIT – OFFENHEIT NICHT MIT NAIVITÄT
wie die Sitzordnung aussieht. VERWECHSELN

UND HEUTE? – »MADE IN CHINA 2025«! Der historische Blick auf China offenbart durchaus
einige nützliche Einblicke, die – auch wenn sie hinläng-
Wie die aktuelle Debatte zeigt, wird Peking im Rah- lich bekannt sind – die aktuelle Debatte anreichern
men seiner »Going-out«-Strategie als Dominanzspie- können. So sind zwei Aspekte in ihrer Symbolik bemer-
ler wahrgenommen, der klare ökonomische Ziele ver- kenswert. Erstens ist der in Industrienationen häu-
folgt, notfalls zulasten Dritter. Insofern hat sich in fig als Aufstieg wahrgenommene Weg Chinas aus chi-
gewissem Umfang nur der Schauplatz von innen nach nesischer Perspektive möglicherweise nur eine Rück-
außen geändert. Das ist kein Werturteil, sondern viel- kehr an die Weltspitze. Und zweitens entspricht »Made
mehr eine Feststellung. Dabei muss der Geschäfts- in China 2025« in einigen Zügen genau dem Gegenteil
bzw. Verhandlungspartner nicht zwangsläufig der (schon damals falschen) Selbstwahrnehmung im
benachteiligt werden. Das Label »Made in China« steht Kaiserreich Chinas, nach der außerhalb des Reichs der
eher für preiswerte und outgesourcte Produktion, Mitte nichts »Brauchbares« zu finden sei. Das ist heute
die möglicherweise auf der Strategie der Imitation definitiv anders.
beruht. »Made in China 2025« steht dagegen für das Nachdem China als »Nehmerland« von Direkt­
Selbstvertrauen der ehemaligen Werkbank der Welt investitionen seinen ökonomischen Aufstieg gestaltet
zu einer Hochtechnologienation aufzusteigen. Der hat, steht das Reich der Mitte nun als »Geberland« in
langfristige »Masterplan« Pekings beinhaltet dabei der Kritik. Dennoch sollten an dieser Stelle die Chancen
konkrete, direkt vom chinesischen Staat beschlos- von Chinas »Outbound-Strategie« nicht ignoriert wer-
sene Maßnahmen und Zielformulierungen zur Tech- den. Die generellen Vorteile von offenen Märkten und
nologieführerschaft in – nach chinesischem Empfin- die speziellen Chancen, die durch die Zusammenarbeit
den – strategisch wichtigen und zukunftsorientierten mit einem Investor aus China entstehen können, sind
Industriesektoren, explizit im Hochtechnologiesektor hinlänglich dokumentiert.
bis zum 100-jährigen Bestehen der VR China 2049. Bis Gerade der volkswirtschaftliche Wachstums­
zum Jahr 2025 sieht der Entwurf vor, zu den gegenwär- prozess Chinas selbst offenbart die ökonomischen
tig führenden Technologienationen aufzuschließen. Vorteile ausländischer Direktinvestitionen. Dass die
Einzelne Branchen werden deutlich als Target des Zentralregierung diesen Prozess durch strenge Vor-
chinesischen Staates und als relevant für den Fort- gaben gesteuert hat, mag neben industriepolitischen
schritt Chinas in der globalen Wertschöpfungskette Erwägungen auch auf der Befürchtung fußen, dass
gekennzeichnet. Allgemein umfassen die Schlüssel- die im Wettbewerb erfahrenen westlichen Betriebe
branchen Informationstechnologie, Robotik, künst- sonst ihre Macht hätten ausspielen können. Im Zuge
liche Intelligenz, Luft- und Raumfahrt, Energiesek- dieses Prozesses ist es keine allzu steile These mehr,
toren und Pharmatechnologien. Als eine konkrete dass China nun als dominanter Spieler auftritt, dem
Maßnahme zum Erreichen der Ziele sieht ausländi- auch entsprechend zu begegnen ist. Auch für die hie-
sche Direktinvestitionen und den Technologietrans- sige Volkswirtschaft sollten zwar an erster Stelle die
fer nach China vor. Hierzu stellt der Staat umfangrei- ökonomischen Gesetzmäßigkeiten nicht über Bord
che Subventionsprogramme und allgemeine Förder- geworfen werden und der Abschottung der Märkte
mittel zur Verfügung. Die ausgeprägte Einflussnahme eine klare Absage erteilt werden. Dennoch wäre es
der Regierung auf die Entscheidungen im Unterneh- leichtsinnig, Offenheit mit Naivität zu verwechseln.
menssektor wird auch hier offenkundig. Insbesondere So wäre es sicherlich nicht der richtige Weg, mit den
dann, wenn die »Einkaufstour« der chinesischen Kon- Regeln eines fairen Wettbewerbs der Marktteilneh-
zerne aus dem Ruder läuft und damit nicht mehr eng mer einem strategischen und dominanten Spieler wie

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China gegenüber zu treten. Die Forderung nach einem Max J. Zenglein* und Anna Holzmann**
level playing field oder nach Reziprozität in China,
gepaart mit angemessenen Abwehrmöglichkeiten
Made in China 2025:
auch auf unserer Seite ist geboten, um vom Wieder- Gekommen, um zu bleiben –
aufstieg Chinas weiterhin profitieren zu können, ohne
einen Ausverkauf zu riskieren. Denn als »Geberland«
Ausländische Regierungen
hat es sich ja bisher durchaus gelohnt. und Unternehmen müssen
LITERATUR
sich flexibel auf die Inno­
vationsoffensive einstellen
Algieri, F. und M. Taube (2002), »Chinas Beitritt zur WTO – Herausforde-
rungen für China und die Weltwirtschaft«, Internationale Politik 2, Feb-
ruar, 33–38. Chinas Regierung hat ehrgeizige Pläne: Um die Wirt-
schaft voranzutreiben, will sie den technologischen
Rückstand des Landes zu den weltweit führenden
Industrienationen aufholen. Die Strategie, die dieses
ambitionierte Ziel festschreibt, nennt sich »Made in
China 2025«. China will seine Industrie unabhängig von
ausländischen Partnern und Produkten global kon-
kurrenzfähig machen.
Aus entwicklungstheoretischer Sicht ist solch ein
staatlich gestütztes Streben nach technologischem
Fortschritt nachvollziehbar. Das Vorgehen Chinas ent-
spricht im Wesentlichen dem ostasiatischen Entwick-
lungsmodell mit dem Paradebeispiel des rasanten
Wirtschaftswachstums der vier Tigerstaaten Südkorea,
Taiwan, Hongkong und Singapur seit den 1980er Jah-
ren. Ihnen gelang die Transformation vom gün­stig pro-
duzierenden Entwicklungsland zur hochent­wickelten
Industrienation mit entsprechend höherem Lohnni-
veau und Innovationskraft. Begleitet wurde dieser Wan-
del von einer größerer staatlich geprägten Industriepo-
litik, die auf die Stärkung der heimischen Produktion
bzw. hochspezialisierte Bereiche setzte. China will den
Status einer Werkbank der Welt abschütteln und sich
verstärkt am oberen Ende der globalen Wertschöp-
fungskette positionieren, auch um eine wirtschaftliche
Stagnation zu verhindern. Ein schlagkräftiges Innova-
tionssystem, wie es »Made in China 2025« skizziert, ist
dafür elementar.

CHINA WILL AUF AUGENHÖHE MIT INDUSTRIE­


NATIONEN GELANGEN

Der Knackpunkt ist, dass Chinas Ambitionen über die


bisherigen Erfahrungen hinausgehen. China möchte
bis 2049 eine, vielleicht sogar die globale Führungs-
macht unter den Industrienationen werden. »Made
in China 2025« formuliert das Ziel, das Land in zehn
Schlüsselindustrien nach vorne zu bringen – von der
Informationstechnologie bis hin zu Neuen Materia-
lien. Es geht aber nicht nur darum, durch Stärkung
der heimischen Industrie zur internationalen Konkur-
renz aufzuschließen und dabei chinesische Unterneh-
men zu globalen Spitzenreitern zu machen, sondern
um Verdrängung. Die Strategie gibt auch vor, welche
Marktanteile chinesische Unternehmen im Inland
*
Dr. Max J. Zenglein ist Leiter des Programms Wirtschaft und Fi-
nanzen am MERICS.
**
Anna Holzmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am MERICS.

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ZUR DISKUSSION GESTELLT

erreichen sollen. Zum Beispiel sollen chinesische Chinas Ehrgeiz, Fehlentwicklungen bei der Umset-
Industrieroboter im Jahr 2025 bereits 70% des natio- zung von »Made in China 2025« entgegenzuwirken,
nalen Marktes ausmachen. zeigt sich in Vorgaben der Zentralregierung zur Her-
Noch hängt Chinas Wirtschaft jedoch stark von ausbildung regional differenzierter Industrieschwer-
Produkt- und Technologieimporten ab. Das gilt selbst punkte. Durch eine Fokussierung auf lokale Stärken
für große Hersteller, wie das Beispiel des Telekom­ soll vermieden werden, dass sich Lokalregierungen im
munikationsausrüsters ZTE zeigt. Die Abhängig- Übereifer auf die Förderung aller Kernindustrien der
keit des Unternehmens von Halbleiterprodukten aus Strategie auf einmal stürzen und so ineffiziente Mehr-
gleisigkeiten entstehen. Max J. Zenglein
US-Herstellung ist so groß, dass ein dauerhafter Boy-
kott der Zulieferungen es in die Pleite führen würde
– ganz zu schweigen von den verheerenden Auswir- ZUSÄTZLICHE MITTEL UND SPEZIALISIERTE
kungen auf die gesamte Telekommunikationsbran- INNOVATIONSZENTREN SOLLEN ZUM ERFOLG
che Chinas. Der ZTE-Fall führt vor Augen, warum FÜHREN
China an seiner industriepolitischen Strategie fest-
halten wird. Die Volksrepublik braucht dringend grö- China will »Made in China 2025« künftig besser koordi-
ßere Unabhängigkeit von ausländischer Hochtech- niert und schneller umsetzen. Mit Nachdruck werden
nologie, will sie ihre nationale Industrie nachhaltig Innovationen im Bereich der Fertigungsindustrie, etwa
umstrukturieren. im Zusammenhang mit dem Internet der Dinge, sowie Anna Holzmann
Projekte intelligenter und umweltfreundlicher Produk-
PEKING NIMMT ERSTE KURSKORREKTUREN BEI tion mit besonderem Fokus auf Hochtechnologie-Aus-
DER UMSETZUNG DER STRATEGIE VOR rüstung vorangetrieben. Der Staatsrat kündigte Ende
2017 finanzielle Unterstützung für derartige Kernpro-
Mittlerweile ist auch China klar, dass die vor drei Jah- jekte der Strategie in Höhe von 10 Mrd. chinesischen
ren formulierten Zielesetzungen von »Made in China Yuan (1,3 Mrd. Euro) an. Darüber hinaus gilt es, erstma-
2025« in Teilen zu ehrgeizig waren. Peking wollte zu lig nationale »Made-in-China-2025«-Demonstrations-
viel, zu schnell, und am besten alles auf einmal. Tat- zonen einzurichten.
sächlich ist eine unausgewogene Entwicklung der zehn Um ihre strategischen Ziele zu erreichen, lenkt
Kernindustrien zu beobachten. In drei Bereichen sieht die chinesische Regierung finanzielle Ströme in In­
sich China besonders weit vorn: In der Telekommuni- dustrien von besonders hoher Priorität. So schloss
kation, vor allem bei 5G-Netzwerken, im Bahnsektor der staatlich gestützte Nationale Halbleiter-Invest-
hinsichtlich der Hochgeschwindigkeitstechnologie mentfonds kürzlich seine zweite Investitionsrunde
sowie im Ultra-Hochspannungssegment des Energie- von bis zu 300 Mrd. Yuan (39 Mrd. Euro) ab. Das Geld
sektors. Doch selbst in diesen Industrien zeigen sich soll in die gesamte Produktionskette der heimischen
Schwachstellen in strategisch bedeutsamen Berei- Halbleiterindustrie fließen, vor allem jedoch in den
chen der Hochtechnologie, zum Beispiel bei Halblei- Bereich Chipdesign. Zudem setzen Fonds der Zent-
terchips oder Sensoren. ralregierung gezielt Impulse zur Unterstützung der
Ein erstes Zwischenfazit kann daher gezogen wer- Innovationsleistung und des Fortschritts des Lan-
den: Der Großteil der Kernindustrien von »Made in des. Zwischen 2015 und 2017 wurden beispielsweise
China 2025« befindet sich inmitten eines Transforma­ mit Hilfe des Nationalen Fonds für Technologietrans-
tionsprozesses, ist aber nach wie vor im unteren bis fer und Kommerzialisierung 15 Risikokapitalfonds
mittleren Bereich der globalen Wertschöpfungskette mit einem Gesamtvolumen in Höhe von rund 21 Mrd.
anzusiedeln. China hat auf dem Weg zur Weltspitze Yuan (2,7 Mrd. Euro) eingerichtet. Sie sollen dazu bei-
noch einen weiten Weg zurückzulegen. Ein wichtiger tragen, Innovationen in Forschung und Technologie
Schritt ist dabei, industrielle Schwachpunkte zu identi- in Kernbereichen von »Made in China 2025« für die
fizieren und die Prioritäten der Strategie in der Umset- industrielle Nutzung zugänglich zu machen, etwa im
zung entsprechend anzupassen. Bereich der Biomedizin oder der Fertigung hochwer-
China hat bereits begonnen, erste Kurskorrek­ tiger Maschinen.
turen vorzunehmen. Anfang des Jahres wurde eine Der Aufbau eines international wettbewerbsfähi-
überarbeitete Version des sogenannten Technolo­ gen Innovationsökosystems spielt für den Erfolg von
giefahrplans zu »Made in China 2025« veröffentlicht. »Made in China 2025« eine zentrale Rolle. Bis 2025 soll
Sie greift Entwicklungen der letzten Jahre auf und ein umfassendes Netzwerk aus 40 nationalen Produk-
liefert Hinweise auf Chinas Selbsteinschätzung in tionsinnovationszentren und einer Vielzahl unterstüt-
den behandelten Hochtechnologien und Industrie- zender Einrichtungen auf Provinzebene entstehen.
zweigen. In weiterer Folge gibt sie auch Aufschluss Zurzeit gibt es jedoch erst fünf solcher Zentren, näm-
über Bereiche, auf die sich Chinas industriepolitische lich zu den Bereichen Batterien, generative Fertigung,
Bemühungen in nächster Zeit konzentrieren wer- Optoelektronik, Robotik sowie Druck und flexible Dis-
den. Zunehmende Bedeutung gewinnen in diesem plays. Zwei weitere Zentren zu den zuvor erwähnten
Zusammenhang auch ambitionierte Ziele im Bereich Schwachstellen der Halbleiter und intelligenter Senso-
der Künstlichen Intelligenz. Ein weiteres Beispiel für ren sind bereits geplant.

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Hier wird einmal mehr deutlich, dass die Umset- nesischen Fortschritts auf heftigen Gegenwind. Nach
zung der Strategie von staatlicher Seite vorgegebenen wie vor bestehende Marktzugangsbeschränkungen,
Schwerpunkten folgt. Das Ziel: möglichst rasch und ein lockerer Umgang mit geistigem Eigentum und
aus eigener Kraft Lücken im Bereich der Hochtech- Fälle von Industriespionage haben zu einer zuneh-
nologie zu schließen. So soll auch die Anzahl von der- mend kritischen Haltung gegenüber chinesischer
zeit rund 60 Provinz-Innovationszentren noch im Lauf Investitionen in der EU und den USA geführt. Auch bei
des Jahres erhöht werden. Das angestrebte Netz- der Anwerbung hochqualifizierter Spezialisten aus
werk fügt sich dabei in die generellen Bestrebungen aller Welt geht China aggressiv vor. »Made in China
Chinas hinsichtlich des Auf- und Ausbaus eines eige- 2025« steht dabei im Zentrum der Kritik. Die Strategie
nen, international wettbewerbsfähigen Innovations- wird als Sinnbild für sämtliche (il)legale Wirtschafts-
systems ein. Die Zentralregierung sieht sich dabei pri- und Handelspraktiken Chinas angesehen, die mit dem
mär als Initiator, Unterstützer und Koordinator. Der liberalen und auf fairen Wettbewerb basierten Markt-
aktive Part fällt untergeordneten Regierungsstellen, verständnis westlicher Industrienationen nicht ver-
Unternehmen und Finanzdienstleistern wie Banken einbar sind.
und Versicherungen zu. Im Mai rief das Ministerium Dass »Made in China 2025« in den USA und auch
für Wissenschaft und Technologie gemeinsam mit manchen Teilen Europas als Angriff auf Marktwirt-
dem Nationalen Industrie- und Handelsverband dazu schaften und deren Innovationsfähigkeit verstanden
auf, Privatunternehmen gezielt zu fördern, um deren wird, kam auch für die chinesische Führung über-
innovatives Potenzial zu nutzen. Vor allem im Bereich raschend, die ihre Strategie im Ausland lange Zeit
neuer Technologien wie Künstlicher Intelligenz zeigt selbstbewusst auch als Chance für Wirtschaftsko­
sich deren Vorreiterrolle deutlich. Dass Peking zuse- operation verkauft hatte. Wohl in dem Bemühen, die
hends versucht, die Innovationskraft der Privatwirt- Situation zu entschärfen, wurden chinesische Medien
schaft in der nationalen Strategie einzubinden, ist jüngst dazu angehalten, Berichte über die Strategie zu
auch auf die Missstände bei großen Staatsbetrie- unterlassen.
ben zurückzuführen. Diese wirtschaften meist immer Neben der großen Aufmerksamkeit, die der inter-
noch höchst ineffizient und sind schlicht nicht inno- nationalen Komponente beigemessen wird, darf
vativ genug. jedoch auch die innerchinesische Dimension nicht
außer Acht gelassen werden. Wie das Beispiel der So­­
AUSLANDSINVESTITIONEN SIND NUR EIN larindustrie zeigt, führt Chinas staatlich gestützter Auf-
TEILASPEKT VON CHINAS GROSSEM PLAN bau ausgewählter Hochtechnologieindustrien schnell
zu nationalen Überkapazitäten. Aufgrund der global
Der eigentliche Kern von »Made in China 2025« besteht vernetzen Wirtschaft drückt das Überangebot in Folge
– wie der Name der Strategie schon suggeriert – darin, die Preise am internationalen Markt. Die Leidtragen-
chinesische Lösungen im Bereich der Hochtechnolo- den sind dabei vor allem jene Unternehmen, die nach
gie zu entwickeln. In diesem Kontext ist auch die im marktwirtschaftlichen Prinzipien agieren und haupt-
Ausland zum Teil mit großer Sorge beobachtete Inves- sächlich von Profiten – nicht von staatlichen Subven­
titionsoffensive Chinas zu sehen. Auch wenn das Inves- tionsleistungen – abhängig sind.
titionsvolumen in der EU nach einem Rekord im Jahr
2016 in Höhe von 172 Mrd. Euro im letzten Jahr auf CHINAS OFFENSIVE FORDERT EINE
119 Mrd. Euro gefallen ist, bleibt Europa eine Schlüs- DIFFERENZIERTE REAKTION
seldestination für strategische Investitionen chinesi-
scher Unternehmen. Im August 2017 veröffentlichte Zurzeit besteht in der internationalen Gemeinschaft
der Staatsrat Richtlinien, um aus Sicht der Regierung keine Einigkeit, wie mit Chinas Offensive umzuge-
unerwünschte Auslandsinvestitionen von chinesi- hen ist. Im Bereich der Investitionsprüfung versuchen
schen Unternehmen zu unterbinden und stattdessen sowohl die USA als auch die EU, schlagkräftige Mecha-
in strategisch wichtige Bereiche – etwa der Hochtech- nismen im Umgang mit chinesischen Investitionen zu
nologie – zu lenken. Solch strategische Investitionen etablieren. Allerdings stehen sich unternehmerische
zielen darauf ab, technologische Lücken zu schließen und staatspolitische Interessen im Umgang mit China
und Zugang zu Fachwissen zu bekommen. Trotz der oft entgegen. Eine differenzierte Auseinandersetzung
Bedeutung von Auslandsinvestitionen und internati- mit Chinas industriepolitischem Programm ist nötig,
onalen Kooperationen sind sie nur eine ergänzende um fernab jeglicher Panikmache Chancen und Risiken
Komponente in Chinas industriepolitischem Plan. Der für internationale Zusammenarbeit identifizieren und
Rückgriff auf ausländische Technologie wird als Über- realistisch einschätzen zu können.
gangslösung gesehen, die den nötigen Zeit- und Spiel- Chinas Innovationslandschaft wird unter anderen
raum zum Aufbau eigener Kapazitäten schaffen und Bedingungen geformt als in den liberalen Marktwirt-
letztlich durch chinesische Eigenleistung ersetzt wer- schaften westlicher Industrienationen. Die spezifische
den soll. Umsetzung von »Made in China 2025« sollten Industrie-
Verständlicherweise stößt die strategische Nut- nationen als Weckruf verstehen und rasch und adäquat
zung ausländischer Technologie als Katalysator chi- auf Chinas Ambitionen reagieren. China hat alles Recht,

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seine eigene Wirtschaft weiter zu entwickeln. Dennoch Horst Löchel*


müssen chinesische und ausländische Akteure in einen
fairen Wettbewerb miteinander treten können. Hiesige
Ein Gespenst geht um in
Regierungen und Unternehmen dürfen die in ständi- Europa – das Gespenst
ger Anpassung befindliche chinesische Innovationsof-
fensive nicht aus den Augen verlieren und müssen sich
»Made in China 2025«
aktiv für Rahmenbedingungen einsetzen, die ihnen
Manövrierspielraum lassen. Denn eines ist klar: »Made Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht der Teufel in
in China 2025« ist gekommen, um zu bleiben. Sachen »Made in China 2025« an die Wand gemalt
wird. Eine kleine Auswahl der letzten Monate: »Attack
on American genius« (Wilbur Ross, US Secretary of
Commerce im Guardian vom 4. April 2018); »Angst
vor China« (Henrik Ankenbrand in der Frankfurter All-
gemeinen Zeitung vom 24. Mai 2018); »Die Kampfan-
sage an Deutschland« (Jost Wübbeke in Die Zeit vom
Horst Löchel
27. Mai 2018.); »China kann uns überrollen« (Mikko
Huotari in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom
4. Juni 2018). China-Bashing hat offenbar Konjunktur.
Um was geht es?

CHINA 2025: EIN ÜBERBLICK

Im Jahr 2015 hat die chinesische Regierung eine


detaillierte Strategie zur technologischen Aufrüstung
der chinesischen Industrie unter dem Titel »Made in
China 2025« veröffentlicht. Beabsichtigt ist, bis zum
Jahr 2025 die Qualität der chinesischen Industrie
nachhaltig zu verbessern um bis zum Jahr 2035 einen
fortschritt­lichen Industriestandard etabliert zu haben.
2049 – der 100-Jahr-Feier der Gründung der Volksre-
publik China – soll es China dann zum führenden Indus-
triestandort der Welt gebracht haben. Um diese Ziele
zu er­­reichen, wurden explizit sogenannte Schlüssel­
industrien wie beispielsweise Informationstechno­
logie, Industrieroboter, Raum-, Luft- und Seefahrt,
Hochgeschwindigkeitszüge, erneuerbare Energie,
Elektromobilität, sowie Biochemie definiert.
Die Strategie konzentriert sich darauf, die Abhän-
gigkeit von ausländischer, industrieller Spitzentechno-
logie durch Stärkung der heimischen Industrie zu redu-
zieren. Wie die chinesische Regierung kürzlich noch
einmal betont hat, ist dies allerdings nicht auf chinesi-
sche Unternehmen beschränkt, sondern schließt auch
ausländische Unternehmen, die in die China tätig sind,
mit ein. Wichtiger Bestandteil der Umsetzung der Stra-
tegie sind ebenfalls chinesische Direktinvestitionen in
ausländische Unternehmen, die über Spitzentechnolo-
gien verfügen, wie jüngst beispielsweise die geplante
Übernahme des Automobilzulieferers Grammer durch
das chinesische Unternehmen Ningbo Jifeng.
Obwohl die Strategie erneut die »entscheidende
Rolle des Marktes in der Ressourcenallokation« betont,
wird sie – wie praktisch immer in China – als »Top-
down«-Ansatz umgesetzt, angeleitet durch Staat und
Regierung und untermauert mit einer massiver Finan-
*
Prof. Dr. Horst Löchel ist Professor für Volkswirtschaftslehre und
MBA Direktor an der Frankfurt School of Finance & Management,
Honorarprofessor an der China Europe International Business
School (CEIBS) und Aufsichtsratsmitglied des Shanghai International
Banking & Finance Institute, beide in Shanghai, China.

