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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: Malta, SPIEGEL DAILY, SPIEGEL BIOGRAFIE

W elche Verheißung, rund 320 Sonnentage im


Jahr. Die Fahrt ins Blaue, auf die Mittelmeer-
insel Malta, auf die sich die SPIEGEL-Journalisten
Jürgen Dahlkamp und Christoph Henrichs bega-
ben, hätte sich also auch touristisch lohnen können
– würden die geheimnisvollen Briefkästen, nach
denen Dahlkamp und Henrichs suchten, nicht eher
Dahlkamp, Henrichs im Schatten, in dunklen Fluren hängen. Die Brief-
kästen gehören deutschen Konzernen, genauer:
ihren Tochterfirmen, die auf diese Weise oft Geld am deutschen Fiskus vorbei-
drücken, es ist das „Malta-Modell“. Die Inselgruppe gilt als Miniatur-Wunderland
der EU; allerdings gehen die umstrittenen Steuermodelle, mit denen Malta
Firmen anlockt, auf Kosten der EU-Partner. Das Journalistennetzwerk European
Investigative Collaborations ist den Geheimnissen nachgegangen. 40 Journalisten
aus 13 Ländern haben dazu recherchiert, auch ein Team von fünf SPIEGEL-
Leuten arbeitete mit. Ausgangspunkt waren die sogenannten MaltaFiles: Sie
enthalten auch eine Übersicht der auf Malta gemeldeten Firmen, darunter viele
Töchter europäischer Konzerne. Sie erlauben außerdem Einblicke in die Prak-
tiken einer Beratungsfirma, die bei der Gründung solcher Firmen – gleichsam
beim Aufhängen der Briefkästen – hilft. Seite 58

S eit dieser Woche erscheint an jedem


Werktag um 17 Uhr SPIEGEL DAILY,
die smarte Abendzeitung – ein Projekt von
IRIS CARSTENSEN / DER SPIEGEL

Print, TV und Online, zu lesen und zu


schauen auf dem PC, dem Tablet, dem
Smartphone. DAILY erklärt die wichtigsten
Nachrichten des Tages, liefert Kommenta-
re, Analysen, pickt das Beste aus den so-
zialen Medien. „Wir wollen einmal am Tag
die Welt anhalten“, sagen die Redaktions- Lokoschat, Trenkamp
leiter Timo Lokoschat und Oliver Tren-
kamp, die zusammen mit SPIEGEL-Reporter Cordt Schnibben das multimediale
Angebot entwickelt haben. „Keine Eilmeldungen oder Liveticker, sondern Über-
blick und Entschleunigung.“ Kollegen aus allen Ressorts werden Deutungen,
Recherchen und Kolumnen beisteuern; hinzu kommen neue journalistische
75 €
und
Formate. Gastautoren wie Harald Schmidt – genau der – kommen zu Wort, er Flat-Fee
sortiert den Irrsinn des Alltags. Wer den digitalen SPIEGEL bereits abonniert
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S eit November 2005 regiert Angela Merkel, im Sep-
tember will sie erneut bei der Bundestagswahl an- Depot schon.
treten. Die Pfarrerstochter aus Templin verkörpert die
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DER SPIEGEL 21 / 2017 3


Das mächtigste Kind der Welt

DOUG MILLS / THE NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF


USA Nach 120 Tagen Chaos, Wahnsinn und
Skandalen soll nun ein Sonderermittler zur Auf-
klärung beitragen. Aber die wichtigste Frage in
Washington lautet längst: Darf ein lügender, eitler
und komplett inkompetenter Narzisst wie Donald
Trump überhaupt Präsident bleiben? Seite 76

DAMMAN / EPA / REX / SHUTTERSTOCK


VOGEL / EPA / REX / SHUTTERSTOCK

JÖRG GLÄSCHER / DER SPIEGEL

Jetzt erst recht Teure Bundeswehr Eine deutsche Liebe


SPD Merkel-Herausforderer Martin Schulz Verteidigung Mit dem informellen Nato- Karrieren Es gibt sie seit 37 Jahren, sie ha-
hat aus den Niederlagen der vergangenen Gipfel am Donnerstag geht der Streit ben über 100 Millionen Tonträger verkauft,
Wochen seine Lehren gezogen: Er will um höhere Rüstungsausgaben in die nächste ihre wohl größte Fangemeinde ist die deut-
im Wahlkampf präsenter, konkreter und Runde. Die Bundesregierung hat ver- sche: Zum Start der Deutschlandtournee
offensiver auftreten. Die Kampagnen- sprochen, mehr Geld auszugeben, doch von Depeche Mode traf der SPIEGEL die
truppe im Willy-Brandt-Haus soll ausge- viele Bürger haben Angst vor einer neuen beiden Köpfe der Band zum Gespräch über
baut werden. Seite 24 Rüstungsspirale. Seite 28 Rivalität und Drogen. Seite 50

4
In diesem Heft

Titel Handel Bundeswirtschaftsministerin


Brigitte Zypries über Trump
Internet Der Angriff auf Computer
und die deutschen Exportüberschüsse 67
weltweit weckt Ängste vor einem globalen
Blackout 10 Geldpolitik Merkel und Schäuble wollen
Computerviren Wie sich private Nutzer Bundesbank-Chef Jens Weidmann als
schützen können 14 Nachfolger von EZB-Präsident Mario Draghi
durchsetzen 68
Cyberattacken Der russische Geheimdienst-
experte Andrej Soldatow über Energie Solarworld-Gründer Frank Asbeck
Moskaus Rolle bei Hacks und Leaks 18 über die Pleite des Unternehmens 70

Deutschland Ausland
Leitartikel Warum Donald Trump sein Amt Warum der US-Präsident auch im
verlieren muss 6 Nahostkonflikt scheitern wird / Macrons
Meinung Kolumne: Der gesunde Menschen- neues Kabinett ist ein kluger Schachzug 74
verstand / So gesehen: Warum wir USA Nach der Entlassung des FBI-Chefs
über unser Geschlecht selbst entscheiden und der Aufnahme von Sonderermittlungen:
sollten 8 Ist Präsident Donald Trump seinem Amt
Steinbach unterstützt AfD-Wahlkampf / noch gewachsen? 76 r
Bundesregierung verfehlt Klimaschutzziele / Essay Junge Helden – über eine neue Mit elegante
Gla s k a ra ff e
Seehofer fordert Kaufprämie für moderne Hyperpersonalisierung der Politik in Europa 80
Diesel 20 Irak Der Fotograf Ali Arkady enthüllt
SPD Wie Martin Schulz seine Folterungen und gezielte Tötungen,
Kampagne nach dem verpatzten Start durchgeführt von irakischen Sicherheits-
neu aufstellen will 24 kräften an Kriegsgefangenen 82
Die Pläne der Sozialdemokraten für eine Geheimdienste SPIEGEL-Gespräch mit
Bürgerversicherung bleiben vage 27 WikiLeaks-Gründer Julian Assange
Verteidigung Die Nato setzt gegen Russland über die Vorwürfe, ein Werkzeug der
wieder auf Abschreckung 28 Russen zu sein 88
Union Wer gewann die Wahl in NRW:
Angela Merkel oder die Konservativen? 33
Liberale Warum der Erfolg für
Sport
die FDP gefährlich werden könnte 34 Dopingwelle im Fußball / Magische
Parteien Das Dilemma der Grünen 36 Momente: Tennisprofi Laura Siegemund
Gegendarstellung von SterniPark GmbH über ihren Spätstart in die Weltklasse 91
zu SPIEGEL 4/2017 „Rauer Ton“ 38 Showsport Wie sich die Fußballbundesliga
Bundeswehr Verteidigungsministerin von ihren Fans entfremdet 92
Ursula von der Leyen stolpert
durchs Minenfeld der Geschichtspolitik 39 Wissenschaft
Extremisten MAD-Chef Christof Gramm über
seine Suche nach rechtsextremen Soldaten 41 Neuer Plan für die Besiedlung des
Sicherheit Aus Angst vor IS-Anschlägen
Mondes / Blaualgen gegen den Hunger
wollen die USA auf Transatlantikflügen in Afrika / Einwurf: Warum spendiert
der Staat Millionen für den Kirchentag? 98
Laptops in der Kabine verbieten 42
Affären Ein Experte des Innenministeriums Genealogie Hobbyforscher suchen nach
in Stuttgart ist in eine missglückte den Spuren ihrer Ahnen 100
Befreiungsaktion in Mossul verwickelt 44 Umwelt Wie schädlich sind verborgene
Oktoberfest Was der Kampf gegen Kunststoffe in Kosmetika? 104
steigende Bierpreise auf der Wiesn mit Geschichte Eine 3-D-Rekonstruktion
dem Komödienstadl zu tun hat 46 zeigt den baulichen Niedergang des
alten Rom 106
Gesellschaft
Früher war alles schlechter: Wie gut, Kultur
dass wir nicht mehr Bauer werden Helene Fischer als Inbegriff deutscher
müssen / Haben wenigstens die Schweizer Selbstbezogenheit / „Twin Peaks“ ist
die Deutschen lieb? 48 zurück / Kolumne: Zur Zeit 108
Eine Meldung und ihre Geschichte Literatur Der Dichter und
Warum ein griechischer Bestatter eine Freiheitskämpfer Georg Herwegh –
Leiche auf der Straße liegen ließ 49 ein Rivale Heines 110 Vom Hersteller
Karrieren Sie lieben und sie hassen sich, USA Der Fall O. J. Simpson
des Testsiegers.
Martin Gore und David Gahan von als Menetekel für die Trump-Ära 114
Depeche Mode – ein Gespräch mit zwei
Unsterblichen des Pop 50 Autoren Karl Ove Knausgård und seine
Homestory Ein Jahr mit einem politisch Auseinandersetzung mit Hitler 120
korrekten Smartphone 55 Jazzkritik Diana Kralls neues Album
„Turn up the Quiet“ 123 Öko-TEST Jahrbuch
Essen,Trinken und
Wirtschaft Genießen 2005

Öffentliche Investitionen boomen / Bestseller 113


Dobrindt soll Mautbetrug bekämpfen / Impressum, Leserservice 124
Wenig Wirtschaft in der „Tagesschau“ 56 OImmer frisch gesprudeltes Wasser
Nachrufe 125
Steueroasen Der Kleinstaat Malta lebt O Kohlensäure individuell dosierbar
Personalien 126
von Konzernen, die sich im eigenen Land O Spart Geld
Briefe 128
am Fiskus vorbeidrücken 58
Die maltesischen Behörden nehmen es Hohlspiegel / Rückspiegel 130
mit der Kontrolle ihrer milliardenschweren
Zockerbranche nicht so genau 62 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ

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DER SPIEGEL 21 / 2017 5
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Leitartikel

Wie werden wir Trump los?


Die amerikanische Tragödie und ihre weltpolitischen Folgen

D
onald Trump ist nicht dazu in der Lage, Präsident schen Mehrheiten; dann können sie selbst Variante zwei,
der USA zu sein. Er ist es intellektuell nicht: Er die Amtsenthebung, angehen. Fünftens: Die Weltgemein-
versteht die eigenen Aufgaben und die Bedeutung schaft erwacht. Findet Wege um das Weiße Haus herum.
seines Amtes nicht, er liest nichts, nicht einmal Akten Wird handlungsfähig ohne die USA. Variante fünf ist an-
oder Geheimdienstberichte, und er hat keine Ahnung von ders als die vier anderen keine Lösung für das Problem
den eigenen Themen, trifft halt mit wüsten Anweisungen Trump, aber gleichwohl zwingend und immerhin möglich.
launische Entscheidungen. Vor knapp zwei Wochen traf sich in Washington ein
Und moralisch ist er es sowieso nicht: Trump ist ein Kreis von Außenpolitikern und Beobachtern; die Münch-
hundertfach überführter Lügner, Rassist, Betrüger. Man ner Sicherheitskonferenz hatte geladen. Wer sich in der
zuckt beschämt zusammen, wenn man solche Sätze Stadt umhörte, konnte nur die seltene Kombination von
schreibt, so dröhnend laut sind die Wörter. Aber genau Chaos und Agonie diagnostizieren.
diese Begriffe sind die korrekten für Trump, und es zählt Die USA haben eine Witzfigur zu ihrem Präsidenten
zur Aufgabe von Medien, nicht müde zu werden, sondern und sich selbst von dieser Witzfigur abhängig gemacht,
zu sagen, was ist: Trump muss aus dem Weißen Haus ent- abhängig also von einem Kind, wie David Brooks in der
fernt werden. Schnell. Er ist eine Gefahr für die Welt. „New York Times“ schrieb. Diese Regierung Trump hat
Trump ist ein miserabler Politiker: keine Außenpolitik, weil Trump
Er entließ den FBI-Direktor, weil er stets beides zugleich verspricht,
es konnte. Der Typ war ihm halt auf Amerikas Rückzug und Amerikas
die Nerven gegangen mit seinen Er- Stärke, keine Kriege und mehr Krie-
mittlungen gegen Trumps Vertraute. ge; und dann entscheidet er halt ir-
Der Typ hatte sich geweigert, Trump gendwie, nicht strategisch konsistent,
Treue und Loyalität zu schwören nicht einmal taktisch logisch, son-
und auch, die Ermittlungen einzu- dern je nach Stimmung. Moskau und
stellen – James Comey musste weg. Peking lächeln über dieses Amerika.
Trump ist zudem ein miserabler Anderswo sorgt man sich.
Vorgesetzter. Seine Leute erfinden Im Pazifik kreisen Kriegsschiffe
Ausreden für ihn und lügen für ihn, umeinander herum, chinesische und
da sie es müssen. Dann aber wacht amerikanische, auf engem Raum.
JOSHUA ROBERTS / REUTERS

Trump auf und twittert, dass alles Der Nordkorea-Konflikt eskaliert.


doch ganz anders gewesen sei. Ihm Wer schließt noch aus, dass Donald
ist egal, dass sein Sprecher, sein Au- Trump allein deshalb einen Atom-
ßenminister und sein Sicherheits- krieg riskiert, weil er sich damit
berater gerade erst dementiert ha- selbst retten will? Die Klimapolitik
ben, der Präsident habe den Russen, liegt brach, erwartet wird der Aus-
ausgerechnet, Erkenntnisse verraten, stieg der USA aus dem Pariser Ab-
die von Israels Geheimdiensten, ausgerechnet, geliefert kommen, da Trump rechtliche Verpflichtungen fürchtet.
worden waren. Trump twittert: Doch, doch, das habe ich Krisen wie jene in Syrien und Libyen schwelen, eskalieren,
gemacht, weil ich das darf; ich bin nämlich der Präsident. werden nicht mehr diskutiert. Mit wem auch reden? Im
In diesem Weißen Haus stimmt nichts mehr: Inzwischen amerikanischen Außenministerium antwortet keiner auf
sind alle dort mehrfach bloßgestellt worden; nun verachten Mails, keiner geht ans Telefon. Nichts ist geordnet, nichts
sie einander, und alle außer Trump verachten Trump. Und stabil, das transatlantische Bündnis existiert kaum mehr.
darum, nach nur 120 Tagen, erleben wir eine amerikani- Sigmar Gabriel und Norbert Röttgen fliegen hin und her,
sche Tragödie und sehen fünf mögliche Lösungen. aber es gibt kein Verständnis füreinander und kaum Kom-
Trump müsste zurücktreten; was nicht passieren wird. munikation, keine gemeinsamen Ziele mehr, darum keine
Oder die Republikaner in Senat und Repräsentantenhaus Strategie.
müssten ein Amtsenthebungsverfahren unterstützen, was Bei „Game of Thrones“ wurde der Mad King ermordet
wegen der erwiesenen Behinderung der Justiz zwar ge- (und das Kind, das später regierte, war nicht besser). Im
rechtfertigt wäre, aber ebenfalls nicht passieren wird, da wahren Leben sitzt nun ein kleiner Junge auf dem Thron
die Republikaner die Macht wollten und nicht freiwillig des wichtigsten Landes der Welt; und dieser Junge kann
hergeben werden. Der dritte Ausweg: Die Mehrheit des jederzeit einen katastrophalen Befehl erteilen, der sofort
Kabinetts könnte den 25. Verfassungszusatz anwenden ausgeführt werden wird. Darum dürfen sich die Eltern
und erklären, der Präsident sei nicht dazu in der Lage, nicht wegducken, und sie dürfen auch nicht ermatten, nur
Präsident zu sein; wahrscheinlich ist auch dies nicht. Vier- weil der Bub halt so anstrengend ist. Sie müssen ihn end-
ter Ausweg: Die Demokraten rüsten sich für die Kongress- lich zum Aufräumen ins Kinderzimmer schicken und wie-
wahlen in 18 Monaten und kippen dann die republikani- der Erwachsene sein. Klaus Brinkbäumer

6 DER SPIEGEL 21 / 2017


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Meinung
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand

Der Anti-Schulz-Hype
Es gibt Thesen, die selbst schen Zeile „Sankt Martin – Der Machthun-
dann überleben, wenn ger des Kandidaten Schulz“ druckte. Der Endlich
keine Beweise für
sie aufgetrieben wer-
wird von Leuten, die keine ausgeprägte
Sensibilität für Doppeldeutigkeit besitzen,
Wahlfreiheit
den konnten. Oder jetzt gern als Beleg für den vermeintlichen So gesehen Warum wir uns
genügend Belege ge- Medienhype herangezogen. Vielleicht un- unser Geschlecht nicht
funden wurden, um terschätze ich die Kraft von mehrdeutigen vorschreiben lassen sollten
sie zu widerlegen. Die Titelbildern, aber es fällt mir schwer zu
These, wonach der Klima- glauben, dass über 16 000 Menschen wegen Die St. Paul’s Girls’ School,
wandel nicht von Menschen gemacht sei, eines Magazincovers binnen drei Monaten eine britische Privatschule,
ist solch ein Fall. Die originelle Behaup- in die SPD eintreten. erlaubt ihren Schülerinnen
tung, wonach es Bielefeld gar nicht gebe, Es gab auch die Meinungsumfragen, in jetzt, Jungenkleidung zu tra-
hält sich ebenfalls hartnäckig. Hinter denen eine Mehrheit der Deutschen den gen und sich mit Jungen-
falschen Thesen stecken immer handfeste Wunsch ausdrückte, die Regierung solle namen ansprechen zu lassen.
Interessen. Sie sind nicht totzukriegen, von der SPD und das Kanzleramt von Mar- Die Schulleiterin begründet
weil manche Menschen im Schatten von tin Schulz geführt werden. Skepsis gegen- dies laut „FAZ“ damit, dass
Windrädern leben und eine aktive Klima- über Umfragen ist natürlich immer richtig. wir uns „auf einen Punkt zu-
schutzpolitik als persönlichen Nachteil Erlaubt sei aber der Hinweis, dass Umfra- bewegen, an dem das Ge-
empfinden. Oder weil sie ganz einfach gen im Februar oder März 2017 auf die glei- schlecht eine Frage der Wahl
einen tierischen Hals auf Bielefeld haben. che Art zustande kamen wie im Mai 2017. ist“. Das ist in Zeiten, in de-
Ähnlich verhält es sich mit der Lieb- Wer die heutigen Zahlen als Beleg anführt, nen noch immer viele Men-
lingsthese dieser Tage: Dass die Frühjahrs- dass Schulz bei den Wählern nicht mehr schen glauben, Geschlecht
euphorie für den SPD-Kandidaten Martin allzu hoch im Kurs steht, muss gleichzeitig habe etwas mit Biologie zu
Schulz ein Medienhype gewesen sei, der je- anerkennen, dass es vor Kurzem anders tun, eine erfreuliche Haltung.
der realen Grundlage entbehrt habe. Sie war. Sonst verstieße er gegen die Gesetze In Deutschland haben wir
wird bevorzugt von Menschen vertreten, der Logik – und das will ja auch niemand. in Sachen Fortschritt leider
die der SPD mit ähnlicher Sympathie be- Die Sehnsucht vieler Deutscher nach ei- noch Nachholbedarf. Da die
gegnen wie die Bielefeld-Leugner der ner Alternative zu Angela Merkel, nach Politik schläft, müssen nun
Stadt Bielefeld: Vom politischen Gegner Veränderung an der Spitze, war real. Nach einzelne Institutionen voran-
oder von Publizisten, die ihren Schreib- dem gelungenen Auftakt hat die logische gehen. Beim SPIEGEL etwa
tisch länger nicht mehr verlassen haben. Alternative es bislang versäumt, sich als sollten wir schnellstmöglich
Hätten sie ihn verlassen, hätten sie gese- bessere Alternative zu präsentieren. Noch die Wahlfreiheit zwischen
hen, wie ganz reale Bürger sich in Schlan- bleiben 18 Wochen, um diesen Eindruck zu Mann und Frau einführen. Ich
gen reihten, um Schulz zu erleben. Sie hät- korrigieren. Es wäre die sicherste Variante, würde dann bei der nächsten
ten reale Sozialdemokraten gesehen, die um die These vom Schulz-Hype auf ewig Betriebsratswahl als Frau
wie zu besten Willy-Zeiten stolz darauf wa- zu entsorgen. Zum Beispiel in Bielefeld. antreten. Bei meiner letzten
ren, Mitglied dieser Partei zu sein. Kandidatur musste ich einer
All das hatte wenig damit zu tun, dass An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, lieben Kollegin den Vortritt
der SPIEGEL ein Titelbild mit der ironi- Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. lassen, weil sonst das Min-
derheitenquorum nicht er-
füllt gewesen wäre. Aber das
kann nur ein Anfang sein.
Kittihawk Wenn ich mein Geschlecht
frei wählen könnte, dürfte ich
die Damentoiletten im Fuß-
ballstadion benutzen, was
eine große Erleichterung
wäre. Außerdem würde mei-
ne Lebenserwartung steigen.
Und ich wüsste endlich,
warum ich nach 15 Jahren
Arbeit für mein Magazin im-
mer noch nicht Chefredak-
teur bin: die gläserne Decke,
Sie wissen schon. Mit mei-
nem Namen bin ich ohnehin
unzufrieden. Ich finde Clara
schöner als Ralf. Nur Mini-
rock würde ich nicht tragen,
auch wenn ich es dürfte.
Ich habe einfach nicht die
Beine dafür. Clara Neukirch

8 DER SPIEGEL 21 / 2017


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acht Wochen, beginnend mit dem Belastungsdatum, die Erstattung des belasteten Betrags verlangen. Es gelten dabei die mit meinem Kreditinstitut vereinbarten Bedingungen.
Titel

„Ooops“
Internet Nach der bislang größten Cyberattacke suchen
Fahnder unter Hochdruck die Urheber der
Erpressungssoftware „WannaCry“. Neue Angriffswellen
könnten folgen. Das Schreckensszenario eines globalen
Kontrollverlusts wird vorstellbar.

M
ilosz Matusiak wollte abends ge- zahllosen Warnpunkten verschwunden,
rade sein Notebook zuklappen die USA und Indien leuchten schrill, eben-
und schlafen gehen, als ihm ein so Teile Russlands, Chinas und Südame-
seltsames Symbol auf seinem Monitor auf- rikas.
fiel: zwei sich schüttelnde Hände, wie zum Steckt die berüchtigte Hackergruppe La-
freundlichen Abschluss eines guten Ge- zarus dahinter, die in der Vergangenheit
schäfts, dazu ein merkwürdiger Datei- für Nordkorea gearbeitet haben soll? War
name: „Wana Decrypt0r 2.0“. es eine kriminelle Cybermafia, der es um
Der 30-Jährige trennte seinen Rechner möglichst viele Bitcoins ging? Oder ein 16-
sofort vom Internet. Zunächst war er nur jähriger Hacker in seinem Kinderzimmer?
verwundert: „Ich hatte ja keine komischen Noch sind die Schuldigen nicht identifi-
E-Mail-Anhänge angeklickt und war auch ziert, noch durchforsten Sicherheitsbehör-
nicht auf halbseidenen Seiten unterwegs.“ den und Computerforensiker den Schad-
Der Schock kam am nächsten Morgen. Auf code nach kleinsten Hinweisen – und noch
dem PC seiner Mutter ging nichts mehr, ist nicht abzusehen, wie viele Angriffswel-
von wegen freundliche Geschäfte: Der len womöglich folgen. Mindestens 150 Län-
Bildschirm zeigte eine Lösegeldforderung. der waren betroffen, Glieder einer unheim-
Offenbar war ihr Rechner zuerst infi- lichen Kettenreaktion. Sie konnte Anfang
ziert worden. Von dort hatte sich das dieser Woche erheblich verlangsamt wer-
Schadprogramm auf sein Notebook über- den, gestoppt scheint sie indes nicht. Wie
tragen, über das gemeinsam genutzte bei einem Bio-Virus kursieren bereits rund
WLAN-Netz. Lösegeld wollte die Familie 600 „WannaCry“-Mutationen.
nicht zahlen. Nun sind die Urlaubsfotos, Nie zuvor breitete sich ein Netzstörfall
Bewerbungsunterlagen und Videos der derart rasant in so viele Länder aus und
Hamburger wohl für immer weg, unleser- machte sich in so vielen Lebensbereichen
lich gemacht. „Ich hätte nie gedacht, dass bemerkbar.
mir so etwas passieren kann“, sagt Matu- Schreckensszenarien eines globalen
siak. Kontrollverlusts werden plötzlich vorstell-
Seine Mutter und er sind Opfer eines bar: Flugzeuge heben nicht mehr ab, Züge
massiven Cyberangriffs, der seit einer Wo- entgleisen, Geldautomaten versagen, das
che weltweit für Aufsehen sorgt – Europol Licht geht aus, Nahrungsmittel verrotten
zufolge ist es der bislang größte überhaupt. im Lager, lebenswichtige Apparate im
In die Chroniken wird er als „WannaCry“ Krankenhaus schalten sich ab. Ein Still-
(„Willst du weinen“) eingehen, eine hämi- stand des öffentlichen Lebens, umfassend,
sche Kurzformel des Dateinamens, den die gleichzeitig und global.
Opfer auf ihren Rechnern fanden. Nun wird deutlich, wie verletzlich un-
Wie eine Epidemie im Zeitraffer breitete sere vernetzte Welt geworden ist. Und wie
sich der erpresserische Computercode der unser Alltag von Technologien abhängt,
Gattung „Ransomware“ aus, lautlos, un- die wir nur scheinbar beherrschen.
heimlich und rasend schnell. Innerhalb nur
einer Stunde waren weltweit bereits mehr
als 7000 Rechner befallen, als die Attacke 1 bis 5 Mögliche Angriffsziele
am 12. Mai begann. Danach gab es erst Krankenhaus, Bahn, Atomkraft-
einmal kein Halten mehr. Je mehr Com- werk, Flughafen, Rechenzentrum
puter infiziert wurden, desto schneller brei- 6 Nachricht der Erpressersoftware
tete sich der Schädling aus. „WannaCry“
Weltkarten der Experten zeigen das
Ausmaß des Desasters: Europa ist unter
10 DER SPIEGEL 21 / 2017
1

5
6
THOMAS TRUTSCHEL / PHOTOTHEK / GETTY IMAGES POLARIS / STUDIO X TIM WEGNER / LAIF

3
2

DER SPIEGEL 21 / 2017


EUROLUFTBILD / AKG MARIO FOURMY / LAIF PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF

11
Titel

Die Angreifer der vergangenen Woche naCry“. In Hannover traf es eine regionale
treffen Gesellschaften, die sich in einem Leitstelle der Bahn, die für die Disposition
enormen Tempo digital verbinden, in allen Krankenhäuser von Personal und Material zuständig ist.
Lebensbereichen, vom „Smart Phone“ und In Berlin kämpfte die S-Bahn noch eine
„Smart Home“ über „Smart Cash“ bis zu sagten Operationen Woche später mit Problemen bei ihren
„Smart City“ und „Smart Government“. ab, Autofirmen Fahrkartenautomaten.
Diese Entwicklung ist politisch gewollt stoppten die Pro- Betroffen von der „WannaCry“-Attacke
und gefördert, die Bundeskanzlerin be- duktion. war auch ein Unternehmen aus der Er-
schwört die Segnungen der Industrie 4.0, nährungsbranche, das zur kritischen In-
das Verkehrsministerium investiert Mil- frastruktur in Deutschland gerechnet wird.
liarden in den Breitbandausbau, im Wirt- Und selbst auf medizinischen Geräten der
schaftsministerium will Brigitte Zypries genes gefährliches Spiel mit Sicherheits- Firma Bayer, die in US-Krankenhäusern
das „IoT“ beschleunigen, das Internet of lücken treiben. Weil Softwareproduzenten im Einsatz sind, ploppte plötzlich die
Things, wie sie erst vorige Woche auf der wie Microsoft ihre Verantwortung für die Lösegeldforderung auf. In Deutschland
Berliner Netzkonferenz re:publica erklärte: Netzsicherheit nicht hinreichend wahrneh- oder Europa seien dem Unternehmen kei-
„Die Amerikaner haben das Internet, wir men. Und weil viele Nutzer vorhandene ne Fälle gemeldet worden, hieß es bei
haben die Dinge.“ Sicherheits-Updates ignorieren. Bayer.
Und alle haben die Gefahr. Europäer, Deutsche Kunden des Telefonanbieters
Amerikaner, Inder, Chinesen müssen nun, Der Flächenbrand O2 hatten ebenfalls Probleme. Der spani-
jeder für sich und gemeinsam, prüfen, wie Es war wie eine Rückkehr ins vorige Jahr- sche Mutterkonzern Telefónica musste we-
die Lebensadern der digitalen Welt ge- hundert. Am Hauptbahnhof in Frankfurt gen des Cyberangriffs bestimmte IT-Sys-
schützt, Attacken abgewehrt und Angrei- am Main, der Stadt der Banken und Fi- teme herunterfahren, daraufhin konnte
fer gefasst und ausgeschaltet werden kön- nanzdienstleister, holten Bahn-Mitarbeiter der DSL-Kundendienst von O2 in Deutsch-
nen. Schiefertafeln und Kreide heraus. In ge- land nicht mehr auf seine Datenbank zu-
„WannaCry“ ist ein Warnschuss, eine schwungener Schrift schrieben sie die Ab- greifen. Die interne Kommunikation bei
Aufforderung, über die möglichen Folgen fahrtszeiten der Züge auf und stellten sie O2 war durch die Attacke zwischenzeitlich
der rastlosen Vernetzung nachzudenken. neben die Gleise: „Abf.: 11.13 nach Ber- gestört, E-Mail-Programme fielen aus.
Wie viele solcher Weckrufe wird es noch lin“, „Abf.: 15.54 München“. Mehr als 20 Und in Düsseldorf, Essen, Hagen und
geben, bevor der digitale Ernstfall eintritt? Jahre lang hatten die Tafeln in der Ecke Grevenbroich durften sich Autofahrer über
Und was können Regierungen, Unterneh- gelegen, nun wurden sie wieder nützlich. kostenloses Parken freuen: Eine Parkhaus-
men und wir Nutzer tun, um ihn zu verhin- Eine Schiefertafel kann kein Hacker ma- kette konnte wegen „WannaCry“ ihre
dern – oder zumindest vorbereitet zu sein? nipulieren. Schranken nicht mehr schließen.
Drei Schritte stehen nun an. Zunächst Rund 450 Rechner der Deutschen Bahn Mehr als 300 000 Rechner wurden welt-
braucht es ein realistisches Lagebild zu (DB) waren infiziert. Die sichtbarsten Fol- weit befallen. Deutschland landete auf
den globalen Schäden, die „WannaCry“ gen: lahmgelegte Anzeigetafeln an vielen Platz 13 der globalen Betroffenheits-
angerichtet hat. Gleichzeitig läuft, zwei- Bahnhöfen, zum Teil war noch die Bot- charts – und ist damit noch vergleichsweise
tens, die Suche nach den Schuldigen und schaft der Erpresser samt Lösegeldforde- glimpflich davongekommen.
deren Motiven. Und drittens geht es da- rung eingeblendet. Anderswo waren die Folgen drastischer:
rum, die richtigen Lehren aus der Angriffs- Erwischt hat es auch Videoüberwa- Britische Krankenhäuser sagten Operatio-
welle zu ziehen. Denn die Attacken konnte chungssysteme der DB, die Bildschirme nen ab und schickten Krebspatienten nach
es nur geben, weil Geheimdienste ein ei- zeigten ebenfalls Nachrichten von „Wan- Hause. In Frankreich stoppte Renault teil-

Daten in Geiselhaft Cyberattacke mit einem Verschlüsselungsvirus

Der WannaCry-Virus befällt vor


allem Computer, die mit veralteten
Betriebssystem-Versionen wie
Windows XP ausgerüstet sind.

Kriminelle Hacker
verschicken massen-
haft E-Mails, die seriös Der Eindringling, ein sogenannter Krypto-
und amtlich wirken und Em- Trojaner, verschlüsselt umgehend alle er-
pfängern vorgaukeln, sie müssten umgehend reichbaren Dateien. Durch eine Sicherheits-
den darin enthaltenen Mailanhang öffnen lücke des veralteten Betriebssystems infiziert
oder einem Link zu einer bestimmten Website der WannaCry-Virus zudem weitere Rechner,
folgen. Beides führt jedoch dazu, dass der insbesondere wenn diese über ein internes
Rechner von Schadsoftware befallen wird. Netzwerk miteinander verbunden sind.

Zahlungswillige Opfer überweisen die


Nach dem Verschlüsseln der Dateien
verlangte Summe in der digitalen Währung
erscheint eine Nachricht mit Anweisungen:
Bitcoin. Dies und die anonyme Weiterleitung
Gegen Zahlung eines Lösegelds werde
sorgen dafür, dass der Empfänger des Geldes
der notwendige Datenschlüssel zum Ent-
meist nicht ermittelt werden kann. Es gibt keine
sperren übermittelt.
Garantie, dass die Erpresser den versprochenen
Datenschlüssel wirklich liefern.

12 DER SPIEGEL 21 / 2017


FRANK AUGSTEIN / DPA
IT-Experte Hutchins: Mit einem Trick gelang es ihm, die Verbreitung der Schadsoftware zu verlangsamen

weise seine Autoproduktion, in China Für Beruhigung sorgte das allerdings In den Elitehackerabteilungen der Na-
konnten Kunden an mehr als 20 000 Tank- nicht. Von einem „besonders schwerwie- tional Security Agency suchen und for-
stellen nur noch bar bezahlen. Hightech- genden Angriff“ sollte de Maizière später schen Mitarbeiter nach Sicherheitslücken
unternehmen wie der japanische Hitachi- sprechen. Am Samstagmorgen begann das für jedes erdenkliche Betriebssystem.
Konzern, der US-Logistiker FedEx sowie Bundeskriminalamt zu ermitteln. Die Diese sind Einfallstore in Geräte aller
das russische Innenministerium: Sie alle Staatsanwaltschaft Berlin übernahm das Art und in Computernetzwerke. Man kann
wurden Opfer jener Erpressung, deren Lö- Verfahren, dort hat die Bahn ihren Fir- sie mit digitalen Dietrichen vergleichen,
segeldforderung mit dem hämischen Wort mensitz. aber auch hoch wirksame Cyberwaffen
„Ooops“ begann. sind ohne sie nicht denkbar. Die wertvolls-
In der Bundesrepublik meldete sich am Die Spurensuche ten von ihnen heißen „Zero-Day-Ex-
Freitag vergangener Woche um 20.30 Uhr Wer die Angreifer sind, darüber gab es bis ploits“. Sie können schon ausgenutzt wer-
ein Vertreter der Deutschen Bahn beim Ende der Woche eine Menge Theorien, den, bevor die Hersteller von ihnen wissen
Bundesamt für Sicherheit in der Informa- aber wenig Gewissheit, wie so häufig im und eine Chance haben, sie zu schließen.
tionstechnik (BSI) in Bonn. Es gebe da ein Operationsgebiet Internet, wo sich Spuren Eines dieser Instrumente aus dem NSA-
Problem. leicht verwischen und falsche Fährten le- Arsenal betrifft das weltweit am meisten
Deutschlands Cyberabwehr war alar- gen lassen. verbreitete Betriebssystem Windows – es
miert, ähnliche Hinweise hatte das BSI von Der Ort der Erstinfektion konnte bis- trug dort den Codenamen „Eternal Blue“.
anderen Seiten bekommen. Hektisch lang nicht zuverlässig ermittelt werden, Aber wie gelangte dieses Geheimwissen
schalteten sich die Beamten mit ihren Kol- das würde den zahlreichen Cyberfahn- an die Öffentlichkeit? Die Gruppe, die sie
legen in Großbritannien und Frankreich dern helfen, die nun nach den „Wanna- veröffentlichte, nennt sich Shadow Brokers
zusammen. Das Bundesinnenministerium Cry“-Machern jagen. Die Allianz der Er- (Schattenhändler). Das mysteriöse Team
startete eine Telefonkonferenz mit allen mittler ist so ungewöhnlich wie der An- war im vorigen Sommer wie aus dem
zuständigen Behörden. griff selbst: Es sind die Behörden aus den Nichts im Netz aufgetaucht. In seltsamem
Um 21.28 Uhr schaltete sich Bundes- betroffenen Ländern und damit staatliche Englisch boten die Shadow Brokers dort
innenminister Thomas de Maizière (CDU) Fahnder, aber auch hoch spezialisierte NSA-Angriffswaffen zum Kauf an. Offen-
persönlich ein und rief BSI-Chef Arne Teams von IT-Sicherheitsfirmen und pri- bar klappte das nicht wie gewünscht, je-
Schönbohm an. Schnell wurde klar: Der vate Computer-Nerds, die die Übeltäter denfalls verfiel die Truppe bald darauf,
Schädling verbreitete sich mit ungeheurer jagen. Schadprogramme der Amerikaner tröpf-
Geschwindigkeit. Marcus Hutchins, ein 22-jähriger Brite, chenweise zu veröffentlichen.
Es sollte eine lange Nacht werden für schaffte es damit schon zu weltweitem Am 14. April posteten die Shadow Bro-
alle Beteiligten. Um 1.30 Uhr am Sams- Ruhm: Mit einem im „WannaCry“-Code kers ihren neuesten NSA-Leak – darunter
tagmorgen folgte eine weitere Telefon- verborgenen Trick, einer Art Notausschal- war auch die Sicherheitslücke „Eternal
schalte. Um 4.20 Uhr hatten die Experten ter („Kill Switch“), gelang es ihm, die Ver- Blue“. Seither konnte jede begabte Ha-
sich einen ersten Überblick über den An- breitung erheblich zu verlangsamen. ckergruppe sie für ihre eigene Zwecke
griff verschafft: Allein in der Zeit seit 17.45 Wenn man in der Kette der Verantwort- missbrauchen.
Uhr am Freitagabend hatte die Schadsoft- lichen an den Anfang geht, landet man al- Wie die Shadow Brokers an das streng
ware in Russland 25 875 Opfer infiziert, lerdings bei einem bekannt-berüchtigten geheime NSA-Material kamen, ist noch
22 991 in China und 7626 in Taiwan. In Akteur: dem amerikanischen Geheim- unklar – es gibt aber eine auffällige zeitli-
Deutschland gab es 604 Treffer. dienst NSA. che Koinzidenz.
DER SPIEGEL 21 / 2017 13
Digitaler Selbstschutz
Computerviren Schadsoftware kann jeden treffen. Mit diesen Methoden schützen Sie Ihre Daten.

