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de
Hausmitteilung
Betr.: Malta, SPIEGEL DAILY, SPIEGEL BIOGRAFIE
4
In diesem Heft
Deutschland Ausland
Leitartikel Warum Donald Trump sein Amt Warum der US-Präsident auch im
verlieren muss 6 Nahostkonflikt scheitern wird / Macrons
Meinung Kolumne: Der gesunde Menschen- neues Kabinett ist ein kluger Schachzug 74
verstand / So gesehen: Warum wir USA Nach der Entlassung des FBI-Chefs
über unser Geschlecht selbst entscheiden und der Aufnahme von Sonderermittlungen:
sollten 8 Ist Präsident Donald Trump seinem Amt
Steinbach unterstützt AfD-Wahlkampf / noch gewachsen? 76 r
Bundesregierung verfehlt Klimaschutzziele / Essay Junge Helden – über eine neue Mit elegante
Gla s k a ra ff e
Seehofer fordert Kaufprämie für moderne Hyperpersonalisierung der Politik in Europa 80
Diesel 20 Irak Der Fotograf Ali Arkady enthüllt
SPD Wie Martin Schulz seine Folterungen und gezielte Tötungen,
Kampagne nach dem verpatzten Start durchgeführt von irakischen Sicherheits-
neu aufstellen will 24 kräften an Kriegsgefangenen 82
Die Pläne der Sozialdemokraten für eine Geheimdienste SPIEGEL-Gespräch mit
Bürgerversicherung bleiben vage 27 WikiLeaks-Gründer Julian Assange
Verteidigung Die Nato setzt gegen Russland über die Vorwürfe, ein Werkzeug der
wieder auf Abschreckung 28 Russen zu sein 88
Union Wer gewann die Wahl in NRW:
Angela Merkel oder die Konservativen? 33
Liberale Warum der Erfolg für
Sport
die FDP gefährlich werden könnte 34 Dopingwelle im Fußball / Magische
Parteien Das Dilemma der Grünen 36 Momente: Tennisprofi Laura Siegemund
Gegendarstellung von SterniPark GmbH über ihren Spätstart in die Weltklasse 91
zu SPIEGEL 4/2017 „Rauer Ton“ 38 Showsport Wie sich die Fußballbundesliga
Bundeswehr Verteidigungsministerin von ihren Fans entfremdet 92
Ursula von der Leyen stolpert
durchs Minenfeld der Geschichtspolitik 39 Wissenschaft
Extremisten MAD-Chef Christof Gramm über
seine Suche nach rechtsextremen Soldaten 41 Neuer Plan für die Besiedlung des
Sicherheit Aus Angst vor IS-Anschlägen
Mondes / Blaualgen gegen den Hunger
wollen die USA auf Transatlantikflügen in Afrika / Einwurf: Warum spendiert
der Staat Millionen für den Kirchentag? 98
Laptops in der Kabine verbieten 42
Affären Ein Experte des Innenministeriums Genealogie Hobbyforscher suchen nach
in Stuttgart ist in eine missglückte den Spuren ihrer Ahnen 100
Befreiungsaktion in Mossul verwickelt 44 Umwelt Wie schädlich sind verborgene
Oktoberfest Was der Kampf gegen Kunststoffe in Kosmetika? 104
steigende Bierpreise auf der Wiesn mit Geschichte Eine 3-D-Rekonstruktion
dem Komödienstadl zu tun hat 46 zeigt den baulichen Niedergang des
alten Rom 106
Gesellschaft
Früher war alles schlechter: Wie gut, Kultur
dass wir nicht mehr Bauer werden Helene Fischer als Inbegriff deutscher
müssen / Haben wenigstens die Schweizer Selbstbezogenheit / „Twin Peaks“ ist
die Deutschen lieb? 48 zurück / Kolumne: Zur Zeit 108
Eine Meldung und ihre Geschichte Literatur Der Dichter und
Warum ein griechischer Bestatter eine Freiheitskämpfer Georg Herwegh –
Leiche auf der Straße liegen ließ 49 ein Rivale Heines 110 Vom Hersteller
Karrieren Sie lieben und sie hassen sich, USA Der Fall O. J. Simpson
des Testsiegers.
Martin Gore und David Gahan von als Menetekel für die Trump-Ära 114
Depeche Mode – ein Gespräch mit zwei
Unsterblichen des Pop 50 Autoren Karl Ove Knausgård und seine
Homestory Ein Jahr mit einem politisch Auseinandersetzung mit Hitler 120
korrekten Smartphone 55 Jazzkritik Diana Kralls neues Album
„Turn up the Quiet“ 123 Öko-TEST Jahrbuch
Essen,Trinken und
Wirtschaft Genießen 2005
www.sodastream.de
DER SPIEGEL 21 / 2017 5
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Leitartikel
D
onald Trump ist nicht dazu in der Lage, Präsident schen Mehrheiten; dann können sie selbst Variante zwei,
der USA zu sein. Er ist es intellektuell nicht: Er die Amtsenthebung, angehen. Fünftens: Die Weltgemein-
versteht die eigenen Aufgaben und die Bedeutung schaft erwacht. Findet Wege um das Weiße Haus herum.
seines Amtes nicht, er liest nichts, nicht einmal Akten Wird handlungsfähig ohne die USA. Variante fünf ist an-
oder Geheimdienstberichte, und er hat keine Ahnung von ders als die vier anderen keine Lösung für das Problem
den eigenen Themen, trifft halt mit wüsten Anweisungen Trump, aber gleichwohl zwingend und immerhin möglich.
launische Entscheidungen. Vor knapp zwei Wochen traf sich in Washington ein
Und moralisch ist er es sowieso nicht: Trump ist ein Kreis von Außenpolitikern und Beobachtern; die Münch-
hundertfach überführter Lügner, Rassist, Betrüger. Man ner Sicherheitskonferenz hatte geladen. Wer sich in der
zuckt beschämt zusammen, wenn man solche Sätze Stadt umhörte, konnte nur die seltene Kombination von
schreibt, so dröhnend laut sind die Wörter. Aber genau Chaos und Agonie diagnostizieren.
diese Begriffe sind die korrekten für Trump, und es zählt Die USA haben eine Witzfigur zu ihrem Präsidenten
zur Aufgabe von Medien, nicht müde zu werden, sondern und sich selbst von dieser Witzfigur abhängig gemacht,
zu sagen, was ist: Trump muss aus dem Weißen Haus ent- abhängig also von einem Kind, wie David Brooks in der
fernt werden. Schnell. Er ist eine Gefahr für die Welt. „New York Times“ schrieb. Diese Regierung Trump hat
Trump ist ein miserabler Politiker: keine Außenpolitik, weil Trump
Er entließ den FBI-Direktor, weil er stets beides zugleich verspricht,
es konnte. Der Typ war ihm halt auf Amerikas Rückzug und Amerikas
die Nerven gegangen mit seinen Er- Stärke, keine Kriege und mehr Krie-
mittlungen gegen Trumps Vertraute. ge; und dann entscheidet er halt ir-
Der Typ hatte sich geweigert, Trump gendwie, nicht strategisch konsistent,
Treue und Loyalität zu schwören nicht einmal taktisch logisch, son-
und auch, die Ermittlungen einzu- dern je nach Stimmung. Moskau und
stellen – James Comey musste weg. Peking lächeln über dieses Amerika.
Trump ist zudem ein miserabler Anderswo sorgt man sich.
Vorgesetzter. Seine Leute erfinden Im Pazifik kreisen Kriegsschiffe
Ausreden für ihn und lügen für ihn, umeinander herum, chinesische und
da sie es müssen. Dann aber wacht amerikanische, auf engem Raum.
JOSHUA ROBERTS / REUTERS
ANTIMAGNETISCH, WIDERSTANDSFÄHIG
SILICON BALANCE
SPRING
BOUTIQUES : PARIS — LONDON — NEW YORK — BEIJING — HONG KONG — SINGAPORE — NEW DELHI — DUBAI — MOSCOW — ZURICH TI S S OT watc h e s .CO M
TISSOT, INNOVATORS BY TRADITION
Meinung
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
Der Anti-Schulz-Hype
Es gibt Thesen, die selbst schen Zeile „Sankt Martin – Der Machthun-
dann überleben, wenn ger des Kandidaten Schulz“ druckte. Der Endlich
keine Beweise für
sie aufgetrieben wer-
wird von Leuten, die keine ausgeprägte
Sensibilität für Doppeldeutigkeit besitzen,
Wahlfreiheit
den konnten. Oder jetzt gern als Beleg für den vermeintlichen So gesehen Warum wir uns
genügend Belege ge- Medienhype herangezogen. Vielleicht un- unser Geschlecht nicht
funden wurden, um terschätze ich die Kraft von mehrdeutigen vorschreiben lassen sollten
sie zu widerlegen. Die Titelbildern, aber es fällt mir schwer zu
These, wonach der Klima- glauben, dass über 16 000 Menschen wegen Die St. Paul’s Girls’ School,
wandel nicht von Menschen gemacht sei, eines Magazincovers binnen drei Monaten eine britische Privatschule,
ist solch ein Fall. Die originelle Behaup- in die SPD eintreten. erlaubt ihren Schülerinnen
tung, wonach es Bielefeld gar nicht gebe, Es gab auch die Meinungsumfragen, in jetzt, Jungenkleidung zu tra-
hält sich ebenfalls hartnäckig. Hinter denen eine Mehrheit der Deutschen den gen und sich mit Jungen-
falschen Thesen stecken immer handfeste Wunsch ausdrückte, die Regierung solle namen ansprechen zu lassen.
Interessen. Sie sind nicht totzukriegen, von der SPD und das Kanzleramt von Mar- Die Schulleiterin begründet
weil manche Menschen im Schatten von tin Schulz geführt werden. Skepsis gegen- dies laut „FAZ“ damit, dass
Windrädern leben und eine aktive Klima- über Umfragen ist natürlich immer richtig. wir uns „auf einen Punkt zu-
schutzpolitik als persönlichen Nachteil Erlaubt sei aber der Hinweis, dass Umfra- bewegen, an dem das Ge-
empfinden. Oder weil sie ganz einfach gen im Februar oder März 2017 auf die glei- schlecht eine Frage der Wahl
einen tierischen Hals auf Bielefeld haben. che Art zustande kamen wie im Mai 2017. ist“. Das ist in Zeiten, in de-
Ähnlich verhält es sich mit der Lieb- Wer die heutigen Zahlen als Beleg anführt, nen noch immer viele Men-
lingsthese dieser Tage: Dass die Frühjahrs- dass Schulz bei den Wählern nicht mehr schen glauben, Geschlecht
euphorie für den SPD-Kandidaten Martin allzu hoch im Kurs steht, muss gleichzeitig habe etwas mit Biologie zu
Schulz ein Medienhype gewesen sei, der je- anerkennen, dass es vor Kurzem anders tun, eine erfreuliche Haltung.
der realen Grundlage entbehrt habe. Sie war. Sonst verstieße er gegen die Gesetze In Deutschland haben wir
wird bevorzugt von Menschen vertreten, der Logik – und das will ja auch niemand. in Sachen Fortschritt leider
die der SPD mit ähnlicher Sympathie be- Die Sehnsucht vieler Deutscher nach ei- noch Nachholbedarf. Da die
gegnen wie die Bielefeld-Leugner der ner Alternative zu Angela Merkel, nach Politik schläft, müssen nun
Stadt Bielefeld: Vom politischen Gegner Veränderung an der Spitze, war real. Nach einzelne Institutionen voran-
oder von Publizisten, die ihren Schreib- dem gelungenen Auftakt hat die logische gehen. Beim SPIEGEL etwa
tisch länger nicht mehr verlassen haben. Alternative es bislang versäumt, sich als sollten wir schnellstmöglich
Hätten sie ihn verlassen, hätten sie gese- bessere Alternative zu präsentieren. Noch die Wahlfreiheit zwischen
hen, wie ganz reale Bürger sich in Schlan- bleiben 18 Wochen, um diesen Eindruck zu Mann und Frau einführen. Ich
gen reihten, um Schulz zu erleben. Sie hät- korrigieren. Es wäre die sicherste Variante, würde dann bei der nächsten
ten reale Sozialdemokraten gesehen, die um die These vom Schulz-Hype auf ewig Betriebsratswahl als Frau
wie zu besten Willy-Zeiten stolz darauf wa- zu entsorgen. Zum Beispiel in Bielefeld. antreten. Bei meiner letzten
ren, Mitglied dieser Partei zu sein. Kandidatur musste ich einer
All das hatte wenig damit zu tun, dass An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, lieben Kollegin den Vortritt
der SPIEGEL ein Titelbild mit der ironi- Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. lassen, weil sonst das Min-
derheitenquorum nicht er-
füllt gewesen wäre. Aber das
kann nur ein Anfang sein.
Kittihawk Wenn ich mein Geschlecht
frei wählen könnte, dürfte ich
die Damentoiletten im Fuß-
ballstadion benutzen, was
eine große Erleichterung
wäre. Außerdem würde mei-
ne Lebenserwartung steigen.
Und ich wüsste endlich,
warum ich nach 15 Jahren
Arbeit für mein Magazin im-
mer noch nicht Chefredak-
teur bin: die gläserne Decke,
Sie wissen schon. Mit mei-
nem Namen bin ich ohnehin
unzufrieden. Ich finde Clara
schöner als Ralf. Nur Mini-
rock würde ich nicht tragen,
auch wenn ich es dürfte.
Ich habe einfach nicht die
Beine dafür. Clara Neukirch
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„Ooops“
Internet Nach der bislang größten Cyberattacke suchen
Fahnder unter Hochdruck die Urheber der
Erpressungssoftware „WannaCry“. Neue Angriffswellen
könnten folgen. Das Schreckensszenario eines globalen
Kontrollverlusts wird vorstellbar.
M
ilosz Matusiak wollte abends ge- zahllosen Warnpunkten verschwunden,
rade sein Notebook zuklappen die USA und Indien leuchten schrill, eben-
und schlafen gehen, als ihm ein so Teile Russlands, Chinas und Südame-
seltsames Symbol auf seinem Monitor auf- rikas.
fiel: zwei sich schüttelnde Hände, wie zum Steckt die berüchtigte Hackergruppe La-
freundlichen Abschluss eines guten Ge- zarus dahinter, die in der Vergangenheit
schäfts, dazu ein merkwürdiger Datei- für Nordkorea gearbeitet haben soll? War
name: „Wana Decrypt0r 2.0“. es eine kriminelle Cybermafia, der es um
Der 30-Jährige trennte seinen Rechner möglichst viele Bitcoins ging? Oder ein 16-
sofort vom Internet. Zunächst war er nur jähriger Hacker in seinem Kinderzimmer?
verwundert: „Ich hatte ja keine komischen Noch sind die Schuldigen nicht identifi-
E-Mail-Anhänge angeklickt und war auch ziert, noch durchforsten Sicherheitsbehör-
nicht auf halbseidenen Seiten unterwegs.“ den und Computerforensiker den Schad-
Der Schock kam am nächsten Morgen. Auf code nach kleinsten Hinweisen – und noch
dem PC seiner Mutter ging nichts mehr, ist nicht abzusehen, wie viele Angriffswel-
von wegen freundliche Geschäfte: Der len womöglich folgen. Mindestens 150 Län-
Bildschirm zeigte eine Lösegeldforderung. der waren betroffen, Glieder einer unheim-
Offenbar war ihr Rechner zuerst infi- lichen Kettenreaktion. Sie konnte Anfang
ziert worden. Von dort hatte sich das dieser Woche erheblich verlangsamt wer-
Schadprogramm auf sein Notebook über- den, gestoppt scheint sie indes nicht. Wie
tragen, über das gemeinsam genutzte bei einem Bio-Virus kursieren bereits rund
WLAN-Netz. Lösegeld wollte die Familie 600 „WannaCry“-Mutationen.
nicht zahlen. Nun sind die Urlaubsfotos, Nie zuvor breitete sich ein Netzstörfall
Bewerbungsunterlagen und Videos der derart rasant in so viele Länder aus und
Hamburger wohl für immer weg, unleser- machte sich in so vielen Lebensbereichen
lich gemacht. „Ich hätte nie gedacht, dass bemerkbar.
mir so etwas passieren kann“, sagt Matu- Schreckensszenarien eines globalen
siak. Kontrollverlusts werden plötzlich vorstell-
Seine Mutter und er sind Opfer eines bar: Flugzeuge heben nicht mehr ab, Züge
massiven Cyberangriffs, der seit einer Wo- entgleisen, Geldautomaten versagen, das
che weltweit für Aufsehen sorgt – Europol Licht geht aus, Nahrungsmittel verrotten
zufolge ist es der bislang größte überhaupt. im Lager, lebenswichtige Apparate im
In die Chroniken wird er als „WannaCry“ Krankenhaus schalten sich ab. Ein Still-
(„Willst du weinen“) eingehen, eine hämi- stand des öffentlichen Lebens, umfassend,
sche Kurzformel des Dateinamens, den die gleichzeitig und global.
Opfer auf ihren Rechnern fanden. Nun wird deutlich, wie verletzlich un-
Wie eine Epidemie im Zeitraffer breitete sere vernetzte Welt geworden ist. Und wie
sich der erpresserische Computercode der unser Alltag von Technologien abhängt,
Gattung „Ransomware“ aus, lautlos, un- die wir nur scheinbar beherrschen.
heimlich und rasend schnell. Innerhalb nur
einer Stunde waren weltweit bereits mehr
als 7000 Rechner befallen, als die Attacke 1 bis 5 Mögliche Angriffsziele
am 12. Mai begann. Danach gab es erst Krankenhaus, Bahn, Atomkraft-
einmal kein Halten mehr. Je mehr Com- werk, Flughafen, Rechenzentrum
puter infiziert wurden, desto schneller brei- 6 Nachricht der Erpressersoftware
tete sich der Schädling aus. „WannaCry“
Weltkarten der Experten zeigen das
Ausmaß des Desasters: Europa ist unter
10 DER SPIEGEL 21 / 2017
1
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6
THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK / GETTY IMAGES POLARIS / STUDIO X TIM WEGNER / LAIF
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Titel
Die Angreifer der vergangenen Woche naCry“. In Hannover traf es eine regionale
treffen Gesellschaften, die sich in einem Leitstelle der Bahn, die für die Disposition
enormen Tempo digital verbinden, in allen Krankenhäuser von Personal und Material zuständig ist.
Lebensbereichen, vom „Smart Phone“ und In Berlin kämpfte die S-Bahn noch eine
„Smart Home“ über „Smart Cash“ bis zu sagten Operationen Woche später mit Problemen bei ihren
„Smart City“ und „Smart Government“. ab, Autofirmen Fahrkartenautomaten.