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zierung. Insgesamt soll es sich um über 20 Mrd. Euro schnittliche, chinesische Arbeitsproduktivität immer
handeln; zum Vergleich will die Bundesregierung nur noch nur rund ein Viertel der deutschen und auch nur
bescheidene 200 Mio. Euro für die Umsetzung des ein Drittel der malaysischen aus. Wie lange wird China
»Industrie-4.0«-Konzeptes, das China bei seiner Strate- noch brauchen, die Lücke komplett zu schließen – wei-
gie Pate stand, ausgeben. Top down ist übrigens nicht tere 35 Jahre, eher wohl das Doppelte und mehr? Auch
gleichzusetzen mit der chinesischen Zentralregierung. die Industrienationen geben Gas und warten nicht auf
Zwar gibt diese die Strategie vor, die 23 chinesischen China.
Provinzen führen jedoch einen produktiven Wettbe- Bleibt die Frage des Beschäftigungsniveaus.
werb in der Umsetzung derselben. Es ist eben eines der Höhere Produktivität heißt weniger Arbeitsplätze bei
Erfolgsgeheimnisse Chinas, dass Planung und Wettbe- gleicher Nachfrage. Kaum zu glauben, dass die chine-
werb nicht notwendigerweise im Widerspruch zu ein- sische Regierung Arbeitslosigkeit im größeren Ausmaß
ander stehen müssen. Auch sollte nicht unterschätzt zulassen wird. Auch gibt es einen Mangel an qualifizier-
werden, wie bekannt pragmatisch und experimentier- ten Arbeitskräften, die mit den modernen Technolo-
freudig die chinesische Wirtschaftspolitik ist. So sol- gien umgehen können. Das berufliche Ausbildungssys-
len beispielsweise 15 Innovationszentren bis 2020 und tem Chinas ist überhaupt nicht vorbereitet. Von einer
40 bis 2025 in ausgewählten Städten etabliert sein, und dualen Ausbildung wie in Deutschland ist China trotz
rund 200 Unternehmen wurden gezielt ausgewählt, um aller Anstrengungen noch Lichtjahre entfernt.
das Projekt konkret umzusetzen. Man hat nicht nur eine Last but not least existieren die bekannten
Strategie, man setzt sie auch um. strukturellen Schwächen eines politisch gelenkten
Top-down-Ansatzes, der sich insbesondere bei der
ZIELE UND ERFOLGSAUSSICHTEN Fehlallokation von finanziellen Ressourcen auf loka-
ler Ebene bemerkbar macht. Das zur Verfügung ste-
China war 35 Jahre lang die Werkbank der Welt, die ihre hende Kapital wird nur suboptimal eingesetzt. Auch
internationale Wettbewerbsfähigkeit dem niedrigen ist die Strategie im Wesentlichen nur an quantitativen
Lohnniveau verdankte. Die Strategie »Made in China Zielen ausgerichtet. Effiziente Unternehmensprozesse
2025« zielt darauf, diese Schwäche zu überwinden und in Management und Produktion spielen, wenn über-
Wettbewerbsfähigkeit durch eine hohe Wertschöpfung haupt, nur eine untergeordnete Rolle.
der Produktion – vergleichbar der deutschen und japa- Der wahrscheinlichste Ausgang der »Made-in-Chi-
nischen Industrie – herzustellen. Aus der Perspektive na-2025«-Strategie ist deshalb, wie bereits von anderen
Chinas ist das folgerichtig und zwingend, anderweitig Analysen betont, der weitere Aufstieg nationale Cham-
kann das Einkommensniveau nicht gesteigert werden, pions wie beispielsweise Haier, Sany, Tencent, Alibaba,
und man bleibt – wie viele anderen Ländern auch – in Wechat, Shanghai Electric, Weichai, Huawei und ZTE.
der sogenannten middle income trap stecken. Schon Ein breites und nachhaltiges industrielles Upgrade, das
heute leidet Chinas Industrie am Verlust internationa- auch die Millionen von Unternehmen des chinesischen
ler Wettbewerbsfähigkeit beispielsweise abzulesen an Mittelstandes umfasst, liegt hingegen noch in weiter
einem Anstieg der Lohnstückkosten um gut 60% seit Ferne.
dem Jahr 2002; in Deutschland sind sie im gleichen
Zeitraum praktisch konstant geblieben. Steigende Ein- CHANCEN UND HERAUSFORDERUNGEN
kommen und steigender Wohlstand können nur durch
eine steigenden Arbeitsproduktivität und diese nur mit In der öffentlichen, teilweise aber auch in der Exper-
dem Einsatz von Spitzentechnologie erreicht werden. tenliteratur werden insbesondere die Herausforderun-
Nach 35 Jahren industrieller Revolution hat China eine gen von »Made in China 2025« für westliche Unterneh-
ansprechende Kapitalintensität erreicht, es mangelt men und den Westen insgesamt betont. Tatsächlich
aber an totaler Faktorproduktivität, sprich technologi- be­­inhaltet aber das Projekt zunächst einmal beträcht-
schem Fortschritt. liche Chancen. Um Spitzentechnologie einsetzen, be­­
Insgesamt sind die Erfolgsaussichten des Pro- nötigt China diese zunächst einmal. Das eröffnet Ver-
jekts eher vorsichtig einzuschätzen. Zum einen sind kaufschancen für die europäische und deutsche Indus-
die Arbeitslöhne in China nach wie vor sehr niedrig, trie. Möglicherweise entstehen auch neue industrielle
was den Anreiz für Unternehmen vermindert, ihre Pro- europäisch-chinesische Konglomerate und Joint Ven-
duktion mit mehr und modernerem Kapital aufzurüs- tures, die global tätig sind. Siemens und Alibaba bei-
ten. Der Median der Löhne in China liegt nach wie vor spielsweise sind gerade dabei, ein Joint Venture für das
unterhalb der asiatischen Wettbewerbern wie Malay- Internet der Dinge insbesondere der Cloud-Technologie
sia, Indonesien oder den Philippinen, nicht zu spre- auf den Weg zu bringen. Auch BMW ist im Geschäft mit
chen von Taiwan, Hongkong oder Südkorea, wo die der chinesischen Brilliance Automotive Group (ABB),
Arbeitslöhne beispielsweise sechsmal so hoch sind wie um einen vollelektrischen BMW iX3 für den chinesi-
in China. Darüber hinaus ist die Technologielücke zu schen und den internationalen Markt zu produzieren.
westlichen Unternehmen nach wie vor enorm. Das lässt Des Weiteren sind chinesische Direktinvestitionen
sich leicht an den komparativen Produktivitätsniveaus in Europe und Deutschland durchweg positiv zu beur-
ablesen. Nach 35 Jahren Aufholjagd macht die durch- teilen. Sie bringen neues Kapital für die Unternehmen

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und eröffnen oft größere Geschäftsmöglichkeiten in Gerade für überzeugte Marktwirtschaftler sollte des-
China. Relevante Studien zeigen, dass gar keine Rede halb gelten: Dass »Made in China 2025« den Wettbe-
davon sein kann, dass die jeweiligen chinesischen werb belebt, ist gut und nicht schlecht.
Investoren – ob privat oder staatlich – einen Techno-
logietransfer nach China vollziehen. Tatsächlich wird LITERATUR
der Standort Deutschland gestärkt. Besonders deut-
BakerMcKenzie (2018), »Rising Tension, Assessing China’s FDI drop in
lich wird das dieser Tage wieder bei der angekündigten Europe and North America«, verfügbar unter: https://www.bakermcken-
240 Mio. Euro Investition des chinesischen Konzerns zie.com/en/insight/publications/2018/04/rising-tension-china-fdi.
CATL in eine Batteriefabrik in Thüringen. Chinesische Ding, M. und Jie Xu (2015), The Chinese Way, Routledge, New York.
Investitionen in Europa und Deutschland zu begren- European Chamber of Commerce in China (2017), China Manufacturing
2025, Putting Industrial Policy Ahead of Market Forces, verfügbar unter:
zen, ist daher keine rationale Strategie, sondern ein
http://docs.dpaq.de/12007-european_chamber_cm2025-en.pdf.
Rückfall in eine nationalzentrierte Abschottungspoli-
Jungbluth, C. (2018), Kauft China systematisch Schlüsselindustrien auf?
tik, die unserem Wohlstand schadet. Chinesische Firmenbeteiligungen in Deutschland im Kontext von »Made in
Anderseits ist es richtig auf Reziprozität gegen- China 2025«, GED Study, Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, verfügbar unter:
https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/
über China zu pochen. Wenn chinesische Unterneh- GrauePublikationen/MT_Made_in_China_2025.pdf.
men weitestgehend frei in Europa investieren kön- Löchel, H. und F. Nawaz (2018), »The Belt and Road Initiative of China:
nen, muss dies auch für ausländische Unternehmen A Critical Analysis of its Feasibility«, Frankfurt School Working Paper
Series 226, verfügbar unter: https://campus.frankfurt-school.de/clicnet-
in China gelten, wenngleich das Land noch weit zurück clm/fileDownload.do?goid=000002879403AB4.
liegt in der wirtschaftlichen Entwicklung und Direktin- Sachverständigenrat (2016), Transformation in China birgt Risiken, in: Jah-
vestitionen aus Europa nach China nach wie vor deut- resgutachten 2016/17, Kap. 12, Wiesbaden, 464–496.

lich über denen von China nach Europa liegen. Es gibt State Council of China (2015), Made in China 2025, verfügbar unter:
http://www.cittadellascienza.it/cina/wp-content/uploads/2017/02/IoT-
auch Bewegung auf chinesischer Seite. Gerade wurde ONE-Made-in-China-2025.pdf.
das White Paper »China and the World Trade Organiz- U.S. Chamber of Commerce in China (2017), Made in China 2025: Global
ation« von der chinesischen Regierung veröffentlicht, Ambitions Built On Local Protecions, verfügbar unter:
https://www.uschamber.com/sites/default/files/final_made_in_
das die sogenannte negative list, d.h. die Industrien china_2025_report_full.pdf.
in denen ausländische Unternehmen nicht investie- Wübbeke J. et al. (2016), Made in China 2015, the making of a high-tech
ren dürfen, von 63 auf 48 reduziert. Insbesondere bei superpower and consequences for industrial countries, in: Merics Paper
on China, No. 2, verfügbar unter: https://www.merics.org/sites/default/
Dienstleistungen, Infrastrukturinvestitionen, Schiffs- files/2017-09/MPOC_No.2_MadeinChina2025.pdf.
und Flugzeugbau, der Automobil-, der Finanz- und der
Chemieindustrie gibt es Fortschritte. BASF, beispiels-
weise, kann nun erstmalig in China ohne Joint-Ven-
ture-Partner investieren und VW sowie BMW ist signa-
lisiert worden, dass sie absehbar ihre Anteile in ihren
jeweiligen Joint-Ventures signifikant erhöhen kön-
nen; ab 2022 soll der Joint-Ventures Zwang auch in
der Automobilindustrie ganz entfallen.
Oft liest man von unfairem Wettbewerb, da die
chinesischen Unternehmen massiv vom Staat unter-
stützt werden inklusive Direktinvestitionen von
Staatsunternehmen, während westliche Unterneh-
men – dem Prinzip der Marktwirtschaft folgenden –
weitestgehend auf sich allein gestellt sind. Das kann
man so sehen, muss es aber nicht. Chinas Wirtschaft
ist nun einmal eine geplante bzw. gelenkte Markt-
wirtschaft, und die Wirtschaft des Landes wird muta-
tis mundatis wie ein Unternehmen geführt. Das mag
einem gefallen oder nicht – jedenfalls war es bisher
sehr erfolgreich. Die Hypothese, dass eine geplante
Marktwirtschaft gegenüber einer reinen Marktwirt-
schaft für aufstrebende Volkswirtschaften das überle-
gene System ist, ist bisher jedenfalls nicht widerlegt.
Last but not least wird befürchtet, dass der Wes-
ten seine industrielle Führerschaft an China über kurz
oder lang verliert. Das ist möglich, aber eben nur dann,
wenn westliche Unternehmen nicht weiterhin innova-
tiv und wettbewerbsfähig bleiben, wovon nicht auszu-
gehen ist. Dass China industriell aufgerüstet, kann man
dem Land schlecht vorwerfen; es ist nun mal das Wesen
von Wettbewerb, besser zu sein als die Wettbewerber.

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Antonia Reinecke* und tech-Industrien gesetzt. Diese Zukunftsstrategie wird


Hans-Jörg Schmerer** unter dem Namen »Made in China 2025« propagiert.
China verfolgt mit dieser Strategie das Ziel, eine
»Made in China 2025« – von führende Rolle in den wichtigen Hightech-Industrien
der »Werkbank der Welt« zum zu werden. Dieses Ziel soll durch staatliche Subven-
tionen in Industrien, die sich durch ein hohes Niveau
Hochtechnologieführer? an technischem Know-how sowie Komplexität aus-
zeichnen, erreicht werden. Zu diesen Branchen gehö-
Seit der Öffnung der chinesischen Volkswirtschaft ren beispielweise die Automobil-, die Robotik- und die
Ende der 1970er Jahre und seit dem Eintritt Chinas in Luftfahrtindustrie. Das sogenannte Smart Manufactu-
die WTO sind chinesische Exporte mit durchschnittli- ring, das vergleichbar mit der Strategie »Industrie 4.0«
chen Raten von bis zu 16,4% gewachsen. Dieser enorme in Deutschland oder dem »Industrial Internet« der USA
Export­erfolg, der sich auch im ökonomischen Wachs- ist, ist ein Hauptaspekt der neuen chinesischen Stra-
tum Chinas widerspiegelt, prägte die gemeingültige tegie. Einerseits könnte die Arbeitsproduktivität der
Vorstellung einer chinesischen »Werkbank der Welt«. schrumpfenden Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter
Die jüngeren Zahlen konstatieren jedoch eine sich durch Automatisierung gesteigert werden, um so die
Antonia Reinecke abzeichnende Trendwende im chinesischen Wachs- chinesische Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Ande-
tumsmodell. Erstmals seit der Öffnung Chinas wurden rerseits erhofft man sich auch im Export dieser Güter,
in den Jahren 2015 und 2016 negative Wachstumsraten zukünftig international konkurrenzfähig zu sein. In
im Gesamtexport verzeichnet. Im Vergleich zum jewei- den Exportdaten ist diese neue Wachstumsstrategie
ligen Vorjahr sind 2015 die Exporte um 3,7% und im bereits deutlich zu erkennen. Der Economic Comple-
Jahr 2016 sogar um 9,5% gesunken. Diese negative Ten- xity Index (ECI) misst die Vielseitigkeit der Produktpal-
denz lässt sich auch in der Entwicklung des Bruttoin­ lette im Export eines Landes unter Berücksichtigung
landsprodukts wiederfinden. Die Wachstumsraten sind des komparativen Vorteils. Dieser Index gibt Auskunft
zwar bei weitem noch nicht negativ, jedoch wächst das über die Zahl an Industrien, in denen China interna-
Bruttoinlandsprodukt in China in der jüngeren Vergan- tional wettbewerbsfähig ist. Für den chinesischen
Hans-Jörg Schmerer
genheit mit Raten im einstelligen Bereich. Chinas Ent- Index werden also alle Industrien zusammengezählt,
wicklungsmodell, das jahrzehntelang sehr stark auf die in denen die chinesischen Exporte einen signifikanten
Produktion und den Export technologisch weniger auf- Anteil am Welthandel ausmachen. Allein genommen
wendiger Güter fokussiert war, scheint an seine Gren- ist diese Zahl nicht sehr aussagekräftig, betrachtet
zen gestoßen zu sein. Die Produktionskosten in China man jedoch die Entwicklung dieser Kennzahl über die
sind über die Jahre hinweg gestiegen, die Konkurrenz Zeit hinweg, dann lässt sich eine zunehmende Diver-
mit Niedriglohnländern ist stärker geworden, und zu sifizierung des chinesischen Exports ausmachen.
guter Letzt unterliegt auch das Angebot an Arbeits- Je höher der berechnete ECI ist, desto größer ist
kräften gewissen Kapazitätsgrenzen: Bildung und Ein- auch die Komplexität der Produktpallette des jewei-
kindpolitik haben dazu geführt, dass das Angebot an ligen Landes. Abbildung 1 zeigt auf der linken Skala
Arbeitskräften für die »Werkbänke der Welt« vielerorts die Entwicklung des ECI für China in einem Zeit-
anfängt zu versiegen. Prinzipiell könnte Wachstum raum von 1995–2016. Auf der rechten Skala wird der
auch durch Investitionen in physisches Kapital herbei- Rang­listenplatz Chinas im internationalen Vergleich
geführt werden, ohne Bevölkerungswachstum muss abgebildet.
jedoch auch dieser Wachs-
tumsmotor irgendwann einmal Abb. 1
zum Stillstand kommen. Entwicklung der ökonomischen Komplexität Chinas
War diese Entwicklung 1995—2016
vorhersehbar, und wurden ent- Economic Complexity Index
sprechende Vorkehrungen ge- ECI
Economic Complexity Rank
Rang
troffen? 1,4 60

Zumindest offiziell hat die 1,2 50


chinesische Regierung dieses
1,0
Problem längst erkannt und 40
vermehrt auf den Ausbau des 0,8
komparativen Vorteils in High- 30
0,6
*
Antonia Reinecke ist wissenschaft- 20
0,4
liche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für
Volkswirtschaftslehre, Internationale 0,2 10
Ökonomie, an der FernUniversität
Hagen.
** 0,0 0
Prof. Dr. Hans-Jörg Schmerer ist
Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirt- 1995 1997 1999 2001 2003 2005 2007 2009 2011 2013 2015
schaftslehre, Internationale Ökonomie, Quelle: The Observatory of Economic Complexity by Alexander Simoes,
an der FernUniversität Hagen. https://atlas.media.mit.edu/en/rankings/country/eci/. © ifo Institut

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Es ist sehr gut zu erken- Abb. 2


nen, dass die Vielfältigkeit der Chinesische Exportzusammensetzung nach Technologielevel
1992—2016
chinesischen Exporte über
die Zeit hinweg zugenommen Ohne Einordnung Niedrig-mitteltechnologische Güter
hat. Gemessen am ECI betrug Mitteltechnologische Güter Hochtechnologische Güter
%
100
die ökonomische Komplexität
90
Chinas im Jahr 1995 nur 0,14,
80
während sie bis zum Jahr 2016
70
auf den Wert 1,157 anstieg.
Dieser Anstieg macht sich auch 60

im internationalen Vergleich 50

bemerkbar: 1995 rangierte 40

China noch auf dem 50. Rang­ 30


listenplatz, stieg jedoch bis 20
zum Jahr 2016 auf den 18. Platz 10
auf. Zum Vergleich, im glei- 0
chen Zeitraum ist die Komple- 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016
Quelle: OECD, STAN.indicators; Berechnungen der Autoren. © ifo Institut
xität Deutschlands von 2,474
auf 2,014 gefallen und damit im
internationalen Vergleich vom zweiten auf den vierten hör führen. Somit könnten Volkswirtschaften mit einem
Platz abgestiegen. sehr komplexen, hochtechnologischen Exportport-
Auch die Exportstruktur – differenziert nach hoch-, folio zumindest kurzfristig von der Strategie »Made in
mittel- und niedrigtechnologischen Gütern – sugge- China 2025« profitieren. Langfristig ist es jedoch nicht
riert eine Veränderung der chinesischen Exportstrate- das Ziel, Hochtechnologie aus dem Ausland zu erwer-
gie in Richtung hochtechnologischer Produkte1: ben, sondern diese selbständig zu produzieren und
Anhand Abbildung 2 wird ersichtlich, dass im Zeit- Weltmarktführer für hochtechnologische Wirtschafts-
raum zwischen 1995 und 2016 der prozentuale Anteil sektoren zu sein. Um dieses Ziel zu erreichen, werden
an Gütern aus den hoch- sowie mitteltechnologischen einerseits heimische Unternehmen massiv unterstützt,
Sektoren stark zugenommen hat, während Güter aus während andererseits der chinesische Markt für aus-
den Industrien mit geringeren technologischen Anfor- ländische Unternehmen noch immer durch protektio-
derungen einen Rückgang verzeichnet haben. Im nistische Maßnahmen geschützt wird.
Jahr 1995 belief sich der Anteil an Exporten aus dem
hochtechnologischen Bereich noch auf ungefähr 11%. HANDELSSTRUKTUR ZWISCHEN DEUTSCHLAND
Bis 2016 stieg dieser Anteil um etwa 185% auf einen UND CHINA
Anteil von 30,4% der Gesamtexporte. Gleichzeitig ging
im selben Zeitraum der Anteil an Produkten mit gerin- In Abbildung 3 ist die Handelsbilanz zwischen Deutsch-
gen Technologieanforderungen von 50,5% auf 27,6% land und China sowie die Importe und Exporte für den
zurück. Hochtechnologiesektor abgebildet.
Die Strategie Chinas, verstärkt in Industrien der Insgesamt wird deutlich, dass Chinas Handels­
Hochtechnologie aktiv zu werden, scheint also erste bilanz mit Deutschland für den hochtechnologischen
Erfolge zu verzeichnen. Doch wie beeinflusst diese Ver- Sektor zwischen 1993 und 2015 positiv war; China also
schiebung innerhalb der chi-
nesischen Exportstruktur die Abb. 3

Marktanteile anderer Volks- Handelsbilanz Deutschland und China im Hochtechnologiesektor

wirtschaften? Und im Besonde- Handelsbilanz Hightech-Güter


ren die von Deutschland? Chinesische Exporte Hightech-Güter nach Deutschland
Zunächst könnten die Mrd. US-Dollar Deutsche Exporte Hightech-Güter nach China
30
staatlichen Subventionen, die
in die Modernisierung der Pro- 25
duktionstechnologie fließen, 20
zu einer erhöhten Nachfrage
15
nach »smarten Produktions-
technologien« und deren Zube- 10

5
1
Die OECD definiert folgende
Sektoren als »hochtechnologische« 0
Sektoren: Luft- und Raumfahrt, Com-
puter- und Büromaschinen, Pharmazie, -5
wissenschaftliche Instrumente, Elekt-
romaschinenbau, Chemie, allgemeiner 1992 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016
Maschinenbau und Rüstungsindustrie. Quelle: OECD, STAN.indicators; Berechnungen der Autoren. © ifo Institut

ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018 13


ZUR DISKUSSION GESTELLT

Güter in einem höheren Warenwert nach Deutsch- Industrien mit sich. Der jüngst entfachte Handelskrieg
land exportiert als Deutschland nach China impor- zwischen den USA und China ist nicht zuletzt auch
tiert hat. Dieses Ergebnis mag vielleicht verwundern, durch die vermeintlichen, negativen Arbeitsmarkt­
würde sich aber damit erklären lassen, dass China effekte des zunehmenden Wettbewerbs mit China
ein maßgeb­ licher Produzent von Zwischenproduk- motiviert worden. Inwieweit die Intensivierung der
ten im Bereich Telekommunikation, Maschinenbau, »Made-in-China-2025«-Strategie die Ressentiments
Automobil oder aber auch Exporteur von LCDs ist. gegenüber China zukünftig noch steigern werden, ist
Dies sind Sektoren, die als »hochtechnologisch« ein- derzeit reine Spekulation. Eine Politik der Abschot-
gestuft werden. Während die Exporte aus China nach tung wird jedoch in einer so globalisierten Welt die
Deutschland deutlichen Schwankungen unterlie- Probleme nicht lösen, sondern eher weiter verstärken.
gen und seit 2010 ein abnehmender Trend beobach-
tet wird, steigen die Importe aus Deutschland in dem
Bereich Hochtechnologie kontinuierlich an. Die Han-
delsbilanz im Hochtechnologiesektor sinkt für China
im Laufe des Betrachtungszeitraums, bis sie schließ-
lich im Jahr 2016 negativ wird, also mehr Hochtechno-
logieprodukte aus Deutschland importiert als expor-
tiert werden. Dieser Trend würde die Hypothese unter-
stützen, dass China zunehmend auch Hochleistungs-
technologie aus dem Ausland (in diesem Fall Deutsch-
land) erwirbt, um die Ziele seiner Strategie »Made in
China 2015« umzusetzen.
Ob es China gelingt, auf diesem Wege den Techno-
logischen Wandel voranzutreiben und Technologiefüh-
rerschaft in der internationalen Welt zu erlangen, kann
zum aktuellen Zeitpunkt weder bestritten noch betä-
tigt werden. Fest steht, dass China viel in den technolo-
gischen Fortschritt investiert und national sowie inter-
national versucht, die Lücke zu den Industrienationen
zu schließen.

POTENZIELLE ARBEITSMARKTEFFEKTE VON


»MADE IN CHINA 2025«

Aktuelle Studien belegen, dass Chinas Exporter-


folg weltweit zu massiven Jobverlusten geführt hat.
Besonders Branchen mit hohem Anteil an leicht auto-
matisierbaren Produktionsschritten sind betroffen.
Routinierte Jobs wurden in den letzten Jahren ver-
mehrt nach China und andere Niedriglohnländer
ausgelagert oder durch Roboter verrichtet. Chinas
stärkere Fokussierung auf Hightech-Industrien wird
diesen Trend auch zukünftig nicht aufhalten oder
umlenken können. Selbst wenn das Lohnniveau
Chinas zukünftig auf das der OECD-Länder anstei-
gen würde, gäbe es immer noch genug Länder, die
die Rolle der »Werkbank der Welt« einnehmen könn-
ten. Viel wahrscheinlicher ist es, dass im Bereich des
Offshoring der jetzige Status quo beibehalten wird
und die routinierten Jobs im Verarbeitenden Gewerbe
auch zukünftig vermehrt im Ausland getätigt werden
oder die Unternehmen zukünftig noch mehr auf Auto-
matisierung im eigenen Land setzen. Beides hat in den
letzten Jahrzehnten zu einer massiven Ausweitung
des Servicesektors geführt. Die zunehmende Wett­
bewerbsfähigkeit der chinesischen Firmen in Berei-
chen, die besonders intensiv mit hochqualifizierten
Arbeitskräften produzieren, bringen neue Heraus-
forderungen für den Arbeitsmarkt der entwickelten

14 ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018


ZUR DISKUSSION GESTELLT

Oliver Emons* Wirft man einen genaueren Blick auf die Invest-
ments, die Investoren und deren Gründe, findet sich die
China: Partner oder Rivale? Antwort. Wie sich zeigt, ist »Investor nicht gleich Inves-
Unterschiedliche Perspek­ tor« und »Investment nicht gleich Investment«. Doch
was heißt das?
tiven und Erfahrungen mit Tatsache ist, dass es nicht »den chinesischen
Investoren aus China Investor« gibt. Unterschiede ergeben sich schon bei der
Kategorisierung. Es gibt Staatsunternehmen, teilstaat-
AUSGANGSLAGE liche und private Unternehmen, des Weiteren unter- Oliver Emons

schiedliche Größen von Unternehmen. In jedem Fall


Made in China 2025: Diese Strategie wird in den letzten lässt sich festhalten, dass die Unternehmensgröße bei
Monaten zum Anlass genommen, um über die grund- den Aufkäufen der letzten Jahre eher nebensächlich
sätzliche Strategie Chinas zu diskutieren. Bei den darin gewesen sein dürfte, da gerade die kleinen und mittel-
genannten Schlüsselindustrien, in denen China zum ständischen Unternehmen in Deutschland eine große
Weltmarktführer werden will (vgl. Merics 2016), ist auf- Rolle im Rahmen der Innovationsstärke der deutschen
fällig, dass es sich um Branchen handelt, in denen Wirtschaft spielen und als Hidden Champions gelten.
Deutschland teilweise weltweit führend ist. Welches Weiterhin bemerkenswert ist, dass es tatsächlich chi-
industriepolitische Ziel verfolgt China damit? Gibt es nesische Unternehmen gibt, die als sogenannte »Seri-
tatsächlich einen Masterplan, der hinter den Aufkäu- eninvestoren« auftreten und somit durch frühere Inves-
fen von deutschen Technologieunternehmen der letz- tments bekannt sind (vgl. Boeckler 2018).
ten Jahre steht, wie häufig vermutet wird? Wird es auf Daneben zeigt sich in den letzten Jahren, dass es
absehbare Zeit zu einer Kollision Deutschlands und der durchaus unterschiedliche Gründe für einen Aufkauf
EU mit China kommen? Wächst hier ein Konkurrent? geben kann. Diese Gründe seien hier beispielhaft dar-
Fragen über Fragen. gestellt (vgl. Emons 2013):
In den letzten Jahren hatten chinesische Über-
nahmen in Deutschland Hochkonjunktur. Schlagzei- –– Label Made in Germany,
len in der Presse wie beispielsweise »Partner oder –– Rechtssicherheit,
Rivale«, »Suche deutsche Firma: Biete Milliarde aus –– Qualität der Arbeitskräfte und des deutschen
China«, »China greift nach deutschen Unternehmen« Ausbildungssystems,
und »Götterdämmerung« lassen vermuten, dass in –– die große Marktkraft Deutschlands,
Deutschland die Unsicherheit bezüglich chinesischer –– die zentrale Lage Deutschlands innerhalb der EU,
Investments groß ist. Diese Unsicherheit wird durch –– ein respektvolles und gutes Deutschlandbild,
wachsende Investitionen, hohe Kaufprämien und –– Währungsrisiken diversifizieren,
Big Deals noch verstärkt. Die Angst vor Übernahmen –– zunehmende Wettbewerbssituation auf dem chi-
ist somit anscheinend groß. Vor allem sind Erfahrun- nesischen Markt,
gen mit Investoren aus den 1990er Jahren noch bei –– Know-how-Erwerb und Vertriebswege,
vielen Menschen präsent, als Unternehmen übernom- –– Zugang zum chinesischen/asiatischen Markt bzw.
men wurden, zügig ein Technologietransfer erfolgte zu Vertriebswegen,
und im Anschluss das übernommene Unternehmen –– Schlüsseltechnologien im Rahmen der Digi-
entweder scheiterte oder nach China verlagert wurde. talisierung,
Weiterhin häufen sich Nachrichten aus China, die –– Wachstum von Unternehmen in China stößt an
zumeist nicht positiv zu werten sind. Seien es Arbeits- Grenzen,
kämpfe, Menschenrechtsverletzungen, Nachrichten- –– zunehmender Konsum und Konkurrenz in China.
sperren, Cyberkriminalität, ein nicht nachhaltiger
Umgang mit natürlichen Ressourcen oder unzählige Also lässt es sich an dieser Stelle bereits festhalten,
Plagiatsfälle. Kein Wunder also, dass die Erwartun- dass es durchaus unterschiedliche Investoren­typen
gen an Investoren aus der Volksrepublik eher verhal- und unterschiedliche Gründe für Aufkäufe geben
ten sind und deren Bemühungen auf Misstrauen sto- kann. Auch scheinen die einzelnen Übernahmen bis
ßen. Ist diese Investorengruppe tatsächlich nur an jetzt überwiegend positiv zu verlaufen, wobei neue
der Technologie interessiert, oder geht das Interesse Entwicklungen von Jobabbau, wie beispielsweise bei
doch weiter und ist somit nachhaltiger als bei anderen der Ledvance GmbH, erneut Fragen aufwerfen und als
Investorengruppen?! Die Meinungen reichen von tota- ein Verstärker für das Misstrauen im Umgang mit die-
ler Ablehnung, über eine verschärfte Kontrolle, hin ser Investorengruppe gelten dürfte.
zu einer vollständigen Befürwortung und Unterstüt- Auffällig, und auch in der Tagespresse vielfach
zung dieser Investments. Die Wahrheit liegt wie so oft diskutiert, ist jedoch in letzter Zeit einer der genann-
irgendwo dazwischen. Deshalb sollte man das Thema ten Gründe für Aufkäufe, der unmittelbar das Thema
differenziert diskutieren. »Made in China 2025« tangiert: die Technologieführer-
*
Dr. Oliver Emons ist Referatsleiter Wirtschaft im Institut für Mitbe-
schaft des aufgekauften Unternehmens in einer Bran-
stimmung und Unternehmensführung, der Hans-Böckler-Stiftung. che und die Frage, wie dieser Fall möglicherweise in das

ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018 15


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Gesamtbild aller Übernahmen passt. Um dies einord- Auf der anderen Seite zeigt sich auch, dass das
nen zu können, muss zwischen einer Einzelfallbetrach- Top-Management in übernommenen Unternehmen
tung (Mikroebene) und der Makroebene (alle Über- sehr skeptisch und mit einer hohen Unsicherheit auf
nahme zusammengenommen) unterschieden werden. diese Investments schaut. Auf die Frage hin, ob sie Ver-
Die Erfahrungen auf diesen Ebenen sind nicht unmit- käufe an chinesische Investoren eher als Chance oder
telbar deckungsgleich. Es sei jedoch angemerkt, dass Risiko sehen, antworteten 60% der befragten Manager,
häufig bei anderen Investorengruppen und bei aufge- dass es wohl eher ein Risiko wäre. Somit stellt sich die
kauften Unternehmen ein gewollter Wissenstransfer Frage, ob es sich immer um eine Win-win-Situation für
stattfindet. Die Unterschiede gilt es hier zu klären. die Unternehmen und für Deutschland handelt, wenn
selbst das Management hier skeptisch reagiert (vgl.
UNTERSCHIEDLICHE PERSPEKTIVEN UND ARTE 2017)?
ERFAHRUNGEN
Des Weiteren weist Europa viele Baustellen auf.
Auf der Ebene der Unternehmen (Mikroebene) wer- Der Brexit, die Migrationspolitik, »America first« und
den diese Übernahmen vielfach positiv gesehen. dadurch bedingt Schutzzölle, die Beziehung zu Russ-
Man sollte sich bewusst machen, dass hinter jeder land, ein Erstarken von Populisten und dadurch bedingt
Übernahme Menschen und Einzelschicksale stehen. starke Individualisierungstendenzen einzelner Länder,
Arbeitsplätze können in Gefahr geraten, wenn neue um nur einige Herausforderungen zu nennen. In dieser
Eigentümer die Herstellungskosten senken möchten. angespannten Atmosphäre ist eine einheitliche Vorge-
Hinter jeder Übernahme steht somit auch die zukünf- hensweise bzw. Wertung dieser Investitionen durch-
tige Zusammenarbeit zwischen den neuen Eigentü- aus schwierig zu gestalten. Vor allem zeigt sich diese
mern und der Belegschaft. Wie lässt sich diese Zusam- Entwicklung mit Blick auf die Seidenstraßeninitiative
menarbeit gestalten (vgl. Boeckler 2018)? Somit ist es Chinas. Einige Länder, vor allem in Osteuropa, sehen
nicht verwunderlich, dass Mitbestimmungsakteure im hier Investitionen, wie in die Infrastruktur, als nicht kri-
Unternehmen etwas genauer auf diese Übernahmen tisch. In Westeuropa zeigt sich jedoch massiver Wider-
schauen. Die Erfahrungen zeigen: Den Belegschaften stand gegenüber dieser Initiative. Diese Kritik entlädt
übernommener Unternehmen geht es überwiegend sich vor allem bei der Vergabe von Aufträgen entlang
mit chinesischen Eigentümern bis dato besser als mit der Seidenstraße (vgl. Handelsblatt 2018).
Finanzinvestoren, die nur auf kurzfristige Renditen aus Somit gibt es innerhalb der Europäischen Union
sind. Üblicherweise bleiben die Unternehmen opera- deutliche Unklarheiten, wie mit chinesischen Investo-
tiv selbständig und sollen teils durch massive Investi- ren verfahren werden sollte.
tionen in den Standort zusätzliches Wachstum gene- Deutsche Unternehmen investierten in den letz-
rieren. Dabei werden häufig nach einer Übernahme ten Jahren deutlich stärker in China als umgekehrt.
Standort und Beschäftigung zunächst gesichert und Anscheinend ein deutliches Ungleichgewicht. Doch
vereinbart, inwieweit Auszubildende beziehungs- sollte dies nicht darüber wegtäuschen, dass hier nicht
weise Lehrlinge übernommen sowie Forschung und auf Augenhöhe investiert wird. Deutsche Unternehmen
Entwicklung gefördert werden. Ob chinesische Unter- kämpfen nach wie vor bei Investitionen in China mit
nehmenskäufer ihre Zusagen langfristig ernst nehmen Hürden. Teilweise muss das eigene Wissen mit chine-
oder nur als juristische Formalie betrachten, bleibt sischen Partnern in Joint Ventures geteilt werden. Das
abzuwarten. Es zeigt sich bereits, dass sich die bislang heißt, hier findet bereits ein indirekter und teilweise
bei Arbeitnehmervertretern oft positiven Eindrücke – auch unfreiwilliger Wissenstransfer statt. Unfreiwil-
Chinesen als langfristige Investoren, die mehrjährige lig, aber teilweise auch vom deutschen Unternehmen
Abkommen zur Beschäftigungs- und Standortsiche- gebilligt, um von diesem riesigen Markt zu profitieren.
rung abschließen, Tarifverträge und Mitbestimmung Die Forderung sollte lauten, dass Markteintrittsbarrie-
respektieren – nach und nach beim genauen Blick auf ren deutscher Unternehmen in China abgebaut werden
die Entwicklungen der letzten Monate relativieren. müssen, vor allem wenn die chinesische Seite Deutsch-
Hier sollte die Forderung lauten, dass sich chinesische land als guten Partner in Europa sieht und dies immer
Investoren an ihre Zusagen halten. wieder betont.
Vergleicht man das mit einem Puzzle, ergeben alle
kleinen Teile zusammengefügt ein großes Bild, in dem FAZIT
möglicherweise ein Plan oder eine Strategie zu erken-
nen ist? Passen diese Aufkäufe auf dieser Makroebene Wenn Europa tatsächlich als Gegengewicht zu ande-
zur China-2025-Strategie des chinesischen Staates? Die ren Wirtschaftsräumen wie den USA oder China auftre-
Meinungen gehen hier stark auseinander. ten möchte, muss es eine abgestimmte Industriepoli-
Laut der letzten Veröffentlichung der Bertelsmann tik geben. Dies wird bis jetzt nur ansatzweise geregelt,
Stiftung (2018) zu diesem Thema würde man dies be­­ wobei angedachte Maßnahmen zum Schutz, wie bei-
jahen. Denn diese Analyse glaubt festgestellt zu haben, spielsweise Investments stärker zu kontrollieren, keine
dass es eine große Deckung zwischen diesen Übernah- allumfassende Strategie darstellen, aber sicherlich
men und der 2025-Strategie gibt. sinnvoll erscheinen.

16 ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018


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Doch was heißt das nun für die Kolleginnen und Markus Taube*
Kollegen sowie für die Mitbestimmungsakteure im
Zusammenhang mit einer jeder anstehenden Über-
Chinas Streben nach
nahme? Sie sollten sich einbringen und Informationen Zukunftstechnologien –
sowie Transparenz fordern.
Im Zusammenhang mit chinesischen Investments
partnerschaftliches Agieren
ist zu fragen, um welchen Investor es sich handelt. Wel- von Staat und Unternehmer­
che Erfahrungen haben andere Unternehmen mit ihm
gemacht? Wie verhält sich dieser Investor in China?
tum als Erfolgsgeheimnis
Handelt es sich um ein staatliches oder doch priva-
tes Unternehmen? Gibt es Informationen über des- In diesem Jahr feiert China das 40-jährige Jubiläum
sen finanzielle Situation? Werden Transaktionswerte des Beginns der Reform- und Öffnungspolitik. Mit die-
offengelegt? Welche Strategie wird verfolgt? Wie ver- ser hatte Deng Xiaoping 1978 einen Schlussstrich unter
hält sich ein chinesischer Investor in Krisenzeiten? Wie das ideologisch verbrämte Maoistische Entwicklungs-
gut versteht und vor allem akzeptiert ein chinesischer modell gezogen. Und während jenes katastrophal
Investor die deutsche Mitbestimmung? Wie finanziert gescheitet war, wurde Deng Xiaopings Ansatz einer
er den Deal? Wie werden chinesische Investoren zukünf- »smarten«, nachholenden Entwicklungs- und Wachs-
tig mit der deutschen Mitbestimmung umgehen? Wie tumsstrategie zu einem brillanten Erfolg. Im Zuge eines
ist mit einer fehlenden kulturellen Einbindung – Stich- graduellen Prozesses der Industrialisierung und Ein- Markus Taube

wort: Post-Merger-Integration – umzugehen? Also Fra- bindung in global ausgerichtete Wertschöpfungsket-


gen über Fragen, die es zu beantworten gilt, wenn ein ten sind in den vergangenen vier Jahrzehnten erheb-
chinesischer Investor an die Türe klopft und das Unter- liche technische Kompetenzen in der chinesischen
nehmen kaufen möchte. Letztendlich wird sich zeigen, Volkswirtschaft aufgebaut worden. Schlüssel hierfür
ob chinesische Investoren ihre Investments nachhaltig war bislang weniger eine überzeugende inländische
gestalten möchten und ihre Zusagen einhalten. Forschungs- und Wissenschaftspolitik, als vielmehr
ein staatlich geschickt gesteuertes Regime zur selek-
LITERATUR tiven Attraktion ausländischer Direktinvestitionen,
Technologien und Geschäftsmodelle und Absorption
ARTE (2017), »China kauft den Mittelstand – Schluss mit Made in Ger-
many«, verfügbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=a1ZiGF-
derselben im chinesischen Unternehmenssektor. In
93HAE, aufgerufen am 6. Juli 2018. jüngster Zeit werden diese Transfers aus dem Ausland
Bertelsmann Stiftung (2018), China auf Einkaufstour: Grund zur Sorge oder durch umfangreiche, staatlich unterstützte Akquisi­
unnötige Panikmache?, verfügbar unter: https://www.bertelsmann-stif-
tung.de/de/unsere-projekte/global-economic-dynamics/projektnachrich-
tionen ausländischer Unternehmen durch chinesische
ten/china-auf-einkaufstour-grund-zur-sorge-oder-unnoetige-panikma- Akteure erheblich gestärkt. Im Rahmen zielgerichteter
che/, aufgerufen am 5. Juli 2018.
Selektionsprozesse werden nun proaktiv in ausländi-
Boeckler (2018), »Chinesische Investitionen 2016«, verfügbar unter:
schen Unternehmen gebündelte »Wissenspakete« von
https://www.boeckler.de/51937.htm?produkt=HBS-006673&chunk=1&-
jahr=, aufgerufen am 5. Juli 2018. Technologien, Produk­tionsprozessen, Geschäftsmo-
Emons, O. (2013), Ausverkauf der Hidden Champions, verfügbar unter: dellen etc. erworben. Dies ermöglicht es China, den
https://www.boeckler.de/pdf/mbf_emons_china1.pdf, aufgerufen am Pfad eigenständiger Entwicklung von Unternehmen
5. Juli 2018.
und Volkswirtschaft noch weiter abzukürzen und sehr
Handelsblatt (2018), »Streit über ›Neue Seidenstraße‹ – Europa sen-
det Warnsignal an China«, verfügbar unter: https://www.handels- schnell in Spitzenbereiche von Technologie- und Markt­-
blatt.com/politik/international/handelspolitik-streit-ueber-neue-sei- erschließung vorzudringen.
denstrasse-europa-sendet-warnsignal-an-china/21179098.html?ti-
cket=ST-2448420-6uwlwZstFSnJb0oBxHK6-ap3, aufgerufen am 5. Juli
2018. STEUERUNG DES ZUSTROMS AN DIREKT-
Merics (2016), MADE IN CHINA 2025 The making of a high-tech superpower INVESTITIONEN
and consequences for industrial countries, verfügbar unter:
https://www.merics.org/sites/default/files/2017-09/MPOC_No.2_Madein-
China2025.pdf; aufgerufen am 5. Juli 2018. Über vier Jahrzehnte hinweg hat China den in Direkt-
investitionen eingebetteten Zustrom von Know-how
über ein regulatorisches Filtersystem gesteuert. Mit-
tels eines flexibel austarierten Systems von expliziten
Förderungen, Joint-Venture-Zwängen, Technologie-
transferauflagen und Verboten ist es gelungen, nach
Maßgabe der Bedarfe der chinesischen Volkswirtschaft
und der Absorptionsfähigkeit des chinesischen Unter-
nehmenssektors Wissenszuflüsse in das Land sehr
präzise zu steuern. Erst in jüngster Zeit, zu einem Zeit-
punkt, da der Bedarf an ausländischem Wissen deut-
lich verringert und auch das ausländische Angebot an
*
Prof. Dr. Markus Taube, Mercator School of Management und Insti-
tut für Ostasienwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen.

ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018 17


ZUR DISKUSSION GESTELLT

überlegendem Wissen massiv zusammengeschrumpft heit des chinesischen Wirtschaftssystems. Die weit-
ist, schwenkt China auf ein System von Negativlisten reichende Kongruenz von Interessen und Zielen der
um, dass (prima facie) weniger Steuerungsmöglichkei- Akteure in beiden Sphären ermöglicht ein Ineinander-
ten bietet. greifen von Politik und Unternehmensführung, das
Die Erschließung ausländischen Wissens erfolgt westliche Konzeptionen von marktlichem Wettstreit
heute vermehrt über die gezielte Akquisition von Unter- untergräbt. Die Grenzen zwischen Regulierern und
nehmen und Wissensträgern im Ausland. Dies beinhal- Regulierten werden verwischt. Staatliche Ressourcen
tet sowohl die Beteiligung an bzw. Übernahme von aus- werden ausgewählten Unternehmen zur Verfügung
ländischen Unternehmen im Rahmen von M&A-Trans- gestellt, ohne dass marktliche Gleichbehandlungs-
aktionen als auch die Anwerbung von ausländischen grundsätze beachtet würden. Ausländische Akteure
Experten (direkte Abwerbung oder Einstellung nach werden gegenüber einheimischen Unternehmen – die
Pensionierung im Ausland) sowie von Chinesen, die im im Gegensatz zu ersteren Teil des nationalen Interes-
Rahmen längerer Studien- und Arbeitsaufenthalte im sensverbundes sind – diskriminiert.
Ausland spezifische Expertisen erworben haben, durch China ist keine zentral verwaltete Planwirtschaft
chinesische Unternehmen. Tatsächlich ermöglicht die- mehr. Explizite Verhaltensvorgaben und Zwangsmaß-
ses Vorgehen eine noch gezieltere und produktivere nahmen gegenüber dem Unternehmenssektor sind in
Nutzung im Ausland generierten Wissens für den chi- diesem System auch gar nicht notwendig. Durch die
nesischen Wachstums- und Entwicklungsprozess als in umfassende Gleichschaltung von Interessen und Zie-
der Vergangenheit. len der Entscheidungsträger in Partei, Regierung und
Dieser Übergang könnte grundsätzlich begrüßt Unternehmen reichen breit ausformulierte, indikative
werden als Ausdruck eines deutlich erhöhten Reife- Zieldefinitionen und unterstützende (materielle wie
grades der chinesischen Volkswirtschaft, der Wettbe- ideelle) Anreizsysteme aus, um auf gesamtwirtschaft-
werbsfähigkeit ihres Unternehmenssektors und der licher Ebene Ressourcen und Aktivitäten für strategi-
Einbindung Chinas in globale Strukturen intra-indus- sche Vorhaben wie die Belt & Road Initiative, Made in
trieller Arbeitsteilung. China ist offensichtlich ange- China 2025 etc. zu mobilisieren.
kommen im Club der führenden Industrienationen der Die in jüngerer Zeit zu beobachtenden M&A-Akti-
Erde – eine Aufnahme in die OECD erscheint überfällig. vitäten chinesischer Unternehmen im Ausland müssen
Dem entgegen steht aber ein grundlegender Dissens vor diesem Hintergrund bewertet werden. Es handelt
zwischen den etablierten Marktwirtschaften (z.B. der sich hierbei einerseits um die Umsetzung – rationa-
OECD-Länder) und China zur Bedeutung wettbewerbs- ler – unternehmerischer Strategien und andererseits
basierter Marktprozesse bzw. staatlicher Steuerung für gleichzeitig um Maßnahmen, die auf nationaler Ebene
unternehmerische Entscheidungsprozesse und indust- definierte Ziele anstreben und Zugang zu staatlichen
rielle Strukturbildungen. Ressourcen eröffnen. Die Übernahme des Augsburger
Robotik-Unternehmens Kuka durch Midea ist ein Bei-
INTERESSENSKONGRUENZ ZWISCHEN PARTEI, spiel für diese Konstellation. Midea ist groß gewor-
REGIERUNG UND UNTERNEHMEN den als Hersteller von elektrischen Haushaltsgeräten,
muss sich in Anbetracht veränderter Kostenstrukturen
Das politökonomische System Chinas ist geprägt von in China und in dem Bestreben nach höheren Gewinn-
einer weitreichenden Identität der Eliten und Ent- margen jedoch neu positionieren. Es erscheint von
scheidungsträger in der Kommunistischen Partei und daher nur konsequent, dass das Unternehmen ver-
Staatsregierung einerseits und den Unternehmens­ sucht, neue Geschäftsfelder zu erschließen, die für die
lenkern der in ihren respektiven Branchen führenden nächsten Jahre hohe Zuwächse im Marktvolumen und
Firmen andererseits. Insbesondere im staatlichen gleichzeitig hohe Gewinnmargen auf das eingesetzte
Unternehmenssektor ist zu beobachten, dass einzelne Kapital versprechen. Kuka als sehr gut eingeführter
Persönlichkeiten zwischen Spitzenpositionen in Par- und technologisch versierter Anbieter von Robotik und
tei, Regierung und Unternehmensmanagement hin- Automatisierungslösungen steht genau hierfür. Der
und herwechseln und diese Funktionen teilweise auch Einstieg von Midea bei Kuka bedient somit die strategi-
gleichzeitig ausfüllen. Im privaten Unternehmenssek- schen Ziele einer Neuausrichtung des Unternehmens.
tor zeigt sich die Vermengung dieser drei Ebenen weni- Gleichzeitig steht Kuka aber auch für ein Technologie-
ger deutlich, ist jedoch ebenfalls zu beobachten, wenn feld, das in der nationalen Made-in-China-2025-Strate-
z.B. die Führer formal privater Unternehmen heraus- gie mit höchster Priorität belegt ist. Die Übernahme
ragende Funktionen und Aufgaben in Parteiorganisa­ durch Midea dient somit auch der Umsetzung dieses
tionen und Regierungseinheiten ausüben (siehe z.B. Plans, insofern sie in chinesischem Eigentum und unter
die Aktivitäten »Pony« Ma Huatengs (Tencent) im Rah- chinesischer Kontrolle befindliches Know-how und
men des Nationalen Volkskongresses im Frühjahr 2018 korrespondierende Innovationskapazitäten substan-
oder »Jack« Ma Yuns (Alibaba) Rolle für den G-20-Gipfel ziell ausweitet. Midea kommt dadurch in den Genuss
in China 2016). umfassender staatlicher Vergünstigungen (steuerlich
Aus dieser Identität der Eliten im politischen wie und administrativ) und präferiertem Zugang zu finan-
unternehmerischen Sektor erwächst die Besonder- ziellen und materiellen Ressourcen. Letztere Konstella-

18 ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018


ZUR DISKUSSION GESTELLT

tion führt dazu, dass Midea faktisch einen Teil der Kos- große Unternehmen im digitalen Sektor (Baidu (Such-
ten und Aufwendungen der Übernahme durch den chi- maschinen), Alibaba (e-commerce), Tencent (Soziale
nesischen Staat wieder erstattet bekommt. Netzwerke, internetbasiert Mehrwert-Dienste), kurz:
Die hier am Beispiel Midea/Kuka aufgezeigte Kons­ BAT) sind mittlerweile in ihren Geschäftsbereichen
tellation führt dazu, dass chinesische Akteure – dank weltweite Technologieführer und bringen immer neue
staatlicher Fördermaßnahmen – über dem Marktwert Produktinnovationen auf den Markt. Dies geschieht
liegende Übernahmeangebote abgeben können, mit vermehrt nicht nur in China selbst, sondern in glo-
denen sie Bieterwettbewerbe für sich entscheiden und balem Maßstab. So ist aktuell z.B. Alibaba nicht nur
Konkurrenten verdrängen. Ohne Sicherungsmecha- damit befasst, in China Gesichtserkennungssoftware
nismen in den Zielländern, die diese Wettbewerbsver- mit elektronischen Zahlungsprogrammen zu kom-
zerrung neutralisieren, besteht tatsächlich die Gefahr, binieren und im Einzelhandel einzuführen (»Smile
dass chinesische Akteure sich entgegen der Markt- to Pay«), sondern auch, sein Konzept einer globalen
kräfte und dank eines non-level playing fields einige der digitalen Handelsplattform (»Electronic World Trade
zukunftsträchtigsten globalen Hochtechnologiefirmen Platform«: eWTP) international zu propagieren. Weitere
einverleiben. technische Vorstöße sollen nun im Rahmen von »Nati-
onalen Teams« erschlossen werden, bei denen unter
UNTERNEHMERISCHE FREIRÄUME IN CHINA politischer Leitung des Ministeriums für Wissenschaft
und Technologie (MOST) offene Entwicklungsplatt­
Es wäre allerdings zu einfach, die zunehmende Präsenz formen eingerichtet werden. Umfassende strategi-
und Bedeutung Chinas in den heute als Zukunftstech- sche Ver­antwortungen und fachliche Zuständigkei-
nologien gehandelten Feldern, allein auf einen der- ten sind dabei an (private) Unternehmen übertra-
artigen »unfairen« Nexus zwischen Staat und Unter- gen worden: Alibaba leitet das Team zur Entwicklung
nehmen in China zurückzuführen. In China sind in den von smart cities, Baidu jenes für autonomes Fahren,
vergangenen Jahren Strukturen entstanden, die inno- Tencent steht dem Wissensfeld Medizintechnik vor
vatives Unternehmertum und eine vom Ausland unab- und iFlytek steht dem nationalen Team zur Erschlie-
hängige (anwendungsorientierte) Wissensgenerierung ßung von Techno­logien der Künstlichen Intelligenz und
in beachtlichem Maße fördern. Gesichts-/Spracherkennung vor.
Ein faszinierender Nebeneffekt der oben skiz- Getragen worden ist diese Entwicklung auch durch
zierten Interessenskongruenz der Eliten in Partei, die hohe Aufgeschlossenheit chinesischer Verbraucher
Regierung und Unternehmen manifestiert sich in der für Innovationen. Diese Aufgeschlossenheit für neue
Generierung tiefgreifenden Vertrauens zwischen den Produktideen erlaubt es Unternehmen, bereits in frü-
Entscheidungsträgern der verschiedenen Sphären. hen Stadien der Produktentwicklung groß angelegte
Hieraus ergibt sich das Phänomen, dass in der chinesi- Pilotstudien zu fahren, Produktionsprozesse nach
schen Volkswirtschaft, die bei oberflächlicher Betrach- Marktreife schnell auf Massenmarktdimensionen zu
tung als in hohem Maße staatlich gelenkt und kont- skalieren, und in bedeutendem Umfang Daten für wei-
rolliert erscheint, große Bereiche existieren, in denen terführenden Innovationsstufen zu generieren.
(auch formal »private«, nicht-staatliche) Unterneh- Im gesamten Bereich der digitalen Technologien
mer Freiheiten genießen, die erheblich weitreichender (Automatisierung und Robotik, cloud computing, e- und
sind, als jene die z.B. in den OECD-Markwirtschaften mobile-commerce, fin-tech, künstliche Intelligenz etc.)
gewährt werden. So sind z.B. innovative Geschäftsfel- können Unternehmen aus aller Welt heute kaum mehr
der im Bereich fin-tech über Jahre hinweg frei von jed- am Standort China vorbeigehen und sei es nur als Pilot-
weder Regulierung, Lizenzvergabe etc. geblieben und markt und Testfeld zur Generierung von Nutzerdaten.
durften sich im freien Spiel der Märkte justieren. Staat-
liche Regulierung setzte erst Jahre später ein, nach- EIN ERNSTZUNEHMENDER KONKURRENT
dem umfangreiche Experimente und Anpassungen der
Geschäftsmodelle vorgenommen worden waren und Chinas Streben nach Teilhabe und sogar Führerschaft
diese als »stabil« charakterisiert werden konnten. So in zentralen Zukunftstechnologien ist ernst zu nehmen.
wurden z.B. Obergrenzen für Online-Geldtransfers erst Mehr als das, es kann fest damit gerechnet werden,
elf Jahre nach der Ersteinführung dieses Geschäftsmo- dass China in den nächsten Jahren im globalen Wett-
dells durch Alipay im Jahr 2005 festgelegt. streit um Zukunftstechnologien substanzielle Erfolge
Während aus europäischer Perspektive mit feiern können wird. Der Schüssel liegt darin, dass die
einem derartigen Vorgehen ein breites Spektrum von chinesische Volkswirtschaft schon lange nicht mehr
schutzwürdigen Verbraucherinteressen hintangestellt einer zentralen Planverwaltung mit ihren typischen
wird, sind so in China doch gleichzeitig erhebliche Frei- Problemen bei der Sammlung und Verarbeitung öko-
räume zur Entfaltung unternehmerischer Kreativität nomisch relevanter Informationen und der Inzentivie-
geschaffen worden. Insbesondere im Bereich der digi- rung individueller Wirtschaftsakteure unterworfen ist.
talen Technologien und deren Umsetzung in Industrie An deren Stelle ist eine Wirtschaftsordnung getreten, in
und Einzelhandel ist China so mittlerweile zu einem der der der Staat weiterhin – für das westliche Ordnungs-
wichtigsten Akteure weltweit avanciert. Chinas drei verständnis viel zu weitgehende – Steuerungsfunk­

ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018 19


ZUR DISKUSSION GESTELLT

tionen für sich in Anspruch nimmt, diese Eingriffe, För- sequenz kann dies nur gelingen, wenn das kollusive
dermaßnahmen und Regulierungen aber sehr eng mit System miteinander verschränkter Eliten aus Partei,
Marktakteuren abstimmt. Hierdurch ist eine China AG Regierung und Unternehmen aufgebrochen und klare
entstanden, in der die entscheidungstragenden Eli- Trennlinien zwischen Regulierern und Regulierten
ten in Kommunistischer Partei, Regierung und Unter- geschaffen werden. Ein derartig radikaler Umbau des
nehmen durch weitgehend kongruente Interessen in Führungsregimes des Landes und der Leitideologie der
ihrem Handeln geeint werden. Mittelfristig erwach- herrschenden Gruppen erscheint derzeit allerdings
sen hierdurch schwerwiegende Gefahren für die Leis- hochgradig unwahrscheinlich – nicht zuletzt in Anbe-
tungsfähigkeit der chinesischen Volkswirtschaft und tracht der chinesischen Entwicklungserfolge während
ihrer Unternehmen, insofern der wettbewerbliche Aus- der letzten Jahrzehnte. Der einzig zielführende Ansatz
leseprozess z.T. außer Kraft gesetzt wird und Akteure kann derzeit von daher nur darauf ausgerichtet sein,
im Markt verbleiben, die eigentlich Platz für effizien- mit der chinesischen Führungselite ein System regel-
tere Akteure machen sollten. Für den Augenblick aber basierter Zusammenarbeit in Wirtschaft und Wissen-
scheint es, als könnte Chinas spezielle Form des Staats- schaft aufzubauen, das beiden Seiten Anreize zur Inter-
kapitalismus für das Land wichtige Wachstumsimpulse aktion bietet und gleichzeitig klare Grenzen staatli-
generieren. cher Einflussnahme auf marktliche Prozesse aufzeigt.
Für ausländische Akteure gleicht die Interak- Im Sinne einer Realpolitik des Möglichen gilt es ein
tion mit China zunehmend einem Tanz auf Messers Regelwerk zu entwickeln, das weder die Integrität des
Schneide. Wichtige Impulse und Ressourcen für die europäischen Ordnungssystems kompromittiert noch
Wissensakkumulation und Technologieentwicklung den chinesischen Staatskapitalismus »verteufelt«.
in China stammen aus dem Ausland. Der weitaus Notwendig ist von daher nicht ein Abbau der WTO und
größte Teil des Wissenstransfers nach China erfolgt ihrer Geschwisterorganisationen, sondern vielmehr
dabei letztlich freiwillig. Denn das staatskapitalis- deren Stärkung im Sinne breiteren Regulierungsum-
tische Regime Chinas hat es bislang geschickt ver- fangs und verbesserter Implementierungskraft.
standen, aus der (prospektiven) Größe und Dynamik
des chinesischen Marktes, der Chance zur schnellen LITERATUR
Generierung von Skalenerträgen und Kostendegres-
Cornell University, INSEAD und WIPO (2018), The Global Innovation Index
sionen, und neuerdings der Möglichkeit zur Erhebung 2018: Energizing the World with Innovation, Ithaca, Fontainebleau und
und Nutzung umfangreicher Nutzerdaten, Anreize und Genf.
Notwendigkeiten zum Wissenstransfer zu schaffen, Lam, W. R., A. Schipke, Y. T. Tam und Z. Tan (2017), »Resolving China’s
Zombies: Tackling Debt and Raising Productivity«, IMF Working Paper
die anderweitige Bedenken überlagern. In der länge- WP/17/266, Washington DC.
ren Frist droht die Gefahr, von chinesischen Akteuren
McKinsey Global Institute (2017), »Digital China: Powering the Economy to
verdrängt zu werden, die aus der Kombination von ab­­ Global Competitiveness, December 2017«, verfügbar unter:
https://www.mckinsey.com/global-themes/china/digital-china-powe-
sorbiertem ausländischem Wissen, staatlicher Protek-
ring-the-economy-to-global-competitiveness, aufgerufen am 13. Juli
tion und Förderung sowie eigenem smartem Unter- 2018.
nehmertum erhebliche Konkurrenzkraft auf den glo- Taube, M. (2018), »Innovation in einer flachen Welt – Wissensexplosion,
balen Märkten entwickeln können. Die ersten dieser ›travelling knowledge‹ und nationale Innovationspolitik«, in: Bundesmi-
nisterium für Bildung und Forschung – BMBF (Hrsg.), Deutsch-Chinesische
neuen Generation chinesischer Unternehmen sind Plattform Innovation – Policy Briefs 2018 der deutschen Expertengruppe,
bereits auf dem Weltmarkt präsent. Berlin, 22–28.

In den nächsten Jahren muss es nun darum gehen, Taube, M. und P. in der Heiden (2015). Assessment of the normative and
policy framework governing the Chinese economy and its impact on inter-
die wohlfahrtssteigernden Möglichkeiten der Interak- national competition, Report prepared on behalf of AEGIS EUROPE –
tion mit der chinesischen Volkswirtschaft und ihrer Cross-sector Alliance Representing European Manufacturing, Brüssel,
verfügbar unter: https://static1.squarespace.com/static/5537b2fbe4b0e-
Unternehmen so intensiv wie möglich zu nutzen und 49a1e30c01c/t/55d1966ae4b02198ab303ccb/1439798890849/MES%2B-
gleichzeitig die wettbewerbsverzerrende Rolle des China%2BStudy_Taube_Full%2BVersion-13August15_F.pdf.

chinesischen Staates zu neutralisieren. In letzter Kon-

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

Clemens Fuest

Digitalisierung und Steuerpolitik


Vortrag bei der Jahresversammlung des ifo Instituts
am 28. Juni 2018

1. STEUERPOLITISCHER HANDLUNGSBEDARF Verfahrensweisen des Steuersystems auch unter den


DURCH DIGITALISIERUNG? neuen Bedingungen funktionieren oder ob Reformen
erforderlich sind. Dabei geht es zum einen darum, die
Die Digitalisierung führt in vielen Bereichen der Wirt- Digitalisierung zu fördern. Beispielsweise betont die
schaft zu einem tiefgreifenden Wandel. Das Erfassen Europäische Kommission auch in ihren steuerpoliti-
und Verarbeiten von Daten spielt eine wachsende schen Überlegungen, dass die Schaffung eines »digi-
Rolle, immaterielle Wirtschaftsgüter werden für die talen europäischen Binnenmarktes« hohe Priorität hat
Wertschöpfung immer bedeutender, neue Geschäfts- (vgl. European Commission 2017, S. 2). Zum anderen
modelle entstehen, die Grenze zwischen Güter- und gilt es, dafür zu sorgen, dass Unternehmen der Digital­
Dienstleistungshandel wird unschärfer und Wettbe- wirtschaft angemessen besteuert werden.
werbsmärkte verändern sich. Mittlerweile sind die In der öffentlichen Debatte in Europa steht die
sechs wertvollsten Unternehmen der Welt ausnahms- Besteuerung der international agierenden Digitalkon-
los Technologieunternehmen mit starkem Digitali- zerne im Vordergrund. Einige dieser Unternehmen sind
sierungsbezug. Fünf davon kommen aus den USA, durch spektakuläre Steuervermeidungsstrategien auf-
eines aus China (vgl. Abb. 1). Der Marktwert von Apple gefallen. Sicherlich hat diese Diskussion aber auch
nähert sich der Grenze von 1 000 Mrd. US-Dollar. Zum damit zu tun, dass der Erfolg der US-Tech-Giganten
Vergleich: Das deutsche Technologieunternehmen Begehrlichkeiten weckt. Damit verbunden ist die ver-
SAP hat einen Börsenwert von 139 Mrd. US-Dollar und breitete Auffassung, dass die Digitalisierung zu einer
liegt damit weltweit auf Platz 57, Siemens liegt bei unerwünschten Machtverschiebung zu Gunsten der
112 Mrd.US-Dollar (Platz 74), Volkswagen erreicht als Internetkonzerne führt.
wertvollster deutscher Automobilkonzern einen Wert Bundeskanzlerin Angela Merkel ist beispielsweise
von 101 Mrd. US-Dollar (Platz 88). der Meinung, dass die mit der Digitalisierung einher-
Der dramatische Aufstieg der US-Technologieun- gehende zunehmende Sammlung und Nutzung von
ternehmen hat zu einer Diskussion darüber geführt, Konsumentendaten grundlegende Gerechtigkeitspro-
ob Europa und Deutschland mit ihrer Dominanz her- bleme aufwirft. Sie hat deshalb gefordert, Daten aus
kömmlicher Industrieunternehmen ins Hintertref- Gerechtigkeitserwägungen zu besteuern:
fen geraten. Viele Industrieunternehmen investieren »Die Bepreisung von Daten, besonders derjeni-
durchaus in die Nutzung digitaler Technologien im Rah- gen der Konsumenten, ist aus meiner Sicht das zent-
men ihrer Geschäftsmodelle (Industrie 4.0). Die Inves- rale Gerechtigkeitsproblem der Zukunft … Da liegt die
toren an den Finanzmärkten
zeigen sich davon jedoch nicht Abb. 1
Die sechs Firmen mit dem weltweit höchsten Marktwert 2018
sonderlich beeindruckt, große
Erfolge werden hier offenbar
nicht erwartet. Mrd. US-Dollar
1 000
Vor diesem Hintergrund
beschäftigen sich politische
800
Entscheidungsträger in Europa
zunehmend mit der Digitalisie-
600
rung. In vielen Bereichen der
Wirtschafts- und Finanzpolitik
400
werden Anstrengungen unter-
nommen, damit Europa die
200
Chancen der Digitalisierung
nutzen kann. Für die Steuer-
0
politik wirft die digitale Revo- Apple Amazon Alphabet Microsoft Facebook Alibaba
lution die Frage auf, ob die (Google)
bestehenden Regelungen und Quelle: Statista, Börsenkurse am 11. Mai 2018. © ifo Institut

ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018 21


FORSCHUNGSERGEBNISSE

Gefahr einer großen Ungerechtigkeit auf der Welt ... Das päische Kommission ihre Forderung, eine »digitale
müssen wir in unser Steuersystem einarbeiten.« (Zeit Ausgleichssteuer« auf Umsätze von Unternehmen der
Online 2018) Digitalwirtschaft einzuführen.
Die Europäische Kommission sieht ebenfalls Hand- Diese Begründung erscheint auf den ersten Blick
lungsbedarf, allerdings aus anderen Gründen. Sie argu- plausibel, tatsächlich ist sie nicht tragfähig. Das wird
mentiert, zwischen Unternehmen mit herkömmlichen deutlich, wenn man die Berechnung des von der Kom-
Geschäftsmodellen einerseits und der Digitalwirt- mission kritisierten Steuergefälles näher betrachtet.
schaft andererseits bestehe ein Steuergefälle zu Guns- In ihrem Vergleich der steuerlichen Belastung der Digi-
ten der Digitalwirtschaft. Dieses Gefälle führe zu unfai- talwirtschaft mit anderen Sektoren zitiert die Europäi-
rer Besteuerung und verzerre den Wettbewerb. Die sche Kommission Berechnungen des ZEW (2017). Dort
Europäische Kommission hat deshalb vorgeschlagen, heißt es:
als kurzfristige Korrekturmaßnahme eine Steuer auf »Im Durchschnitt werden digitale Geschäfts­
Umsätze von Großunternehmen im Bereich der Digital- modelle mit 10,2% belastet, womit deren Belastung
wirtschaft einzuführen. Langfristig will sie die internati- im Vergleich zu traditionellen Geschäftsmodellen um
onalen Besteuerungsregeln ändern. Eine zentrale Rolle 11,73 Prozentpunkte geringer ausfällt.« (ZEW 2017,
spielt dabei das Konzept der »Digitalen Betriebsstätte«. S. 14)
In der öffentlichen Debatte über Digitalisierung Entscheidend ist die Erklärung für das Zustan-
und Steuern spielt das Problem der internationalen dekommen dieser Zahlen. Es handelt sich nicht um
Steuervermeidung eine zentrale Rolle. Vor allem gro- gemessene Steuerzahlungen von Digitalunterneh-
ßen US-Firmen wie Google und Amazon wird vorge- men im Vergleich zu anderen Unternehmen, sondern
worfen, dass sie ihre Gewinne größtenteils einer ord- um Berechnungen des effektiven Durchschnittssteu-
nungsgemäßen Besteuerung entziehen. Für viele die- ersatzes (EATR) nach der Methode von Devereux and
ser Unternehmen spielen digitale Geschäftsmodelle Griffith (2003). Dabei wird ein hypothetisches Inves-
eine Rolle. Allerdings ist internationale Steuervermei- titionsprojekt mit einer gegebenen Vorsteuerrendite
dung nicht allein ein Problem der Digitalwirtschaft. und einer gegebenen Struktur von Investitionsgütern
In diesem Beitrag wird diskutiert, ob die derzeit betrachtet. Dafür wird dann eine hypothetische Steu-
diskutierten Reformkonzepte, vor allem der Vorschlag erbelastung berechnet. Das Ergebnis hängt stark von
der Europäischen Kommission zur Besteuerung der den getroffenen Annahmen über die Art der Investiti-
Digitalwirtschaft, in die richtige Richtung weisen. onsgüter ab, die in dem Projekt eingesetzt werden, weil
für unterschiedliche Investitionsgüter unterschiedliche
2. GIBT ES EIN UNERWÜNSCHTES STEUERGEFÄLLE steuerliche Regelungen gelten. In der Digitalwirtschaft
ZWISCHEN DIGITALWIRTSCHAFT UND HERKÖMM­ werden stärker immaterielle Güter (z.B. selbst erstellte
LICHEN GESCHÄFTSMODELLEN, DAS EINE STEUER Software) eingesetzt als in herkömmlichen Geschäfts-
AUF DIGITALUMSÄTZE RECHTFERTIGT? modellen, bei denen Maschinen und Gebäude eine grö-
ßere Rolle spielen. Da für Maschinen und Gebäude in
Die Europäische Kommission hat sich intensiv mit den den meisten Steuersystemen längere Abschreibungs-
Folgen der Digitalisierung für die Steuerpolitik und für fristen gelten als bei immateriellen, selbst erstellten
die Wirtschafts- und Finanzpolitik insgesamt beschäf- Wirtschaftsgütern, für die in der Regel die Sofortab-
tigt. In ihren Analysen betont sie die Bedeutung der schreibung gilt, ist die steuerliche Effektivbelastung bei
Digitalisierung für die wirtschaftliche Entwicklung herkömmlichen Geschäftsmodellen größer. Außerdem
und weist darauf hin, die Herausbildung eines digita- wird in den Berechnungen angenommen, dass digitale
len Binnenmarktes sei als Voraussetzung dafür anzu- Geschäftsmodelle stärker in den Genuss steuerlicher
sehen, dass die europäische Wirtschaft die Potenziale Forschungsförderung kommen. In der Studie des ZEW
der Digitalisierung nutzen kann (vgl. European Com- (2017), aus der die Zahlen der Kommission stammen,
mission 2017; 2018). wird dieser Umstand auch klar erläutert:
Gleichzeitig vertritt sie die Auffassung, zwischen »Grund dafür sind ein angenommener höherer
Unternehmen mit traditionellen Geschäftsmodellen Anteil nicht aktivierungspflichtiger Kosten in der Inves-
und Unternehmen der Digitalwirtschaft existiere ein titionsstruktur … sowie vorteilhaftere Abschreibungs-
unerwünschtes Steuergefälle, das den Wettbewerb zu regeln für digitale Investitionsgüter und die Anwend-
Gunsten der digitalen Geschäftsmodelle verzerre und barkeit steuerlicher Anreize für Forschung, Entwick-
zu einer unfairen Steuerlastverteilung führe. Dieses lung und Innovation.« (ZEW 2017, S. 14)
Steuerlastgefälle entstehe nicht nur durch internatio- Mit anderen Worten: Die Europäische Kommission
nale Steuervermeidung, es bestehe auch bei rein nati- beklagt hier, dass die nationale Steuerpolitik Investi-
onal tätigen Unternehmen. Rein national tätige Unter- tionsgüter steuerlich bevorteilt, die in der Digitalwirt-
nehmen der Digitalwirtschaft hätten nur eine effektive schaft stark verwendet werden, und will nun völlig neue
durchschnittliche Steuerlast von 8,5% zu tragen, Unter- Steuern einführen, um die politisch erst geschaffenen
nehmen mit traditionellen Geschäftsmodellen hinge- Vorteile wieder auszugleichen. Das weitaus zielgenau-
gen eine Steuerlast von 20,9% (vgl. European Commis- ere und sachgerechtere Vorgehen würde darin beste-
sion 2017, S. 6). Mit diesen Zahlen begründet die Euro- hen, die im Steuersystem vorhandenen Ungleichbe-

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

handlungen darauf hin zu untersuchen, ob sie gerecht- nehmen angewendet werden, nicht auf die gesamte
fertigt sind und die nicht gerechtfertigten Vorteile Digitalwirtschaft, wie derzeit geplant. Für den Nor-
abzuschaffen. malfall und als Instrument für eine ordnungsgemäße
Grundsätzlich sind unterschiedliche steuerli- Besteuerung der Digitalwirtschaft ist diese Steuer
che Abschreibungsbedingungen gerechtfertigt, wenn ungeeignet.
die wirtschaftliche Lebensdauer verschiedener Wirt-
schaftsgüter sich unterscheidet. Differenzen in der 3. DAS KONZEPT DER DIGITALEN BETRIEBSSTÄTTE
effektiven Steuerbelastung entstehen aus unterschied-
lichen Abweichungen der steuerlichen Abschreibung Das Konzept der digitalen Betriebsstätte ist ein Ansatz
von der wirtschaftlichen Abschreibung. Ähnliche Wir- zur Besteuerung der Digitalwirtschaft, der den Vorteil
kungen haben Unterschiede bei der Aktivierungspflicht hat, prinzipiell mit den grundlegenden Regeln interna-
von selbst erstellten Wirtschaftsgütern. Wenn hier ein tionaler Besteuerung vereinbar zu sein (vgl. hierzu auch
unerwünschtes Steuergefälle vorliegt, kann die Poli- Becker und Englisch 2017).
tik dies beseitigen, indem sie die Abschreibungsregeln Grundsätzlich geht es beim Betriebsstättenbegriff
entsprechend anpasst. um die Frage, unter welchen Umständen ein Unterneh-
Unterschiede in der Steuerbelastung, die sich men in einem Land, in dem es im steuerrechtlichen
durch eine höhere Forschungsintensität der Digi- Sinn nicht ansässig ist, trotzdem verpflichtet ist, eine
talwirtschaft und die damit verbundene steuerli- Ertragssteuererklärung abzugeben. Das ist nach den
che Forschungsförderung ergeben, sind ausdrücklich bestehenden Regeln zur internationalen Besteuerung
erwünscht. Sie durch steuerliche Belastungen der Digi- dann der Fall, wenn das Unternehmen in einem Land
talwirtschaft einzuebnen, ist wirtschaftlich schädlich. eine Betriebsstätte unterhält. Dass ein Unternehmen
Steuerliche Forschungsförderung ist dadurch begrün- durch den Export von Dienstleistungen oder Waren in
det, dass die Forschungs- und Entwicklungstätigkeit ein anderes Land viel Geld verdient, ist dagegen kein
einzelner Unternehmen positive Externalitäten hervor- hinreichender Grund für eine Ertragsbesteuerung in
bringt, also Vorteile, von denen auch andere Unterneh- dem betreffenden Land.
men profitieren, ohne dass sie zu den Kosten beitragen. Im deutschen Steuerrecht definiert §12 der
Ohne die Förderung kommt es zu ineffizient niedrigen Abgabenordnung die Betriebsstätte als »jede feste
Forschungsausgaben. Geschäftseinrichtung oder Anlage, die der Tätigkeit
Insgesamt kann man festhalten, dass es hoch- eines Unternehmens dient. Als Betriebstätten sind ins-
gradig irreführend ist, ein Steuergefälle, das durch besondere anzusehen:
unterschiedliche Abschreibungsbedingungen und Un­
terschiede in der Beanspruchung steuerlicher For- 1. die Stätte der Geschäftsleitung,
schungsförderung entsteht, als Begründung für neue 2. Zweigniederlassungen,
Steuern auf digitale Geschäftsmodelle anzuführen. 3. Geschäftsstellen,
Kaum überzeugender ist das Argument, Digi­ 4. Fabrikations- oder Werkstätten,
talsteuern seien erforderlich, um einen Ausgleich für 5. Warenlager,
Steuervermeidung zu schaffen.1 Es ist zwar richtig, 6. Ein- oder Verkaufsstellen,
dass internationale Konzerne der Digitalwirtschaft, 7. Bergwerke, Steinbrüche oder andere stehende,
wie Facebook oder Amazon, ihre rechtlichen und finan- örtlich fortschreitende oder schwimmende Stät-
ziellen Strukturen gezielt gestalten, um Steuern zu ver- ten der Gewinnung von Bodenschätzen,
meiden. Das Problem der Steuervermeidung geht aber 8. Bauausführungen oder Montagen, auch örtlich
weit über den Bereich digitaler Geschäftsmodelle hin- fortschreitende oder schwimmende, wenn
aus. Man muss außerdem bedenken, dass die geplante a) die einzelne Bauausführung oder Montage oder
Steuer auf Umsätze der Digitalwirtschaft ein begrenz- b) eine von mehreren zeitlich nebeneinande best-
tes Aufkommenspotenzial hat. Die Europäische Kom- henden Bauausführungen oder Montagen oder
mission erwartet, dass die Digitalsteuer europaweit ein c) mehrere ohne Unterbrechung aufeinander fol-
Aufkommen von rund 5 Mrd. Euro erheben würde (vgl. gende Bauausführungen oder Montagen länger
European Commission 2018, S. 9). als sechs Monate dauern.«
Hinzu kommt, dass eine unilateral eingeführte
Steuer auf Umsätze von Digitalunternehmen vor Nach dieser Definition folgt die Steuerpflicht aus
allem von Seiten der USA als protektionistische Maß- der physischen Präsenz der Produktionsstätte eines
nahme verstanden werden muss. Diese Politik wäre Unternehmens in einem Land. Das Konzept der digita-
ähnlich zu bewerten wie die Einführung von Zöllen auf len Betriebsstätte sieht vor, den Betriebsstättenbegriff
Stahl oder Autos, die Donald Trump vorantreibt. Eine zu erweitern. Das könnte man damit begründen, dass
europäische Digitalsteuer könnte ein nützliches Ins- bei digitalen Geschäftsmodellen der Ort des Konsums
trument in einem Handelskonflikt mit den USA sein. zumindest teilweise auch als Ort der Produktion ange-
Sie müsste dann aber ausschließlich auf US-Unter- sehen werden kann, weil Daten der Konsumenten und
1
Dieser Aspekt wird in European Commission (2018) in den Vorder-
ihre Vernetzung für die Produktion der digitalen Dienst-
grund gestellt. leistung eine entscheidende Rolle spielen. Da die exis-