D
ie schlechte Nachricht zuerst: des Back-ups. Wer Terabyte an Daten Windows-Varianten wie XP sind
Wer sich ins Netz begibt, lebt überträgt, braucht dafür oft eine ganze aktuell besonders stark betroffen vom
gefährlich. Datenklau, Erpres- Nacht, und eine Dockingstation erle- „WannaCry“-Schadprogramm.
sungsversuche und Viren sind ein rea- digt das ganz allein, ohne dass der Wer dennoch unbedingt sein altes
les Risiko. Hersteller und Politik ver- Rechner dafür angestöpselt sein muss. System behalten will, vielleicht wegen
sprechen den Nutzern zwar Schutz, tun Die Sicherungskopie der Sicherungs- eines musealen Nadeldruckers, sollte
aber zu wenig dafür. kopie hinterlegt man dann im Schlaf- mit der Uralt-Software lieber nicht ins
Ratsam ist deshalb die digitale zimmer oder bei einem Freund, falls Internet gehen.
Selbstverteidigung: Jeder Nutzer sollte das Büro von Einbrechern oder einem
Vorsorge dafür tragen, dass wichtige Brand verwüstet wird. Ist das nicht
E-Mails, Hochzeitsvideos und Kinder- paranoid? Mag sein – solange es um Virenschutz
fotos gegen eine Digital-Havarie gesi- ein paar private E-Mails geht. Aber Haben Sie einen Viren-
chert sind. wenn ein Jahr Arbeit oder die Exis- scanner installiert, der
Jeder sollte daher einen Notfallplan tenz einer Firma daran hängen sollte, auch aktiv ist und sich
haben. Eine Art Rettungsboot auf stür- sind 200 Euro für ein zweites Back-up automatisch aktualisiert?
mischer See, in dem die wichtigsten fast ein Schnäppchen.
Schätze gesichert werden. Auch Cloud-Speicher wie etwa Antiviren- und Firewallprogramme
Die gute Nachricht: Drei einfache iCloud oder Google Drive sind als Er- stärken sozusagen die Immunabwehr
Maßnahmen reichen dafür aus – Sicher- gänzung sinnvoll, denn sie ermögli- des Rechners, weil sie verdächtige Da-
heitskopien, regelmäßige Systemaktua- chen das Wiederfinden der Daten auch tenpakete durchleuchten und beson-
lisierungen und Antivirensoftware. dann, wenn man unterwegs auf Ge- ders schnell aktualisiert werden, wenn
schäftsreisen den Rechner wiederher- Würmer und Trojaner mit neuartigen
stellen oder vom Internetcafé aus auf „Mutationen“ auftauchen. Ein kleiner
Back-up ein paar Dokumente zugreifen will. Nachteil: Manchmal zickt nach der In-
Haben Sie Sicherheits- Doch alles hat seinen Preis: Bei der stallation solcher Programme die eine
kopien Ihrer Daten auf einem Cloud-Speicherung ist das Risiko grö- oder andere Funktion, weil sie fälsch-
externen Datenträger oder ßer, dass Unbefugte sich an den Daten licherweise als feindlich erkannt wird.
Speicherdienst abgelegt? vergreifen. Daher sind in der Wolke Aber das ruckelt sich meist schnell zu-
ganz besonders sichere Passwörter recht. Die Auswahl an Anbietern wie
Sicherheitskopien bieten den einfachs- oder gleich ein Passwortmanager rat- Bitdefender, F-Secure, Kaspersky, Sy-
ten und zuverlässigsten Schutz. Wichti- sam – aber zu diesem kniffligen The- mantec, Trend Micro ist groß, die mo-
ge Daten sollten immer auf mindestens ma sollte man lieber in die Fachpresse natlichen Abokosten sind meist gering.
einem zweiten, externen Speicherme- schauen.
dium abgelegt werden. Eine Back-up- Egal für welche Methode man sich Back-up, Systempflege, Virenschutz:
Software wie „Time Machine“ oder entscheidet: Man soll das Back-up Wer diese drei Regeln der Digitalhygie-
„Duplicati“ erledigt das fast unmerk- nicht vor der Wiederherstellung loben. ne beachtet, kann die lokalen Daten
lich im Hintergrund, meist einmal pro Es lohnt sich, hin und wieder zu che- nicht nur vor Lösegelderpressern schüt-
Stunde. cken, ob die Datensicherung auch zen. Sondern auch vor Verlust durch
Wer nur wenig am Rechner arbeitet wirklich so geklappt hat, wie man sich Einbruch, Feuer, Verbummeln oder ein-
und nur auf ein paar Textdokumente das erhofft hatte. fach das Abschmieren der Festplatte.
und Bewerbungen angewiesen ist, Natürlich sollte der Selbstschutz
kann sie einfach regelmäßig auf einen nicht suggerieren, dass jeder für sich
kleinen USB-Speicherstick ziehen. Systempflege allein eine Insel der digital Seligen
Wer dagegen Videos oder Fotos hor- Ist Ihr Betriebssystem noch schaffen kann. Wer seine eigenen Da-
tet, braucht dafür eher voluminöse aktuell, sodass es vom ten in digitaler Notwehr sichert, ent-
Festplatten, gern in der Größe von ein Hersteller mit sogenannten lässt damit nicht die Politik, die Soft-
paar Terabyte. Auf den ersten Blick Patches versorgt wird? warehersteller und die Geheimdienste
mögen die über hundert Euro Anschaf- aus ihrer Mitverantwortung an Daten-
fungskosten teuer wirken, umgerech- Die Softwareaktualisierung des Be- debakeln wie „WannaCry“.
net auf ein paar Jahre entspricht das triebssystems sollte heilige Pflicht sein. Und was, wenn doch einmal alle
eher einem Cappuccino pro Monat. Auch sie erfolgt am besten automatisch USB-Kabel reißen und Daten unrett-
Eine kleine Warnung: Die perma- im Hintergrund. Für aktuelle Betriebs- bar verloren gehen? Vielleicht lohnt es
nente Verbindung der Sicherungskopie systeme sind diese „Patches“ im Preis sich für diesen Fall, wichtige Doku-
mit dem Rechner bringt eigene Risiken inbegriffen. Irgendwann läuft die Un- mente wie die Doktorarbeit oder ein
mit sich. Wenn ein Virus den Compu- terstützung allerdings meist aus, so Hochzeitsfoto in vorauseilendem
ter befällt, könnte der sich auch auf auch bei Microsoft. „Never change a Pessimismus auf Papier auszudrucken.
der Sicherungskopie einnisten. running system“ – dieser Spruch gilt Sie erinnern sich, wie man es früher
Praktisch sind daher zum Beispiel hier leider nicht, im Gegenteil: Wer an einmal machte? Eine solche analoge
Festplatten-Dockingstationen, mit de- seinem alten Betriebssystem hängt, Sicherheitskopie könnte mehr als nur
nen man relativ einfach eine Kopie der erhöht damit die Gefahr, Opfer von eine lästige Pflicht sein: ein echter
Kopie ziehen kann: also ein Back-up Cyberangriffen zu werden. Alte Hingucker. Hilmar Schmundt

14 DER SPIEGEL 21 / 2017


AARON P. BERNSTEIN / REUTERS
NSA-Chef Michael Rogers (M.): Die Sicherheitslücke stammt aus dem Arsenal des amerikanischen Geheimdienstes

Denn ausgerechnet im vergangenen Au- Deutsche und internationale Behörden Mehr als Indizien aus dem Schadcode wa-
gust, als die Schattenhändler erstmals von untersuchen nun, wer „Eternal Blue“ zur ren es bislang nicht, die zu Lazarus führen.
sich reden machten, wurde im Bundesstaat Cyberwaffe „WannaCry“ ausbaute – die Eine belastbare Beweisführung ist das nicht.
Maryland ein Mann festgenommen, von Angriffssoftware besteht aus mehreren Die schwierige Tätersuche macht die Sache
zwei Dutzend schwer bewaffneten FBI- Modulen, welche die Fehler im Windows- für Kim Jong Un und andere Machthaber
Beamten. Betriebssystem auf perfide und höchst ef- besonders interessant. „Man kann immer
Der damals 51-jährige Harold T. Martin fektive Weise ausnutzen. jemand anderen beschuldigen, man kann
III hatte zu diesem Zeitpunkt eine lange Unter Verdacht stehen bislang vor allem die eigene Verantwortung immer leugnen“,
Karriere für US-Dienste und deren Ver- Hacker, die in Diensten von Nordkoreas sagt der russische Geheimdienstexperte An-
tragsfirmen hinter sich, unter anderem ar- Diktator Kim Jong Un stehen sollen: die drej Soldatow (siehe Interview Seite 18).
beitete er mit einer hohen Sicherheitsein- sogenannte Lazarus-Gruppe. Sollten sich aber die Hinweise weiter
stufung für Booz Allen Hamilton – genau- Dass sie zu spektakulären Cyberangrif- erhärten, könnte das für Nordkorea gra-
so wie vor ihm der NSA-Whistleblower fen in der Lage sind, haben die Mitglieder vierende Folgen haben. Nach dem Sony-
Edward Snowden. dieser Gruppe bereits unter Beweis ge- Hack ging das gesamte Land zeitweise off-
Im Februar erhob die Staatsanwaltschaft stellt: Vor knapp drei Jahren versuchten line. Das war wohl kein Zufall – sondern
gegen Martin Anklage in 20 Punkten. sie zunächst, die Hollywoodstudios von womöglich ein deutlicher Fingerzeig west-
Demnach habe er insgesamt über 20 Jahre Sony zu erpressen, nachdem diese eine licher Dienste.
die unfassbare Menge von rund 50 Tera- Satire über den nordkoreanischen Macht- Am Dienstag berichteten die deutschen
byte mit geheimen Daten beiseitege- haber („The Interview“) produziert hatten. Geheimdienste im Bundeskanzleramt von
schafft. Sollte Martin in allen Punkten ver- Als der Konzern nicht zahlte, überfluteten ihren Erkenntnissen. Es sei wahrscheinlich,
urteilt werden, drohen ihm bis zu 200 Jah- die Hacker das Netz mit Tausenden teils dass ein staatlicher Akteur hinter der At-
re Haft. für die Mitarbeiter peinlichen E-Mails und tacke stecke, heißt es seither auch in deut-
Es liegt nahe, dass es einen Zusammen- mit noch nicht veröffentlichten Filmen. schen Sicherheitskreisen.
hang zwischen Martin und den Shadow Auch hinter dem Onlinebankraub bei Wieso sonst hätten die Angreifer einen
Brokers gibt; zumal das dort bisher ver- der Zentralbank von Bangladesch im vo- „Kill Switch“ einbauen sollen, mit dem
öffentlichte Material offenbar zu den von rigen Jahr sollen Hacker in Diensten von die Attacke beendet werden konnte? Wa-
Martin kopierten Beständen passt. Er Kim Jong Un stecken; sie erbeuteten 81 rum so ein Aufwand für bislang rund ein-
selbst kann allerdings kaum hinter den Millionen Dollar. hunderttausend Dollar an eingetriebenen
Veröffentlichungen stehen, denn die Lösegeldern?
gingen weiter, als er längst in Haft saß. Vielleicht war es sogar nur ein Testlauf
Einige Experten, darunter Edward für einen später noch geplanten, weiteren
Snowden, vermuteten hinter den Shadow „Man kann immer Angriff, womöglich geriet er aus dem Ru-
Brokers in der Vergangenheit russische jemand anderen der, mutmaßten Geheimdienstler – sie müs-
Interessen. beschuldigen, die sen immer vom Schlimmsten ausgehen.
Nachvollziehbar ist damit bislang nur, In Bonn trafen sich zur selben Zeit die
wie ein virtuelles Geheimdienstinstrument eigene Verantwor- wichtigsten Köpfe der Branche zu einem
der NSA womöglich auf den Markt kam. tung leugnen.” lange geplanten Kongress über Cybersi-
Denn die Shadow Brokers lieferten mit cherheit. Gastgeber war das Bundesamt
der Sicherheitslücke bloß die Vorlage. für Sicherheit in der Informationstechnik.
DER SPIEGEL 21 / 2017 15
„Die US-Regierung hatte nach den
Snowden-Enthüllungen versprochen, dass
die Geheimdienste ihre Kenntnisse über
Sicherheitslücken nicht mehr verschwei-
gen“, sagt WikiLeaks-Gründer Julian As-
sange, „sondern sie den betroffenen Fir-
men mitteilen.“ Das sei offenbar eine Lüge
gewesen (siehe Interview Seite 88).
Tatsächlich gibt es in den Vereinigten
Staaten bereits ein Verfahren, in dem die
NSA und andere Sicherheitsbehörden Nut-
zen und Gefahren von geheimen Cyber-

SIPA PRESS / ACTION PRESS


waffen abwägen sollen. Doch die nun auf-
getauchten Schwachstellen hatte die NSA
für eigene Zwecke offenbar als zu wertvoll
erachtet, um sie früher preiszugeben. Sie
warnte Microsoft erst, als sie davon aus-
gehen musste, dass diese publik werden
Cyberpolizisten in Rom: „Die Bedrohung ist real“ könnten.
In Deutschland forderten in dieser Wo-
„Wir sind mit einem blauen Auge da- führen, mieten sie dafür einfach an“, sagte che die Grünen, den staatlichen Stellen
vongekommen“, sagt BSI-Chef Arne Wainwright bereits im März dem SPIEGEL. das Ausnutzen dieser „Zero-Day-Exploits“
Schönbohm. Es ist Mittagspause, die Kon- In dieser Welt kann natürlich auch ein zu verbieten.
ferenzbesucher stärken sich bei Leberkäse Geheimdienst Hacker mieten – ohne dass Neben den Geheimdiensten tragen aber
und Kartoffeln oder haben sich in den er sich als Auftraggeber zu erkennen geben auch die großen Softwarehersteller Ver-
Schatten der Bäume im Stadtpark Bad Go- muss. antwortung. Beim Marktführer Microsoft
desberg geflüchtet. läuft die 2001 eingeführte XP-Version sei-
„Ein Teil eines solchen Codes kann ver- Die Aufarbeitung nes Betriebssystems vielerorts offenbar im-
räterisch sein. Oder eine mit Absicht falsch Die Angriffswelle lief noch, da gab es mer noch prima. Der Konzern hat den Up-
gelegte Spur“, sagt Schönbohm. Dann er- schon Schuldzuweisungen. Microsoft bei- date-Service allerdings vor drei Jahren ein-
zählt er eine Geschichte über die Securitate spielsweise warf den US-Geheimdiensten gestellt.
in Rumänien zu Zeiten des Diktators Nico- noch am Wochenende vor, das Netz mit Der Jurist Michael Rustad von der Suf-
lae Ceauşescu. Der Geheimdienst sei neben dem Horten von Schwachstellen unsicher folk University in Boston sieht darin ein
seinen eigentlichen Aufgaben damit betraut zu machen – und nicht mal in der Lage grundsätzliches Problem. US-Gerichte hät-
gewesen, durch Drogen- und Waffenhandel zu sein, die eigenen Erkenntnisse zu ten es in der Vergangenheit zugelassen,
für das Regime Devisen einzutreiben. Mit- schützen. Microsoft-Manager Brad Smith „dass Konzerne die Risiken für ihre eige-
hilfe des organisierten Verbrechens. schrieb, der Vorgang sei so gravierend, als nen Sicherheitsschlampereien und Fehler
Schönbohm sitzt in einem Raum in der wären dem US-Militär „Tomahawk“- auf die Kunden abwälzen – in Form von
Bad Godesberger Stadthalle, seine Behör- Marschflugkörper abhandengekommen. Nutzungsverträgen, die niemand liest und
de steht nun im Zentrum der Ereignisse. Tatsächlich ist die Haltung von Regie- die meist auch unlesbar sind“. Das müsse
„Es hat funktioniert“, sagt er über die Kri- rungen paradox. Einerseits geben sie Jahr sich dringend ändern. „WannaCry“ zeige,
senbewältigung am Wochenende. Aber es für Jahr immer mehr Steuermilliarden aus, dass Softwarefehler schwere wirtschaftli-
bleibt ein mulmiges Gefühl. „Am Ende um das Netz angeblich sicherer zu machen che Schäden verursachen und sogar eine
kann ein Geheimdienst der Auftraggeber und Sicherheitslücken zu schließen. Gefahr für Leib und Leben darstellen
gewesen sein“, sagt Schönbohm, „oder Auf der anderen Seite kaufen staatliche könnten: „Dafür müssen die Hersteller in
auch nicht.“ Behörden diskret Sicherheitslücken auf, Haftung genommen werden können.“
Wie unübersichtlich die Dinge im Cy- um damit im Verborgenen zu operieren. Vorwürfe treffen überdies die infizierten
berspace geworden sind, weiß auch Rob Auch in Deutschland. Nach dem Vorbild Behörden und Unternehmen. Dass dort
Wainwright, der Chef der europäischen der NSA nutzt der Bundesnachrichten- massenweise veraltete Software ohne Up-
Polizeibehörde Europol. „Wenn Cyberkri- dienst (BND) ebenfalls Schadprogramme dates im Einsatz war, ist grob fahrlässig.
minelle sich vornehmen, eine bestimmte zur Spionage und zur Terrorabwehr. Massive Probleme zeigten sich schließ-
Bank anzugreifen, kontaktieren sie über Mit der Zentralen Stelle für Informati- lich bei jenen, die Raubkopien statt Origi-
das Netz einen Hacker, der eine maßge- onstechnik im Sicherheitsbereich (ZITiS) nalsoftware benutzen und deshalb nicht
schneiderte Lösung für ihr Vorhaben an- entsteht gerade eine neue 400-Mann-Be- auf Sicherheitsupdates der Hersteller zu-
bietet. Die Infrastruktur, die sie brauchen, hörde, die unter anderem eigene Ein- greifen können. Offenbar aus diesem
um über das Internet ihren Angriff auszu- bruchswerkzeuge entwickeln soll. Grund ist Asien von der „WannaCry“-At-
Doch der Kontrollverlust der Geheim- tacke besonders betroffen.
dienste scheint nicht aufzuhalten zu sein. „Ich rechne mit weiteren Angriffen“,
Neben den Cyberwaffen der NSA werden sagt Bundesinnenminister de Maizière.
„Ich rechne momentan auch die der CIA nach und „Die Cyberbedrohung ist nicht virtuell,
mit weiteren An- nach veröffentlicht – in diesem Fall nicht sie ist real“, sagt Fred-Mario Silberbach,
durch die Shadow Brokers, sondern über Leiter des Referats Ermittlungen Cyber-
griffen”, sagt WikiLeaks. crime beim BKA.
Bundesinnenminister Schon seit Jahren fordern Experten des- Tatsächlich wird dieselbe Sicherheits-
de Maizière. halb, diesen gefährlichen Spielplatz von lücke bereits von einer weiteren Schad-
Geheimdiensten und Cyberkriminellen software genutzt, die ohne Wissen der be-
endlich zu schließen. troffenen Nutzer deren Computer für ein

16 DER SPIEGEL 21 / 2017


Titel

ganz anderes Geschäftsmodell nutzt: Die


Rechenleistung der infizierten Geräte wird NEWS MEINUNG STORIES
missbraucht, um Einheiten einer Krypto-
währung herzustellen.
Aus der Politik kommen nun Ankündi-
gungen, die Vorschriften zu verschärfen,
das deutsche IT-Sicherheitsgesetz sei un-
vollständig. Im ersten Schritt wurden seit
Mai 2016 nur Firmen aus wenigen Bran-
chen wie Telekommunikation, Energie, Er-
nährung und Wasser gezwungen, ihre Sys-
teme nachzurüsten und erhebliche Cyber-
angriffe an die Behörden zu melden.
Andere Branchen wie die Transport-
industrie wurden bislang verschont, auch
weil das Verkehrsministerium von Alexan-
der Dobrindt bremste – um Unternehmen
vor hohen Kosten zu bewahren. In dieser
Woche stellte sich der CSU-Politiker flugs
an die Spitze der Sicherheitsfans und for-
derte eine umgehende Ausweitung des IT-
Sicherheitsgesetzes, schließlich gehe es um
„eine existenzielle Frage“.
Für Privatnutzer sind, so oder so, indivi-
duelle Schutzmaßnahmen wichtig (siehe
Kasten Seite 14). Wer bereits erpresst werde,
sagt Georg Ungefuk, solle „auf keinen Fall
bezahlen“. Ungefuk ist Oberstaatsanwalt an
der Zentralstelle zur Bekämpfung der In-
ternetkriminalität in Hessen, er hatte schon
mit verschiedenen Angriffswellen zu tun.
„Im Normalfall ist das Geld weg, und die
Daten werden nicht wiederhergestellt“, sagt
er. Für die Täter berge die Schlüsselüber-
gabe wegen der zusätzlichen Kommunika-
tion die Gefahr, enttarnt zu werden. „Wa-
rum sollten sie dieses Risiko noch eingehen,
wenn sie das Lösegeld erhalten haben?“
Die Shadow Brokers scheinen das
Einmal am Tag
Chaos, das sie produziert haben, derweil
in vollen Zügen zu genießen. Anfang der
Woche meldeten sie sich im Netz mit einer
neuen Botschaft zu Wort oder genauer:
die Welt anhalten
mit einer Drohung. Darin kündigen sie an, DAS WICHTIGSTE VOM TAG
ihre Veröffentlichungen künftig nur noch DAS BESTE AUS DEN SOZIALEN MEDIEN
gegen ein Monatsabo für Mitglieder be-
reitzustellen, eine Art Spotify für streng UND EMPFEHLUNGEN FÜR IHREN FEIERABEND
Geheimes also.
Im nächsten Monatspaket könnten sich
demnach Sicherheitslücken für das aktu-
elle Microsoft-Betriebssystem Windows 10
befinden, außerdem Daten von Zentral-
banken und aus dem Bankennetzwerk WWW.SPIEGELDAILY.DE
Swift sowie Informationen über russische,
chinesische, iranische oder nordkoreani-
sche Nuklear- und Raketenprogramme.
Ein Bluff? Vielleicht. Nur haben die Sha-
dow Brokers ihren Ankündigungen bislang
immer Taten folgen lassen.
Maik Baumgärtner, Frank Hornig, Fabian Reinbold,
Marcel Rosenbach, Fidelius Schmid,
Hilmar Schmundt, Wolf Wiedmann-Schmidt

Video: So schützen Sie sich


vor Hackerangriffen
spiegel.de/sp212017hacker
oder in der App DER SPIEGEL Die smarte Abendzeitung.
Schenkt Zeit, macht schlau.
DER SPIEGEL 21 / 2017 17
Titel

„Putins Motiv ist Rache“


Cyberattacken Der russische Geheimdienstexperte Andrej Soldatow über Hacks und Leaks – und
warum er glaubt, dass der Kreml auch für den Bundestagswahlkampf Störmanöver plant.

Soldatow, 41, ist investigativer Journalist und


Autor mehrerer Bücher über die russischen
Geheimdienste. Er ist Mitbegründer von
Agentura.ru, einem „Watchdog“ zur Arbeit der
Nachrichtendienste. Mit Irina Borogan ver-
öffentlichte er das Buch „The Red Web“, das
im August in einer Neuauflage auf den Markt
kommt – mit einem neuen Kapitel zu den
jüngsten russischen Operationen.

SPIEGEL: Sie befassen sich seit fast zwei Jahr-


zehnten mit russischen Geheimdiensten
und deren technischen Fähigkeiten. Haben
Sie Anhaltspunkte dafür, dass es im Bun-
destagswahlkampf ähnliche Einflussversu-
che und Störaktionen geben wird wie in
den USA und zuletzt in Frankreich?
Soldatow: Ich rechne damit, leider. Nach
dem US-Wahlkampf schien eine relative
Phase der Ruhe einzutreten, aber die ist
beendet. Die Macron-Leaks kurz vor der
Wahl in Frankreich zeigen: Der Kreml hat
sich leider entschieden weiterzumachen.
Ich halte es für hoch wahrscheinlich, dass
es als nächstes Deutschland trifft.
SPIEGEL: Wie kommen Sie zu dieser Ein-
schätzung?
Soldatow: Aus Sicht des Kreml ist Deutsch-
land der stabile Kern und Anker der Eu-
ropäischen Union – und Moskau ist beses-

MARC-STEFFEN UNGER
sen von der Idee, der EU zu schaden. Man
möchte sie schwächen, irritieren, unter-
minieren, das ist das Ziel.
SPIEGEL: Die Bundeskanzlerin hat Putin
neulich ausdrücklich gewarnt, sich in den Plenum des Deutschen Bundestags: „Hoch wahrscheinlich, dass es Deutschland trifft“
deutschen Wahlkampf einzumischen.
Macht das gar keinen Eindruck?
Soldatow: Im Kreml haben nach den Erfah-
rungen in den USA und Frankreich viele
das Gefühl, dass es keine negativen Kon-
sequenzen gibt – und es deshalb einen Ver-
such wert sein könnte. Warnungen und
Sanktionen wirken nicht abschreckend,
das haben die jüngsten Leaks in Frankreich
gezeigt. Ich habe auch nicht gehört, dass
danach russische Diplomaten aus Frank-
reich ausgewiesen worden wären. Im Üb-
rigen schätzen insbesondere die großen
traditionellen Parteien in Deutschland die
ALBERTO CRISTOFARI / A3 / CONTRASTO / LAIF

Macht der sozialen Medien zu gering ein.


Sie sind technisch nicht besonders beschla-
gen und halten sich dort eher zurück. Das
sieht man im Kreml offenbar als Chance,
dort verstärkt Einfluss zu nehmen.
SPIEGEL: In Frankreich und den USA sollten
die Leaks und Desinformationskampagnen
über soziale Medien offenbar populisti-
schen Kräften helfen. Würde das im deut-
schen Wahlkampf ähnlich sein? Autor Soldatow: „Ich halte das Trump-Dossier für ziemlich akkurat“

18 DER SPIEGEL 21 / 2017


Soldatow: Man wird auch hier stark auf das gesehen zu werden. Das macht die Sache sich vorstellen, dass die FSB-Kontaktper-
verbreitete Gefühl der Ablehnung gegen- so unberechenbar und gefährlich. son diese Unternehmen relativ leicht über-
über dem Establishment und den Eliten SPIEGEL: Offiziell bestreitet die russische Re- zeugen kann, dass es besser ist, spezielle
setzen und auf die Bewegungen und Par- gierung vehement, bei Hacks wie gegen den Wünsche zu erfüllen und zu kooperieren.
teien, die dieses Gefühl ausnutzen. Bundestag und Einflussoperationen über so- SPIEGEL: Die russischen Hoffnungen in den
SPIEGEL: IT-Experten und westliche Geheim- ziale Medien ihre Finger im Spiel zu haben. neuen Präsidenten Trump, der in Moskau
dienste schreiben die Hauptverantwortung Soldatow: Das ist aus Sicht des Kremls ja zunächst euphorisch gefeiert wurde, schei-
für die politischen Hacks in den USA, das Schöne an der Sache: Man kann immer nen sich allerdings nur in Teilen zu erfüllen
Frankreich und auch auf den deutschen jemand anderen beschuldigen, man kann – immer neue Enthüllungen über seine
Bundestag einer Gruppierung zu, die sie die eigene Verantwortung immer leugnen. Russland-Connection sowie die jüngsten
als Fancy Bear bezeichnen und dem Ein- Die russische Regierung hat das früh ver- Leaks des Präsidenten in Richtung des rus-
flussbereich des russischen Militärgeheim- standen – schon 1999, als unabhängige sischen Außenministers könnten ihm gar
dienstes GRU zuordnen. Trifft das zu? tschetschenische Webseiten aufkamen und zum Verhängnis werden. Was halten Sie
Soldatow: Ich kenne ihre Beweise, sie beru- russische Studenten anfingen, diese zu at- von dem berüchtigten Trump-Dossier mit
hen auf einer digitalen Spurensuche und tackieren. Seither hat der Kreml aus dem den Details aus Moskauer Hotelzimmern,
ausgefeilten Forensik, aber auch die hat Outsourcing dieser Cyber-Operationen ist das stichhaltig?
ihre Grenzen. eine regelrechte Strategie gemacht. Soldatow: Ich habe Teile dieses Dossiers
SPIEGEL: Wieso sind Sie dann so sicher, dass SPIEGEL: Das müssen Sie näher erklären. recht früh zu Gesicht bekommen und war
Russland hinter diesen Angriffen steht? Soldatow: Ich unterscheide zwei Phasen. Bis zunächst sehr skeptisch, denn einige De-
Soldatow: Mit der digitalen Forensik kann etwa 2014 haben Kreml-nahe Jugendorga- tails und Namen stimmen so nicht. Ande-
man zuverlässig bestimmen, aus welchem nisationen und kriminelle Hacker viele die- rerseits werden interne Entscheidungs-
Land ein Angriff kommt. Und man kann ser Arbeiten erledigt, und die Aufträge ka- abläufe sehr präzise beschrieben. Es passt
sagen, ob es sich um einen vom Staat ge- men über Mittelsleute, etwa über dubiose auch zur Mentalität im FSB. Schon im frü-
stützten Angreifer handelt. Viele Experten PR-Firmen. Das hat sich verändert, profes- heren KGB gab es Mitarbeiter, die sich um
kamen zu dem Ergebnis, dass die Angreifer sionalisiert. Mittlerweile arbeiten kriminel- Ausländer kümmerten, die nach Russland
in diesen Fällen aus Russland kamen und le Hacker direkt im Auftrag des Inlandsge- kommen, die versuchten, sie anzuwerben.
vom Staat unterstützt wurden. Was wir Es passt also ins Bild, dass der FSB aktiv
nicht genau beweisen können ist, welche wird, wenn plötzlich wertvolle Ziele vor
staatliche Stelle dahintersteht. Es ist aber „Es geht darum zu der Tür stehen. Es wird unmöglich sein,
am Ende auch nicht so wichtig, ob diese demonstrieren, unabhängig zu prüfen, ob all das, was dort
Hacker nun Uniform tragen oder nicht. an potenziell kompromittierenden Details
SPIEGEL: In Ihrem Buch lassen sie allerdings
dass Russland im beschrieben wird, wirklich so stattgefun-
keinen Zweifel daran, dass am Ende der Be- Cyberbereich den hat. Aber insgesamt halte ich das Dos-
fehlskette Präsident Putin persönlich steht. Supermacht ist.” sier inzwischen für ziemlich akkurat.
Sie glauben sogar, sein Motiv zu kennen. SPIEGEL: Seit der vergangenen Woche disku-
Soldatow: Nach meinen Recherchen waren tiert die Welt über die Erpressungskampa-
die Hacks im US-Wahlkampf und das Lea- heimdienstes FSB. Und die russische IT-In- gne „WannaCry“ – bei der Russland zu den
ken des Materials keine lange geplante dustrie spielt eine immer wichtigere Rolle. besonders stark betroffenen Ländern zählt.
Strategie. Das war eine Reaktion auf die Die Branche boomt, sie ist riesig, erfolg- Sogar im Moskauer Innenministerium wur-
Veröffentlichung der „Panama Papers“. reich und innovativ. Nach außen sind das den viele Rechner lahmgelegt. Das Roh-
Die Milliarden von Putins Freund Sergej absolut legitime, unauffällige Unterneh- material dafür hat eine ominöse Gruppe
Roldugin waren eine der größten Ent- men, die irgendwas mit IT machen – und namens Shadow Brokers online gestellt,
hüllungen darin. Im Kreml sah man da- die von der Regierung dann gebeten wer- hinter der manche Experten russische Ak-
hinter amerikanische Interessen und einen den, in sensiblen Angelegenheiten ein biss- teure vermuten. Was wissen Sie darüber?
Angriff, der beantwortet werden musste. chen zu helfen. In den Macron-Leaks fand Soldatow: Da bin ich vorsichtig, bislang
Putins Motiv war ein Gegenschlag, Rache. sich ja beispielsweise der Name einer Mos- habe ich nicht genug Beweise gesehen, um
SPIEGEL: Die Macron-Leaks haben dem Kan- kauer Firma, die offenbar involviert war. das eindeutig einem Land zuzuordnen.
didaten allerdings offenbar nicht geschadet, SPIEGEL: Warum machen die Firmen das SPIEGEL: Sie kritisieren russische Geheim-
es gab darin auch keine Substanz für einen mit – wollen sie daran verdienen, oder dienste und den Kreml bis hinauf zum Prä-
Skandal. Das könnte bei Daten, die 2015 werden sie dazu gezwungen? sidenten – das erfordert einigen Mut. Gibt
aus dem Bundestag abgezweigt wurden, Soldatow: Die meisten kooperieren aus es Einschüchterungsversuche oder gar den
ähnlich sein. Hat die neue Methode „erst Angst. Sie können nicht Nein sagen. Viele Versuch, Sie zum Schweigen zu bringen?
hacken, dann Leaken“ womöglich gar nicht Firmen sind mit Regierungsaufträgen groß Soldatow: Ich beschäftige mich seit 1999 mit
mehr den gewünschten Effekt? geworden. Was man im Westen verstehen russischen Geheimdiensten, und seit 2002
Soldatow: Sie sollten auch die Auswirkungen muss: Man kann etwa als Internetanbieter gab es immer wieder Vorkommnisse. Die
nach innen betrachten, in Russland selbst. in Russland nicht unabhängig sein. Methoden reichen von Ermittlungen über
Der größte Erfolg des Kreml ist es doch, SPIEGEL: Warum nicht? Drohungen bis zu Vorfällen an den Gren-
dass Russland deshalb plötzlich wieder als Soldatow: Man braucht eine spezielle Li- zen. Ich rede ungern darüber. Ich will nur
starker internationaler Player wahrgenom- zenz vom Kommunikationsministerium, sagen, dass in diesen Tagen niemand wirk-
men wird, der auf Wahlen in aller Welt um sie überhaupt anbieten zu können. Um lich wissen kann, ob er sicher ist. Der
Einfluss nehmen kann. Es geht einigen der die zu bekommen müssen sie die soge- Kreml definiert die Grenzen bewusst nicht
Verantwortlichen offenbar vor allem da- nannte Sorm-Box installieren, die russi- genau. Das ist sehr effektiv, denn es kann
rum zu demonstrieren, dass man mit Russ- schen Behörden das „legale Abhören“ er- dazu führen, dass man sich selbst zensiert.
land rechnen muss, dass es zumindest im möglicht. Das wiederum bringt den FSB Gegen diese Gefahr der Selbstzensur ver-
Cyberbereich eine Supermacht ist. Für die ins Spiel. Sobald die Box installiert ist, ha- suche ich zu kämpfen, denn sie zerstört
Russen ist es eine emotionale Sache und ben sie es als Unternehmen mit einer Kon- einen als Journalist.
sehr wichtig, auf der Weltbühne genau so taktperson des FSB zu tun. Sie können Interview: Christiane Hoffmann, Marcel Rosenbach

DER SPIEGEL 21 / 2017 19


Steinbach im Bundestag

SVEN DARMER / DAVIDS


Wahlkampf

Erika Steinbach unterstützt die AfD


Die ehemalige CDU-Politikerin will bei mindestens einer Großveranstaltung auftreten.
Im Bundestagswahlkampf wird die AfD eine prominente Vize Alexander Gauland auftreten; beide kennen und schät-
Wahlhelferin haben: Erika Steinbach, abtrünniges CDU-Mit- zen einander aus gemeinsamen Zeiten in der hessischen
glied und derzeit noch Bundestagsabgeordnete, will die Kommunalpolitik. Steinbach wollte sich zu den Plänen nicht
Rechtspopulisten bei mindestens einer Großveranstaltung im äußern, bekräftigte aber: „Ich bin überzeugt davon, dass die
Wahlkampf unterstützen, heißt es aus AfD-Kreisen. Stein- AfD in den Deutschen Bundestag einziehen muss, damit es
bach war für die CDU 13 Jahre lang Stadtverordnete in dort wieder eine wirkliche Opposition gibt.“ Insbesondere
Frankfurt am Main und 27 Jahre lang Bundestagsabgeordne- während der Flüchtlingskrise habe es nur innerhalb der
te. Anfang des Jahres trat sie aus der Partei aus, unter ande- Unionsfraktion nennenswerte kritische Stimmen gegeben,
rem aus Ärger über die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin An- der restliche Bundestag sei „wie gleichgeschaltet“ gewesen.
gela Merkel. Im Wahlkampf wird sie gemeinsam mit AfD- Einen Eintritt in die AfD schließe sie allerdings aus. ama

Bundeswehr G36, eine P8 und drei Signal- chen worden. Laut den Er- Diebstahl begangen haben.
Verschwundene pistolen als verschwunden ge- mittlern kann nur ein Soldat Da zur gleichen Zeit in
Gewehre meldet.
Derzeit ermittelt die Bun-
mit Insiderkenntnissen den Munster ein mutmaßlich
rechtsextremer Soldat einge-
ROLAND GEISHEIMER / ATTENZIONE / AGENTUR FOCUS

Bei der Bundeswehr sind in desanwaltschaft, ob der setzt war, der sowohl Franco
den vergangenen Jahren Diebstahl von zwei G36-Ge- A. als auch den ebenfalls
mehr Kriegswaffen ver- wehren, einer P8- und einer festgenommenen Soldaten
schwunden als bisher be- Signal-Pistole aus einem Maximilian T. kannte, prüfen
kannt. Laut einer internen „Fuchs“-Transportpanzer am die Ermittler einen Zusam-
Aufstellung des Verteidi- 13. Februar dieses Jahres mit menhang. Franco A. hatte
gungsministeriums fehlten dem Fall des rechtsextremen über Monate rund tausend
nach Schießübungen der Oberleutnants Franco A. in Schuss Munition aus Bundes-
Truppe im Jahr 2015 drei Verbindung steht. Der wehrbeständen entwendet
G36-Sturmgewehre, zwei G3- „Fuchs“ einer Einheit aus und bei einem ebenfalls fest-
Gewehre und eine P8-Pistole. Minden war auf dem Trup- genommenen Komplizen ge-
Im Jahr darauf wurden zwei penübungsplatz aufgebro- „Fuchs“-Transportpanzer hortet. mgb

20 DER SPIEGEL 21 / 2017 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Diesel BVB-Attentat versehen und in dem Plastik-
Seehofer fordert Die Spur band verarbeitet war – ein
Kaufprämie des Sprengstoffs mögliches Versteck für einen
Sprengsatz, vermuten die Er-
Die Staatskanzlei des bayeri- Nach dem Anschlag auf den mittler. Zudem entdeckten
schen Ministerpräsidenten Mannschaftsbus von Borussia sie an W.s Arbeitsplatz und
Horst Seehofer (CSU) will Dortmund verfügen die Er- seinem Spind offenbar Spu-
mit einer Kaufprämie den mittler über mehr belastende ren von Wasserstoffperoxid.
Absatz moderner Dieselautos Indizien gegen den Hauptver- Die kriminaltechnischen Un-
fördern. Dadurch soll das dächtigen Sergej W. als bis- tersuchungen haben inzwi-

JÖRG GLÄSCHER
Fahrverbot von Diesel-Pkw lang bekannt. Sprengstoff- schen ergeben, dass bei dem
in den Städten abgewendet hunde schlugen sowohl an Attentat selbst zusammenge-
werden. Laut dem „Maßnah- seinem Bett in seiner Woh- mischter Sprengstoff auf der
menpaket zur Luftreinhal- Seehofer nung in Rottenburg als auch Basis von Wasserstoffperoxid
tung“, das Seehofers Beamte an seinem Spind bei der Ar- verwendet wurde. Untersu-
seit dieser Woche intern ab- ob er die Nachrüstung alter beit an. Darüber hinaus fan- chungen zu Flüssigkeiten und
stimmen, soll es „starke An- Dieselfahrzeuge oder andere den die Ermittler bei den El- Pulvern, die Ermittler bei ih-
reize zur Flottenerneuerung Maßnahmen zur Luftreinhal- tern des Verdächtigen einen ren Durchsuchungen sicher-
von Dieselfahrzeugen“ ge- tung in den Städten geneh- Vogelkasten aus braunem Be- stellten, laufen noch. Sergej
ben. So fordert Bayern auch, migt. Die Autoindustrie wen- ton, der mit einer Bohrung W. bestreitet die Tat. fis, jdl
dass nur Autos mit guter det sich gegen Dobrindts Blo-
Schadstoffklasse auf bestimm- ckadehaltung. Ihr Verband
ten öffentlichen Parkplätzen VDA bot der grün-schwarzen
halten dürfen. Außerdem soll Landesregierung in Baden-
eine Nachrüstung von älteren Württemberg an, mit einem
Dieselautos mit Schadstoff- Software-Update den Stick-
klasse Euro 5 „geprüft“ wer- oxidausstoß von rund zwei
den. Es gebe ein „Optimie- Drittel der sechs Millionen
rungspotenzial von 45 bis 60 Euro-5-Diesel zu reduzieren:
Prozent“, so die Staatskanz- Sie sollen nur noch die Hälfte
lei aus München. Die Kosten ausstoßen. Das baden-würt-
dafür sollten allerdings die tembergische Staatsministe-
Hersteller tragen. rium von Ministerpräsident

MARCEL KUSCH / DPA


Damit bringt Seehofer sei- Winfried Kretschmann (Grü-
nen Parteifreund Alexander ne), der eine Dieselnachrüs-
Dobrindt in Zugzwang: Der tung für möglich hält, hat das
Bundesverkehrsminister hat Bundeskanzleramt zum Han-
bislang nicht entschieden, deln aufgefordert. gt, fri Mannschaftsbus nach dem Attentat im April

Äußerungsrecht den, dass ein Regierungsmit- mal nicht so war: Irgendwo Lenz: Wer in einem Regie-
„Kein Maulkorb“ glied, das „in spezifischer ist immer Wahlkampf. Und rungsamt grob angegriffen
Weise“ Ressourcen seines welchen zeitlichen Abstand wird, soll sich auch in dieser
Der Verfassungsrechtsexperte Amtes in Anspruch nimmt, will man da verlangen? Das Funktion wehren dürfen. Für
Christofer Lenz, 50, Anwalt in neutral sein muss. Hätte Wan- wäre mir als Abgrenzung zu eine angemessene verbale
Stuttgart, über die Klage der ka eine solche Mitteilung auf unsicher. Selbstverteidigung darf ein
AfD gegen Bundesbildungsmi- Briefpapier der Partei veröf- SPIEGEL: Muss man einem Re- Minister auch die Kommuni-
nisterin Johanna Wanka (CDU) fentlicht oder sich in einem gierungsmitglied nicht auch kationsmittel seines Hauses
Interview unter Hinweis da- zugestehen, sich gegen einen nutzen. Also kein Maulkorb –
SPIEGEL: Als Reaktion auf eine rauf geäußert, dass sie als Par- polemischen Angriff zu weh- trotzdem ist es sicher schlau,
geplante AfD-Demo mit dem teipolitikerin spricht, wäre ren – und zwar gerade als Re- im Wahlkampf zurückhalten-
Motto „Asyl braucht Gren- das kein Problem gewesen. gierungsmitglied und nicht der zu sein.
zen. Rote Karte für Merkel!“ Wenn sie aber die Kanäle ih- nur als Parteipolitiker oder SPIEGEL: Wanka hat allerdings
hat Wanka im November res Ministeriums nutzt, ist Privatperson? nicht sich selbst verteidigt,
2015 per Pressemitteilung ih- das heikel. sondern die Kanzlerin.
res Ministeriums erklärt: SPIEGEL: Das Verfassungsge- Lenz: Man kann sich natürlich
„Die Rote Karte sollte der richt wird am Mittwoch über fragen, ob statt des Ministe-
AfD und nicht der Bundes- den Fall verhandeln. Wanka riums nicht das Bundeskanz-
kanzlerin gezeigt werden.“ argumentiert nun unter ande- leramt hätte kontern müssen.
STEFAN BONESS / IPON

Ist sie zu weit gegangen? rem, die Äußerung sei außer- Aber da es hier um die Re-
Lenz: Zumindest hätte sie der halb des Wahlkampfs erfolgt. gierungspolitik insgesamt
AfD weniger Angriffsfläche Lenz: Das mag sein – ich be- ging, halte ich es für vertret-
bieten können. Das Bundes- zweifle aber, ob das der ent- bar, dass eine Ministerin für
verfassungsgericht hat in ei- scheidende Punkt sein kann. ihre Chefin in die Bresche
nem ähnlichen Fall entschie- Selbst wenn es hier zufällig Wanka springt. hip

21
Deutschland

Klimaschutz Kinderehe
Ziel verpasst Wirksame Härtefälle
Die Bundesregierung rechnet Union und SPD haben sich
nicht mehr damit, die Ziele bei den umstrittenen „Kin-
des erst im November verab- derehen“ geeinigt. Die Uni-
schiedeten Nationalen Klima- on stimmte dem Konzept
schutzplans zu erreichen. von Justizminister Heiko
Wie aus dem sogenannten Maas (SPD) zu. Eheschlie-
Projektionsbericht 2017 her- ßungen zwischen Partnern
vorgeht, ist es illusorisch, die unter 18 Jahren sind in
Treibhausgasemissionen bis Deutschland künftig aus-
2030 um mindestens 55 Pro- nahmslos verboten. Ehen

STEFFEN JÄNICKE
zent im Vergleich zu 1990 zu minderjähriger Flüchtlinge
Biermann senken – vor allem weil im müssen die Jugendämter
Bereich Verkehr noch zu viel zwingend den Gerichten
CO2 ausgestoßen wird. Der melden. War ein Partner bei
Berlin dem Willen der Hochschul- Klimaschutzplan sieht vor, der Heirat jünger als 16, soll
Neues Biermann- leitung nicht sprechen: Er dass im Verkehr dann nur die Ehe pauschal nichtig sein.
ist nicht als Redner einge-
Theater plant. Das sorgt nun für
noch maximal 98 Millionen Zwischen 16 und 18 Jahren
Tonnen Emissionen statt der- müssen die Gerichte prüfen,
Der Sänger und Dichter Aufruhr an der Hochschule. zeit rund 160 Millionen anfal- ob ein Härtefall vorliegt und
Wolf Biermann ist als Red- Die Schriftstellerin Ines len. Laut Projektionsbericht die Ehe ausnahmsweise wirk-
ner im Ostteil Berlins wieder Geipel, Professorin für Vers- ist dies unrealistisch: Besten- sam ist. Die CSU hatte die
einmal unerwünscht. Am kunst an der Ernst-Busch- falls ist demnach eine Sen- Unwirksamkeit sämtlicher
31. Mai wird das Berliner Schule, erklärt dazu: „Die kung auf rund 139 Millionen Ehen unter 18 gefordert.
Arbeiter-Theater (bat) nach DDR waltet an der Hoch- Tonnen zu erreichen. Der „Wir werben nach wie vor
Umbauarbeiten seinen Be- schule wie ein sinistrer Verkehrssektor ist der einzi- für das wichtige Signal der
trieb neu aufnehmen. Bier- Geist.“ Geipel schlägt vor, ge Bereich, in dem die CO2- absoluten Nichtigkeitslö-
mann hatte es 1961 gegrün- „dieser Bühne den Namen Emissionen seit 1990 nahezu sung“, sagt CSU-Rechtspoliti-
det, später wurde es von der Wolf Biermann zu geben“. gleich geblieben sind. Aber ker Alexander Hoffmann.
SED-Kulturbürokratie ge- Die DDR hatte 1965 ein Auf- auch andere Bereiche wie „Zudem ist es eine Illusion,
schlossen. Bei der Eröffnung tritts- und Publikationsver- die Energie- und Landwirt- gerichtlich klären zu wollen,
des Hauses, das inzwischen bot gegen Biermann ver- schaft leisten einen geringe- wer aus freien Stücken heira-
zur Berliner Hochschule für hängt, 1976 wurde er nach ei- ren Beitrag als nötig wäre, tete.“ Widerstand gegen
Schauspielkunst Ernst Busch nem Konzertauftritt in Köln um das 55-Prozent-Ziel zu Maas’ Konzept will die CSU
gehört, soll er aber nach ausgebürgert. stb erreichen. böl aber nicht mehr leisten. ama

Umwelt Griechenland päische Aufseher Griechen-


Deutscher Meister: TSG Hoffenheim EU-Kommission soll land heftig kritisiert. Das Sta-

Schalke und Leverkusen stei- Erneuerbare-Energien-


intervenieren tistiksystem des Landes sei
in besorgniserregendem Zu-
gen ab, Bayern München wird Bundesligatabelle Quelle: MdB Krischer Das Bundesfinanzministe- stand. Geschönte Statistiken
nur Siebter, und die Meister- rium fordert die EU-Kommis- aus Athen waren ein Grund
Platz Verein Ökopunkte
schaft holt – die TSG Hoffen- sion auf, dem Statistikchaos dafür, dass Griechenland
heim. So sähe die Bundesliga- 1 TSG Hoffenheim 21 in Griechenland schnell ab- 2001 unzulässigerweise in die
tabelle aus, wenn das Umwelt- 2 Werder Bremen 20 zuhelfen. Es könne nicht an- Währungsunion aufgenom-
bewusstsein die Platzierung 3 Borussia Dortmund 20 gehen, dass die Geberländer men wurde. rei
der 18 Spitzenvereine be- 4 Mainz 05 19 schon das dritte Hilfs-
stimmte. Der Grünen-Bundes- 5 SC Freiburg 19 programm für Grie-
tagsabgeordnete und Energie- 6 1. FC Köln 17 chenland auf den Weg
experte Oliver Krischer hat 7 Bayern München 15 gebracht hätten, das
die Tabelle erstellt. Er fragte 8 Eintracht Frankfurt 15 staatliche Statistikamt
dafür die Vereine unter ande- 9 Hamburger SV 15 aber immer noch unzu-
rem nach ihrem Einsatz erneu- 10 RB Leipzig 15 verlässig arbeite,
erbarer Energien, ihrer Ener- 11 FC Ingolstadt 13
schrieb Europa-Staats-
ALKIS KONSTANTINIDIS / REUTERS

gieeffizienz und dem Bezug sekretär Thomas Stef-


12 VfL Wolfsburg 11
von Ökostrom. Krischer hatte fen an die Brüsseler
13 Hertha BSC 10
2015 schon einmal eine solche Kommission. Es sei ein
Tabelle erstellt. Im Vergleich 14 FC Augsburg 9 Unding, dass Milliar-
zu damals gebe es klare Fort- 15 Bor. Mönchengladbach 7 denhilfen auf fehlerhaf-
schritte, sagt er: „Die Vereine 16 Darmstadt 98 6 ter Zahlenbasis errech-
setzen heute stärker auf rege- 17 Bayer Leverkusen 4 net würden. Anfang
nerative Energieträger.“ gt, red 18 Schalke 04 1 der Woche hatten euro- Demonstranten in Athen

22 DER SPIEGEL 21 / 2017


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Deutschland
BILAN / EPA / REX / SHUTTERSTOCK

Parteichef Schulz im Willy-Brandt-Haus in Berlin


„Solange die nicht konkret werden, werde ich auch nicht konkret“

24 DER SPIEGEL 21 / 2017


Aufstehen, weitermachen
SPD Nach der Schlappe von Nordrhein-Westfalen will Kanzlerkandidat
Martin Schulz sein Wahlkampfteam neu aufstellen und mit einer Programmoffensive
Boden gutmachen. Trotz Kritik steht die Partei hinter ihm.