Diese Entwicklung ist politisch gewollt stoppten die Pro- Betroffen von der „WannaCry“-Attacke
und gefördert, die Bundeskanzlerin be- duktion. war auch ein Unternehmen aus der Er-
schwört die Segnungen der Industrie 4.0, nährungsbranche, das zur kritischen In-
das Verkehrsministerium investiert Mil- frastruktur in Deutschland gerechnet wird.
liarden in den Breitbandausbau, im Wirt- Und selbst auf medizinischen Geräten der
schaftsministerium will Brigitte Zypries genes gefährliches Spiel mit Sicherheits- Firma Bayer, die in US-Krankenhäusern
das „IoT“ beschleunigen, das Internet of lücken treiben. Weil Softwareproduzenten im Einsatz sind, ploppte plötzlich die
Things, wie sie erst vorige Woche auf der wie Microsoft ihre Verantwortung für die Lösegeldforderung auf. In Deutschland
Berliner Netzkonferenz re:publica erklärte: Netzsicherheit nicht hinreichend wahrneh- oder Europa seien dem Unternehmen kei-
„Die Amerikaner haben das Internet, wir men. Und weil viele Nutzer vorhandene ne Fälle gemeldet worden, hieß es bei
haben die Dinge.“ Sicherheits-Updates ignorieren. Bayer.
Und alle haben die Gefahr. Europäer, Deutsche Kunden des Telefonanbieters
Amerikaner, Inder, Chinesen müssen nun, Der Flächenbrand O2 hatten ebenfalls Probleme. Der spani-
jeder für sich und gemeinsam, prüfen, wie Es war wie eine Rückkehr ins vorige Jahr- sche Mutterkonzern Telefónica musste we-
die Lebensadern der digitalen Welt ge- hundert. Am Hauptbahnhof in Frankfurt gen des Cyberangriffs bestimmte IT-Sys-
schützt, Attacken abgewehrt und Angrei- am Main, der Stadt der Banken und Fi- teme herunterfahren, daraufhin konnte
fer gefasst und ausgeschaltet werden kön- nanzdienstleister, holten Bahn-Mitarbeiter der DSL-Kundendienst von O2 in Deutsch-
nen. Schiefertafeln und Kreide heraus. In ge- land nicht mehr auf seine Datenbank zu-
„WannaCry“ ist ein Warnschuss, eine schwungener Schrift schrieben sie die Ab- greifen. Die interne Kommunikation bei
Aufforderung, über die möglichen Folgen fahrtszeiten der Züge auf und stellten sie O2 war durch die Attacke zwischenzeitlich
der rastlosen Vernetzung nachzudenken. neben die Gleise: „Abf.: 11.13 nach Ber- gestört, E-Mail-Programme fielen aus.
Wie viele solcher Weckrufe wird es noch lin“, „Abf.: 15.54 München“. Mehr als 20 Und in Düsseldorf, Essen, Hagen und
geben, bevor der digitale Ernstfall eintritt? Jahre lang hatten die Tafeln in der Ecke Grevenbroich durften sich Autofahrer über
Und was können Regierungen, Unterneh- gelegen, nun wurden sie wieder nützlich. kostenloses Parken freuen: Eine Parkhaus-
men und wir Nutzer tun, um ihn zu verhin- Eine Schiefertafel kann kein Hacker ma- kette konnte wegen „WannaCry“ ihre
dern – oder zumindest vorbereitet zu sein? nipulieren. Schranken nicht mehr schließen.
Drei Schritte stehen nun an. Zunächst Rund 450 Rechner der Deutschen Bahn Mehr als 300 000 Rechner wurden welt-
braucht es ein realistisches Lagebild zu (DB) waren infiziert. Die sichtbarsten Fol- weit befallen. Deutschland landete auf
den globalen Schäden, die „WannaCry“ gen: lahmgelegte Anzeigetafeln an vielen Platz 13 der globalen Betroffenheits-
angerichtet hat. Gleichzeitig läuft, zwei- Bahnhöfen, zum Teil war noch die Bot- charts – und ist damit noch vergleichsweise
tens, die Suche nach den Schuldigen und schaft der Erpresser samt Lösegeldforde- glimpflich davongekommen.
deren Motiven. Und drittens geht es da- rung eingeblendet. Anderswo waren die Folgen drastischer:
rum, die richtigen Lehren aus der Angriffs- Erwischt hat es auch Videoüberwa- Britische Krankenhäuser sagten Operatio-
welle zu ziehen. Denn die Attacken konnte chungssysteme der DB, die Bildschirme nen ab und schickten Krebspatienten nach
es nur geben, weil Geheimdienste ein ei- zeigten ebenfalls Nachrichten von „Wan- Hause. In Frankreich stoppte Renault teil-
Kriminelle Hacker
verschicken massen-
haft E-Mails, die seriös Der Eindringling, ein sogenannter Krypto-
und amtlich wirken und Em- Trojaner, verschlüsselt umgehend alle er-
pfängern vorgaukeln, sie müssten umgehend reichbaren Dateien. Durch eine Sicherheits-
den darin enthaltenen Mailanhang öffnen lücke des veralteten Betriebssystems infiziert
oder einem Link zu einer bestimmten Website der WannaCry-Virus zudem weitere Rechner,
folgen. Beides führt jedoch dazu, dass der insbesondere wenn diese über ein internes
Rechner von Schadsoftware befallen wird. Netzwerk miteinander verbunden sind.
weise seine Autoproduktion, in China Für Beruhigung sorgte das allerdings In den Elitehackerabteilungen der Na-
konnten Kunden an mehr als 20 000 Tank- nicht. Von einem „besonders schwerwie- tional Security Agency suchen und for-
stellen nur noch bar bezahlen. Hightech- genden Angriff“ sollte de Maizière später schen Mitarbeiter nach Sicherheitslücken
unternehmen wie der japanische Hitachi- sprechen. Am Samstagmorgen begann das für jedes erdenkliche Betriebssystem.
Konzern, der US-Logistiker FedEx sowie Bundeskriminalamt zu ermitteln. Die Diese sind Einfallstore in Geräte aller
das russische Innenministerium: Sie alle Staatsanwaltschaft Berlin übernahm das Art und in Computernetzwerke. Man kann
wurden Opfer jener Erpressung, deren Lö- Verfahren, dort hat die Bahn ihren Fir- sie mit digitalen Dietrichen vergleichen,
segeldforderung mit dem hämischen Wort mensitz. aber auch hoch wirksame Cyberwaffen
„Ooops“ begann. sind ohne sie nicht denkbar. Die wertvolls-
In der Bundesrepublik meldete sich am Die Spurensuche ten von ihnen heißen „Zero-Day-Ex-
Freitag vergangener Woche um 20.30 Uhr Wer die Angreifer sind, darüber gab es bis ploits“. Sie können schon ausgenutzt wer-
ein Vertreter der Deutschen Bahn beim Ende der Woche eine Menge Theorien, den, bevor die Hersteller von ihnen wissen
Bundesamt für Sicherheit in der Informa- aber wenig Gewissheit, wie so häufig im und eine Chance haben, sie zu schließen.
tionstechnik (BSI) in Bonn. Es gebe da ein Operationsgebiet Internet, wo sich Spuren Eines dieser Instrumente aus dem NSA-
Problem. leicht verwischen und falsche Fährten le- Arsenal betrifft das weltweit am meisten
Deutschlands Cyberabwehr war alar- gen lassen. verbreitete Betriebssystem Windows – es
miert, ähnliche Hinweise hatte das BSI von Der Ort der Erstinfektion konnte bis- trug dort den Codenamen „Eternal Blue“.
anderen Seiten bekommen. Hektisch lang nicht zuverlässig ermittelt werden, Aber wie gelangte dieses Geheimwissen
schalteten sich die Beamten mit ihren Kol- das würde den zahlreichen Cyberfahn- an die Öffentlichkeit? Die Gruppe, die sie
legen in Großbritannien und Frankreich dern helfen, die nun nach den „Wanna- veröffentlichte, nennt sich Shadow Brokers
zusammen. Das Bundesinnenministerium Cry“-Machern jagen. Die Allianz der Er- (Schattenhändler). Das mysteriöse Team
startete eine Telefonkonferenz mit allen mittler ist so ungewöhnlich wie der An- war im vorigen Sommer wie aus dem
zuständigen Behörden. griff selbst: Es sind die Behörden aus den Nichts im Netz aufgetaucht. In seltsamem
Um 21.28 Uhr schaltete sich Bundes- betroffenen Ländern und damit staatliche Englisch boten die Shadow Brokers dort
innenminister Thomas de Maizière (CDU) Fahnder, aber auch hoch spezialisierte NSA-Angriffswaffen zum Kauf an. Offen-
persönlich ein und rief BSI-Chef Arne Teams von IT-Sicherheitsfirmen und pri- bar klappte das nicht wie gewünscht, je-
Schönbohm an. Schnell wurde klar: Der vate Computer-Nerds, die die Übeltäter denfalls verfiel die Truppe bald darauf,
Schädling verbreitete sich mit ungeheurer jagen. Schadprogramme der Amerikaner tröpf-
Geschwindigkeit. Marcus Hutchins, ein 22-jähriger Brite, chenweise zu veröffentlichen.
Es sollte eine lange Nacht werden für schaffte es damit schon zu weltweitem Am 14. April posteten die Shadow Bro-
alle Beteiligten. Um 1.30 Uhr am Sams- Ruhm: Mit einem im „WannaCry“-Code kers ihren neuesten NSA-Leak – darunter
tagmorgen folgte eine weitere Telefon- verborgenen Trick, einer Art Notausschal- war auch die Sicherheitslücke „Eternal
schalte. Um 4.20 Uhr hatten die Experten ter („Kill Switch“), gelang es ihm, die Ver- Blue“. Seither konnte jede begabte Ha-
sich einen ersten Überblick über den An- breitung erheblich zu verlangsamen. ckergruppe sie für ihre eigene Zwecke
griff verschafft: Allein in der Zeit seit 17.45 Wenn man in der Kette der Verantwort- missbrauchen.
Uhr am Freitagabend hatte die Schadsoft- lichen an den Anfang geht, landet man al- Wie die Shadow Brokers an das streng
ware in Russland 25 875 Opfer infiziert, lerdings bei einem bekannt-berüchtigten geheime NSA-Material kamen, ist noch
22 991 in China und 7626 in Taiwan. In Akteur: dem amerikanischen Geheim- unklar – es gibt aber eine auffällige zeitli-
Deutschland gab es 604 Treffer. dienst NSA. che Koinzidenz.
DER SPIEGEL 21 / 2017 13
Digitaler Selbstschutz
Computerviren Schadsoftware kann jeden treffen. Mit diesen Methoden schützen Sie Ihre Daten.
D
ie schlechte Nachricht zuerst: des Back-ups. Wer Terabyte an Daten Windows-Varianten wie XP sind
Wer sich ins Netz begibt, lebt überträgt, braucht dafür oft eine ganze aktuell besonders stark betroffen vom
gefährlich. Datenklau, Erpres- Nacht, und eine Dockingstation erle- „WannaCry“-Schadprogramm.
sungsversuche und Viren sind ein rea- digt das ganz allein, ohne dass der Wer dennoch unbedingt sein altes
les Risiko. Hersteller und Politik ver- Rechner dafür angestöpselt sein muss. System behalten will, vielleicht wegen
sprechen den Nutzern zwar Schutz, tun Die Sicherungskopie der Sicherungs- eines musealen Nadeldruckers, sollte
aber zu wenig dafür. kopie hinterlegt man dann im Schlaf- mit der Uralt-Software lieber nicht ins
Ratsam ist deshalb die digitale zimmer oder bei einem Freund, falls Internet gehen.
Selbstverteidigung: Jeder Nutzer sollte das Büro von Einbrechern oder einem
Vorsorge dafür tragen, dass wichtige Brand verwüstet wird. Ist das nicht
E-Mails, Hochzeitsvideos und Kinder- paranoid? Mag sein – solange es um Virenschutz
fotos gegen eine Digital-Havarie gesi- ein paar private E-Mails geht. Aber Haben Sie einen Viren-
chert sind. wenn ein Jahr Arbeit oder die Exis- scanner installiert, der
Jeder sollte daher einen Notfallplan tenz einer Firma daran hängen sollte, auch aktiv ist und sich
haben. Eine Art Rettungsboot auf stür- sind 200 Euro für ein zweites Back-up automatisch aktualisiert?
mischer See, in dem die wichtigsten fast ein Schnäppchen.
Schätze gesichert werden. Auch Cloud-Speicher wie etwa Antiviren- und Firewallprogramme
Die gute Nachricht: Drei einfache iCloud oder Google Drive sind als Er- stärken sozusagen die Immunabwehr
Maßnahmen reichen dafür aus – Sicher- gänzung sinnvoll, denn sie ermögli- des Rechners, weil sie verdächtige Da-
heitskopien, regelmäßige Systemaktua- chen das Wiederfinden der Daten auch tenpakete durchleuchten und beson-
lisierungen und Antivirensoftware. dann, wenn man unterwegs auf Ge- ders schnell aktualisiert werden, wenn
schäftsreisen den Rechner wiederher- Würmer und Trojaner mit neuartigen
stellen oder vom Internetcafé aus auf „Mutationen“ auftauchen. Ein kleiner
Back-up ein paar Dokumente zugreifen will. Nachteil: Manchmal zickt nach der In-
Haben Sie Sicherheits- Doch alles hat seinen Preis: Bei der stallation solcher Programme die eine
kopien Ihrer Daten auf einem Cloud-Speicherung ist das Risiko grö- oder andere Funktion, weil sie fälsch-
externen Datenträger oder ßer, dass Unbefugte sich an den Daten licherweise als feindlich erkannt wird.
Speicherdienst abgelegt? vergreifen. Daher sind in der Wolke Aber das ruckelt sich meist schnell zu-
ganz besonders sichere Passwörter recht. Die Auswahl an Anbietern wie
Sicherheitskopien bieten den einfachs- oder gleich ein Passwortmanager rat- Bitdefender, F-Secure, Kaspersky, Sy-
ten und zuverlässigsten Schutz. Wichti- sam – aber zu diesem kniffligen The- mantec, Trend Micro ist groß, die mo-
ge Daten sollten immer auf mindestens ma sollte man lieber in die Fachpresse natlichen Abokosten sind meist gering.
einem zweiten, externen Speicherme- schauen.
dium abgelegt werden. Eine Back-up- Egal für welche Methode man sich Back-up, Systempflege, Virenschutz:
Software wie „Time Machine“ oder entscheidet: Man soll das Back-up Wer diese drei Regeln der Digitalhygie-
„Duplicati“ erledigt das fast unmerk- nicht vor der Wiederherstellung loben. ne beachtet, kann die lokalen Daten
lich im Hintergrund, meist einmal pro Es lohnt sich, hin und wieder zu che- nicht nur vor Lösegelderpressern schüt-
Stunde. cken, ob die Datensicherung auch zen. Sondern auch vor Verlust durch
Wer nur wenig am Rechner arbeitet wirklich so geklappt hat, wie man sich Einbruch, Feuer, Verbummeln oder ein-
und nur auf ein paar Textdokumente das erhofft hatte. fach das Abschmieren der Festplatte.
und Bewerbungen angewiesen ist, Natürlich sollte der Selbstschutz
kann sie einfach regelmäßig auf einen nicht suggerieren, dass jeder für sich
kleinen USB-Speicherstick ziehen. Systempflege allein eine Insel der digital Seligen
Wer dagegen Videos oder Fotos hor- Ist Ihr Betriebssystem noch schaffen kann. Wer seine eigenen Da-
tet, braucht dafür eher voluminöse aktuell, sodass es vom ten in digitaler Notwehr sichert, ent-
Festplatten, gern in der Größe von ein Hersteller mit sogenannten lässt damit nicht die Politik, die Soft-
paar Terabyte. Auf den ersten Blick Patches versorgt wird? warehersteller und die Geheimdienste
mögen die über hundert Euro Anschaf- aus ihrer Mitverantwortung an Daten-
fungskosten teuer wirken, umgerech- Die Softwareaktualisierung des Be- debakeln wie „WannaCry“.
net auf ein paar Jahre entspricht das triebssystems sollte heilige Pflicht sein. Und was, wenn doch einmal alle
eher einem Cappuccino pro Monat. Auch sie erfolgt am besten automatisch USB-Kabel reißen und Daten unrett-
Eine kleine Warnung: Die perma- im Hintergrund. Für aktuelle Betriebs- bar verloren gehen? Vielleicht lohnt es
nente Verbindung der Sicherungskopie systeme sind diese „Patches“ im Preis sich für diesen Fall, wichtige Doku-
mit dem Rechner bringt eigene Risiken inbegriffen. Irgendwann läuft die Un- mente wie die Doktorarbeit oder ein
mit sich. Wenn ein Virus den Compu- terstützung allerdings meist aus, so Hochzeitsfoto in vorauseilendem
ter befällt, könnte der sich auch auf auch bei Microsoft. „Never change a Pessimismus auf Papier auszudrucken.
der Sicherungskopie einnisten. running system“ – dieser Spruch gilt Sie erinnern sich, wie man es früher
Praktisch sind daher zum Beispiel hier leider nicht, im Gegenteil: Wer an einmal machte? Eine solche analoge
Festplatten-Dockingstationen, mit de- seinem alten Betriebssystem hängt, Sicherheitskopie könnte mehr als nur
nen man relativ einfach eine Kopie der erhöht damit die Gefahr, Opfer von eine lästige Pflicht sein: ein echter
Kopie ziehen kann: also ein Back-up Cyberangriffen zu werden. Alte Hingucker. Hilmar Schmundt
Denn ausgerechnet im vergangenen Au- Deutsche und internationale Behörden Mehr als Indizien aus dem Schadcode wa-
gust, als die Schattenhändler erstmals von untersuchen nun, wer „Eternal Blue“ zur ren es bislang nicht, die zu Lazarus führen.
sich reden machten, wurde im Bundesstaat Cyberwaffe „WannaCry“ ausbaute – die Eine belastbare Beweisführung ist das nicht.