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

tierende Definition der Betriebsstätte darauf abstellt, ist, seine Daten bereitzustellen und dass zum anderen
dass sie »der Tätigkeit des Unternehmens dient«, also auch viele Unternehmen mit nicht-digitalen Geschäfts-
zur Wertschöpfung oder Produktion beiträgt, könnte modellen Kundendaten systematisch sammeln und
man argumentieren, dass auch die Nutzung von Kon- nutzen. Hinzu kommt, dass bei Daten üblicherweise
sumentendaten als Betriebsstätte klassifiziert werden keine Rivalität in der Nutzung besteht. Das spricht
sollte (vgl. Becker und Englisch 2017, S. 11). dagegen, die Nutzung durch einen positiven Preis zu
Dieser Ansatz wirft allerdings verschiedene beschränken.
Schwierigkeiten auf. Daten von Kunden und deren In­ Komplizierter ist die Situation, wenn Unterneh-
teraktion spielen für viele Geschäftsmodelle eine wich- men durch das Sammeln von Daten Marktmacht erlan-
tige Rolle, die man nicht zur Digitalwirtschaft im enge- gen, beispielsweise weil diese Unternehmen dann
ren Sinne zählen würde. Automobilproduzenten bei- von verschiedenen Nachfragern gezielt unterschiedli-
spielsweise sammeln in großem Umfang Daten über che Preise verlangen können. Dadurch entsteht nicht
das Fahrverhalten ihrer Kunden. Das wirft die Frage auf, notwendigerweise ein Effizienzproblem, aber eine
ob künftig jedes exportierte Auto als Teil einer Betriebs- Umverteilung von Konsumenten an Produzenten.
stätte klassifiziert werden soll. Außerdem müssten Wenn Angela Merkel von einem »Gerechtigkeitspro-
neue Regeln für Transferpreise entwickelt werden, blem« spricht, denkt sie möglicherweise an eine derar-
die den digitalen Betriebsstätten entsprechende Ge­­ tige Machtverschiebung. Um die Entstehung von uner-
winnanteile zuweisen. All dies umzusetzen, könnte zu wünschter Marktmacht zu verhindern, sind allerdings
einer erheblichen Verkomplizierung des Steuerrechts weniger steuer- als vielmehr wettbewerbspolitische
führen. Länder wie Deutschland, die hoffen, durch die Eingriffe gefragt. Allerdings kann man nicht behaup-
digitale Betriebsstätte mehr Steuern einzunehmen, ten, dass die Digitalisierung generell die Marktmacht
könnten am Ende als Verlierer dastehen, weil die digi- der Unternehmen auf Kosten der Konsumenten stei-
tale Betriebsstätte tendenziell Besteuerungsrechte gert. Vielfach ist das Gegenteil der Fall, beispielsweise
ins Land der Endverbraucher verlagert. deshalb, weil Preisvergleichsplattformen es den Kon-
Über die mit der Einführung der digitalen Betriebs- sumenten erleichtern, das preiswerteste Angebot zu
stätte verbundene Verlagerung von Besteuerungs- finden. Statt flächendeckender steuerlicher Eingriffe
rechten wird man international nur schwer Konsens sind gezielte Interven­tionen der Wettbewerbspolitik in
erzielen können. Ob letztlich mehr Steuereinnahmen Fällen unerwünschter Wettbewerbsbeschränkungen
erhoben werden, hängt davon ab, ob die auf Hochsteu- der bessere Weg (vgl. dazu auch Kronberger Kreis 2017).
erländer entfallenden Besteuerungsrechte signifikant
ausgeweitet werden. Das wäre der Fall, wenn die digi- 5. DATENSAMMLUNG ALS UMSATZSTEUER­
tale Betriebsstätte vor allem Unternehmen der Digital- PFLICHTIGER TAUSCH
wirtschaft treffen würde, die derzeit einen großen Teil
ihrer Gewinne in Steueroasen ausweisen. Wie im voran- Ein anderer Ansatz zur Besteuerung von Daten beruht
gehenden Abschnitt bereits erwähnt wurde, ist aber zu auf dem Argument, dass Unternehmen mit digita-
bedenken, dass die internationale Steuervermeidung len Geschäftsmodellen auf umsatzsteuerpflichtigen
nicht allein ein Problem der Digitalwirtschaft ist und Tauschgeschäften beruhen. Getauscht werden hier
deshalb breiterer Lösungsansätze bedarf.2 Dienstleistungen wie etwa die Nutzung einer Such­
Insgesamt spricht nichts dagegen, das Konzept der maschine gegen die Bereitstellung von Daten. Das
digitalen Betriebsstätte in internationale Verhandlun- Umsatzsteuerrecht sieht grundsätzlich vor, Tausch
gen zur Fortentwicklung der Besteuerungsregeln ein- zu besteuern. Die Bemessungsgrundlage der Umsatz-
zubringen. Dabei sollte man aber Wert darauf legen, steuer entspricht dem Wert der getauschten Güter.3
die Besteuerungsregeln nicht allzu sehr zu verkompli- Wenn man die Bereitstellung von Daten in diesem
zieren. Allzu viel sollte man sich von diesem Ansatz aber Kontext besteuern will, müssten praxistaugliche Ver-
nicht versprechen. fahren zur Bewertung der Daten entwickelt werden.
Eine Herausforderung dabei wäre erneut der Umstand,
4. STEUERN ALS INSTRUMENT FÜR DIE dass bei sehr vielen Geschäften, auch bei nicht-digi-
»BEPREISUNG« VON DATEN? talen Geschäftsmodellen, Daten ausgetauscht wer-
den, die für die Tätigkeit der beteiligten Unternehmen
Ein anderer Ansatz zur Anpassung des Steuersystems erhebliche Bedeutung haben. Auch hier kann es leicht
an Veränderungen durch Digitalisierung beschäftigt zu einer überzogenen Verkomplizierung des Steuersys-
sich mit der Frage, ob es sinnvoll ist, dass Unterneh- tems kommen.
men mit digitalen Geschäftsmodellen Daten sammeln,
ohne für diese Daten zu bezahlen. Dem könnte man 6. FAZIT
entgegenhalten, dass zum einen niemand gezwungen
Die ökonomischen Veränderungen, die mit der Digitali-
2
Einen aktuellen Überblick über empirische Studien zur interna- sierung der Wirtschaft einhergehen, betreffen auch die
tionalen Steuervermeidung bietet Riedel (2018). Zu Politikansätzen
3
zur Bekämpfung unerwünschter Steuervermeidung vgl. Fuest et. al. Beim Tausch ist die Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer
(2013; 2015). (§ 3 Abs. 12 Satz 1 UStG) in § 10 Abs. 2 Satz 2 und 3 UStG geregelt.

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Steuerpolitik. Die derzeit diskutierten Vorschläge zur rung der Datenbereitstellung im Rahmen der Regelun-
Einführung einer europäischen Digitalsteuer führen gen zum Tausch zu prüfen. Das sollte aber internatio-
jedoch in die Irre. Die von der Europäischen Kommis- nal abgestimmt erfolgen, und große Mehreinnahmen
sion angeführten Argumente und Zahlen, mit denen sollte man sich davon nicht versprechen.
sie die These eines unerwünschten Steuerge­fälles Bei alldem sollte nicht aus dem Blick geraten, dass
zu Gunsten der Digitalwirtschaft untermauern will, Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit in Europa nur
sind teilweise irreführend. Die Tatsache, dass einige aufrechtzuerhalten sind, wenn die Potenziale der Digi-
US-Technologieunternehmen mit mehr oder weni- talisierung genutzt werden. Eine unüberlegte Belas-
ger stark digitalen Geschäftsmodellen in der EU viel tung digitaler Geschäftsmodelle mit Sondersteuern
Geld verdienen, ist nach den geltenden Grundsätzen birgt das Risiko, dass neue digitale Dienstleistungen
der internationalen Besteuerung kein hinreichender zuerst in anderen Märkten entwickelt und eingeführt
Grund dafür, sie in der EU stärker zu besteuern. Ob die werden, mit dem Ergebnis, dass Europa in der Digital-
USA ihre Besteuerungsansprüche gegen diese Unter- wirtschaft weiter an Boden verliert.
nehmen durch­setzen oder nicht, spielt dafür keine
Rolle. Dass steuerliche Unterschiede zwischen Län- LITERATUR
dern den internationalen Wettbewerb in Märkten für
Becker, J. und J. Englisch (2017), »Ein größeres Stück vom Kuchen:
Güter und Dienstleistungen beeinflussen, ebenso wie Besteuerung der Gewinne von Google und Co.«, Wirtschaftsdienst 97(11),
andere länderspezifische Eigenschaften, ist kein Argu- 801–808.
ment für Eingriffe wie die Digitalisierungssteuer. Devereux, M. P. und R. Griffith (2003), »Evaluating Tax Policy for Location
Decisions«, International Tax and Public Finance 10, 107–126.
Zutreffend ist, dass multinationale Unternehmen
European Commission (2017), »A Fair and Efficient Tax System in the Euro-
generell über Möglichkeiten verfügen und diese auch
pean Union for the Digital Single Market«, Communication from the Com-
nutzen, durch steuerliche Gestaltungen Gewinne in mission to the European Parliament and the Council, 21. September, COM
(2017) 547 final, Brüssel.
Niedrigsteuerländer zu verlagern. Dieses Problem geht
aber weit über den Bereich digitaler Geschäftsmodelle European Commission (2018), »Time to establish a modern, fair and effi-
cient taxation standard for the digital economy« Communication from
hinaus. Um gegen unerwünschte Steuervermeidung the Commission to the European Parliament and the Council, 21. März,
vorzugehen, sollte die EU vor allem die Möglichkeit der COM(2018) 146 final, Brüssel.

Nutzung von Quellensteuern erweitern und Doppelbe- Fuest, C., C. Spengel, K. Nicolay, J.H. Heckemeyer und H. Nusser (2013),
»Profit Shifting and ›Aggressive‹ Tax Planning by Multinational Firms:
steuerungsabkommen zu Drittländern besser koordi- Issues and Options for Reform«, World Tax Journal 5(3), 307–324.
nieren (vgl. dazu Fuest et al. 2013). Eine Steuer auf die Fuest, C., K. Finke, J. H. Heckemeyer, H. Nusser und C. Spengel (2015),
Umsätze von Digitalunternehmen ist hier das falsche »Eindämmung internationaler Gewinnverlagerung: Wo steht die OECD
und was sind die Alternativen?«, Steuer und Wirtschaft 1, 90–97.
Instrument. Die USA müssten die unilaterale Einfüh-
Kronberger Kreis (2017), Neue Diskriminierungsverbote für die digitale
rung einer solchen Steuer als Maßnahme betrachten, Welt, Kronberger Kreis-Studien Heft Nr. 63, Bad Homburg.
die einem Strafzoll ähnelt. Entsprechende Gegenreak- Riedel, N. (2018), »Quantifying International Tax Avoidance: A Review of
tionen wären zu erwarten. the Academic Literature«, Review of Economics, im Erscheinen.

Die Steuerpolitik in Europa sollte sich darauf kon- Zeit Online (2018), »Angela Merkel fordert Besteuerung von
Daten«, 28. Mai, verfügbar unter: https://www.zeit.de/politik/
zentrieren, für eine ordnungsgemäße Erhebung der deutschland/2018-05/steuerreform-angela-merkel-daten-eu.
Umsatzsteuern auch bei digitalen Dienstleistungen zu ZEW (2017),Steuerliche Standortattraktivität digitaler Geschäftsmodelle,
sorgen. Es spricht nichts dagegen, neue Konzepte wie Studie herausgegeben von PwC, Frankfurt a.M.

die digitale Betriebsstätte oder eine Umsatzbesteue-

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

Hans-Werner Sinn*

Fast 1 000 Milliarden Target-


Forderungen der Bundesbank:
Was steckt dahinter?1

Der Target-Saldo der Bundesbank steigt schon zehn Jahre lang und liegt nun ungefähr bei
einer Billion Euro. Zyklisch hat sich der Wert von ca. 70 Mrd. Euro Ende 2007 auf den Wert
von 976 Mrd. Euro Ende Juni 2018 hinbewegt.
Wie ist der Target-Saldo zu bewerten? Handelt es sich um einen irrelevanten Verrechnungs-
posten und um die selbstverständlichen Implikationen eines gemeinsamen Zahlungssys-
tems? Oder geht es um echte Vermögenspositionen der Bundesrepublik und handfeste Bud­
getrisiken für den deutschen Staat, die durch die Übernutzung gemeinsamer Kassen verur-
sacht wurden?

DER SACHVERHALT Landesgröße zur Liquiditätsversorgung der heimi-


schen Wirtschaft nötig gewesen wäre.
Der deutsche Target-Saldo ist eine bilanzielle Forde- Dabei war es nicht erforderlich, dass der Kredit
rung der Bundesbank gegen das Eurosystem aufgrund dem Auftraggeber der Überweisung oder seiner Bank
internationaler Überweisungen. Die Forderung ent- selbst gewährt wurde, weil der die Überweisung ja
stand, weil die Bundesbank im Auftrag anderer Noten- möglicherweise auch aus einem vorhandenen Barver-
banken Geld geschaffen und es nach den Wünschen der mögen finanziert hat. Gleichwohl war es bei unsiche-
ausländischen Auftraggeber für den Kauf von Gütern ren Ländern, in denen nur die für die Geldzirkulation
und Vermögenswerten, für die Schuldentilgung sowie erforderlichen Minimalbestände an Zentralbankgeld
auch für den Aufbau von Kassenbeständen in Deutsch- liegen blieben, notwendig, neue Notenbankkredite zu
land bereitgestellt hat, während die anderen Zentral- vergeben, um das bei der Überweisung in die ande-
banken im gleichen Umfang Geld eingezogen haben. ren Länder eingezogene Zentralbankgeld zu ersetzen.
Es handelt sich um einen öffentlichen Überziehungs- Ohne dieses kompensierende Nachschieben von Kre-
kredit zwischen den nationalen Notenbanken des ditgeld wäre sonst dem lokalen Wirtschaftskreislauf
Eurosystems, der es anderen Volkswirtschaften des des Target-Schuldnerlandes durch die Nettoüberwei-
Euroraums ermöglicht hat, ohne am privaten Kapital- sungen in andere Länder sehr schnell das Schmiermit-
markt Auslandskredite aufzunehmen, einen Nettozu- tel ausgegangen.
strom von Waren, Dienstleistungen und Vermögens- Überweisungen zwischen Ländern müssen, wie
titeln aus Deutschland zu bezahlen. Der Target-Kredit die privaten Clearing-Systeme Londons zeigen, nicht
wird in Höhe des marginalen Hauptrefinanzierungs­ notwendigerweise über Zentralbanken laufen. Wenn
satzes der EZB (Beschluss EZB / 2007 / NP10) zu Lasten beispielsweise ein Kunde der griechischen Piräus-Bank
der Schuldner-Notenbanken verzinst. Seit dem März Geld an VW überweisen möchte, um ein Auto zu kaufen,
2016 liegt dieser Zins bei null. Früher lag er auch schon und die Piräus-Bank dafür die Commerzbank bittet, VW
einmal in der Gegend von 5%. zu bezahlen, dann wird dafür in Deutschland kein Zent­
Den Target-Kredit in Anspruch zu nehmen, war nur ralbankgeld in Umlauf gebracht, und es wird von der
möglich, weil die Zentralbanken der Auftrag gebenden griechischen Zentralbank auch keines eingezogen. Der
Länder bereit und in der Lage waren, das bei der Über- Target-Saldo wird von solchen Überweisungen nicht
weisung von ihnen einzuziehende Zentralbankgeld berührt, und ein kompensierender Verleih von Zent-
durch neue Geldschöpfungskredite an die Geschäfts- ralbankgeld an die Geschäftsbanken ist in diesem Fall
banken ihrer Länder zu ersetzen, also insgesamt mehr nicht erforderlich.
von solchen Krediten zu vergeben, als es gemäß ihrer Überweisungen außerhalb des Target-Systems
sind private Kreditgeschäfte. Überweisungen über
*
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner Sinn, Alt-Präsident des ifo In­ das Target-System sind hingegen öffentliche Kre-
stituts, Ludwig-Maximilians-Universität München und CESifo.
1
Langfassung des Artikels »Fast 1 000 Milliarden Euro«, erschienen
ditgeschäfte. Die beiden Kreditformen unterschei-
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Juli 2018, S. 16. den sich dadurch, dass das Kreditausfallrisiko das

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

eine Mal beim Steuerzahler und das andere Mal ohne dass die Liquidität zuhause zur Neige ging und die
beim Bankaktionär liegt, aber sie führen gleicherma- Wirtschaft austrocknete.
ßen zu einer Veränderung der Nettoauslandsschuld Trotz dieser Parallelen gibt es aber doch auch
bzw. des Nettoauslandsvermögens der jeweiligen erhebliche Unterschiede. Der zentrale Unterschied liegt
Länder. Sie und eine Vielzahl anderer privater und darin, dass die Bundesbank im Bretton-Woods-System
öffentlicher Kapitalflüsse sind das Spiegelbild der den Umtausch der Devisen in andere, fungiblere Ver-
Leistungsbilanzsalden. mögensobjekte verlangen konnte, während sie sich
Als das Target-System eingeführt wurde, dachte heute mit bloßen Buchforderungen begnügen muss.
niemand, jedenfalls niemand auf deutscher Seite, Im Eurosystem werden die durch die Überwei-
daran, dass einmal größere Salden entstehen könnten. sungen entstandenen Buchforderungen gegen andere
Man ging von einer täglichen Glattstellung aus. Davon Notenbanken am Ende eines jeden Tages in Buchfor-
kann schon lange nicht mehr die Rede sein. Der öffent- derungen gegen das gesamte Eurosystem verwan-
liche Kreditfluss über die Notenbanken hat im Eurosys- delt. Das erhöht zwar die Sicherheit dieser Forderun-
tem einen Gutteil des privaten Kreditflusses ersetzt, gen. Doch können diese Buchforderungen niemals fäl-
weil er zu Konditionen möglich wurde, die den Markt lig gestellt werden und tragen nur einen Zins in Höhe
unterboten. des Hauptrefinanzierungssatzes der EZB, der derzeit
Im System der Zahlungsbilanzstatistiken wird der null ist.
wachsende Target-Kredit der Bundesbank als Teil des Im Bretton-Woods-System wurden die Devisenfor-
Auslandsvermögens der Bundesrepublik Deutschland derungen der Bundesbank zu vorgegebenen Paritäten
verbucht, das sich aus der Summe früherer Leistungs- in die Leitwährung Dollar oder in Gold umgetauscht. Da
bilanzüberschüsse ergibt. Das Nettoauslandsvermö- der Marktpreis des Goldes aber unter der Parität lag,
gen der Bundesrepublik, das nach dem Japans das zogen es viele Länder vor, die Bundesbank mit Gold
größte der Welt ist, lag Ende 2017 bei 1 929 Mrd. Euro. zu bezahlen. Nur die USA hatten das Privileg, die Dol-
Die Target-Forderungen der Bundesbank gegen andere lars bei der Bundesbank stehen zu lassen. Die Bundes-
Notenbanken zur Jahresmitte 2018 beliefen sich auf bank konnte sie später in amerikanische Schatzwech-
51% davon. sel umtauschen. Bis zum Jahr 1968 hatte die Bundes-
bank auf diese Weise Goldreserven in Höhe von etwa
EIN RÜCKBLICK AUF DAS 4 000 Tonnen angehäuft, was damals 3,4% des deut-
BRETTON-WOODS-SYSTEM schen BIP ausmachte. Zugleich verfügte sie über Dol-
larreserven in Höhe von 1,6% des BIP.
Zum Verständnis der mit dem Target-System ge­­ Die Target-Forderungen der Bundesbank von Ende
währten öffentlichen Kredite ist ein Rückblick auf das Juni 2018 beliefen sich demgegenüber auf 30% des
Bretton-Woods-System nützlich. Dieses System sorgte deutschen BIP. Hätte die Bundesbank sie in Gold um­­
in der Nachkriegszeit für feste Kurse. Ihm gehörten tauschen können, hätte sie dafür weitere 28 277 Ton-
viele Länder der Welt, darunter auch die USA, an, bis nen erhalten.
es in den Jahren 1968 bis 1973 zerbrach. Die Notenban-
ken waren verpflichtet, Währungen der Mitgliedslän- SELBSTBEDIENUNG IM EUROSYSTEM
der zu der fest vereinbarten Parität in die eigene Wäh-
rung umzutauschen. In diesem System akkumulierte Die Notwendigkeit der Tilgung der Devisenschulden hat
die Bundesbank nennenswerte Bestände an ausländi- die Zahlungsverkehrssalden im Bretton-Woods-Sys-
schen Devisen, weil die Notenbanken der USA und der tem in engen Grenzen gehalten. Im Eurosystem ist
europäischen Nachbarländer die eigene Wirtschaft auf hingegen keine Tilgung vorgesehen. Das erklärt das
dem Wege der Kreditvergabe mit überschüssiger Liqui- enorme Anwachsen der Target-Salden. So ist Deutsch-
dität versorgten, die es ihnen ermöglichte, in Deutsch- land zu einem Selbstbedienungsladen geworden, in
land auf Shopping-Tour zu gehen. Man kaufte mit dem man nach Belieben anschreiben lassen kann,
dem selbst bedruckten Papier Waren, Firmen, Aktien, ohne dass der Ladeninhaber seine Forderungen fällig
Immobilien und vieles mehr, weil Deutschland billig stellen kann.
war und gute Ware sowie günstige Investitionsgelegen- Die Attraktivität des Kaufs auf Pump war so groß,
heiten bot. Die Bundesbank musste damals in großem dass selbst jene Länder, die noch gar nicht vom Kapital-
Umfang andere Währungen in D-Mark umtauschen. markt abgeschnitten waren, sondern nur hohe Zinsen
Die Devisenforderungen, die die Bundesbank auf hätten bezahlen müssen, die Geldschöpfungskredite
diese Weise im Bretton-Woods-System anhäufte, sind der heimischen Notenbank vorzogen, um Überweisun-
im Prinzip das Gleiche wie ihre Target-Forderungen gen nach Deutschland zu ermöglichen. Mit dem billigen
heute. Auch die Target-Forderungen entstanden näm- Überziehungskredit im Eurosystem wurde es möglich,
lich dadurch, dass die Notenbanken anderer Länder private Auslandsschulden zu tilgen und alles zu kaufen,
des Eurosystems mehr Geld durch Kreditvergabe und was nicht niet- und nagelfest war, neue und alte Güter
Wertpapierkäufe in Umlauf brachten, als für die Zirku- gleichermaßen sowie Vermögenstitel jedweder Art.
lation zuhause benötigt wurde. Erst dadurch wurden Es sind im Wesentlichen fünf institutionelle Rege-
die Nettoüberweisungen für Auslandskäufe möglich, lungen, durch die eine asymmetrische Schöpfung von

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

Kreditgeld im Eurosystem und somit der Überziehungs- Verhandlungen mit der Troika im Jahr 2015, bei denen
kredit der Bundesbank in den ersten Jahren der Finanz- es um 7,5 Mrd. Euro Restforderungen aus dem zweiten
krise bis etwa 2012 verfügbar gemacht wurde. Rettungspaket ging, mit Hilfe von ELA-Krediten von
Die erste besteht in der Einführung des Target-Sys- insgesamt 89 Mrd. Euro monatelang in die Länge zie-
tems an sich. Der Maastrichter Vertrag sagt davon hen, während sein Land auf den Kapitalmärkten schon
nichts. Dort heißt es nur, dass die EZB das reibungslose lange kein Geld mehr bekam.
Funktionieren des Zahlungsverkehrs sicherstellen soll. Fünftens wurde die Selbstbedienung ermöglicht,
Dass die Notenbanken die Überweisungen durchführen indem die Notenbanken das sogenannte ANFA-Ge­
und dabei zudem noch einander unbegrenzte Kredit- heimabkommen geschlossen haben, das erst 2015
linien einräumen, hat der EZB-Rat selbst beschlossen, durch den Berliner Doktoranden Daniel Hoffmann auf-
ohne dass jemals ein demokratisch gewählter Abge- gedeckt wurde und die EZB zur anschließenden Veröf-
ordneter damit befasst war. Diese Entscheidung war fentlichung zwang. Dieses Geheimabkommen erlaubt
damals in der Bundesbank nicht unumstritten. es den nationalen Notenbanken, in gewissem Umfang
Die zweite Regelung liegt in der bereits zum Beginn eigene Geldgeschäfte mit der Druckerpresse zu betrei-
der Eurokrise beschlossenen Vollzuteilungspolitik bei ben. Die Banca d‘Italia hat unter dem Schutz von ANFA
Refinanzierungskrediten, die die jeweiligen nationa- für 105 Mrd. Euro selbständig Geld geschaffen, um
len Notenbanken an die Banken ihres Hoheitsgebie- damit Staatspapiere zu kaufen. Auch das hat dazu bei-
tes ausgeben. Danach dürfen sich die Geschäftsbanken getragen, die Target-Schulden Italiens ansteigen zu las-
eines jeden Landes unbegrenzt Kredite bei der eigenen sen. Zur Jahresmitte 2018 lagen Italiens Target-Schul-
Notenbank besorgen und können damit unbegrenzt den bei 481 Mrd. Euro. Italien hat weitaus mehr Kredit-
Überweisungen in andere Länder ermöglichen. geld für Überweisungen in Umlauf gebracht, als für die
Sie müssen dabei freilich hinreichend gute Pfän- Liquiditätsversorgung der heimischen Wirtschaft erfor-
der hinterlegen. Die Mindestqualität dieser Pfän- derlich war.
der, und das ist die dritte Regelung, wurde sukzes- Die durch all diese Mechanismen erzeugten Kredite
sive bis unter BBB –, also bis auf das Schrottniveau aus der Druckerpresse fanden reißenden Absatz bei den
gesenkt. Schrottpfänder hatten die Geschäftsban- Geschäftsbanken, weil sie zu Konditionen gewährt wur-
ken genug, um die heimische Geldmaschine laufen zu den, die die Konditionen des Kapitalmarkts klar unter-
lassen. In einer kaum noch überschaubaren Vielzahl boten. Die EZB rechtfertigte die im Vergleich zum Markt
von Einzelentscheidungen hat der EZB-Rat im Laufe günstigen Kreditkonditionen damit, dass der Kapital-
der Zeit die Bonitätsanforderungen an die als Sicher- markt nicht richtig funktioniere und die tatsächliche
heiten eingereichten Wertpapiere immer weiter her- Sicherheit der von den Südeuropäern verlangten Kre-
untergeschraubt, um den Banken die Gelegenheit zu dite falsch einschätze. Der Transmissionsmechanismus
geben, aus ihren ohnehin schon zerfledderten Bilan- der Geldpolitik sei gestört. Sie hat wie eine Zentralpla-
zen immer mehr Aktiva als Pfänder herauszukratzen. nungsbehörde zur Verteilung des gesellschaftlichen
Außerdem hat der EZB-Rat viel Spielraum für die nati- Produktionsfonds gehandelt.
onale Definition der geeigneten Sicherheiten gelas-
sen und dabei sogar im Ringtausch zwischen Banken BINNENGELD UND AUSSENGELD
entstandene Schuldverschreibungen sowie Unter-
nehmensobligationen zugelassen, die das Licht des Das enorme Volumen der Überziehungskredite, die
Marktes niemals gesehen haben. Der private Kapi- sich einzelne Länder des Euroraums bei der Bundes-
talmarkt hatte keine Chance, mit diesen Konditionen bank besorgen konnten, wird auch deutlich, wenn man
mitzuhalten. ihren Einfluss auf die Verteilung des sogenannten Bin-
Die vierte Regelung besteht in den sogenann- nen- und Außengeldes betrachtet. Beide Male handelt
ten ELA-Notfallkrediten. Danach darf eine Notenbank es sich um Geld, das eine nationale Notenbank her-
selbständig den Notfall erklären und dann nach eige- stellt und an die Banken ausgibt. Binnengeld kommt
nem Gustus und vermeintlich auf eigenes Risiko zu auf Initiative lokaler Banken zustande, die der Noten-
von ihr selbst gesetzten Konditionen so viele Euros an bank dafür Wertpapiere geben oder eine Forderung
die Banken ihres Geschäftsbereichs verleihen, wie sie gegen sich selbst einräumen. Außengeld ist Überwei-
will, es sei denn, zwei Drittel der Stimmen des EZB-Ra- sungsgeld, das im Auftrag anderer Notenbanken her-
tes wenden sich dagegen. Da die sechs offiziellen Kri- gestellt wird und eine Devisen- oder Target-Forderung
senländer der Eurozone – Griechenland, Italien, Portu- gegen sie begründet. Seinerzeit hieß es, die USA hät-
gal, Spanien, Irland und Zypern – in den entscheiden- ten mit dem vielen Außengeld, das sie der Bundesrepu-
den Jahren eine Stimme mehr als ein Drittel hatten, blik aufzwangen, ihren Vietnamkrieg finanziert. Heute
hätte sie niemand daran hindern können, sich mit den stammt das Außengeld, das die Bundesbank hat her-
ELA-Krediten ein Himmelreich auf Erden zu kaufen. stellen müssen, aus den Krisenstaaten Südeuropas, die
Tatsächlich wurden hunderte von Milliarden Euro an damit ihre aufgrund eines Verlustes der Wettbewerbs-
ELA-Krediten ausgegeben, in Griechenland und Irland fähigkeit entstandenen Finanznöte decken.
sogar zum Zweck der Staatsfinanzierung. So konnte In der seit 2008 währenden Finanzkrise haben die
z.B. der griechische Finanzminister Yanis Varoufakis die Notenbanken der Krisenländer des Eurosystems den