D
er Deutsche Gewerkschaftsbund Nur einer mühte sich, Aufbruchstim- Energie war im Kessel. Ein Redner nach
hatte alles vorbereitet für einen ent- mung zu verbreiten: der Kandidat selbst. dem anderen überzog die Wahlverliererin
spannten Abend in Berlin. Vor den Wo immer Schulz am Montag nach dem mit Kritik. Von einer „historischen Sit-
Grillständen stapelten sich Steaks und für die SPD so finsteren Sonntag auftrat, zung“ sprach hernach ein Teilnehmer, und
Würstchen, eine Blaskapelle spielte Old- gab er Durchhalteparolen aus. Wir haben der Tenor sei ganz überwiegend der glei-
time-Jazz. verloren? Wir sind gestolpert? Macht che gewesen: Zu oft habe Kraft die eige-
Der DGB-Mai-Empfang an diesem Diens- nichts, aufstehen, Mund abputzen, weiter- nen Leute abgebürstet, die sozialdemokra-
tag hatte kaum begonnen, als sein promi- machen! tische Wählerklientel vernachlässigt.
nentester Gast bereits zum Aufbruch dräng- So eilte er am Montag in den Parteivor- Es sei ein schwerer Fehler gewesen, so
te. Ein kurzes Signal an seine Begleiter, und stand, am Tag danach in die Fraktion. So monierte ein Redner, dass sie niemanden
schon machte sich SPD-Chef Martin Schulz präsentierte er sich der Landesgruppe Nie- neben sich geduldet habe. Auch Martin
auf den Weg zu einer parteiinternen Runde, dersachsen und auch den Vertretern des Schulz sollte ihre Kampagne nicht domi-
von der niemand etwas mitbekommen soll- Bundeswehrverbands, denen er mit Meta- nieren. Der Gesundheitsexperte Karl Lau-
te: einem Krisentreffen mit Vizekanzler phern aus dem Wortschatz der Marine Mut terbach brachte es schließlich auf den
Sigmar Gabriel und einigen wahlkampf- zu machen suchte: „Das Schiff ist in stür- Punkt: Der Wahlkampf sei „eine Katastro-
erfahrenen Genossen, darunter Schulz’ mischer See und wird beschossen“, ver- phe“ gewesen.
Chefberater Markus Engels und Wirt- kündete er den erstaunten Militärs. „Wir Der Zorn der Genossen galt nicht nur
schaftsstaatssekretär Matthias Machnig. sind nicht untergegangen. Jetzt setzen wir Kraft, er traf auch das Wahlkampfteam in
Es ging um die desolate Lage nach den die Segel und schlagen zurück.“ der Parteizentrale. Allzu passiv hatte sich
verlorenen Landtagswahlen in Schleswig- Ganz unvorbereitet hatte die Schlappe die Schulz-Kampagne in den vergangenen
Holstein und Nordrhein-Westfalen und die von Nordrhein-Westfalen die Parteizentra- Wochen präsentiert. Ohne Idee, wie der
Frage, wie der erlahmten Kampagne des le nicht getroffen. Schon Tage vor der Hype um den „Gottkanzler“ mit politi-
Mannes aus Würselen neues Leben einge- Landtagswahl hatten die Kampagnen- schen Konzepten unterfüttert werden könn-
haucht werden könnte. Knappe drei Stun- te. Die frühere Gesundheitsministerin Ulla
den saß die Runde in der Mitte Berlins zu-
sammen, dann stand das vorläufige Ergeb-
„Verabredet war eine Schmidt, die wie Schulz aus der Region
Aachen stammt, gab zu Protokoll: „Das
nis: Schulz selbst soll erkennbarer, sein kurze Osterpause – aber Willy-Brandt-Haus hat noch jeden Kanz-
Programm in rascher Folge konkreter
werden. Und das Willy-Brandt-Haus wird
dass er dann gleich lerkandidaten kleingekriegt.“
Zusammengetragen wurde vieles. Am
personell Verstärkung erfahren. wochenlang abtaucht ...“ Vormittag im Parteipräsidium war es deut-
So sehen die Eckpunkte des Neustarts lich gnädiger zugegangen: „Sind wir im
aus, von dem in der Parteispitze schon vor planer einen Neustart angekündigt, einen Willy-Brandt-Haus richtig aufgestellt?“,
der Sonntagspleite die Rede war. Während neuen Zeitplan, eine andere Haltung, fri- fragte vorsichtig Parteivize Thorsten Schä-
die Christdemokraten ihr Glück kaum fas- sche Themen. fer-Gümbel. Eine befriedigende Antwort
sen konnten, rangen die Sozialdemokraten Doch erst einmal stand Luftablassen an. bekam er nicht.
nach dem NRW-Desaster um Haltung. Was war so dramatisch schiefgelaufen? In der Bundestagsfraktion wiederum
Drei verlorene Landtagswahlen innerhalb Wie konnte dem euphorischen Schulz-Auf- wollte der Heidelberger Abgeordnete Lo-
von sieben Wochen, in den Meinungs- stieg ein ebenso dramatischer Absturz thar Binding, etwas „zum Bühnensetting“
umfragen von 33 Prozent auf 26 Prozent folgen? Und was heißt das für die Bundes- in der Parteizentrale loswerden: Wenn man
abgerutscht und ein Kandidat, von dem es tagswahl? Nirgendwo wurde so hart ab- schon Niederlagen zu kommentieren habe,
nun in TV-Kommentaren und Internet- gerechnet wie am Montagabend ausgerech- dann doch bitte nicht „wie bei einer Be-
blogs hieß, er sei „entzaubert“: Das hatten net in der Runde der Bundestagsabgeord- erdigung“. Was Binding meinte: Die Bilder
noch im März selbst die düstersten Pro- neten aus Nordrhein-Westfalen. von den fassungslosen Gesichtern der Par-
gnosen nicht vorausgesehen. Als Hauptschuldige hatten die Genossen teiführung, die am Abend der jeweiligen
Die Aufholjagd, die der SPD-Kandidat die abgewählte Ministerpräsidentin Han- Wahlniederlagen bundesweit ausgestrahlt
seit seiner informellen Inthronisierung nelore Kraft ausgemacht, die die Stim- wurden. Bindings Empfehlung: „Wir haben
Ende Januar hingelegt hatte, war abrupt mung in ihrem Land völlig falsch einge- so viele hübsche Frauen – warum stellt man
beendet. „Schulz und seine Partei sind schätzt hatte. Jahrelang schien sie, wenn nicht mal die zum Vorsitzenden?“
zurück auf Los“, unkte der „Stern“. „Es sie mal in Berlin war, schier unangreifbar, Auch die Auszeit des Kandidaten im ver-
ist zum Verzweifeln“, barmte sogar die geradezu sakrosankt für die Abgeordneten. gangenen April kam intern zur Sprache.
„Bild“-Zeitung. Jahrelang hatten die sich von ihrer Lan- „Verabredet war eine kurze Osterpause –
Auch in der Parteispitze breitete sich desvorsitzenden brav die politische Losung aber dass er dann gleich wochenlang ab-
Tristesse aus. „Es fühlt sich an, als ob wir vorgeben lassen. taucht ...“, staunte einer aus der obersten
wieder da angekommen sind, wo wir be- Doch an diesem Montag war alles an- Riege der Führungsgenossen.
gonnen haben“, umschrieb ein Führungs- ders. Kraft selbst war nicht zugegen, doch Zur Tagespolitik hatte sich Schulz wo-
genosse die eingetrübte Befindlichkeit. zu viel Frust hatte sich angestaut, zu viel chenlang nur sporadisch geäußert. Egal,

DER SPIEGEL 21 / 2017 25


Deutschland

ob es um die rechtsextremen Umtriebe in


der Bundeswehr, die Überschüsse im Haus-
halt oder das Thema Leitkultur ging: Ins
Bild hatten sich zumeist andere SPD-Poli-
tiker gedrängt. Ergebnis: Ralf Stegner und
Sigmar Gabriel, Rainer Arnold und Cars-
ten Schneider kamen in den Medien vor,
Martin Schulz nicht.
Als kapitale Fehleinschätzung erwies
sich auch der Glaube, der Kandidat könne
wie die Kanzlerin im Vagen bleiben. Das
CDU-Wahlprogramm kommt erst im Juli?
Schulz war das gerade recht. „Solange die
nicht konkret werden, werde ich auch
nicht konkret“, konterte er regelmäßig.
Und übersah dabei, dass er der Herausfor-
derer war und Medien, Öffentlichkeit und
die eigenen Mitglieder den Sozialdemo-
kraten traditionell präzisere Vorgaben ab-
verlangen als der Union.

THOMAS IMO
Auch der Umstand, dass er das Thema
Europa vollständig Sigmar Gabriel über-
ließ, erweist sich im Rückblick als Fehler. Generalsekretärin Barley: „Verbrennt alle Infotische“
In kaum einem Themenfeld ist Schulz so
authentisch, kaum eines stößt insbesonde- Grundgesetz, das dem Bund untersagt, Bil- Problemen ist, ein Kandidat zum Anfassen
re bei jüngeren Wählern auf ein vergleich- dungsprojekte in den Bundesländern zu und Ansprechen: So wollen ihn die SPD-
bares Interesse. Doch als an diesem Mon- finanzieren. Strategen von August an ins Rennen
tag Frankreichs neuer Präsident Emma- Nicht alle SPD-Ministerpräsidenten dürf- schicken.
nuel Macron nach Berlin kam, gab es TV- ten amüsiert gewesen sein. Doch Schulz Auch inhaltlich soll nun in Kürze eini-
Bilder mit Gabriel und Merkel – aber nicht legte nach und schonte seine eigene Partei ges deutlicher erkennbar werden. Das The-
mit Schulz. nicht: „Dass wir uns haben einreden lassen, ma Bildung will Schulz mit einer Konfe-
Was den Genossen jedoch Respekt und junge Menschen müssten früher dem Ar- renz weiter vertiefen. Für den kommen-
Hoffnung zugleich einflößte: Im Augen- beitsmarkt zur Verfügung stehen, war fa- den Dienstag ist zudem ein Treffen mit
blick des größten anzunehmenden Unfalls tal.“ Auch die SPD habe in dieser Frage SPD-nahen Wirtschafts- und Sozialexper-
offenbarte der Kandidat überraschende bisweilen „falschen Reformeifer“ an den ten geplant. Die Professoren Peter Bofin-
Nehmerqualitäten. Auch ihm hatte die drit- Tag gelegt. ger, Henrik Enderlein, Marcel Fratzscher
te Wahlschlappe in Folge arg zugesetzt. So soll es weitergehen. Zusammen mit und Bert Rürup sollen Schulz helfen, ei-
Noch am Sonntagabend hatte er in klassi- Gabriel will er die Rüstungsausgaben zum nen Entwurf für Deutschlands Zukunft
scher Boxer-Terminologie von einem „Le- Thema machen. Auf keinen Fall dürfe auszuarbeiten.
berhaken“ gesprochen. Tags darauf forder- Deutschland, um das Zwei-Prozent-Ziel Auch über personelle Korrekturen wur-
te er von seiner Partei Solidarität ein: „Es der Nato zu erreichen, im Sozialetat spa- de am Dienstag gesprochen. Weil sie den
wird immer wieder Momente geben, wo ren. Europa ist ein weiteres Politikfeld, auf Koordinationsbedarf einer Bundestags-
ich eure Unterstützung brauche – auch dem Schulz Boden gutmachen will. Dass wahlkampagne unterschätzt haben, den-
wenn ihr nicht mit allem einverstanden in Frankreich Macron mit einem klaren ken Schulz und seine Leute nun über eine
seid.“ Bekenntnis zur Brüsseler Staatengemein- Verstärkung der Kommunikationsabtei-
Und schließlich trieb er seine Leute an, schaft und ihrer Währung angetreten ist, lung nach. Auch Wirtschaftsstaatssekretär
die Defizite der bisherigen Kampagne zu hat die Wahlkämpfer im Willy-Brandt- Matthias Machnig, 57, soll in beratender
beheben. Der erste Schritt war das Strate- Haus ermutigt. SPD-interne Umfragen zei- Funktion enger an die Wahlkampfzentrale
gietreffen vom Dienstag, bei dem jeder gen, dass insbesondere Neumitglieder und heranrücken.
der Schwachpunkte erörtert wurde: die junge Wähler ein dezidiertes Europa- Machnig, der schon bei der Schröder-
Rollenverteilung zwischen Schulz und Ga- bekenntnis von der SPD erwarten. Kampagne 1998 dabei war, ist ein bewähr-
briel, die fehlenden Inhalte, die Überlas- Weitgehend fertiggestellt ist das Renten- ter Zuarbeiter von Schulz. Beispielsweise
tung von Wahlkampfleiter Engels. konzept von Andrea Nahles. Rund um den 2014, als er den Europawahlkampf des
Schon am Morgen danach beendete Parteitag Ende Juni wird Schulz seinen früheren EU-Parlamentspräsidenten or-
Schulz seinen Stand-by-Modus und stellte Steuerplan vorlegen. Und in den letzten ganisierte, bei dem der Juncker-Kontra-
um auf Attacke. Verteidigungsministerin sechs Wochen vor dem Wahltermin hent in Deutschland 27,3 Prozent erreich-
Ursula von der Leyen unterstellte er, die schließlich will er auf „die große Reise“ te. Machnig gehörte auch zu denjenigen,
Bundeswehr „im Regen stehen zu lassen“, gehen, wie er sein Wahlkampffinale intern die im vergangenen Jahr bei Parteichef
Innenminister Thomas de Maizière warf nennt. Gabriel für Schulz als Kanzlerkandidat
er in der Leitkultur-Debatte eine „Ablen- Zeitgleich mit Außenminister Gabriel, warben.
kungsstrategie“ vor. so die Verabredung vom Dienstag, will er Engster Vertrauter von Schulz aber ist
Am Donnerstag dann das Thema Bil- in einer Art Roadshow durchs Land ziehen Markus Engels, technischer Wahlkampf-
dung: In einer Diskussionsrunde mit Schü- und für die SPD werben. Die Absicht da- leiter im Willy-Brandt-Haus. Machnig und
lern und Lehrern in Berlin-Neukölln for- hinter: Kanzlerin Angela Merkel soll ruhig Engels arbeiteten schon 2014 zusammen;
derte er ein Ende der umstrittenen G8- bella figura auf dem internationalen Par- damals war Machnig der Chef, heute ist
Gymnasialreform. Zudem will er Schluss kett machen. Schulz hingegen will zeigen, es Engels. Nun lautet die Frage, ob sich
machen mit dem Kooperationsverbot im dass er nah an den Leuten und ihren die beiden sendungsbewussten Wahl-

26 DER SPIEGEL 21 / 2017


kampfplaner auf eine funktionierende Ar-
„Nicht verhetzbar“
beitsteilung verständigen können. Gesundheit Warum die SPD bei der Bürgerversicherung vage bleibt
Bleiben wird vorerst wohl auch Gene-
ralsekretärin Katarina Barley. Zuletzt hatte

D
es an der Spitzengenossin wegen stocken- as Buhlen um die verunsicher- teilung klang, ist die „paritätische Bür-
der Radio- und Fernsehinterviews sowie te Klientel am Rande der Ge- gerversicherung“ geworden.
inhaltlicher Defizite einige Kritik gegeben. sellschaft war gestern. Nach Jahrzehntelang war es üblich, dass
„Stammel-Kati“ ätzte bereits der Entertai- drei verunglückten Landtagswahlen sich Arbeitgeber und Beschäftigte
ner Harald Schmidt über Barley. will Martin Schulz vor allem eines den Kassenbeitrag je zur Hälfte teil-
Ihre Fraktionskollegen irritierte sie am vermeiden: mit teuren Vorstößen die ten. Heute aber zahlen die Arbeitneh-
vergangenen Dienstag mit dem Hinweis: Wähler in der Mitte zu verprellen. mer obendrauf einen Zusatzbeitrag
„Verbrennt alle Infotische in den Fußgän- Daher war die Ansage des SPD-Chefs von durchschnittlich 1,1 Prozent
gerzonen! Das ist Wahlkampf von ges- an seine Programmkommission ein- des beitragspflichtigen Bruttoverdiens-
tern!“ Moderne Wahlkämpfe brauchten deutig: Die Bürgerversicherung soll tes. Diesen Aufschlag abzuschaffen
andere Hilfsmittel. Die überraschten Ab- kommen. Aber sie darf die Arbeitneh- ist eines der entscheidenden Wahlver-
geordneten quittierten die Aufforderung mer auf keinen Fall etwas kosten. sprechen: „Arbeitgeber und Ver-
mit hörbarem Gemurmel. Obwohl das an- So präsentiert die SPD in ihrem sicherte werden wieder den gleichen
fänglich gute Verhältnis zu Schulz inzwi- Programmentwurf ein weichgespültes Anteil am gesamten Versicherungsbei-
schen als leicht getrübt gilt, will er an ihr Konzept, um das bisherige Neben- trag zahlen.“ Die Beschäftigten
festhalten. einander von privater und gesetz- würden so nach SPD-Schätzungen
Trotz der Serie von Wahlniederlagen: licher Krankenversicherung zu been- um fünf Milliarden Euro entlastet.
In den meisten Unterbezirken ist die Auf- den. Nur 20 Zeilen umfassen die In der Partei heißt es, dass es durch
bruchstimmung ungebrochen. „Der Rück- Vorschläge für eine Bürgerversiche- einen zweiten Effekt sogar noch mehr
halt ist immer noch da“, berichtet der rung – und sie sind vage genug, um netto vom Brutto geben könnte. Denn
Dürener Bundestagsabgeordnete Dietmar keinen Beitragszahler zu verschre- wer bislang privat versichert ist, soll
Nietan. „Jetzt konzentrieren sich eher cken. „Unser Vorschlag ist nicht ver- wählen können, ob er in die Bürger-
noch mehr Erwartungen auf ihn.“ hetzbar“, sagt SPD-Gesundheitsexper- versicherung wechselt. Dieses Recht
Die Frage ist nur, ob das reicht, der rou- te Karl Lauterbach, der das Konzept würde unbefristet gelten. Lauterbach
tinierten Macht- und Wahlkampfmaschine federführend erdacht hat. „Niemand hofft, dass vor allem jüngere, gut ver-
Merkel Paroli zu bieten. Schulz hat bislang wird sich mit der Bürgerversicherung dienende Privatversicherte in die Bür-
eine Kampagne der Emotionen und der gerversicherung umsiedeln: „Ich gehe
Volksnähe geführt. Kann er nun bestehen
im inhaltlichen Wettbewerb mit einer Kon-
Die Beschäftigten würden davon aus, dass die Beitragssätze
durch diesen Effekt sinken können.“
trahentin, die sich als erfolgreiche Gegen- nach Schätzungen Das Papier aber enthält dazu keine
spielerin autoritärer Männer aus aller Welt
in Szene zu setzen versteht: Trump, Putin,
um fünf Milliarden Euro einzige Zahl. Wer keine konkreten
Ziele nennt, der kann sie auch nicht
Erdoğan? entlastet. verfehlen. Schließlich haben viele Ex-
Und wie lange werden ihn die Genossen perten Zweifel. Heute ächzen vor
unterstützen, von denen viele eigene Am- verschlechtern.“ Genau das war die allem ältere Privatversicherte unter
bitionen und Karrierepläne haben? Politi- Vorgabe des Kanzlerkandidaten. hohen Beiträgen und sehnen den
ker wie Stephan Weil zum Beispiel, der Alle Menschen, die schon heute Mit- Wechsel herbei. Für AOK, Barmer
niedersächsische Ministerpräsident, der glied der gesetzlichen Kassen sind, und Co. wäre das eine teure Klientel.
gern anstelle von Hannelore Kraft stellver- und all jene, die sich künftig neu absi- Das Konzept lässt entscheidende
tretender Parteivorsitzender würde und chern, „werden wir automatisch in die Fragen unbeantwortet: Wie soll die
der Anfang des kommenden Jahres eine Bürgerversicherung aufnehmen“, Bürgerversicherung eingeführt wer-
Landtagswahl zu bestehen hat? heißt es nun in dem Entwurf des Leit- den? Können einstige Privatversicher-
Diese Woche präsentierte Weil ein Steu- antrags. Der Weg in die private Kran- te ihre Rückstellungen in die Bürger-
erkonzept, mit dem er erkennbar andere kenversicherung ist damit künftig ver- versicherung retten? „Eine große Ent-
Schwerpunkte setzen wollte als sein Partei- sperrt. Auf lange Sicht müsste sich die lastung für die gesetzlich Versicherten
chef. Wo Schulz von sinkenden Kita- Privatassekuranz auf das Geschäft mit wird es ohne eine Konkretisierung
Gebühren und steigenden Investitionen Zusatzversicherungen beschränken – nach diesem Konzept nicht geben.
spricht, stellt der Weil-Plan Steuersen- dem Recht zum Beispiel, immer vom Hier liegt der Teufel im Detail“, fürch-
kungen für jene Gehaltsklassen in Aus- Chefarzt behandelt zu werden. tet Franz Knieps, Chef des Dachver-
sicht, in denen sich nicht zuletzt die Fach- Interessanter ist aber, was die SPD bands der Betriebskrankenkassen.
arbeiter von VW befinden. Weiß da je- in ihrem Programm nicht sagt. Von Konkreter ist das Papier nur an
mand besser, was die „hart arbeitende einer Erhöhung der Beitragsbemes- einer Stelle: So sollen neue Beamte
Mitte“ wirklich will? sungsgrenze, wie sie noch Ende 2016 zwar automatisch Mitglied der Bürger-
Es gibt sie noch, die Schulz-Begeisterung die parteinahe Friedrich-Ebert-Stif- versicherung werden. Allerdings dür-
in der SPD. Es gibt aber auch die anderen, tung gefordert hatte, ist keine Rede fen ihre Dienstherren wählen, ob sie
bei denen die Euphorie dem Zweifel Platz mehr. Auch Beiträge auf Miet- oder wie bisher einen Teil der Behand-
gemacht hat. Zinseinnahmen, wie ältere Konzepte lungskosten übernehmen wollen. Vie-
„Ich war so optimistisch, als alles an- sie empfahlen, sind nicht vorgesehen. le Länder hatten auch im Sinne ihrer
fing“, stöhnt ein Spitzenfunktionär aus Es ist kein Zufall, dass die SPD den Staatsdiener auf diese Möglichkeit ge-
Süddeutschland. „Und jetzt staunen wir, Namen ihres Modells modifiziert hat. drängt. Mit den Beamten will es sich
wie das alles verstolpert werden könnte.“ Aus der „solidarischen Bürgerversi- die SPD nicht verscherzen.
Sven Böll, Horand Knaup, cherung“, die verdächtig nach Umver- Cornelia Schmergal
Michael Sauga, Christoph Schult

DER SPIEGEL 21 / 2017 27


Sprache der Panzer
Verteidigung Weil die Nato die russische Aggression fürchtet, setzt sie wieder
auf Abschreckung. Aber sind höhere Rüstungsausgaben tatsächlich eine
zeitgemäße Antwort auf die Krisen der Welt? Von Konstantin von Hammerstein

JÖRG GLÄSCHER / DER SPIEGEL

Bundeswehrsoldaten in Munster

28 DER SPIEGEL 21 / 2017


Deutschland

D
er Mann hat keinen Namen, kein ten zu übernehmen und sich endlich an ten einmarschieren. Sondern was passiert,
Gesicht, keine Nationalität. Man die Zwei-Prozent-Vorgabe zu halten: „In wenn sie es täten. Das ist der entscheiden-
darf nicht wissen, welchen Rang er diesem Punkt bin ich sehr entschlossen, de Unterschied.
hat, ob er Soldat ist oder Zivilist, welche und ich werde sehr entschlossen sein, Wissen alle Beteiligten, dass ein Ein-
Sprache er spricht und ob er wirklich ein wenn ich da hinfahre.“ marsch erfolgreich sein könnte, verändert
Mann ist. Das sind die Regeln. Vor allem die Deutschen stehen am sich das politische Kalkül. Wer glaubhaft
Auf den Gängen des Brüsseler Nato- Pranger. Die ökonomisch stärkste Nation machen kann, dass er in der Lage ist, den
Hauptquartiers warnen große Schilder mit des Kontinents hat im vergangenen Jahr Nachbarn zu überfallen, ist schon dadurch
roter Schrift: Achtung, ab hier nicht mehr einen milliardenschweren Haushaltsüber- stark. Denn so kann er Wohlverhalten er-
über vertrauliche Vorgänge reden. An die- schuss erwirtschaftet, die Steuereinnah- zwingen.
sem Freitagnachmittag droht keine Gefahr, men steigen rasant. Doch der Verteidi- Der russische Präsident Putin hat vor
so kurz vor dem Wochenende ist kaum gungshaushalt liegt bei 1,2 Prozent der Jahren den Untergang der Sowjetunion als
noch einer da. Wirtschaftsleistung. „größte geopolitische Katastrophe des Jahr-
Der Nato-Mann steht auf und zeigt auf Berlin steckt in einem Dilemma. Gegen- hunderts“ bezeichnet. Mehrfach hat er nun
die große Landkarte in seinem Büro. Links über den Verbündeten hat es sich verpflich- schon bewiesen, dass er bereit ist, die
das bunte, in kleine Flecken aufgeteilte tet, deutlich mehr für Rüstung auszugeben, Schwächen anderer auszunutzen. Wegen
Westeuropa, rechts der russische Koloss. doch gleichzeitig fragen viele Menschen, ihrer geografischen Lage sind die drei bal-
Wer Geopolitik verstehen will, muss Kar- ob Panzer und Haubitzen noch eine zeit- tischen Republiken der schwache Punkt
ten studieren. gemäße Antwort auf die Krisen der Welt der Nato, an dem er die Geschlossenheit
Im Kalten Krieg war die Lage so: Nato sind. Sollte das Geld nicht eher in Entwick- des Bündnisses am ehesten testen könnte.
und Warschauer Pakt standen sich hoch- lungshilfe investiert werden, in Kitas und Dass Putin militärisch dazu in der Lage
gerüstet in den beiden deutschen Staaten Universitäten? wäre, glauben inzwischen die meisten
und der Tschechoslowakei gegenüber, ent- Und noch eine Frage treibt die Deut- westlichen Verteidigungsexperten, selbst
lang einer relativ kurzen Linie. Es dauerte schen um: Ist Wladimir Putin tatsächlich wenn einige Grundannahmen der Rand-
nur wenige Stunden, Truppen von Han- der geopolitische Buhmann, zu dem er von Kriegsspiele umstritten sind.
nover an die innerdeutsche Grenze zu der Nato gemacht wird? Warum sollte man Im Kalten Krieg konnte das westliche
verlegen. Angst haben vor dem russischen Militär, Bündnis die quantitative Überlegenheit
Heute ist die Situation völlig anders. Der wenn allein die europäischen Nato-Staaten des Warschauer Paktes durch bessere Waf-
Nato-Mann zeigt nach oben, Nordnorwe- fast viermal so viel für Verteidigung aus- fensysteme ausgleichen. Diese Zeiten sind
gen, dann wandert seine Hand nach rechts, geben wie Moskau? vorbei. Russland scheint es in den vergan-
Ostsee, baltische Staaten, Polen, und Schon spricht Außenminister Sigmar genen Jahren gelungen zu sein, die Quali-
schließlich nach unten, Rumänien, Bulga- Gabriel von einer „Aufrüstungsspirale“. In tätslücke zum Westen zu verringern, selbst
rien, Türkei. Eine gigantische Linie vom der Mitte Europas drohe ein „Militärbulle“ wenn Moskau inzwischen quantitativ der
Nordkap bis hinter Trabzon am Schwarzen zu entstehen, warnt der Sozialdemokrat. Nato in den meisten Bereichen unterlegen
Meer. Die Außengrenze der Nato. Schwer Der Streit um höhere Verteidigungsaus- ist. Bei der Anzahl der Soldaten, bei Pan-
zu verteidigen. gaben, so viel ist wenigstens klar, wird zern, Kampfhubschraubern, Kriegsschiffen
Das Bündnis hat Aufmarschpläne vor- zum Thema des Wahlkampfsommers 2017. oder U-Booten liegt der Westen eindeutig
bereitet. Für das Baltikum, falls Russland vorne.
dort so vorgeht wie in der Ostukraine. Für WIE REAL IST DIE RUSSISCHE BEDROHUNG? Doch die Zahlen täuschen. Den Löwen-
Rumänien und Bulgarien, falls der Angriff Die kalifornische Denkfabrik Rand Cor- anteil der Waffensysteme im westlichen
über das Schwarze Meer kommen sollte. poration hat in den vergangenen drei Jah- Bündnis stellen die Amerikaner, die mit
Für die Türkei und Nordnorwegen werden ren in mehr als 20 Planspielen einen russi- der Masse ihrer Streitkräfte außerhalb
die Pläne noch entwickelt. schen Angriff auf das Baltikum durchge- Europas operieren. Die Europäer wiede-
Norwegen? Ja, sagt der Nato-Mann. Die spielt. Anfang März stellten die Experten rum unterhalten ein wildes Sammelsurium
norwegische Regierung beobachte die rus- ihre Ergebnisse dem US-Kongress vor. an unterschiedlichen Systemen, manche
sische Armee sehr genau. Die Übungen, In keinem Fall sei es gelungen, die est- von ihnen, in den östlichen Mitgliedslän-
die Truppenbewegungen, die U-Boote, die nische Hauptstadt Tallinn oder das letti- dern, stammen noch aus sowjetischer Pro-
Schiffe, die Flugzeuge. In Deutschland wür- sche Riga länger als 60 Stunden zu vertei- duktion.
de davon kaum Notiz genommen. digen. „In einigen Fällen würde die Nie- In den europäischen Armeen werden 17
Das also, ganz grob, ist die Lage, wie derlage der Nato schon nach anderthalb verschiedene Kampfpanzermodelle gefah-
man sie im Nato-Hauptquartier sieht. Die Tagen in die Geschichtsbücher geschrie- ren, 13 unterschiedliche Luft-Luft-Raketen
gute Nachricht sei, sagt der Nato-Mann, ben“, sagte Rand-Forscher David Shlapak. benutzt und 29 Fregattentypen. Vor allem
dass sich theoretisch alle Länder einig Der Westen wäre der große Verlierer. aber besteht die Nato aus 28 Armeen, die
seien, dass mehr Geld ausgegeben werden Russland hätte sich wieder als dominanter in ihrer Struktur und Ausrüstung nicht auf-
müsse, um auf die neue Bedrohung zu rea- strategischer Spieler in Zentraleuropa eta- einander abgestimmt sind. Vielfalt ist beim
gieren. Praktisch aber halten sich nur 5 bliert, die Nato würde kollabieren, und die Militär oft Fluch.
der 28 Nato-Staaten an die Zusage, min- transatlantischen Sicherheitsverbindungen Auch die Haushaltszahlen sind irrefüh-
destens zwei Prozent der Wirtschaftsleis- lägen in Trümmern. Es gehe nicht darum, rend. 241 Milliarden Dollar geben die Nato-
tung in die Verteidigung zu stecken. einen Krieg gegen Russland zu gewinnen, Europäer für Verteidigung aus, die Russen
Geld wird nun deshalb zum beherr- so Shlapak. Aber der Westen müsse dafür 66. Selbst wenn man die vielen Schatten-
schenden Thema des informellen Nato- sorgen, einen solchen Konflikt durch eine haushalte Moskaus mit einrechnet, ist die
Gipfels am kommenden Donnerstag in Kombination aus Stärke und Ausgleich zu Relation gravierend.
Brüssel. Das liegt vor allem an einem verhindern. Doch Moskau bekommt ungleich mehr
Mann, der zum ersten Mal dabei sein wird: Die Rand-Simulation ist nicht so absurd, „bang for the buck“, wie die Amerikaner
Donald Trump. wie sie zunächst vielleicht erscheint. Die sagen, also mehr Wumms fürs Geld. Ein
Lautstark wie kein US-Präsident vor Forscher aus Kalifornien wollten nicht wis- russisches Panzerbataillon kostet nur den
ihm drängt er die Verbündeten, mehr Las- sen, ob die Russen in die baltischen Staa- Bruchteil eines deutschen, weil das Mate-
DER SPIEGEL 21 / 2017 29
Deutschland

rial und vor allem das Personal so viel bil- Droht also ein russischer Angriff? Daran Verfügt hatte das CSU-Verteidigungs-
liger sind. Ein russischer Oberstleutnant glaubt kaum jemand. Bei einem Konflikt minister Karl-Theodor zu Guttenberg, der
verdient nur einen kleinen Teil dessen, was hätten es die Russen mit den drei Atom- 2010 nach einer Klausurtagung der Re-
ein deutscher bekommt. mächten der Nato zu tun. Das Risiko wäre gierung freudestrahlend verkündete, die
Russland ist eine militarisierte Gesell- unkalkulierbar. In Syrien haben Moskau Einsparvorgabe des Bundeskabinetts von
schaft, und Moskau unterhält einen mili- und Washington vorgeführt, dass sie alles 8,3 Milliarden Euro sei eine „einmalige
tärisch-industriellen Komplex, der nicht tun, um sich gegenseitig nicht ins Gehege Chance“. Von den Folgen seiner „Neu-
nach wirtschaftlichen Kriterien handelt, zu kommen. ausrichtung“ hat sich die Truppe bis heute
sondern auf Weisung Putins. Aber auch im Kalten Krieg verließ sich nicht erholt.
Seit dem Beinahe-Debakel im Georgien- die Nato nicht allein auf ihre Atomspreng- Der Verwalter des Elends hat sich in ei-
krieg 2008 investiert der Kreml gewaltige köpfe; die Abschreckung beruhte auch da- nem offenen Container untergestellt. Von
Summen in die Modernisierung der Armee. rauf, dass ein konventioneller Angriff mit dort kann Michael Labsch den alten Feld-
Hochmoderne Luftabwehrsysteme und konventionellen Mitteln abgewehrt wer- kran beobachten, an dessen Haken ein
Cruise Missiles auf Kriegsschiffen könnten den konnte. Putins Stärke beruht im Mo- olivgrüner Container baumelt. Drei Sol-
die Bewegungsfreiheit der Nato über ihrem ment darauf, dass er glaubhaft mit einem daten versuchen im strömenden Regen
eigenen Gebiet und der Ostsee im Krisen- erfolgreichen Angriff drohen kann. mühsam mit langen Seilen, die Blechkiste
fall empfindlich einschränken. Vor allem auf einen Lkw zu bugsieren. Es dauert eine
aber testet die Armeeführung regelmäßig IN DER CLAUSEWITZ-KASERNE im sachsen-an- halbe Ewigkeit, bis er schließlich krachend
in riesigen Manövern mit bis zu 70 000 Sol- haltischen Burg sind heute die Folgen der auf der Verankerung landet.
daten die Bereitschaft und das Zusammen- Friedensdividende zu besichtigen, die sich Labsch ist zufrieden. Jetzt folgt Teil zwei
spiel der verschiedenen Waffengattungen. Deutschland und viele andere Nato-Staa- seiner kleinen Showeinlage. Der „Orion V“
Bei einer dieser Übungen wurde die Ein- ten nach dem Ende des Kalten Krieges ge- rollt heran, der ganze Stolz des Logistikba-
nahme des Baltikums durchgespielt. leistet haben. In zweieinhalb Jahrzehnten taillons 171. Ein moderner, geländegängiger
Natürlich spricht einiges dafür, dass Re- schrumpfte die Bundeswehr von mehr als Containerstapler, den man auch im Ham-
gierung und Militärführung die eigenen einer halben Million Soldaten auf 177 000 burger Hafen einsetzen könnte. Dort sind
Erfolge übertreiben, um das heimische und von 2000 Kampfpanzern „Leopard 2“ Hunderte Stapler im Einsatz, Bataillons-
Publikum zu beeindrucken. So wurden im auf 225 im Jahr 2011. kommandeur Labsch aber hat nur einen
vergangenen Juni mehrere hohe Offiziere Die klassische Landes- und Bündnisver- einzigen. Und der ist oft kaputt.
im Kommando der Baltischen Flotte ge- teidigung spielte nach dem Zusammen- Der Oberstleutnant hat das Elend seines
feuert, weil sie den Bereitschaftsgrad ihrer bruch der Sowjetunion keine Rolle mehr. Bataillons auf einem bunten Zettel sauber
Truppe übertrieben dargestellt hatten. Entscheidend waren die Auslandseinsätze aufgelistet. Sollbestand Lkw fünf Tonnen:
Gut möglich auch, dass innerhalb der im Kosovo und in Afghanistan. Danach 22, Istbestand: 5, einsatzfähig: 4. Soll-
Streitkräfte systematisch die Ergebnisse richtete sich die Ausstattung. bestand Lkw 15 Tonnen: 50, Istbestand:
der Militärinspektionen ge- 20, einsatzfähig: 14. Und so geht es
schönt und die Produktions- weiter.
zahlen der Rüstungsindustrie Von 117 Nachtsichtbrillen existieren
übertrieben werden. Waffen- 17. Das Bataillon hat keinen eigenen
systeme, die angeblich neu Gefechtsstand, geliehene Tische, PORTUGAL
und hochwertig sind, sollen Stühle und Zelte tun es im Notfall
sich häufig als aufgemotzter auch. Mobile Unterkünfte gibt es
und sanierter Altbestand he- nicht. Wenn die Truppe auf
rausstellen. Übung fährt, schnorrt sie sich das
Dennoch sieht eine neue Material quer durch die Republik
Studie der Carnegie Stiftung von den fünf Schwesterbataillonen zu-
Russland am Ende doch im sammen.
Vorteil. Zwar sei Moskau
nicht in der Lage, eine gro- DER KALTE KRIEG kommt nicht zurück. Die
ße Militäroperation außer- Zeit der riesigen Armeen, die sich waffen-
halb der unmittelbaren post- starrend gegenüberstanden, ist vorbei. Das
sowjetischen Nachbarschaft Denken in den alten Kategorien ist über-
zu stemmen. Allerdings: In holt. Niemand wird in Zukunft auf breiter
einem „baltisch-osteuropä- Front mit Panzerarmeen irgendjemanden
ischen Szenario“ könnte angreifen. So viel steht fest. Mehr aber
der Kreml Truppen einset- auch nicht.
zen, die zu den modernsten „Heute bieten mögliche symmetrische
Einheiten des Landes zähl- Gegner immer noch ein Bedrohungspoten-
ten, gut ausgebildet und mit zial für das Bündnisgebiet“, heißt es in
hochwertigen Waffen aus- einer vertraulichen „Gedankensammlung“
gerüstet. Die Nato hätte dem des Verteidigungsministeriums zum „Cha-
JÖRG GLÄSCHER / DER SPIEGEL

wenig entgegenzusetzen. rakter“ der Landes- und Bündnisverteidi-


Viele der Verstärkungsein- gung: „Eine symmetrische Bedrohung wird
heiten kommen aus den klei- aber nicht mehr entlang der gesamten ost-
neren Nato-Ländern und wärtigen Grenze des Nato-Vertragsgebiets
sind den besser organisierten, gleichzeitig vorgetragen werden können.“
ausgebildeten und ausgerüs- Das Vorgehen der konventionellen Kräf-
teten Russen ohnehin unter- Logistikoffizier Labsch te des Gegners könne deshalb „eingebettet
legen. Material von fünf Schwesterbataillonen geschnorrt sein in eine hochagile hybride Gesamtstra-
30 DER SPIEGEL 21 / 2017
Nordflotte

Neue Fronten NORWEGEN


Die Ostgrenze der Nato
mit direkter Landverbindung zu Russland
ohne direkte Landverbindung

Nato-Staaten ehemalige Sowjetrepubliken


bereits vor 1989
Hauptquartiere
nach 1989 beigetretene Staaten russischer Militärbezirke Jekaterinburg
des ehemaligen Ostblocks
Hauptquartiere RUSSLAND
ehemals blockfreie Staaten russischer Flotten

Länder, in denen jüngst Nato- Stationierungsorte neuer St. Petersburg


Truppen stationiert wurden russischer Divisionen
Truppenstärke Kampfpanzer Kampfflugzeuge
830000 3000 1900
ESTLAND
Moskau
LETTLAND
DÄNEMARK Baltische
Flotte LITAUEN
GROSS-
BRITANNIEN WEISS-
Russische Exklave RUSSLAND
Kaliningrad
Hauptverteidigungslinie ehem.
der Nato zur Zeit des DDR POLEN
Kalten Krieges

DEUTSCHLAND UKRAINE
TSCHECHIEN Ostukraine
Seit 2014 von Rostow
SLOWAKEI prorussischen
FRANKREICH MOLDAU Separatisten Südossetien
besetzt Militärkonflikt zwischen Russland
UNGARN und Georgien im August 2008
SLOWENIEN RUMÄNIEN
Krim
KROATIEN Im März 2014 GEORGIEN
ITALIEN Schwarz- Russland einverleibt
SPANIEN meer-
flotte
BULGARIEN
NATO-STAATEN
ALBANIEN

TÜRKEI
GRIECHENLAND

Truppenstärke Kampfpanzer Kampfflugzeuge


3200000 9800 6100
davon USA: 1350000 2800 3550

tegie“. Übersetzt heißt das: Ein begrenzter spielen. Als großes Land in der Mitte des docken. So unterstellt Tschechien jetzt
Angriff bewaffneter Soldaten wird kombi- Kontinents soll es die Rolle einer logisti- eine seiner Brigaden der 10. Panzerdivi-
niert mit Cyberangriffen und einer massi- schen Drehscheibe übernehmen, von der sion in Veitshöchheim, die rumänische
ven Desinformationskampagne. Wie kann am Ende auch die Glaubwürdigkeit der Armee wiederum vernetzt sich mit der
der Westen darauf reagieren? Abschreckung abhängt. Division Schnelle Kräfte in Stadtallendorf.
Die neue Unübersichtlichkeit verlangt Gleichzeitig wird Deutschland ein zentra- In Munster bereitet sich die Panzerlehr-
neue Fähigkeiten. Armeen müssen schnell ler Truppensteller. Gegenüber der Nato hat brigade 9 darauf vor, 2019 die Schnelle
verlegbar, flexibel und kampfstark sein sich Berlin verpflichtet, bis 2032 in drei Stu- Speerspitze der Nato zu führen, die im
und alle militärischen Eskalationsstufen fen drei einsatzfähige Heeresdivisionen mit Notfall in wenigen Tagen einsatzbereit
beherrschen. Die Frage, ob Panzer oder insgesamt acht Brigaden aufzustellen. Das sein muss. Fünf weitere Nationen sind mit
Cyberwaffen die Konflikte der Zukunft wäre eine signifikante Verstärkung der Streit- beteiligt.
entscheiden werden, lässt sich mit einem kräfte. Die Struktur dafür gibt es in Teilen Es wäre sinnvoll, die Arbeitsteilung der
beherzten Sowohl-als-auch beantworten. heute schon, aber sie ist weitgehend hohl. europäischen Armeen weiter voranzutrei-
Deutschland wird bei der Neuausrich- Die Bundeswehr bietet anderen euro- ben. Warum zum Beispiel unterhält Slo-
tung der Nato eine entscheidende Rolle päischen Armeen an, sich bei ihr anzu- wenien eine eigene Luftwaffe mit neun
DER SPIEGEL 21 / 2017 31
DER SPIEGEL digital:
Flugzeugen, während gleichzeitig die teu-

Probemonat gratis! ren Panzerhaubitzen des Landes eingela-


gert sind, weil die Bedienmannschaften
fehlen?
Warum steckt Tschechien große Teile
seines Militärhaushaltes in Leasingraten
für schwedische „Gripen“-Kampfflugzeu-
ge, obwohl die Nato auch ohne sie aus-
Inklusive kommen könnte? Warum konzentrieren
sich Slowenien und Tschechien nicht auf
Archiv- militärische Fähigkeiten, die im Bündnis
wirklich gebraucht werden? Die Deut-
funktion schen könnten die Luftüberwachung für
beide Länder übernehmen, das wäre kein
Problem. Doch dazu wird es so schnell
wohl nicht kommen.
Verzicht auf eigenes Militär ist immer
auch eine Frage von Prestige und nationa-
ler Souveränität. Deswegen tun sich alle
damit so schwer, auch die Deutschen. Ver-
nünftig wäre es, würde die Bundeswehr
ihre Gebirgsjägereinheiten abschaffen.
Österreich oder Slowenien könnten das ge-
nauso gut.

Rosenzweig & Schwarz, Hamburg


Aber so weit geht der Gemeinschafts-
geist nicht einmal in Berlin, da wäre im
Fall der Gebirgsjäger schon Bayerns Mi-
nisterpräsident Horst Seehofer davor.
Politisch und militärisch ist die tiefere
Integration sinnvoll, Geld spart sie nicht.
Für Deutschland wird es eher teurer,
weil die Führungsnation einen großen Teil
der Infrastruktur bereitstellen muss, die
dann von den Partnern mitgenutzt werden
kann.
Verteidigungsministerin Ursula von der
Leyen will in den nächsten 13 Jahren
130 Milliarden Euro investieren, nur um
die Bundeswehr wieder voll mit Material
Die Vorteile: auszustatten. Die Zusage an die Nato, bis
2032 drei einsatzfähige Divisionen auf-
zustellen, wird noch viel mehr kosten.
Mit Heftarchiv für Ihren Zugriff auf Mit vielen multimedialen Inhalten Einen Preis will niemand nennen. Der
alle bezogenen Ausgaben. und zusätzlicher Visual Story. Planungszeitraum sei zu lang, heißt es im
Verteidigungsministerium, und man könne
Noch vor Erscheinen der Print- Exklusiv: Mit der SPIEGEL-ID jede die technologische Entwicklung noch nicht
Ausgabe. Schon ab freitags 18 Uhr. Ausgabe auf bis zu 5 Geräten lesen. abschätzen. Gut möglich aber, dass
Deutschland am Ende tatsächlich zwei Pro-
zent seiner Wirtschaftsleistung für die
Truppe ausgeben muss.
Ist der Preis zu hoch? Günstiger, so viel
ist sicher, ist ein politischer Ausgleich mit

Ja, ich möchte den SPIEGEL digital gratis lesen!


Russland. Den aber wiederum wird es
wohl nur geben, wenn Putin die Nato ernst
nimmt. Dass Stärke und Entspannung kein
Widerspruch sind, ist für das westliche
Ich lese 4 Wochen den SPIEGEL digital kostenlos, danach für nur € 4,10 Bündnis keine neue Erkenntnis. Im Jahr
pro Ausgabe. Ich gehe keine Verpflichtung ein, denn ich kann jederzeit 1967 erarbeitete der belgische Außen-
zur nächsterreichbaren Ausgabe kündigen. SD17-214 minister Pierre Harmel für die Nato ein
Papier, in dem er alle Mitgliedstaaten
dazu aufforderte, ihre Beziehungen zu
Einfach jetzt anfordern: Moskau zu verbessern. Das werde aber
nur funktionieren, wenn das Bündnis
 abo.spiegel.de/archivieren gleichzeitig seine militärische Kraft unter
Beweis stelle. Heute gilt das Papier als
Ouvertüre für die Entspannungspolitik
zwischen Ost und West.
32 DER SPIEGEL 21 / 2017
Deutschland

„Unnötige
Provokation“
Union Die Wahlsiege haben den
Richtungsstreit in der CDU nicht
beendet. Die Debatte dreht sich
jetzt um die Frage, wer den Erfolg
für sich beanspruchen darf.