Maryland ein Mann festgenommen, von Angriffssoftware besteht aus mehreren Die schwierige Tätersuche macht die Sache
zwei Dutzend schwer bewaffneten FBI- Modulen, welche die Fehler im Windows- für Kim Jong Un und andere Machthaber
Beamten. Betriebssystem auf perfide und höchst ef- besonders interessant. „Man kann immer
Der damals 51-jährige Harold T. Martin fektive Weise ausnutzen. jemand anderen beschuldigen, man kann
III hatte zu diesem Zeitpunkt eine lange Unter Verdacht stehen bislang vor allem die eigene Verantwortung immer leugnen“,
Karriere für US-Dienste und deren Ver- Hacker, die in Diensten von Nordkoreas sagt der russische Geheimdienstexperte An-
tragsfirmen hinter sich, unter anderem ar- Diktator Kim Jong Un stehen sollen: die drej Soldatow (siehe Interview Seite 18).
beitete er mit einer hohen Sicherheitsein- sogenannte Lazarus-Gruppe. Sollten sich aber die Hinweise weiter
stufung für Booz Allen Hamilton – genau- Dass sie zu spektakulären Cyberangrif- erhärten, könnte das für Nordkorea gra-
so wie vor ihm der NSA-Whistleblower fen in der Lage sind, haben die Mitglieder vierende Folgen haben. Nach dem Sony-
Edward Snowden. dieser Gruppe bereits unter Beweis ge- Hack ging das gesamte Land zeitweise off-
Im Februar erhob die Staatsanwaltschaft stellt: Vor knapp drei Jahren versuchten line. Das war wohl kein Zufall – sondern
gegen Martin Anklage in 20 Punkten. sie zunächst, die Hollywoodstudios von womöglich ein deutlicher Fingerzeig west-
Demnach habe er insgesamt über 20 Jahre Sony zu erpressen, nachdem diese eine licher Dienste.
die unfassbare Menge von rund 50 Tera- Satire über den nordkoreanischen Macht- Am Dienstag berichteten die deutschen
byte mit geheimen Daten beiseitege- haber („The Interview“) produziert hatten. Geheimdienste im Bundeskanzleramt von
schafft. Sollte Martin in allen Punkten ver- Als der Konzern nicht zahlte, überfluteten ihren Erkenntnissen. Es sei wahrscheinlich,
urteilt werden, drohen ihm bis zu 200 Jah- die Hacker das Netz mit Tausenden teils dass ein staatlicher Akteur hinter der At-
re Haft. für die Mitarbeiter peinlichen E-Mails und tacke stecke, heißt es seither auch in deut-
Es liegt nahe, dass es einen Zusammen- mit noch nicht veröffentlichten Filmen. schen Sicherheitskreisen.
hang zwischen Martin und den Shadow Auch hinter dem Onlinebankraub bei Wieso sonst hätten die Angreifer einen
Brokers gibt; zumal das dort bisher ver- der Zentralbank von Bangladesch im vo- „Kill Switch“ einbauen sollen, mit dem
öffentlichte Material offenbar zu den von rigen Jahr sollen Hacker in Diensten von die Attacke beendet werden konnte? Wa-
Martin kopierten Beständen passt. Er Kim Jong Un stecken; sie erbeuteten 81 rum so ein Aufwand für bislang rund ein-
selbst kann allerdings kaum hinter den Millionen Dollar. hunderttausend Dollar an eingetriebenen
Veröffentlichungen stehen, denn die Lösegeldern?
gingen weiter, als er längst in Haft saß. Vielleicht war es sogar nur ein Testlauf
Einige Experten, darunter Edward für einen später noch geplanten, weiteren
Snowden, vermuteten hinter den Shadow „Man kann immer Angriff, womöglich geriet er aus dem Ru-
Brokers in der Vergangenheit russische jemand anderen der, mutmaßten Geheimdienstler – sie müs-
Interessen. beschuldigen, die sen immer vom Schlimmsten ausgehen.
Nachvollziehbar ist damit bislang nur, In Bonn trafen sich zur selben Zeit die
wie ein virtuelles Geheimdienstinstrument eigene Verantwor- wichtigsten Köpfe der Branche zu einem
der NSA womöglich auf den Markt kam. tung leugnen.” lange geplanten Kongress über Cybersi-
Denn die Shadow Brokers lieferten mit cherheit. Gastgeber war das Bundesamt
der Sicherheitslücke bloß die Vorlage. für Sicherheit in der Informationstechnik.
DER SPIEGEL 21 / 2017 15
„Die US-Regierung hatte nach den
Snowden-Enthüllungen versprochen, dass
die Geheimdienste ihre Kenntnisse über
Sicherheitslücken nicht mehr verschwei-
gen“, sagt WikiLeaks-Gründer Julian As-
sange, „sondern sie den betroffenen Fir-
men mitteilen.“ Das sei offenbar eine Lüge
gewesen (siehe Interview Seite 88).
Tatsächlich gibt es in den Vereinigten
Staaten bereits ein Verfahren, in dem die
NSA und andere Sicherheitsbehörden Nut-
zen und Gefahren von geheimen Cyber-
MARC-STEFFEN UNGER
sen von der Idee, der EU zu schaden. Man
möchte sie schwächen, irritieren, unter-
minieren, das ist das Ziel.
SPIEGEL: Die Bundeskanzlerin hat Putin
neulich ausdrücklich gewarnt, sich in den Plenum des Deutschen Bundestags: „Hoch wahrscheinlich, dass es Deutschland trifft“
deutschen Wahlkampf einzumischen.
Macht das gar keinen Eindruck?
Soldatow: Im Kreml haben nach den Erfah-
rungen in den USA und Frankreich viele
das Gefühl, dass es keine negativen Kon-
sequenzen gibt – und es deshalb einen Ver-
such wert sein könnte. Warnungen und
Sanktionen wirken nicht abschreckend,
das haben die jüngsten Leaks in Frankreich
gezeigt. Ich habe auch nicht gehört, dass
danach russische Diplomaten aus Frank-
reich ausgewiesen worden wären. Im Üb-
rigen schätzen insbesondere die großen
traditionellen Parteien in Deutschland die
ALBERTO CRISTOFARI / A3 / CONTRASTO / LAIF
Bundeswehr G36, eine P8 und drei Signal- chen worden. Laut den Er- Diebstahl begangen haben.
Verschwundene pistolen als verschwunden ge- mittlern kann nur ein Soldat Da zur gleichen Zeit in
Gewehre meldet.
Derzeit ermittelt die Bun-
mit Insiderkenntnissen den Munster ein mutmaßlich
rechtsextremer Soldat einge-
ROLAND GEISHEIMER / ATTENZIONE / AGENTUR FOCUS
Bei der Bundeswehr sind in desanwaltschaft, ob der setzt war, der sowohl Franco
den vergangenen Jahren Diebstahl von zwei G36-Ge- A. als auch den ebenfalls
mehr Kriegswaffen ver- wehren, einer P8- und einer festgenommenen Soldaten
schwunden als bisher be- Signal-Pistole aus einem Maximilian T. kannte, prüfen
kannt. Laut einer internen „Fuchs“-Transportpanzer am die Ermittler einen Zusam-
Aufstellung des Verteidi- 13. Februar dieses Jahres mit menhang. Franco A. hatte
gungsministeriums fehlten dem Fall des rechtsextremen über Monate rund tausend
nach Schießübungen der Oberleutnants Franco A. in Schuss Munition aus Bundes-
Truppe im Jahr 2015 drei Verbindung steht. Der wehrbeständen entwendet
G36-Sturmgewehre, zwei G3- „Fuchs“ einer Einheit aus und bei einem ebenfalls fest-
Gewehre und eine P8-Pistole. Minden war auf dem Trup- genommenen Komplizen ge-
Im Jahr darauf wurden zwei penübungsplatz aufgebro- „Fuchs“-Transportpanzer hortet. mgb
20 DER SPIEGEL 21 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Diesel BVB-Attentat versehen und in dem Plastik-
Seehofer fordert Die Spur band verarbeitet war – ein
Kaufprämie des Sprengstoffs mögliches Versteck für einen
Sprengsatz, vermuten die Er-
Die Staatskanzlei des bayeri- Nach dem Anschlag auf den mittler. Zudem entdeckten
schen Ministerpräsidenten Mannschaftsbus von Borussia sie an W.s Arbeitsplatz und
Horst Seehofer (CSU) will Dortmund verfügen die Er- seinem Spind offenbar Spu-
mit einer Kaufprämie den mittler über mehr belastende ren von Wasserstoffperoxid.
Absatz moderner Dieselautos Indizien gegen den Hauptver- Die kriminaltechnischen Un-
fördern. Dadurch soll das dächtigen Sergej W. als bis- tersuchungen haben inzwi-
JÖRG GLÄSCHER
Fahrverbot von Diesel-Pkw lang bekannt. Sprengstoff- schen ergeben, dass bei dem
in den Städten abgewendet hunde schlugen sowohl an Attentat selbst zusammenge-
werden. Laut dem „Maßnah- seinem Bett in seiner Woh- mischter Sprengstoff auf der
menpaket zur Luftreinhal- Seehofer nung in Rottenburg als auch Basis von Wasserstoffperoxid
tung“, das Seehofers Beamte an seinem Spind bei der Ar- verwendet wurde. Untersu-
seit dieser Woche intern ab- ob er die Nachrüstung alter beit an. Darüber hinaus fan- chungen zu Flüssigkeiten und
stimmen, soll es „starke An- Dieselfahrzeuge oder andere den die Ermittler bei den El- Pulvern, die Ermittler bei ih-
reize zur Flottenerneuerung Maßnahmen zur Luftreinhal- tern des Verdächtigen einen ren Durchsuchungen sicher-
von Dieselfahrzeugen“ ge- tung in den Städten geneh- Vogelkasten aus braunem Be- stellten, laufen noch. Sergej
ben. So fordert Bayern auch, migt. Die Autoindustrie wen- ton, der mit einer Bohrung W. bestreitet die Tat. fis, jdl
dass nur Autos mit guter det sich gegen Dobrindts Blo-
Schadstoffklasse auf bestimm- ckadehaltung. Ihr Verband
ten öffentlichen Parkplätzen VDA bot der grün-schwarzen
halten dürfen. Außerdem soll Landesregierung in Baden-
eine Nachrüstung von älteren Württemberg an, mit einem
Dieselautos mit Schadstoff- Software-Update den Stick-
klasse Euro 5 „geprüft“ wer- oxidausstoß von rund zwei
den. Es gebe ein „Optimie- Drittel der sechs Millionen
rungspotenzial von 45 bis 60 Euro-5-Diesel zu reduzieren:
Prozent“, so die Staatskanz- Sie sollen nur noch die Hälfte
lei aus München. Die Kosten ausstoßen. Das baden-würt-
dafür sollten allerdings die tembergische Staatsministe-
Hersteller tragen. rium von Ministerpräsident
Äußerungsrecht den, dass ein Regierungsmit- mal nicht so war: Irgendwo Lenz: Wer in einem Regie-
„Kein Maulkorb“ glied, das „in spezifischer ist immer Wahlkampf. Und rungsamt grob angegriffen
Weise“ Ressourcen seines welchen zeitlichen Abstand wird, soll sich auch in dieser
Der Verfassungsrechtsexperte Amtes in Anspruch nimmt, will man da verlangen? Das Funktion wehren dürfen. Für
Christofer Lenz, 50, Anwalt in neutral sein muss. Hätte Wan- wäre mir als Abgrenzung zu eine angemessene verbale
Stuttgart, über die Klage der ka eine solche Mitteilung auf unsicher. Selbstverteidigung darf ein
AfD gegen Bundesbildungsmi- Briefpapier der Partei veröf- SPIEGEL: Muss man einem Re- Minister auch die Kommuni-
nisterin Johanna Wanka (CDU) fentlicht oder sich in einem gierungsmitglied nicht auch kationsmittel seines Hauses
Interview unter Hinweis da- zugestehen, sich gegen einen nutzen. Also kein Maulkorb –
SPIEGEL: Als Reaktion auf eine rauf geäußert, dass sie als Par- polemischen Angriff zu weh- trotzdem ist es sicher schlau,
geplante AfD-Demo mit dem teipolitikerin spricht, wäre ren – und zwar gerade als Re- im Wahlkampf zurückhalten-
Motto „Asyl braucht Gren- das kein Problem gewesen. gierungsmitglied und nicht der zu sein.
zen. Rote Karte für Merkel!“ Wenn sie aber die Kanäle ih- nur als Parteipolitiker oder SPIEGEL: Wanka hat allerdings
hat Wanka im November res Ministeriums nutzt, ist Privatperson? nicht sich selbst verteidigt,
2015 per Pressemitteilung ih- das heikel. sondern die Kanzlerin.
res Ministeriums erklärt: SPIEGEL: Das Verfassungsge- Lenz: Man kann sich natürlich
„Die Rote Karte sollte der richt wird am Mittwoch über fragen, ob statt des Ministe-
AfD und nicht der Bundes- den Fall verhandeln. Wanka riums nicht das Bundeskanz-
kanzlerin gezeigt werden.“ argumentiert nun unter ande- leramt hätte kontern müssen.
STEFAN BONESS / IPON
Ist sie zu weit gegangen? rem, die Äußerung sei außer- Aber da es hier um die Re-
Lenz: Zumindest hätte sie der halb des Wahlkampfs erfolgt. gierungspolitik insgesamt
AfD weniger Angriffsfläche Lenz: Das mag sein – ich be- ging, halte ich es für vertret-
bieten können. Das Bundes- zweifle aber, ob das der ent- bar, dass eine Ministerin für
verfassungsgericht hat in ei- scheidende Punkt sein kann. ihre Chefin in die Bresche
nem ähnlichen Fall entschie- Selbst wenn es hier zufällig Wanka springt. hip
21
Deutschland
Klimaschutz Kinderehe
Ziel verpasst Wirksame Härtefälle
Die Bundesregierung rechnet Union und SPD haben sich
nicht mehr damit, die Ziele bei den umstrittenen „Kin-
des erst im November verab- derehen“ geeinigt. Die Uni-
schiedeten Nationalen Klima- on stimmte dem Konzept
schutzplans zu erreichen. von Justizminister Heiko
Wie aus dem sogenannten Maas (SPD) zu. Eheschlie-
Projektionsbericht 2017 her- ßungen zwischen Partnern
vorgeht, ist es illusorisch, die unter 18 Jahren sind in
Treibhausgasemissionen bis Deutschland künftig aus-
2030 um mindestens 55 Pro- nahmslos verboten. Ehen
STEFFEN JÄNICKE
zent im Vergleich zu 1990 zu minderjähriger Flüchtlinge
Biermann senken – vor allem weil im müssen die Jugendämter
Bereich Verkehr noch zu viel zwingend den Gerichten
CO2 ausgestoßen wird. Der melden. War ein Partner bei
Berlin dem Willen der Hochschul- Klimaschutzplan sieht vor, der Heirat jünger als 16, soll
Neues Biermann- leitung nicht sprechen: Er dass im Verkehr dann nur die Ehe pauschal nichtig sein.
ist nicht als Redner einge-
Theater plant. Das sorgt nun für
noch maximal 98 Millionen Zwischen 16 und 18 Jahren
Tonnen Emissionen statt der- müssen die Gerichte prüfen,
Der Sänger und Dichter Aufruhr an der Hochschule. zeit rund 160 Millionen anfal- ob ein Härtefall vorliegt und
Wolf Biermann ist als Red- Die Schriftstellerin Ines len. Laut Projektionsbericht die Ehe ausnahmsweise wirk-
ner im Ostteil Berlins wieder Geipel, Professorin für Vers- ist dies unrealistisch: Besten- sam ist. Die CSU hatte die
einmal unerwünscht. Am kunst an der Ernst-Busch- falls ist demnach eine Sen- Unwirksamkeit sämtlicher
31. Mai wird das Berliner Schule, erklärt dazu: „Die kung auf rund 139 Millionen Ehen unter 18 gefordert.
Arbeiter-Theater (bat) nach DDR waltet an der Hoch- Tonnen zu erreichen. Der „Wir werben nach wie vor
Umbauarbeiten seinen Be- schule wie ein sinistrer Verkehrssektor ist der einzi- für das wichtige Signal der
trieb neu aufnehmen. Bier- Geist.“ Geipel schlägt vor, ge Bereich, in dem die CO2- absoluten Nichtigkeitslö-
mann hatte es 1961 gegrün- „dieser Bühne den Namen Emissionen seit 1990 nahezu sung“, sagt CSU-Rechtspoliti-
det, später wurde es von der Wolf Biermann zu geben“. gleich geblieben sind. Aber ker Alexander Hoffmann.
SED-Kulturbürokratie ge- Die DDR hatte 1965 ein Auf- auch andere Bereiche wie „Zudem ist es eine Illusion,
schlossen. Bei der Eröffnung tritts- und Publikationsver- die Energie- und Landwirt- gerichtlich klären zu wollen,
des Hauses, das inzwischen bot gegen Biermann ver- schaft leisten einen geringe- wer aus freien Stücken heira-
zur Berliner Hochschule für hängt, 1976 wurde er nach ei- ren Beitrag als nötig wäre, tete.“ Widerstand gegen
Schauspielkunst Ernst Busch nem Konzertauftritt in Köln um das 55-Prozent-Ziel zu Maas’ Konzept will die CSU
gehört, soll er aber nach ausgebürgert. stb erreichen. böl aber nicht mehr leisten. ama
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D
er Deutsche Gewerkschaftsbund Nur einer mühte sich, Aufbruchstim- Energie war im Kessel. Ein Redner nach
hatte alles vorbereitet für einen ent- mung zu verbreiten: der Kandidat selbst. dem anderen überzog die Wahlverliererin
spannten Abend in Berlin. Vor den Wo immer Schulz am Montag nach dem mit Kritik. Von einer „historischen Sit-
Grillständen stapelten sich Steaks und für die SPD so finsteren Sonntag auftrat, zung“ sprach hernach ein Teilnehmer, und
Würstchen, eine Blaskapelle spielte Old- gab er Durchhalteparolen aus. Wir haben der Tenor sei ganz überwiegend der glei-
time-Jazz. verloren? Wir sind gestolpert? Macht che gewesen: Zu oft habe Kraft die eige-
Der DGB-Mai-Empfang an diesem Diens- nichts, aufstehen, Mund abputzen, weiter- nen Leute abgebürstet, die sozialdemokra-
tag hatte kaum begonnen, als sein promi- machen! tische Wählerklientel vernachlässigt.
nentester Gast bereits zum Aufbruch dräng- So eilte er am Montag in den Parteivor- Es sei ein schwerer Fehler gewesen, so
te. Ein kurzes Signal an seine Begleiter, und stand, am Tag danach in die Fraktion. So monierte ein Redner, dass sie niemanden
schon machte sich SPD-Chef Martin Schulz präsentierte er sich der Landesgruppe Nie- neben sich geduldet habe. Auch Martin
auf den Weg zu einer parteiinternen Runde, dersachsen und auch den Vertretern des Schulz sollte ihre Kampagne nicht domi-
von der niemand etwas mitbekommen soll- Bundeswehrverbands, denen er mit Meta- nieren. Der Gesundheitsexperte Karl Lau-
te: einem Krisentreffen mit Vizekanzler phern aus dem Wortschatz der Marine Mut terbach brachte es schließlich auf den
Sigmar Gabriel und einigen wahlkampf- zu machen suchte: „Das Schiff ist in stür- Punkt: Der Wahlkampf sei „eine Katastro-
erfahrenen Genossen, darunter Schulz’ mischer See und wird beschossen“, ver- phe“ gewesen.