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Banken ihrer Länder so viele Geldschöpfungs-Ersatz- ermöglichte es, die öffentlichen Überziehungskredite
kredite zum Ausgleich der wegbrechenden privaten im Eurosystem in Anspruch zu nehmen, die durch die
Kapitalimporte gewährt und damit solch hohe Net­ Target-Salden gemessen werden.
toüberweisungen nach Deutschland ermöglicht, dass In den letzten vier Jahren erlebten wir die zweite
es in den Jahren 2012 und 2013 in Deutschland kei­ Welle, wie ich sie in meinem Buch Der Schwarze Juni
nerlei Binnengeld mehr gab. Alles Geld, das von der und auch in meiner Autobiographie Auf der Suche
Bundesbank in Umlauf gebracht worden war, war nach der Wahrheit schon beschrieben habe. Sie wurde
damals Außengeld. Theoretisch hätte dieses Außen- durch die Erwartung und Implementierung des QE-Pro-
geld zum Binnengeld hinzutreten können, doch gramms der EZB ausgelöst, nach dem in der Zeit vom
brauchten die deutschen Banken nicht mehr Liquidi- März 2015 bis Juni 2018 für etwa 2,4 Billionen Euro
tät, als sie hatten, und zogen es vor, die ursprünglich Wertpapiere gekauft wurden. Von dieser Summe ent-
einmal bezogenen Binnengeldkredite der Bundes- fielen 2 Billionen auf Staatspapiere im Zuge des Public
bank vollständig zu tilgen. In Finnland war es damals Sector Purchase Programme (PSPP). Obwohl die Noten-
ähnlich. banken die Papiere ihrer Heimatländer in Proportion
Heute ist in Deutschland noch viel mehr Außen- zur Landesgröße ankauften, stiegen die Target-Salden
geld vorhanden als damals, doch hat der EZB-Rat nochmals an.
die Bundesbank inzwischen gegen deren Willen ge­­ Das lag zum einen daran, dass die Verkäufer die
zwungen, immer mehr deutsche Staatspapiere zu Überschussliquidität in Deutschland in Sicherheit brin-
kaufen und damit zugleich neues Binnengeld in den gen wollten. Das ist ein Aspekt, der angesichts der in
Markt zu pumpen, um nun endlich die lang ersehnte Italien wieder aufflammenden Eurokrise gerade in
Inflation loszutreten. Da die Bundesbank sehr viel letzter Zeit eine zunehmende Bedeutung erhielt. Auch
Außen­geld und zugleich sehr viel Binnengeld schaf- den in den letzten Monaten rasanten Anstieg der Tar-
fen musste, war der Anteil des netto in Deutschland get-Verbindlichkeiten Frankreichs kann man darauf
geschaffenen Außengeldes bis zum März 2018 wieder zurückführen, weil die französischen Banken ein ext-
auf 72% gefallen, was aber immer noch ein extrem rem großes Exposure in Italien haben und unmittelbar
hoher Wert ist, denn in einem symmetrischen Gleich- von der italienischen Krise betroffen sind.
gewicht, in dem jedes Land nur so viel Geldschöp- Zum anderen ist der neuerliche Anstieg der Tar-
fungskredit vergibt, wie es seiner Größe entspricht, get-Salden auf den technischen Effekt zurückzufüh-
ist der Wert null. ren, dass die Papiere der südlichen Euroländer in der
Zeit vor der Lehman-Krise und auch schon vor der Ein-
DIE ZWEI TARGET-WELLEN führung des Euro zur Finanzierung riesiger Leistungs-
bilanzdefizite in die Welt verkauft worden waren, so
Der deutsche Target-Saldo stieg
im letzten Jahrzehnt in zwei Abb. 1
Wellen an. Die erste erreichte Target-Salden ausgewählter nationaler Zentralbanken und der EZB
Monatsendwerte
mit einem Target-Bestand von
751 Mrd. Euro im August 2012 Deutschland Luxemburg Niederlande
Finnland Irland Griechenland
ihren Höhepunkt. Diese Welle Portugal Frankreich EZB
wird durch die Finanzkrise Milliarden Euro Spanien Italien
unmittelbar erklärt, denn seit 1 000
976
dem Lehman-Crash verwei-
gerten sich die Kapitalmärkte 800
einer Fortsetzung der Finanzie-
rung der Leistungsbilanzdefi- 600
zite der südeuropäischen Län-
der und Irlands. Die ausländi- 400
schen Anleger wollten sogar
das bereits verliehene Geld 200 202
116
zurück, sobald es fällig wurde, 74
0 15
und weigerten sich, Ersatzkre- -44
-80
dite zur Ablösung der Altkre- -83
dite zu gewähren. Ferner ver- - 200
-247
suchten inländische Vermö-
gensbesitzer, ihr Vermögen - 400 -398
im Inland zu beleihen und die -481

Kreditmittel dann ins Ausland - 600


05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 18
zu bringen. Die Selbsthilfe mit
Quelle: Sinn und Wollmershäuser aktualisiert (2012), »Target Loans, Current Account Balances and
der Druckerpresse in Form der Capital Flows: The ECB’s Rescue Facility«, International Tax and Public Finance; Europäische
oben beschriebenen Regeln Zentralbank; Deutsche Bundesbank; Banca d’Italia; Banco de España; Bank of Greece. © ifo Institut

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dass nun ohnehin Auslandsüberweisungen notwen- die fiskalischen Rettungsschirme der Staatengemein-
dig waren, um diese Papiere zurückzuholen. So oder schaft sowie die Europäische Investitionsbank angesie-
so war die Bundesbank – und neben ihr auch noch die delt, deren Schuldpapiere die EZB selbst erwirbt. Die
Notenbank der Niederlande – häufig gefordert, die Target-Verbindlichkeiten der EZB sind das Spiegelbild
Rückkäufe und damit die alten Leistungsbilanzdefizite dieser Käufe.
der Südländer durch eine gigantische Umschuldungs- Natürlich sind das nur Beispiele. Es kann auch
aktion im Nachhinein zu kreditieren. sein, dass der ausländische Investor Aktien und andere
So musste die Bundesbank zum Beispiel direkt an Wertpapiere oder deutsche Immobilien erwarb, denn
sie gerichtete Überweisungsaufträge der spanischen wie seinerzeit im Bretton-Woods-System ist Deutsch-
Notenbank ausführen, die das Ziel hatten, spanische land billig und bietet gute Ware und Investitionsmög-
Wertpapiere aus Deutschland nach Hause zurückzuho- lichkeiten an. Wieder wird hier alles gekauft, was nicht
len. Die Aktion war gut für Spanien, weil Spanien seine niet- und nagelfest ist. Leider wird diesmal dafür kein
verbriefte, mit einem Zins ausgestattete Schuld gegen- Gold auf den Tresen gelegt.
über privaten ausländischen Investoren (die manch- Es kann schließlich auch sein, dass der ausländi-
mal lästig werden können) in eine bloße Buchschuld sche Investor sein Geld auf deutsche Bankkonten oder
einer spanischen Behörde gegenüber dem Eurosystem gar Bankkonten seiner eigenen Filialen in Deutschland
und indirekt gegenüber der Bundesbank umtauschen überweist. Diese Konten bedeuten dann zwar nur For-
konnte, die derzeit keinen Zins trägt und niemals fäl- derungen gegen hier ansässige Banken und sind noch
lig gestellt werden kann. Doch für Deutschland war nicht in geldferne Vermögensobjekte umgetauscht,
die Aktion weniger gut. Zwar wurden die deutschen doch kann das jederzeit geschehen und wird sicher-
Verkäufer mit Geld von der Bundesbank kompensiert, lich geschehen, wenn dem Eurosystem eine substan-
doch ist dieses Geld eine Forderung gegen die Bundes- zielle Krise droht, denn nur solche geldfernen Vermö-
bank, verbucht auf der Passivseite ihrer Bilanz, wäh- gensobjekte würden den Investor im Falle des Falles
rend die Bundesbank dafür nur eine Target-Forderung davor schützen, zu den ersten Opfern eines Währungs-
gegen das Eurosystem erhielt. schnitts zu gehören.
Auch half die Bundesbank den Südländern letzt-
lich dabei, einen Teil ihrer Schulden gegenüber Inves- BARGELD UND TARGET-SALDO
toren aus anderen Euroländern und sogar außereuro-
päischen Ländern loszuwerden und durch eine Buch- Noch unschöner wird die Rechnung für Deutschland,
schuld beim Eurosystem und indirekt bei sich selbst wenn man bedenkt, dass das zusätzliche Außengeld,
zu ersetzen. Wenn nämlich, um in dem Beispiel zu blei- das die Bundesbank herstellen muss, nicht nur auf Kon-
ben, die spanische Notenbank die spanischen Staat- ten landet, die die Banken bei der Bundesbank unter-
spapiere von einem Investor in Shanghai zurückkaufte, halten, sondern zum Teil als physisches Bargeld abge-
der dann, weil der Rückkauf der Papiere aus Nicht-Eu- rufen wird. Überproportionale Bargeldbestände, die
roländern zur Abwertung des Euro führte, sein Geld in die Bundesbank im Zuge der Überweisungen herstellen
den Kauf einer deutschen Firma investierte, dann war muss, werden nämlich als Target-ähnliche Verbindlich-
auch das ein gutes Geschäft für die Spanier. Die ver- keit in der Bundesbankbilanz verbucht, weil man von
briefte Schuld gegenüber dem chinesischen Privatin- der Fiktion ausgeht, dass dieses Bargeld letztlich wie-
vestor konnte durch eine Buchschuld beim Eurosys- der für Käufe in anderen Ländern verwendet wird. So
tem ersetzt werden. Der EZB-Rat, das Entscheidungs- verbuchte die Bundesbank im März hierfür einen Pos-
gremium dieses Systems, ist im Zweifel viel netter als ten in Höhe von 368 Mrd. Euro.
der chinesische Investor und politischen Massagen Für die Fiktion gibt es keine statistischen Belege,
zugänglich, zumal die Bundesbank, obwohl sie der doch ist sie nicht unplausibel, denn aufgrund von
größte Gläubiger des Eurosystems ist, dort nicht viel zu Gastarbeiter-Überweisungen und Tourismus gelangen
sagen hat. Bekanntlich hat Deutschland in diesem Rat in der Tat deutsche Bargeldbestände ins Ausland, die-
eine Stimme wie Malta oder Zypern auch. Der chine- nen dort dem Erwerb von Gütern und Dienstleistun-
sische Investor wurde für die Hergabe der spanischen gen und stehen anschließend für allgemeine Transak-
Papiere mit der deutschen Firma kompensiert, und der tionen zur Verfügung. Es handelt sich insofern zu Recht
Verkäufer der deutschen Firma erhielt mit dem Geld um eine deutsche Verbindlichkeit im Eurosystem, die
eine Forderung gegen die Bundesbank, für die die Bun- das Gegenstück zu den Target-Forderungen ist und mit
desbank mit einer Target-Forderung gegen das Euro- ihnen saldiert werden muss. Allerdings nur insofern.
system kompensiert wurde. Man muss nämlich bedenken, dass dieser physisch
Ein weiterer Teil der deutschen Target-Forderun- ins Ausland geschaffene Bargeldbestand zu einem
gen könnte auch dadurch entstanden sein, dass die nicht unerheblichen Teil auf die alten D-Mark-Bestände
EZB-Zentrale im Zuge des QE-Programms einige Fir­ zurückzuführen ist, die schon vor der Einführung des
menobligationen in Deutschland erwarb, was die Bun- Euro ins Ausland gelangt waren und dort zirkulierten.
desbank zur Kreditierung dieser Käufe zwang. Die Ähnliche Außenstände hatte es damals bei den ande-
Käufe der EZB dürften aber vor allem hinter den Tar- ren Währungen der heutigen Euroländer nicht gege-
get-Forderungen Luxemburgs stehen, denn dort sind ben. Nur die D-Mark hatte sich ähnlich wie der Dollar

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den Status einer internationalen Transaktionswäh- schuldtiteln, durch die eine Niederlassung gezwungen
rung erarbeitet. Die entsprechenden Außenstände an werden könnte, einer anderen Niederlassung Buchkre-
D-Mark-Bargeld wurden mit der Gründung der Wäh- dite zur Ablösung einer lokalen öffentlichen Schuld zu
rungsunion in Euro umgewandelt und vergemeinschaf- gewähren. Die alte Bundesbank erwarb ohnehin prak-
tet, so dass sie und ihre im Zuge des allgemeinen Wirt- tisch keine Staatsschuldtitel. Wer glaubt, das Problem
schaftswachstums realisierten Zuwächse heute als der Target-Kredite durch die bloße Zusammenlegung
Verbindlichkeit in der Bundesbankbilanz stehen. Es von Bilanzen überwinden zu können, irrt gewaltig, weil
kam somit zu dem paradoxen Ergebnis, dass die Mit- er damit die Ursachen der asymmetrischen Kreditver-
gift, die Deutschland in die Währungsunion brachte, sorgung durch die Notenbanken im Eurosystem nicht
mitsamt den normalen Zuwächsen aufgrund der wirt- beseitigt hätte.
schaftlichen Entwicklung heute als eine Verbindlich- Ähnliches gilt auch für die Frage der grenzüber-
keit gegenüber dem Eurosystem in der Bundesbank schreitenden privaten Überweisungen. Deutschland
verbucht wird. hat mehrere separate und flächendeckende private
Im Übrigen dürften Bargeldbestände auch im Bankensysteme, innerhalb derer interregionale Über-
Zuge des QE-Programms entstanden sein, weil ein weisungen stattfinden. Solche Überweisungen sind Teil
Teil des von der Bundesbank qua Überweisungsauf- eines privaten Kapitalverkehrs zwischen den Regionen
trag geschaffenen Außengeldes nicht nur als Buchgeld und keine öffentlichen Kredite wie im Eurosystem, von
auf den Konten der Geschäftsbanken bei der Bundes- deren Ausfällen Steuerzahler betroffen sein könnten.
bank akkumuliert wurde, sondern als Bargeld in den In Europa spielen indes länderübergreifende private
Portemonnaies der Verkäufer von Waren und Vermö- Bankensysteme, die die Überweisungen intern regeln
gensobjekten landete. Der Wert dieses Geldes wird könnten, bislang keine besondere Rolle. Ja, sie haben
als Verbindlichkeit der Bundesbank gegenüber dem es schwer, Fuß zu fassen, eben weil die EZB ihnen mit
Eurosystem den durch die Überweisungen entstan- ihrem staatlichen Target-System die Geschäftschancen
denen Target-Forderungen entgegengestellt, obwohl nimmt. Gerade der Vergleich mit Deutschland zeigt,
ihm ein Abfluss von Gütern und Vermögensobjekten dass im Eurosystem ein staatliches, zentralplaneri-
ins Ausland zugrunde lag. Dieser Abfluss führt insofern sches Kreditsystem entstanden ist, für das es innerhalb
per saldo nicht zu einem Zuwachs an Forderungen der der einzelnen Länder keine Parallelen gibt, schon gar
Bundesbank gegen das Eurosystem und ist von vorn­ nicht in Deutschland.
herein als Geschenk der Bundesrepublik Deutschland Es gibt in der EU und bei der EZB Bestrebungen, die
an das Ausland zu werten. separate Bilanzierung der Kreditgeschäfte der nationa-
len Notenbanken aufzugeben und am besten das Zent­
IST ES INNERHALB DEUTSCHLANDS AUCH SO? ralbanksystem mitsamt den Zinserträgen der einzel-
nen Notenbanken der EU zu übereignen. Solche Bestre-
Um das Geschehen in der Eurozone zu rechtfertigen, bungen sind extrem gefährlich, weil die Target-Kredite
wurde verschiedentlich behauptet, dass die Proble- dann völlig unbeobachtet in die Höhe getrieben wer-
matik der Target-Salden nur dadurch entstehe, dass den könnten und noch viel größere öffentliche Kredit-
die einzelnen Notenbanken getrennte Bilanzen führen. ströme zu politisch festgelegten Minizinsen zwischen
Gebe man diese Bilanzierungspraxis auf und berichte den Ländern zustande kämen. Das würde nicht nur den
man über das Geschehen in den nationalen Noten- Wohlstand der Nettosparer der Eurozone weiter aus-
banken nur so, wie die Bundesbankstatistik über die höhlen, sondern einen weiteren Schritt hin zu einem
Niederlassungen der Bundesbank informiert, gebe es System zur Verteilung des gesellschaftlichen Produk-
keine Target-Salden und auch keine Probleme mehr. tionsfonds bedeuten, wie es die DDR mit dem Neuen
Richtig an diesem Standpunkt ist nur, dass man die Ökonomischen System der Planung und Leitung der
Probleme dann nicht mehr so leicht erkennen könnte. Volkswirtschaft (NÖSPL) im Jahr 1964 realisiert hatte.
Behoben sind sie damit allerdings noch lange nicht. Auch ein Blick auf die USA sollte helfen, solche
Man müsste vielmehr die Autonomie der nationalen Erwägungen beiseite zu schieben. Die USA haben erst
Notenbanken vollständig aufheben und länderüber- im Jahr 1915, 123 Jahre nach der Einführung des Dollar,
greifendende private Bankensysteme schaffen, bevor eine Zentralbank bekommen. Vorher wurden die Über-
zu Deutschland halbwegs vergleichbare Bedingungen weisungen zwischen den Staaten stets über Kontrakte
entstehen. zwischen privaten Banken durchgeführt, abgesehen
Tatsächlich gibt es innerhalb Deutschlands schon von zwei kurzzeitigen und wieder beendeten Versu-
deshalb keine versteckten Target-Salden, weil die ein- chen, eine Zentralbank zu schaffen. Die Kreditsalden,
zelnen Niederlassungen der Bundesbank gar nicht das die damals durch die Überweisungen zwischen den Pri-
Recht haben, Instrumente wie ELA und ANFA zu ver- vatbanken zustande kamen, wurden im Normalfall mit
wenden, und auch keinen eigenen Spielraum haben, Gold getilgt. Die Goldtilgung wurde nach der Gründung
die Pfänder für Refinanzierungskredite selbst zu defi- der Zentralbank, der Federal Reserve Bank, auch noch
nieren, um lokale Finanzprobleme mit der Drucker- beibehalten. Man hatte diese Zentralbank nämlich in
presse zu lösen. Sie organisieren auch keine Umschul- zwölf Distriktnotenbanken gegliedert, zwischen denen
dungsprogramme durch den Rückkauf von Staats- die interregionalen Überweisungen stattfanden, und

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sorgte dafür, dass die zwischen ihnen entstehenden umso höher, je höher die Target-Schulden der Krisen-
Kreditsalden (»ISA-Salden« im Interdistrict Settlement länder sind, denn diese Target-Schulden entstehen,
Account) jährlich mit Gold getilgt wurden. Bis zum heu- wie erläutert, wenn die dortigen Notenbanken mehr
tigen Tag werden die entsprechenden ISA-Salden ver- Kreditgeld geschaffen haben, als für die lokale Zirkula-
öffentlicht und einmal jährlich getilgt, wobei seit 1975 tion erforderlich ist, und das wiederum ist regelmäßig
durch die Hergabe von marktfähigen Wertpapieren der Fall, wenn sich die Kapitalmärkte der Finanzierung
statt mit Gold getilgt wird. dieser Länder verweigern, weil sie als riskant einge-
schätzt werden. Auf die Höhe der eigenen Target-For-
DAS TARGET-RISIKO BEI FORTBESTEHENDEM derungen der Bundesbank kommt es dabei nur inso-
EURO fern an, als sie das Spiegelbild der Target-Schulden
anderer Länder sind.
Auch wenn man die Geschenkaktionen durch die Die Target-Schulden der Krisenländer verkörpern
eigenartige Verbuchung von Bargeldemissionen außer aber in einem noch direkteren Sinne das Risiko des
Acht lässt und nur die normalen Geschäftsvorgänge Eurosystems. Das wird deutlich, wenn man bedenkt,
betrachtet, die hinter den Target-Forderungen stehen, dass die jeweiligen nationalen Notenbanken bei den
werden Lasten und Risiken für die Bundesrepublik oben erwähnten ANFA- und ELA-Krediten sowie auch
Deutschland sichtbar, die niemals beabsichtigt waren, bei den Käufen von Staatspapieren im Zuge des PSPP
als der Maastrichter Vertrag geschrieben wurde, und die Ausfallrisiken eigentlich selbst tragen sollen, um
für die es keine demokratischen Beschlüsse gibt. die anderen Notenbanken vor Verlusten zu schützen.
Deutschland hat, finanziert durch das Target-System, Die jeweiligen Notenbanken müssen nämlich im Falle
Waren und Vermögenstitel hergegeben, für die die Tar- solcher Geldschöpfungskredite unabhängig von ihren
get-Schuldner ihm ewig Zinsen zahlen müssen. Wenn tatsächlichen Zinserträgen stets den normalen Zins
die Schuldner aber nicht zahlen können, wollen oder in Höhe des Hauptrefinanzierungssatzes in den Zins­
müssen, werden Deutschlands Target-Forderungen pool des Eurosystems abführen, von dem sie selbst
ausgehöhlt, wenn nicht vernichtet. Denn grundsätz- gemäß ihrer Landesgröße einen Anteil zurückbekom-
lich sind Deutschlands Target-Forderungen gleich dem men. Abweichungen des von ihnen tatsächlich erwirt-
ewigen Zinsstrom, auf den die Bundesbank aufgrund schafteten Zinses vom Hauptrefinanzierungssatz
der von ihr an andere Notenbanken vergebenen Über- nach oben und nach unten sollen sie selbst absorbie-
ziehungskredite zusätzlich zu ihren eigenen Zinsein- ren. Wenn sie Glück haben, machen sie einen Gewinn
nahmen Anspruch hat – so wie sich ja der ökonomi- und können die Abweichung nach oben an ihre meis-
sche Wert von Vermögenstiteln stets durch den Strom tens staatlichen Eigentümer ausschütten, und wenn
der von ihnen verdienten Rückflüsse ergibt. Diese Zins­ sie Pech haben und die Forderungen ausfallen, müs-
einnahmen stehen der Bundesbank im Zuge des Zins­ sen sie auf alle Ewigkeit Zinserträge an das Eurosys-
pooling zu. Grundsätzlich fließen alle Zinseinnahmen tem abführen, obwohl sie keine solchen Erträge mehr
des Eurosystems, die aufgrund von Geldschöpfungs- haben.
krediten erzielt werden, rechnerisch in einen Topf und Beim PSPP, dem Kaufprogramm für Staatspapiere,
werden dann gemäß der Landesgröße (Kapitalschlüs- war dies die Bedingung, die Bundesbankpräsident
sel) an die einzelnen Notenbanken zurückverteilt. So Jens Weidmann mit Rückendeckung des deutschen
soll erreicht werden, dass die Zinsen auf exzessive Verfassungsgerichts vor dem Beginn dieses Pro-
(den eigenen Größenanteil übersteigende) Geldschöp- gramms hat aushandeln können. Und am 28. Februar
fungskredite, die zu Nettoüberweisungen oder auch 2012, als Griechenlands erster Eurokonkurs kurz bevor-
Bargeldtransporten in andere Länder führten, jenen stand, stellte der Zentralbankrat zum Schutz der ande-
anderen Ländern zugeführt werden. Die akkumulier- ren Notenbanken alle griechischen Refinanzierungs-
ten Nettoüberweisungen werden in den Bilanzen der kredite kurzerhand auf ELA um.
Auftrag gebenden Länder als Target-Verbindlichkei- Tatsächlich gelingt der Haftungsausschluss durch
ten verbucht, und die (fiktiven, da nicht wirklich be­­ diese Maßnahmen nur sehr unvollständig, weil die Haf-
obachtbaren) akkumulierten Bargeldabflüsse werden tungsmasse der einzelnen Notenbanken begrenzt ist.
dort als Bargeldverbindlichkeiten ausgewiesen. Beide Zwar müssen die nationalen Notenbanken etwa-
Posten messen Kredite zwischen den Zentralbanken, ige Verluste nicht allein aus ihrem Eigenkapital inklu-
beide werden verzinst, und beide implizieren entspre- sive der Reserven kompensieren, denn sie verfügen
chende Risiken für die Kreditgeber. auch noch über die Einnahmen aus dem gemeinsa-
Aufgrund der normalen geldpolitischen Opera- men Zins­pool. Der Gegenwartswert der auf ein Land
tionen trägt die Bundesbank bereits dann ein Risiko, entfallenden Einnahmen ist das Geldschöpfungsver-
wenn irgendwelche Geschäftsbanken im Eurosystem mögen (Seignorage-Vermögen) der jeweiligen Noten-
nebst ihrer Pfänder ausfallen. Mit ihrem Kapitalanteil bank. Grundsätzlich ist dieses Geldschöpfungsver-
an der EZB in Höhe von 26% ist sie stets dabei, auch mögen gleich dem größenproportionalen Anteil
wenn es keine Target-Salden gibt. Sie verliert dann ein- (Kapitalschlüssel) des Landes am Gesamtbestand
malig die entsprechenden Vermögenstitel und dauer- des Zentralbankgeldes im Eurosystem (abzüglich der
haft die darauf entfallenden Zinsen. Doch ist ihr Risiko unverzinslichen Mindestreserve der Banken), weil die-