D
ie Niederlage ist bekanntlich ein
Waisenkind, der Sieg hat viele
Väter. Die CDU hat in diesem

MICHAEL KAPPELER / PICTURE ALLIANCE / DPA


Frühjahr die Landtagswahlen im Saarland,
in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-
Westfalen gewonnen. Es dauerte nicht
lange, bis sich einer der Väter des Sieges
meldete.
„Bei uns daheim im Münsterland zeigt
sich: Wo die CDU mit klarem Profil sehr
stark ist, ist AfD ziemlich schwach. Auch
eine schöne Erkenntnis“, twitterte CDU-
Präsidiumsmitglied Jens Spahn. Einer, Widersacher Merkel, Spahn: Andere Interpretation der Wahlergebnisse
dem diese Einlassung gefiel, war Martin
Jäger, Staatssekretär im CDU-geführten gel im Aufwind“, räumt ein Kritiker der nau das aber will Merkel nicht. „Eine
baden-württembergischen Innenministe- Kanzlerin ein. Wahlkampfkampagne wie 1999 wird der
rium. Auch er tat das über Twitter kund. Die Vertrauten der Parteichefin warnen Doppelpass nicht werden“, sagte sie vor
Spahn und Jäger gehören zum konser- davor, die Richtungsdebatte im beginnen- zwei Wochen. „Das war eine völlig unnö-
vativen Flügel der Union. Sie haben in der den Bundestagswahlkampf wieder auf- tige Provokation“, klagt ein Vertreter des
Flüchtlingskrise gegen Angela Merkels leben zu lassen. „Unsere Geschlossenheit konservativen Flügels.
Kurs gekämpft und wollen die Partei nach war ein wichtiger Faktor für die Wahlsiege Der Streit dreht sich auch um die Frage,
rechts rücken. Sie glauben, dass das der der CDU“, sagt CDU-Generalsekretär ob die Union schon vor der Wahl eine Koa-
richtige Weg ist, um die AfD zu bekämp- Peter Tauber. Doch die Hoffnung, die Er- litionspräferenz für die FDP erkennen las-
fen. Die Kanzlerin sieht das bekannter- folge könnten die innerparteiliche Debatte sen soll. „Wir wollen Schwarz-Gelb“, sagte
maßen anders. zumindest bis zur Bundestagswahl been- der stellvertretende Unionsfraktionschef
Die Äußerungen Spahns und anderer den, wird sich nicht erfüllen. Die Konser- im Bundestag, Michael Fuchs, nach dem
Unionspolitiker zeigen, dass der Richtungs- vativen interpretieren die Wahlergebnisse Wahlerfolg in NRW. Und der baden-würt-
streit in der Partei auch nach den über- ganz anders. tembergische Innenminister Thomas Strobl
raschenden Wahlerfolgen nicht beendet ist. Spahn und seine Mitstreiter glauben, sprach von „einem schönen Signal für die
Es geht jetzt um die Frage, wer die Siege dass erst ihre Interventionen den entschei- Zeit bis zum 24. September“.
für sich beanspruchen darf: Angela Merkel denden Schub brachten. Spahn hatte ohne Dagegen wollen sich Merkels Leute alle
oder ihre konservativen Widersacher. Absprache mit Laschet im Wahlkampf ein Optionen offenhalten. „Wir sollten uns im
Die Partei ringt seit der Flüchtlingskrise Islamgesetz gefordert. Den CDU-Landes- Wahlkampf nicht auf einen Koalitionspart-
und dem Aufstieg der AfD um die Frage, chef hatte das sehr geärgert. Vor der Land- ner festlegen“, sagt Tauber. „Wir müssen
wie sie sich positionieren soll: rechts der tagsfraktion kritisierte er den Vorstoß. Im nach der Wahl schauen, mit welchem Part-
Mitte, mit klarem konservativem Profil kleinen Kreis sprach er von Sabotage. ner wir das, was uns wichtig ist, am besten
und einem Programm, das auch polari- Das Spahn-Lager gibt sich unbeein- durchsetzen können.“
siert? Oder soll man sich um das linkslibe- druckt. Der Vorsitzende der CDU/CSU- Am Sonntag trifft Merkel sich mit der
rale Milieu bemühen, um SPD und Grünen Mittelstandsvereinigung, Carsten Linne- Gruppe CDU2017. Der Kreis, dem mehrere
Wähler abzujagen? Das ist die Position mann, ist sich sicher, dass die Diskussion Dutzend jüngere Unionspolitiker aus Bun-
Merkels und ihrer Vertrauten. um das Islamgesetz der CDU geholfen hat. destag und Landtagen angehören, wird von
Auf den ersten Blick scheinen die Land- „Die Debatte um ein Islamgesetz und die Spahn organisiert. Viele der Teilnehmer
tagswahlen die Haltung der Kanzlerin zu Leitkultur und die Nominierung Wolfgang stehen Merkels Kurs skeptisch gegenüber.
bestätigen. Die Wahlsieger – Annegret Bosbachs zum Berater für Innere Sicher- Am Abend steht dann ein Treffen der
Kramp-Karrenbauer im Saarland, Daniel heit in NRW belegen, dass die Union dann Kanzlerin mit CSU-Chef Horst Seehofer
Günther in Schleswig-Holstein und Armin erfolgreich ist, wenn sie die gesamte Band- im Konrad-Adenauer-Haus an. Es soll um
Laschet in Nordrhein-Westfalen – zählten breite des bürgerlichen Lagers abdeckt“, das gemeinsame Wahlprogramm gehen,
in der Flüchtlingskrise zu den Unterstüt- sagt Linnemann. „Das gilt auch für den auch um die heiklen Themen Doppelpass
zern der Kanzlerin. Sie gehören zu den Bundestagswahlkampf.“ und Flüchtlingspolitik. „Egal wie es aus-
eher Leisen in der CDU und stehen für ei- Nach dieser Lesart muss die CDU The- geht“, sagt ein Mitglied der Parteispitze,
nen liberalen Kurs. „In der Partei und auch men wie Islamgesetz oder die Ablehnung „die Debatte um den richtigen Kurs wird
der Bundestagsfraktion ist der Merkel-Flü- des Doppelpasses offensiv vertreten. Ge- so schnell nicht aufhören.“ Ralf Neukirch

DER SPIEGEL 21 / 2017 33


Deutschland

Krass bescheiden
Liberale Die alte FDP ist auch an ihrer Hybris gescheitert. Um die Rückkehr in den Bundestag
nicht zu gefährden, will sich Parteichef Lindner in Demut üben. Das gelingt – manchmal.

STEFAN BONESS / IPON

Parteivorsitzender Lindner: Nie wieder als Hilfstruppe der Union auftreten

G
espräche mit Christian Lindner An diesem Donnerstagmorgen nach der eine mögliche Koalition mit der CDU in-
können leicht etwas zickig geraten. Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen lau- frage. „Eine schwarz-gelbe Mehrheit heißt
Besonders dann, wenn man Jour- tet die Frage, wie er selbst im Rückblick nicht, dass es eine schwarz-gelbe Regie-
nalist ist und eine Frage stellt, hinter der über seine öffentlichen Auftritte am Abend rung gibt.“ Und „es gibt keinen Automa-
Lindner ein „Narrativ“ vermutet, das er des großen Triumphs denke. tismus für eine Koalition“.
selbst unbedingt vermeiden will. „Narra- Lindner schweigt. In seinem Hirn ver- Sein Erfolg sei ihm zu Kopf gestiegen,
tiv“ ist einer seiner Lieblingsbegriffe, ein schalten sich vermutlich gerade die Warn- kommentierte die „Süddeutsche“. Hoch-
anderer lautet „Framing“. Lindner erkennt synapsen. Natürlich hat er mitbekommen, mut komme vor dem Fall. Viele Fernseh-
oft schon an der Art, wie ein Journalist dass sein Auftreten am Wahlabend auf zuschauer hatten einen ähnlichen Ein-
Luft holt, welches Narrativ dieser im Kopf manchen Beobachter ein bis zwei Tick zu druck.
hat, sprich: welche Geschichte er schreiben selbstbewusst und selbstzufrieden gewirkt Und als nun auch noch der Name Guido
will. Er weiß auch, welches „Framing“ die- hat. Dass er in der Stunde des großen Sie- Westerwelle fällt, weiß Lindner, wo der
sem vorschwebt, sprich: welchen Fokus die ges nicht allzu demütig rüberkam. Hase langlaufen wird. Er seufzt, dann
Story haben soll. Zumindest glaubt er es „Ist doch viel interessanter, was ich jetzt schweigt er lange. Nein, zu diesem Narra-
zu wissen. Christian Lindner überlässt un- sage“, belehrte er den ARD-Moderator tiv wolle er wirklich keine Zitate bei-
gern etwas dem Zufall. Frank Plasberg. Schroff stellte Lindner steuern. Die Mechanismen der Medien hat
34 DER SPIEGEL 21 / 2017
Lindner noch genauer studiert als das deut- das genauso peinlich. Deshalb die heftige wie damals entstehen: dass es sich bei
sche Steuersystem, das seine FDP zwar Reaktion, sagt Lindner. Schwarz-Gelb um ein Projekt der sozialen
immer noch vereinfachen möchte, aber Er denkt derzeit oft an den Tag nach Kälte handle. Man dürfe SPD und Grünen
nicht mehr ganz so penetrant-quengelig der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen vor der Bundestagswahl keinen Anlass zur
wie zu Westerwelles Zeiten. „Ich weiß ja, 2010. Damals hatte Angela Merkel allen Denunziation geben.
wie Sie arbeiten“, sagt Lindner. Steuersenkungsplänen eine endgültige Ab- Deshalb, sagt Lindner, werde es mit der
Er weiß auch, wie sehr das nassforsche, sage erteilt – obwohl sie der FDP, Merkels CDU keine Neuauflage alter Koalitionen
bisweilen triumphale Auftreten seines Vor- damaligem Koalitionspartner im Bund, fest geben, sondern „ein verheutigtes Pro-
gängers den Bürgern auf die Nerven ging. versprochen waren. Es habe damals keinen jekt“. Verheutigt ist ein weiteres Lieblings-
Wie es dem Image der Liberalen geschadet Widerstand seiner Partei gegeben, sagt wort aus Lindners Narrativkästchen.
hat. Er selbst war es, der damals mit seinen Lindner im Rückblick. Man habe sich ein- Zugleich wird er penibel darauf achten,
jungen Kollegen Daniel Bahr und Philipp fach vereinnahmen lassen und geschwie- die Option einer Ampelkoalition mit SPD
Rösler immer wieder auf das Imagepro- gen. Er spricht „von einer Art Trauma“ sei- und Grünen offenzuhalten. Es sei klar, dass
blem der FDP hinwies. Lindner ist sehr ner Partei. Eine solche Situation, ein sol- man in der Finanz- und Wirtschaftspolitik
viel sensibler für Fragen des angemessenen ches Verhalten, das hat Lindner sich ge- näher an der Union sei. Bei der Ehe für
Auftritts, als Westerwelle es zu seiner ak- schworen, dürfe es nie wieder geben. alle stimme man jedoch mit der SPD über-
tiven Zeit war. Und nun soll er selbst unter Am Sonntagnachmittag ist Lindner noch ein, betont Lindner. Und wenn Martin
Guido-Verdacht stehen? Triumphal, auf- zu Hause in seiner Wohnung, als die ersten Schulz nun fordere, dass Bund und Länder
trumpfend wirken? Er? Nein, dieses Nar- Trends auf seinem Handy eingehen. Einer- in der Bildungspolitik stärker kooperieren
rativ muss schleunigst gestoppt werden! seits freut er sich über das Abschneiden müssten, dann sei er ganz bei ihm. Schulz
Er habe ja nicht nur mit dem Plasberg seiner Partei, über das beste Ergebnis, das habe er seit dessen Nominierung zwar im-
gesprochen, sagt Lindner. Dann verweist sie je in Nordrhein-Westfalen erzielen mer noch nicht persönlich getroffen, sagt
er auf all seine anderen Fernsehinterviews konnte. Was ihn weniger freut, ist die Aus- Lindner, aber das sei nur eine Frage des
am Wahlabend, auch auf seine Ansprache sicht auf eine mögliche Koalition mit der Terminkalenders und werde nicht lange
in der Düsseldorfer Parteizentrale, in der auf sich warten lassen.
er seine Parteifreunde ausdrücklich zu Be-
scheidenheit aufgerufen habe. Er habe sie
Das Wort „eigenständig“ Lindner weiß, dass er mit dem Sieg in
Nordrhein-Westfalen kaum etwas erreicht
auch ausdrücklich aufgefordert, jetzt keine baut Lindner in diesen hat. Gemessen wird er am Ende daran, ob
Häme über den Absturz der Grünen zu
verbreiten. Dabei hatte Häme für die Grü-
Tagen gefühlt in jeden seine Partei im Herbst wieder in den Bun-
destag einzieht. Dies ist seine eigentliche
nen stets zur Lieblingsbeschäftigung der dritten Satz ein. Mission. Deshalb macht er im Jahr 2017
Liberalen gehört. neun Monate Dauerwahlkampf.
Bei allen weiteren Auftritten in der ver- CDU. Ein schwarz-gelbes Signal, so kurz 400 Termine hat er in den vergangenen
gangenen Woche, egal ob am Montag vor vor der Bundestagswahl, wollte er eigent- Monaten allein in Nordrhein-Westfalen
der Bundespressekonferenz in Berlin oder lich vermeiden. Auch als Lindner kurze absolviert, oft waren es bis zu sechs Auf-
am Dienstag bei „Markus Lanz“ in Ham- Zeit später seine Vorstandskollegen in ei- tritte am Tag. Mitten im Wahlkampf saß
burg, betont Lindner zudem, dass 87 Pro- nem Düsseldorfer Hotel trifft, fließt kein Lindner in einem Café und zückte auf die
zent der Bürger nicht die FDP gewählt hät- Champagner. Die Stimmung bleibt merk- Frage, wie es ihm gehe, sein Smartphone,
ten. All das zählt er jetzt noch mal auf – würdig ernst. um die App mit seinem Terminkalender
als Belege für Bescheidenheit. Man müsse betonen, sagt er nun, vier zu präsentieren. „Alles orange“, sprich:
Aber man spiele sicher auf das Inter- Tage nach der Wahl, dass die „FDP ihre keine Lücken, sieben Tage die Woche, 80
view mit dem Plasberg an, sagt Lindner Eigenständigkeit erhalten hat“. Und dass Stunden mindestens. Den ersten Termin
schließlich. Dabei habe ihn ganz einfach sie sich ihre „Selbstachtung nicht mehr des Tages versucht Lindner erst um halb
gestört, wie der ARD-Moderator die FDP nehmen lässt“. Das Wort „eigenständig“ zehn beginnen zu lassen. Damit er vorher
gleich als natürlichen Koalitionspartner baut Lindner in diesen Tagen gefühlt in noch Sport machen kann. Er hat ein Ru-
der CDU habe vereinnahmen wollen. Dass jeden dritten Satz ein. Gern verweist er dergerät zu Hause, wie Frank Underwood,
er Schwarz-Gelb zur Wunschpartnerschaft darauf, dass seine Partei in Rheinland- der ebenso ehrgeizige wie skrupellose
erklärt habe, ohne nach Lindners Einstel- Pfalz ganz wunderbar mit SPD und Grü- Politiker aus „House of Cards“. Jeden
lung zu fragen. Darum die brüske Zurecht- nen regiere. Morgen 25 Minuten rudern, danach Kraft-
weisung. Auch in Düsseldorf hätte Lindner training.
Man muss etwas tiefer ansetzen, um die- Schwarz-Gelb eigentlich lieber vermieden, Es war nicht leicht, eine Partei, die seit
se Erregung zu verstehen. Lindner hat die zumal sich in Schleswig-Holstein ein Ja- dreieinhalb Jahren nicht mehr im Bundes-
Ursachen für den Absturz seiner Partei im maikabündnis mit der CDU anbahnt. Vor tag vertreten ist, vor der Resignation zu
Herbst 2013, als die FDP erstmals in der der Wahl an Rhein und Ruhr hatte er bewahren, sie am Leben und im Gespräch
Geschichte der Bundesrepublik den Ein- durchblicken lassen, dass ihm ein sozial- zu halten. Das hat Spuren hinterlassen.
zug in den Bundestag verfehlte, genau ana- liberales Bündnis mit der SPD am liebsten Lindner hat bereits jetzt chronisch tiefe
lysiert – nicht nur die Sache mit der nase- sei. Weil es die FDP noch „interessanter“ Augenringe und mehr Falten um die Au-
weis-nassforschen Anmutung. Und er hat gemacht hätte. Lindner ist stets darauf be- gen als manch anderer mit 38. Beim Par-
seine Schlüsse gezogen. Eine der wichtigs- dacht, interessant zu wirken. teitag berichtete Lindner neulich, wie ihm
ten Konsequenzen lautete, dass die FDP Am Donnerstag dieser Woche scheint eine Frau ein Kompliment gemacht habe:
nie wieder als Hilfstruppe der Union auf- sich Lindner langsam mit der schwarz-gel- „Sie sehen gut aus, Herr Lindner. So ver-
treten dürfe. Schon als Jugendlicher habe ben Koalition im Land arrangiert zu haben. lebt.“
es ihn geschüttelt, sagt Lindner, wenn er Wenn diese gelinge, sei das die „beste Er erzählt die Geschichte gern. Sie ist
den Slogan hörte: „FDP wählen, damit Wahlempfehlung für die Bundestagswahl“, ein schönes Narrativ. Sie macht ihn irgend-
Helmut Kohl Kanzler bleibt.“ Als es später, sagt er. Wie immer ist Lindner auch in die- wie interessanter.
zuletzt 2013, hieß: „FDP wählen, damit ser Frage auf das richtige Narrativ bedacht. Markus Feldenkirchen, Christiane Hoffmann,
Angela Merkel Kanzlerin bleibt“, fand er Es dürfe nicht noch einmal der Eindruck Barbara Schmid

DER SPIEGEL 21 / 2017 35


MICHAEL STAUDT / VISUM
Grüner Landespolitiker Habeck: Kumpeltyp und Rampensau

Viel zu zahm
Parteien Wer genau sind die Grünen, und warum muss man sie wählen? Die Wahlschlappe
in Nordrhein-Westfalen offenbart das Dilemma der Partei.

Z
wei Wochen vor der Landtagswahl verlor fast die Hälfte ihrer Wähler und Selbst treue Anhänger, die den Schutz
hatte der grüne nordrhein-westfäli- rutschte auf 6,4 Prozent ab. von Natur und Umwelt als das drängendste
sche Umweltminister Johannes Rem- So geht das inzwischen häufig: Bei acht Problem dieser Erde betrachten, lässt die
mel einen besonderen Termin: In einem von zehn Landtagswahlen seit 2015 haben Partei oft ratlos zurück. In Nordrhein-
Park bei Köln überreichte ihm eine Bür- die Grünen verloren, in Rheinland-Pfalz Westfalen sollen nach einer Umfrage etwa
gerinitiative 32 179 Unterschriften für die stürzten sie 2016 um mehr als zehn Pro- 80 Prozent der Bürger nicht gewusst ha-
Erhaltung des Hambacher Forstes. zentpunkte ab, schafften es nur noch ben, wofür die Partei eigentlich steht.
Auf der ehemals riesigen Waldfläche in knapp ins Parlament und hielten sich le- In den neun Ländern, in denen die Grü-
Nordrhein-Westfalen sollen 150 Jahre alte diglich mithilfe der FDP in einer Ampel- nen noch an Regierungen beteiligt sind,
Baumriesen für den Braunkohleabbau ge- koalition an der Regierung. In Mecklen- zeigt sich das Dilemma einer Partei, die zer-
fällt werden. Ein einmaliges Biotop würde burg-Vorpommern und im Saarland flogen rissen ist zwischen ihrem Pragmatismus in
endgültig zerstört, beklagen Umweltschüt- die Grünen sogar aus dem Landtag. der Regierungsverantwortung und der Sehn-
zer. Sie kämpfen seit Jahren für den Erhalt Sicher, vor gut einem Jahr holte Win- sucht der Basis nach einer heilen Umwelt und
der Bäume, ein schönes grünes Herzens- fried Kretschmann in Baden-Württemberg kompromissloser Menschenrechtspolitik.
thema. das Sensationsergebnis von 30 Prozent, Schon die Frage nach dem politischen
Aber dummerweise vertrat Remmel die doch sonst hat die einstige Sponti-Partei Standort beantworten Grünen-Politiker
Landesregierung, die sich nicht für die Bäu- nur noch selten Grund, an Wahlabenden grundverschieden. In Baden-Württemberg
me, sondern für die Braunkohle entschie- zu jubeln. Inzwischen feiern Grüne es als preist Ministerpräsident Winfried Kretsch-
den hat. „Wäre ich nicht in Funktion eines „großen Erfolg“, wenn das Ergebnis im mann Grün-Schwarz als eine „bürgerliche
Amtes hier, ich wäre auf Ihrer Seite und Vergleich zur vorangegangenen Wahl nur Koalition im besten Sinne“. Anderswo,
würde Unterschriften sammeln“, sagte geringfügig zurückgeht wie vor zwei Wo- etwa in Rheinland-Pfalz, stehen die Grü-
Remmel denn auch ein wenig verlegen. chen in Schleswig-Holstein. nen eng an der Seite der Sozialdemokraten
Der kleine verquirlte Satz offenbart das Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eck- in einer linksliberalen Tradition.
große Dilemma. Von einem grünen Um- ardt bemühte nach der NRW-Schlappe Schon vor dem NRW-Wahldebakel sah
weltminister könnten die Wähler erwarten, Durchhaltefloskeln wie „Aufstehen, Krön- der Mainzer Parteienforscher Jürgen Falter
dass er sich gegen die mächtigen Kohle- chen richten, weitermachen“. Doch das die Grünen in einer „denkbar schwierigen
bagger der RWE stemmt und die Verstro- wirkte ähnlich hilflos wie ihre Mahnung, Lage“. Sie säßen in der Falle, sich entweder
mung der Braunkohle, des dreckigsten die Grünen müssten wieder deutlich ma- nach links zur SPD oder nach rechts zur
Energielieferanten überhaupt. Doch nur chen, warum die Ökologie „eine Existenz- CDU orientieren zu müssen und damit je-
einen Trost hat er zu bieten: Dank grünen frage“ sei. weils einen Teil der eigenen Anhänger zu
Verhandlungsgeschicks sei der Braunkohle- Dabei geht es längst auch um die Zu- verprellen. Für Karl-Rudolf Korte von der
tagebau verkleinert worden. kunft der Grünen selbst. In vier Monaten Uni Duisburg-Essen wirken die Grünen
Am vergangenen Sonntag wurden Rem- ist Bundestagswahl, und die Grünen müs- „aus der Zeit gefallen“, ohne Antworten
mel und seine rot-grüne Landesregierung sen dringend diese Frage beantworten: auf aktuelle Themen wie dem Wunsch der
aus dem Amt gewählt. Die Umweltpartei Warum soll man Grün wählen? Bürger nach innerer, kultureller und sozia-
36 DER SPIEGEL 21 / 2017
Deutschland

ler Sicherheit. Die meisten Wähler, das zei- nicht glauben, dass in einer Koalition mit rereien mit potenziellen Wählern ein. Die
gen Umfragen, haben gerade andere Sorgen der SPD mehr für den Umweltschutz he- Aussicht auf bis zu 200 Meter hohe Wind-
als die Umwelt: innere Sicherheit, eine gute rauszuholen gewesen wäre, gerade wenn räder im Wald ließ Natur- und Vogelschüt-
Bildung für ihre Kinder, die marode Infra- es um Arbeitsplätze geht. zer gegen die Pläne der Ökopartei protes-
struktur im Land – genau wegen dieser The- Auch in NRW sind die Grünen in den tieren. „Das ist ein Konflikt, den man nur
men haben die Wähler in Nordrhein-West- Augen vieler Anhänger viel zu häufig ein- schwer gewinnen kann“, sagt Ulrich.
falen Grüne und SPD nun abgewählt. geknickt, wenn sich der große Koalitions- Ähnliche Erfahrungen machten Partei-
Früher haben die Grünen mit unkonven- partner etwa gegen einen schnellen Aus- freunde in Rheinland-Pfalz. Dort hatte sich
tionellen Ideen die bürgerlichen Parteien stieg aus der Braunkohle wehrte. Als die die Spitzenkandidatin Eveline Lemke in
vor sich hergetrieben. Nun müssen sie se- Grüne Sylvia Löhrmann und SPD-Chefin der vergangenen Legislaturperiode ein
hen, dass sie den Anschluss nicht verpassen. Hannelore Kraft 2010 eine rot-grüne Min- Wirtschaftsministerium mit Zuständigkeit
Selbst bei der Gewichtung des urgrünen derheitsregierung beschlossen, verspra- für Energie zuschneidern lassen, um die
Kernthemas sind sie schwammig geworden. chen sie sich in die Hand, friedlich mit- Grünen modern zu präsentieren.
Ob Ökologie wirklich eine Existenzfrage einander umzugehen: kein ewiger Streit Doch kurz vor der Wahl im Frühjahr
ist oder ob man zugunsten der Wirtschaft um die Kohle, wie noch in den Jahren 1995 2016 musste sie feststellen, dass die Kom-
nicht hin und wieder ein Auge zudrücken bis 2005 zwischen der grünen Umweltmi- petenzwerte der rheinland-pfälzischen
sollte, wird von grünen Politikern reichlich nisterin Bärbel Höhn und den SPD-Minis- Grünen bei wichtigen Wählergruppen in
unterschiedlich beurteilt. terpräsidenten Rau, Clement und Stein- allen Bereichen gesunken waren – in der
Besichtigen kann man das im hessisch- brück. Der Preis für den neuen Schmuse- Wirtschaft wie bei der Umwelt. Und für
thüringischen Grenzgebiet, wo der Kali- kurs: das grüne Profil. das damals brennende Thema, die Flücht-
konzern K+S riesige Mengen salz- lingskrise, hätten die Grünen kein
haltigen Abwassers in den Unter- klares Konzept zu bieten gehabt,
grund pumpt. Seit Jahren streiten bemängelt Lemke.
dort zwei grüne Umweltministe- Wo ist der Ausweg für die Grü-
rinnen öffentlich darüber, ob die nen, was wäre eine Erfolg verspre-
Folgen für die Umwelt und das chende Strategie?
Grundwasser noch länger hinge- Mehr Flexibilität, sagt Lemke,
nommen werden dürfen. inzwischen Präsidentin einer pri-
Im schwarz-grün regierten Hes- vaten Hochschule in Karlsruhe:
sen haben die Behörden unter der „Wir müssen auf neue Themen
Verantwortung der Grünen-Minis- schneller und klarer reagieren.“
terin Priska Hinz die Versenkge- Dass man dabei auch mal alte
nehmigung für K+S kürzlich noch Kernwähler verprellen könne,
um ein paar Jahre verlängert. Im müsse die Partei in Kauf nehmen:
Nachbarland Thüringen, wo ein „Dafür kommen auf der anderen
Teil der salzhaltigen Brühe aus Seite viele neue Wähler hinzu.“
dem Untergrund wieder nach „Wir müssen unsere Grundüber-
HUBERT PERSCHKE

oben quillt, protestiert dagegen zeugungen gegen den Mainstream


Umweltministerin Anja Sieges- verteidigen“, fordert dagegen die
mund. „Grüne Politik muss es hessische Landtagsabgeordnete
sein, Ökologie und Ökonomie in Mürvet Öztürk. Aus Protest trat sie
Einklang zu bringen“, rüffelte Sie- NRW-Minister Remmel (r.), Baumschützer im April vor eineinhalb Jahren aus der
gesmund ihre hessische Partei- Schönes grünes Herzensthema Landtagsfraktion der Grünen aus,
freundin schon 2015 und beklagte: weil sie die Zustimmung ihrer Par-
„In Hessen wird derzeit einseitig der Öko- „Ich hätte mir wirklich gewünscht, we- tei zur Aufweichung des Asylrechts nicht
nomie Vorrang gegeben.“ nigstens ein Wahlplakat der Grünen zum mittragen wollte. Parteimitglied ist sie ge-
Den Vorwurf müssen sich die Hessen- Thema Kohle zu sehen, das die Menschen blieben. „Wenn wir bei grünen Kernthemen
Grünen häufiger anhören, seit sie 2013 im Land sehr beschäftigt – Fehlanzeige“, wie Asyl oder Abschiebung wackeln, ver-
nach jahrzehntelanger Verbrüderung mit beklagt Dirk Jansen, Landesgeschäftsleiter lieren wir nicht nur unsere Glaubwürdigkeit,
der SPD überraschend eine Koalition mit des Umweltverbandes BUND. Insgesamt sondern auch unsere Kernwähler“, sagt Öz-
dem christdemokratischen Ministerpräsi- seien die Grünen in ihrer Regierungszeit türk. „Das wird sich langfristig rächen.“
denten Volker Bouffier vereinbarten. in NRW „viel zu zahm“ gewesen, sagt Jan- Häufig geht die Spaltung mitten durch
Am Frankfurter Flughafen, gegen dessen sen. „Partei und Fraktion schielen viel zu die Landesverbände, wie in Berlin. Da gibt
Ausbau die Grünen früher engagiert strit- sehr nach der Mitte, statt sich auf ihre Kern- es die Altlinken aus der Hausbesetzerszene
ten, billigte der grüne Wirtschafts- und Ver- kompetenzen zu konzentrieren: Energie- in Kreuzberg, deren Frontmann Christian
kehrsminister Tarek Al-Wazir vor einigen und Verkehrswende.“ Wenn die Grünen Ströbele regelmäßig das einzige grüne Di-
Monaten eine umstrittene neue Gebühren- wieder Einfluss zurückgewinnen wollten, rektmandat für den Bundestag holte. Und
ordnung, die zusätzlichen Flugverkehr müssten sie „lauter werden und vehemen- es gibt das Bionade-Biotop aus Besserver-
nach Frankfurt lotsen soll. Ausgerechnet ter für die Umwelt eintreten“. dienenden mit schlechtem Gewissen, das
der Billigflieger Ryanair wird zum Schre- Doch so einfach ist das nicht, meint Hu- in einigen Wahllokalen etwa in Berlin-Mit-
cken von Anwohnern mit hohen Preisnach- bert Ulrich, bis zur Wahlniederlage im te über 30 Prozent bei der Abgeordneten-
lässen angelockt, um die relativ neue vierte März Chef der Saarland-Grünen: „Unsere hauswahl holte. Auch das Gesamtergebnis
Landebahn sowie einen geplanten weiteren Themen stehen seit ein oder zwei Jahren von 15,2 Prozent wirkt nun fast traumhaft.
Terminal besser auszunutzen. leider nicht mehr auf der Agenda.“ Ulrich Die Aussicht auf den möglichen Ver-
Aus rechtlichen Gründen seien die Ra- hatte beispielsweise auf die Energiewende bleib in Ministerien tröstet in Schleswig-
batte nicht zu verhindern gewesen, vertei- gesetzt, doch die brachte den grünen Wahl- Holstein die Grünen über das Ende von
digt sich Al-Wazir. Und man solle auch kämpfern vor Ort bloß jede Menge Sche- Rot-Grün in Kiel. Dass sie 12,9 Prozent er-
DER SPIEGEL 21 / 2017 37
Deutschland

reichten, gelang auch deshalb, weil die der zum Strahlen bringen. Der Norddeut- mählich Zweifel am Betreiber. Sie hofft,
Grünen zwischen Nord- und Ostsee breiter sche sondiert bereits mit dem FDP-Mann dass mit der geplanten Reform des Kinder-
und pragmatischer aufgestellt sind als ihre Wolfgang Kubicki den Weg zu einer Ko- und Jugendhilferechts die ‘Handlungsmög-
Parteifreunde in Nordrhein-Westfalen. Das alition, die auch für Berlin ein Modell sein lichkeiten für die Heimaufsicht gestärkt
Minenfeld Bildungspolitik haben sie lieber könnte: Jamaika, Schwarz-Gelb-Grün. Die werden und nur noch zuverlässige Betrei-
der SPD überlassen. grüne Basis ist noch dagegen. Doch Ha- ber eine Betriebserlaubnis bekommen’. So-
Zudem verfügen die Ökos an der Förde beck sagt: „Jetzt müssen wir das Verbin- zialministerin Kristin Alheit: ‘Unangekün-
mit Robert Habeck über einen echten Star. dende suchen, das ist spannend.“ digte Kontrollen müssen künftig ohne kon-
An Popularität kann er es schon fast mit Matthias Bartsch, Markus Deggerich, kreten Anlass jederzeit möglich sein.’“.
Winfried Kretschmann aufnehmen, der Jan Friedmann, Gunther Latsch, Barbara Schmid
sich jedoch auf sein Amt im eigenen Bun- Das Ministerium hat uns bestätigt, dass
desland konzentrieren will: „Für die Bun- diese Aussage nicht auf uns bezogen getä-
destagswahl bin ich nicht zentral zustän- Gegendarstellung zu tigt wurde. Die von Ihnen behaupteten
dig“, betont der grüne Regierungschef. SPIEGEL 4/2017 „Rauer Ton“ Zweifel an unserer Zuverlässigkeit kom-
Habeck hat noch viel vor, sein Macht- men der Landesregierung nicht.
instinkt ist stark ausgeprägt. Um sein Um- Sie schreiben über uns: „Über 200 Jugend-
weltministerium zu stärken, entriss er dem liche hat Sternipark in seinen Einrichtun- Hamburg, den 6.2.2017
Justizministerium die Atomaufsicht. Ha- gen rund um Flensburg untergebracht. 80 SterniPark GmbH, vertr. d.d. Geschäfts-
beck ist ein Kumpeltyp, eine Rampensau. bis 250 Euro zahlt das Jugendamt für jeden führerin Leila Moysich
Einer, der Zuversicht verströmen kann – Flüchtling – pro Tag.“
und gute Laune; etwas, das der mitunter Dazu stellen wir fest: SterniPark hatte in Anmerkung der Red.: Die Ausführungen
beleidigt-schulmeisterlichen Tonart eines diesen Einrichtungen nie mehr als 151 Ju- von Sternipark sind richtig. Der vom SPIE-
Cem Özdemir oder der protestantischen gendliche. Das Jugendamt zahlt für die Be- GEL für die Zahlungen der Jugendämter
Sorgenverliebtheit von Göring-Eckardt treuung im Rahmen der Heimerziehung genannte Korridor von 80 bis 250 Euro be-
fehlt, über die derzeit in vielen Landesver- 158,77 € pro Tag und für die Betreuung ruht auf einer allgemeinen Auskunft des
bänden kaum versteckt gelästert wird. des Clearings bzw. der Inobhutnahme schleswig-holsteinischen Sozialministeri-
Anders als Kretschmann, der inzwi- 199,88 € pro Tag. ums. Dieses äußert sich grundsätzlich nicht
schen fast eine eigene Marke ist und in ei- zu einzelnen Einrichtungsträgern, „wo-
nem überparteilich-moderierenden Stil re- Sie schreiben bezogen auf uns: „Womöglich möglich“ kommende „Zweifel“ waren als
giert, könnte Habeck die Marke Grün wie- kommen auch der Landesregierung [...] all- Wertung des SPIEGEL gedacht.

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ohne Gesc
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ohne Kon Zutaten
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nur aus n
BUNDESARCHIV KOBLENZ 440-1313-30
CHRISTIAN THIEL
Wehrmachtsschmuck an der Bundeswehrkaserne Bad Reichenhall, Jagdflieger Marseille 1942: „Nicht mehr sinnstiftend für die heutige Bundeswehr“

„Zu den Waffen!“


Bundeswehr Die umstrittene Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will sich ausgerechnet
mit Geschichtspolitik aus der Krise retten. Doch das ist ein Minenfeld.

A
m Vormittag des vorvergangenen Seit drei Wochen versucht die Ministerin ziert, die mit einer „Demokratieschnalle“
Freitags erwarteten über hundert und einstige CDU-Hoffnungsträgerin aus (Soldatenspott) verziert waren.
Militärexperten im Koblenzer Zen- der größten Krise ihrer Karriere herauszu- Von der Leyen trifft auch nicht den Ton,
trum Innere Führung gespannt den Auftritt kommen, doch es gelingt ihr bisher nicht. als sie einen „Säuberungsprozess“ in der
Ursula von der Leyens. Nachdem ein Jahrelang kümmerte sie sich nicht um Bundeswehr ankündigt, was an die Sprache
rechtsextremes Netzwerk aus Offizieren rechtsextreme Tendenzen in der Bundes- der stalinistischen Verfolgungen erinnert.
um Franco A. aufgeflogen war, hatte die wehr; als Franco A. verhaftet wurde, zeigte Selbst unsicher im Urteil, verunsichert
Ministerin der Truppe ein „Haltungspro- sie auf andere und erweckte den Eindruck, sie ihre Untergebenen. Die Stimmung er-
blem“ bescheinigt. Zwar entschuldigte sie sie wolle nur ihre Karriere retten (SPIEGEL innere ihn an den Titel des Fassbinder-
sich für den pauschalen Vorwurf, doch die 19/2017). Nun will sie ausgerechnet auf Films „Angst essen Seele auf“, erzählt ein
Empörung unter den Soldaten war groß. dem heiklen Feld der Geschichtspolitik Offizier.
Würde es ihr in Koblenz gelingen, Vertrau- reüssieren – und stolpert von einem Miss- Nicht nur Rechtsradikale und Machos,
en zurückgewinnen? geschick ins nächste. die dem Männerideal der Dreißigerjahre
Rund 20 Minuten sprach sie über eine Denn nur auf den ersten Blick lässt sich nachtrauern, machen im Netz Stimmung
umfassende Reform der Bundeswehr, über hier leicht punkten. Für den Satz „Die gegen die Geschichtsoffensive der CDU-
Wehrdisziplinarordnung, politische Bil- Wehrmacht hat nichts mit der Bundeswehr Frau. Auch nachdenkliche Köpfe wie Mi-
dung und die Innere Führung. Dann be- gemein“ ist von der Leyen zwar Applaus chael Epkenhans, Leitender Wissenschaft-
antwortete sie Fragen. Wohl die meisten sicher – nur stimmt er so nicht. ler des Zentrums für Militärgeschichte und
fanden: ein souveräner Auftritt. Das Offizierkorps der Bundeswehr der Sozialwissenschaften der Bundeswehr in
Doch dann wurde am Nachmittag be- ersten Jahre bestand fast vollständig aus Potsdam, warnen davor, den Eindruck zu
kannt, dass von der Leyens Haus das po- Wehrmachtsveteranen. Die Gründerhero- erwecken, der Weg des deutschen Militärs
puläre Bundeswehr-Liederbuch „Kamera- en der Streitkräfte wie Adolf Heusinger, führe direkt von den Demokraten von 1848
den singt!“ gestoppt hat, weil manche Tex- Friedrich Foertsch oder Ulrich de Maizière in die Bundesrepublik. Man könne nicht
te wie das „Panzerlied“ aus dem „Dritten (Vater des Bundesinnenministers) dienten einerseits beklagen, dass es an kritischem
Reich“ stammen. Und obwohl das sicher Hitler in hohen Positionen oder waren an Geschichtsbewusstsein fehle, und anderer-
eine vernünftige Entscheidung ist, die weit Operationen beteiligt, bei denen nach al- seits die aktive Auseinandersetzung mei-
vor der aktuellen Aufregung getroffen wor- lem, was man über die Kriegsführung der den: „Einfaches Abräumen wäre daher der
den war, kippte die Stimmung gleich wie- Wehrmacht weiß, Kriegsverbrechen zu ver- falsche Weg.“
der, denn von der Leyen hatte diesen Be- muten sind. Geht es nach von der Leyen, Inzwischen dämmert der Ministerin,
schluss mit keinem Wort erwähnt. „Dass dürften sie nicht mehr geehrt werden: „Die dass sie in einem Minenfeld steht. Anfang
sie nicht einmal darüber mit uns gespro- Wehrmacht ist in keiner Form traditions- der Woche wurden die mit der Materie be-
chen hat, kann man doch nur als Miss- stiftend für die Bundeswehr.“ Einzige Aus- fassten Offiziere ausdrücklich zum Still-
trauensbeweis bewerten“, sagt einer der nahme seien einige „herausragende Ein- schweigen gegenüber Journalisten vergat-
Offiziere. „Ich fühle mich verarscht.“ zeltaten im Widerstand“. tert, weshalb in diesem Text auch anonym
So ist das im Augenblick: Ein Lieder- Jahrzehntelang marschierten Soldaten zitiert werden muss.
buch genügt, um die Truppe gegen die in Knobelbechern, wie sie ähnlich einst Weil bei den Ermittlungen zum mutmaß-
„IBuK“, die „Inhaberin der Befehls- und die Landser trugen. Damit die Ähnlichkeit lichen Terroristen Franco A. in der Kaser-
Kommandogewalt“, aufzubringen. nicht so auffiel, wurden Modelle produ- ne von dessen Einheit Stahlhelme und
DER SPIEGEL 21 / 2017 39
Wehrmachtszeichnungen gefunden wur- Als beim Auftritt in Koblenz ein Zuhö-
den, ordnete von der Leyen an, „alle rer die Ministerin auf die Existenz eines
dienstlichen Liegenschaften, Räumlichkei- fertigen Entwurfes im eigenen Haus hin-
ten und Gelasse“ auf Nazidevotionalien wies, erweckte sie den Eindruck, sie habe
zu durchforsten. Doch was genau ist ge- davon noch nie gehört. Sollte das zutreffen,
meint? wäre es ein weiterer Beleg dafür, dass von
Das Bundeswehr-Krankenhaus in Wes- der Leyen das Thema jahrelang hat links
terstede in Niedersachsen hängte eine liegen lassen.
Rote-Kreuz-Flagge im Erdgeschoss des In die missliche Lage hat sich von der
Hauptgebäudes ab. Sie soll angeblich im Leyen im Frühjahr 2014 selbst gebracht.