Chefberater Markus Engels und Wirt- kündete er den erstaunten Militärs. „Wir Der Zorn der Genossen galt nicht nur
schaftsstaatssekretär Matthias Machnig. sind nicht untergegangen. Jetzt setzen wir Kraft, er traf auch das Wahlkampfteam in
Es ging um die desolate Lage nach den die Segel und schlagen zurück.“ der Parteizentrale. Allzu passiv hatte sich
verlorenen Landtagswahlen in Schleswig- Ganz unvorbereitet hatte die Schlappe die Schulz-Kampagne in den vergangenen
Holstein und Nordrhein-Westfalen und die von Nordrhein-Westfalen die Parteizentra- Wochen präsentiert. Ohne Idee, wie der
Frage, wie der erlahmten Kampagne des le nicht getroffen. Schon Tage vor der Hype um den „Gottkanzler“ mit politi-
Mannes aus Würselen neues Leben einge- Landtagswahl hatten die Kampagnen- schen Konzepten unterfüttert werden könn-
haucht werden könnte. Knappe drei Stun- te. Die frühere Gesundheitsministerin Ulla
den saß die Runde in der Mitte Berlins zu-
sammen, dann stand das vorläufige Ergeb-
„Verabredet war eine Schmidt, die wie Schulz aus der Region
Aachen stammt, gab zu Protokoll: „Das
nis: Schulz selbst soll erkennbarer, sein kurze Osterpause – aber Willy-Brandt-Haus hat noch jeden Kanz-
Programm in rascher Folge konkreter
werden. Und das Willy-Brandt-Haus wird
dass er dann gleich lerkandidaten kleingekriegt.“
Zusammengetragen wurde vieles. Am
personell Verstärkung erfahren. wochenlang abtaucht ...“ Vormittag im Parteipräsidium war es deut-
So sehen die Eckpunkte des Neustarts lich gnädiger zugegangen: „Sind wir im
aus, von dem in der Parteispitze schon vor planer einen Neustart angekündigt, einen Willy-Brandt-Haus richtig aufgestellt?“,
der Sonntagspleite die Rede war. Während neuen Zeitplan, eine andere Haltung, fri- fragte vorsichtig Parteivize Thorsten Schä-
die Christdemokraten ihr Glück kaum fas- sche Themen. fer-Gümbel. Eine befriedigende Antwort
sen konnten, rangen die Sozialdemokraten Doch erst einmal stand Luftablassen an. bekam er nicht.
nach dem NRW-Desaster um Haltung. Was war so dramatisch schiefgelaufen? In der Bundestagsfraktion wiederum
Drei verlorene Landtagswahlen innerhalb Wie konnte dem euphorischen Schulz-Auf- wollte der Heidelberger Abgeordnete Lo-
von sieben Wochen, in den Meinungs- stieg ein ebenso dramatischer Absturz thar Binding, etwas „zum Bühnensetting“
umfragen von 33 Prozent auf 26 Prozent folgen? Und was heißt das für die Bundes- in der Parteizentrale loswerden: Wenn man
abgerutscht und ein Kandidat, von dem es tagswahl? Nirgendwo wurde so hart ab- schon Niederlagen zu kommentieren habe,
nun in TV-Kommentaren und Internet- gerechnet wie am Montagabend ausgerech- dann doch bitte nicht „wie bei einer Be-
blogs hieß, er sei „entzaubert“: Das hatten net in der Runde der Bundestagsabgeord- erdigung“. Was Binding meinte: Die Bilder
noch im März selbst die düstersten Pro- neten aus Nordrhein-Westfalen. von den fassungslosen Gesichtern der Par-
gnosen nicht vorausgesehen. Als Hauptschuldige hatten die Genossen teiführung, die am Abend der jeweiligen
Die Aufholjagd, die der SPD-Kandidat die abgewählte Ministerpräsidentin Han- Wahlniederlagen bundesweit ausgestrahlt
seit seiner informellen Inthronisierung nelore Kraft ausgemacht, die die Stim- wurden. Bindings Empfehlung: „Wir haben
Ende Januar hingelegt hatte, war abrupt mung in ihrem Land völlig falsch einge- so viele hübsche Frauen – warum stellt man
beendet. „Schulz und seine Partei sind schätzt hatte. Jahrelang schien sie, wenn nicht mal die zum Vorsitzenden?“
zurück auf Los“, unkte der „Stern“. „Es sie mal in Berlin war, schier unangreifbar, Auch die Auszeit des Kandidaten im ver-
ist zum Verzweifeln“, barmte sogar die geradezu sakrosankt für die Abgeordneten. gangenen April kam intern zur Sprache.
„Bild“-Zeitung. Jahrelang hatten die sich von ihrer Lan- „Verabredet war eine kurze Osterpause –
Auch in der Parteispitze breitete sich desvorsitzenden brav die politische Losung aber dass er dann gleich wochenlang ab-
Tristesse aus. „Es fühlt sich an, als ob wir vorgeben lassen. taucht ...“, staunte einer aus der obersten
wieder da angekommen sind, wo wir be- Doch an diesem Montag war alles an- Riege der Führungsgenossen.
gonnen haben“, umschrieb ein Führungs- ders. Kraft selbst war nicht zugegen, doch Zur Tagespolitik hatte sich Schulz wo-
genosse die eingetrübte Befindlichkeit. zu viel Frust hatte sich angestaut, zu viel chenlang nur sporadisch geäußert. Egal,
THOMAS IMO
Auch der Umstand, dass er das Thema
Europa vollständig Sigmar Gabriel über-
ließ, erweist sich im Rückblick als Fehler. Generalsekretärin Barley: „Verbrennt alle Infotische“
In kaum einem Themenfeld ist Schulz so
authentisch, kaum eines stößt insbesonde- Grundgesetz, das dem Bund untersagt, Bil- Problemen ist, ein Kandidat zum Anfassen
re bei jüngeren Wählern auf ein vergleich- dungsprojekte in den Bundesländern zu und Ansprechen: So wollen ihn die SPD-
bares Interesse. Doch als an diesem Mon- finanzieren. Strategen von August an ins Rennen
tag Frankreichs neuer Präsident Emma- Nicht alle SPD-Ministerpräsidenten dürf- schicken.
nuel Macron nach Berlin kam, gab es TV- ten amüsiert gewesen sein. Doch Schulz Auch inhaltlich soll nun in Kürze eini-
Bilder mit Gabriel und Merkel – aber nicht legte nach und schonte seine eigene Partei ges deutlicher erkennbar werden. Das The-
mit Schulz. nicht: „Dass wir uns haben einreden lassen, ma Bildung will Schulz mit einer Konfe-
Was den Genossen jedoch Respekt und junge Menschen müssten früher dem Ar- renz weiter vertiefen. Für den kommen-
Hoffnung zugleich einflößte: Im Augen- beitsmarkt zur Verfügung stehen, war fa- den Dienstag ist zudem ein Treffen mit
blick des größten anzunehmenden Unfalls tal.“ Auch die SPD habe in dieser Frage SPD-nahen Wirtschafts- und Sozialexper-
offenbarte der Kandidat überraschende bisweilen „falschen Reformeifer“ an den ten geplant. Die Professoren Peter Bofin-
Nehmerqualitäten. Auch ihm hatte die drit- Tag gelegt. ger, Henrik Enderlein, Marcel Fratzscher
te Wahlschlappe in Folge arg zugesetzt. So soll es weitergehen. Zusammen mit und Bert Rürup sollen Schulz helfen, ei-
Noch am Sonntagabend hatte er in klassi- Gabriel will er die Rüstungsausgaben zum nen Entwurf für Deutschlands Zukunft
scher Boxer-Terminologie von einem „Le- Thema machen. Auf keinen Fall dürfe auszuarbeiten.
berhaken“ gesprochen. Tags darauf forder- Deutschland, um das Zwei-Prozent-Ziel Auch über personelle Korrekturen wur-
te er von seiner Partei Solidarität ein: „Es der Nato zu erreichen, im Sozialetat spa- de am Dienstag gesprochen. Weil sie den
wird immer wieder Momente geben, wo ren. Europa ist ein weiteres Politikfeld, auf Koordinationsbedarf einer Bundestags-
ich eure Unterstützung brauche – auch dem Schulz Boden gutmachen will. Dass wahlkampagne unterschätzt haben, den-
wenn ihr nicht mit allem einverstanden in Frankreich Macron mit einem klaren ken Schulz und seine Leute nun über eine
seid.“ Bekenntnis zur Brüsseler Staatengemein- Verstärkung der Kommunikationsabtei-
Und schließlich trieb er seine Leute an, schaft und ihrer Währung angetreten ist, lung nach. Auch Wirtschaftsstaatssekretär
die Defizite der bisherigen Kampagne zu hat die Wahlkämpfer im Willy-Brandt- Matthias Machnig, 57, soll in beratender
beheben. Der erste Schritt war das Strate- Haus ermutigt. SPD-interne Umfragen zei- Funktion enger an die Wahlkampfzentrale
gietreffen vom Dienstag, bei dem jeder gen, dass insbesondere Neumitglieder und heranrücken.
der Schwachpunkte erörtert wurde: die junge Wähler ein dezidiertes Europa- Machnig, der schon bei der Schröder-
Rollenverteilung zwischen Schulz und Ga- bekenntnis von der SPD erwarten. Kampagne 1998 dabei war, ist ein bewähr-
briel, die fehlenden Inhalte, die Überlas- Weitgehend fertiggestellt ist das Renten- ter Zuarbeiter von Schulz. Beispielsweise
tung von Wahlkampfleiter Engels. konzept von Andrea Nahles. Rund um den 2014, als er den Europawahlkampf des
Schon am Morgen danach beendete Parteitag Ende Juni wird Schulz seinen früheren EU-Parlamentspräsidenten or-
Schulz seinen Stand-by-Modus und stellte Steuerplan vorlegen. Und in den letzten ganisierte, bei dem der Juncker-Kontra-
um auf Attacke. Verteidigungsministerin sechs Wochen vor dem Wahltermin hent in Deutschland 27,3 Prozent erreich-
Ursula von der Leyen unterstellte er, die schließlich will er auf „die große Reise“ te. Machnig gehörte auch zu denjenigen,
Bundeswehr „im Regen stehen zu lassen“, gehen, wie er sein Wahlkampffinale intern die im vergangenen Jahr bei Parteichef
Innenminister Thomas de Maizière warf nennt. Gabriel für Schulz als Kanzlerkandidat
er in der Leitkultur-Debatte eine „Ablen- Zeitgleich mit Außenminister Gabriel, warben.
kungsstrategie“ vor. so die Verabredung vom Dienstag, will er Engster Vertrauter von Schulz aber ist
Am Donnerstag dann das Thema Bil- in einer Art Roadshow durchs Land ziehen Markus Engels, technischer Wahlkampf-
dung: In einer Diskussionsrunde mit Schü- und für die SPD werben. Die Absicht da- leiter im Willy-Brandt-Haus. Machnig und
lern und Lehrern in Berlin-Neukölln for- hinter: Kanzlerin Angela Merkel soll ruhig Engels arbeiteten schon 2014 zusammen;
derte er ein Ende der umstrittenen G8- bella figura auf dem internationalen Par- damals war Machnig der Chef, heute ist
Gymnasialreform. Zudem will er Schluss kett machen. Schulz hingegen will zeigen, es Engels. Nun lautet die Frage, ob sich
machen mit dem Kooperationsverbot im dass er nah an den Leuten und ihren die beiden sendungsbewussten Wahl-
D
es an der Spitzengenossin wegen stocken- as Buhlen um die verunsicher- teilung klang, ist die „paritätische Bür-
der Radio- und Fernsehinterviews sowie te Klientel am Rande der Ge- gerversicherung“ geworden.
inhaltlicher Defizite einige Kritik gegeben. sellschaft war gestern. Nach Jahrzehntelang war es üblich, dass
„Stammel-Kati“ ätzte bereits der Entertai- drei verunglückten Landtagswahlen sich Arbeitgeber und Beschäftigte
ner Harald Schmidt über Barley. will Martin Schulz vor allem eines den Kassenbeitrag je zur Hälfte teil-
Ihre Fraktionskollegen irritierte sie am vermeiden: mit teuren Vorstößen die ten. Heute aber zahlen die Arbeitneh-
vergangenen Dienstag mit dem Hinweis: Wähler in der Mitte zu verprellen. mer obendrauf einen Zusatzbeitrag
„Verbrennt alle Infotische in den Fußgän- Daher war die Ansage des SPD-Chefs von durchschnittlich 1,1 Prozent
gerzonen! Das ist Wahlkampf von ges- an seine Programmkommission ein- des beitragspflichtigen Bruttoverdiens-
tern!“ Moderne Wahlkämpfe brauchten deutig: Die Bürgerversicherung soll tes. Diesen Aufschlag abzuschaffen
andere Hilfsmittel. Die überraschten Ab- kommen. Aber sie darf die Arbeitneh- ist eines der entscheidenden Wahlver-
geordneten quittierten die Aufforderung mer auf keinen Fall etwas kosten. sprechen: „Arbeitgeber und Ver-
mit hörbarem Gemurmel. Obwohl das an- So präsentiert die SPD in ihrem sicherte werden wieder den gleichen
fänglich gute Verhältnis zu Schulz inzwi- Programmentwurf ein weichgespültes Anteil am gesamten Versicherungsbei-
schen als leicht getrübt gilt, will er an ihr Konzept, um das bisherige Neben- trag zahlen.“ Die Beschäftigten
festhalten. einander von privater und gesetz- würden so nach SPD-Schätzungen
Trotz der Serie von Wahlniederlagen: licher Krankenversicherung zu been- um fünf Milliarden Euro entlastet.
In den meisten Unterbezirken ist die Auf- den. Nur 20 Zeilen umfassen die In der Partei heißt es, dass es durch
bruchstimmung ungebrochen. „Der Rück- Vorschläge für eine Bürgerversiche- einen zweiten Effekt sogar noch mehr
halt ist immer noch da“, berichtet der rung – und sie sind vage genug, um netto vom Brutto geben könnte. Denn
Dürener Bundestagsabgeordnete Dietmar keinen Beitragszahler zu verschre- wer bislang privat versichert ist, soll
Nietan. „Jetzt konzentrieren sich eher cken. „Unser Vorschlag ist nicht ver- wählen können, ob er in die Bürger-
noch mehr Erwartungen auf ihn.“ hetzbar“, sagt SPD-Gesundheitsexper- versicherung wechselt. Dieses Recht
Die Frage ist nur, ob das reicht, der rou- te Karl Lauterbach, der das Konzept würde unbefristet gelten. Lauterbach
tinierten Macht- und Wahlkampfmaschine federführend erdacht hat. „Niemand hofft, dass vor allem jüngere, gut ver-
Merkel Paroli zu bieten. Schulz hat bislang wird sich mit der Bürgerversicherung dienende Privatversicherte in die Bür-
eine Kampagne der Emotionen und der gerversicherung umsiedeln: „Ich gehe
Volksnähe geführt. Kann er nun bestehen
im inhaltlichen Wettbewerb mit einer Kon-
Die Beschäftigten würden davon aus, dass die Beitragssätze
durch diesen Effekt sinken können.“
trahentin, die sich als erfolgreiche Gegen- nach Schätzungen Das Papier aber enthält dazu keine
spielerin autoritärer Männer aus aller Welt
in Szene zu setzen versteht: Trump, Putin,
um fünf Milliarden Euro einzige Zahl. Wer keine konkreten
Ziele nennt, der kann sie auch nicht
Erdoğan? entlastet. verfehlen. Schließlich haben viele Ex-
Und wie lange werden ihn die Genossen perten Zweifel. Heute ächzen vor
unterstützen, von denen viele eigene Am- verschlechtern.“ Genau das war die allem ältere Privatversicherte unter
bitionen und Karrierepläne haben? Politi- Vorgabe des Kanzlerkandidaten. hohen Beiträgen und sehnen den
ker wie Stephan Weil zum Beispiel, der Alle Menschen, die schon heute Mit- Wechsel herbei. Für AOK, Barmer
niedersächsische Ministerpräsident, der glied der gesetzlichen Kassen sind, und Co. wäre das eine teure Klientel.
gern anstelle von Hannelore Kraft stellver- und all jene, die sich künftig neu absi- Das Konzept lässt entscheidende
tretender Parteivorsitzender würde und chern, „werden wir automatisch in die Fragen unbeantwortet: Wie soll die
der Anfang des kommenden Jahres eine Bürgerversicherung aufnehmen“, Bürgerversicherung eingeführt wer-
Landtagswahl zu bestehen hat? heißt es nun in dem Entwurf des Leit- den? Können einstige Privatversicher-
Diese Woche präsentierte Weil ein Steu- antrags. Der Weg in die private Kran- te ihre Rückstellungen in die Bürger-
erkonzept, mit dem er erkennbar andere kenversicherung ist damit künftig ver- versicherung retten? „Eine große Ent-
Schwerpunkte setzen wollte als sein Partei- sperrt. Auf lange Sicht müsste sich die lastung für die gesetzlich Versicherten
chef. Wo Schulz von sinkenden Kita- Privatassekuranz auf das Geschäft mit wird es ohne eine Konkretisierung
Gebühren und steigenden Investitionen Zusatzversicherungen beschränken – nach diesem Konzept nicht geben.
spricht, stellt der Weil-Plan Steuersen- dem Recht zum Beispiel, immer vom Hier liegt der Teufel im Detail“, fürch-
kungen für jene Gehaltsklassen in Aus- Chefarzt behandelt zu werden. tet Franz Knieps, Chef des Dachver-
sicht, in denen sich nicht zuletzt die Fach- Interessanter ist aber, was die SPD bands der Betriebskrankenkassen.
arbeiter von VW befinden. Weiß da je- in ihrem Programm nicht sagt. Von Konkreter ist das Papier nur an
mand besser, was die „hart arbeitende einer Erhöhung der Beitragsbemes- einer Stelle: So sollen neue Beamte
Mitte“ wirklich will? sungsgrenze, wie sie noch Ende 2016 zwar automatisch Mitglied der Bürger-
Es gibt sie noch, die Schulz-Begeisterung die parteinahe Friedrich-Ebert-Stif- versicherung werden. Allerdings dür-
in der SPD. Es gibt aber auch die anderen, tung gefordert hatte, ist keine Rede fen ihre Dienstherren wählen, ob sie
bei denen die Euphorie dem Zweifel Platz mehr. Auch Beiträge auf Miet- oder wie bisher einen Teil der Behand-
gemacht hat. Zinseinnahmen, wie ältere Konzepte lungskosten übernehmen wollen. Vie-
„Ich war so optimistisch, als alles an- sie empfahlen, sind nicht vorgesehen. le Länder hatten auch im Sinne ihrer
fing“, stöhnt ein Spitzenfunktionär aus Es ist kein Zufall, dass die SPD den Staatsdiener auf diese Möglichkeit ge-
Süddeutschland. „Und jetzt staunen wir, Namen ihres Modells modifiziert hat. drängt. Mit den Beamten will es sich
wie das alles verstolpert werden könnte.“ Aus der „solidarischen Bürgerversi- die SPD nicht verscherzen.