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ses Zentralbankgeld von den Notenbanken verzins- einer Zahlungsunfähigkeit der italienischen Zentral-
lich verliehen wurde und den Zinspool begründet. Das bank wegen eines Totalausfalls der italienischen Geld­
Geldschöpfungsvermögen erhöht die Haftungssumme schöpfungskredite mit 110 Mrd. Euro im Risiko, selbst
über das Eigenkapital hinaus. wenn die Haftung nach der ANFA-ELA-PSPP-Regel
Das Problem ist jedoch, dass das Geldschöp- allein in Italien liegen soll. Bedenkt man, dass das so
fungsvermögen bei einem Ausfall der nationalen Geld- definierte erweiterte Eigenkapital Bewertungsreser-
schöpfungskredite und einem Ausfall der sie sichern- ven in Höhe von 73 Mrd. Euro enthält, könnte das Risiko
den Pfänder bereits verbraucht würde, selbst wenn aber auch größer sein, denn vermutlich werden diese
es keine Target-Salden gibt und jedes Land gerade Bewertungsreserven in einer ernsten Krise schmelzen
so viel Geldschöpfungskredite vergibt, wie es seinem wie das Eis in der Sonne. In diesem Fall läge das deut-
Größenanteil entspricht. Die Notenbank muss dann sche Risiko trotz einer vermeintlichen Selbsthaftung
die normalen Zinsen in den Pool abführen, obwohl sie Italiens bei 136 Mrd. Euro.
keine erwirtschaftet. Die Zahlungsverpflichtung gegen-
über dem Zinspool kann sie gerade durch den Nichtbe- WARUM DER MÜNCHHAUSEN-TRICK NICHT
zug von Zinsen aus dem Pool erfüllen. FUNKTIONIERT
Wenn nun aber die nationale Geldschöpfung über
den proportionalen Anteil hinaus ausgeweitet wird, Diese Aussagen zur möglichen Insolvenz einer Noten-
um damit Auslandsüberweisungen zu finanzieren, bank im Innenverhältnis des Eurosystems lassen sich
wenn also verzinsliche Target-Salden entstehen, dann nicht mit dem Münchhausen-Argument entkräften,
hat die Notenbank ein Problem, wenn sie wegen des dass eine Notenbank nicht insolvent werden könne,
formellen Haftungsausschlusses der anderen Noten- weil sie sich ja jederzeit das Geld drucken könne, das sie
banken auf die Salden Zinsen abführen muss, die sie zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen braucht. Ein solches
nicht erwirtschaftet. Sie kann diese zusätzlichen Zins- Argument gebrauchte zum Beispiel der Prozessvertre-
verpflichtungen nicht mehr durch Rückflüsse aus dem ter Italiens vor dem Europäischen Gerichtshof bei der
Zinspool finanzieren, weil die schon verbraucht sind. mündlichen Verhandlung zum QE-Vorlagenbeschluss
Allein die Erträge auf ihr Eigenkapital stehen nun noch des Bundesverfassungsgerichts am 10. Juli 2018, als es
zur Verfügung. Nimmt man an, dass das Eigenkapital um die Frage der Risiken der PSPP-Staatspapierkäufe
zum Hauptrefinanzierungssatz sicher angelegt wurde für andere Notenbanken ging.
und nicht ebenfalls verloren geht, folgt, dass der Über- Die Gelddruckstrategie funktioniert nämlich nur
schuss der nationalen Target-Verbindlichkeit über das im Außenverhältnis, nicht im Innenverhältnis des Euro-
Eigenkapital nicht mehr gedeckt ist. Fallen auch die systems. Euro-Druckmaschinen haben die anderen
Zinserträge aus, die eine Notenbank aus jenen Geld- Notenbanken schließlich auch selbst.
schöpfungskrediten erwartet, die ihren negativen Tar- Richtig ist aber, dass die Banca d‘Italia die Zinsen,
get-Saldo verursachte, kann diese Notenbank ihre Ver- die sie an das Eurosystem abführen muss und die dann
pflichtung gegenüber dem Eurosystem nicht erfüllen über die nationalen Notenbanken an die Finanzminis-
und wird zahlungsunfähig. Die anderen Notenbanken ter der anderen Eurostaaten fließen sollen, auch über
haben in diesem Fall einen einmaligen Verlust in Höhe das Target-System sendet und sie insofern mit einem
der Differenz aus der Target-Verbindlichkeit und dem Anstieg des Target-Saldos, also weiteren Target-Über-
Eigenkapital bzw., wenn man diesen Verlust periodi- ziehungskrediten zu bezahlen versuchen könnte.
siert, einen dauerhaften Strom an jährlichen Verlusten Ob der Target-Saldo aufgrund der Übersendung
in Höhe der normalen Zinsen auf diese Differenz. der Zinsen an die anderen Notenbanken steigt, hängt
Von den so entstehenden Lasten des Eurosystems davon ab, wie die betrachtete Notenbank auf die Liqui-
müsste die Bundesbank beim Konkurs eines kleinen ditätsverknappung reagiert, die durch die Zahlung
Landes 26% übernehmen, weil das ihr Kapitalanteil ist. der Zinsen ausgelöst wird. Vergibt sie kompensie-
Im Fall eines Konkurses der Banca d‘Italia müsste sie rende Geldschöpfungskredite an das heimische Ban-
aber bereits 31% tragen, weil das Gewicht jener Län- kensystem, um die Liquiditätsversorgung auf dem
der, die sich den Verlust dann teilen müssen, wegen der alten Niveau zu sichern, steigt der Target-Saldo um die
Größe Italiens deutlich kleiner wird und Deutschland gezahlten Zinsen. Es kommt in diesem Fall zu einem
daran einen entsprechend größeren Anteil hat. Sollten Zinseszinseffekt, weil die durch die Zinszahlungen
auch noch die Zentralbanken der anderen südeuropä- erhöhten Target-Schulden in der nächsten Periode zu
ischen Krisenländer sowie Frankreichs insolvent wer- weiteren Zinsverpflichtungen führen.
den, läge der Verlustanteil der Bundesbank bereits bei Vergibt die Notenbank indes keine neuen Geld-
60%. schöpfungskredite, so kommt es durch die Zinszah-
Zur Jahresmitte 2018 betrug die italienische Tar- lungen für die Target-Salden zu einer Liquiditätsver-
get-Schuld 481 Mrd. Euro. Das war gut die Hälfte der knappung. Diese Liquiditätsverknappung würde den
Bilanzsumme von 2017 und 356 Mrd. Euro mehr als Anstieg der Target-Salden verhindern oder abbrem-
das Eigenkapital inklusive der Reserven (Rücklagen, sen, weil sie auf dem Weg über steigende Marktzin-
Rückstellungen und Umbewertungsgewinne), das bei sen zu einem Rückgang der Kreditnachfrage und einer
124 Mrd. Euro lag. Danach steht Deutschland im Falle Dämpfung der Konjunktur mit verminderten Ausga-

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ben für Importe sowie auch möglicherweise zu priva- ten stets bemüht war, im Sinne der EZB-Position die
ten Kapitalimporten führen würde. Beides würde die Verlust­risiken der anderen Notenbanken kleinzureden,
Target-Schuld für sich genommen vermindern und die explizit eingeräumt.
zinsbedingte Erhöhung dieser Schuld kompensieren.
Die Zinsen könnten in diesem Fall nicht durch neue WAS GESCHIEHT BEIM EUROAUSTRITT?
Überziehungskredite im Eurosystem finanziert wer-
den, sondern müssten selbst erwirtschaftet werden, Die zuletzt genannten Fälle implizieren Verluste auf die
was aber wegen der angenommenen Überschuldung Target-Forderungen des Eurosystems gegenüber über-
nicht gelingt. schuldeten nationalen Notenbanken, an denen die Bun-
Der Versuch, die Target-Zinsen über das Tar- desbank nicht nach Maßgabe ihrer eigenen Target-For-
get-System zu finanzieren, ist vergleichbar dem Ver- derungen, sondern nach Maßgabe ihres Kapitalanteils
such eines insolventen Bankkunden, seine Bank davon am Eurosystem beteiligt ist. Solche anteiligen Ver­
zu überzeugen, ihm einen neuen Kontokorrentkredit zu lustrisiken ergeben sich möglicherweise auch, wenn
geben, damit er damit seine alten Zinsverpflichtungen einzelne Länder das Eurosystem verlassen sollten.
erfüllen kann. Das wäre eine Art von einvernehmlicher Der Präsident der EZB, Mario Draghi, hat zwar in
Konkursverschleppung, die die Liquiditätsprobleme einem Brief an Cinque-Stelle-Abgeordnete des Europa-
zwar temporär löst, doch nur um den Preis einer noch parlaments betont, dass sich die Banca d‘Italia durch
größeren Überschuldung und noch größerer Verluste einen Austritt aus dem Euro nicht der Rückzahlung ent-
der Bank in der Zukunft. ziehen könne, sondern ihre Target-Schuld vollständig
Auch der in diesem Zusammenhang häufig zu begleichen müsse. Was er freilich nicht gesagt hat, ist,
hörende Hinweis darauf, dass eine Notenbank mit dass die Banca d‘Italia das vermutlich gar nicht könnte,
negativem Eigenkapital arbeiten kann, hilft nicht viel weil sie in diesem Fall wohl in Konkurs ginge, da ihre
weiter. So vertrat die Prozessvertreterin der EZB bei der Forderungen gegen private und öffentliche Schuldner
gleichen Anhörung vor dem EuGH die Meinung, andere auf abgewertete Lira lauten würden, während ihre rie-
Notenbanken hätten selbst im Falle eines Staats­ sigen Target-Schulden von bald einer halben Billion
konkurses kein Risiko aus dem Aufkauf von Staats­ Euro nicht abgewertet würden.
papieren eines bestimmten konkursgefährdeten Staa- Das könnte einer der Gründe dafür sein, dass die
tes im Rahmen des QE-Programms, weil eine natio- neue italienische Regierung der beiden extremen Par-
nale Notenbank mit negativem Eigenkapital arbeiten teien Cinque Stelle und Lega einen Konfrontationskurs
und insofern nicht in Konkurs gehen könne. Diese Aus- mit der EU angekündigt haben, der jene Kapitalflucht
sage ist leider ebenfalls unrichtig. Eine Notenbank kann auslöste, die sich in dem enorm starken Anstieg des ita-
zwar mit negativem Eigenkapital arbeiten, weil sie auch lienischen Target-Saldos im zweiten Quartal 2018 nie-
noch ihr Geldschöpfungsvermögen, also ihre normalen derschlug. Je mehr privates Kapital aus Italien in deut-
Ansprüche an den gemeinsamen Zinspool, verwerten sche Vermögensanlagen flieht und je mehr dadurch die
kann. Doch wenn das Geldschöpfungsvermögen wie Target-Salden steigen, desto größer ist der Vermögens-
in dem im vorigen Abschnitt diskutierten Fall bereits gewinn durch den Konkurs der italienischen Zentral-
durch Abschreibungsverluste auf die normalen Geld­ bank, den Italien für sich im Falle eines Austritts verbu-
schöpfungskredite verbraucht ist, dann wird die Haf- chen kann. Denn mit der privaten Kapitalflucht wird die
tungsgrenze überschritten, wenn die bezogenen Tar- Bundesbank zur Kreditierung der neuen Anlagen und
get-Kredite ihr Eigenkapital überschreiten und auch zur Umschuldung alter Kredite gezwungen, was bedeu-
die hinter ihnen stehenden zusätzlichen Geldschöp- tet, dass die Bundesbank und damit der deutsche Staat
fungskredite an die Banken ausfallen. Trotz des for- im gleichen Umfang Kapital nach Italien schickt. Doch
mellen Haftungsausschlusses impliziert dieser Fall eine während das in Deutschland liegende Flucht­kapital
faktische Haftung anderer Notenbanken im Umfang Anlagen sucht, die es im Falle des Falles vor einem
der Differenz zwischen Target-Schuld und Eigenkapi- Währungsschnitt schützen, hat die Bundesbank bloße
tal. Im vorigen Abschnitt war schon berechnet worden, Buchforderungen, die sie kaum wird eintreiben kön-
dass diese Differenz in Italien bei 356 Mrd. Euro liegt. nen und bei denen sie hoffen muss, dass wenigstens
Davon unabhängig haben bei der Verhandlung die anderen Notenbanken des Eurosystems anteilig
vor dem EuGH verschiedene Prozessvertreter klarge- bereit sind, die Verluste mitzutragen.
macht, dass in Wahrheit schon bei geringeren Abschrei- Man könnte nun meinen, bei ernsthaften Finanz-
bungsverlusten damit zu rechnen ist, dass es zu einer problemen werde der italienische Staat der Banca
Gemeinschaftshaftung kommt. So wurde einhellig die d‘Italia unter die Arme greifen, um sie wieder funk­
Meinung vertreten, dass der EZB-Rat im Falle eines tionsfähig zu machen. Insofern sei es gar nicht vor-
Staatskonkurses nach § 32.4 seiner Satzung die Verge- stellbar, dass sich die Risiken realisieren. Das würde
meinschaftung der Verluste der nationalen Notenbank jedoch wohl eher nicht passieren, denn erstens ist eine
dieses Staates beschließen und insofern also die Ver- Nach­schusspflicht der Staaten gegenüber ihren Zent-
einbarung, die Präsident Weidmann heraushandeln ralbanken im Eurosystem vertraglich nicht vorgese-
konnte, wieder aufheben würde. Vor dem EuGH hat hen, und zweitens würde die Erfüllung einer solchen
dies sogar der Prozessvertreter der EU, der ansons- Nachschuss­pflicht ja nur bedeuten, dass dadurch die

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ausländischen Gläubigernotenbanken, allen voran die längst nicht mehr so viel wert ist, wie die Bundesbank
Bundesbank, vor Verlusten geschützt werden. Es ist bilanziert. Den Verlust aufgrund eines Verzichts auf
aus italienischer Sicht viel besser, in einem solchen Fall markt­übliche Kreditkonditionen bei einer Fortführung
die alte Zentralbank abzuwickeln und in ihren Räumen des Eurosystems unter heutigen Bedingungen trägt
und mit dem alten Personal eine Banca d‘Italia nuova eine jede Notenbank nach Maßgabe ihrer eigenen Tar-
zu gründen, die frei von den Target-Schulden starten get-Forderung allein.
kann. Die mit den Überweisungen erworbenen Vermö- Für einen solchen Verlust gibt es drei Gründe. Ers-
gensobjekte im Ausland blieben unterdessen fest in ita- tens kann die Bundesbank, wie erwähnt, diese Forde-
lienischer Hand. rungen niemals fällig stellen. Zweitens ist der Zins für
die dahinterstehenden Überweisungskredite derzeit
FALLEN DIE TARGET-SALDEN NACH EINEM null, weil er ja dem Hauptrefinanzierungssatz gleicht,
EUROAUSTRITT? der 2016 auf null reduziert wurde. Und drittens bestim-
men die Schuldnerländer im EZB-Rat – konkret jene
Es ist unter Verweis auf eine Studie von Oxford Econo- Länder, die über eine negative Nettoauslandsposition
mics behauptet worden, auch im Falle einer Rückkehr im Hinblick auf alle öffentlichen und privaten grenz­
Italiens zur Lira drohe kein Verlust der Target-Forde- überschreitenden Eigentums- und Schuldtitel ver-
rungen gegen Italien, weil die Lira abwerten und dann fügen – mit der Mehrheit von über 60%, die sie dort
italienische Anlagen attraktiv für ausländisches Kapi- haben, selbst den Zins. Jedes private Finanzinstitut
tal machen würde. Die entsprechenden Auslandsüber- und jede Firma müsste Forderungstitel mit ähnlichen
weisungen für Käufe von Vermögensobjekten in Italien Charakteristika abschreiben und sich zu den Verlusten
würden den Target-Saldo Italiens wieder verringern bekennen.
und somit die Schuld gegenüber dem Eurosystem eli- So gesehen würde die korrekt berechnete Netto-
minieren. Auch diese Aussage ist falsch, denn wenn Ita- auslandsposition Deutschlands durch eine mögliche
lien austritt, nimmt es nicht mehr am Target-System Auflösung des Euro oder mögliche Austritte einzelner
teil, was bedeutet, dass ein Kapitalimport keine kom- Länder nicht einmal kleiner, denn wenn Deutschland in
pensierenden Target-Forderungen aufbauen kann. Form der Target-Forderungen etwas verliert, was ohne-
Im Übrigen häufen sich im Falle eines freien Wechsel- hin keinen Wert hat, wird es nicht ärmer. Das ist freilich
kurses auch keine Devisenbestände bei der Banca ein schwacher Trost.
d‘Italia an, die sie für eine Tilgung verwenden könnte. Gelegentlich äußern Beobachter die Hoffnung,
Defini­tionsgemäß ist ein Wechselkurs frei, wenn die dass die Target-Salden in Kürze wieder verschwinden
Notenbanken fremde Währungen weder kaufen noch werden, weil die Krisenländer des Eurosystems nun als-
verkaufen. bald aus ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten her-
auskommen und ihre Banken und Staaten gesunden,
EIN VOLLVERLUST DER DEUTSCHEN TARGET- so dass private Kapitalanleger aus aller Welt wieder
FORDERUNG IST MÖGLICH bereit sind, die weitere Finanzierung dieser Länder zu
den gleichen oder besseren Konditionen zu überneh-
Vollständig im Risiko steht die deutschen Target-For- men als die Notenbanken. Dann gingen die Target-Sal-
derung, sollte der Euro zerbrechen. In diesem Fall ist den in der Tat wieder zurück, weil es keinen Grund mehr
damit zu rechnen, dass Deutschland seine gesamte gebe, öffentliche statt privater Schulden im Ausland zu
Target-Forderung verliert, weil die Rechtsbasis der Tar- machen. Nur ist das schon während der letzten zehn
get-Kredite für diesen Fall nicht definiert ist. Wie erläu- Jahre nicht passiert, und es wird auch weiterhin ver-
tert, wurde das Target-System nicht von den Parlamen- mutlich nicht geschehen, weil es insbesondere für die
ten, sondern vom EZB-Rat selbst beschlossen, doch für Krisenländer verlockend bleiben wird, ihre Macht über
den Fall der Beendigung des Eurosystems hat dieser die Zinsen für die Überziehungskredite im Eurosystem
Rat keine Vorkehrungen getroffen. so einzusetzen, dass diese Kredite günstiger als am
Dieses Extremszenarium wird hoffentlich nie ein- Kapitalmarkt zu haben sind.
treten, doch ist es insofern für die weitere Entwick- In Italien, der weitaus größten Volkswirtschaft
lung der Eurozone relevant, als es den Krisenländern Südeuropas, sieht es im Übrigen derzeit eher so
ein glaubhaftes Drohpotenzial für das Erstreiten einer aus, als würde sich der Zinsabstand zwischen den
europäischen Transferunion an die Hand gibt. Ent- öffentlichen Target-Krediten und den privaten Kredi-
weder rücken die nördlichen Länder das Geld frei- ten des Kapitalmarktes in den nächsten Jahren eher
willig heraus, oder man holt es sich, indem man eine noch ver­größern, weil sich die Schuldensituation
Krise nebst Kapitalflucht und Notenbankkonkurs abermals dramatisch verschlechtern könnte. Nach
provoziert. den Vorstellungen, die die neue Regierung zu Sozial-
Eine weitere Möglichkeit dafür, dass Deutsch- programmen und Steuersenkungen verkündet hat,
land den Verlust seiner Target-Forderung nicht mit an­- soll das Budgetdefizit des Staates von den 2,3% des
deren Ländern wird teilen können, ergibt sich schon Jahres 2017 um weitere 5 Prozentpunkte auf etwa
daraus, dass diese Forderung nicht zu marktüblichen 7,5% steigen. Das ist das genaue Gegenteil dessen,
Konditionen verzinst wird und insofern heute schon was die Hoffnung auf eine Senkung der Zinsspreads

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und eine Rückkehr privaten Kapitals nach Italien pen abgewickelt werden müssten, wie es eingangs
begründen könnte. beschrieben wurde. Da die dafür nötige private Kre-
ditvergabe nur zu höheren Zinsen stattfinden würde,
WAS TUN? käme es zu einem automatischen marktmäßigen Aus-
gleich zwischen Kreditangebot und -nachfrage auf dem
Ein System, das unbegrenzte Überziehungskredite europäischen Interbankenmarkt, der die Schuldner-
zulässt, kann nicht überleben, weil es nicht zur Knapp- länder zu mehr Zurückhaltung beim Versuch, ausländi-
heit der Ressourcen in der Wirklichkeit passt. Es führt sche Waren und Vermögenswerte zu erlangen, veran-
zwangsläufig zur Überdehnung der Ansprüche, bis lassen würde. Der Vorschlag erinnert an die im Volumen
es aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen begrenzten Sonderziehungsrechte beim Internatio-
zerbricht. nalen Währungsfonds, die im Bretton-Woods-System
Eine Möglichkeit, diese Konsequenz zu vermeiden, bestanden.
besteht darin, das Notenbankgeld in den Krisenländern Sicherlich müsste man bei einer solchen Lösung
wieder knapp zu machen, damit dort die Zinsen stei- einen Übergangspfad definieren, der vom jetzigen Sys-
gen und privates Kapital attrahiert wird. Das würde zu tem schonend in das neue System führt und genug Zeit
Rücküberweisungen der Kapitalanleger führen und die für den Aufbau der privaten Clearing-Instanzen oder
Target-Salden wieder fallen lassen. Die Verknappung internationaler Bankengruppen lässt. So sollte man
des Notenbankgeldes könnte durch die Rücknahme den Schritt lange vor seiner Realisierung ankündi-
der oben genannten geldpolitischen Gründe für den gen und zunächst mit Strafzinsen versehene Möglich­
Anstieg der Salden geschehen. So könnte die Vollzutei- keiten zur Überschreitungen der Obergrenze zulassen.
lungspolitik wieder aufgegeben werden; man könnte Ohne die Obergrenze hätten die privaten Clearing-
für die Gewährung von ELA-Krediten statt für deren Instanzen eine dauerhaft unschlagbare Konkurrenz
Blockade eine Zwei-Drittel-Mehrheit verlangen; die in Form des Target-Systems der EZB und könnten nie-
Mindestbonität der Pfänder für Refinanzierungskredite mals wirtschaftlich agieren. Mit der Obergrenze käme
könnte deutlich angehoben werden; das ANFA-Abkom- es indes zu einer grenzüberschreitenden Integration
men könnte beendet werden; und schließlich könnte der nationalen Bankensysteme, und die derzeitige
das QE-Programm rückabgewickelt werden. Das alles Fragmentierung der privaten Kapitalmärkte ließe sich
würde sicherlich wirken. Aber es wäre der Versuch, überwinden.
Drogenabhängige zu bewegen, selbst für den Entzug 2. Der Anreiz, Target-Salden durch eine übermä-
zu optieren. Die Machtstrukturen in der EZB sind leider ßige lokale Kreditgeldschöpfung aufzubauen, könnte
so, dass eine Änderung nur auf rechtlichem oder poli- auch durch die Verpflichtung verringert werden, die
tischem Wege von außen erreicht werden kann, indem Target-Salden zu tilgen. Die einfachste Möglichkeit der
das Mandat der EZB stärker beschränkt wird. Tilgung liegt darin, dass die Target-Schulden wie im
Konkret bieten sich folgende Möglichkeiten an, die Bretton-Woods-System mit Gold ausgelöst werden.
allein oder in Kombination realisiert werden könnten. Gold ist ein auf der ganzen Welt verwendetes Transak-
All diese Möglichkeiten werden Interessengegensätze tionsmittel, das sich eine jede noch nicht überschul-
zwischen Deutschland, den internationalen Kapital- dete Zentralbank bei Bedarf besorgen kann, indem sie
anlegern und den Schuldnerländern aufbrechen las- andere Vermögenstitel verkauft.
sen, wobei die letzten beiden Gruppen das derzeitige Auch die Zahlungssalden zwischen den Banken
Selbstbedienungssystem natürlich am liebsten erhal- der USA wurden in den ersten hundert Jahren des Dol-
ten würden. Dennoch kann Deutschland niemandem lar stets mit Gold getilgt, ja sogar noch später, als man
die Diskussion der Optionen ersparen. zum Federal Reserve System mit seinen zwölf Distrikt­
1. Der einfachste Weg bestünde darin, jedem Land notenbanken überwechselte. In Europa könnte man
eine feste, zu seiner Wirtschaftsleistung proportionale eine Tilgung durch immobiliengesicherte Pfandbriefe
Obergrenze für die Target-Verbindlichkeit vorzuschrei- zulassen, die hier weit verbreitet sind. All diese Maß-
ben, die es nicht überschreiten darf. Nach dem oben nahmen würden die Selbstbedienung durch das Tar-
Gesagten könnte diese Grenze durch das Eigenkapital get-System verhindern und von allein zu einer Verringe-
inklusive der Reserven der jeweiligen Notenbank defi- rung der Salden führen, weil damit eine Unterbietung
niert werden, um sicherzustellen, dass diese Noten- der Konditionen des Kapitalmarktes verhindert würde.
bank selbst dann die Zinsen auf ihre Target-Verbind- 3. Die Staaten könnten eine formelle Nachschuss­
lichkeiten zahlen kann, wenn die hinter ihnen und der pflicht für die Rekapitalisierung ihrer Notenbanken
normalen Geldmenge stehenden Geldschöpfungskre- erhalten, damit die oben beschriebene Strategie des
dite ausfallen. Schürens einer Krise mit anschließendem Notenbank-
Eine Obergrenze zu setzten heißt nicht notwen- konkurs zum Zweck der Erhöhung der Target-Sal-
digerweise, wie manchmal behauptet wird, dass der den über eine Kapitalflucht gar nicht erst in Betracht
Zahlungsverkehr bei deren Erreichen zusammenbre- kommt. Wenn eine Regierung weiß, dass sich die eigene
chen würde, sondern nur, dass darüberhinausgehende Volkswirtschaft nicht auf dem Wege des Notenbank-
Überweisungswünsche über private Clearing-Instan- konkurses der Rückzahlung der Target-Schulden ent-
zen oder innerhalb länderübergreifender Bankengrup- ziehen kann, hat sie wenig Anreiz, das Feuer zu schü-

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ren und den Euroaustritt als Drohpotenzial für eine nach dem Muster der Schweizer Notenbank verfah-
Verhandlung über eine Transferunion in den Raum zu ren und mit eigener Währung ein internationales Ver-
stellen, wie es die neue italienische Regierung in aller mögensportfolio zusammenkaufen, um den Kursan-
Deutlichkeit getan hat und vielleicht wieder tun wird. stieg wirksam zu verhindern. Was die kleine Schwei-
Die Nachschusspflicht würde deshalb den Bestand des zer Notenbank schafft, würde der großen Bundesbank
Eurosystems sichern helfen. allemal gelingen. Ähnlich hat in den letzten Jahren
4. Dessen ungeachtet sollte nicht unerwähnt blei- auch der norwegische Sovereign Wealth Fund agiert.
ben, dass sich Deutschland, wenn alles nicht hilft, Das so entstandene Vermögensportfolio wäre das
durch einen Austritt aus dem Euro vor einer weite- Pendant ansonsten weiter wachsender Target-Forde-
ren Erhöhung der Target-Salden schützen könnte. Die rungen, hätte aber den Vorteil, dass Deutschland dar-
alten Forderungen wären dann zwar vermutlich verlo- auf in der absehbaren demographischen Krise, die sei-
ren, doch kämen wenigstens keine neuen uneinbring- nem Staatswesen in den 2030er Jahren bevorsteht,
lichen Forderungen hinzu. Durch sofort verhängte zurückgreifen könnte, um die Versorgung der Bevöl-
Kapitalverkehrskontrollen könnte Deutschland ver- kerung zu sichern. Das wäre natürlich ein radikaler
hindern, dass privates Kapital hereinströmt und über Schritt, bei dem noch viele andere Dinge zu beachten
den Target-Mechanismus den gegenläufigen Abfluss wären, deren Erörterung den Rahmen dieses Beitrags
öffentlichen Kapitals erzwingt. Nach dem Austritt übersteigt und der deshalb auch nicht als Empfehlung
und der Rückkehr zur D-Mark könnte der Kapitalver- verstanden werden sollte.
kehr unverzüglich frei gegeben werden. Wenn es dann So oder so muss aber etwas geschehen. So wie bis-
zu einer Aufwertung zu kommen droht, die über das lang kann das Target-System nicht weiterbestehen.
gewünschte Maß hinausgeht, könnte die Bundesbank

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

Martin Mosler und Niklas Potrafke

Donald Trump und der Westen


Eine Beschreibung des sich ändernden Verhältnisses
auf Basis von Abstimmungsdaten in der UN-General­
versammlung

Die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich im ersten Amtsjahr von Donald Trump von
ihren westlichen Verbündeten entfremdet. Das zeigt unsere Analyse des Abstimmungsver-
haltens in der UN-Generalversammlung von den Ländern der G 7, NATO, OECD und WEOG.
Die Übereinstimmungsrate bei UN-Resolutionen sank um bis zu 13,2 Prozentpunkte im Ver-
gleich zum Durchschnitt des ersten Amtsjahres aller US-Präsidenten vor Trump. Besonders
bei Themen der ökonomischen Entwicklung und des Israel-Palästina-Konflikts wichen die
Positionen stark ab. Trotzdem sind die Differenzen bislang kleiner als in den Anfangsjahren
der US-Präsidenten Bush sen. und Bush jun. Donald Trump steht also bislang überraschen-
derweise besser da, als man aufgrund der medialen Darstellung erwarten würde.