TRUEBA / EPA / REX / SHUTTERSTOCK


Mai 1945 den letzten Truppenverbands- Kurz nach Amtsantritt hatte sie in einer
platz von Sanitätern der Wehrmacht nahe Art Säuberungsaktion den damaligen
dem Berliner Reichstag markiert haben. Staatssekretär Rüdiger Wolf in den einst-
In der Hamburger Helmut-Schmidt-Uni- weiligen Ruhestand versetzt, was sie als
versität der Bundeswehr nahm ein leiten- radikalen Neuanfang verkaufte. Ausge-
der Militär ein Foto von einer Pinwand in rechnet Wolf aber hatte damals die Reform
einem Wohnheim ab, das Schmidt als Leut- des Traditionserlasses in Auftrag gegeben.
nant der Luftwaffe 1940 in Uniform zeigte. Ministerin von der Leyen Er sollte nicht einmal mehr ein Übergabe-
Studenten hatten es vor Jahren aufgehängt. Selbst unsicher im Urteil gespräch führen, sondern gleich die Kisten
Als daraufhin ein Shitstorm losbrach, dis- packen.
tanzierte sich von der Leyen zunächst von Am Tag nach dem Auftritt von der Nun macht die Ministerin Tempo und
der Universität. Einige Tage später korri- Leyens vor dem Reservistenverband ver- will noch in dieser Legislaturperiode lie-
gierte sie sich: Exkanzler und Exverteidi- öffentlichte das Verteidigungsministerium fern, doch Geschichtspolitik ist für Akti-
gungsminister Schmidt sei für den „Auf- auf der Startseite seiner Homepage eine vismus denkbar ungeeignet. Experten
bau der Bundeswehr als eine Armee der ausführliche Beschreibung des Verfahrens rechnen mit mindestens einem Jahr, um
Demokratie“ prägend gewesen, aber nicht „von unten“ – als ob da jemand Wege ge- sich mit dem Parlament, dem Reservisten-
wegen seiner „Zeit in der Wehrmacht“. gen das Machtwort der Ministerin aufzei- und dem Bundeswehrverband sowie dem
Auch beim zweiten großen Vorhaben gen wollte. Beirat für Fragen der Inneren Führung ab-
schlingert die sonst so PR-sichere IBuK. Inzwischen will die Christdemokratin zustimmen.
Sie verkündete, jene Kasernen umzube- den Eindruck korrigieren, sie habe eine Auch muss entschieden werden, ob es
nennen, die nach Wehrmachtsoffizieren Entscheidung in Sachen Lent getroffen. nur einen Erlass oder eine Zentrale Dienst-
benannt sind. Ganz oben auf der Liste: die Ein Sprecher erklärte, seine Chefin gehe vorschrift (ZDV) geben soll. Für eine ZDV
Marseille-Kaserne in Appen bei Hamburg nur davon aus, „dass der Meinungsbil- spricht, dass sie vermutlich eher befolgt
und die Lent-Kaserne im niedersächsi- dungsprozess im Lichte der Vorfälle und wird, denn ein Verstoß ist ein Dienstver-
schen Rotenburg an der Wümme. aktuellen Diskussion sich anders gestaltet gehen und kann bestraft werden.
Hans-Joachim Marseille und Helmut als bei früheren Anläufen“. Frei nach dem Vor allem aber gilt es, Kriterien zu defi-
Lent waren Helden der Nazipropaganda. Motto: Es soll demokratisch aussehen, aber nieren, was traditionswürdig ist. Die nächs-
Jagdflieger Marseille wurde wegen seiner man muss alles in der Hand haben. te Welle zeichne sich bereits ab, sagt ein
zahlreichen Abschüsse in Nordafrika als Besonders brisant ist das dritte und be- Bundeswehrexperte, da werde es um die
„Stern von Afrika“ verherrlicht. Wie er zu deutendste Vorhaben – die Reform des Helden des 19. Jahrhunderts gehen.
den Nazis stand, ist unbekannt. Bei Lent, sogenannten Traditionserlasses von 1982. Was soll etwa mit den drei Clausewitz-
ebenfalls ein Flieger-As, haben Historiker Was bürokratisch klingt, ist hochpolitisch, Kasernen geschehen? Der Militärtheoreti-
im Laufe der Jahre widersprüchliche Gut- denn die Traditionspflege prägt den Korps- ker war schließlich Mitglied der „Christ-
achten für das Verteidigungsministerium geist einer Truppe. Das jetzt vorliegende lich-deutschen Tischgesellschaft“; ein
geschrieben. Das letzte kam zu dem Dokument, von Hans Apel (SPD) seiner- „Arierparagraf“ sollte dort den Beitritt von
Schluss, Lent sei „sehr wahrscheinlich kein zeit verantwortet, distanziert sich zwar ein- Juden verhindern. Und muss man den tris-
,Nazi‘ im eigentlichen Sinn gewesen“. deutig vom „Dritten Reich“. Allerdings ten Moltke-Saal auf der Bonner Hardthöhe
Dennoch urteilte von der Leyen am ver- fehlt ein konkreter Hinweis auf die Wehr- umbenennen? Immerhin hat der General-
gangenen Dienstag vor dem Reservisten- macht. Und der Widerstand gegen Hitler feldmarschall zwei Angriffskriege für die
verband der Bundeswehr, beide Männer wird gar nicht erwähnt. deutsche Einheit von 1871 geführt.
seien „nicht mehr sinnstiftend für die heu- Die „Modernisierung“ des vorhandenen Bei der Ernst-Moritz-Arndt Kaserne im
tige Bundeswehr“. Erlasses ist eines der Leuchtturmprojekte mecklenburgischen Hagenow sollte sich
Nun gibt es für Namensänderungen von der Ministerin in diesen für sie dunklen die nach der Kanzlerin zweitmächtigste
Kasernen ein „klar geregeltes Verfahren“, Wochen. Sie hat es im Verteidigungsaus- Politikerin der Republik allerdings gut
so die Bundeswehr. Die Initiative soll von schuss des Bundestags vorgetragen und überlegen, was sie anordnet. Zwar war der
den Soldaten ausgehen, die betroffenen sich auch in der Öffentlichkeit damit ge- Dichter unbestritten Antisemit, völkischer
Kommunen sollen beteiligt werden. In Ro- schmückt. Dabei liegt nach SPIEGEL-Infor- Ideologe und Frankreich-Hasser („Zu den
tenburg ist das geschehen – nur wollen die mationen ein fertiger Entwurf seit 2013 in- Waffen! Zu den Waffen! Zur Hölle mit den
rund tausend Soldaten der Kaserne, der tern vor, Vorgänger de Maizière hatte ihn wälschen Affen!“). Doch als Anfang dieses
Landrat, der Bürgermeister, die Gemein- noch ausarbeiten lassen, was von der Jahres die Ernst-Moritz-Arndt-Universität
deversammlung und die beiden Bundes- Leyen allerdings bestreitet. Nach „vorlie- in Greifswald ihren Namen ablegen wollte,
tagsabgeordneten von SPD und CDU den gender Aktenlage“, so ein Sprecher, han- grollte es aus dem Kanzleramt.
Namen behalten. Würde die Kaserne jetzt dele es sich nur um „Vorarbeiten“. In Greifswald liegt der Wahlkreis Ange-
umbenannt werden, entstünde der falsche Zudem hat der heute zuständige Refe- la Merkels, die mit dem Namenswechsel
Eindruck, Lent sei ein Nazi gewesen, ar- ratsleiter Sven Lange, ein promovierter gar nicht einverstanden war. Und noch ist
gumentiert etwa Landrat Hermann Lutt- Historiker, einen weiteren Entwurf sogar sie die mächtigste Politikerin.
mann (CDU). 2012 in einem Fachbuch veröffentlicht. Matthias Gebauer, Klaus Wiegrefe

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Deutschland

„Ein sehr schlechtes Drehbuch“


Extremisten Der Chef des Militärischen Abschirmdiensts (MAD), Christof Gramm, 59,
über Fehler im Fall Franco A. und seine Suche nach rechtsradikalen Soldaten

SPIEGEL: Herr Präsident, hat die Bundes- Gramm: Diese Arbeit lag bei der Bundes- SPIEGEL: Warum haben Sie ihn nicht weiter
wehr ein grundsätzliches Haltungs- und wehr 2014 vor, sie war auch von Bundes- beobachtet?
Führungsproblem im Umgang mit rechts- wehrhistorikern als eindeutig extremistisch Gramm: Wir sind an Gesetze gebunden,
extremen Soldaten wie Franco A.? eingeordnet. Zwischen den teils kruden Zei- aufgrund der dürren Hinweise hätten
Gramm: Ich will ein solch pauschales Urteil len schwingt in der Arbeit eindeutig auch wir niemals eine Observation oder Ähn-
nicht treffen. Wir bekommen vielfältige Gewaltbereitschaft mit. Ich bin mir sicher, liches machen können. Hier geht es um
Hinweise auf rechte Tendenzen, sie stam- dass wir Franco A. aufgrund der Masterar- den grundsätzlichen Umgang mit Bürger-
men aus allen Ebenen der Bundeswehr, beit als Extremisten eingestuft hätten. und Freiheitsrechten, die manchen, die
von Kommandeuren und einfachen Solda- SPIEGEL: Der mutmaßliche Komplize von uns jetzt kritisieren, sehr am Herzen
ten. Natürlich aber haben wir bei Franco Franco A. ist im September 2015 durch liegen.
A. gesehen, dass entscheidende Informa- ausländerfeindliche Sprüche in Magdeburg SPIEGEL: Hätten Sie ein rechtes Netzwerk
tionen bei uns nicht ankamen. aufgefallen. Die Akte beim MAD wurde in der Truppe für möglich gehalten?
SPIEGEL: Der Generalinspekteur hat kürz- aber recht schnell geschlossen. Gramm: Die Möglichkeit wurde in den letz-
lich von einem „Muster des Wegsehens“ Gramm: Damals wurde alles getan, was ten Jahren intensiv bei uns diskutiert. Eine
gesprochen. rechtlich möglich ist. Wir haben bei ande- unserer größten Sorgen ist, dass wir so
Gramm: Mein Dienst kann nur bewerten, ren Behörden gefragt, ob etwas gegen den etwas übersehen könnten. Wir konnten
was bei uns an Hinweisen ankommt. Ob Mann vorlag, wir haben nach einem An- allerdings solche Netzwerke bislang nicht
andere wegschauen, kann ich nicht sagen, fasser gesucht. Der Verdächtige wurde be- erkennen.
kann es aber auch nicht ausschließen. Der fragt. Es kam heraus, dass die angeblichen SPIEGEL: Im Sommer 2015 gab es aus rech-
Fall Franco A. gibt Anlass zur Sorge, dass Äußerungen unter erheblichem Alkohol- ten Kreisen offene Aufrufe an Soldaten,
ein Dunkelfeld besteht, das wir bisher einfluss gefallen sein sollen, es stand Aus- mit der Waffe gegen Flüchtlinge zu kämp-
nicht entdeckt haben. sage gegen Aussage. fen. Was haben Sie unternommen?
SPIEGEL: Hat Sie die Affäre Franco Gramm: Die Aufrufe haben wir wahr-
A. überrascht? genommen. Es gab auch Meldungen
Gramm: Ich konnte es erst gar nicht von Soldaten, da haben wir genau
glauben. Der Fall wirkte auf mich hingesehen. Eine durch die Flücht-
wie ein sehr schlechtes „Tatort“- lingskrise ausgelöste verstärkte Ra-
Drehbuch, in dem der Autor eine dikalisierung konnten wir jedoch
völlig unglaubwürdige Geschichte nicht feststellen. Natürlich aber kön-
zusammengebaut hat. Wir haben ei- nen wir nicht in die Köpfe hineinse-
nen solchen Fall in der Extremis- hen, wir können erst aktiv werden,
musabwehr des MAD noch nie ge- wenn sich Soldaten offen zu sol-
habt, er sprengt alle Maßstäbe. chem Gedankengut bekennen.
SPIEGEL: Also alles nur ein spekta- SPIEGEL: Gibt es nach dem Fall Franco
kulärer Einzelfall, kein Grundsatz- A. mehr Hinweise aus der Truppe?
problem? Gramm: Wir bekommen derzeit eine
Gramm: Der Illusion eines Einzelfalls Fülle von Meldungen über rechts-
dürfen wir uns als MAD nicht hin- extreme Soldaten. Allerdings muss
geben. Wir müssen uns vielmehr ich sagen, dass sie sehr unterschied-
fragen, ob wir das Undenkbare als liche Qualität haben. Einige kennen
Szenario nicht genug ins Visier ge- wir schon, anderen müssen wir erst
nommen haben. Normalerweise be- noch nachgehen.
schäftigen wir uns mit rechts gesinn- SPIEGEL: Also keine neuen gravie-
ten Soldaten. Dass aber ein äußerst renden Vorkommnisse?
intelligenter Mann über eine lange Gramm: Es ist zu früh, das zu sagen.
Zeit und hoch konspirativ An- Offensichtlich hat der Fall von
schlagspläne aushecken konnte, Franco A. einen neuen Sensibilitäts-
sich sogar als Flüchtling tarnt, hat schub ausgelöst. Man schaut in der
bei uns so niemand erwartet. Truppe eher hin, die Wahrnehmung
SPIEGEL: Machen Sie sich Vorwürfe? für Rechtsextreme hat zugenom-
Gramm: Nach einem solchen Fall men. Deswegen werden wir genau
muss sich jede Behörde, auch der prüfen, ob wir in der Vergangenheit
MAD, Gedanken über Versäumnis- etwas übersehen haben.
DAVID KLAMMER / LAIF

se machen. Konkrete Fehler aber SPIEGEL: Bisher ermittelte der MAD


kann ich nicht erkennen, da leider meist erst, nachdem es Meldungen
entscheidende Hinweise auf Franco aus der Truppe gab. Reicht das
A. nie bei uns angekommen sind. noch aus?
SPIEGEL: Sie meinen seine Master- MAD-Präsident Gramm Gramm: Selbstverständlich wollen
arbeit. „Der Illusion eines Einzelfalls dürfen wir uns nicht hingeben“ wir besser werden. Wir müssen ins-
DER SPIEGEL 21 / 2017 41
besondere mehr in der Prävention tun und
möglichst vor die Welle kommen.
SPIEGEL: Wie soll das funktionieren?
Gramm: Der MAD will in Zukunft mehr
Informationen an die Truppe geben, Sol-
daten und Kommandeure über Kriterien
aufklären, wie sie die Radikalisierung ei-
nes Kameraden erkennen und wann sie
dies wie melden müssen. Niemand wird
als Extremist geboren, es ist ein Prozess.
Wir als MAD müssen der Truppe helfen,
die Anfänge dieser Prozesse besser zu er-
kennen.
SPIEGEL: Warum erst jetzt?

CHAD EHLERS / NORDICPHOTOS / FOTOFINDER.COM


Gramm: Wir müssen letztlich aus dem
Schock, der bei uns allen tief sitzt, lernen.
Was wir allerdings nicht wollen, auch gar
nicht dürfen, ist ein Informationsnetzwerk
innerhalb der Bundeswehr, eine Art Ka-
sernen-Stasi. Unsere Aufgabe ist klar: Wir
sollen Extremisten in der Truppe erkennen
und dafür sorgen, dass sie dort keinen
Platz haben. Flugpassagierin mit Laptop
SPIEGEL: Derzeit ist eine Art Reinigungs-
aktion in den Kasernen im Gange, man
sucht nach Wehrmachtdevotionalien. Ist

„Robuste Gespräche“
das sinnvoll?
Gramm: Wehrmachtutensilien an sich sind
für uns kein Grund für Ermittlungen, auch
ein Foto des Großvaters in Wehrmacht-
uniform nicht. Falscher Traditionsgeist, Sicherheit Aus Angst vor Anschlägen des IS wollen die USA Laptops
der nicht in den Extremismus schwappt,
ist vielleicht ein Verstoß gegen Dienst- im Handgepäck auf Transatlantikflügen verbieten. Die Bundes-
vorschriften, aber kein Fall für den MAD. regierung ist nicht überzeugt, bereitet sich aber dennoch darauf vor.
Anders sähe es aus, wenn Hakenkreuze

E
auf den Helmen wären oder Bezüge igentlich war die Mission für Thomas Als ersten Schritt haben die Amerikaner
zur SS. de Maizière klar, als er am Mittwoch daher im März Laptops in der Kabine auf
SPIEGEL: Im Verteidigungsministerium heißt Donald Trumps Nationalen Geheim- zehn Strecken aus dem arabischen Raum,
es dieser Tage, der MAD sei in den letzten dienstdirektor in Berlin empfing. Der Mi- der Türkei und Nordafrika in die USA ver-
Jahren zu sehr gestutzt worden. Brauchen nister wollte Dan Coats deutlich machen, boten; Großbritannien verfügte ein ähnli-
Sie mehr Personal? warum die Bundesregierung nicht viel da- ches Verbot. Nun könnte der Laptop-Bann
Gramm: Wir haben bereits vor dem Fall von hält, dass die USA ihr Laptop-Verbot auch bald für Flüge gelten, die in Europa
Franco A. zusätzliches Personal zugesagt auf deutsche Flughäfen ausdehnen wollen. und anderen Orten starten, womöglich so-
bekommen, da wir ja ab dem Sommer alle Man habe ja Verständnis für die von den gar weltweit. „Die bislang geführten Ge-
Rekruten einer Sicherheitsüberprüfung Amerikanern vorgeschlagenen Ideen, heißt spräche deuten darauf hin, dass eine Aus-
unterziehen müssen, das ist aufwendig. es im Sprechzettel des Ministers, der dem weitung auf EU-Flughäfen wahrscheinlich
Hinzu kommt, dass wir dabei auch Inter- SPIEGEL vorliegt, allerdings gebe es in ist und dass deutsche Flughäfen von einer
netrecherchen durchführen sollen, das Ge- Europa bereits einen „hohen Luftsicher- solchen Ausweitung nicht ausgenommen
setz ist derzeit noch in der Mache. Da viele heitsstandard“, mit dem sogenannte un- würden“, kabelte der deutsche Botschafter
Extremisten dort recht offen auftreten, ist konventionelle Sprengvorrichtungen im in Washington am 11. Mai nach Berlin
das ein wichtiges Element, um sie zu er- Handgepäck entdeckt werden können. („VS – Nur für den Dienstgebrauch“).
kennen. Einen Tag später, beim Rat der EU-In- Die Bundesregierung hält die Befürch-
SPIEGEL: Kann der Militärische Abschirm- nenminister in Brüssel, klang der Deutsche tungen der Amerikaner eigentlich für über-
dienst mit den neuen Sicherheitsüberprü- allerdings schon deutlich konzilianter. „Ich zogen. Außerdem ist sie skeptisch, ob die
fungen Rechtsextreme wie Franco A. muss sagen: Im Zweifel geht dann die Si- amerikanischen Vorschläge das Problem
schon vor dem Eintritt in die Bundeswehr cherheit vor Bequemlichkeit.“ wirklich lösen, Laptops könnten schließ-
stoppen? Der Vortrag der Amerikaner hatte wohl lich auch im Gepäckraum explodieren. Sie
Gramm: Eine Sicherheitsüberprüfung der Eindruck gemacht. Die USA versuchen seit weiß allerdings auch: Am Ende können
Stufe eins kann nicht tief in die Köpfe hi- geraumer Zeit, den Europäern klarzuma- die Amerikaner ihre Vorschläge auch ohne
neinschauen. Im Kern geht es darum, be- chen, dass im Luftverkehr eine neue Ge- europäisches Einverständnis umsetzen.
kannte Gewalttäter oder bekannte Extre- fahr terroristischer Anschläge droht. Die Airlines schlagen schon Alarm, sie befürch-
misten zu erkennen und am Eintritt in die Bastler des IS sind nach Erkenntnissen der ten Umsatzeinbrüche und hohe Kosten für
Bundeswehr zu hindern. Ein Mann wie Amerikaner offenbar in der Lage, Spreng- zusätzliche Kontrollen, Lufthansa-Chef
Franco A., der keinerlei Vorstrafen hatte, stoff in Laptops und ähnliche elektronische Carsten Spohr trug seine Bedenken sogar
wäre aber allein durch eine solche Über- Geräte so einzubauen, dass er mit den gän- direkt bei der Bundesregierung vor.
prüfung vermutlich nicht aufgefallen. gigen Sicherheitskontrollen an Flughäfen Für zusätzlichen Unmut sorgt, dass die
Interview: Matthias Gebauer nur schwer zu entdecken ist. Amerikaner die Europäer offenbar im Dun-
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Deutschland

keln lassen, was Details der Gefährdung So geschah es im Februar 2016, als ein Ter- Washington. Allen ist jedoch klar, dass die
angeht. Während US-Präsident Trump rorist eine in einem Notebook versteckte Amerikaner das Verbot am Ende wohl
möglicherweise Geheimdiensthinweise da- Bombe nach dem Start in Mogadischu auch ohne Zustimmung der Europäer
rauf, wie IS-Terroristen Flugzeuge angrei- sprengte. Der Mann wurde bei der Detona- durchsetzen können. Das Open-Skies-Ab-
fen könnten, freigebig mit dem russischen tion aus dem Flugzeug geschleudert, fast alle kommen verpflichtet beide Seiten lediglich
Außenminister Sergej Lawrow teilte (siehe anderen Insassen blieben aber unverletzt. zu Konsultationen.
Seite 76), zeigten sich die Amerikaner in Die Europäer weisen zudem auf die Ge- Die Bundesregierung plant daher längst
den Gesprächen mit ihren europäischen fahr hin, dass sich die Akkus der Geräte für den Fall, dass die Amerikaner Ernst ma-
Freunden deutlich weniger offen. „Infor- im Gepäckraum entzünden könnten. „Wür- chen. Um Verzögerungen vor allem in Frank-
mationen, die eine Veränderung der Ge- den größere elektronische Geräte nicht furt, einem großen Umsteigeplatz im inter-
fährdungslage auch in der EU zur Folge mehr im Handgepäck mitgeführt, sondern nationalen Luftverkehr, möglichst gering zu
haben, sollten unmittelbar geteilt werden, im aufgegebenen Gepäck transportiert, halten, ist beispielsweise angedacht, dass grö-
damit alle betroffenen Staaten in die Lage entstünde ein neues Safety-Risiko, da sich ßere elektronische Geräte bereits beim Aus-
versetzt werden, geeignete Maßnahmen die in den Geräten befindlichen Lithium- gangsflughafen eingecheckt werden.
ergreifen zu können“, heißt es daher auch Batterien unter bestimmten Voraussetzun- Und: Wenn es tatsächlich zu einem Lap-
auf de Maizières Sprechzettel. gen entzünden können“, kabelte der deut- top-Verbot kommen sollte, dann will de
Treffen zwischen beiden Seiten brach- sche Botschafter aus den USA. Zudem sei Maizière jedenfalls erreichen, dass es aus-
ten keinen Durchbruch, zuletzt bemühte die Wahrscheinlichkeit, einen präparierten reichend Zeit gibt, das Verbot umzusetzen,
sich die stellvertretende US-Heimatschutz- Laptop im aufgegebenen Gepäck zu ent- und, vor allem, dass es für ganz Europa gilt.
ministerin Elaine Duke am Mittwoch in decken, „erheblich geringer, weil der EU- Dahinter steckt die Sorge, dass die Briten
Brüssel, Vertretern der EU-Kommission Standard für die Reisegepäckkontrolle auf einen Extradeal mit den Amerikanern
und verschiedener EU-Länder den Lap- größere Sprengstoffmengen ausgerichtet schließen und ihrem Drehkreuz London-
top-Bann schmackhaft zu machen, von ist und den bei den US-Maßnahmen im Heathrow so einen Wettbewerbsvorteil ver-
deutscher Seite waren Innenstaatssekre- Fokus stehenden Stoff nicht beinhaltet“. schaffen könnten.
tärin Emily Haber und der Die Route zwischen Europa
zuständige Abteilungsleiter Drähte Sprengkapsel und den USA ist der am häu-
aus dem Verkehrsministerium Sprengstoff figsten beflogene Luftfahrtkor-
dabei. ridor der Welt, täglich starten
Die Amerikaner sprachen etwa 520 Flüge in Richtung
von „robusten Gesprächen“. USA, entsprechend umkämpft
Übersetzt heißt das: Es flogen ist der Korridor zwischen den
die Fetzen. Die US-Vertreter Airlines. „Für uns wäre das ein
sagten zwar zu, mit den Euro- Alptraum“, sagt ein Lufthansa-
päern weiter zu reden, ihre For- Sprecher über die amerikani-
derung nach einem Laptop-Ver- schen Pläne. Die Fluggesell-
bot nahmen sie jedoch nicht schaft fürchtet, dass zusätzlich zu
vom Tisch. „Wir werden die nö- den vorhandenen Kontrollen ein
tigen Veränderungen vorneh- zweites Sicherheitssystem nötig
men, damit Flugpassagiere wei- würde, und zwar auf eigene Kos-
ter sicher reisen können“, sagte 9-Volt-Batterie ten. In einem Telefonat mit ei-
ein hochrangiger US-Beamter nem Mitglied der Bundesregie-
danach. „Wir haben Hinweise rung brachte Lufthansa-Chef
auf eine anhaltend hohe Gefähr- Spohr am Freitag vergangener
dungslage.“ FBI-Modell eines Laptops mit Sprengstoff Woche noch weitere Szenarien
Doch selbst wenn sich Euro- Überzogene Befürchtungen? vor, de Maizière soll sie in einer
päer und Amerikaner bei der Telefonkonferenz mit euro-
Einschätzung der Gefahr annähern sollten, Amerikaner und Briten sehen das an- päischen Kollegen und US-Heimatschutz-
herrscht weiter Streit darüber, welche Vor- ders. Wenn Laptops mit dem Gepäck auf- minister John Kelly aufgegriffen haben.
kehrungen geeignet wären, um für mehr gegeben werden, würde das Risiko „signi- Denkbar sei, heißt es bei der Lufthansa,
Sicherheit zu sorgen. Während die Euro- fikant sinken“, sagen britische EU-Diplo- dass ein Terrorist mit einem Kumpel zum
päer davon ausgehen, dass es ausreicht, maten. Ein Grund: Aufgegebene Laptops Flughafen fährt, der ein Reiseziel ansteu-
wenn sie Handgepäck stichprobenartig auf können nicht einfach per Knopfdruck ak- ert, an dem es noch keinen Laptop-Bann
Sprengstoff untersuchen, wollen die Ame- tiviert werden, Fernsteuerungsmechanis- gibt. Der Freund überreicht dem in die
rikaner Laptops künftig auf transatlanti- men aber würden von den Gepäckscan- USA reisenden Passagier im Warteraum
schen Flügen nur noch im eingecheckten nern am Flughafen leichter erkannt. am Gate einfach sein Gerät, auch deshalb
Gepäck befördern. Zudem würde die Explosion einer rela- müsste ein zweites Mal unmittelbar vor
Aus Sicht der Europäer ist die Menge tiv geringen Menge Sprengstoff in einem dem Einsteigen kontrolliert werden.
Sprengstoff, die man in einem Laptop un- vollen Gepäckraum eher verpuffen als in Ein derartiges Modell betreibt die Luft-
terbringen kann, zu gering, um ein Flug- der Kabine. Andererseits, so wendet Ger- hansa zum Beispiel in Panama, wo sie
zeug zum Absturz zu bringen. „Wenn Sie hard Hüttig, ehemals Professor für Luft- strengere Sicherheitsstandards anlegt als
zwei Reihen hinter einem Attentäter sit- und Raumfahrt an der TU Berlin, ein: vor Ort üblich. Der Aufwand für die
zen, passiert Ihnen nichts“, sagt ein EU- „Wenn es zu einem Brand kommt, kann Extrakontrollen hält sich dort allerdings
Experte süffisant. Die Amerikaner beru- er in der Kabine effektiver gelöscht wer- in Grenzen. In Panama-Stadt hebt nur
higt das verständlicherweise kaum. Ein den als im Frachtraum.“ fünfmal pro Woche eine Lufthansa-Ma-
Terrorist, der sein Gerät am Fenster zur In der kommenden Woche wollen sich schine ab.
Explosion bringe, könne sehr wohl erheb- Experten beider Seiten erneut mit techni- Markus Becker, Sven Böll, Dinah Deckstein,
liche Schäden anrichten, sagen sie. schen Fragen beschäftigen, dieses Mal in Peter Müller, Wolf Wiedmann-Schmidt

DER SPIEGEL 21 / 2017 43


Deutschland

Lauras Flucht
Affären Ein Referent im baden-württembergischen Innenministerium organisierte eine Rettungsaktion
aus IS-Gebiet, die gehörig schiefging. Was wusste Innenminister Thomas Strobl (CDU)?

S
ie machen es genau wie abgespro- Haag. In einem Straßencafé erzählt Eu- dern zu fliehen. Das war der erste Versuch.
chen. Am Morgen des 12. Juli 2016 gene H., ein Niederländer, die Details ei- Der erste Fehlschlag. Sie wurden an einem
schleichen Laura H. und ihr Mann ner tragischen Rettung. Checkpoint aufgehalten und nach Mossul
Ibrahim I. gemeinsam mit den beiden Kin- Laura H. hatte keine leichte Kindheit – zurückgeschickt. Nun wurde das Leben in
dern in Mossul aus dem Haus. Seit Mona- mit einem schwerkranken Bruder und El- der IS-Enklave mit einem wütenden Mann,
ten sitzt die Familie in der irakischen Hoch- tern, die sich trennten, als sie etwa elf war. der nichts von ihren Plänen gewusst hatte,
burg des „Islamischen Staates“ (IS) fest. Schon als Jugendliche suchte sie Kontakt erst recht zur „Hölle“, sagt sie später. Sie
Die Flucht ist bis ins Detail geplant, so in die maghrebinisch geprägte muslimische habe nur noch geweint. „Sie geriet in Pa-
scheint es. Um vier Uhr morgens brechen Gemeinde ihrer Heimatstadt Zoetermeer. nik“, sagt ihr Vater, wollte unbedingt zu-
sie auf. Er fährt das Auto, sie sitzt auf dem Sie konvertierte zum Islam, bald darauf rück in die Niederlande.
Beifahrersitz, die Kinder auf dem Schoß. trug sie ihren ersten Hidschab, der ihren Das war der Moment, in dem der De-
Sie haben eine weiße Fahne dabei, die sie Körper vollständig verhüllte. radikalisierer Daniel Köhler ins Spiel kam.
aus dem Fenster hängen sollen, sobald sie Über die Datingseite Moslima.com lern- Den Kontakt stellte eine Beratungsstelle
das IS-Territorium verlassen haben. An ei- te sie den in Deutschland geborenen Ibra- für die Familien von niederländischen
nem Treffpunkt sollen Schleuser auf Salafisten her, bei deren Gründung
sie warten und nach Arbil ins nie- Köhler mitgewirkt hatte. Für Eu-
derländische Generalkonsulat brin- gene H. war er so etwas wie der
gen. Doch weit kommen sie nicht. letzte Strohhalm. Er würde Leute
Die Reise in die Freiheit endet in mit guten Kontakten im Irak ken-
einem Straßenloch, das Auto bleibt nen, erzählte Köhler dem Vater.
stecken – eine Straßenblockade des Profis, die bei der Flucht helfen
IS. So wird es Laura H. später ihrem könnten. Für einen verzweifelten
Vater erzählen. Sie und ihr Mann Vater, der seine Tochter und sei-
laufen mit den Kindern zu Fuß wei- ne Enkelkinder zurückhaben will,
WWW.KURDISTAN24.NET
ter, als plötzlich Schüsse fallen und klang das überzeugend.
Mörsergranaten durch die Luft ja- Die Operation begann. Nachdem
gen. „Nicht schießen, ich bin einer das Geld überwiesen war, landete
von euch“, soll ihr Mann den IS- ein Engländer auf dem Amsterda-
Kämpfern zugerufen haben. Die Fa- mer Flughafen Schiphol, von dem
milie gerät in ein Feuergefecht zwi- Laura H. im kurdischen TV: Nur scheinbar ein Happy End Eugene H. nur den Vornamen er-
schen kurdischen Peschmerga-Mili- fuhr. Er beriet den Vater bei Telefo-
zen und IS-Kämpfern. Ihr Mann sei schwer him I. kennen. Die beiden heirateten und naten mit der Tochter. Es gab nun Code-
verletzt worden, er sei voller Blut gewesen, zogen zusammen. Im Sommer 2015 brach- wörter wie „Porkel“, den Namen ihres
erzählt Laura H. Sie habe sich mit den Kin- te sie ihr zweites Kind zur Welt. Kurz da- Stoffhasen. Dann wusste der Vater, sie war
dern in die Büsche gelegt und sei dann rauf war die junge Familie plötzlich ver- allein und konnte sprechen. Er gab ihr
weitergelaufen, bis auf die kurdische Seite schwunden. dann Anweisungen, wie sie sich verhalten
der Front. In Sicherheit. Wo ihr Mann sei, Ihr Vater schaltete die niederländische solle. Im April begannen die konkreten
wisse sie nicht, sagt sie später. Polizei ein. Die machte ihm wenig Hoff- Vorbereitungen, Laura aus dem IS-Gebiet
Lauras Flucht aus Mossul ist eine Ge- nung, die Sicherheitsbehörden könnten herauszuholen.
schichte, in der so ziemlich alles aus dem nichts für ihn tun. Eugene schrieb Whats- Laut Eugene H. seien Kontaktleute in
Ruder lief. Es gab mehrere Versuche, Fehl- App-Nachrichten an seine Tochter, die zu- Mossul gewesen. Die Absprache: Eine
schläge und ein nur scheinbares Happy nächst nicht reagierte. Im November 2015 Stunde vor der Aktion würde sie erfahren,
End. Ihr Mann wurde schwer verletzt, Kon- dann das erste Lebenszeichen. Über einen dass es losgeht. „Das ist zu kurz und wird
taktleute in Mossul sollen vom IS enttarnt Zwischenstopp in der syrischen Hauptstadt niemals klappen“, habe sie geantwortet.
worden sein. Mindestens einer der beiden des Kalifats Rakka war die Familie weiter Dann habe es eine dramatische Wen-
soll hingerichtet worden sein. nach Mossul gereist. „Alles gut“, schrieb dung gegeben. „Zwei Kontaktleute in Mos-
Eine Schlüsselrolle in dieser blutigen sie, „Allah ist der Beschützer.“ sul wurden enttarnt“, sagt Eugene H. Ihm
Rettungsaktion spielt ein deutscher Spe- Manchmal konnte der Vater kurz mit sei gesagt worden, dass mindestens einer
zialist für „Deradikalisierung“. Daniel seiner Tochter über WhatsApp telefonie- von ihnen vom IS exekutiert worden sei.
Köhler, 32, arbeitet im Innenministerium ren. Ihr gehe es nicht gut. Hygiene und Der andere wahrscheinlich auch.
von Baden-Württemberg als wissenschaft- Verpflegung in Mossul seien schlecht, die Als der SPIEGEL Daniel Köhler mit den
licher Referent, zuständig für Präventions- Kinder hätten Läuse. Schon in den Nie- Aussagen des Vaters konfrontiert, bestrei-
projekte gegen islamistischen Extremis- derlanden habe ihr Mann sie geschlagen. tet er die Verbindungen nach Mossul und
mus. Auf sein Geheiß überwies der Vater Im IS-Gebiet seien die Übergriffe noch hef- die möglichen Exekutionen. „Der Plan
von Laura H. 10 000 Euro auf ein Konto tiger geworden. Vergebens habe sie ver- war, dass Laura H. und ihre Familie Mossul
bei einer britischen Bank. Das war der sucht, sich von ihm zu trennen. auf eigene Faust verlassen“, sagt Köhler.
Startschuss für die Operation. Als Weihnachten 2015 eine Bekannte Seine Kontaktleute seien dafür zuständig
Der SPIEGEL traf den Vater der 21-jäh- die Erlaubnis erhielt, nach Arbil zu fahren, gewesen, die Niederländer von einem
rigen Salafistin am Donnerstag in Den entschloss sich Laura spontan, mit den Kin- Treffpunkt aus in das Generalkonsulat
44 DER SPIEGEL 21 / 2017
zation Studies“. Daniel Köhler habe ver-
schiedene Deradikalisierungsprogramme
und Methoden entwickelt und „weltweit
Regierungen beraten“, heißt es, unter an-
derem in den Vereinigten Staaten von
Amerika, den Niederlanden, Italien, Ka-
nada oder England.
Aufgrund „seiner herausragenden Leis-
tungen“ sei er zum ersten Gerichtsgutach-
ter für Deradikalisierung und Radikalisie-
rungsevaluation von terroristischen Häft-
lingen in den USA ernannt worden. Ein
Job, für den in Deutschland in der Regel
erfahrene Psychiater zuständig sind.
Köhler hat einen Abschluss in Religions-
wissenschaften von der FU Berlin und
einen „Master of Peace and Security Stu-
dies“ der Universität Hamburg. Sechs
Somalier und einen Amerikaner habe er
bereits begutachtet, sagt er. Wer sein In-
stitut besuchen will, muss zu ihm nach
Hause fahren. Denn das ist die Adresse.
Sein einziger Angestellter sei er selbst.
Nun also Fluchthilfe aus dem Irak. In ei-
ner WhatsApp-Nachricht wies Köhler den
Vater darauf hin, dass die 10 000 Euro auf
jeden Fall verloren sind. Es gebe keine Ga-
rantien. „Wenn unsere Leute raus müssen
und Laura/Ibr folgen nicht dem Plan oder
irgendetwas geht schief, ist das Geld trotz-
dem ausgegeben“, schreibt er.
Nach etlichen gescheiterten Versuchen
sollte Eugene H. den Mann seiner Tochter
ACKERMAN + GRUBER

überzeugen, Mossul zusammen mit seiner


Familie zu verlassen. Es dauerte Wochen,
bis Ibrahim I., inzwischen offenbar eben-
falls in Angst um seine Sicherheit, ein-
Deradikalisierungsexperte Köhler: Erste Erfahrung in einem solchen Fall willigte. „Wir haben noch eine Chance“,
schrieb Köhler an den Vater.
nach Arbil zu bringen. Ein Fluchtversuch mit einer Expertise und Kontakten ge- Am 12. Juli war es so weit. Das Team
sei daran gescheitert, dass Helfer kurzfris- prahlt, die gar nicht existierten? Oder lief stand bereit. Aber schon bald erhielt Eu-
tig abgesprungen seien. Das sei alles. in Mossul eine Operation aus dem Ruder gene H. eine Rückmeldung: wieder nichts.
„Es gab keine Verbindungsleute in Mos- und kostete deshalb womöglich Menschen Die Familie sei nicht am Treffpunkt ange-
sul“, sagt Köhler. Überhaupt sei dies seine das Leben? Beide Interpretationen der Ge- kommen. Die Operation wurde abgebro-
erste Erfahrung in einem solchen Fall ge- schichte sind nicht nur für Köhler proble- chen. Er machte sich darauf gefasst, dass
wesen. Mit der konkreten Operation habe matisch – sondern auch für Innenminister seine Tochter den Tag nicht überleben wür-
er kaum zu tun gehabt: „Mein Einsatz war Thomas Strobl (CDU), dessen Staatssekre- de. „Ich hatte große Angst, was würden
ehrenamtlich.“ Er habe lediglich Kontakte tär den Referenten gewähren ließ. die IS-Leute mit ihr und den Kindern tun,
vermittelt. Köhler habe bei der „Operation zur Ret- wenn sie erwischt werden?“, sagt er. Doch
In der renommierten niederländischen tung von Frau H.“ nicht im Auftrag des In- kurz danach meldete sich RTL Nieuws bei
Tageszeitung „NRC Handelsblad“, die im nenministeriums gehandelt, stellte Strobls ihm: Laura sei zusammen mit ihren Kin-
April über den Fall berichtete und den Pressestelle klar. Er sei ausschließlich als dern bei den Peschmerga angekommen.
Deutschen „Herrn K.“ anonymisiert zitiert, Privatperson tätig gewesen. Aber: Seinem Dort trat die junge Mutter im schwarzen
klang das anders. K. beschreibe sich als Vorgesetzten, dem Landespolizeipräsiden- Hidschab vor eine Kamera des Senders
Makler, der zwischen Familienangehörigen ten, und dem Staatssekretär Martin Jäger Kurdistan24. Sie sieht etwas müde aus, als
und ehemaligen Militärs vermittelt, die in sei das Vorhaben bekannt gewesen. „Eine sie sich bei den Peschmerga bedankt. Ihr
Konfliktregionen „ihr Brot verdienen“, Kollision mit seinem Hauptamt wurde gehe es gut. Sie lächelt wie ein schüchter-
heißt es da. Den Fall Laura H. habe Herr nicht gesehen.“ Auch der Bundesnachrich- ner Teenager. Ihre Fingernägel hat sie in
K. als eine der schwierigsten Operationen tendienst war nicht in die brisante Opera- einem fröhlichen Pink lackiert. Von den
bezeichnet, „die wir je gemacht haben“. tion eingeweiht. Köhler handelte auf eige- dramatischen Umständen ihrer Flucht er-
Auch von enttarnten Leuten in Mossul und ne Faust. zählt sie nicht.
der Exekution habe Köhler gesprochen. Wer seine Website aufruft, bekommt Nach ihrer Rückkehr wurde Laura H.
Das deckt sich mit den Ausführungen den Eindruck, es mit einer wissenschaftli- am Flughafen unter Terrorverdacht verhaf-
des Vaters, der von den Kontaktleuten des chen Kapazität in Deutschland zu tun zu tet. Ihr Vater ist trotzdem froh. Die Tochter
Teams in Mossul berichtet. haben. Der 32-Jährige präsentiert sich als und die Enkelkinder sind in Sicherheit.
Hat der 32-jährige Referent aus dem ba- „Gründer und Direktor“ des „German In- Katrin Elger, Hubert Gude
den-württembergischen Innenministerium stitute on Radicalization and Deradicali- Mail: hubert.gude@spiegel.de

DER SPIEGEL 21 / 2017 45


Deutschland

Prost!
tik machtlos sein. „Aber beim Bier hätten lionen Besucheraugen bringe seine Mann-
wir ein Zeichen für bezahlbares Leben in schaft jedes Jahr zum Leuchten. Solche
der Stadt setzen können“, findet Josef Verdienste um Volk und Bayernland er-
Schmid von der CSU. forderten auch Millionenverdienste im
Oktoberfest Im Kampf Der Zweite Bürgermeister der Stadt ist Geldbeutel.
praktischerweise auch Wiesn-Chef und hat Seltsam, dass dieses Argument ausge-
gegen steigende Bierpreise auf die Idee einer Bierpreisbremse erfunden. rechnet die Partei der kleinen Leute über-
der Wiesn beschwört Als „Komiker“, der sich mit „DDR-Me- zeugte. Dass die Palastrevolution der CSU
die Münchner CSU vergebens thoden“ beim Volk einschleimen wolle, scheiterte, lag am Widerstand des sozial-
beschimpften ihn die Wiesn-Wirte. Als ge- demokratischen Koalitionspartners. Ganz
den Geist des Sozialismus. rissenen Populisten, der womöglich nur offensichtlich wollten die Genossen dem
die nächste Oberbürgermeisterwahl gewin- Volkstribun Schmid von der CSU einen

J
a ist denn schon wieder Weihnachten, nen wolle, verdächtigte ihn die SPD. Drei Erfolg nicht gönnen.
und das mitten im Frühling? Der Hagn- Monate lang hatte der Streit ums billige Wie sonst ist es zu erklären, dass ein
Wiggerl konnte sein Glück jedenfalls Bier die Münchner Stadtverwaltung ge- SPD-Stadtrat öffentlich behauptete, nicht
kaum fassen, als der Münchner Stadtrat lähmt und fast zum Zusammenbruch der mal Kampftrinker würden wegen der jähr-
am Mittwoch dagegen stimmte, den Bier- Großen Koalition zwischen CSU und SPD lichen Preissteigerung von rund 30 Cent
preis beim Oktoberfest für drei Jahre ein- geführt. Die Generaldebatte im Stadtrat ein Bier weniger trinken? Hatte der Sozi
zufrieren. Auf 10,70 Euro. sollte Frieden schaffen. Aber so leicht lässt vergessen, dass sich mit solchen Schleich-
Hagn, der dienstälteste Wiesn-Wirt, war sich ein Kulturkampf nicht beenden. Und Erhöhungen die Preise für Oktoberfestbier
zufrieden. Eine Partei, die bisher kaum un- um wenig streitet sich der Münchner so in den vergangenen 20 Jahren verdoppelt
ter Sozialismusverdacht stand, nun aber gern wie um die Wiesn. hatten? Vollends absurd wurde es, als der
bei der Maß den Preis-Turbo stoppen woll- „Wir Wirte betreiben nicht einfach nur Genosse vorrechnete, der Bierpreis habe
te, aber war es nicht: die CSU. Festzelte“, erklärte Hagn, der Gewinner, sich in Wirklichkeit gar nicht erhöht, weil
Das Bekenntnis der übrigen Münchner nach der dreistündigen Diskussion im ein Durchschnittsdeutscher im Jahr 1950
Volksvertreter zum frei galoppierenden Stadtrat mit stolzgeschwelltem Bierbauch. für eine Wiesn-Maß noch 82 Minuten ar-
Bierpreis ist eine Überraschung. Gegen „Wir erschaffen jedes Jahr auf dem harten beiten musste, heutzutage aber schon 26
Marmorböden in Mietwohnungen und im- Boden der Theresienwiese Paläste.“ 1,6 Mil- Minuten reichten. „Sie sind hier übrigens
mer dickere Geländewagen in den Halte- lionen Euro koste der Aufbau seines Lö- nicht im Komödienstadl“, rief Oberbürger-
verbotszonen der City mag die Lokalpoli- wenbräu-Zelts, 15 000 Glühbirnen und Mil- meister Dieter Reiter (SPD) anschließend

Noch stärker als August der Starke,


2005
1989

Während die Pariser Mode in dessen Zeit die Dresdner Frauenkirche


jede Saison wechselt, braucht entstand: der Kunstharzmörtel
der Eiffelturm viel seltener für Spezialdübel, der beim Wieder-
ein neues Kleid: einen frischen aufbau eingesetzt wurde. Damit halten
Korrosionsschutz-Anstrich, auch schwerste Bauteile sicher
der ihn vor Rost schützt. im historischen Sandstein.

Die Chemie macht aus

Es hätte einfach zu lange


1991

2010

gedauert, den Beton


für den Burj Khalifa über
600 Meter hochzutragen.
Also hat man ihn lieber
nach oben gepumpt.
Die Beimischung
chemischer Fließmittel
Drinnen tost der Applaus, draußen machte es möglich.
das Meer. Gut, dass die Oper in Sydney
bei ihrer Sanierung eine wasserabweisende
Imprägnierung erhielt, die sie vor
dem Seeklima schützt.
CSU-Forderung nach einer Bierpreisober-
grenze. Die nämlich hätte den Wettbewerb
auf dem Oktoberfest ausgeknipst und dem
Verbraucher mehr geschadet als genutzt.
„Aber dass nur ein einziger Stadtrat mit
einem Vorschlag für einen wirkungsvolle-
ren Wettbewerb für familienfreundlichere
FLORIAN GENEROTZKY

Preise aufwartete“, hat ihn enttäuscht.


Der Einzelkämpfer in der dreistündigen
Bierpreisdebatte war der ehemalige AfD-
ler Andre Wächter. Der mittlerweile par-
Wiesn-Besucher auf dem „Kotzhügel“: Auch kein Festpreis für Schweinsbraten teilose Bundesbanker schlug vor, bei künf-
tigen Wiesn-Ausschreibungen den Wirten
nach oben zur voll besetzten Besuchertri- Damit aber die Bierverkäufer den Besu- einen Zeltplatz zu geben, die beim Maß-
büne. „Hier wird Weltpolitik gemacht.“ chern nicht den kompletten Anti-Terror-Soli preis maßhalten. So schafft es zum Beispiel
Ob das ironisch gemeint war, blieb offen. durchreichen, sollte ein Bierpreisdeckel her. die Stadt Dachau, den Liter des gleichen
Der Streit um die Bierpreisbremse hat Die SPD war dagegen. „Dann erhöhen die Festbiers auf seinem Volksfest für unter
einen durchaus ernsten Hintergrund. Seit Wirte eben die Preise für Hendl und Limo, sechs Euro anzubieten.
fünf Jahren gehen die Besucherzahlen zu- was besonders die Familien unter den Doch die Münchner CSU beschwor lie-
rück, wohl weniger wegen der Preise, son- Wiesn-Gästen trifft“, unkte Oberbürger- ber in seltener Geschlossenheit mit den
dern aus Angst vor Terroranschlägen. Also meister Reiter. Den Vorschlag der CSU, Fest- Tierfreunden der ÖDP den gerechten Geist
gibt die Stadt viel Geld für Sicherheits- preise für Schweinsbraten oder einen des Sozialismus, während die Sozialdemo-
maßnahmen aus wie Rucksackkontrollen, Dampfnudeldeckel vorzuschreiben, wischte kraten mehr Verständnis für die Sorgen
mobile Zäune, Ordner oder eine neue Reiter mit dem Hinweis weg, sich lieber mit und Nöte der Wiesn-Millionäre hatten. Die
Lautsprecheranlage. In diesem Jahr addie- den wirklichen Sorgen der Münchner be- seien schließlich „auch Bürger Münchens“.
ren sich die Mehrkosten auf rund fünf Mil- schäftigen zu wollen. Der schale Geschmack Hinterher diskutierte der Stadtrat übri-
lionen Euro. Das Geld wollte sich der der Kapitulation vor dem Kapital bleibt. gens noch über soziale Mietobergrenzen,
Wiesn-Chef Josef Schmid von den Wirten Selbst für Verfechter des freien Marktes sie werden um 42 Cent erhöht. Die Debat-
zurückholen – was der Münchner Stadtrat ist das Maß nämlich voll. Der Kartellrecht- te war nach zehn Minuten beendet.
am Mittwoch einstimmig absegnete. ler Mark-E. Orth ist zwar kein Fan der Anna Clauß
2026
2016

Schweizer Berge sind löchrig wie Käse.