Sven Böll, Horand Knaup, cherung“, die verdächtig nach Umver- Cornelia Schmergal
Michael Sauga, Christoph Schult
Bundeswehrsoldaten in Munster
D
er Mann hat keinen Namen, kein ten zu übernehmen und sich endlich an ten einmarschieren. Sondern was passiert,
Gesicht, keine Nationalität. Man die Zwei-Prozent-Vorgabe zu halten: „In wenn sie es täten. Das ist der entscheiden-
darf nicht wissen, welchen Rang er diesem Punkt bin ich sehr entschlossen, de Unterschied.
hat, ob er Soldat ist oder Zivilist, welche und ich werde sehr entschlossen sein, Wissen alle Beteiligten, dass ein Ein-
Sprache er spricht und ob er wirklich ein wenn ich da hinfahre.“ marsch erfolgreich sein könnte, verändert
Mann ist. Das sind die Regeln. Vor allem die Deutschen stehen am sich das politische Kalkül. Wer glaubhaft
Auf den Gängen des Brüsseler Nato- Pranger. Die ökonomisch stärkste Nation machen kann, dass er in der Lage ist, den
Hauptquartiers warnen große Schilder mit des Kontinents hat im vergangenen Jahr Nachbarn zu überfallen, ist schon dadurch
roter Schrift: Achtung, ab hier nicht mehr einen milliardenschweren Haushaltsüber- stark. Denn so kann er Wohlverhalten er-
über vertrauliche Vorgänge reden. An die- schuss erwirtschaftet, die Steuereinnah- zwingen.
sem Freitagnachmittag droht keine Gefahr, men steigen rasant. Doch der Verteidi- Der russische Präsident Putin hat vor
so kurz vor dem Wochenende ist kaum gungshaushalt liegt bei 1,2 Prozent der Jahren den Untergang der Sowjetunion als
noch einer da. Wirtschaftsleistung. „größte geopolitische Katastrophe des Jahr-
Der Nato-Mann steht auf und zeigt auf Berlin steckt in einem Dilemma. Gegen- hunderts“ bezeichnet. Mehrfach hat er nun
die große Landkarte in seinem Büro. Links über den Verbündeten hat es sich verpflich- schon bewiesen, dass er bereit ist, die
das bunte, in kleine Flecken aufgeteilte tet, deutlich mehr für Rüstung auszugeben, Schwächen anderer auszunutzen. Wegen
Westeuropa, rechts der russische Koloss. doch gleichzeitig fragen viele Menschen, ihrer geografischen Lage sind die drei bal-
Wer Geopolitik verstehen will, muss Kar- ob Panzer und Haubitzen noch eine zeit- tischen Republiken der schwache Punkt
ten studieren. gemäße Antwort auf die Krisen der Welt der Nato, an dem er die Geschlossenheit
Im Kalten Krieg war die Lage so: Nato sind. Sollte das Geld nicht eher in Entwick- des Bündnisses am ehesten testen könnte.
und Warschauer Pakt standen sich hoch- lungshilfe investiert werden, in Kitas und Dass Putin militärisch dazu in der Lage
gerüstet in den beiden deutschen Staaten Universitäten? wäre, glauben inzwischen die meisten
und der Tschechoslowakei gegenüber, ent- Und noch eine Frage treibt die Deut- westlichen Verteidigungsexperten, selbst
lang einer relativ kurzen Linie. Es dauerte schen um: Ist Wladimir Putin tatsächlich wenn einige Grundannahmen der Rand-
nur wenige Stunden, Truppen von Han- der geopolitische Buhmann, zu dem er von Kriegsspiele umstritten sind.
nover an die innerdeutsche Grenze zu der Nato gemacht wird? Warum sollte man Im Kalten Krieg konnte das westliche
verlegen. Angst haben vor dem russischen Militär, Bündnis die quantitative Überlegenheit
Heute ist die Situation völlig anders. Der wenn allein die europäischen Nato-Staaten des Warschauer Paktes durch bessere Waf-
Nato-Mann zeigt nach oben, Nordnorwe- fast viermal so viel für Verteidigung aus- fensysteme ausgleichen. Diese Zeiten sind
gen, dann wandert seine Hand nach rechts, geben wie Moskau? vorbei. Russland scheint es in den vergan-
Ostsee, baltische Staaten, Polen, und Schon spricht Außenminister Sigmar genen Jahren gelungen zu sein, die Quali-
schließlich nach unten, Rumänien, Bulga- Gabriel von einer „Aufrüstungsspirale“. In tätslücke zum Westen zu verringern, selbst
rien, Türkei. Eine gigantische Linie vom der Mitte Europas drohe ein „Militärbulle“ wenn Moskau inzwischen quantitativ der
Nordkap bis hinter Trabzon am Schwarzen zu entstehen, warnt der Sozialdemokrat. Nato in den meisten Bereichen unterlegen
Meer. Die Außengrenze der Nato. Schwer Der Streit um höhere Verteidigungsaus- ist. Bei der Anzahl der Soldaten, bei Pan-
zu verteidigen. gaben, so viel ist wenigstens klar, wird zern, Kampfhubschraubern, Kriegsschiffen
Das Bündnis hat Aufmarschpläne vor- zum Thema des Wahlkampfsommers 2017. oder U-Booten liegt der Westen eindeutig
bereitet. Für das Baltikum, falls Russland vorne.
dort so vorgeht wie in der Ostukraine. Für WIE REAL IST DIE RUSSISCHE BEDROHUNG? Doch die Zahlen täuschen. Den Löwen-
Rumänien und Bulgarien, falls der Angriff Die kalifornische Denkfabrik Rand Cor- anteil der Waffensysteme im westlichen
über das Schwarze Meer kommen sollte. poration hat in den vergangenen drei Jah- Bündnis stellen die Amerikaner, die mit
Für die Türkei und Nordnorwegen werden ren in mehr als 20 Planspielen einen russi- der Masse ihrer Streitkräfte außerhalb
die Pläne noch entwickelt. schen Angriff auf das Baltikum durchge- Europas operieren. Die Europäer wiede-
Norwegen? Ja, sagt der Nato-Mann. Die spielt. Anfang März stellten die Experten rum unterhalten ein wildes Sammelsurium
norwegische Regierung beobachte die rus- ihre Ergebnisse dem US-Kongress vor. an unterschiedlichen Systemen, manche
sische Armee sehr genau. Die Übungen, In keinem Fall sei es gelungen, die est- von ihnen, in den östlichen Mitgliedslän-
die Truppenbewegungen, die U-Boote, die nische Hauptstadt Tallinn oder das letti- dern, stammen noch aus sowjetischer Pro-
Schiffe, die Flugzeuge. In Deutschland wür- sche Riga länger als 60 Stunden zu vertei- duktion.
de davon kaum Notiz genommen. digen. „In einigen Fällen würde die Nie- In den europäischen Armeen werden 17
Das also, ganz grob, ist die Lage, wie derlage der Nato schon nach anderthalb verschiedene Kampfpanzermodelle gefah-
man sie im Nato-Hauptquartier sieht. Die Tagen in die Geschichtsbücher geschrie- ren, 13 unterschiedliche Luft-Luft-Raketen
gute Nachricht sei, sagt der Nato-Mann, ben“, sagte Rand-Forscher David Shlapak. benutzt und 29 Fregattentypen. Vor allem
dass sich theoretisch alle Länder einig Der Westen wäre der große Verlierer. aber besteht die Nato aus 28 Armeen, die
seien, dass mehr Geld ausgegeben werden Russland hätte sich wieder als dominanter in ihrer Struktur und Ausrüstung nicht auf-
müsse, um auf die neue Bedrohung zu rea- strategischer Spieler in Zentraleuropa eta- einander abgestimmt sind. Vielfalt ist beim
gieren. Praktisch aber halten sich nur 5 bliert, die Nato würde kollabieren, und die Militär oft Fluch.
der 28 Nato-Staaten an die Zusage, min- transatlantischen Sicherheitsverbindungen Auch die Haushaltszahlen sind irrefüh-
destens zwei Prozent der Wirtschaftsleis- lägen in Trümmern. Es gehe nicht darum, rend. 241 Milliarden Dollar geben die Nato-
tung in die Verteidigung zu stecken. einen Krieg gegen Russland zu gewinnen, Europäer für Verteidigung aus, die Russen
Geld wird nun deshalb zum beherr- so Shlapak. Aber der Westen müsse dafür 66. Selbst wenn man die vielen Schatten-
schenden Thema des informellen Nato- sorgen, einen solchen Konflikt durch eine haushalte Moskaus mit einrechnet, ist die
Gipfels am kommenden Donnerstag in Kombination aus Stärke und Ausgleich zu Relation gravierend.
Brüssel. Das liegt vor allem an einem verhindern. Doch Moskau bekommt ungleich mehr
Mann, der zum ersten Mal dabei sein wird: Die Rand-Simulation ist nicht so absurd, „bang for the buck“, wie die Amerikaner
Donald Trump. wie sie zunächst vielleicht erscheint. Die sagen, also mehr Wumms fürs Geld. Ein
Lautstark wie kein US-Präsident vor Forscher aus Kalifornien wollten nicht wis- russisches Panzerbataillon kostet nur den
ihm drängt er die Verbündeten, mehr Las- sen, ob die Russen in die baltischen Staa- Bruchteil eines deutschen, weil das Mate-
DER SPIEGEL 21 / 2017 29
Deutschland
rial und vor allem das Personal so viel bil- Droht also ein russischer Angriff? Daran Verfügt hatte das CSU-Verteidigungs-
liger sind. Ein russischer Oberstleutnant glaubt kaum jemand. Bei einem Konflikt minister Karl-Theodor zu Guttenberg, der
verdient nur einen kleinen Teil dessen, was hätten es die Russen mit den drei Atom- 2010 nach einer Klausurtagung der Re-
ein deutscher bekommt. mächten der Nato zu tun. Das Risiko wäre gierung freudestrahlend verkündete, die
Russland ist eine militarisierte Gesell- unkalkulierbar. In Syrien haben Moskau Einsparvorgabe des Bundeskabinetts von
schaft, und Moskau unterhält einen mili- und Washington vorgeführt, dass sie alles 8,3 Milliarden Euro sei eine „einmalige
tärisch-industriellen Komplex, der nicht tun, um sich gegenseitig nicht ins Gehege Chance“. Von den Folgen seiner „Neu-
nach wirtschaftlichen Kriterien handelt, zu kommen. ausrichtung“ hat sich die Truppe bis heute
sondern auf Weisung Putins. Aber auch im Kalten Krieg verließ sich nicht erholt.
Seit dem Beinahe-Debakel im Georgien- die Nato nicht allein auf ihre Atomspreng- Der Verwalter des Elends hat sich in ei-
krieg 2008 investiert der Kreml gewaltige köpfe; die Abschreckung beruhte auch da- nem offenen Container untergestellt. Von
Summen in die Modernisierung der Armee. rauf, dass ein konventioneller Angriff mit dort kann Michael Labsch den alten Feld-
Hochmoderne Luftabwehrsysteme und konventionellen Mitteln abgewehrt wer- kran beobachten, an dessen Haken ein
Cruise Missiles auf Kriegsschiffen könnten den konnte. Putins Stärke beruht im Mo- olivgrüner Container baumelt. Drei Sol-
die Bewegungsfreiheit der Nato über ihrem ment darauf, dass er glaubhaft mit einem daten versuchen im strömenden Regen
eigenen Gebiet und der Ostsee im Krisen- erfolgreichen Angriff drohen kann. mühsam mit langen Seilen, die Blechkiste
fall empfindlich einschränken. Vor allem auf einen Lkw zu bugsieren. Es dauert eine
aber testet die Armeeführung regelmäßig IN DER CLAUSEWITZ-KASERNE im sachsen-an- halbe Ewigkeit, bis er schließlich krachend
in riesigen Manövern mit bis zu 70 000 Sol- haltischen Burg sind heute die Folgen der auf der Verankerung landet.
daten die Bereitschaft und das Zusammen- Friedensdividende zu besichtigen, die sich Labsch ist zufrieden. Jetzt folgt Teil zwei
spiel der verschiedenen Waffengattungen. Deutschland und viele andere Nato-Staa- seiner kleinen Showeinlage. Der „Orion V“
Bei einer dieser Übungen wurde die Ein- ten nach dem Ende des Kalten Krieges ge- rollt heran, der ganze Stolz des Logistikba-
nahme des Baltikums durchgespielt. leistet haben. In zweieinhalb Jahrzehnten taillons 171. Ein moderner, geländegängiger
Natürlich spricht einiges dafür, dass Re- schrumpfte die Bundeswehr von mehr als Containerstapler, den man auch im Ham-
gierung und Militärführung die eigenen einer halben Million Soldaten auf 177 000 burger Hafen einsetzen könnte. Dort sind
Erfolge übertreiben, um das heimische und von 2000 Kampfpanzern „Leopard 2“ Hunderte Stapler im Einsatz, Bataillons-
Publikum zu beeindrucken. So wurden im auf 225 im Jahr 2011. kommandeur Labsch aber hat nur einen
vergangenen Juni mehrere hohe Offiziere Die klassische Landes- und Bündnisver- einzigen. Und der ist oft kaputt.
im Kommando der Baltischen Flotte ge- teidigung spielte nach dem Zusammen- Der Oberstleutnant hat das Elend seines
feuert, weil sie den Bereitschaftsgrad ihrer bruch der Sowjetunion keine Rolle mehr. Bataillons auf einem bunten Zettel sauber
Truppe übertrieben dargestellt hatten. Entscheidend waren die Auslandseinsätze aufgelistet. Sollbestand Lkw fünf Tonnen:
Gut möglich auch, dass innerhalb der im Kosovo und in Afghanistan. Danach 22, Istbestand: 5, einsatzfähig: 4. Soll-
Streitkräfte systematisch die Ergebnisse richtete sich die Ausstattung. bestand Lkw 15 Tonnen: 50, Istbestand:
der Militärinspektionen ge- 20, einsatzfähig: 14. Und so geht es
schönt und die Produktions- weiter.
zahlen der Rüstungsindustrie Von 117 Nachtsichtbrillen existieren
übertrieben werden. Waffen- 17. Das Bataillon hat keinen eigenen
systeme, die angeblich neu Gefechtsstand, geliehene Tische, PORTUGAL
und hochwertig sind, sollen Stühle und Zelte tun es im Notfall
sich häufig als aufgemotzter auch. Mobile Unterkünfte gibt es
und sanierter Altbestand he- nicht. Wenn die Truppe auf
rausstellen. Übung fährt, schnorrt sie sich das
Dennoch sieht eine neue Material quer durch die Republik
Studie der Carnegie Stiftung von den fünf Schwesterbataillonen zu-
Russland am Ende doch im sammen.
Vorteil. Zwar sei Moskau
nicht in der Lage, eine gro- DER KALTE KRIEG kommt nicht zurück. Die
ße Militäroperation außer- Zeit der riesigen Armeen, die sich waffen-
halb der unmittelbaren post- starrend gegenüberstanden, ist vorbei. Das
sowjetischen Nachbarschaft Denken in den alten Kategorien ist über-
zu stemmen. Allerdings: In holt. Niemand wird in Zukunft auf breiter
einem „baltisch-osteuropä- Front mit Panzerarmeen irgendjemanden
ischen Szenario“ könnte angreifen. So viel steht fest. Mehr aber
der Kreml Truppen einset- auch nicht.
zen, die zu den modernsten „Heute bieten mögliche symmetrische
Einheiten des Landes zähl- Gegner immer noch ein Bedrohungspoten-
ten, gut ausgebildet und mit zial für das Bündnisgebiet“, heißt es in
hochwertigen Waffen aus- einer vertraulichen „Gedankensammlung“
gerüstet. Die Nato hätte dem des Verteidigungsministeriums zum „Cha-
JÖRG GLÄSCHER / DER SPIEGEL
DEUTSCHLAND UKRAINE
TSCHECHIEN Ostukraine
Seit 2014 von Rostow
SLOWAKEI prorussischen
FRANKREICH MOLDAU Separatisten Südossetien
besetzt Militärkonflikt zwischen Russland
UNGARN und Georgien im August 2008
SLOWENIEN RUMÄNIEN
Krim
KROATIEN Im März 2014 GEORGIEN
ITALIEN Schwarz- Russland einverleibt
SPANIEN meer-
flotte
BULGARIEN
NATO-STAATEN
ALBANIEN
TÜRKEI
GRIECHENLAND
tegie“. Übersetzt heißt das: Ein begrenzter spielen. Als großes Land in der Mitte des docken. So unterstellt Tschechien jetzt
Angriff bewaffneter Soldaten wird kombi- Kontinents soll es die Rolle einer logisti- eine seiner Brigaden der 10. Panzerdivi-
niert mit Cyberangriffen und einer massi- schen Drehscheibe übernehmen, von der sion in Veitshöchheim, die rumänische
ven Desinformationskampagne. Wie kann am Ende auch die Glaubwürdigkeit der Armee wiederum vernetzt sich mit der
der Westen darauf reagieren? Abschreckung abhängt. Division Schnelle Kräfte in Stadtallendorf.
Die neue Unübersichtlichkeit verlangt Gleichzeitig wird Deutschland ein zentra- In Munster bereitet sich die Panzerlehr-
neue Fähigkeiten. Armeen müssen schnell ler Truppensteller. Gegenüber der Nato hat brigade 9 darauf vor, 2019 die Schnelle
verlegbar, flexibel und kampfstark sein sich Berlin verpflichtet, bis 2032 in drei Stu- Speerspitze der Nato zu führen, die im
und alle militärischen Eskalationsstufen fen drei einsatzfähige Heeresdivisionen mit Notfall in wenigen Tagen einsatzbereit
beherrschen. Die Frage, ob Panzer oder insgesamt acht Brigaden aufzustellen. Das sein muss. Fünf weitere Nationen sind mit
Cyberwaffen die Konflikte der Zukunft wäre eine signifikante Verstärkung der Streit- beteiligt.
entscheiden werden, lässt sich mit einem kräfte. Die Struktur dafür gibt es in Teilen Es wäre sinnvoll, die Arbeitsteilung der
beherzten Sowohl-als-auch beantworten. heute schon, aber sie ist weitgehend hohl. europäischen Armeen weiter voranzutrei-
Deutschland wird bei der Neuausrich- Die Bundeswehr bietet anderen euro- ben. Warum zum Beispiel unterhält Slo-
tung der Nato eine entscheidende Rolle päischen Armeen an, sich bei ihr anzu- wenien eine eigene Luftwaffe mit neun
DER SPIEGEL 21 / 2017 31
DER SPIEGEL digital:
Flugzeugen, während gleichzeitig die teu-
„Unnötige
Provokation“
Union Die Wahlsiege haben den
Richtungsstreit in der CDU nicht
beendet. Die Debatte dreht sich
jetzt um die Frage, wer den Erfolg
für sich beanspruchen darf.
D
ie Niederlage ist bekanntlich ein
Waisenkind, der Sieg hat viele
Väter. Die CDU hat in diesem
Krass bescheiden
Liberale Die alte FDP ist auch an ihrer Hybris gescheitert. Um die Rückkehr in den Bundestag
nicht zu gefährden, will sich Parteichef Lindner in Demut üben. Das gelingt – manchmal.