US-Präsident Donald Trump hat seine engsten Ver- Wir untersuchen, ob sich die traditionell stark aus-
bündeten in Fragen auf eine noch nie dagewesene geprägten Gemeinsamkeiten im Abstimmungsverhal-
Art und Weise düpiert. Während er beim G-7-Gip- ten der westlichen Länder in der UN-Generalversamm-
fel Anfang Juni 2018 den kanadischen Präsidenten lung im ersten Amtsjahr von Donald Trumps abge-
Trudeau als »unehrlich und schwach« und Deutsch- schwächt haben und wie stark ein etwaiger Effekt im
land im Rahmen des NATO-Gipfels im Juli 2018 als Vergleich zu Änderungen im Abstimmungsverhalten
einen »Gefangenen Russlands« bezeichnete, zeigte unter anderen US-Präsidenten war. Dabei betrachten
er beim kürzlichen Treffen mit Vladimir Putin in Hel- wir sowohl alle Abstimmungen über Resolutionen seit
sinki eine große Nähe zum russischen Präsidenten. 1946 als auch die sogenannten US-Schlüsselabstim-
Das derzeitige Verhältnis der Vereinigten Staaten von mungen (US key votes). Dies sind Abstimmungen, die
Amerika zu den anderen führenden Industrienatio- das amerikanische Außenministerium seit 1983 in der
nen bereitet Sorgen. Droht der Westen in seiner bis- UN-Generalversammlung als besonders bedeutsam
her gekannten Form zu zerbrechen? für die Vereinigten Staaten von Amerika einschätzt.
Dass Donald Trump wenig auf bestehende Allianzen
und Verabredungen mit anderen Industrieländern TRUMP VERPRELLT DIE WESTLICHEN PARTNER, …
achten würde, hat sich schon vor seinem Amtsantritt
angekündigt. Mit dem Slogan »America First« hat er die Unsere Datengrundlage sind die von Voeten (2017) auf-
Wahl gewonnen – und interpretiert sein Motto seitdem bereiteten und von uns für das Jahr 2018 vervollstän-
ausgesprochen statisch. Langfristig kann es sich für digten Daten zu allen 5 599 Resolutionen in der UN-Ge-
die Vereinigten Staaten von Amerika kaum auszahlen, neralversammlung seit dem Jahr 1946, über die die Ver-
internationale Partner der westlichen Wertegemein- einigten Staaten von Amerika abgestimmt haben. Der
schaft so zu verprellen. Datensatz berücksichtigt auch die US-Schlüsselresolu-
Interessant zu untersuchen ist daher, ob und, tionen, die das amerikanische Außenministerium seit
wenn ja, wie sehr sich die Vereinigten Staaten von Ame- dem Jahr 1983 ausweist. Wir folgen verwandten empi-
rika und befreundete Industrieländer auf der interna­ rischen Studien und kodieren Übereinstimmungen
tionalen Bühne bereits entfremdet haben. Ein wichti- beim Abstimmungsverhalten zwischen einer Nation
ges in der politisch-ökonomischen Literatur verwen- und den Vereinigten Staaten von Amerika mit 1, schwa-
detes Maß für politische Gemeinsamkeiten ist das che Abweichungen1 mit 0,5 und starke Abweichungen2
Abstimmungsverhalten in der Generalversammlung mit 0 (»Übereinstimmungsrate«).
der Vereinten Nationen (UN-Generalversammlung).
Insbesondere das Abstimmungsverhalten anderer 1
Unter schwachen Abweichungen definieren wir Abstimmungen,
bei denen eine Nation mit »Ja« bzw. »Nein« stimmte, während die
Nationen mit den Vereinigten Staaten von Amerika hat andere zu vergleichende Nation mit »Enthaltung« stimmte.
in der Wissenschaft ein großes empirisches Interesse 2
Unter starken Abweichungen definieren wir Abstimmungen, bei
denen eine Nation mit »Ja« bzw. »Nein« stimmte, während die an
geweckt (vgl. z.B. Thacker 1999; Potrafke 2009; Dreher dere zu vergleichende Nation dazu gegenteilig mit »Nein« bzw. »Ja«
und Jensen 2013). stimmte.

38 ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018


FORSCHUNGSERGEBNISSE

Abb. 1 zentpunkte (NATO-Mitglied-


Durchschnittliche Übereinstimmungsrate pro Jahr zwischen den Vereinigten Staaten von staaten). Qualitativ ähnliche
Amerika und westlichen Partnern bei Abstimmungen in der UN-Generalversammlung Ergebnisse lassen sich auch
NATO OECD WEOG G7 für die US-Schlüsselresolu­
Truman Eisenhower JFK Johnson Nixon Ford Carter Reagan Bush sen. Clinton Bush jun. Obama Trump tionen festhalten: Zwar lag die
1,0
Übereinstimmungsrate mit
61,9% (WEOG-Ländergruppe3)
0,8
bis 66,2% (G 7) etwas höher,
jedoch sank auch hier das über-
0,6
einstimmende Wahlverhalten
0,4
um etwa 6 Prozentpunkte im
Vergleich zu der Zeit vor Trump.
0,2 Derzeit ist schwer abzu-
schätzen, ob die beobach-
0 teten Abweichungen unter
1945 1950 1955 1960 1965 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 2015
Trump nur ein besonderer
Anmerkung: Alle Resolutionen. Ungewichteter Durchschnitt über alle Nationen einer Ländergruppe ohne die Vereinig-
ten Staaten von Amerika pro Jahr. Effekt der Anfangszeit des
Quelle: Voeten (2017); Berechnungen des ifo Instituts. © ifo Institut neuen US-Präsidenten sind
Tab. 1 oder sich als genereller Trend
seiner Präsidentschaft mani-
Tab. 1
festieren werden. Wir haben
Durchschnittliche Übereinstimmungsrate zwischen den Vereinigten Staaten daher jene Abstimmungen in
von Amerika und westlichen Partnern bei Abstimmungen in der UN-General- der UN-Generalversammlung
versammlung gesondert untersucht, die nur
Resolutionen vor bzw. seit der Präsidentschaft von Donald Trump im ersten Jahr einer US-Prä-
Alle Resolutionen seit 1946 US-Schlüsselresolutionen seit 1983 sidentschaft erfolgten (vgl.
vor Trump seit Trump vor Trump seit Trump Tab. 2). Die Ergebnisse fallen
G7 63,9% 56,0% 72,0% 66,2%
noch deutlicher aus: Zwar ist
N = 22 872 N = 567 N = 2 360 N = 102
OECD 59,8% 51,1% 68,2% 62,3% die durchschnittliche Überein-
N = 112 405 N = 3 206 N = 10 534 N = 577 stimmungsrate bei allen ame-
NATO 63,0% 52,7% 69,1% 62,9% rikanischen Präsidentschaf-
N = 85 963 N = 2 639 N = 7 704 N = 475
WEOG 60,6% 51,6% 68,4% 61,9%
ten im ersten Amtsjahr etwas
N = 112 026 N = 2 635 N = 10 133 N = 474 höher, jedoch haben die neu
Anmerkung: Ungewichteter Durchschnitt über alle Nationen einer Ländergruppe ohne die Vereinigten Staaten gewählten US-Präsidenten vor
von Amerika pro Jahr.
Quelle: Voeten (2017); Berechnungen des ifo Instituts. Trump viel enger mit den west-
lichen Partnern kooperiert.
Die Differenz bei der Überein-
Abbildung 1 zeigt, wie oft verschiedene westli- stimmungsrate im ersten Jahr einer US-Präsident-
che Ländergruppen im jährlichen Durchschnitt in der schaft von Trump im Vergleich zu seinen Amtsvor-
UN-Generalversammlung gemäß der obigen Kodie- gängern liegt zwischen 9,7 Prozentpunkten (G 7) und
rung mit den Vereinigten Staaten gestimmt haben. 13,2 Prozentpunkten (NATO) für alle Resolutionen.
Insgesamt ist seit den 1960er Jahren ein abneh- Für die US-Schlüsselresolutionen beträgt der Unter-
mender Trend bei übereinstimmenden Abstimmun- schied zwischen der Trump-Administration und den
gen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika anderen US-Präsidenten im ersten Amtsjahr weiter-
und den Partnern in der UN-Generalversammlung hin ca. 6 Prozentpunkte.
festzustellen. Regressionsergebnisse, die auch länder- und
Ein deutlicher Rückgang der Übereinstimmungen zeitspezifische fixe Effekte enthalten, weisen darauf
ist seit dem Amtsantritt von US-Präsident Trump aus- hin, dass der Rückgang der beobachteten Überein-
zumachen (vgl. Tab. 1). In der UN-Generalversamm- stimmungsraten seit dem Amtsantritt von US-Präsi-
lung wurde seit Januar 2017 über 95 Resolutionen dent Trump auf einem 1%-Niveau statistisch signifikant
abgestimmt, wovon 17 (17,9%) US-Schlüsselabstim- ist. Dies gilt für alle Resolutionen und für die US-Schlüs-
mungen waren. Insgesamt lag die Übereinstimmungs- selresolutionen für alle betrachteten Ländergruppen,
rate beim Abstimmungsverhalten mit den Vereinig- sowohl bei Betrachtung nur des ersten Amtsjahres
ten Staaten von Amerika in dieser Zeit nur zwischen von US-Präsidenten wie beim Durchschnitt über die
51,1% (OECD-Mitgliedstaaten) und 56,0% (G-7-Län- gesamte Zeit der US-Präsidentschaften.
der). Verglichen mit dem Durchschnitt aller Reso-
lutionsabstimmungen vor dem Beginn der Trump- 3 Die Western Europeans and Others (WEOG)-Ländergruppe ist eine
Adminis­tration sank die Übereinstimmungsrate somit der fünf (inoffiziellen) Regionalgruppen in den Vereinten Nationen,
die bei Verhandlungen und Abstimmungen oft als gemeinsame
um 7,9 Prozentpunkte (G 7) bzw. sogar um 10,3 Pro- Wählergruppe auftreten.

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

Tab. 2

Tab. 2 ner mit den Vereinigten Staa-


Durchschnittliche Übereinstimmungsrate zwischen den Vereinigten Staaten ten von Amerika hätte erwar-
von Amerika und westlichen Partnern bei Abstimmungen in der UN-General- ten können.
versammlung
Resolutionen im ersten Jahr einer US-Präsidentschaft vor bzw. seit der Präsidentschaft
Auch im ersten Amts-
von Donald Trump jahr von George W. Bush jun.
stimmten die westlichen Part-
Alle Resolutionen im ersten Amts- US-Schlüsselresolutionen im ersten
jahr eines US-Präsidenten seit 1946 Amtsjahr eines US-Präsidenten seit ner noch weniger mit den Ver-
1989 einigten Staaten von Ame-
vor Trump seit Trump vor Trump seit Trump rika, als sie es bei der jetzigen
G7 66,3% 56,6% 72,3% 66,2% US-Präsidentschaft taten. Die
N = 3 254 N = 561 N = 292 N = 102
Differenz zum ersten Amts-
OECD 63,1% 51,5% 66,6% 62,3%
N = 16 421 N = 3 174 N = 1 216 N = 577 jahr von Trump betrug in der
NATO 66,5% 53,3% 69,3% 62,9% Anfangszeit von George W.
N = 12 367 N = 2 612 N = 904 N = 475
Bush jun. zwischen 0,8 (NATO)
WEOG 64,9% 52,0% 67,2 61,9%
N = 17 854 N = 2 609 N = 1 229 N = 474 und bis zu 3,0 (G 7) Prozent-
Anmerkung: Ungewichteter Durchschnitt über alle Nationen einer Ländergruppe ohne die Vereinigten Staaten punkten. Eine Ausnahme bil-
von Amerika pro Jahr.
Quelle: Voeten (2017); Berechnungen des ifo Instituts.
det die WEOG-Re­gionalgruppe
in der UN-Generalversamm-
lung, die unter George W.
… ALLERDINGS NICHT SO SEHR WIE DIE BEIDEN Bush jun. durchschnittlich leicht mehr mit den Ver-
BUSH-PRÄSIDENTEN ZUM AMTSANTRITT einigten Staaten von Amerika stimmten als im ers-
ten Amtsjahr von Donald Trump. Insgesamt ist jedoch
Wenngleich die anderen westlichen Industrielän- der Effekt der neuen Doktrin der Vereinigten Staa-
der deutlich weniger gemeinsam mit den Vereinigten ten von Amerika, die von George W. Bush jun. im Rah-
Staaten von Amerika unter Donald Trump abstimm- men der Nationalen Sicherheitsstrategie (National
ten im Vergleich zum Durchschnitt aller vorherigen Security Strategy) definiert wurde und die hegemo-
US-Präsidenten, so gibt es eine Überraschung: Die niale Vormachtstellung Amerikas über multilaterale
Abweichungen bei den UN-Abstimmungen waren Absprachen priorisierte, im UN-Abstimmungsverhal-
unter den beiden Bush-Präsidenten noch größer ten sichtbar.
(vgl. Tab. 3). Besonders groß waren die Differenzen zwischen
Betrachtet man das erste Amtsjahr vom ehema- George W. Bush jun. und den westlichen Partnern,
ligen US-Präsidenten George H. W. Bush sen., so war wenn man anstatt des ersten Jahres seine gesamte Prä-
die Übereinstimmungsrate mit den westlichen Part- sidentschaft betrachtet. So stimmten sogar alle westli-
nern in der UN-Generalversammlung – mit Ausnahme chen Ländergruppen mehrheitlich nicht mit den Verei-
der übrigen G-7-Länder – um nochmals 1,6 (NATO) bis nigten Staaten von Amerika: Die Übereinstimmungsra-
4,6 Prozentpunkte (WEOG) geringer als unter Donald ten für die gesamte Amtszeit von George W. Bush jun.
Trump. Dies ist überraschend, weil das erste Amtsjahr bewegen sich zwischen 44,7% (OECD) und 48,4% (G7),
von George H. W. Bush sen. mit dem Zusammenbruch und damit um bis zu 7,6 Prozentpunkte geringer im Ver-
des Warschauer Paktes koinzidierte und man daher gleich zur bisherigen Trump-Präsidentschaft.
Tab. 3
einen größeren Zusammenhalt der westlichen Part- Qualitativ ähnliche, wengleich quantitativ nicht
ganz so stark ausgeprägte
Tab. 3 Ergebnisse ergeben sich bei
Durchschnittliche Übereinstimmungsrate zwischen den Vereinigten Staaten Be­­trachtung der US-Schlüs­
von Amerika und westlichen Partnern bei Abstimmungen in der UN-General- sel­abstimmungen. Die Effekte,
versammlung
sowohl für alle Resolutionen
Resolutionen im ersten Jahr einer US-Präsidentschaft während der Bush-Präsident-
schaften wie nur für die US-Schlüssel-
resolutionen, sind jedoch in
Alle Resolutionen im ersten Amtsjahr eines US-Präsidenten seit 1946
Regressionen mit und ohne
George H.W. Differenz zu George W. Bush Differenz zu
Bush (sen.) Trump (Pro- (jun.) Trump (Pro- fixe Effekte statistisch auf dem
zentpunkte) zentpunkte) 1%-Niveau signifikant.
G7 57,5% + 0,9 53,6% – 3,0
N = 688 N = 405
TRUMP ODER DIE ANDEREN:
OECD 48,3% – 3,2 50,4% – 1,1
N = 2 533 N = 1 888 BEI WELCHEN THEMEN
NATO 51,7% – 1,6 52,5% – 0,8 SIND DIE DISSONANZEN AM
N = 1 726 N = 1 212 GRÖSSTEN?
WEOG 47,4% – 4,6 52,9% + 0,9
N = 2 533 N = 1 816
Anmerkung: Ungewichteter Durchschnitt über alle Nationen einer Ländergruppe ohne die Vereinigten Staaten Der Rückgang der Zustimmung
von Amerika pro Jahr.
zu den US-Abstimmungen kann
Quelle: Voeten (2017); Berechnungen des ifo Instituts.
in drei unterschiedlichen Effek-

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FORSCHUNGSERGEBNISSE

ten begründet sein: (1) Die Vereinigten Staaten von rika zu Resolutionen zum Israel-Palästina-Konflikt
Amerika könnten seit 2017 wie eh und je abgestimmt deutlich von 20,6% vor Trumps Präsidentschaft auf
haben, und die westlichen Partner haben ihren Kurs 5,3% in der Zeit danach. Das Verlegen der US-Bot-
geändert, (2) es war genau umgekehrt, oder (3) die Ver- schaft von Tel Aviv nach Jerusalem kann als anschau-
einigten Staaten von Amerika und ihre (bisher) Ver- liches Beispiel für sich verändernde Präferenzen der
bündeten haben beide ihre Positionen aktiv vonein- Vereinigten Staaten im Umgang mit Israel herange­
ander entfernt. Wir haben das Abstimmungsverhalten zogen werden.
bei UN-Resolu­tionen zu sechs sich wiederholenden Zweitens haben die Vereinigten Staaten von
Themenkomplexen näher untersucht. Abbildung  2 Amerika unter Donald Trump keiner Resolution mit
veranschaulicht den prozentualen Anteil bei Resolu­ Bezug auf die ökonomische Entwicklung weltweit
tionen zum Israel-Palästina-Konflikt, zum Thema öko- zugestimmt, während ihre Zustimmungsrate vor der
nomische Entwicklung sowie zur Rüstungskontrolle, Trump-Präsidentschaft bei etwa einem Viertel lag. Dies
bei denen die Vereinigten Staaten von Amerika bzw. steht in einem klaren Gegensatz zum Abstimmungs-
die übrigen G-7-Länder mit »Ja« gestimmt haben. Die verhalten der übrigen G-7-Partnerländer, die bei über
Ergebnisse für die übrigen Ländergruppen (OECD, NATO 80% der Resolutionen seit Beginn der Trump-Adminis-
und WEOG) sind qualitativ wie quantitativ vergleichbar. tration mit »Ja« stimmten und ihre Zustimmungsrate
Unter der impliziten Annahme, dass sich die Ver- damit um etwa 18 Prozentpunkte steigerten.
teilung der inhaltlichen Ausrichtung einer Resolution Drittens sank die Zustimmung zu Resolutionen mit
bei den wiederkehrenden Themenkomplexen seit 2017 dem Thema Waffenkontrolle unter der gegenwärtigen
nicht grundlegend geändert hat, fallen drei Entwick- US-Regierung um knapp 7 Prozentpunkte von etwa
lungen auf: 40% auf nunmehr nur noch ein Drittel aller Abstimmun-
Erstens hat sich die Position der Vereinigten gen. Das Abstimmungsverhalten der übrigen G-7-Län-
Staaten bei Resolutionen zum Israel-Palästina-Kon- der blieb in dieser Zeit so gut wie unverändert.
flikt geändert. So wird Israel zwar seit Jahrzehnten Bei den weiteren, in der Abbildung 2 nicht darge-
in der UN-Vollversammlung diskriminiert (vgl. Becker stellten Themenkomplexen ist kein eindeutiger Trend
et al. 2015; Hillman und Potrafke 2015), jedoch stim- auszumachen. So sank zwar insgesamt die Zustim-
men die Vereinigten Staaten von Amerika fast ebenso mungsrate zu Themen bezüglich der Abrüstung und
lange mehrheitlich gegen Resolutionen, die Israel kri- Proliferation von Nuklearwaffen, jedoch bei den Ver-
tisieren. Dieser Trend hat sich unter Donald Trump einigten Staaten von Amerika und den G-7-Ländern
noch weiter verstärkt: Während die übrigen G-7-Staa- jeweils in der gleichen Größenordnung. Fast unver­
ten ihr Abstimmungsverhalten bei Resolutionen zum ändert blieb die Zustimmungsrate der Vereinigten
Israel-Palästina-Konflikt kaum änderten, sank die Staaten von Amerika und der G 7 bei Resolutionen zu
Zustimmungsrate der Vereinigten Staaten von Ame- Kolonialthemen. Bei Menschenrechtsthemen erhöhte
sich die Zustimmungsrate der Vereinigten Staaten von
Abb. 2
Amerika leicht, während die Zustimmungsrate der
Durchschnittliches Abstimmungsverhalten der Vereinigten G-7-Länder leicht abnahm.
Staaten von Amerika und der übrigen G 7 bei themen-
bezogenen Abstimmungen in der UN-Generalversammlung SCHLUSSFOLGERUNG
Israel-Palästina-Konflikt
USA vor Trump Das Abstimmungsverhalten in der UN-Generalver-
USA nach Trump sammlung zeigt, dass sich die Vereinigten Staaten von
G 7 vor Trump Amerika und die westlichen Verbündeten in der G 7,
G 7 nach Trump
OECD, NATO und WEOG seit der US-Präsidentschaft von
Ökonomische Entwicklung Donald Trump entfremdet haben. Die durchschnitt-
liche Übereinstimmungsrate zwischen den Vereinig-
USA vor Trump
ten Staaten und den westlichen Partnern sank seit
USA nach Trump
G 7 vor Trump Trumps Amtsantritt um bis zu 10,3 Prozentpunkte bei
G 7 nach Trump Betrachtung aller Resolutionen und um bis zu 6,5 Pro-
zentpunkte für die US-Schlüsselresolutionen im Ver-
Rüstungskontrolle gleich zur gesamten Zeit vor Donald Trump. Betrach-
USA vor Trump tet man nur das erste Amtsjahr eines neu gewählten
USA nach Trump
G 7 vor Trump
US-Präsidenten, so beträgt die Differenz bei der Über-
G 7 nach Trump einstimmungsrate zwischen Trump und seinen Amts-
vorgängern gar bis zu 13,2 Prozentpunkte für alle
0 0,2 0,4 0,6 0,8
Durchschnittliche Zustimmungsrate
Resolutionen.
Auch wenn dieser Rückgang deutlich ist, so waren
Anmerkung: Alle Resolutionen. Eine Zustimmung zur Resolution wurde mit 1
codiert, eine Enthaltung mit 0,5 und eine Ablehnung mit 0. Dargestellt ist der die Differenzen zwischen den Vereinigten Staaten von
ungewichtete Durchschnitt über alle Nationen der G7 ohne die Vereinigten Staa-
ten von Amerika pro Jahr.
Amerika und den westlichen Verbündeten unter den
Quelle: Voeten (2017); Berechnungen des ifo Instituts. © ifo Institut Präsidentschaften von George H. W. Bush sen. und

ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018 41


FORSCHUNGSERGEBNISSE

George W. Bush jun. im jeweils ersten Amtsjahr noch Die meisten Abstimmungen in der UN-General-
ausgeprägter. Die Übereinstimmungsrate mit den west- versammlung finden im Herbst bis Winter eines Jah-
lichen Partnern lag unter den beiden Bushs um noch- res statt. Zu vermuten ist, dass der gegenwärtig von
mal 0,8 bis 4,6 Prozentpunkte geringer als unter Donald Donald Trump angezettelte Handelskrieg zu einer wei-
Trump. Bezogen auf die gesamte Präsidentschaft von teren Entfremdung zwischen den Vereinigten Staaten
George W. Bush jun. war die Übereinstimmungsrate von Amerika und den westlichen Verbündeten führen
bei Abstimmungen in der UN-Generalversammlung wird. Wie stark dieser Effekt numerisch ausfällt, wissen
sogar um nochmals bis zu 7,6 Prozentpunkte geringer wir unter Einbezug des Abstimmungsverhaltens in der
als unter Trump. Anders als in den Medien teils sug- UN-Generalversammlung am Ende des Jahres 2018.
geriert, beobachten wir in der US-Außenpolitik somit
keinen Zusammenbruch der westlichen Wertegemein- LITERATUR
schaft seit Donald Trump, sondern bisher höchstens
Becker, R.N., A.L- Hillman, N. Potrafke und A.H. Schwemmer (2015), »The
eine Delle – die geringer ausfällt als unter einigen ande- preoccupation of the United Nations with Israel: Evidence and theory«,
ren US-Präsidenten. Review of International Organizations 10, 413–437.
Inhaltlich entfernen sich die Vereinigten Staa- Dreher, A. und N. Jensen (2013), »Country or leader? Political change and
UN General Assembly voting«, European Journal of Political Economy 29,
ten von Amerika derzeit vor allem beim Israel-Paläs- 183–196.
tina-Konflikt, bei dem sie ihre Zustimmung zu Reso-
Hillman, A.L. und N. Potrafke (2015), »The UN Goldstone Report and
lutionen deutlich reduziert haben, und in Fragen der retraction: An empirical investigation«, Public Choice 163, 247–266.
ökonomischen Entwicklung von ihren westlichen Ver- Potrafke, N. (2009), »Does government ideology influence political align-
bündeten in der UN-Generalversammlung. In geringe- ment with the US? An empirical analysis of UN General Assembly voting«,
Review of International Organizations 4, 245–268.
rem Umfang gilt dies auch für Resolutionen zur Rüs-
Thacker, S. (1999), »The high politics of IMF lending«, World Politics 52,
tungskontrolle, bei denen die Zustimmungsrate der 38–75.
Vereinigten Staaten von Amerika ebenfalls sank. Voeten, E. (2000), »Clashes in the Assembly«, International Organization
Eine wichtige Frage für zukünftige Forschung ist, 54, 185–215.

wie sich abnehmende Gemeinsamkeiten zwischen den Voeten, E. (2017), »Data and Analyses of Voting in the UN General Assem-
bly«, in: B. Reinalda (Hrsg.), Routledge Handbook of International Organi­
Industrieländern und ggf. verändernde politische Alli- zation, verfügbar unter: SSRN: http://ssrn.com/abstract=2111149.
anzen auf ökonomische Größen wie Außenhandel, aus-
ländische Direktinvestitionen und Wirtschaftswachs-
tum auswirken.

42 ifo Schnelldienst  14 / 2018  71. Jahrgang  26. Juli 2018


ZULETZT ERSCHIENEN

THEMA DES NÄCHSTEN SCHNELLDIENSTS:

SD 15/2018 erscheint am 9. August 2018

Wie gerecht ist die Welt?


Soziale Ungleichheit und
Wirtschaftswachstum

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