Beim Bau des 57 km langen neuen Gotthard-
Basistunnels mussten unzählige Felsspalten mit
Mikrozement-Injektionen abgedichtet werden.

Bauwerken Wahrzeichen.

Die Welt wäre ohne die Chemie um einige Sehenswürdigkeiten ärmer.


2020

Als Zusatz in Baustoffen ermöglicht sie über 160 Stockwerke hohe


Gebäude wie den Burj Khalifa oder lässt barocke Schätze wie die Dresdner
Frauenkirche neu auferstehen. Und durch modernen Korrosionsschutz
sorgt sie dafür, dass Wahrzeichen wie der Eiffelturm erhalten bleiben.

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Q U E L L E N : RO B E RT C. A L L E N , STAT I ST I S C H E S B U N D E SA MT
Früher war alles schlechter
73%
der arbeitenden Bevölkerung
Deutschlands sind um 1500
Nº 73: Arbeit in der Landwirtschaft
in der Landwirtschaft beschäftigt

64%
1750

38%
1900

1,4%
2016

Die Befreiung von der Landwirtschaft. Es war ein Städter aus Genf, befall. Dafür die ganze Ackerei? Zum Glück nähert sich die
Jean-Jacques Rousseau, der mit dem „Zurück zur Natur“ an- Zahl der in der Landwirtschaft Beschäftigten der Nachweis-
fing. Natürlich hat die Mehrheit seiner Zeitgenossen das nicht grenze an, und alle Gentleman-Farmer und Hochbeet-
mitbekommen, weil sie nicht lesen konnte, gerade vom Guts- Anbeterinnen werden daran nichts ändern. Heute ernährt
herrn rangenommen oder verprügelt wurde und das Budget ein Landmann 140 seiner Mitbürger, und er macht es in der
für kulturkritische Weiterbildung für Rübensuppe draufging. Regel effizient und artgerecht. Landluft macht nur frei, wenn
Der Evolutionsbiologe Jared Diamond hat Landwirtschaft als andere die Arbeit machen. Der größte Nahrungsmittel-
„schlimmsten Fehler in der Geschichte der Menschheit“ produzent der EU ist Frankreich, und dort gehören noch
bezeichnet. Sie brachte Bevölkerungswachstum bei hoher rund zweieinhalb Prozent der Beschäftigten dem Agrar-
Sterblichkeit und ersetzte Steinzeitdiät durch einseitige sektor an, mehr ist nicht, mehr Land tut nicht not. In
Ernährung. Brandrodungen führten zu Klimawandel, die Deutschland arbeiten noch 600 000 Menschen in der
Nähe zum Vieh bescherte uns Tuberkulose, Pest und Wurm- Landwirtschaft. alexander.smoltczyk@spiegel.de

Geschmack deutsche für ihr Heimatland Von der Heide: Bei mir war halten weniger zusammen als
Haben wenigstens angerufen haben. Levina Lueen nicht Vorletzte. andere. Das Verhältnis ist
SPIEGEL: Also haben nicht die
die Schweizer die Schweizer für uns gestimmt,
Aber ich dachte sofort an ein
David-Guetta-Plagiat und
wie eine alte Ehe: Man muss
halt. Leidenschaft ist nicht da,
Deutschen lieb, Herr sondern die 300 000 Deutschen, fand den Song konstruiert eher ein Pflichtgefühl. Zwölf-
von der Heide? die in der Schweiz leben? und kühl. Punkte-mäßig aber dann
Von der Heide: Ein paar SPIEGEL: Aber wir sind doch doch nicht.
Michael von der Heide, 45, Sän- Schweizer natürlich auch. Nachbarn! SPIEGEL: Gab es zumindest
ger und Mitglied der Schweizer Das schon. Von der Heide: Die Schweiz, Diskussionen um den deut-
Jury beim Eurovision Song SPIEGEL: Hat Deutschland sich Österreich und Deutschland schen Beitrag in der Jury?
Contest (ESC), über wichtige mit der Spar- und Flüchtlings- Von der Heide: Während des
drei Punkte für Deutschland politik in Europa so unbeliebt Votings darf nicht gesprochen
gemacht? werden. Das ist wie in der
SPIEGEL: Beim ESC ist Von der Heide: Wer weiß? Ich Schule bei einer Klassen-
Deutschland am vergangenen dachte immer, der ESC sei arbeit. Man darf schon sagen,
JULIAN STRATENSCHULTE / DPA

Samstag Vorletzter geworden unpolitisch. das finde ich schön, aber bei
und hat nur sechs Punkte be- SPIEGEL: Es gibt eine Zuschau- der Punktevergabe darf man
kommen – drei aus Irland und er- und eine Jurywertung – nichts mehr sagen. Vielleicht
drei aus der Schweiz. Vielen Sie und Ihre Schweizer Jury- ist das in anderen Ländern
Dank an Ihre Mitbürger! kollegen hatten keinen Punkt nicht so, aber wir Schweizer
Von der Heide: Bitte! Aber ich für Deutschland übrig. Wa- machen das genau so, wie es
denke, dass auch viele Exil- rum nicht? Levina in den Statuten steht. red

48 DER SPIEGEL 21 / 2017


Gesellschaft
ihn, weil Neoklis Arbeit suchte, zu sich nach Panorama
Sonderfahrt mitnahm. Der Arzt baute ihm im Garten ein kleines wei-
ßes Haus. Neoklis bewachte dafür sein Anwesen, fütterte
und pflegte die Tiere, Hühner, Schafe, Hunde, Katzen.
Eine Meldung und ihre Geschichte Warum Neoklis hatte ein gutes Leben. Nach Feierabend zog er
sich seinen Plastikstuhl an die Straße, saß in der Abend-
ein griechisches Bestattungsunternehmen sonne, aß eine Bohnensuppe und grüßte die Leute.
eine Leiche auf der Straße liegen ließ Er war ein armer, alter, verrückter, liebenswerter Mann,
sagen, übereinstimmend, die Nachbarn, die Polizistin, ein

D
er Bestatter Stathis Kessaniotis, 47 Jahre alt, klein Sozialarbeiter. Er hatte keine Familie, nur die Tiere.
und rund, kam gerade von einer langen Tour, er Vor Jahren hatte ihm eine Tierliebhaberin viel Geld
war müde, er hatte eine Leiche in den Norden von geschenkt. Davon war Neoklis oft mit dem Taxi losgefah-
Thessaloniki gebracht, wo er zu Hause ist. Da klingelte ren und hatte Futter für die Tiere gekauft. Wenn eine
das Telefon, eine Polizistin war dran. Er solle schnell kom- Fahrt 10 Euro kostete, gab er 20. Er half auch sonst, wo er
men, es gebe eine Leiche. Die Leiche liege auf der Straße, helfen konnte, brachte Obdachlosen Essen. So war sein
und niemand hole sie ab. Die Polizistin, die ihn kannte, Geld schnell wieder weg. Aber das störte Neoklis nicht.
fragte: „Stathis, hilfst du uns?“ Es war Samstagvormittag. Als der Arzt gestorben war, durfte er bleiben, er war ja
Er dachte an sein Wochenende. Er hatte tagelang kaum selbst alt, hatte Herzprobleme, seine Nieren ließen nach.
geschlafen, nichts gegessen, Eigentlich war im Winter al-
weil essen müde macht, nur len in der Gegend klar, dass
Kaffee getrunken, immer er nicht mehr lange zu leben
ohne Zucker. Aber dann sag- hätte. Dass es aber so schnell
te er: „Klar, ich komme.“ gehen würde, war dann
Er fuhr sein Auto in den doch überraschend.
Stadtteil Panorama, eine Art Ein Mitarbeiter der Stadt
Beverly Hills Thessalonikis, wollte ihm, wie jeden Mor-
am Hang gelegen, mit Pools gen, seine warme Pita brin-
und Pinien. Warum, fragte gen. Als er die Tür öffnete,
er sich, sollte hier eine Lei- schlug ihm eine Rauchwolke
che auf der Straße liegen? entgegen, Neoklis lag tot
Stathis hatte früher Fahr- hinter der Tür. Die Polizei
zeuge in einem Bergwerk ge- Neoklis’ Leichnam ermittelte, es muss einen
fahren, Baustoffe, dann war Kurzschluss im Haus gege-
er arbeitslos geworden, weil ben haben. Eine Polizistin
immer weniger gebaut wur- rief die Feuerwehr und ein
de. Er hatte eine Frau und Bestattungsunternehmen an.
drei Kinder zu versorgen Die Bestatter legten Neo-
und war auf die Idee gekom- klis in den Totensack und tru-
men, in Panorama ein Be- gen ihn in den Leichenwa-
stattungsinstitut zu eröffnen. Von der Website Shortnews.de gen. Dann wollten sie ihr
Es dürfte nicht so schwer Geld, 250 Euro. Aber es gab
sein, Tote abzuholen und auf Friedhöfe zu fahren, dachte kein Geld im Haus von Neoklis Kygais. Zwar hatte Neoklis
er, während er die Menschen auf der Straße beobachtete 1000 Euro auf dem Konto, aber die waren am Vortag vom
und von vielen Toten träumte. Finanzamt gepfändet worden, weil er die Steuern für die
Eine Zeit lang beobachtete er damals auf dem Gehweg Schenkung nicht bezahlt hatte.
einen alten Mann mit drei Hunden, der den Obdachlosen „Was soll dann jetzt passieren?“, fragte die Polizistin
Essen gab. Bald jedoch hatte Stathis dafür keine Zeit mehr, die Bestatter.
sein Geschäft gedieh, er eröffnete sechs weitere Filialen. „Wir lassen ihn hier“, sagten die.
Mit den Jahren wurde das Geschäft zäh. Es gab immer Sie hoben die Leiche aus dem Wagen und legten sie
mehr Bestattungsinstitute, wahrscheinlich weil es eine kri- auf den Asphalt.
senfeste Branche zu sein schien. Aber Stathis war immer Die Polizistin konnte erst mal nicht glauben, was sie
ein Kämpfer, er arbeitet heute mit Krankenhäusern zu- sah. Sie überlegte eine Weile, dann rief sie Stathis an.
sammen und holt Leichen für wenig Geld aus dem ganzen Der Bestatter Stathis Kessaniotis legte den Leichnam
Land. „Ich glaube daran, dass man alles, was man im Le- von Neoklis Kygais in sein Auto und fuhr ihn kostenlos
ben gibt, eines Tages zurückbekommt“, sagt er, als er in ins Krankenhaus. Später wurde der Leichnam im Krema-
einem seiner Büros seine Geschichte erzählt, mit einer torium aufgebahrt, nach drei Tagen fuhr auch Stathis noch
Stimme, die noch den Staub des Bergwerks trägt. einmal hin. Da erst sah er das Gesicht des Mannes.
An jenem Samstagvormittag rollte er langsam vor das „Da habe ich ihn erkannt“, sagt Stathis. Es war der alte
Anwesen, das ihm die Polizistin genannt hatte. Der Tote Mann mit den Hunden, der eine Weile lang vor seinem
lag vor dem Tor auf dem Asphalt in einem dunkelblauen Büro in Panomara den Obdachlosen Essen gegeben hatte.
Leichensack, der seitlich geöffnet war. Eine Decke be- In dem Moment fasste Stathis den Entschluss, dass die-
deckte den Kopf des alten Mannes. ser Mann keine einfache Beerdigung bekommen sollte.
Neoklis Kygais, geboren am 25. Februar 1931 als Kind Er ließ Blumen kaufen, eine Anzughose, Schuhe, So-
von Fischern, war in den Siebzigern in diese Gegend cken, ein Hemd, blütenweiß. Er bestellte vier Männer, die
gekommen, war früher Seefahrer, hatte bei Mönchen den Sarg tragen sollten. Die Fahrt zum Friedhof übernahm
gelebt und dort einen reichen Arzt kennengelernt, der er selbst, in seiner besten Limousine. Barbara Hardinghaus

DER SPIEGEL 21 / 2017 49


VITTORIO ZUNINO CELOTTO / GETTY IMAGES

Duo Gahan, Gore 2016: Die Söhne, die Nietzsche und Nena nie hatten
Gesellschaft

Wie eine Ehe, nur länger


Karrieren Martin Gore und Dave Gahan verbindet seit 37 Jahren eine wunderbare
Feindschaft, die Depeche Mode heißt. Ein Gespräch mit zwei Unsterblichen des Pop
über Neid, Drogen und Deutschland. Von Maik Großekathöfer und Guido Mingels
SPIEGEL: Ihr deutsches Lieblingswort?

D
ies ist eine andere Depeche-Mode-
Geschichte geworden, als wir sie Gahan: „Nein!“
eigentlich schreiben wollten, Ver- Gore: „Schadenfreude“.
zeihung. Wir hatten vor Monaten um ein
Gespräch mit Martin Gore gebeten, mit ihm Weiter kamen wir dann nicht mehr in der
allein. Gore ist der kreative Kopf dieser Analyse des spezifisch Germanischen bei
Band, die zu den einflussreichsten der Pop- dieser englischen Band mit französischem
geschichte zählt, 37 Jahre gibt es sie nun, Namen. Ihre Musik, vom Genre her Elek-
100 Millionen verkaufte Platten, kürzlich tropop, ist schon „rheinisch-preußisch“ ge-
ist das 14. Studioalbum („Spirit“) erschie- nannt worden. Vielleicht liegt es an der
nen. So war es zugesagt und abgemacht. Kombination von naivem Weltschmerz in
Mit David Gahan, dem Sänger und den Texten und bombastischem Sound,
Frontmann, wollten wir nicht so dringend von Depression und Pathos. Wir Deutsche
reden, weil mit dem alle immer reden. Der mögen ja so was. Den Briten sind Gore/
Plan war, mit Gore ein langes Gespräch Gahan womöglich zu unironisch. Depeche
über seine besondere Beziehung zu Mode sind die Söhne, die Nietzsche und
Deutschland zu führen und, umgekehrt, Nena nie hatten.
über die besondere Liebe der Deutschen
zu seiner Musik, zur Musik seiner Band, SPIEGEL: Wir möchten mit Ihnen über Ihr
INTERTOPICS

die in diesem Land so großen Erfolg hat Verhältnis zueinander reden, okay?
wie kaum andernorts und offenbar mehr Gore: (nickt)
als in der Heimat Depeche Modes, Groß- Musiker Gore, Gahan 1985 Gahan: Oh, das ist mutig. Dann mal los!
britannien. Der aktuelle Tourplan sieht Zeit der Unschuld
volle zehn Arenakonzerte in Deutschland Klar ist, dass Martin Gore und David Ga-
und der Schweiz vor, nur ein einziges in han nichts geworden wären ohne den an-
England. Der „Entdecker“ der Band, der Beziehung oder Nichtbeziehung so legen- deren, gemeinsam aber wurden sie zu Gi-
legendäre Gründer des Musiklabels Mute där ist? Vielleicht wird ja eine Art Paar- ganten. Das wissen sie mittlerweile auch
Records, Daniel Miller, wurde deshalb therapiesitzung draus. Vielleicht können selbst. Ohne diese Freundfeindschaft, die
schon mit dem Satz zitiert, dass Depeche wir etwas lernen: über Konfliktmanage- die beiden verbindet und trennt, wären
Mode „die größte deutsche Band“ sei. ment in Langzeitpartnerschaften. diese zwei Männer, jeder für sich, längst
Und jetzt, ab kommenden Samstag, sind Neuer Plan also: Wir reden mit Gore über verschwunden in der Bedeutungslosigkeit.
wieder Depeche-Mode-Festwochen in Gahan und mit Gahan über Gore und stellen Zusammen aber sind sie zum fixen Zwei-
Deutschland, den ganzen Juni über tourt beiden dieselben Fragen. Wir wollen versu- gestirn am Pophimmel geworden, das mitt-
die Band durchs Land, in Leipzig geht es chen das seltsame Verhältnis dieser so unglei- lerweile ebenso hell leuchtet wie andere,
am 27. Mai los. Mehr als eine halbe Million chen ewigen Gefährten verstehen zu lernen. ältere Doppelsterne an diesem Firmament:
Zuschauer werden zusammenkommen. Die Gespräche, getrennt geführt, werden Lennon/McCartney von den Beatles, Jag-
Dann, wenige Tage vor dem Interview, dann im Text zusammenmontiert. Ein paar ger/Richards bei den Rolling Stones,
trifft eine Nachricht des Managements ein: kurze Quatschfragen haben wir dann doch Page/Plant von Led Zeppelin. Manche die-
ein Gespräch nur mit Martin Gore sei nun noch eingebaut, weil wir uns vom Deutsch- ser Duos kamen mindestens so schlecht
doch nicht möglich, die Band wolle das landthema nicht ganz lösen konnten. miteinander klar wie Gore/Gahan – und
nicht, es müsse mit beiden Herren gespro- das wirft natürlich die Frage auf, ob sich
chen werden, und kürzer. Herr Gore wolle SPIEGEL: Nennen Sie bitte drei Dinge, die die vielen großen Männergespanne der
die Band nicht allein repräsentieren, das Sie an Deutschland mögen. Popmusik viel eher zum Erfolg geprügelt
könnte zu Verstimmungen bei Herrn Ga- Gore: Weizenbier! Das vermisse ich am als beflügelt haben.
han führen, man bitte um Verständnis. meisten, seit ich nicht mehr trinke. Und Als wir den beiden Briten – Gahan ist
Ach, denkt man, sind die alten Kämpfe Pumpernickel. Und drittens mag ich die 54, Gore 55 Jahre alt – im Gespräch solche
der beiden um die Depeche-Deutungsho- deutsche Sprache insgesamt. Das sagen Vergleiche vorschlagen, weisen sie sie nicht
heit also immer noch nicht ausgestanden? wohl nicht allzu viele Leute. zurück; das wäre falsche Bescheidenheit,
Keine Altersmilde im Hause Gore/Gahan? Gahan: Deutsche Autos! Aah. Porsche! Als damit Koketterie. Sie kennen mittlerweile
Dann der Gedanke: Ist ja eigentlich ich jünger war, hatte ich ein paar davon. ihre historische Größe.
noch viel besser. Wann hat man schon Ge- Was noch? Ich mag die Deutschen gene-
legenheit, mit zwei Weltstars gleichzeitig rell, die Leute. Mir gefällt, dass sie immer Gore: Diese Dualität, egal, ob bei uns oder
zu sprechen, respektive hintereinander? so pünktlich sind. Denn wenn ich es dann anderen Bands, erzeugt Kraft, Energie. Die
Noch dazu mit zweien, deren komplizierte nicht bin, ist es trotzdem okay. Paarungen, die Sie erwähnen, funktionie-
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Gesellschaft

ren, haben funktioniert. Oft gerade durch den, von denen er seit Jahrzehnten eine um Hit, Gahan sang, was ihm vorgesetzt
ihre Spannungen. Wie bei uns wohl auch. oder zwei pro Platte und pro Konzert zu wurde, „Everything Counts“, „People Are
Gahan: Viele dieser Paare waren auch Part- deklamieren pflegt, als Ruhepausen im People“, „Stripped“. Das war Phase eins
ner beim Komponieren der Songs, das ist Soundgewitter, in scharfem Kontrast zu ihrer Freundschaft, die Zeit der Unschuld.
bei Martin und mir anders. Er schreibt, ich seinem lauten Bariton-Kompagnon. Den Gipfel ihres Ruhms erreichte die
singe – meistens. Trotzdem sind wir musi- Es ist vieles geradezu gegenteilig bei die- Band dann in den frühen Neunzigern. Gore
kalisch abhängig voneinander. Ich war im- sen beiden, denkt man, wenn man ihnen hatte für „Personal Jesus“ die E-Gitarre aus-
mer absolut abhängig von Martins Songs. gegenübersitzt. Die Haare: Gahans dunkle gepackt, Gahan sang „Enjoy The Silence“,
Matte, Gores goldene Locken. Die Sitzhal- die bis heute größte Depeche-Mode-Hym-
Ein starker, sehr ehrlicher Satz für einen tung: gerade und unbeweglich bei Gore, ne. Die Erfolgsformel: Der extrovertierte
professionellen Egomanen wie Gahan, das nervöses Herumlümmeln bei Gahan. Die Gahan bringt die dunklen Fantasien des
öffentliche Gesicht der Band, der schon Sprache: klar bei Gore, vernuschelt bei Ga- grüblerischen Gore zum Leuchten. Viel spä-
von wesentlich ungesünderen Substanzen han. Sogar die Zähne: Gores sind gemacht, ter sagte Gahan einmal über jene Zeit und
abhängig war. An einer davon ist der es ist, als ginge ein Scheinwerfer an, wenn über sich als Sänger der Lieder seines
Mann ja bereits einmal gestorben, wie man er den Mund aufmacht. Gahan hingegen Herrn: „Ich fühlte mich ein bisschen wie
weiß, klinisch tot für ein paar Minuten, versammelt eine schwer beschreibbare ein Betrüger. Es sind nicht meine Worte.
1996, wegen eines Speedballs, eines Ge- Sammlung an Reißwerkzeugen in seinem Es sind nicht meine Gefühle.“
mischs aus Kokain und Heroin. Vielleicht Kiefer, spitz und schief, wie sie einem Wolf Dann kamen die Drogen und machten
sagt sich David Gahan seither: Tot war ich gut anstünde. Passt natürlich zu seinem ani- die Freunde zu Fremden, Phase zwei. Da
schon, da kann ich mit Depeche Mode ja malischen Bühnengeheul. Passt überhaupt war nun überall dieses große Zuviel an al-
ewig leben. Martin Gore wiederum war gut zu seinem gierigen Leben. lem, zu viel Ruhm, zu viel Liebe, zu viele
viele Jahre alkoholsüchtig. Eine kleine Sie sind Antipoden in allem. Gore ist das Kameras, zu viel Geld, zu viel Sex, zu vie-
Drogenfrage darf also nicht fehlen. unsichtbare Fundament, auf dem diese gro- le oder die falschen Rauschmittel. Das hat
ße Oper namens Depeche Mode steht, in schon stärkere Männer umgehauen als die-
SPIEGEL: Ihre bevorzugte Droge heute? der Gahan die ewige Hauptrolle singt und se schmächtigen Jungs aus Basildon, Essex,
Gore: Rot fermentierter Reis. Das ist was tanzt. Wer Depeche Mode nur vage kennt, Ostengland. Damit Gahan überhaupt auf-
Chinesisches, Reis mit Schimmelpilz. kennt dennoch sicherlich David Gahans treten konnte, wurde ihm vor den Konzer-
Gahan: Aspirin! Es ist sicher die nützlichste Stimme, sein Gesicht, ist vertraut mit seinen ten Kortison gespritzt. Gore trank unab-
Droge. raumgreifenden Gebärden. Von Martin lässig, erlitt Krampfanfälle, brach mehr-
Gore aber kann der achtlose Popkonsument mals zusammen. Sie sprachen kaum noch
Wir sitzen in einer Suite des Hotels Waldorf auch nach 37 Jahren noch nie gehört haben. miteinander, fuhren jeder für sich vom Ho-
Astoria in Berlin, standesgemäß. Es ist einer tel zur Konzerthalle, benutzten getrennte
dieser Pressetage, an denen Weltstars wie SPIEGEL: Sie scheinen beide immer noch Garderoben. Auf Tour begleiteten sie ein
Gore/Gahan ein paar internationalen Jour- viel Spaß zu haben auf der Bühne. Drogendealer und ein Psychiater. Gahan
nalisten ein paar Minuten Redezeit gönnen. Gore: Vielleicht hat es damit zu tun, dass ereilte während eines Auftritts ein Herzin-
In der Lobby warten schon diverse Kollegen wir kaum glauben können, dass wir nach farkt, im August 1995 versuchte er, sich um-
darauf, von den Assistentinnen hereinbeor- über 30 Jahren noch die Möglichkeit ha- zubringen. Phase zwei war der Abgrund.
dert zu werden. Beim Interview gibt es Pres- ben, Konzerte zu geben. Dass Zehntau-
sebeauftragte, die dabeisitzen und zwei sende Menschen auf uns warten, dass sie SPIEGEL: Haben Sie einander beizustehen
Minuten vor Ende der Zeit darauf hinwei- unsere Alben hören und uns spielen sehen versucht in Ihren Krisen?
sen, dass nun doch bitte die letzte Frage wollen. Wir haben nie damit gerechnet. Gore: Ich habe lange gebraucht, um zu er-
kommen soll. Aber, das muss man sagen, SPIEGEL: Es sieht nicht so aus, als würden kennen, dass Dave sich selbst zerstört.
Gore/Gahan sind gut gelaunt, beide sehr Sie beide bei Auftritten viel interagieren. Auch ich hatte ja meine Probleme, konnte
freundlich, Gore geradezu wohlerzogen, Ga- Jeder macht sein Ding, korrekt? aber immerhin noch irgendwie weiterma-
han etwas rauer, rockstarmäßiger, aber bei- Gahan: Wir kommunizieren miteinander chen, selbst wenn ich betrunken war. Wir
de immer ohne jede Herablassung, die ihnen durch die Songs. Ich habe eine Interpreta- hatten beide unsere tiefsten Krisen zur sel-
ja durchaus zustünde, so als Unsterblichen tion eines Songs, und Martin hat seine ei- ben Zeit, sodass wir nicht die Kraft hatten,
im Gespräch mit Gewöhnlichen. gene. Aber irgendwie kommt das dann bei füreinander da zu sein. Es gab Zeiten, da
uns beiden zusammen, obwohl Mart und war es sehr schwer, mit ihm zu arbeiten.
SPIEGEL: Was ist der schlechteste Song, den ich sehr verschieden sind. Martin ist aller-
Depeche Mode je aufgenommen hat? dings natürlich der Hauptkomponist bei Sätze wie diesen kann man in den Biogra-
Gahan: Oh Gott. Spontan fällt mir „Sea of uns. Ich kann bloß ab und zu einen Song fien diverser großer Rockbands lesen.
Sin“ ein. Da gab es die Zeile „Sea of Sin / beisteuern, was großartig ist. Keith Richards zog 2010 und nach fast 50
I’m swimming in“. Jahren Rolling Stones das Fazit, dass Mick
SPIEGEL: Das war dann vielleicht auch eine Ein Satz von plakativer Bescheidenheit. Jagger „es sehr schwer macht, mit ihm be-
der schlimmsten Songzeilen? Wie David Gahan hier die schöpferische freundet zu sein“. Die Beatles waren an
Gahan: Wahrscheinlich. Hey, es war kein Führungsrolle seinem Partner zuschreibt, der Rivalität von John Lennon und Paul
Song von mir, es war einer von Martin. hat etwas Rührendes und auch etwas Tra- McCartney innerlich zerbrochen, und noch
Gore: Ich nehme ein Stück von „Speak and gisches, wenn man um die Auseinander- lange nach Lennons Ermordung versuchte
Spell“, unserer ersten Platte, die Songs hat setzungen weiß, die die beiden darum ge- McCartney das Urheberkürzel „Lennon/
damals noch Vince Clark geschrieben. Ich führt haben. Es ist die alte, lange ungelöste McCartney“ für etliche Songs in „Paul
nehme „What’s Your Name?“. Übel. Frage der Gore-Gahan-Gewaltenteilung. McCartney and John Lennon“ umzudre-
Wie bei jedem ernst zu nehmenden Lie- hen. Berühmte Streithähne der jüngeren
Nun lacht Martin Gore sein mächtiges, keh- bespaar ging auch diese Beziehung durch Popkulturgeschichte sind etwa James Het-
liges Lachen durch die Suite, das so verschiedene Phasen. Am Anfang, in den field und Lars Ulrich von Metallica oder
schlecht passt zu seiner hageren Gestalt, Achtzigern, sie waren fast noch Teenager, die Brüder Noel und Liam Gallagher von
noch schlechter zu den hauchzarten Balla- lief alles wie von selbst, Gore schrieb Hit Oasis. Letztere haben sich 2009 schließlich
52 DER SPIEGEL 21 / 2017
getrennt, nachdem der eine backstage mit
einer Gitarre auf den anderen eingeschla-
gen hatte. Mit ihren Solokarrieren kamen
beide dann kaum mehr vom Fleck. Denn
Paarungen dieser Art sind wie Chemika-
lien, die, wenn sie zusammenkommen,
eine enorme Sprengkraft entwickeln, für
sich allein aber harmlos sind.
Mitte der Neunziger stand auch Depeche
Mode kurz vor der Auflösung. Es kam so
weit, dass Gore, je mehr Gahan sich ruinier-
te, darüber nachdachte, seine neuen Songs
auf einem Soloalbum zu veröffentlichen.
Die Nummer vier bei Depeche Mode, Alan
Wilder, war da bereits ausgestiegen und die
Nummer drei, Andrew Fletcher, spielte wie
seit je und wie bis heute keine große Rolle.
Aus den Depeche-Mode-Abstürzen jener
Jahre hat der Schweizer Schriftsteller Daniel
Mezger 2015 einen Bühnentext gemacht, ei-
nen fiktiven Monolog David Gahans, eine

KATJA OGRIN/EMPICS / ACTION PRESS


fiese Zumutung mit dem Titel „Als ich ein-
mal tot war und Martin L. Gore mich nicht
besuchen kam“. An manchen Stellen malt
der Autor sich aus, wie sich die Gespräche
zwischen Gore und Gahan abgespielt haben
könnten (Im Text hat Gahan gerade mit Brit-
ney Spears was laufen, kann sich aber ihren
Namen nicht merken).
Frontmann Gahan in Birmingham 2014: Sänger der Lieder seines Herrn „Martin ruft an. Martin sagt: Dave, wir
müssen reden. Ich sage: Reden wir. Martin
schweigt. Ich schweige. Martin sagt: Ich ha-
be mir deine Gesangs-Takes angehört. Ich
Martin Gore: „Wir hatten unsere tiefsten Krisen zur sage: Kennst du diese Wittney Seares, die
wäre was für dich. Klein und 15. Martin
selben Zeit und nicht die Kraft, füreinander da zu sein.“ sagt: Das ist doch keine Band mehr, so
ohne Alan und nur mit Fletch, der eh nichts
kann, und mit dir da drüben in L. A. Ich
sage: Die ist richtig gut, diese Sidney Cheers,
hüpft wie ich zu meinen besten Zeiten. Er
sagt: Ich habe mir überlegt, wenn du keine
Lust hast und keine Stimme, dann kann
ich das Album auch allein machen. Ich sage:
Das passt ganz gut, ich wollte mir heute eh
noch eine Kugel in den Kopf schießen.“
David Gahan hat überlebt, und als es
DON MCCULLIN / AG. FOCUS

ihm wieder besser ging, begann in den Nul-


lerjahren die nächste Phase dieser öffent-
lichen Männerfreundschaft. Und wie in ei-
ner Ehe, die auf der Kippe steht, sagte Ga-
han nun gleichsam zu Gore: Martin, ich
brauche etwas Zeit für mich allein. Er
machte ein Soloalbum. Er machte dem
Chef Konkurrenz. Nun, endlich, schien
Gore verstanden zu haben, und auf „Play-
ing the Angel“, 2005, durfte nach 25 Jahren
auch Gahan erstmals ein paar Songs bei-
steuern. Das war, im dritten Jahrzehnt, die
Phase drei ihrer Beziehung: die Zeit der
MICHAEL PUTLAND / GETTY IMAGES

Kompromisse. Wie in einer guten Ehe auch.


DAVE HOGAN / GETTY IMAGES

SPIEGEL: Wie war das, als Dave begann,


Songs zu schreiben?
Gore: Es war ein Schock für mich. Bis dahin
war ich der alleinige Komponist seit 20
Jahren. Es hat eine ganze Weile gedauert,
Bandmitglieder von Stones 1978, Beatles 1968, Oasis 2008: Männerduos, die sich lieben und hassen bis ich mich daran gewöhnt habe. Damals
DER SPIEGEL 21 / 2017 53
Gesellschaft

auch einen Eheratgeber schreiben könnte.


Wer nach Jahrzehnten noch oder wieder zu-
sammen ist, die tiefsten Krisen überstanden
hat, der bleibt dann auch dabei. Die reife
Phase jeder Liebe ist der permanente Waf-
fenstillstand. Auf Tour gehen Gore/Gahan
nun ohne Dealer, ohne Psychiater, dafür mit
Physiotherapeuten, von denen sie vor und
nach den Konzerten massiert werden.
Manchmal reisen auch Frauen und Kinder mit.

SPIEGEL: Sie verstehen sich ziemlich gut


jetzt, richtig?
Gahan: Absolut. Es gab Brüche über die
vielen Jahre, wie das halt so passiert, wenn

THOMAS BARTILLA
man lange miteinander zu tun hat. Es ist
wie in einer Ehe. Man verbringt verdammt
viel Zeit miteinander. Es war immer inte-
ressant mit uns, und es war niemals leicht.
Popstars Gahan, Gore im Berliner Olympiastadion 2008: Permanenter Waffenstillstand SPIEGEL: Es ist wie eine Ehe, nur länger.
Gahan: Yeah, die Band hat zwei meiner
Ehen überlebt!
David Gahan: „Es war immer interessant mit SPIEGEL: Apropos altes Ehepaar: Hat Mar-
tin irgendeine Eigenart auf der Bühne, die
uns, und es war niemals leicht.“ Ihnen auf den Wecker geht, Dave?
Gahan: Hm. Da fällt mir jetzt nichts ein.
Ich achte auch nicht so sehr darauf, was er
hat Dave gesagt, du bist ein Diktator. Aber Leben, eigene Frauen und Exfrauen, eigene tut, muss ich zugeben.
ich habe mich nie als Diktator gesehen. Kinder und Stiefkinder, eigenes Hausperso- SPIEGEL: Wie ist das bei Ihnen, Martin?
SPIEGEL: Kein Diktator empfindet sich als nal und eigene Zweit- und Drittwohnsitze. Gore: Oh ja, da gibt es etwas: Egal, wie
Diktator. heiß es ist, Dave hat immer solche Heiz-
Gore: Auch wieder wahr. Aber ich habe SPIEGEL: Wie oft haben Sie Kontakt, wenn strahler vor sich auf der Bühne, die 100
nie zu ihm gesagt: Du kannst keine Songs Sie nicht auf Tour oder im Studio sind? Grad warme Luft rausblasen. Wir spielen
schreiben, du darfst keine Songs schreiben. Gahan: Wir schicken uns manchmal E- im Sommer in den Südstaaten der USA,
SPIEGEL: Beim neuen Album und zum ersten Mails, fragen, wie geht’s dir so? Aber wir es ist schwül und heiß, aber Dave muss
Mal in der Bandgeschichte hat es nun mit sehen uns nicht sehr oft. seine Strahler anhaben!
„You Move“ ein Lied, das Sie beide gemein- Gore: Eigentlich kaum. Wir telefonieren SPIEGEL: Womit würden Sie heute Ihre Be-
sam geschrieben haben, auf die Platte ge- vielleicht ein- oder zweimal im Jahr. ziehung vergleichen? Sind Sie beste Freun-
schafft, nicht nur als Bonustrack. Wie ent- SPIEGEL: Ganz schön selten. de? Beste Feinde? Oder eben tatsächlich
steht ein gemeinsamer Gore/Gahan-Song? Gore: Nun, wir sind schon so lange zusam- ein altes Ehepaar?
Gahan: Nun, zunächst mal entsteht er nicht men. Es ist wie in einer alten Familie, Gore: Wir sind Brüder, was sonst?
wirklich gemeinsam, denn wir sitzen jetzt wenn alle längst ausgezogen sind und an
nicht im selben Raum dafür oder so. verschiedenen Orten leben: Wenn es Man kann den Hauptgrund der Magie die-
SPIEGEL: Nicht? Sondern? nichts gibt, was man wirklich sagen muss, ser Band leicht übersehen, wenn man dau-
Gore: Ich schreibe immer allein, in meinem dann gibt es keinen Grund anzurufen. ernd darüber nachdenkt, wie unvereinbar
Studio in Santa Barbara. Bei dem Song SPIEGEL: Sie rufen Ihre Mutter nur einmal diese beiden Egos doch sind. Mag sein,
hatte ich eine Idee und schickte Dave ein im Jahr an? dass Gore der Erfinder ist und Gahan nur
Sound-File per E-Mail. Gore: Ha! Wenn ich das so machen würde, der Interpret; mag auch sein, dass Gores
Gahan: Irgendwann fielen mir dann mitten in bekäme ich wohl ziemlichen Ärger. Kunst unsichtbar wäre ohne Gahans Stim-
der Nacht eine Melodie und eine Zeile ein, me und Gesicht. Aber das Wichtigste ist:
„I like the way you move for me tonight“, In der Hotelsuite, wo die Interviews statt- In fast allen großen Liedern von Depeche
die dazu passte. So kam alles zusammen. finden, ist ein kleines Buffet aufgebaut, mit Mode gibt es diesen Moment, wenn sich
gesunden Getränken und Früchten, Gore die Stimmen der beiden zum Refrain ver-
Wir dürfen uns wohl eine Über-Band wie ist Vegetarier und überhaupt, wie man hört, einen, zu diesem hypnotischen, unzer-
Depeche Mode nicht mehr wirklich als ein ziemlicher Ernährungsfanatiker. Dort trennlichen Doppelklang. Und das ist auch
„Band“ vorstellen, als verschworene Gruppe treffen sich Gore und Gahan zwischen den der Augenblick, da sich beim Zuhörer zu-
von Musikern, die gemeinsam Kunst ma- Interviews, um an ein paar Trauben und verlässig die Haare auf den Armen auf-
chen, sich einen Lebensraum und eine Lei- Nüsschen zu knabbern, sie haben sich of- richten, da im Publikum die Glückshormo-
denschaft teilen. Eher gleichen sie einer glo- fenbar seit dem Vorabend nicht gesehen, ne fließen, so wie jetzt wieder, wenn in
bal vernetzten Firma mit unschätzbarem sie begrüßen und umarmen sich. deutschen Stadien Zehntausende mitsin-
Markenwert, im Besitz von drei Multimillio- Martin Gore und David Gahan befinden gen, mitschreien: All I ever wanted / All I
nären, mit bestimmt Hunderten von Ange- sich mittlerweile in Phase vier ihrer Partner- ever needed / Is here in my arms.
stellten, Zulieferern und anderen Mitprofi- schaft. Auf die Perioden der Unschuld, des
teuren. Die Chefs selbst führen eine rei- Abgrunds und der Kompromisse folgt nun Video:
bungsmindernde Fernbeziehung, sie woh- die Harmonie. Diese Entwicklungsschritte, „Das ist Folter!“
nen in Kalifornien (Gore), New York (Gahan) wenn man drüber nachdenkt, erscheinen so spiegel.de/sp212017mode
und London (Fletcher) und haben je eigene allgemeingültig, dass man nach dem Schema oder in der App DER SPIEGEL

54 DER SPIEGEL 21 / 2017


ganz logisch.“ Sie verzichtete darauf, mir die Sache zu er-
klären, ich würde es sowieso nicht begreifen.
Vor meinen Freunden prahlte ich von nun an mit mei-
nem nachhaltigen Smartphone. Ich löste die Verkleidung
der Handyrückseite, um alle Module zu zeigen, die ich
theoretisch selbst austauschen könnte. Ich kannte jetzt
Test, Test Wörter wie „display modul“ und „daughterboard“, die
selbst Technikhorst nicht erklären konnte.
Die Euphorie hielt nicht lange an, denn das Gerät zeigte
Homestory Vom Versuch, Apple zu schon bald Schwächen. Ich fühlte mich zunehmend, als
hätte ich statt eines Telefons ein Tamagotchi gekauft, das
trotzen – ein Jahr mit einem umsorgt werden muss – nur kannte ich seine Bedürfnisse
politisch korrekten Smartphone leider nicht.
Als irgendwann auch Technikhorst nicht mehr wei-

V
or gut einem Jahr, es war kurz vor Mitternacht, terwusste, trat Adrian in mein Leben. Ich stelle ihn mir
saß ich mit dem Laptop auf dem Schoß im Bett. jung vor, mit Harry-Potter-Brille und wuscheligen Haaren.
Wichtige Dinge entscheide ich gern kurz vor dem Adrian arbeitet in den Niederlanden, im Supportteam
Einschlafen. Ich wollte ein neues Leben anfangen, telefon- von Fairphone. Seit einigen Monaten schreiben wir uns
technisch gesehen. Ein Mitarbeiter im Apple Store hatte mir regelmäßig E-Mails.
vor Kurzem erklärt, es lohne sich nicht, mein altes iPhone 4 Letztens hat der Wecker meines Handys nicht geklin-
zu reparieren. Er machte mir ein Angebot, ein unmora- gelt, aber das habe ich Adrian verschwiegen. Auch dass
lisches, wie ich fand: ein neues iPhone zu einem stark re- ich nicht tippen oder Anrufe entgegennehmen kann, wenn
duzierten Preis. Das alte könne ich einfach dalassen. mein Handy am Ladekabel hängt, habe ich ihm lange
Wenige Monate zuvor war ich auf einer Elektroschrott- nicht erzählt. Ich beschränkte mich auf die wesentlichen
halde im westafrikanischen Ghana gewesen. Ich sah acht, Probleme. In den meisten Mails ging es um die Neustarts,
neun Jahre alte Kinder, die, die mein Handy etwa zehn-
anstatt zur Schule zu gehen, mal täglich unaufgefordert
mit vernarbten Fingern Metall- durchführte. Und um das
teile aus alten Handys pulten – Mikrofon, das nicht funktio-
aus unserem Schrott. Ich woll- nierte, weshalb ich nur noch
te kein neues iPhone. mit eingeschaltetem Lautspre-
Ich hatte von einem nieder- cher telefonieren konnte.
ländischen Start-up gehört, Adrian versuchte, mich im-
das ressourcenschonend und mer wieder zu beruhigen. Sei-
menschenfreundlich Handys ne ersten Zeilen waren meist
produziert, Fairphones. Keine entschuldigend und enthielten
Kinderarbeit, keine Rohstoffe die Bitte, mich noch etwas zu
aus Minen, die Bürgerkriege gedulden. Dann folgten In-
finanzieren. Einzelteile lassen struktionen, was ich zu prüfen
sich austauschen, und der Her- und zu versuchen hätte, was
steller wünscht, dass man sein also Technikhorst prüfen und
Handy fünf bis sechs Jahre versuchen sollte mit den Up-
behält. dates, die von Adrian kamen.
Kürzlich war das zweite Mo- Test, Test, Test, nein, das Mi-
dell erschienen. Ich überflog krofon funktionierte nicht.
Einträge in Foren und Face- Ein knappes Jahr war inzwi-
book-Gruppen, in denen sich schen vergangen, ich gab auf.
Fairphone-Besitzer austauschten. Mir wurde klar: Das Mit dem Laptop im Bett, abends um halb elf, bestellte ich
Fairphone ist ein Handy für Tüftler und IT-Nerds – das mir ein iPhone. Ich redete mir ein, dass ich das ja verkau-
bin ich nicht. Ich habe es gern, wenn Dinge funktionieren. fen könnte, falls mein Fairphone wieder funktionierte.
Glücklicherweise ist meine beste Freundin Mathema- Die Wahrheit ist: In nur einem Jahr hatte ich zwei neue
tikerin und trägt den Spitznamen Technikhorst. Technik- Handys gekauft, und ein drittes lag in der Schublade. Öko-
horst liebt es, Handys zu reparieren. Sie hatte sich selbst moralisch gesehen: Worst Case.
ein faires Handy bestellt und versprochen, mir zu helfen. Adrian hatte inzwischen eingelenkt und war bereit, die
Ich orderte also das Fairphone 2 im Internet. Es kostet Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Ich schickte mein
rund 520 Euro – teuer, aber auch nicht teurer als ein Fairphone in die Niederlande. Kurze Zeit später schrieb
iPhone. Nach etwa acht Wochen bekam ich ein Paket: mir Gino, Adrians Kollege, er sei froh, mir mitteilen zu
„Open it, it’s yours“, stand auf einer wunderschönen blau- können, dass mein Fairphone wieder in Ordnung sei.
weißen Verpackung. Ich legte sie samt Inhalt eine Weile Vor ein paar Tagen zerschellte das iPhone meiner
auf meinen Nachttisch. Ich brauchte noch zwei Wochen, Schwester auf dem Fußboden und zerfiel in seine Einzel-
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL

bis ich endgültig bereit war, den Umstieg zu wagen. teile. Ich gab ihr mein iPhone. Meine Schwester telefoniert
Ich schaltete ein. Mein Fairphone blieb stumm, der Bild- viel damit. Ich kann momentan auch telefonieren. Aller-
schirm schwarz. Es folgten ein paar Hieroglyphen. dings komme ich unterwegs nicht ins Internet, das Update
Zigarette im Mundwinkel, mein Handy in den Fingern hat nicht geholfen, Technikhorst kann per Ferndiagnose
saß Technikhorst am nächsten Morgen an meinem Kü- nichts tun. Was kann ich machen? Eine Mail schreiben.
chentisch. „Es war nur eine Kleinigkeit“, sagte sie, „alles „Dear Adrian“. Jana Sepehr

DER SPIEGEL 21 / 2017 55


JÜRGEN HEINRICH / SZ PHOTO
Sanierungsarbeiten an Autobahn

Investitionen

Darf’s ein bisschen mehr sein?