G
espräche mit Christian Lindner An diesem Donnerstagmorgen nach der eine mögliche Koalition mit der CDU in-
können leicht etwas zickig geraten. Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen lau- frage. „Eine schwarz-gelbe Mehrheit heißt
Besonders dann, wenn man Jour- tet die Frage, wie er selbst im Rückblick nicht, dass es eine schwarz-gelbe Regie-
nalist ist und eine Frage stellt, hinter der über seine öffentlichen Auftritte am Abend rung gibt.“ Und „es gibt keinen Automa-
Lindner ein „Narrativ“ vermutet, das er des großen Triumphs denke. tismus für eine Koalition“.
selbst unbedingt vermeiden will. „Narra- Lindner schweigt. In seinem Hirn ver- Sein Erfolg sei ihm zu Kopf gestiegen,
tiv“ ist einer seiner Lieblingsbegriffe, ein schalten sich vermutlich gerade die Warn- kommentierte die „Süddeutsche“. Hoch-
anderer lautet „Framing“. Lindner erkennt synapsen. Natürlich hat er mitbekommen, mut komme vor dem Fall. Viele Fernseh-
oft schon an der Art, wie ein Journalist dass sein Auftreten am Wahlabend auf zuschauer hatten einen ähnlichen Ein-
Luft holt, welches Narrativ dieser im Kopf manchen Beobachter ein bis zwei Tick zu druck.
hat, sprich: welche Geschichte er schreiben selbstbewusst und selbstzufrieden gewirkt Und als nun auch noch der Name Guido
will. Er weiß auch, welches „Framing“ die- hat. Dass er in der Stunde des großen Sie- Westerwelle fällt, weiß Lindner, wo der
sem vorschwebt, sprich: welchen Fokus die ges nicht allzu demütig rüberkam. Hase langlaufen wird. Er seufzt, dann
Story haben soll. Zumindest glaubt er es „Ist doch viel interessanter, was ich jetzt schweigt er lange. Nein, zu diesem Narra-
zu wissen. Christian Lindner überlässt un- sage“, belehrte er den ARD-Moderator tiv wolle er wirklich keine Zitate bei-
gern etwas dem Zufall. Frank Plasberg. Schroff stellte Lindner steuern. Die Mechanismen der Medien hat
34 DER SPIEGEL 21 / 2017
Lindner noch genauer studiert als das deut- das genauso peinlich. Deshalb die heftige wie damals entstehen: dass es sich bei
sche Steuersystem, das seine FDP zwar Reaktion, sagt Lindner. Schwarz-Gelb um ein Projekt der sozialen
immer noch vereinfachen möchte, aber Er denkt derzeit oft an den Tag nach Kälte handle. Man dürfe SPD und Grünen
nicht mehr ganz so penetrant-quengelig der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vor der Bundestagswahl keinen Anlass zur
wie zu Westerwelles Zeiten. „Ich weiß ja, 2010. Damals hatte Angela Merkel allen Denunziation geben.
wie Sie arbeiten“, sagt Lindner. Steuersenkungsplänen eine endgültige Ab- Deshalb, sagt Lindner, werde es mit der
Er weiß auch, wie sehr das nassforsche, sage erteilt – obwohl sie der FDP, Merkels CDU keine Neuauflage alter Koalitionen
bisweilen triumphale Auftreten seines Vor- damaligem Koalitionspartner im Bund, fest geben, sondern „ein verheutigtes Pro-
gängers den Bürgern auf die Nerven ging. versprochen waren. Es habe damals keinen jekt“. Verheutigt ist ein weiteres Lieblings-
Wie es dem Image der Liberalen geschadet Widerstand seiner Partei gegeben, sagt wort aus Lindners Narrativkästchen.
hat. Er selbst war es, der damals mit seinen Lindner im Rückblick. Man habe sich ein- Zugleich wird er penibel darauf achten,
jungen Kollegen Daniel Bahr und Philipp fach vereinnahmen lassen und geschwie- die Option einer Ampelkoalition mit SPD
Rösler immer wieder auf das Imagepro- gen. Er spricht „von einer Art Trauma“ sei- und Grünen offenzuhalten. Es sei klar, dass
blem der FDP hinwies. Lindner ist sehr ner Partei. Eine solche Situation, ein sol- man in der Finanz- und Wirtschaftspolitik
viel sensibler für Fragen des angemessenen ches Verhalten, das hat Lindner sich ge- näher an der Union sei. Bei der Ehe für
Auftritts, als Westerwelle es zu seiner ak- schworen, dürfe es nie wieder geben. alle stimme man jedoch mit der SPD über-
tiven Zeit war. Und nun soll er selbst unter Am Sonntagnachmittag ist Lindner noch ein, betont Lindner. Und wenn Martin
Guido-Verdacht stehen? Triumphal, auf- zu Hause in seiner Wohnung, als die ersten Schulz nun fordere, dass Bund und Länder
trumpfend wirken? Er? Nein, dieses Nar- Trends auf seinem Handy eingehen. Einer- in der Bildungspolitik stärker kooperieren
rativ muss schleunigst gestoppt werden! seits freut er sich über das Abschneiden müssten, dann sei er ganz bei ihm. Schulz
Er habe ja nicht nur mit dem Plasberg seiner Partei, über das beste Ergebnis, das habe er seit dessen Nominierung zwar im-
gesprochen, sagt Lindner. Dann verweist sie je in Nordrhein-Westfalen erzielen mer noch nicht persönlich getroffen, sagt
er auf all seine anderen Fernsehinterviews konnte. Was ihn weniger freut, ist die Aus- Lindner, aber das sei nur eine Frage des
am Wahlabend, auch auf seine Ansprache sicht auf eine mögliche Koalition mit der Terminkalenders und werde nicht lange
in der Düsseldorfer Parteizentrale, in der auf sich warten lassen.
er seine Parteifreunde ausdrücklich zu Be-
scheidenheit aufgerufen habe. Er habe sie
Das Wort „eigenständig“ Lindner weiß, dass er mit dem Sieg in
Nordrhein-Westfalen kaum etwas erreicht
auch ausdrücklich aufgefordert, jetzt keine baut Lindner in diesen hat. Gemessen wird er am Ende daran, ob
Häme über den Absturz der Grünen zu
verbreiten. Dabei hatte Häme für die Grü-
Tagen gefühlt in jeden seine Partei im Herbst wieder in den Bun-
destag einzieht. Dies ist seine eigentliche
nen stets zur Lieblingsbeschäftigung der dritten Satz ein. Mission. Deshalb macht er im Jahr 2017
Liberalen gehört. neun Monate Dauerwahlkampf.
Bei allen weiteren Auftritten in der ver- CDU. Ein schwarz-gelbes Signal, so kurz 400 Termine hat er in den vergangenen
gangenen Woche, egal ob am Montag vor vor der Bundestagswahl, wollte er eigent- Monaten allein in Nordrhein-Westfalen
der Bundespressekonferenz in Berlin oder lich vermeiden. Auch als Lindner kurze absolviert, oft waren es bis zu sechs Auf-
am Dienstag bei „Markus Lanz“ in Ham- Zeit später seine Vorstandskollegen in ei- tritte am Tag. Mitten im Wahlkampf saß
burg, betont Lindner zudem, dass 87 Pro- nem Düsseldorfer Hotel trifft, fließt kein Lindner in einem Café und zückte auf die
zent der Bürger nicht die FDP gewählt hät- Champagner. Die Stimmung bleibt merk- Frage, wie es ihm gehe, sein Smartphone,
ten. All das zählt er jetzt noch mal auf – würdig ernst. um die App mit seinem Terminkalender
als Belege für Bescheidenheit. Man müsse betonen, sagt er nun, vier zu präsentieren. „Alles orange“, sprich:
Aber man spiele sicher auf das Inter- Tage nach der Wahl, dass die „FDP ihre keine Lücken, sieben Tage die Woche, 80
view mit dem Plasberg an, sagt Lindner Eigenständigkeit erhalten hat“. Und dass Stunden mindestens. Den ersten Termin
schließlich. Dabei habe ihn ganz einfach sie sich ihre „Selbstachtung nicht mehr des Tages versucht Lindner erst um halb
gestört, wie der ARD-Moderator die FDP nehmen lässt“. Das Wort „eigenständig“ zehn beginnen zu lassen. Damit er vorher
gleich als natürlichen Koalitionspartner baut Lindner in diesen Tagen gefühlt in noch Sport machen kann. Er hat ein Ru-
der CDU habe vereinnahmen wollen. Dass jeden dritten Satz ein. Gern verweist er dergerät zu Hause, wie Frank Underwood,
er Schwarz-Gelb zur Wunschpartnerschaft darauf, dass seine Partei in Rheinland- der ebenso ehrgeizige wie skrupellose
erklärt habe, ohne nach Lindners Einstel- Pfalz ganz wunderbar mit SPD und Grü- Politiker aus „House of Cards“. Jeden
lung zu fragen. Darum die brüske Zurecht- nen regiere. Morgen 25 Minuten rudern, danach Kraft-
weisung. Auch in Düsseldorf hätte Lindner training.
Man muss etwas tiefer ansetzen, um die- Schwarz-Gelb eigentlich lieber vermieden, Es war nicht leicht, eine Partei, die seit
se Erregung zu verstehen. Lindner hat die zumal sich in Schleswig-Holstein ein Ja- dreieinhalb Jahren nicht mehr im Bundes-
Ursachen für den Absturz seiner Partei im maikabündnis mit der CDU anbahnt. Vor tag vertreten ist, vor der Resignation zu
Herbst 2013, als die FDP erstmals in der der Wahl an Rhein und Ruhr hatte er bewahren, sie am Leben und im Gespräch
Geschichte der Bundesrepublik den Ein- durchblicken lassen, dass ihm ein sozial- zu halten. Das hat Spuren hinterlassen.
zug in den Bundestag verfehlte, genau ana- liberales Bündnis mit der SPD am liebsten Lindner hat bereits jetzt chronisch tiefe
lysiert – nicht nur die Sache mit der nase- sei. Weil es die FDP noch „interessanter“ Augenringe und mehr Falten um die Au-
weis-nassforschen Anmutung. Und er hat gemacht hätte. Lindner ist stets darauf be- gen als manch anderer mit 38. Beim Par-
seine Schlüsse gezogen. Eine der wichtigs- dacht, interessant zu wirken. teitag berichtete Lindner neulich, wie ihm
ten Konsequenzen lautete, dass die FDP Am Donnerstag dieser Woche scheint eine Frau ein Kompliment gemacht habe:
nie wieder als Hilfstruppe der Union auf- sich Lindner langsam mit der schwarz-gel- „Sie sehen gut aus, Herr Lindner. So ver-
treten dürfe. Schon als Jugendlicher habe ben Koalition im Land arrangiert zu haben. lebt.“
es ihn geschüttelt, sagt Lindner, wenn er Wenn diese gelinge, sei das die „beste Er erzählt die Geschichte gern. Sie ist
den Slogan hörte: „FDP wählen, damit Wahlempfehlung für die Bundestagswahl“, ein schönes Narrativ. Sie macht ihn irgend-
Helmut Kohl Kanzler bleibt.“ Als es später, sagt er. Wie immer ist Lindner auch in die- wie interessanter.
zuletzt 2013, hieß: „FDP wählen, damit ser Frage auf das richtige Narrativ bedacht. Markus Feldenkirchen, Christiane Hoffmann,
Angela Merkel Kanzlerin bleibt“, fand er Es dürfe nicht noch einmal der Eindruck Barbara Schmid
Viel zu zahm
Parteien Wer genau sind die Grünen, und warum muss man sie wählen? Die Wahlschlappe
in Nordrhein-Westfalen offenbart das Dilemma der Partei.
Z
wei Wochen vor der Landtagswahl verlor fast die Hälfte ihrer Wähler und Selbst treue Anhänger, die den Schutz
hatte der grüne nordrhein-westfäli- rutschte auf 6,4 Prozent ab. von Natur und Umwelt als das drängendste
sche Umweltminister Johannes Rem- So geht das inzwischen häufig: Bei acht Problem dieser Erde betrachten, lässt die
mel einen besonderen Termin: In einem von zehn Landtagswahlen seit 2015 haben Partei oft ratlos zurück. In Nordrhein-
Park bei Köln überreichte ihm eine Bür- die Grünen verloren, in Rheinland-Pfalz Westfalen sollen nach einer Umfrage etwa
gerinitiative 32 179 Unterschriften für die stürzten sie 2016 um mehr als zehn Pro- 80 Prozent der Bürger nicht gewusst ha-
Erhaltung des Hambacher Forstes. zentpunkte ab, schafften es nur noch ben, wofür die Partei eigentlich steht.
Auf der ehemals riesigen Waldfläche in knapp ins Parlament und hielten sich le- In den neun Ländern, in denen die Grü-
Nordrhein-Westfalen sollen 150 Jahre alte diglich mithilfe der FDP in einer Ampel- nen noch an Regierungen beteiligt sind,
Baumriesen für den Braunkohleabbau ge- koalition an der Regierung. In Mecklen- zeigt sich das Dilemma einer Partei, die zer-
fällt werden. Ein einmaliges Biotop würde burg-Vorpommern und im Saarland flogen rissen ist zwischen ihrem Pragmatismus in
endgültig zerstört, beklagen Umweltschüt- die Grünen sogar aus dem Landtag. der Regierungsverantwortung und der Sehn-
zer. Sie kämpfen seit Jahren für den Erhalt Sicher, vor gut einem Jahr holte Win- sucht der Basis nach einer heilen Umwelt und
der Bäume, ein schönes grünes Herzens- fried Kretschmann in Baden-Württemberg kompromissloser Menschenrechtspolitik.
thema. das Sensationsergebnis von 30 Prozent, Schon die Frage nach dem politischen
Aber dummerweise vertrat Remmel die doch sonst hat die einstige Sponti-Partei Standort beantworten Grünen-Politiker
Landesregierung, die sich nicht für die Bäu- nur noch selten Grund, an Wahlabenden grundverschieden. In Baden-Württemberg
me, sondern für die Braunkohle entschie- zu jubeln. Inzwischen feiern Grüne es als preist Ministerpräsident Winfried Kretsch-
den hat. „Wäre ich nicht in Funktion eines „großen Erfolg“, wenn das Ergebnis im mann Grün-Schwarz als eine „bürgerliche
Amtes hier, ich wäre auf Ihrer Seite und Vergleich zur vorangegangenen Wahl nur Koalition im besten Sinne“. Anderswo,
würde Unterschriften sammeln“, sagte geringfügig zurückgeht wie vor zwei Wo- etwa in Rheinland-Pfalz, stehen die Grü-
Remmel denn auch ein wenig verlegen. chen in Schleswig-Holstein. nen eng an der Seite der Sozialdemokraten
Der kleine verquirlte Satz offenbart das Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eck- in einer linksliberalen Tradition.
große Dilemma. Von einem grünen Um- ardt bemühte nach der NRW-Schlappe Schon vor dem NRW-Wahldebakel sah
weltminister könnten die Wähler erwarten, Durchhaltefloskeln wie „Aufstehen, Krön- der Mainzer Parteienforscher Jürgen Falter
dass er sich gegen die mächtigen Kohle- chen richten, weitermachen“. Doch das die Grünen in einer „denkbar schwierigen
bagger der RWE stemmt und die Verstro- wirkte ähnlich hilflos wie ihre Mahnung, Lage“. Sie säßen in der Falle, sich entweder
mung der Braunkohle, des dreckigsten die Grünen müssten wieder deutlich ma- nach links zur SPD oder nach rechts zur
Energielieferanten überhaupt. Doch nur chen, warum die Ökologie „eine Existenz- CDU orientieren zu müssen und damit je-
einen Trost hat er zu bieten: Dank grünen frage“ sei. weils einen Teil der eigenen Anhänger zu
Verhandlungsgeschicks sei der Braunkohle- Dabei geht es längst auch um die Zu- verprellen. Für Karl-Rudolf Korte von der
tagebau verkleinert worden. kunft der Grünen selbst. In vier Monaten Uni Duisburg-Essen wirken die Grünen
Am vergangenen Sonntag wurden Rem- ist Bundestagswahl, und die Grünen müs- „aus der Zeit gefallen“, ohne Antworten
mel und seine rot-grüne Landesregierung sen dringend diese Frage beantworten: auf aktuelle Themen wie dem Wunsch der
aus dem Amt gewählt. Die Umweltpartei Warum soll man Grün wählen? Bürger nach innerer, kultureller und sozia-
36 DER SPIEGEL 21 / 2017
Deutschland
ler Sicherheit. Die meisten Wähler, das zei- nicht glauben, dass in einer Koalition mit rereien mit potenziellen Wählern ein. Die
gen Umfragen, haben gerade andere Sorgen der SPD mehr für den Umweltschutz he- Aussicht auf bis zu 200 Meter hohe Wind-
als die Umwelt: innere Sicherheit, eine gute rauszuholen gewesen wäre, gerade wenn räder im Wald ließ Natur- und Vogelschüt-
Bildung für ihre Kinder, die marode Infra- es um Arbeitsplätze geht. zer gegen die Pläne der Ökopartei protes-
struktur im Land – genau wegen dieser The- Auch in NRW sind die Grünen in den tieren. „Das ist ein Konflikt, den man nur
men haben die Wähler in Nordrhein-West- Augen vieler Anhänger viel zu häufig ein- schwer gewinnen kann“, sagt Ulrich.
falen Grüne und SPD nun abgewählt. geknickt, wenn sich der große Koalitions- Ähnliche Erfahrungen machten Partei-
Früher haben die Grünen mit unkonven- partner etwa gegen einen schnellen Aus- freunde in Rheinland-Pfalz. Dort hatte sich
tionellen Ideen die bürgerlichen Parteien stieg aus der Braunkohle wehrte. Als die die Spitzenkandidatin Eveline Lemke in
vor sich hergetrieben. Nun müssen sie se- Grüne Sylvia Löhrmann und SPD-Chefin der vergangenen Legislaturperiode ein
hen, dass sie den Anschluss nicht verpassen. Hannelore Kraft 2010 eine rot-grüne Min- Wirtschaftsministerium mit Zuständigkeit
Selbst bei der Gewichtung des urgrünen derheitsregierung beschlossen, verspra- für Energie zuschneidern lassen, um die
Kernthemas sind sie schwammig geworden. chen sie sich in die Hand, friedlich mit- Grünen modern zu präsentieren.
Ob Ökologie wirklich eine Existenzfrage einander umzugehen: kein ewiger Streit Doch kurz vor der Wahl im Frühjahr
ist oder ob man zugunsten der Wirtschaft um die Kohle, wie noch in den Jahren 1995 2016 musste sie feststellen, dass die Kom-
nicht hin und wieder ein Auge zudrücken bis 2005 zwischen der grünen Umweltmi- petenzwerte der rheinland-pfälzischen
sollte, wird von grünen Politikern reichlich nisterin Bärbel Höhn und den SPD-Minis- Grünen bei wichtigen Wählergruppen in
unterschiedlich beurteilt. terpräsidenten Rau, Clement und Stein- allen Bereichen gesunken waren – in der
Besichtigen kann man das im hessisch- brück. Der Preis für den neuen Schmuse- Wirtschaft wie bei der Umwelt. Und für
thüringischen Grenzgebiet, wo der Kali- kurs: das grüne Profil. das damals brennende Thema, die Flücht-
konzern K+S riesige Mengen salz- lingskrise, hätten die Grünen kein
haltigen Abwassers in den Unter- klares Konzept zu bieten gehabt,
grund pumpt. Seit Jahren streiten bemängelt Lemke.
dort zwei grüne Umweltministe- Wo ist der Ausweg für die Grü-
rinnen öffentlich darüber, ob die nen, was wäre eine Erfolg verspre-
Folgen für die Umwelt und das chende Strategie?
Grundwasser noch länger hinge- Mehr Flexibilität, sagt Lemke,
nommen werden dürfen. inzwischen Präsidentin einer pri-
Im schwarz-grün regierten Hes- vaten Hochschule in Karlsruhe:
sen haben die Behörden unter der „Wir müssen auf neue Themen
Verantwortung der Grünen-Minis- schneller und klarer reagieren.“
terin Priska Hinz die Versenkge- Dass man dabei auch mal alte
nehmigung für K+S kürzlich noch Kernwähler verprellen könne,
um ein paar Jahre verlängert. Im müsse die Partei in Kauf nehmen:
Nachbarland Thüringen, wo ein „Dafür kommen auf der anderen
Teil der salzhaltigen Brühe aus Seite viele neue Wähler hinzu.“
dem Untergrund wieder nach „Wir müssen unsere Grundüber-
HUBERT PERSCHKE
reichten, gelang auch deshalb, weil die der zum Strahlen bringen. Der Norddeut- mählich Zweifel am Betreiber. Sie hofft,
Grünen zwischen Nord- und Ostsee breiter sche sondiert bereits mit dem FDP-Mann dass mit der geplanten Reform des Kinder-
und pragmatischer aufgestellt sind als ihre Wolfgang Kubicki den Weg zu einer Ko- und Jugendhilferechts die ‘Handlungsmög-
Parteifreunde in Nordrhein-Westfalen. Das alition, die auch für Berlin ein Modell sein lichkeiten für die Heimaufsicht gestärkt
Minenfeld Bildungspolitik haben sie lieber könnte: Jamaika, Schwarz-Gelb-Grün. Die werden und nur noch zuverlässige Betrei-
der SPD überlassen. grüne Basis ist noch dagegen. Doch Ha- ber eine Betriebserlaubnis bekommen’. So-
Zudem verfügen die Ökos an der Förde beck sagt: „Jetzt müssen wir das Verbin- zialministerin Kristin Alheit: ‘Unangekün-
mit Robert Habeck über einen echten Star. dende suchen, das ist spannend.“ digte Kontrollen müssen künftig ohne kon-
An Popularität kann er es schon fast mit Matthias Bartsch, Markus Deggerich, kreten Anlass jederzeit möglich sein.’“.
Winfried Kretschmann aufnehmen, der Jan Friedmann, Gunther Latsch, Barbara Schmid
sich jedoch auf sein Amt im eigenen Bun- Das Ministerium hat uns bestätigt, dass
desland konzentrieren will: „Für die Bun- diese Aussage nicht auf uns bezogen getä-
destagswahl bin ich nicht zentral zustän- Gegendarstellung zu tigt wurde. Die von Ihnen behaupteten
dig“, betont der grüne Regierungschef. SPIEGEL 4/2017 „Rauer Ton“ Zweifel an unserer Zuverlässigkeit kom-
Habeck hat noch viel vor, sein Macht- men der Landesregierung nicht.
instinkt ist stark ausgeprägt. Um sein Um- Sie schreiben über uns: „Über 200 Jugend-
weltministerium zu stärken, entriss er dem liche hat Sternipark in seinen Einrichtun- Hamburg, den 6.2.2017
Justizministerium die Atomaufsicht. Ha- gen rund um Flensburg untergebracht. 80 SterniPark GmbH, vertr. d.d. Geschäfts-
beck ist ein Kumpeltyp, eine Rampensau. bis 250 Euro zahlt das Jugendamt für jeden führerin Leila Moysich
Einer, der Zuversicht verströmen kann – Flüchtling – pro Tag.“
und gute Laune; etwas, das der mitunter Dazu stellen wir fest: SterniPark hatte in Anmerkung der Red.: Die Ausführungen
beleidigt-schulmeisterlichen Tonart eines diesen Einrichtungen nie mehr als 151 Ju- von Sternipark sind richtig. Der vom SPIE-
Cem Özdemir oder der protestantischen gendliche. Das Jugendamt zahlt für die Be- GEL für die Zahlungen der Jugendämter
Sorgenverliebtheit von Göring-Eckardt treuung im Rahmen der Heimerziehung genannte Korridor von 80 bis 250 Euro be-
fehlt, über die derzeit in vielen Landesver- 158,77 € pro Tag und für die Betreuung ruht auf einer allgemeinen Auskunft des
bänden kaum versteckt gelästert wird. des Clearings bzw. der Inobhutnahme schleswig-holsteinischen Sozialministeri-
Anders als Kretschmann, der inzwi- 199,88 € pro Tag. ums. Dieses äußert sich grundsätzlich nicht
schen fast eine eigene Marke ist und in ei- zu einzelnen Einrichtungsträgern, „wo-
nem überparteilich-moderierenden Stil re- Sie schreiben bezogen auf uns: „Womöglich möglich“ kommende „Zweifel“ waren als
giert, könnte Habeck die Marke Grün wie- kommen auch der Landesregierung [...] all- Wertung des SPIEGEL gedacht.
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BUNDESARCHIV KOBLENZ 440-1313-30
CHRISTIAN THIEL
Wehrmachtsschmuck an der Bundeswehrkaserne Bad Reichenhall, Jagdflieger Marseille 1942: „Nicht mehr sinnstiftend für die heutige Bundeswehr“
A
m Vormittag des vorvergangenen Seit drei Wochen versucht die Ministerin ziert, die mit einer „Demokratieschnalle“
Freitags erwarteten über hundert und einstige CDU-Hoffnungsträgerin aus (Soldatenspott) verziert waren.
Militärexperten im Koblenzer Zen- der größten Krise ihrer Karriere herauszu- Von der Leyen trifft auch nicht den Ton,
trum Innere Führung gespannt den Auftritt kommen, doch es gelingt ihr bisher nicht. als sie einen „Säuberungsprozess“ in der
Ursula von der Leyens. Nachdem ein Jahrelang kümmerte sie sich nicht um Bundeswehr ankündigt, was an die Sprache
rechtsextremes Netzwerk aus Offizieren rechtsextreme Tendenzen in der Bundes- der stalinistischen Verfolgungen erinnert.
um Franco A. aufgeflogen war, hatte die wehr; als Franco A. verhaftet wurde, zeigte Selbst unsicher im Urteil, verunsichert
Ministerin der Truppe ein „Haltungspro- sie auf andere und erweckte den Eindruck, sie ihre Untergebenen. Die Stimmung er-
blem“ bescheinigt. Zwar entschuldigte sie sie wolle nur ihre Karriere retten (SPIEGEL innere ihn an den Titel des Fassbinder-
sich für den pauschalen Vorwurf, doch die 19/2017). Nun will sie ausgerechnet auf Films „Angst essen Seele auf“, erzählt ein
Empörung unter den Soldaten war groß. dem heiklen Feld der Geschichtspolitik Offizier.
Würde es ihr in Koblenz gelingen, Vertrau- reüssieren – und stolpert von einem Miss- Nicht nur Rechtsradikale und Machos,
en zurückgewinnen? geschick ins nächste. die dem Männerideal der Dreißigerjahre
Rund 20 Minuten sprach sie über eine Denn nur auf den ersten Blick lässt sich nachtrauern, machen im Netz Stimmung
umfassende Reform der Bundeswehr, über hier leicht punkten. Für den Satz „Die gegen die Geschichtsoffensive der CDU-
Wehrdisziplinarordnung, politische Bil- Wehrmacht hat nichts mit der Bundeswehr Frau. Auch nachdenkliche Köpfe wie Mi-
dung und die Innere Führung. Dann be- gemein“ ist von der Leyen zwar Applaus chael Epkenhans, Leitender Wissenschaft-
antwortete sie Fragen. Wohl die meisten sicher – nur stimmt er so nicht. ler des Zentrums für Militärgeschichte und
fanden: ein souveräner Auftritt. Das Offizierkorps der Bundeswehr der Sozialwissenschaften der Bundeswehr in
Doch dann wurde am Nachmittag be- ersten Jahre bestand fast vollständig aus Potsdam, warnen davor, den Eindruck zu
kannt, dass von der Leyens Haus das po- Wehrmachtsveteranen. Die Gründerhero- erwecken, der Weg des deutschen Militärs
puläre Bundeswehr-Liederbuch „Kamera- en der Streitkräfte wie Adolf Heusinger, führe direkt von den Demokraten von 1848
den singt!“ gestoppt hat, weil manche Tex- Friedrich Foertsch oder Ulrich de Maizière in die Bundesrepublik. Man könne nicht
te wie das „Panzerlied“ aus dem „Dritten (Vater des Bundesinnenministers) dienten einerseits beklagen, dass es an kritischem
Reich“ stammen. Und obwohl das sicher Hitler in hohen Positionen oder waren an Geschichtsbewusstsein fehle, und anderer-
eine vernünftige Entscheidung ist, die weit Operationen beteiligt, bei denen nach al- seits die aktive Auseinandersetzung mei-
vor der aktuellen Aufregung getroffen wor- lem, was man über die Kriegsführung der den: „Einfaches Abräumen wäre daher der
den war, kippte die Stimmung gleich wie- Wehrmacht weiß, Kriegsverbrechen zu ver- falsche Weg.“
der, denn von der Leyen hatte diesen Be- muten sind. Geht es nach von der Leyen, Inzwischen dämmert der Ministerin,
schluss mit keinem Wort erwähnt. „Dass dürften sie nicht mehr geehrt werden: „Die dass sie in einem Minenfeld steht. Anfang
sie nicht einmal darüber mit uns gespro- Wehrmacht ist in keiner Form traditions- der Woche wurden die mit der Materie be-
chen hat, kann man doch nur als Miss- stiftend für die Bundeswehr.“ Einzige Aus- fassten Offiziere ausdrücklich zum Still-
trauensbeweis bewerten“, sagt einer der nahme seien einige „herausragende Ein- schweigen gegenüber Journalisten vergat-
Offiziere. „Ich fühle mich verarscht.“ zeltaten im Widerstand“. tert, weshalb in diesem Text auch anonym
So ist das im Augenblick: Ein Lieder- Jahrzehntelang marschierten Soldaten zitiert werden muss.
buch genügt, um die Truppe gegen die in Knobelbechern, wie sie ähnlich einst Weil bei den Ermittlungen zum mutmaß-
„IBuK“, die „Inhaberin der Befehls- und die Landser trugen. Damit die Ähnlichkeit lichen Terroristen Franco A. in der Kaser-
Kommandogewalt“, aufzubringen. nicht so auffiel, wurden Modelle produ- ne von dessen Einheit Stahlhelme und
DER SPIEGEL 21 / 2017 39
Wehrmachtszeichnungen gefunden wur- Als beim Auftritt in Koblenz ein Zuhö-
den, ordnete von der Leyen an, „alle rer die Ministerin auf die Existenz eines
dienstlichen Liegenschaften, Räumlichkei- fertigen Entwurfes im eigenen Haus hin-
ten und Gelasse“ auf Nazidevotionalien wies, erweckte sie den Eindruck, sie habe
zu durchforsten. Doch was genau ist ge- davon noch nie gehört. Sollte das zutreffen,
meint? wäre es ein weiterer Beleg dafür, dass von
Das Bundeswehr-Krankenhaus in Wes- der Leyen das Thema jahrelang hat links
terstede in Niedersachsen hängte eine liegen lassen.
Rote-Kreuz-Flagge im Erdgeschoss des In die missliche Lage hat sich von der
Hauptgebäudes ab. Sie soll angeblich im Leyen im Frühjahr 2014 selbst gebracht.
SPIEGEL: Herr Präsident, hat die Bundes- Gramm: Diese Arbeit lag bei der Bundes- SPIEGEL: Warum haben Sie ihn nicht weiter
wehr ein grundsätzliches Haltungs- und wehr 2014 vor, sie war auch von Bundes- beobachtet?
Führungsproblem im Umgang mit rechts- wehrhistorikern als eindeutig extremistisch Gramm: Wir sind an Gesetze gebunden,
extremen Soldaten wie Franco A.? eingeordnet. Zwischen den teils kruden Zei- aufgrund der dürren Hinweise hätten
Gramm: Ich will ein solch pauschales Urteil len schwingt in der Arbeit eindeutig auch wir niemals eine Observation oder Ähn-
nicht treffen. Wir bekommen vielfältige Gewaltbereitschaft mit. Ich bin mir sicher, liches machen können. Hier geht es um
Hinweise auf rechte Tendenzen, sie stam- dass wir Franco A. aufgrund der Masterar- den grundsätzlichen Umgang mit Bürger-
men aus allen Ebenen der Bundeswehr, beit als Extremisten eingestuft hätten. und Freiheitsrechten, die manchen, die
von Kommandeuren und einfachen Solda- SPIEGEL: Der mutmaßliche Komplize von uns jetzt kritisieren, sehr am Herzen
ten. Natürlich aber haben wir bei Franco Franco A. ist im September 2015 durch liegen.
A. gesehen, dass entscheidende Informa- ausländerfeindliche Sprüche in Magdeburg SPIEGEL: Hätten Sie ein rechtes Netzwerk
tionen bei uns nicht ankamen. aufgefallen. Die Akte beim MAD wurde in der Truppe für möglich gehalten?
SPIEGEL: Der Generalinspekteur hat kürz- aber recht schnell geschlossen. Gramm: Die Möglichkeit wurde in den letz-
lich von einem „Muster des Wegsehens“ Gramm: Damals wurde alles getan, was ten Jahren intensiv bei uns diskutiert. Eine
gesprochen. rechtlich möglich ist. Wir haben bei ande- unserer größten Sorgen ist, dass wir so
Gramm: Mein Dienst kann nur bewerten, ren Behörden gefragt, ob etwas gegen den etwas übersehen könnten. Wir konnten
was bei uns an Hinweisen ankommt. Ob Mann vorlag, wir haben nach einem An- allerdings solche Netzwerke bislang nicht
andere wegschauen, kann ich nicht sagen, fasser gesucht. Der Verdächtige wurde be- erkennen.
kann es aber auch nicht ausschließen. Der fragt. Es kam heraus, dass die angeblichen SPIEGEL: Im Sommer 2015 gab es aus rech-
Fall Franco A. gibt Anlass zur Sorge, dass Äußerungen unter erheblichem Alkohol- ten Kreisen offene Aufrufe an Soldaten,
ein Dunkelfeld besteht, das wir bisher einfluss gefallen sein sollen, es stand Aus- mit der Waffe gegen Flüchtlinge zu kämp-
nicht entdeckt haben. sage gegen Aussage. fen. Was haben Sie unternommen?
SPIEGEL: Hat Sie die Affäre Franco Gramm: Die Aufrufe haben wir wahr-
A. überrascht? genommen. Es gab auch Meldungen
Gramm: Ich konnte es erst gar nicht von Soldaten, da haben wir genau
glauben. Der Fall wirkte auf mich hingesehen. Eine durch die Flücht-
wie ein sehr schlechtes „Tatort“- lingskrise ausgelöste verstärkte Ra-
Drehbuch, in dem der Autor eine dikalisierung konnten wir jedoch
völlig unglaubwürdige Geschichte nicht feststellen. Natürlich aber kön-
zusammengebaut hat. Wir haben ei- nen wir nicht in die Köpfe hineinse-
nen solchen Fall in der Extremis- hen, wir können erst aktiv werden,
musabwehr des MAD noch nie ge- wenn sich Soldaten offen zu sol-
habt, er sprengt alle Maßstäbe. chem Gedankengut bekennen.
SPIEGEL: Also alles nur ein spekta- SPIEGEL: Gibt es nach dem Fall Franco
kulärer Einzelfall, kein Grundsatz- A. mehr Hinweise aus der Truppe?
problem? Gramm: Wir bekommen derzeit eine
Gramm: Der Illusion eines Einzelfalls Fülle von Meldungen über rechts-
dürfen wir uns als MAD nicht hin- extreme Soldaten. Allerdings muss
geben. Wir müssen uns vielmehr ich sagen, dass sie sehr unterschied-
fragen, ob wir das Undenkbare als liche Qualität haben. Einige kennen
Szenario nicht genug ins Visier ge- wir schon, anderen müssen wir erst
nommen haben. Normalerweise be- noch nachgehen.
schäftigen wir uns mit rechts gesinn- SPIEGEL: Also keine neuen gravie-
ten Soldaten. Dass aber ein äußerst renden Vorkommnisse?
intelligenter Mann über eine lange Gramm: Es ist zu früh, das zu sagen.
Zeit und hoch konspirativ An- Offensichtlich hat der Fall von
schlagspläne aushecken konnte, Franco A. einen neuen Sensibilitäts-
sich sogar als Flüchtling tarnt, hat schub ausgelöst. Man schaut in der
bei uns so niemand erwartet. Truppe eher hin, die Wahrnehmung
SPIEGEL: Machen Sie sich Vorwürfe? für Rechtsextreme hat zugenom-
Gramm: Nach einem solchen Fall men. Deswegen werden wir genau
muss sich jede Behörde, auch der prüfen, ob wir in der Vergangenheit
MAD, Gedanken über Versäumnis- etwas übersehen haben.
DAVID KLAMMER / LAIF
„Robuste Gespräche“
das sinnvoll?
Gramm: Wehrmachtutensilien an sich sind
für uns kein Grund für Ermittlungen, auch
ein Foto des Großvaters in Wehrmacht-
uniform nicht. Falscher Traditionsgeist, Sicherheit Aus Angst vor Anschlägen des IS wollen die USA Laptops
der nicht in den Extremismus schwappt,
ist vielleicht ein Verstoß gegen Dienst- im Handgepäck auf Transatlantikflügen verbieten. Die Bundes-
vorschriften, aber kein Fall für den MAD. regierung ist nicht überzeugt, bereitet sich aber dennoch darauf vor.