Neue Prognosen widersprechen der These, Deutschland investiere zu wenig.
Das Bundesfinanzministerium (BMF) sagt für die kommen- zulegen. Die Fachleute von Finanzminister Wolfgang
den Jahre einen Boom bei den öffentlichen Investitionen Schäuble (CDU) heben außerdem hervor, dass die öffent-
voraus. „Der Auftragseingang für den öffentlichen Hoch- lichen Investitionen auch schon in der Vergangenheit viel
und Tiefbau bewegt sich auf einem Niveau, das zuletzt zur stärker gestiegen seien als in anderen europäischen Staaten.
Jahrtausendwende erreicht wurde“, heißt es im neuen Danach legten sie zwischen 2005 bis 2016 jährlich um
BMF-Monatsbericht, der nächste Woche veröffentlicht 3,8 Prozent zu, während sie in Frankreich nur um 0,6 Pro-
wird. Der Auftragseingang im Straßenbau sei sogar „ohne zent stiegen und in Italien und Spanien sogar sanken.
Beispiel seit der Wiedervereinigung“. Bis 2021 werden die Deutschland steht international häufig am Pranger, weil es
Investitionen von Bund, Ländern und Gemeinden dem nach Ansicht von Kritikern zu wenig investiere, um seine
Bericht zufolge jedes Jahr um durchschnittlich fünf Prozent hohen Leistungsbilanzüberschüsse abzubauen. rei

„Tagesschau“ kommt eine Analyse des Fach- Einkommen Seit 2006 ist der Niedriglohn-
Wirtschaft kaum blatts „Media Perspektiven“, Niedriglöhne steigen bereich, in dem sich 22 Pro-
ein Thema das vom Intendanten des Hes-
sischen Rundfunks herausge- Nach Jahren mit Reallohnver-
zent der Beschäftigen befin-
den, dann aber nicht weiter
Beim Nachrichtenflaggschiff geben wird. Demnach drehten lusten steigen seit 2010 auch gewachsen. Auch ist der Nied-
„Tagesschau“ hat Wirtschafts- sich 320 Sendeminuten ums die Stundenlöhne der Gering- riglohn keine Sackgasse. Von
berichterstattung offenbar kei- Wetter. Kernthemen in der verdiener wieder. Zu diesem den 20 Prozent Beschäftigten
nen hohen Stellenwert. Nur Wirtschaftsberichterstattung in Ergebnis kommt eine Studie mit den niedrigsten Löhnen
143 Minuten ging es 2016 um den TV-Nachrichten waren der des Deutschen Instituts für im Jahr 2010, die erwerbs-
klassische Wirtschaftsthemen VW-Abgasskandal, die Ceta- Wirtschaftsforschung, in der tätig blieben, gehörten fünf
aus Industrie oder Handel; und TTIP-Verhandlungen die Lohnentwicklung seit Jahre später mehr als die
der Börse wurden ganze sowie die Krise bei den deut- 1995 untersucht wird. Bis Hälfte nicht mehr zu den Ge-
4 Minuten gewidmet. Zum schen Großbanken. Noch we- 2010 stiegen demnach in ringverdienern. Das Nachse-
Vergleich: 483 Minuten wurde niger Wirtschaftsberichte gab Deutschland vor allem die hen hatten in den vergangenen
über Sport gesendet; mehr als es bei der ZDF-Konkurrenz realen Bruttostundenlöhne Jahren die Beschäftigten der
die Hälfte davon, nämlich 259 „heute“ sowie, erwartungsge- der Besserverdiener, im glei- mittleren Lohngruppen, deren
Minuten, machte der Fußball mäß, bei „RTL aktuell“ und chen Zeitraum breitete sich Verdienste im Vergleich unter-
aus. Zu diesen Ergebnissen den „Sat.1 Nachrichten“. mum der Niedriglohnsektor aus. durchschnittlich stiegen. mad

56 DER SPIEGEL 21 / 2017


Wirtschaft
Verkehr den Medien genannten
Dobrindt soll Maut- Zahlen nicht bestätigt. Eigene
betrug bekämpfen statistische Erhebungen lägen
aber nicht vor. „Es ist skan-
Die Grünen erheben schwere dalös, dass der Verkehrsminis-
Vorwürfe gegen die Bundes- ter überhaupt keinen Über-
regierung in Sachen Mautbe- blick über das Ausmaß der
trug durch Lkw. Einer Studie Manipulationen hat“, kriti-
der Universität Heidelberg siert der verkehrspolitische
zufolge weisen rund 20 Pro- Sprecher der Grünen, Ste-
zent der osteuropäischen phan Kühn. Dobrindt fehle
Lkw auffällige Stickoxidwer- die Bereitschaft, gegen die
te auf. Der Verdacht: Krimi- Manipulationen vorzugehen.
nelle Speditionen manipulier- Im Mittelpunkt des Skandals
ten ihre Systeme, weil sie steht der Harnstoff AdBlue.

UWE ANSPACH / DPA


dann weniger Maut zahlen In modernen Dieselmotoren
müssten. Das Verkehrsminis- wird er in den Abgasstrang
terium hat nun auf eine parla- eingespritzt und senkt den Naidoo
mentarische Anfrage der Grü- Stickoxidausstoß. Über den
nen hin bestätigt, der Bun- Einsatz sogenannter AdBlue-
desregierung sei das Problem Emulatoren kann die Harn- Produktionsfirmen „Marionetten“ im Vokabular
„aus der Kontrollpraxis des stoffeinspritzung lahmgelegt, ZDF hält an Partner rechter Populisten verfasst ist.
Bundesamtes für Güterver-
kehr bekannt“. Allerdings
der Bordelektronik aber
vorgegaukelt werden, der Naidoo fest Volksvertreter werden darin
als „Volks-in-die-Fresse-
hätten die Kontrollen die in Lkw fahre mit AdBlue. böl Das ZDF will weiterhin mit Treter“ bezeichnet, wütende
der Firma des umstrittenen Bauern würden sie „mit der
Sängers Xavier Naidoo zu- Forke“ vertreiben. Die ARD-
sammenarbeiten. Wie der Radiowellen NDR 2 und Bre-
Sender bestätigt, ist für die- men Vier hatten daraufhin
ses Jahr eine Show zu Ehren die Kooperation mit Naidoo
der Künstlerin Nena geplant. gestoppt. Das ZDF begrün-
Die soll zwar Thomas Gott- det die Entscheidung für
schalk moderieren und nicht Herr!Media damit, dass die
Naidoo – Produzent aber ist Firma „auf Musikproduktio-
das Mannheimer Unterneh- nen und Musikdokumenta-
men Herr!Media, zu deren tionen spezialisiert“ sei.
RALF HIRSCHBERGER / DPA

Gesellschaftern Naidoos Fir- Auch Thomas Gottschalk will


ma Söhne Mannheims GmbH bei seiner Zusage bleiben:
gehört. Naidoo war zuletzt „Nena und Naidoo sind für
in die Kritik geraten, weil der mich zwei Paar völlig ver-
Lastzüge
Text seines neuen Lieds schiedene Stiefel.“ akü

Kommentar

Unter Verdacht
Auch bei Betriebsräten sollte es Obergrenzen für das Gehalt geben.
Bernd Osterloh, der Betriebsratschef des VW-Konzerns, ist ler bei der Entwicklung an. Der Vorstand griff viele Vor-
jeden Cent wert, den er verdient, sofern man dies auf sein schläge auf. Kompetenz auf Bereichsleiterniveau gilt bei
Grundgehalt von 200 000 Euro bezieht. Das sollte man fest- Osterloh als unstrittig, zumal er das Angebot hatte, in den
halten, nachdem der Wolfsburger Arbeitnehmervertreter viel Vorstand zu wechseln, wo er über drei Millionen Euro ver-
Kritik einstecken musste, weil die Staatsanwaltschaft ermittelt, dient hätte.
ob Volkswagen ihm zu viel Geld überweist. Vorwerfen lassen muss sich Osterloh zweierlei. Erstens hat
Das entsprechende Gesetz ist schwammig. Betriebsräte sol- ihn das Gespür dafür verlassen, welches Gehalt vermittelbar
len nicht weniger verdienen als vergleichbare Arbeitnehmer. ist. Die 750 000 Euro, die er dank Boni in einem Spitzenjahr
Aber mit wem lässt sich der VW-Betriebsrat vergleichen? Mit verdient hat, sind es nicht. Es sollte nicht nur für Vorstände
dem Bandarbeiter? eine Obergrenze geben (bei VW 5,5 Millionen Euro), sondern
Wer Osterloh kennt, weiß, dass dessen Arbeit mit der ei- auch für Betriebsräte. Sie könnte bei 500 000 Euro liegen.
nes Bereichsleiters bei VW vergleichbar ist, der rund 200 000 Zweitens sollten die Betriebsratsvorsitzenden bei VW,
Euro verdient. Osterloh kann auf Augenhöhe mit Vorständen Daimler, Deutsche Bank, Siemens und anderen Dax-Konzer-
diskutieren. Er hat Sparvorschläge für mehrere Milliarden nen ihr Gehalt offenlegen, so wie es die Vorstände seit Jahren
Euro zusammengestellt. Im Detail führte er die verschwende- machen. Wer diese Transparenz scheut, setzt sich dem Ver-
rische Vielfalt an Motoren, Getrieben und Achsen sowie Feh- dacht aus, unanständig viel zu kassieren. Dietmar Hawranek

DER SPIEGEL 21 / 2017 57


Wirtschaft MaltaFiles

Wenn kein Postmann klingelt


Steueroasen Streit um Malta: Der Ministaat gibt sich als EU-Musterland – und lebt von
Konzernen, die sich zu Hause am Fiskus vorbeidrücken. Kurze Inspektion einer
Insel, wo hinter den Worten der Politiker und den Türen der Firmen viel heiße Luft ist.

A
ls die Nacht hereinbricht über St. hen mit ihren Töchtern nicht im Telefon- Milliardäre, die bei ihrer Superjacht an
Julians, der Wind ganz warm und buch. Sind zu normalen Geschäftszeiten nichts gespart haben außer an der Mehr-
weich, nach einem Tag im Mai, der „leider gerade“ nicht zu erreichen; gerade wertsteuer, die sich bei Jachten auf Malta
schon die Hitze des Sommers atmete, da nicht und etwas später auch noch nicht. so schön kleinrechnen lässt. Und über mal-
beginnt man auf einem Balkon über der Hintergehen damit möglicherweise den tesische Spitzenpolitiker, die es offenbar
Bucht langsam zu ahnen, warum Malta tut, deutschen Fiskus, dem sie im Zweifel einen gewohnt sind, beim Geld auch erst mal an
was Malta so tut. Warum diese kleine Insel laufenden Betrieb vorzeigen müssen, da- sich selbst zu denken.
zum Steuerparadies geworden ist, das an- mit der ihre maltesische Steuerzauberei Also raus aus der Nacht, zurück zum
deren Ländern die Einnahmen absaugt. Zu anerkennt. Tagesgeschäft auf Malta.
einem Paradies ohne schlechtes Gewissen, Um das alles zu verstehen, muss man Dass die Insel mit ihren 435 000 Men-
auch wenn es das Geld guter Freunde ist, mit den guten Namen sprechen, den Stüt- schen voller Mysterien und Flüsterstoff
der Partner aus der EU. zen der deutschen Wirtschaft. Auch mit ist, bekommen Besucher sogar schriftlich.
Über der Hafenpromenade liegt ein ein paar weniger bekannten, den Männern „Maltas Geheimnisse warten darauf, ent-
männliches Grundgrölen, ein weibliches und Frauen, die solche Steuersparbüchsen deckt zu werden“ steht auf einer Ansichts-
Kicherkreischen, ein sachliches Bass-Bum- auf Malta aufstellen. Und gerade jetzt – karte, die Maltas Gäste am Flughafen ge-
bum. Wie sich das so anhört, wenn die ge- denn Malta hat noch bis Ende Juni die EU- schenkt bekommen, bevor sie wieder nach
schlechtsreife Jugend Nordeuropas ihr Ver- Ratspräsidentschaft inne – muss man dazu Hause fliegen. Die Geheimnisse der Steu-
sprechen auf eine supergeile Partynacht auch maltesische Offizielle befragen. Und ervermeidung sind vermutlich nicht ge-
einlöst. Um drei Uhr singen hohe und tiefe, ihre Gegner im EU-Parlament, die sich meint, dabei gibt es gerade auf diesem Feld
rohe und schiefe Stimmen auf der Hafen- wundern, mit welcher Chuzpe Malta sein viel zu entdecken. Erste Adresse: St. Ju-
promenade, als wollten sie übers Meer Si- Steuermodell in der Zeit an der Spitze der lians, Ross Street 7. Ein Bürohaus mit dem
zilien anrufen. Ohne Telefon. EU verteidigt. Namen „The Whispers“, das Geflüster, wie
In diesem Moment kann man sich schon Es wird also zu reden sein: über die passend. Hier saßen die Robert Bosch
ausmalen, was den geräderten Malteser Tricksereien deutscher Konzerne. Über Holding Malta Ltd., die Robert Bosch Fi-
am nächsten Arbeitstag so umtreibt: dass nance Malta Ltd. und, weil die Fantasie
das nicht alles sein kann, was ihm Europa beim Namen offenbar nicht für mehr reich-
zu bieten hat, nur die trink- und triebge-
steuerten Schülerhorden, die sich im Ver-
Sogar Weltkonzerne te, auch noch eine Robert Bosch IC Finan-
cing Malta Ltd.
gnügungsviertel von St. Julians mit 60 teilen sich einen Das alles ist typisch für Malta: Das Ltd.
Shots für 19,90 Euro abschießen. Dass Mal-
ta, arm an Rohstoffen, aber reich an fleißi-
Klingelknopf mit drei steht für Limited, haftungsbegrenzt, das
ist die beliebteste Firmenform, man findet
gen, gewitzten Menschen, einen irgendwie anderen Firmen. sie auf Tausenden Postkästen, Klingelschil-
moralischen Anspruch darauf hat, auch die dern, manchmal kleben ein halbes Dut-
Firmen aus dem Norden ins Land zu lo- zend Ltd.-Namen unter einem Briefschlitz.
cken. Und mit den Firmen einen kleinen Eine Limited ist leicht zu gründen, mit
Batzen der großen Steuereinnahmen, die knapp 1200 Euro Einlage. Die maltesischen
sonst dort oben blieben. In Frankreich, in Behörden protzen damit, dass sie manch-
England, im reichen Deutschland. Ja, kann mal nur 24 Stunden dafür brauchen.
man nachts um drei alles verstehen. Auch „Finance“ oder „Holding“ gehö-
Warum aber größte Firmennamen der ren bei Malta-Töchtern internationaler
deutschen Industrie und beste Familien- Konzerne zu den angesagtesten Vornamen
namen des deutschen Mittelstandes da vor dem Familiennamen „Ltd.“ Es geht
mitmachen, erklärt das noch nicht. Wo schließlich um Geld – Geld, das zwischen
ihr moralischer Anspruch bleibt. Warum Konzernmüttern, -töchtern und -geschwis-
BASF und BMW, K+S und Sixt, warum tern hin und her geschoben wird. Oft nur
die Schrauben-Würths, der Tchibo-Herz aus einem Grund: Am Stammsitz, etwa in
und der Fernseh-Kerner, warum ein paar Deutschland, soll weniger für die Steuer
Tausend Namen auf einer Malta-Liste des übrig bleiben; am besten treibt man dafür
europäischen Journalistennetzwerks EIC zu Hause die Kosten auf dem Papier nach
offenbar das letzte Quäntchen aus ihren oben. Umgekehrt sollen Gewinne in Malta
Einnahmen herausquetschen wollen. landen. Zwar gilt auf Malta ein happiger
Warum riskieren sie dafür ihren guten Steuersatz, 35 Prozent. Aber nur auf den
Ruf und manche noch etwas mehr? Wie ersten Blick, denn der ausländische Eigen-
eine Recherche des SPIEGEL auf Malta tümer der Malta-Firma, also der deutsche
DER SPIEGEL

zeigt, teilen sich sogar Weltkonzerne einen Briefkästen von Sixt und K+S auf Malta Mutterkonzern, bekommt später bis zu
Klingelknopf mit drei anderen Firmen. Ste- 30 Prozent vom maltesischen Fiskus erstat-

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DOMENIC AQUILINA / IMAGO

Jachten im Hafen vor Valletta

DER SPIEGEL 21 / 2017 59


Wirtschaft

tet. Macht im besten Fall einen Steuersatz sondern als besonders asozial. Der brachte Tja, er dürfe dazu ja sowieso nichts sagen,
von etwas über 5 Prozent. schließlich deutsche Kinder um das Geld dafür gebe es die Pressestelle in Deutsch-
Das ist genug, damit sich das Geschäft für ihre Schulen, deutsche Autofahrer um land. Dort heißt es, wohin man mit einer
für Malta lohnt – besser 5 Prozent als das Geld für ihre Straßen, der nutzte alle Tochter gehe, hänge nicht nur, aber auch
nichts. Und es ist grandios für die Unter- Vorteile Deutschlands, ohne dafür zahlen von steuerlichen Fragen ab. Das sei der
nehmen – 5 Prozent statt etwa 30 in zu wollen. Seitdem muss sich jeder deut- Konzern seinen Aktionären schließlich
Deutschland. Aber es ist grottig für das sche Konzern mit einer steuerfreundlichen schuldig. Natürlich sei das alles legal und
deutsche Finanzamt. Nach einer Hochrech- Firma auf Malta überlegen, ob er bleibt dem deutschen Fiskus bekannt.
nung der Zeitung „Malta Today“ liefen oder geht. Und weiter, zum Mayfair-Haus ein paar
allein im Jahr 2015 Konzerngewinne in Bosch schweigt dazu, warum man die Straßen weiter, einem Höhepunkt jeder
Höhe von rund vier Milliarden Euro über Insel verlassen hat. Nur: Man halte sich an Firmentour auf Malta. Große Namen. Klei-
Malta, die sonst in anderen Ländern hätten die Gesetze und die „Prinzipien guten Ge- ne Büros. Ganz oben sitzt eine Jacobs Ma-
versteuert werden müssen. Gut zehnmal schäftsgebarens“; jeder Gewinn werde in nagement Limited. Etwa der Kaffeeröster?
so viel wie noch 2006. Malta kassierte nur dem Land versteuert, in dem er erwirt- Zwei Damen gucken verwirrt, als man um
knapp 250 Millionen Euro ab, den Rest be- schaftet werde. Punkt. Wie auch immer: ein Gespräch mit Herrn Jacobs bittet. Man
hielten die Konzerne. Es wird beim Besuch deutscher Firmen- möge doch draußen warten, die Tür geht
Wie aber lassen sich Gewinne nach Mal- ableger auf Malta die Ausnahme bleiben, zu. Nach zwei Minuten kommt ein Mann
ta verschieben? Dafür gibt es passende Ve- dass man vor einer Tür steht und feststellt, heraus. Um die fünfzig, das Haar gegelt,
hikel, zum Beispiel Patente und Lizenzen. dass dem Unternehmen Malta vielleicht in einer Länge, die den selbstbewussten
Die überträgt ein Konzern auf eine Insel- zu heiß geworden ist. Im Sommer wie im Selfmadeunternehmer vom abhängig Be-
tochter. Andere Firmenzweige aus Hoch- Winter. schäftigten distinguiert und gut zu Pent-
steuerländern müssen dann viel Geld nach Der Weg zur nächsten Adresse führt vor- house, Dachterrasse, Boot passt.
Malta überweisen, um sie zu nutzen. Oder bei an einem historischen Torbogen mit Seinen Namen nennt er nicht und will
die deutschen Konzerntöchter besorgen der Inschrift „Deus nobis haec otia fecit“, auch sonst eigentlich nicht viel sagen. Nur,
sich Kredite bei der Malta-Schwester und „Ein Gott hat uns diese Ruhe geschenkt“. dass er schon seit 2004 auf der Insel sei,
bezahlen saftige Zinsen. Glückliches kleines Malta. Dann steht man seit dem EU-Beitritt Maltas, und hier deut-
Bei Bosch gibt es das alles aber nicht, bei der Lufthansa, wo man über die Stö- schen Unternehmen helfe, sich aufzustel-
weil es Bosch auf Malta nicht mehr gibt. rung dieser Ruhe wenig erfreut ist. Die len. Alles selbstverständlich legal, ver-
Die Dame aus dem Maklerbüro unten im Lufthansa sitzt mit 17 Konzerntöchtern im spricht er, „keine Briefkastenfirmen“. Und,
Erdgeschoss bestätigt: Ja, die waren hier, Aragon-Bürohaus, darunter die Lufthansa nein, mit der Kaffeefamilie Jacobs habe
aber wohin die jetzt umgezogen sind? Malta Pension Holding, die LSI Malta Pen- er wirklich nichts zu tun.
Merkwürdig, sagt sie, dass sie jetzt keine sion und die DLH Malta Pension. Alles Li- Stimmt. Der Mann heißt nicht Jacobs,
neue Adresse finde. Vielleicht wisse „Nad- miteds, was sonst? sondern Braun, Peter Braun. Mit seinem
ja“ etwas, die Kollegin, die morgen wieder Malta-Manager Markus Pawlik hat lei- Bruder setzt er Firmen auf Malta auf,
zurück sei. Die Nachfrage kann man sich der gerade gar keine Zeit für Journalisten, manchmal lässt er sich auch als Chef ein-
sparen. Bosch hat es im Juli 2016 vorgezo- weil er ein Meeting vorbereiten muss. Es tragen; das ist praktisch für die Kunden.
gen, von Malta zu verschwinden. Die Ge- reicht noch für fünf Minuten und die Be- Kontrolliert wird seine Jacobs Manage-
schäftseinheiten gingen nach Deutschland merkung, dass die Lufthansa mit mehr als ment Ltd. von einer Jacobs Capital Ltd.
und in die Niederlande, im Januar waren 500 Technikern ihre Flugzeuge auf Malta Die sitzt in der Karibik, auf den British
alle Malta-Firmen gelöscht. wartet, also einen richtig großen Betrieb Virgin Islands, wo man sich Firmennamen
Warum? Lag es daran, dass nur drei Mo- auf der Insel hat. Aber warum müssen des- wie Jacobs Capital im Tausenderpack aus-
nate zuvor die Panama-Papers hochge- halb gleich die Pensionskasse des ganzen denkt. Der Mann hat also Erfahrung. Of-
ploppt waren? Damals änderte sich der Konzerns und das Flugzeug-Leasing im fenbar auch mit Briefkastenfirmen.
Blick massiv: Wer seine Gewinne über Mittelmeer sitzen, warum nicht in Deutsch- Nur eine Etage unter ihm sind vier Fir-
eine Billigbude in einer Steueroase durch- land, wo doch immerhin rund 67 000 Luft- men gemeldet, bekannte deutsche Namen:
schob, galt nicht mehr als besonders smart, hanseaten mehr arbeiten als auf Malta? die BASF mit der BASF Finance Malta
GmbH. Auch zwei Limiteds aus dem Hüh-
nerhof von Erich Wesjohann, dem Geflü-
Der Malta-Dreh 3. Der maltesische Fiskus
erstattet der Malta Ltd.
gelbaron; sein Bruder Paul-Heinz ist der
Chef von Wiesenhof. Und Sixt, die Sixt
Wie Unternehmen mit sechs Siebtel der gezahlten Financial Services GmbH, die im März
95 Mio. €
Umweg über Malta Steuern Steuern, also 30 Mio. €. das „Financial“ gegen das Wort „Interna-
vermieden haben tional“ ausgetauscht hat. Sie teilen sich
4. So gehen 95 Mio. € an einen Klingelknopf. Merkwürdig für drei
1. Ein Konzern gründet eine 100% den deutschen Mutterkonzern. Konzerne dieser Größe. Man kann im
Kapitalgesellschaft mit Sitz In Deutschland müssen nur Netz auch lange nach einer Mailadresse
im EU-Mitgliedsland Malta. Malta Ltd. noch 5% der Summe mit oder Homepage der Töchter suchen, sehr
Kapitalgesellschaft
einem Steuersatz von 30% lange. Und wenn man bei der Auslands-
30 Mio. €
versteuert werden. auskunft der Telekom anruft, findet die
2. Deren Handelstochter 65 Mio. € 100% für Sixt oder BASF beim besten Willen
erwirtschaftet einen Jahres- keine Nummer – „leider nicht eingetra-
überschuss von 100 Mio. €. Malta Trading gen“, heißt es da.
Handelsunternehmen Verbleibender Gewinn:
35 Mio. € gehen als Steuer- Ein Mann kommt heraus, Jeanshemd,
93,58 Mio. €
100 Mio. € Jahresüberschuss
zahlung an den maltesischen casual wear, sonniges Malta? Er behauptet,
Staat. 65 Mio. € fließen an 35 Mio. € er sei von BASF. Er sage aber nichts, man
die Muttergesellschaft. solle die Pressestelle in Deutschland anru-
fen. Seine Zurückhaltung ist keine Über-

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MaltaFiles

raschung. Was Malta angeht, ist zumindest


BASF berüchtigt.
Ein Gutachten der Grünen-Fraktion im
EU-Parlament kam im November zu dem
Schluss, dass der deutsche Chemiegigant
in Europa zwischen 2010 und 2014 rund
923 Millionen Euro Steuern durch trickrei-
che Konstruktionen gespart habe. Auch
über Malta, mit der Firma im Mayfair-
Haus. Von hier würden Kredite an andere
BASF-Töchter vergeben, der Klassiker.
Wenn Politiker versuchten, solche Prakti-
ken zu bremsen oder gar zu stoppen, soll
BASF mit harter Lobbyarbeit dagegenge-
halten haben. BASF nannte den Report
damals „nicht immer zutreffend“; Einzel-
heiten sparte sich der Konzern.
Und was ist mit Sixt, dem Autovermie-
ter? Von denen sei keiner da, behauptet
der Mann im Jeanshemd (was er später so
nicht gesagt haben will). Wann wieder?
Das wisse er leider auch nicht. Mit Sicher-
heit werde sich aber auch von Sixt auf Mal-
ta keiner äußern. Also wieder: die Presse-
stelle anrufen.
Ein Stockwerk tiefer, der nächste Ver-
such. Neben der Tür hängt ein Schild mit:
zwei Limiteds von Puma, dem Sportaus-
rüster, eine dritte Puma Ltd. steht unten

ORLANDO M. HOPPE
auf dem Briefkasten im Treppenhaus. Zwei
Limiteds von K+S, dem Rohstoffkonzern
Kali und Salz, der bis zum vergangenen Jahr
im Dax gelistet war. Und zwei von KSPG
Automotive, der Autosparte Kolbenschmidt Mayfair-Haus in St. Julians, bevorzugte Adresse deutscher Konzerne
von Rheinmetall. Wieder gibt es nur eine
Klingel für alle, aber auf der steht ein an-
derer Name: Jacobs. Die Firma des Herrn
Braun ganz oben. Außerdem pappt da
noch ein Aufkleber: „Please deliver regis-
tered mail and parcels at the 6th floor.“
Post nehmen die deutschen Konzerntöch-
ter also anscheinend nicht unbedingt selbst
entgegen, sondern der Herr Braun für sie.
Nach dem Klingeln öffnet eine Frau.
Sagt, dass sie von K+S sei, für alles Weite-
Das Mayfair-Haus ist ein Höhepunkt
re: bitte die Pressestelle anrufen. Die Bü- jeder Firmenbesichtigungstour auf
roetage hat zwei Außentüren mit Fenstern.
Durch das eine sieht man drei Räume, die
Malta: große Namen, kaum Mitarbeiter.
Innentüren stehen offen, dahinter: Glas-
fenster, Fliesen, sonst nichts. Komplett leer.
Ein viertes Büro, das man durch die andere
Tür sieht – auch leer. Immerhin, in einem
Zimmer steht ein Drucker, in einem ande-
ren ein Schreibtisch, der aber ziemlich un-
benutzt wirkt. Das also sind K+S, Rhein-
metall und Puma auf Malta. Wenig los für
so große Namen.
Deshalb gleich noch mal die Treppe wie-
der hoch, zurück zu BASF und Sixt. Jetzt
macht keiner mehr auf. Im Netz findet
man später aber Mr Casual Wear wieder,
ORLANDO M. HOPPE

den Mann im Jeanshemd. Er heißt Pall Ar-


nason, hat auf Island studiert und muss
ein wahrer Workaholic sein. Auf der Kar-
riereseite LinkedIn gibt er drei Arbeitgeber
und drei Jobs gleichzeitig an. Er tritt als Multimanager Arnason Schild im Mayfair-Haus Firmenbetreuer Braun
„Executive Manager“ der BASF Finance
DER SPIEGEL 21 / 2017 61
Milliardenspiel auf Malta
Onlinewetten Ein Whistleblower deckt Missstände in Europas Zockerparadies auf.

E
inst galt der Nationalspieler Mario
Basler als begnadeter Flankenge-
ber, der selbst bei Eckbällen direkt
ins Tor traf. Auch jenseits des Fußball-
platzes trat er gern als Zocker auf. Das
macht ihn zu einem idealen Werbeträger
für den Glücksspielgiganten Betsson. Mit
bis zu „80 Euro Willkommensbonus“ für
Sportwetten lockt das Unternehmen je-
den, der auf Basler klickt und 40 Euro
einzahlt. Im Onlinekasino gleich neben-
an auf der Website wird dem Kunden ein
Bonus von bis zu 500 Euro versprochen, Website von Betsson mit Werbefigur Basler: Wenig kontrollierter Markt
wenn er ein Konto eröffnet. 18 Millionen
Menschen weltweit würden mit Betsson an der Ausrüstung muss sofort gemeldet mittlerweile eine einfache Etikettierung.
Poker spielen, heißt es. werden. Computer und Server mussten Atanasov meint dagegen: „Betsson hätte
Eigentlich ist das Onlineglücksspiel in zuvor von den Angestellten der staatli- die Lizenz entzogen werden müssen.“
Deutschland verboten, nur einige Lizen- chen Kontrollbehörde versiegelt werden. Das sei kein Einzelfall. Täglich würden
zen für Sportwettenanbieter wurden Doch die Praxis sah offenbar häufig in Malta Millionen Transaktionen ohne
vergeben. Doch weil die Polizei kaum anders aus. „Ich habe eine lange Liste wirkliche Aufsicht getätigt. Weil er auch
ermittelt, ist ein riesiger, wenig kontrol- von Geräten, die für die Betsson Plat- intern immer wieder warnte, habe er
lierter Markt entstanden, auf dem jedes form, Betsson Malta und Realm Enter- zunehmend Ärger mit seinen Vorgesetz-
Jahr allein in Deutschland Milliarden tainment versiegelt werden müssen“, teil- ten bekommen.
Euro umgesetzt werden. Kaum anders- te am 30. Januar 2012 Robert Zammit Anfang 2013 wandte Atanasov sich an
wo lässt sich für die Anbieter schneller von der Anwaltskanzlei WH Partners das Internal Audit and Investigations De-
Geld verdienen, nirgendwo sonst lassen Atasanov per E-Mail mit. Als der Bulga- partment, eine Kontrollbehörde im Büro
sich kriminelle Einkünfte besser wa- re nachhakte, stellte sich heraus, dass der des Premierministers, und erzählte von
schen, warnen Experten. schwedisch-maltesische Wettkonzern seit Betsson und ein paar anderen Fällen. Als
Im Zentrum des Milliardenspiels in langer Zeit Dutzende Server für viele nichts passierte, schrieb der Bulgare im
Europa liegt die Mittelmeerinsel Malta, Arten von Glücksspielen nutzt, die vor Februar 2014 an Premierminister Joseph
das Land erwirtschaftet zwölf Prozent dem Gebrauch nicht versiegelt worden Muscat. Wenig später erhielt Atasanov
seines Bruttoinlandsprodukts mit den waren. Ob bei den Computerspielen die Kündigung, seitdem versucht er ver-
Zockern aus ganz Europa. Ganz offen alles sauber gelaufen sei, könne deshalb gebens, eine Abfindung durchzusetzen.
werben Betsson und die anderen gro- niemand mehr genau nachvollziehen, Während die maltesischen Behörden
ßen Wettkonzerne mit ihren EU-Lizen- meint der IT-Experte. es bei den internationalen Milliarden-
zen made in Malta. Die Server seien „in Dass die Mehrheit der Server nach der geschäften der Online-Wettanbieter of-
hoch gesicherten Örtlichkeiten“ unter- Installation nicht versiegelt wurde, gab fenbar nicht so genau nehmen, werden
gebracht, alle Angestellten würden ei- Betssons Anwalt Zammit in einer E-Mail die Kasinos auf der Insel von einigen
ner Sicherheitsüberprüfung unterzogen, zu. Doch Atanasovs Vorgesetzte in der Dutzend Kontrolleuren beschattet. Hier
die Kundenguthaben seien bei den Ban- Aufsichtsbehörde ließ das offenbar kalt: gehen auch Malteser hin, hier wollen die
ken absolut sicher. Betsson konnte weitermachen. Aber in Lokalpolitiker keinen Ärger haben.
Wie es tatsächlich bei der staatlichen Zukunft sollten sie sich doch bitte an die Nur gelegentlich fällt Licht auf das in-
Aufsicht zugehen soll, die das alles kon- Regeln halten, heißt es in einer E-Mail. ternationale Geschäft. 2015 zerschlug die
trolliert, hat dem SPIEGEL ein Whistle- Drei Tage später erteilte der damalige italienische Polizei einen Wettmafiaring,
blower erzählt, der von 2008 bis 2014 für Chefkontrolleur Joseph Borg Betsson der in Verbindung mit der kalabrischen
die Lotteries & Gaming Authority tätig die vorläufige Verlängerung der Lizen- ’Ndrangheta stehen soll. Sie verhafteten
war, die nun Malta Gaming Authority zen, die auch Basis für die Geschäfte mit 41 Leute und beschlagnahmten zwei Mil-
heißt. „Firmen arbeiteten jahrelang ohne deutschen Kunden sind. Einige Monate liarden Euro. Weil die Italiener Beweise
Kontrolle, wenn sie die richtigen Kontak- später wechselte Borg als Chefberater für Geldwäsche in der Wettindustrie
te hatten. IT-Systeme wurden entgegen zu Betssons Anwaltsfirma WH Partners, vorlegten, wurden einige Onlineanbieter
den Regeln nicht auditiert. Da kann je- deren Spezialität es ist, Wettanbietern in auf Malta geschlossen und sechs Italie-
derzeit Geld verschwinden“, sagt der IT- Malta Lizenzen zu besorgen. ner ausgeliefert. „Es ist dringend gebo-
Experte Valery Atanasov. Der bulgari- „Die Versiegelung hat keine Auswir- ten, dass wir das bequeme Waschen
sche Familienvater war jahrelang auf kung auf die Sicherheit“, schrieb Betsson krimineller Gelder auf Malta unterbin-
Malta für die Kontrolle der IT-Systeme dem SPIEGEL. Und mit Steuervermei- den“, sagt der EU-Abgeordnete Sven
der Onlinegaming-Firmen zuständig. dung und Geldwäsche habe das Unter- Giegold von den Grünen. Atanasov, der
Eigentlich hören sich die Regeln der nehmen nichts zu tun. Das Versiegeln Mann vom Fach, hat einen einfachen
maltesischen Behörden vernünftig an. der Geräte sei niemals eine gesetzliche Vorschlag: Jedes Land könne wie sein
Bevor ein Unternehmen sein Onlinekasi- Verpflichtung gewesen, heißt es bei der Heimatland Bulgarien einfach bestimmte
no live schaltet, braucht es eine Lizenz. Aufsicht. Weil es bessere technische IP-Adressen von Glücksspielfirmen auf
Jede Änderung an den Spielregeln oder Möglichkeiten der Kontrolle gebe, reiche Malta blocken. Christoph Pauly

62 DER SPIEGEL 21 / 2017


MaltaFiles Wirtschaft

Malta GmbH auf, „seit Mai 2014“. Als „Fi- „abroad“, also gerade weit weg, weitere
nance Manager“ von K+S Finance Limited, Anrufe solle man sich sparen. Klingt so,
„seit November 2015“. Und, das ist jetzt als wäre das Büro auf Malta dünn besetzt.
die Pointe, als „Senior Manager“ der Ja- Später kommt ein Schreiben aus Visbek,
cobs Management Limited, der Firma von Niedersachsen, aus der Zentrale: vier Zei-
Peter Braun oben im Sechsten. Ein Jacobs- len auf 13 Fragen. Der deutsche Fiskus wis-
Mann also, der bei BASF und K+S den se Bescheid, eine ganz legale Sache, das
Statthalter gibt? mit den Malta-Firmen. Mit freundlichen
Das stellen die deutschen Firmen im Grüßen.
Mayfair natürlich ganz anders dar. Man Bleibt noch Peter Braun, der Spezialist
teile sich keinen Mitarbeiter mit anderen für deutsche Firmen auf Malta, oben im
im Haus, schreibt später die Pressestelle sechsten Stock. Gut, er nehme schon mal
von K+S. Die Tochter sitze mit vier eige- größere Briefe oder Pakete für K+S an,
nen Leuten auf 65 Quadratmetern, voll aber nur im Ausnahmefall, damit nichts
möbliert, alles völlig korrekt, auch steuer- im Flur liegen bleibe. Und die leeren Büros
lich. Aber ja, man sei auch wegen der Steu- unten? Auf der Etage von K+S seien wohl
ern mit der Finanzfirma K+S Finance Ltd. tatsächlich gerade ein paar Räume nicht
auf Malta: „Steuern sind ein wichtiger genutzt; die wolle der Eigentümer neu ver-
Kostenfaktor für Geschäftsentscheidun- mieten. Mit K+S habe er, Braun, aber
gen. Auch im Interesse der Aktionäre nichts zu tun. Und wer da angeblich für
bemüht sich K+S, diesen Kostenfaktor zu wen arbeite – etwa der Herr Arnason, der
reduzieren.“ doch für ihn und für K+S arbeiten will –
Puma richtet aus, dass man zwei Firmen davon wisse er nichts.

MARCUS HÖHN / ZDF


auf Malta gegründet habe, um an einer Re- Das Geschäftsleben auf Malta ist offen-
gatta teilzunehmen. Wasser. Segelboot. In- bar bunt, trotzdem muss schon einiges pas-
sel. Klingt doch plausibel. Erst auf Nach- Moderator Kerner sieren, bevor es einem Politiker aus dem
frage bestätigt Puma die dritte Firma, die hohen Norden doch zu bunt wird. Eine be-
Puma Blue Sea Ltd. Die war keine Regat- vorstehende Wahlpleite zum Beispiel. Am
ta-, sondern eine Finanztochter. Alle drei Mittwoch vergangener Woche knöpfte sich
hätten schon Ende 2014 ihren Betrieb kom- NRW-Finanzminister Norbert Walter-Bor-
plett eingestellt. Gelöscht sind aber zwei Warum Malta, Herr jans (SPD) Malta tatsächlich mal in einer
von ihnen bis heute nicht.
Kolbenschmidt antwortet knapp: Der
Kerner? Angeblich Pressekonferenz vor, als hätte die Insel der
Bundesrepublik Deutschland gerade den
deutsche Fiskus kenne doch die beiden alles legal und reine Krieg erklärt. Und Nordrhein-Westfalen
Finanztöchter auf der Insel. Die hätten umgekehrt die sofortige Mobilmachung.
auch „eigene Mitarbeiter“ auf Malta. Privatsache. An Rhein und Ruhr lief noch der Wahl-
BASF schafft es noch knapper, mit einem kampf, es lief nicht mehr gut für die SPD.
Siebenzeiler, der aber rätselhaft bleibt. Walter-Borjans prahlte mit einem Daten-
Die Malta-Firma sei in Deutschland steu- satz von 70 000 Malta-Firmen, der ihm zu-
erpflichtig, heißt es da; gleichzeitig ist gespielt worden sei – allem Anschein nach
aber von Steuererstattungen auf Malta derselbe, der auch dem EIC-Netzwerk und
die Rede. Im Übrigen: „keine weiteren dem SPIEGEL vorliegt. Er nannte Malta
Details“. das „Panama Europas“; rund 2000 Firmen
Dafür schreibt Sixt umso länger. Die hätten mit deutschen Steuerzahlern zu tun.
Sixt-Tochter arbeite mit sechs Angestellten Gekannt habe man vorher nur rund 260.
auf 130 Quadratmetern. Sie sei jeden Tag Es klang nach einer bevorstehenden Ent-
besetzt. Auch an den Tagen, an denen der scheidungsschlacht im Kampf um Steuer-
SPIEGEL vor der Tür gestanden habe, seien gerechtigkeit. Walter-Borjans bekam dafür
„durchgängig“ Mitarbeiter im Büro gewe- die Schlagzeilen, die er wollte.
sen. Später reicht Sixt dafür noch drei ei- Ein NRW-Steuerfahnder, der die Daten
desstattliche Versicherungen nach. Auf kei- kennt, klagt schon seit Jahren über Malta.
nen Fall werde ein Geschäftsbetrieb nur „Wenn ich Malta lese, geht bei mir eine
vorgetäuscht. Offenbar muss man im Tele- rote Lampe an.“ Doch einfach wird es
fonbuch also nicht zu finden sein, um „in- auch jetzt nicht, mit der neuen Namens-
ternationale Führungskräfte“ anzuwerben. liste: „Nach maltesischem Recht ist das
Oder um Franchisepartner zu überwachen. meist legal. Malta lebt von dem System.
Oder um, mal wieder ganz typisch, Kon- Dass sie andere Länder damit schädigen,
zernzweige mit Geld zu versorgen – drei nehmen die Malteser in Kauf.“
von mehreren Aufgaben der Malta-Tochter, In jedem Einzelfall muss nun vor allem
laut Handelsregister zumindest. eine Frage geklärt werden: Haben die Fir-
Eine Firma des Geflügelzüchters Wesjo- men auf Malta Substanz, haben sie Büros,
MARTIN WAGENHAN / IMAGO

hann auf Malta hat aber sogar eine Num- Mitarbeiter, Vorstandstreffen, operative
mer im Telefonbuch. Ein Mann nimmt ab, Geschäfte? Oder verstecken sie nur ein
genervt davon, dass einer an einem Nach- Steuermodell hinter einer Scheinadresse?
mittag dreimal versucht, die putzige kleine So wie das im Mayfair-Haus der Fall sein
Limited mit ihren beschaulichen 145 Mil- Malta-Investorin Bettina Würth könnte. Dann nämlich darf der deutsche
lionen Euro Vermögen zu erreichen. Er sei Fiskus die Einnahmen auf Malta den deut-
DER SPIEGEL 21 / 2017 63
Wirtschaft MaltaFiles

schen Konzernmüttern zurechnen und ab- Stuart Peter Blackburn, Engländer, 70. Aber Das Register liegt neben der maltesi-
kassieren. ansonsten lässt er wenige Fragen offen. schen Finanzaufsicht MFSA an einer Aus-
„Das Malta-System ist natürlich genau Hinter seiner Tür sitzen Malta-Ableger fallstraße ins Landesinnere, und für 20
darauf angelegt, Firmen ohne Substanz an- europäischer Konzerne. Je mehr man ihn Euro pro Firma bekommt man tatsächlich
zuziehen“, sagt Matthew Vella, der sich fragt, wie das denn meist so läuft, umso Informationen. In diesem Fall über einen
als Journalist der Zeitung „Malta Today“ mehr bekommt seine Stimme diesen Un- deutschen Fernsehstar, Johannes B. Kerner
mit solchen Sätzen viele Feinde auf dem terton, den man wohl am besten mit „Wie und seine Cloverleaf Yachting Ltd. Einge-
Eiland gemacht hat. Aber Kenneth Farru- naiv sind Sie eigentlich?“ übersetzt. Bei tragen am 11. April 2016, Geschäftszweck:
gia, Cheflobbyist der maltesischen Finanz- ihm, sagt Blackburn, arbeite natürlich kei- Kauf, Betrieb, Verleih, Bau und noch eini-
branche, gibt sich da ganz gelassen: „Wenn ner von diesen Konzernen, „das hier ist ges mehr, was mit „Schiffen jeder Art“ zu
Deutschland denkt, da wäre zu wenig Sub- nur die Adresse. Eine Firma muss doch tun hat.
stanz in Malta-Firmen, dann würde der eine Adresse auf Malta haben, das ist Vor- Hauptgesellschafter ist Kerner – soweit
deutsche Fiskus denen ja das Licht ausbla- schrift, und an die halte ich mich“. Ob er aus der Firmenakte ersichtlich bis heute.
sen. Aber das passiert nicht.“ das richtig so finde? „Die Regeln muss ich Auch Direktor war der Moderator an-
Auch nicht bei der Lindsell Finance Ltd., nicht beurteilen, das ist alles legal.“ fangs noch; den Posten gab er aber zum
einer Firma, die seit Februar 2008 der Also liefert er eine Anschrift, so wie 1. Januar 2017 auf. Stattdessen übernahm
Deutschen Bank gehört und im Mercury das Hunderte andere in seinem Gewerbe eine Frau, die auf Malta dieselbe Adres-
Tower in St. Julians sitzt, Level 2 West. auf Malta auch tun. Etwa jene junge Frau, se hat wie der deutsche Anwalt Jörg Wer-
Wenn man sich im Haus nach der Lindsell Mitarbeiterin einer anderen Kanzlei, die ner. Werner hat die Firma für Kerner auf-
erkundigt, heißt es, die sei hier gemeldet, vergangene Woche Besuch von einem gesetzt.
habe aber kein Büro. Die Deutsche Bank „Frontal21“-Reporter bekam, der sehr in- Warum? „Wir geben keine Interviews“,
druckst später herum; die Firma habe man teressiert tat, eine Firma zu gründen. Sie heißt es, dafür redet Werner auf seiner
nur für einen Kunden eingerichtet. Inzwi- versprach augenzwinkernd, sie könne ihm Homepage recht unverblümt: „Schwer-
schen werde sie, wie zwei weitere Malta- dafür das komplette Malta-Paket liefern, punkt unserer Tätigkeit ist die Beratung
Töchter, abgewickelt. Adresse, Personal, alles, was nach richti- internationaler Klienten zur Reduzierung
So gesehen ist es schon ein ziemlich fai- ger Firma aussieht. „Hier sind viele wie ihrer Steuerlast, insbesondere durch die
rer Zug gegenüber dem deutschen Fiskus, ich, sehr viele“, sagt Blackburn, der Eng- Nutzung von maltesischen Standortvortei-
dass sich der Autokonzern BMW wenigs- länder. Für weitere Fragen: „Sehen Sie ins len.“ Als Kerner vor ein paar Monaten
tens auf gut 200 Quadratmeter eingemietet Firmenregister“, das sei ja alles gar nicht schon mal nach der Cloverleaf Yachting
hat. Mit ein paar BMW-Plakaten an der geheim auf Malta. gefragt wurde, wollte er nichts sagen. Pri-
Wand. Unter denen geschätzt ein halbes vatsache, angeblich. So, wie das vermut-
Dutzend Mitarbeiter sitzt, die tatsächlich lich jeder Deutsche sehen möchte, der eine
NRW-Finanzminister Walter-Borjans Malta-Firma hat.
nach Businessleuten aussehen. Einer von
ihnen, der sich als „James“ vorstellt, bittet Es gibt zumindest ein paar naheliegende
in den Besprechungsraum. Er beginnt da- Gründe, nach Malta zu gehen, wenn die
mit, dass drei BMW-Töchter auf Malta sit- Firma das Wort „Yachting“ im Namen
zen, und will gerade sagen, wie sie heißen, trägt. Malta hat nicht nur das größte
was sie machen, auch eine mit „Finance“ Schiffsregister Europas. Vor allem Jacht-
ist mal wieder dabei. besitzer lockt der EU-Zwerg mit Sonder-
Dann stockt er, fragt noch mal, warum angeboten – bei der Mehrwertsteuer. Die
man das jetzt wissen wolle, „äh, und wo- liegt im Prinzip bei 18 Prozent, aber je län-
her genau kommen Sie noch mal? Hm, ei- ger das Boot, umso billiger machen es die
nen Moment“. Er verlässt den Raum, ruft Malteser. Begründung: Große Boote seien
wahrscheinlich irgendwo an, die Wetten meist in internationalen Gewässern unter-
stehen 1:2, dass seine ersten Worte nach wegs und für diese Zeit nicht steuerpflich-
der Rückkehr „Unfortunately“, „I’m afraid“ tig. Bei 23 Meter schwimmendem Luxus,
oder „Sorry“ sein werden. Der Sieg geht um nur ein Beispiel zu nennen, sinkt der
an „Unfortunately“. James stammelt noch Steuersatz für Reiche, die sich so etwas
etwas von „confidentiality reasons“, Ge- leisten können, auf 7,2 Prozent. Aber auch
heimhaltungsgründen, dann ist man auf bei einem Elf-Meter-Segler spart man sich
DOMINIK ASBACH / LAIF

dem Weg nach draußen. schon die halbe Steuer. Kein Wunder also,
Die Pressestelle in München nennt später dass die Zahl der Superjachten – das sind
gleich fünf Gründe, warum die Finanztoch- die ab 24 Meter Länge – 2015 auf Malta
ter BMW Malta Finance hier sitzt; gutes um fast elf Prozent gestiegen ist.
Personal, politische Stabilität und so weiter. Hat Kerner die Firma für eine Jacht und
Nur niedrige Steuern tauchen in der Auf- ein Steuerschnäppchen gegründet? Er
zählung nirgendwo auf. Man halte sich na- habe keine Jacht geleast; nur beim Leasen
türlich an Gesetze und bekenne sich zu sei- bringe Malta überhaupt einen Steuervor-
ner „gesellschaftlichen Verantwortung“. teil, behauptet sein Anwalt. Warum also
Man kann ganze Tage so auf Malta ver- Malta, Herr Kerner? Ging es wirklich um
bringen: Klingeln, „Wir sagen nichts“, Pres- Es muss schon viel ein Schiff? Obwohl Kerner doch bisher nie
als Skipper aufgefallen ist? Alles legal, alles
sestelle. Alles gut. Oder man macht die Be-
kanntschaft des Herrn von der Osiris Cor-
passieren, bevor es privat, mehr sage man dazu nicht.
porate Services Limited. Wie er heißt, will einem Politiker im Andere können sich nicht so leicht ver-
er auch nicht verraten, „sehen Sie doch im stecken, dazu sind ihre Jachten zu groß.
Handelsregister nach“, sagt er im besten Norden zu bunt wird. Tchibo-Erbe Günter Herz, der Schrauben-
Oxford-Singsang, „da steht alles“. Genau. Clan Würth und der Prothesenhersteller