Anders sähe es aus, wenn Hakenkreuze
E
auf den Helmen wären oder Bezüge igentlich war die Mission für Thomas Als ersten Schritt haben die Amerikaner
zur SS. de Maizière klar, als er am Mittwoch daher im März Laptops in der Kabine auf
SPIEGEL: Im Verteidigungsministerium heißt Donald Trumps Nationalen Geheim- zehn Strecken aus dem arabischen Raum,
es dieser Tage, der MAD sei in den letzten dienstdirektor in Berlin empfing. Der Mi- der Türkei und Nordafrika in die USA ver-
Jahren zu sehr gestutzt worden. Brauchen nister wollte Dan Coats deutlich machen, boten; Großbritannien verfügte ein ähnli-
Sie mehr Personal? warum die Bundesregierung nicht viel da- ches Verbot. Nun könnte der Laptop-Bann
Gramm: Wir haben bereits vor dem Fall von hält, dass die USA ihr Laptop-Verbot auch bald für Flüge gelten, die in Europa
Franco A. zusätzliches Personal zugesagt auf deutsche Flughäfen ausdehnen wollen. und anderen Orten starten, womöglich so-
bekommen, da wir ja ab dem Sommer alle Man habe ja Verständnis für die von den gar weltweit. „Die bislang geführten Ge-
Rekruten einer Sicherheitsüberprüfung Amerikanern vorgeschlagenen Ideen, heißt spräche deuten darauf hin, dass eine Aus-
unterziehen müssen, das ist aufwendig. es im Sprechzettel des Ministers, der dem weitung auf EU-Flughäfen wahrscheinlich
Hinzu kommt, dass wir dabei auch Inter- SPIEGEL vorliegt, allerdings gebe es in ist und dass deutsche Flughäfen von einer
netrecherchen durchführen sollen, das Ge- Europa bereits einen „hohen Luftsicher- solchen Ausweitung nicht ausgenommen
setz ist derzeit noch in der Mache. Da viele heitsstandard“, mit dem sogenannte un- würden“, kabelte der deutsche Botschafter
Extremisten dort recht offen auftreten, ist konventionelle Sprengvorrichtungen im in Washington am 11. Mai nach Berlin
das ein wichtiges Element, um sie zu er- Handgepäck entdeckt werden können. („VS – Nur für den Dienstgebrauch“).
kennen. Einen Tag später, beim Rat der EU-In- Die Bundesregierung hält die Befürch-
SPIEGEL: Kann der Militärische Abschirm- nenminister in Brüssel, klang der Deutsche tungen der Amerikaner eigentlich für über-
dienst mit den neuen Sicherheitsüberprü- allerdings schon deutlich konzilianter. „Ich zogen. Außerdem ist sie skeptisch, ob die
fungen Rechtsextreme wie Franco A. muss sagen: Im Zweifel geht dann die Si- amerikanischen Vorschläge das Problem
schon vor dem Eintritt in die Bundeswehr cherheit vor Bequemlichkeit.“ wirklich lösen, Laptops könnten schließ-
stoppen? Der Vortrag der Amerikaner hatte wohl lich auch im Gepäckraum explodieren. Sie
Gramm: Eine Sicherheitsüberprüfung der Eindruck gemacht. Die USA versuchen seit weiß allerdings auch: Am Ende können
Stufe eins kann nicht tief in die Köpfe hi- geraumer Zeit, den Europäern klarzuma- die Amerikaner ihre Vorschläge auch ohne
neinschauen. Im Kern geht es darum, be- chen, dass im Luftverkehr eine neue Ge- europäisches Einverständnis umsetzen.
kannte Gewalttäter oder bekannte Extre- fahr terroristischer Anschläge droht. Die Airlines schlagen schon Alarm, sie befürch-
misten zu erkennen und am Eintritt in die Bastler des IS sind nach Erkenntnissen der ten Umsatzeinbrüche und hohe Kosten für
Bundeswehr zu hindern. Ein Mann wie Amerikaner offenbar in der Lage, Spreng- zusätzliche Kontrollen, Lufthansa-Chef
Franco A., der keinerlei Vorstrafen hatte, stoff in Laptops und ähnliche elektronische Carsten Spohr trug seine Bedenken sogar
wäre aber allein durch eine solche Über- Geräte so einzubauen, dass er mit den gän- direkt bei der Bundesregierung vor.
prüfung vermutlich nicht aufgefallen. gigen Sicherheitskontrollen an Flughäfen Für zusätzlichen Unmut sorgt, dass die
Interview: Matthias Gebauer nur schwer zu entdecken ist. Amerikaner die Europäer offenbar im Dun-
42 DER SPIEGEL 21 / 2017
Deutschland
keln lassen, was Details der Gefährdung So geschah es im Februar 2016, als ein Ter- Washington. Allen ist jedoch klar, dass die
angeht. Während US-Präsident Trump rorist eine in einem Notebook versteckte Amerikaner das Verbot am Ende wohl
möglicherweise Geheimdiensthinweise da- Bombe nach dem Start in Mogadischu auch ohne Zustimmung der Europäer
rauf, wie IS-Terroristen Flugzeuge angrei- sprengte. Der Mann wurde bei der Detona- durchsetzen können. Das Open-Skies-Ab-
fen könnten, freigebig mit dem russischen tion aus dem Flugzeug geschleudert, fast alle kommen verpflichtet beide Seiten lediglich
Außenminister Sergej Lawrow teilte (siehe anderen Insassen blieben aber unverletzt. zu Konsultationen.
Seite 76), zeigten sich die Amerikaner in Die Europäer weisen zudem auf die Ge- Die Bundesregierung plant daher längst
den Gesprächen mit ihren europäischen fahr hin, dass sich die Akkus der Geräte für den Fall, dass die Amerikaner Ernst ma-
Freunden deutlich weniger offen. „Infor- im Gepäckraum entzünden könnten. „Wür- chen. Um Verzögerungen vor allem in Frank-
mationen, die eine Veränderung der Ge- den größere elektronische Geräte nicht furt, einem großen Umsteigeplatz im inter-
fährdungslage auch in der EU zur Folge mehr im Handgepäck mitgeführt, sondern nationalen Luftverkehr, möglichst gering zu
haben, sollten unmittelbar geteilt werden, im aufgegebenen Gepäck transportiert, halten, ist beispielsweise angedacht, dass grö-
damit alle betroffenen Staaten in die Lage entstünde ein neues Safety-Risiko, da sich ßere elektronische Geräte bereits beim Aus-
versetzt werden, geeignete Maßnahmen die in den Geräten befindlichen Lithium- gangsflughafen eingecheckt werden.
ergreifen zu können“, heißt es daher auch Batterien unter bestimmten Voraussetzun- Und: Wenn es tatsächlich zu einem Lap-
auf de Maizières Sprechzettel. gen entzünden können“, kabelte der deut- top-Verbot kommen sollte, dann will de
Treffen zwischen beiden Seiten brach- sche Botschafter aus den USA. Zudem sei Maizière jedenfalls erreichen, dass es aus-
ten keinen Durchbruch, zuletzt bemühte die Wahrscheinlichkeit, einen präparierten reichend Zeit gibt, das Verbot umzusetzen,
sich die stellvertretende US-Heimatschutz- Laptop im aufgegebenen Gepäck zu ent- und, vor allem, dass es für ganz Europa gilt.
ministerin Elaine Duke am Mittwoch in decken, „erheblich geringer, weil der EU- Dahinter steckt die Sorge, dass die Briten
Brüssel, Vertretern der EU-Kommission Standard für die Reisegepäckkontrolle auf einen Extradeal mit den Amerikanern
und verschiedener EU-Länder den Lap- größere Sprengstoffmengen ausgerichtet schließen und ihrem Drehkreuz London-
top-Bann schmackhaft zu machen, von ist und den bei den US-Maßnahmen im Heathrow so einen Wettbewerbsvorteil ver-
deutscher Seite waren Innenstaatssekre- Fokus stehenden Stoff nicht beinhaltet“. schaffen könnten.
tärin Emily Haber und der Die Route zwischen Europa
zuständige Abteilungsleiter Drähte Sprengkapsel und den USA ist der am häu-
aus dem Verkehrsministerium Sprengstoff figsten beflogene Luftfahrtkor-
dabei. ridor der Welt, täglich starten
Die Amerikaner sprachen etwa 520 Flüge in Richtung
von „robusten Gesprächen“. USA, entsprechend umkämpft
Übersetzt heißt das: Es flogen ist der Korridor zwischen den
die Fetzen. Die US-Vertreter Airlines. „Für uns wäre das ein
sagten zwar zu, mit den Euro- Alptraum“, sagt ein Lufthansa-
päern weiter zu reden, ihre For- Sprecher über die amerikani-
derung nach einem Laptop-Ver- schen Pläne. Die Fluggesell-
bot nahmen sie jedoch nicht schaft fürchtet, dass zusätzlich zu
vom Tisch. „Wir werden die nö- den vorhandenen Kontrollen ein
tigen Veränderungen vorneh- zweites Sicherheitssystem nötig
men, damit Flugpassagiere wei- würde, und zwar auf eigene Kos-
ter sicher reisen können“, sagte 9-Volt-Batterie ten. In einem Telefonat mit ei-
ein hochrangiger US-Beamter nem Mitglied der Bundesregie-
danach. „Wir haben Hinweise rung brachte Lufthansa-Chef
auf eine anhaltend hohe Gefähr- Spohr am Freitag vergangener
dungslage.“ FBI-Modell eines Laptops mit Sprengstoff Woche noch weitere Szenarien
Doch selbst wenn sich Euro- Überzogene Befürchtungen? vor, de Maizière soll sie in einer
päer und Amerikaner bei der Telefonkonferenz mit euro-
Einschätzung der Gefahr annähern sollten, Amerikaner und Briten sehen das an- päischen Kollegen und US-Heimatschutz-
herrscht weiter Streit darüber, welche Vor- ders. Wenn Laptops mit dem Gepäck auf- minister John Kelly aufgegriffen haben.
kehrungen geeignet wären, um für mehr gegeben werden, würde das Risiko „signi- Denkbar sei, heißt es bei der Lufthansa,
Sicherheit zu sorgen. Während die Euro- fikant sinken“, sagen britische EU-Diplo- dass ein Terrorist mit einem Kumpel zum
päer davon ausgehen, dass es ausreicht, maten. Ein Grund: Aufgegebene Laptops Flughafen fährt, der ein Reiseziel ansteu-
wenn sie Handgepäck stichprobenartig auf können nicht einfach per Knopfdruck ak- ert, an dem es noch keinen Laptop-Bann
Sprengstoff untersuchen, wollen die Ame- tiviert werden, Fernsteuerungsmechanis- gibt. Der Freund überreicht dem in die
rikaner Laptops künftig auf transatlanti- men aber würden von den Gepäckscan- USA reisenden Passagier im Warteraum
schen Flügen nur noch im eingecheckten nern am Flughafen leichter erkannt. am Gate einfach sein Gerät, auch deshalb
Gepäck befördern. Zudem würde die Explosion einer rela- müsste ein zweites Mal unmittelbar vor
Aus Sicht der Europäer ist die Menge tiv geringen Menge Sprengstoff in einem dem Einsteigen kontrolliert werden.
Sprengstoff, die man in einem Laptop un- vollen Gepäckraum eher verpuffen als in Ein derartiges Modell betreibt die Luft-
terbringen kann, zu gering, um ein Flug- der Kabine. Andererseits, so wendet Ger- hansa zum Beispiel in Panama, wo sie
zeug zum Absturz zu bringen. „Wenn Sie hard Hüttig, ehemals Professor für Luft- strengere Sicherheitsstandards anlegt als
zwei Reihen hinter einem Attentäter sit- und Raumfahrt an der TU Berlin, ein: vor Ort üblich. Der Aufwand für die
zen, passiert Ihnen nichts“, sagt ein EU- „Wenn es zu einem Brand kommt, kann Extrakontrollen hält sich dort allerdings
Experte süffisant. Die Amerikaner beru- er in der Kabine effektiver gelöscht wer- in Grenzen. In Panama-Stadt hebt nur
higt das verständlicherweise kaum. Ein den als im Frachtraum.“ fünfmal pro Woche eine Lufthansa-Ma-
Terrorist, der sein Gerät am Fenster zur In der kommenden Woche wollen sich schine ab.
Explosion bringe, könne sehr wohl erheb- Experten beider Seiten erneut mit techni- Markus Becker, Sven Böll, Dinah Deckstein,
liche Schäden anrichten, sagen sie. schen Fragen beschäftigen, dieses Mal in Peter Müller, Wolf Wiedmann-Schmidt
Lauras Flucht
Affären Ein Referent im baden-württembergischen Innenministerium organisierte eine Rettungsaktion
aus IS-Gebiet, die gehörig schiefging. Was wusste Innenminister Thomas Strobl (CDU)?
S
ie machen es genau wie abgespro- Haag. In einem Straßencafé erzählt Eu- dern zu fliehen. Das war der erste Versuch.
chen. Am Morgen des 12. Juli 2016 gene H., ein Niederländer, die Details ei- Der erste Fehlschlag. Sie wurden an einem
schleichen Laura H. und ihr Mann ner tragischen Rettung. Checkpoint aufgehalten und nach Mossul
Ibrahim I. gemeinsam mit den beiden Kin- Laura H. hatte keine leichte Kindheit – zurückgeschickt. Nun wurde das Leben in
dern in Mossul aus dem Haus. Seit Mona- mit einem schwerkranken Bruder und El- der IS-Enklave mit einem wütenden Mann,
ten sitzt die Familie in der irakischen Hoch- tern, die sich trennten, als sie etwa elf war. der nichts von ihren Plänen gewusst hatte,
burg des „Islamischen Staates“ (IS) fest. Schon als Jugendliche suchte sie Kontakt erst recht zur „Hölle“, sagt sie später. Sie
Die Flucht ist bis ins Detail geplant, so in die maghrebinisch geprägte muslimische habe nur noch geweint. „Sie geriet in Pa-
scheint es. Um vier Uhr morgens brechen Gemeinde ihrer Heimatstadt Zoetermeer. nik“, sagt ihr Vater, wollte unbedingt zu-
sie auf. Er fährt das Auto, sie sitzt auf dem Sie konvertierte zum Islam, bald darauf rück in die Niederlande.
Beifahrersitz, die Kinder auf dem Schoß. trug sie ihren ersten Hidschab, der ihren Das war der Moment, in dem der De-
Sie haben eine weiße Fahne dabei, die sie Körper vollständig verhüllte. radikalisierer Daniel Köhler ins Spiel kam.
aus dem Fenster hängen sollen, sobald sie Über die Datingseite Moslima.com lern- Den Kontakt stellte eine Beratungsstelle
das IS-Territorium verlassen haben. An ei- te sie den in Deutschland geborenen Ibra- für die Familien von niederländischen
nem Treffpunkt sollen Schleuser auf Salafisten her, bei deren Gründung
sie warten und nach Arbil ins nie- Köhler mitgewirkt hatte. Für Eu-
derländische Generalkonsulat brin- gene H. war er so etwas wie der
gen. Doch weit kommen sie nicht. letzte Strohhalm. Er würde Leute
Die Reise in die Freiheit endet in mit guten Kontakten im Irak ken-
einem Straßenloch, das Auto bleibt nen, erzählte Köhler dem Vater.
stecken – eine Straßenblockade des Profis, die bei der Flucht helfen
IS. So wird es Laura H. später ihrem könnten. Für einen verzweifelten
Vater erzählen. Sie und ihr Mann Vater, der seine Tochter und sei-
laufen mit den Kindern zu Fuß wei- ne Enkelkinder zurückhaben will,
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ter, als plötzlich Schüsse fallen und klang das überzeugend.
Mörsergranaten durch die Luft ja- Die Operation begann. Nachdem
gen. „Nicht schießen, ich bin einer das Geld überwiesen war, landete
von euch“, soll ihr Mann den IS- ein Engländer auf dem Amsterda-
Kämpfern zugerufen haben. Die Fa- mer Flughafen Schiphol, von dem
milie gerät in ein Feuergefecht zwi- Laura H. im kurdischen TV: Nur scheinbar ein Happy End Eugene H. nur den Vornamen er-
schen kurdischen Peschmerga-Mili- fuhr. Er beriet den Vater bei Telefo-
zen und IS-Kämpfern. Ihr Mann sei schwer him I. kennen. Die beiden heirateten und naten mit der Tochter. Es gab nun Code-
verletzt worden, er sei voller Blut gewesen, zogen zusammen. Im Sommer 2015 brach- wörter wie „Porkel“, den Namen ihres
erzählt Laura H. Sie habe sich mit den Kin- te sie ihr zweites Kind zur Welt. Kurz da- Stoffhasen. Dann wusste der Vater, sie war
dern in die Büsche gelegt und sei dann rauf war die junge Familie plötzlich ver- allein und konnte sprechen. Er gab ihr
weitergelaufen, bis auf die kurdische Seite schwunden. dann Anweisungen, wie sie sich verhalten
der Front. In Sicherheit. Wo ihr Mann sei, Ihr Vater schaltete die niederländische solle. Im April begannen die konkreten
wisse sie nicht, sagt sie später. Polizei ein. Die machte ihm wenig Hoff- Vorbereitungen, Laura aus dem IS-Gebiet
Lauras Flucht aus Mossul ist eine Ge- nung, die Sicherheitsbehörden könnten herauszuholen.
schichte, in der so ziemlich alles aus dem nichts für ihn tun. Eugene schrieb Whats- Laut Eugene H. seien Kontaktleute in
Ruder lief. Es gab mehrere Versuche, Fehl- App-Nachrichten an seine Tochter, die zu- Mossul gewesen. Die Absprache: Eine
schläge und ein nur scheinbares Happy nächst nicht reagierte. Im November 2015 Stunde vor der Aktion würde sie erfahren,
End. Ihr Mann wurde schwer verletzt, Kon- dann das erste Lebenszeichen. Über einen dass es losgeht. „Das ist zu kurz und wird
taktleute in Mossul sollen vom IS enttarnt Zwischenstopp in der syrischen Hauptstadt niemals klappen“, habe sie geantwortet.
worden sein. Mindestens einer der beiden des Kalifats Rakka war die Familie weiter Dann habe es eine dramatische Wen-
soll hingerichtet worden sein. nach Mossul gereist. „Alles gut“, schrieb dung gegeben. „Zwei Kontaktleute in Mos-
Eine Schlüsselrolle in dieser blutigen sie, „Allah ist der Beschützer.“ sul wurden enttarnt“, sagt Eugene H. Ihm
Rettungsaktion spielt ein deutscher Spe- Manchmal konnte der Vater kurz mit sei gesagt worden, dass mindestens einer
zialist für „Deradikalisierung“. Daniel seiner Tochter über WhatsApp telefonie- von ihnen vom IS exekutiert worden sei.
Köhler, 32, arbeitet im Innenministerium ren. Ihr gehe es nicht gut. Hygiene und Der andere wahrscheinlich auch.
von Baden-Württemberg als wissenschaft- Verpflegung in Mossul seien schlecht, die Als der SPIEGEL Daniel Köhler mit den
licher Referent, zuständig für Präventions- Kinder hätten Läuse. Schon in den Nie- Aussagen des Vaters konfrontiert, bestrei-
projekte gegen islamistischen Extremis- derlanden habe ihr Mann sie geschlagen. tet er die Verbindungen nach Mossul und
mus. Auf sein Geheiß überwies der Vater Im IS-Gebiet seien die Übergriffe noch hef- die möglichen Exekutionen. „Der Plan
von Laura H. 10 000 Euro auf ein Konto tiger geworden. Vergebens habe sie ver- war, dass Laura H. und ihre Familie Mossul
bei einer britischen Bank. Das war der sucht, sich von ihm zu trennen. auf eigene Faust verlassen“, sagt Köhler.
Startschuss für die Operation. Als Weihnachten 2015 eine Bekannte Seine Kontaktleute seien dafür zuständig
Der SPIEGEL traf den Vater der 21-jäh- die Erlaubnis erhielt, nach Arbil zu fahren, gewesen, die Niederländer von einem
rigen Salafistin am Donnerstag in Den entschloss sich Laura spontan, mit den Kin- Treffpunkt aus in das Generalkonsulat
44 DER SPIEGEL 21 / 2017
zation Studies“. Daniel Köhler habe ver-
schiedene Deradikalisierungsprogramme
und Methoden entwickelt und „weltweit
Regierungen beraten“, heißt es, unter an-
derem in den Vereinigten Staaten von
Amerika, den Niederlanden, Italien, Ka-
nada oder England.
Aufgrund „seiner herausragenden Leis-
tungen“ sei er zum ersten Gerichtsgutach-
ter für Deradikalisierung und Radikalisie-
rungsevaluation von terroristischen Häft-
lingen in den USA ernannt worden. Ein
Job, für den in Deutschland in der Regel
erfahrene Psychiater zuständig sind.
Köhler hat einen Abschluss in Religions-
wissenschaften von der FU Berlin und
einen „Master of Peace and Security Stu-
dies“ der Universität Hamburg. Sechs
Somalier und einen Amerikaner habe er
bereits begutachtet, sagt er. Wer sein In-
stitut besuchen will, muss zu ihm nach
Hause fahren. Denn das ist die Adresse.
Sein einziger Angestellter sei er selbst.
Nun also Fluchthilfe aus dem Irak. In ei-
ner WhatsApp-Nachricht wies Köhler den
Vater darauf hin, dass die 10 000 Euro auf
jeden Fall verloren sind. Es gebe keine Ga-
rantien. „Wenn unsere Leute raus müssen
und Laura/Ibr folgen nicht dem Plan oder
irgendetwas geht schief, ist das Geld trotz-
dem ausgegeben“, schreibt er.
Nach etlichen gescheiterten Versuchen
sollte Eugene H. den Mann seiner Tochter
ACKERMAN + GRUBER