64 DER SPIEGEL 21 / 2017


THOMAS SCHULZE / PICTURE ALLIANCE / DPA

Vergnügungsviertel in St. Julians: Trink- und triebgesteuerte Schülerhorden

Hans Georg Näder (Otto Bock) stehen de Parteien erhalten. Dafür wird die Wahr- Schon bevor Malta im Januar stolz die
mit ihren Megaschiffen im maltesischen heit gebogen, wird vertuscht, wird abge- EU-Ratspräsidentschaft übernahm, hatte
Handelsregister. Die Würths antworten stritten. Finanzminister Edward Scicluna FinanceMalta, die halbstaatliche Lobby für
dazu nicht auf SPIEGEL-Fragen. Näder etwa behauptete neulich beim Besuch des den Finanzsektor, in einem Investoren-
spricht von einem „gängigen Finanzie- Panama-Untersuchungsausschusses aus handbuch klargemacht, wofür das gut war:
rungsleasing“, legal, transparent, den deut- Brüssel allen Ernstes, dass Malta kein Steu- Das gebe dem Land die Möglichkeit,
schen Behörden bekannt. Herz sagt, er erparadies sei. So einfach sei das doch gar Schlüsselentscheidungen der EU zu beein-
habe die fällige Mehrwertsteuer gezahlt, nicht mit dem Steuersatz von fünf Prozent. flussen. Auch an der „Steuerfront“, wo
auf Malta. Ansonsten: siehe Näder. Alles Regierungschef Joseph Muscat lässt sich Malta „seine Stellung halten“ werde.
kein Problem. gern damit zitieren, dass Steuersätze allein Im April legten die Malteser bei einem
Die reichsten Deutschen, denen die Sache eines Landes seien und Malta weiter EU-Finanzministertreffen tatsächlich ein
Jacht gar nicht lang genug sein kann – die die Hoheit darüber behalten werde. Auch Diskussionspapier vor. Nach dem Panama-
der Würths zum Beispiel ist 85 Meter, Kauf- über die ganz niedrigen. Gut für Malta, Schock empfahlen sie, Gesetze nur ganz
preis: 141 Millionen Euro – sie werden also dass Steuerfragen in der EU einstimmig behutsam zu ändern. Alles andere verun-
knauserig, wenn sie etwas an den deut- entschieden werden müssen, ein Prinzip, sichere Unternehmen und schade Europa
schen Staat abgeben sollen? Das Land, in das Malta eisenhart verteidigt – mit der im Wettbewerb mit Weltgegenden, die das
dem sie sehr viele ihrer Millionen verdient Folge, dass Wirtschaftsminister Christian mit dem Kampf gegen die Steuerflucht
haben? So anrüchig das wirken mag, in Cardona den boomenden Finanzsektor auf nicht ganz so ernst nähmen.
den meisten Fällen sind die Malta-Kon- Malta bejubeln kann und das „attraktive Besonders der Panama-Untersuchungs-
struktionen deutscher Firmen und Unter- Steuerumfeld für Firmen“. ausschuss des EU-Parlaments kämpft
nehmer legal. Nicht nur, weil Malta seine Daran soll sich nichts ändern, im Gegen- schwer mit Malta. Mitte Juni soll Minister-
Gesetze eben so, ebendrum gemacht hat. teil: „Malta möchte jetzt weitere ausländi- präsident Muscat vor dem Gremium erschei-
Sondern auch, weil Brüssel und auch Ber- sche Unternehmen anziehen, die ihre re- nen – ob er kommt, ist unklar. Im Januar
lin solche Gesetze duldeten und Malta im gionale oder globale Finanzmitteldisposi- hatte Finanzminister Scicluna geschwänzt.
politischen Geben und Nehmen damit tion zentralisieren möchten“, heißt es in Als der Ausschuss im Februar selbst eine
durchkommen ließen. Zur Beschuldigung einer Imagebroschüre, geschrieben auf Delegation nach Malta schickte, konterte
Maltas gehört daher auch immer das poli- Deutsch. In dem Heft fehlt natürlich auch der Minister die Frage, warum so viele
tische Verschulden der anderen. Dass deut- nicht das ewige Mantra Maltas, dass die maltesische Berater in den Panama-Papers
sche Politiker das Problem natürlich kann- EU und die OECD das maltesische Steuer- auftauchten, verblüffend nassforsch: Es sei
ten. Sich ärgerten. Aber resignierten. system „gebilligt“ haben. So zeigt sich Mal- doch nicht illegal, Ratschläge zu geben.
Malta, die Felsinsel, ist nämlich ein har- ta eifrig als Vorzeigeland Europas, glück- Vielleicht war es aber auch nicht ganz
ter Brocken, auch politisch. Ob gerade die lich, in der EU zu sein. Und verteidigt noch legal, womit seine Regierungskollegen er-
Sozialisten oder die Konservativen regie- viel eifriger seine Piratenprivilegien. Mit wischt wurden: Durch die Panama-Papers
ren, in einem Punkt ist das egal: Ihr Para- allen Klauen. waren gleich zwei Spitzenpolitiker mit
dies der niedrigen Steuersätze wollen bei- Beispiele gefällig? Briefkastenfirmen aufgeflogen, der dama-

DER SPIEGEL 21 / 2017 65


IN DER SPIEGEL-APP
Wirtschaft

lige Energieminister Konrad Mizzi und schen EU-Präsidentschaft war eine stren-
Keith Schembri, die rechte Hand des Pre- gere Geldwäscherichtlinie. Unter der Hand
miers. Mizzi hatte eine Stiftung in Neusee- heißt es, hier gehe Malta voran, damit im
land, angeblich alles ganz sauber, erklärte Gegenzug das Steuersystem sakrosankt
er dem EU-Ausschuss. Schembri sagte Mi- bleibe. Und nun wird ausgerechnet Mus-
nuten vor einem Treffen mit der Brüsseler cats Frau neben Korruption auch Geldwä-
XABIER MIKEL LABURU

Delegation ab; die Parlamentarier hätten sche nachgesagt.


kein Recht, ihn zu befragen. Das Ehepaar weist die Vorwürfe empört
„Malta blockiert den Ausschuss“, klagt als Erfindung einer dubiosen Quelle zu-
Fabio De Masi, der für die Linken im rück. Die Opposition vermutet dagegen,
Ausschuss sitzt. Sein Grünen-Kollege dass Muscat bestochen wurde. Immerhin
Sven Giegold spricht von einer „Frech- waren der Premier, seine rechte Hand
heit“, wie Malta sich querlege, damit Schembri und der damalige Energieminis-
sich wenig bewege. Einen Fragenkatalog, ter Mizzi ohne Fachbeamte nach Aserbai-
den der Ausschuss an die 28 EU-Staaten dschan geflogen und mit einem Deal nach
verschickt hatte, ließ Malta bis heute un- Hause gekommen. Der verpflichtet Malta,
XABIER MIKEL LABURU

beantwortet. 18 Jahre lang Flüssiggas abzunehmen. Der


Das alles könnte aber nur ein Vorglü- Preis gilt als Staatsgeheimnis, das heizt
hen für den größten Politskandal in der Spekulationen an.
Geschichte Maltas sein. Vor drei Wochen Natürlich gilt die Unschuldsvermutung,
hat Premier Muscat überraschend Neu- doch selbst wenn an den Vorwürfen nichts
wahlen angekündigt, für den 3. Juni. Aus- dran sein sollte, bleiben noch genug Grün-
löser: Berichte, dass seine Frau Michelle de, Malta und seinen Politikern zu miss-
angeblich über eine Panama-Briefkasten- trauen. Warum aber machen die führen-
firma verfügte, an die mehr als eine den Industrienationen der EU, allen voran
Million Dollar als Kredit geflossen sein Deutschland, nicht so viel politischen
XABIER MIKEL LABURU

sollen. Absender soll Leila Alijewa gewe- Druck auf den Winzling, dass Malta in
sen sein, die Tochter des aserbaidschani- Steuerfragen endlich klein beigibt? Weil
schen Staatschefs. sie das selbst nicht wollen, glaubt De Masi,
Das wäre geradezu bizarr: Eines der nicht um jeden Preis zumindest. „Das ist
Hauptprojekte auch während der maltesi- wie bei einem Mafiadinner, alle haben die
Waffe unter dem Tisch in der Hand, wenn
einer schießt, schießen alle.“
Nicht nur Malta habe etwas zu verlieren,
so De Masi. Die großen Länder wollten
ihre Konzerne schützen, die vom Steu-
Der Marsch der erwettbewerb profitierten. Die deshalb

Schafe
Druck auf die Politik machten, um weiter
Steuern sparen zu können, in der EU, nicht
auf einer Offshore-Insel am Ende der Welt.
Auf einem jahrhundertealten Pfad führen
Außerdem habe man mit dem Brexit ge-
Enrique, Juan und Alejandro ihre Schafe je- rade doch genug Stress in Europa, und
des Jahr 400 Kilometer über die lichtüber- von irgendwas müsse ja auch das arme,
flutete spanische Zentralebene. Tausende kleine Malta leben – das seien dann so die
Tiere schieben sich dicht an dicht durch passenden Argumente zum verbreiteten
das Land: mitten durch Dörfer, über Stra- Schulterzucken.
ßen und durch die Felder. Der Fotograf Deshalb dürfte im Mayfair-Haus so
EAMONN M. MCCORMACK / GETTY IMAGES

Xabier Mikel Laburu hat die Herde auf ihrer schnell kein Steuerfahnder einrücken, um
die Substanz zu testen, bei Firmen wie
langen Reise begleitet. Seine faszinieren-
BASF, Sixt oder K+S. Stattdessen muss
den Bilder zeigen Spanien als Sehnsuchts- man sich an einem Morgen im Mai mit
ort, aber auch das raue Leben der Schaf- dem Postbotentest begnügen. Kurz nach
cowboys: Einst begründeten sie mit der zehn Uhr springt der Briefträger von sei-
feinen Merinowolle den Reichtum des Lan- Maltesischer Premier Muscat, Ehefrau nem Roller, rennt zu der Batterie von Brief-
des. Heute sind sie die Letzten ihrer Art. kästen im Eingang und verteilt einen Pa-
cken Umschläge. Zwei oder drei für K+S,
Sehen Sie die Visual Story im digitalen immerhin. Keiner für den Kasten von
BASF, keiner für den von Rheinmetall.
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
Auch keiner für Sixt, für einen der sechs
Sixt-Angestellten, die doch oben im fünf-
Floss eine Million ten Stock sitzen sollen.
Dollar auf ein Übrigens: Im Handelsregister steht als
Geschäftsführer der Sixt International
Panama-Konto der Services auf Malta ein Herr Braun. Peter
Braun. Sechster Stock.
First Lady? Jürgen Dahlkamp, Christoph Henrichs,
J E TZ T DI G I TAL L E S E N Gunther Latsch, Christoph Pauly, Jörg Schmitt

66 DER SPIEGEL 21 / 2017


Wirtschaft
Endlich einmal
gute
„Mindestlohn anheben“ Nachrichten:
Handel Wirtschaftsministerin Brigitte Zypries, 63 (SPD), wehrt sich ge-
gen Strafzölle der USA und fordert, die Binnenkonjunktur anzukurbeln. WARUM ES
SPIEGEL: Frau Ministerin,
Donald Trump hat seine
Politik unter das Motto
Euro ein Problem darstellt.
Hat er recht?
Zypries: Dass der Über-
DER WELT
„America first“ gestellt.
Wie lautet Ihre Antwort,
schuss sinken sollte, ist
keine neue Erkenntnis. IMMER BESSER
wenn Sie kommende Wo- Die Hauptfaktoren für
che mit seinem Team in
Washington sprechen: Ger-
many first?
Zypries: Keineswegs. Han-
den Überschuss liegen
aber im Ölpreis und im
Eurokurs, beides können
wir nicht steuern. Ein wei-
GEHT
DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL
del ist kein Kampf, bei dem terer Abbau des Über-
der eine gewinnt und der schusses geschieht durch
andere verliert. Von einem Investitionen, und da hat
fairen und freien Welthan- die Bundesregierung eine
del profitieren alle. Das ha- Menge getan. Auch wur-
ben auch die USA früher Ministerin Zypries de die Binnenkonjunktur
so gesehen, und ich bin zu- durch höhere Löhne an-
versichtlich, dass sie daran gekurbelt. Richtig ist aber
wieder anknüpfen. Jedenfalls werde ich auch, dass wir hier noch mehr unter-
meine Reise in die USA dazu nutzen, durch nehmen müssen.
Zuhören und Erklären wieder für dieses SPIEGEL: Was schwebt Ihnen vor?
gemeinsame Verständnis zu werben. Zypries: Löhne sind in Deutschland Sache
SPIEGEL: Die USA werfen deutschen Stahl- der Tarifparteien. Aber ich sehe Spielraum,
unternehmen unlauteren Wettbewerb vor die Verdienste der Beschäftigten weiter zu
und haben entsprechende Strafzölle ange- erhöhen. Ich halte es auch für geboten,
kündigt. Wie werden Sie reagieren? den gesetzlichen Mindestlohn bei der
Zypries: Wir werden unseren amerikani- anstehenden Überprüfung anzuheben.
schen Freunden darlegen, dass sich die be- Schließlich sind auch Preise und Mieten 128 Seiten mit Abbildungen
troffenen deutschen Unternehmen an die in den vergangenen Monaten deutlich Gebunden, A 14,99 (D)
Regeln gehalten haben. Auf dem Weltstahl- gestiegen. Vor allem aber müssen wir die Auch als E-Book erhältlich
markt gibt es große Überkapazitäten, vor staatlichen Investitionen in Infrastruktur
allem aus China. Dort liegen die Proble- und Bildung steigern. Leider ist es hier der
me – nicht in Deutschland. Finanzminister, der bremst.
SPIEGEL: Und wenn die USA an ihrer Posi- SPIEGEL: Trump hat angekündigt, die Un- Sterben heute mehr Menschen
tion festhalten? ternehmensteuern in den USA massiv zu durch Terror und Krankheiten
Zypries: Dann behalten wir uns vor, die EU senken. Muss Deutschland nachziehen? als früher? Stürzen mehr Flugzeuge ab?
dazu aufzufordern, vor der Welthandels- Zypries: Lassen Sie uns abwarten. Würde
organisation WTO zu klagen. umgesetzt, was Trump skizziert hat, würde Steigt die Kriminalität, oder sinkt sie?
SPIEGEL: Die USA haben aber deutlich ge- das in den Vereinigten Staaten zu Steuer- Und müssen wir wirklich immer
macht, dass sie von der WTO wenig halten. verlusten in Billionenhöhe führen. Die Ge-
Wie groß ist Ihre Sorge, dass sich Washing- genfinanzierung dieser Pläne ist mehr als
mehr arbeiten? Unser Gefühl sagt oft,
ton vom freien Welthandel verabschiedet? unklar. Auch die USA brauchen Geld für dass die Welt sich zum Schlechteren
Zypries: Ich rate da zur Gelassenheit. Vieles, Investitionen in öffentliche Infrastruktur. verändert, doch dabei übersehen wir,
was nach dem Amtsantritt Trumps an pro- SPIEGEL: Was machen Sie, wenn Trump sich
tektionistischen Tönen aus Washington durchsetzt? dass vieles seit langem immer besser
kam, hört sich heute anders an. Die neue Zypries: Einen Wettlauf um die niedrigsten wird. SPIEGEL-Autor Guido Mingels
Administration sieht viele Themen doch Unternehmensteuersätze wird Deutschland zeigt anhand von 52 Grafiken, dass
differenziert und sucht den Dialog. Mir ist nicht mitmachen. Schließlich sehen Betrie-
ein sachlicher Dialog hier auch deshalb so be nicht nur auf die Steuerhöhe, wenn sie wir allen Grund haben, optimistisch
wichtig, weil ich glaube, dass er fruchtet. entscheiden, wo sie sich ansiedeln. Es zäh- zu sein. Denn früher war tatsächlich
Erste Erfolge haben wir nach den Reisen len ebenso das Angebot an Fachkräften alles schlechter.
von Sigmar Gabriel und Angela Merkel in und ihre Qualifikation, die Infrastruktur
die USA gesehen. oder Bildungsangebote. Dass auch unsere
SPIEGEL: Am meisten ärgern sich die USA, Unternehmen gern geringere Steuern ha-
dass Deutschland noch immer mehr Waren ben möchten, ist nichts Neues. Doch wir
ausführt, als es importiert. Auch Finanz- alle möchten auch unser Sozial- und Ge-
minister Wolfgang Schäuble hat jüngst im sundheitssystem, die kostenlose Bildung,
SPIEGEL eingeräumt, dass der Handels- Straßen oder Kitas nicht missen, oder?
überschuss von mehr als 270 Milliarden Interview: Michael Sauga, Gerald Traufetter

DER SPIEGEL 21 / 2017 67 www.dva.de


Wirtschaft

An der Reihe
Geldpolitik Kanzlerin Merkel und Finanzminister Schäuble bringen Bundesbank-Chef Weidmann
als nächsten EZB-Chef ins Gespräch. Seine Chancen stehen nicht schlecht.

A
ls hemmungsloser Karrierist ist auch abseitige Überlegungen eine Rolle. Wo erstens werden auch schon andere Namen
Jens Weidmann bislang nicht auf- kommt der Kandidat her? Kam sein Land aus dem überschaubaren Kreis der Kandi-
gefallen. Der Werdegang des Bun- schon einmal zum Zuge? Welcher ökono- daten genannt, und zweitens läuft tatsäch-
desbank-Präsidenten gehorchte eher der mischen Glaubensrichtung hängt er an? lich einiges auf ihn hinaus.
Maxime „Halb zog es ihn, halb drängt Diese Gemengelage und die damit ver- Das liegt nicht zuletzt daran, dass schon
er hin“. bundenen Fallstricke sind dem Kandidaten im nächsten Jahr der Job von Draghis Vize
Immer wieder nahmen ihn Gönner und bewusst. Allen Ungewissheiten zum Trotz Vítor Constâncio frei wird. Die Suche nach
Förderer mit auf ihrem Weg nach oben. will Weidmann sich dennoch auf das Spiel einem Nachfolger für den Portugiesen ent-
Als der Bonner Ökonom Axel Weber zum einlassen. Gegenüber Vertrauten erklärte er wickelt unausweichlich Rückwirkungen
Bundesbank-Chef aufrückte, machte er sei- sich bereit, das Amt des EZB-Chefs zu über- auf die spätere Personalie, sodass mit dem
nen ehemaligen Studenten zum Abtei- nehmen, sollte es ihm angetragen werden. Geschacher um den einen Posten sofort
lungsleiter für Volkswirtschaft. Kanzlerin Als Chef der einflussreichen Bundes- das um den anderen einsetzt.
Angela Merkel holte den jungen Mann in bank, die im Verbund mit den übrigen na- Die Neubesetzung der beiden Spitzen-
die Regierungszentrale in Berlin und er- tionalen Notenbanken das europäische jobs gibt die Gelegenheit, zu einer eigent-
nannte ihn zu ihrem wirtschaftspolitischen Zentralbanksystem bildet, gilt er gleichsam lich angestrebten Ämterteilung zurückzu-
Chefberater. Als Weber zurücktrat, fiel die kehren. Danach galt als ausgemacht, dass
Wahl Merkels und ihres Finanzministers ein EZB-Chef aus dem Norden einen Vize
Wolfgang Schäuble schnell auf Weidmann aus dem Süden der Eurozone an die Seite
als Nachfolger. gestellt bekommt – und umgekehrt.
Die Karriere des Bundesbank-Chefs Dahinter stehen nicht nur nationale Ei-
scheint damit längst noch nicht beendet. telkeiten, sondern unterschiedliche geld-
In Berlin formieren sich wichtige Akteure, politische Glaubensschulen. Notenbanker
um Weidmann noch eine Etage höher zu aus dem Norden stehen im Ruf, einen
hieven: an die Spitze der EZB. Setzen sie strengeren Kurs zu verfolgen. Sie seien
sich durch, würde erstmals ein Deutscher eher bereit, die Zinsen anzuheben, um die
die Geschicke der nach der amerikani- Inflation einzudämmen. Vertreter des Sü-
schen Fed zweitwichtigsten Notenbank der dens dagegen gelten als Anhänger einer
Welt bestimmen. Zugleich droht aber auch lockeren Geldpolitik, die sich lieber mit
eine heftige Auseinandersetzung über die höheren Preissteigerungsraten abfinden,
künftige geldpolitische Ausrichtung der als durch höhere Zinsen eine Rezession
EZB, vor allem aber über die Dominanz auszulösen.
Deutschlands in Europa. Dass mit Draghi und Constâncio gleich
Kanzlerin Merkel und Finanzminister zwei Südländer an der Spitze der EZB
Schäuble sind fest entschlossen, deutsche Dienst tun, lag an einem Deutschen. Weid-
Ansprüche geltend zu machen. Im Kreis manns Vorgänger Weber trat kurz vor der
TIM WEGNER / LAIF

der EU-Staats- und Regierungschefs wol- Kandidatenkür einen Rückzug an, so rück-
len sie sich starkmachen für Weidmann, te Draghi auf die vakante Stelle.
wenn es im nächsten Jahr darum geht, die Den im nächsten Jahr frei werdenden
Suche für einen Nachfolger für EZB-Chef Vizeposten reklamieren die Spanier für
Mario Draghi ernsthaft anzugehen. Dessen Ökonom Weidmann sich. Wirtschaftsminister Luis de Guindos
Amtszeit endet zwar erst 2019, dennoch Wortführer der Falken macht aus seinen Ambitionen kein Ge-
setzen sie sich schon jetzt für Weidmann heimnis. Spanien hat noch nie einen der
ein. als natürlicher Kandidat. Im EZB-Rat, also beiden Spitzenposten besetzt, deshalb ste-
Schäubles Begründung für den Bundes- in der Runde, die die Geldpolitik in der hen die Chancen gut, dass sein Kandidat
bank-Oberen als EZB-Chef klingt ebenso Eurozone bestimmt, zählt Weidmann zu den Zuschlag bekommt.
nachvollziehbar wie sachfremd: Nach ei- den Schwergewichten, deren Wortmel- Das macht den Weg frei für einen EZB-
nem Niederländer, einem Franzosen und dungen von jedem aufmerksam registriert Chef aus dem Norden. Neben Weidmann
einem Italiener sei es an der Zeit, dass ein werden. werden zwei weitere Aspiranten genannt:
Deutscher an die Spitze der EZB rücke. Dennoch kommt dem Bundesbank-Chef der Chef der niederländischen Zentral-
Weidmann, 49, sei zudem ein Fachmann die Diskussion um seine Zukunft viel zu bank, Klaas Knot, und dessen französi-
von unbestrittenem Ansehen. Sein Fazit: früh. Er fürchtet einen häufig auftretenden scher Kollege François Villeroy de Galhau.
Gegen den Mann aus Frankfurt könne Automatismus: Ein Kandidat, der vor der Zumindest dem Chef der Banque de
doch wohl niemand etwas einwenden. Zeit ins Spiel gebracht wird, gilt schnell France werden Ambitionen nachgesagt. Er
Ganz so einfach liegen die Dinge dann als verbrannt. Entsprechend ausweichend spricht gut Deutsch und ist in jüngster Zeit
doch nicht. Offiziell und einem oft be- antwortet er, wenn er auf seine Zukunft auffallend häufig in Frankfurt unterwegs.
schworenen Ideal entsprechend geht es bei angesprochen wird: „Ich beteilige mich Die Befähigung beider Kandidaten ist un-
der Berufung in Spitzenämter der EZB nicht an dieser Diskussion.“ bestritten, dennoch verfolgt beide ein Ma-
streng nach Qualifikation. Doch in Wirk- Doch Weidmann muss sich dieses Mal kel: Ihre Länder waren schon einmal an
lichkeit spielen, wie immer in der Politik, keine allzu großen Sorgen machen. Denn der Reihe, sie stellten mit Wim Duisenberg

68 DER SPIEGEL 21 / 2017


mal verteidigt er sogar die umstrittenen
Folgen der lockeren Geldpolitik, etwa die
Tatsache, dass die Sparer kaum noch etwas
für ihre Guthaben bekommen. „Es gibt
kein Menschenrecht auf positive Verzin-
sung“, ließ er sich vernehmen.
Viele argwöhnen, er verfolge seinen
Kurs der Mäßigung und Zurückhaltung,
um auch in anderen Ländern seine Akzep-
tanz zu steigern.
Fraglich ist, ob sich Weidmann mit sei-
nen Überzeugungen im mehrheitlich von
Anhängern einer lockeren Geldpolitik
dominierten EZB-Rat durchsetzen kann.
Sein Vorgänger Axel Weber schlug den
EZB-Chefposten nicht zuletzt mit der Be-
gründung aus, gegen die Mehrheit der
Tauben werde er auf Dauer den Kürzeren
ziehen.
Weidmann scheut den Kampf bergauf
offensichtlich nicht. Er vertraut auf die
Kraft seiner Argumente, auch sind die
Mehrheitsverhältnisse im EZB-Rat nicht
für die Ewigkeit zementiert. Und zu guter
Letzt ändern sich Umstände.
Als Webers Beförderung anstand, war
absehbar, dass die Geldpolitik noch auf
Jahre hinaus im Krisenmodus verharren
würde, weil die Euro- und Finanzkrise
nach offenen Geldschleusen verlangte.
Jetzt stehen die Zeichen auf Normali-
sierung. Der EZB-Rat erstellt gerade einen
Fahrplan, um aus dem Ankaufprogramm
für Anleihen auszusteigen. Auch höhere
Zinsen werden schon wieder anvisiert
(SPIEGEL 20/2017). In diesem Umfeld könn-
te es Weidmann viel einfacher haben, sich
durchzusetzen.
Dennoch wird sich Weidmanns Kandi-
datur nicht zu einem Selbstläufer entwi-
CHROMORANGE / MAURITIUS IMAGES

ckeln. Seine Gegner könnten beispielswei-


se vorbringen, dass mit Klaus Regling an
der Spitze des Rettungsschirms ESM schon
ein Deutscher ein Spitzenamt auf euro-
päischer Ebene bekleide. Den absehbaren
Einwand lässt Schäuble nicht gelten. Der
ESM sei eine Einrichtung der Eurostaaten,
EZB-Neubau in Frankfurt am Main keine europäische Institution. Außerdem
Wohnort um die Ecke sei sein Metier die Finanzpolitik, nicht die
Geldpolitik.
den ersten und mit Jean-Claude Trichet einer der wenigen im Zentralbankrat zu Für viele im Mitarbeiterstab der EZB
den zweiten EZB-Präsidenten. sein, die sich nicht nur um den Fortbestand stellt der Deutsche jedenfalls kein Schreck-
Die Konstellation vergrößert die Chan- des Euro, sondern auch um dessen künfti- gespenst dar. Eine völlige Kehrtwende in
cen Weidmanns, auch wenn in einigen gen Wert Sorgen machen. So erwarb er der Geldpolitik erwarten sie nicht. Allen-
Ländern, besonders denen des Südens, sich das Image eines geldpolitischen Fal- falls graduell werde sich der Kurs der EZB
Vorbehalte gegen ihn herrschen. Vor allem ken, der ganz in der Tradition der Bundes- unter einem Präsidenten Weidmann von
die Italiener würden sich schwertun, den bank steht. dem jetzigen unterscheiden.
Deutschen an der Spitze der EZB zu ak- Der Kurs brachte ihm in der eigenen Be- Mancher EZB-Experte erhofft sich von
zeptieren. hörde, aber auch in der deutschen Öffent- Weidmann auch, dass er mehr Präsenz
Denn Weidmann tat sich in den zurück- lichkeit gehörigen Respekt ein. So stieg er zeigt als der derzeitige Präsident. Der lässt
liegenden Jahren als vehementer Kritiker auf zum Wortführer der Hardliner im EZB- sich nur vergleichsweise selten in der Zen-
Draghis hervor. Er stimmte gegen das An- Rat, sehr zum Ärger Draghis. Der warf sei- trale am Main blicken. Draghi schätzt die
kaufprogramm für Staatsanleihen, und nem Kontrahenten aus der Frankfurter Vorzüge der Heimarbeit, weit weg von
auch so manche Zinssenkung kam ihm zu Nachbarschaft auf Deutsch vor, er sage Frankfurt, zu Hause in Italien.
schnell. „Nein zu allem“. Für Weidmann liegt der EZB-Neubau
Durchsetzen konnte Weidmann sich fast In jüngster Zeit hat Weidmann seine dagegen fast um die Ecke. Er wohnt in der
nie, dennoch hinterließ er den Eindruck, Rhetorik auffällig zurückgefahren. Manch- Nähe Frankfurts. Christian Reiermann

DER SPIEGEL 21 / 2017 69


CHAI ZHENG / CNSPHOTO / VCG / PICTURE ALLIANCE / DPA
CHRISTOPH PAPSCH / LAIF

Manager Asbeck Solarpark in China

„Das ist Doping“


Energie Der Unternehmer Frank Asbeck über die Insolvenz von Solarworld,
die Billigkonkurrenz aus China und eigene Fehler

Als Asbeck, 57, am vorvergangenen Mittwoch Asbeck: Wenn man seit 2007 kaum noch anwaltschaften und Zollfahnder untersu-
den Insolvenzantrag beim Amtsgericht Bonn Dividenden ausschüttet und 2013 eine chen. Dabei geht es um Zollhinterziehung,
einreichte, trug er schwarze Jeans. Für den komplizierte Umstrukturierung wuppen gefälschte Ladedokumente und Cash-
Solarzellenproduzenten, in besseren Zeiten musste, dann sieht man, dass es der pro- Back-Zahlungen. Viele haben mir in dem
als Sonnenkönig verehrt, sieht es düster aus. duzierenden Solarindustrie nicht unbe- Zusammenhang ja Alarmismus vorgewor-
Über das von ihm gegründete Unternehmen dingt gut geht. Aber wir haben bis zuletzt fen, aber fairer Handel sieht für mich an-
Solarworld, einst der Hoffnungsträger der natürlich auf unsere Produktqualität ge- ders aus: Wir sind mit illegalen Mitteln zur
deutschen Ökobranche und an der Börse zeit- setzt und hatten einen testierten Business- Strecke gebracht worden.
weise 4,8 Milliarden Euro wert, herrscht nun plan bis 2019, der die Fokussierung auf SPIEGEL: Warum reichten Ihr Know-how
der Insolvenzverwalter. Hochleistungsprodukte noch mal schärfte. und der technische Vorsprung nicht aus,
Der Preisverfall seit vergangenem Jahr, um die Chinesen auf Abstand zu halten?
SPIEGEL: Wie fühlt es sich an, wenn man ausgelöst durch die extreme chinesische Asbeck: Weil Sie gegen diese Art Komman-
vom Hoffnungsträger zum Totengräber der Überproduktion und deren Notverkäufe dowirtschaft schwer ankommen. Die Chi-
deutschen Solarbranche wird? zu Dumpingpreisen, hat uns dann aber das nesen haben ja bereits 2003 die Solar-
Asbeck: Ach, da ist jetzt viel Häme im letzte Wasser abgegraben. Da geht es am industrie als strategisch wichtige Schlüs-
Spiel. Einige fühlen sich nun in ihrem jahr- Ende um Cent-Beträge: Jeder Cent, den seltechnologie definiert. Darauf wurden
zehntelangen Kampf gegen die erneuer- wir am Markt nicht erzielen, bedeutet zig dann die Betriebe angesetzt. Mit Staats-
baren Energien bestätigt. Dass da jetzt Millionen Euro weniger Ertrag. Nicht Um- bankkrediten wurde eine Kapazität auf-
rund 3000 Arbeitsplätze auf dem Spiel ste- satz, Ertrag! Auch in der Vorschau hatte gebaut, die heute die weltweite Nachfrage
hen, scheint denen egal. Andere sehen al- sich das noch mal verschärft. Da haben 1,3-mal bedienen kann. Auf diesen Druck
lerdings, dass wir gerade riskieren, eine wir die Nase nicht mehr hochbekommen. haben wir reagiert. Unsere Forschungs-
Schlüsseltechnologie in Deutschland kom- SPIEGEL: 2006, als China bereits als Kon- abteilung stockten wir auf über hundert
plett zu verspielen. Hier geht es um For- kurrent für Solarmodule auf dem Markt Leute auf, 25 bis 40 Millionen Euro sind
schung und Know-how in der wichtigsten war, prognostizierte die Unternehmens- da pro Jahr reingeflossen.
Energiewendetechnologie. Wir waren die beratung Roland Berger, die Ökoenergie- SPIEGEL: Aber Sie sind dennoch im Mas-
Protagonisten der Innovation und haben branche werde 2030 fast so viele Mitarbei- senmarkt der einfachen, sogenannten mul-
Hochleistungsmodule verkauft, die tech- ter ernähren wie die Autoindustrie. Die tikristallinen Zellen stecken geblieben.
nologisch führend sind. Für unsere Quali- hat heute 775 000 Beschäftigte, die Öko- Asbeck: Wir haben frühzeitig an Alterna-
tät haben die Leute auch etwas mehr Geld strombranche nicht mal die Hälfte. Nur tiven gearbeitet. Bei der Fotovoltaik geht
ausgegeben, freiwillig. noch rund 30 000 Menschen arbeiten im es heute aber nicht mehr um Revolution,
SPIEGEL: Es waren zum Schluss aber offen- Solarbereich. Ist dieser Niedergang nur mit sondern um Evolution. Sie müssen den
bar nicht mehr genug Leute. China zu erklären? Wirkungsgrad der einzelnen Zelle und die
Asbeck: Offenbar, und das ist traurig. Es Asbeck: Ja. Es wurde doch gerade beschrie- Langlebigkeit des Moduls erhöhen. Da wa-
ist traurig, dass mit Solarworld jetzt der ben, wie chinesische Solarkonzerne offen- ren wir zusammen mit dem Fraunhofer-
Kern der deutschen Solarproduktion, die bar mithilfe deutscher Komplizen seit Jah- Institut immer rund zwei Jahre vor den
letzte Fertigung, die alle Wertschöpfungs- ren Anti-Dumping-Zölle umgehen, um ihre Chinesen. Obwohl wir mit den dortigen
stufen umfasst, zur Disposition steht. Das monströsen Überkapazitäten loszuwerden. Arbeitsbedingungen und Löhnen nicht
belastet mich persönlich sehr. SPIEGEL: Was meinen Sie konkret? konkurrieren können und wollen, haben
SPIEGEL: Mussten Sie das nicht kommen Asbeck: Die Vorwürfe in Bezug auf chine- wir dem Druck ja lange standgehalten.
sehen? sische Importe, die jetzt deutsche Staats- SPIEGEL: Wie das?

70 DER SPIEGEL 21 / 2017


Wirtschaft

Asbeck: Was die an Lohnkosten günstiger SPIEGEL: … ’ne interessante Subvention … SPIEGEL: Die EU-Importzölle, auf die Sie
waren, haben wir über Automatisierung, Asbeck: … die wir als Kleinproduzent, der wie kein anderer gedrängt haben, hätten
Qualität und einen leicht höheren Preis wir damals noch waren, unterstützt haben. der Branche auch hierzulande zusätzlich
kompensiert. Unser Problem war die an Das ist unsere heilige Pflicht gewesen. geschadet, wird Ihnen vorgehalten.
allen Ecken und Enden in China subven- Profitiert haben davon in erster Linie die Asbeck: Die Frage ist, wem. Produktions-
tionierte Produktion, das ist Doping. Wenn Kunden. betriebe sind großteils auf unserer Seite –
wir darauf nicht reagieren, wird diese auch weil die EU dieses Preisdumping ja
künstliche Leistungssteigerung auch ande- Frank Asbeck muss das Interview unter- nachgewiesen hat. Bei den Händlern oder
re Branchen ruinieren. Es geht dann nicht brechen, weil er zum Insolvenzverwalter Installationsbetrieben sieht das natürlich
mehr um Innovation, sondern nur noch gerufen wird. anders aus.
um die Frage, wer länger durchhält. SPIEGEL: Die Solarbranche boomt, 2016 sind
SPIEGEL: Laut einer Branchenstudie produ- SPIEGEL: Um was ging es? weltweit 75 Gigawatt Leistung installiert
zieren die Chinesen nicht wegen der Sub- Asbeck: Es geht um Hunderte kleine Ent- worden. Deutschland ist mit 1,5 Gigawatt
ventionen günstiger, sondern weil sie bil- scheidungen, die jetzt jeden Tag getroffen nur noch ein Winzling und ist inzwischen
liger einkaufen, größere Fabriken vorhal- werden müssen, etwa um die Freigabe ei- hinter Großbritannien zurückgefallen, wa-
ten und sich nur aufs Massengeschäft der niger Hundert Euro für den Einkauf von rum?
multikristallinen Zellen beschränken. Gasen. Ohne die würde ein Teil der Pro- Asbeck: Fünf Jahre Schlechtreden hat der
Asbeck: Diese Studie war ja von Impor- duktion in Sachsen zum Erliegen kommen. Solarenergie zugesetzt. Hinzu kamen die
teuren finanziert. Fabriken, die auf Über- SPIEGEL: Sie haben kürzlich von eigenen sinkende Vergütung, Zubaugrenzen und Ei-
produktion angelegt sind, sind ja weder Fehlern gesprochen. Sie hätten eher die genverbrauchsabgabe. Gleichzeitig haben
sinnvoll noch nachhaltig und in einer sogenannte Perc-Technologie entwickeln wir aber Kosten gesenkt: Die Module sind
Marktwirtschaft völlig irrational. Bei den sollen, die mit verspiegelten Zellenrück- heute so günstig, dass sie problemlos mit kon-
Einkaufspreisen unterscheiden wir uns wänden eine höhere Ausbeute erlaubt. ventionellem Strom konkurrieren können.
nicht groß von den Chinesen. Wenn Sie Wie weit sind Sie zudem etwa mit lokalen SPIEGEL: Was sagen Sie nach der Insolvenz
allerdings subventionierten Strom bekom- Speicherlösungen für Sonnenenergie? nun Ihren Aktionären?
men und subventionierte Rohstoffe und Asbeck: Die Perc-Technologie haben wir Asbeck: Die Aktionäre sind natürlich ihres
immer neue Staatskredite, dann können seit 2012 als Erste entwickelt. Vielleicht Besitzes enthoben …
wir eben irgendwann nicht mehr mit. hätten wir das noch etwas eher an den SPIEGEL: … zum zweiten Mal …
SPIEGEL: Sie reden dauernd von Subven- Markt bringen können, aber das war eine Asbeck: … ja, eigentlich zum zweiten Mal
tionen, dabei ist Ihr Unternehmen das Abwägungssache. Speicherlösungen haben nach 2013. Aber das ist höchstens die halbe
Kind eines der größten staatlichen Auf- wir übrigens als Erste im Programm ge- Wahrheit, denn viele andere haben auch
zuchtprogramme überhaupt, des Erneuer- habt. Wir sind allerdings nicht selbst in die sehr viel mit uns verdient.
bare-Energien-Gesetzes, kurz EEG. Und Produktion eingestiegen, das können SPIEGEL: Sie zum Beispiel. Ungefähr hun-
an dem haben Sie auch noch mitgewirkt. etablierte Batteriehersteller besser. Wir dert Millionen Euro sind über die Jahre in
Asbeck: Ich hab da nicht mitgewirkt, ich ha- waren auch die Ersten, die komplette Sys- Ihre Privatkasse geflossen.
be mich stark bemüht, dass so was kommt … temlösungen fürs Dach angeboten haben, Asbeck: Oh Gott. Schauen Sie, in 21 Jahren
SPIEGEL: … Sie hätten „mitgebastelt“, hieß inklusive Batteriespeichern, Wechselrich- Solarworld habe ich neun Millionen Euro
es in der „Frankfurter Allgemeinen Sonn- tern und Steuerungssoftware für Wärme- als Vorstandsgehalt bekommen. Umgerech-
tagszeitung“ … pumpen. net sind das unter einer halben Million Euro
Asbeck: … da wissen Sie doch gar nicht, SPIEGEL: Wo steht die deutsche Solar- pro Jahr. Das ist viel Geld. Aber verglei-
ob das stimmt. Ich kann doch nicht jedem industrie heute noch? chen Sie das mal mit anderen Unterneh-
dummen Zeug widersprechen. Aber im Asbeck: Nach der Insolvenz von Q-Cells, men, die so kapitalisiert waren wie wir.
Ernst: Diese Förderung war ja Konsens. Conergy und Solon, um nur drei zu nen- Und, ja, ich habe, wie jeder Aktionär, Divi-
Und begonnen hatte das unter CDU-For- nen, gibt es noch etwa ein Dutzend Mo- denden bekommen – und Aktien verkauft.
schungsminister Riesenhuber mit dem dulfertiger und noch Hersteller von Equip- SPIEGEL: Es gab den Vorwurf, dass Sie An-
1000-Dächer-Programm. Dass dann später ment und Wechselrichtern. Einen voll- fang 2013 drohende Schadensersatzforde-
daraus das EEG entstand, das war ’ne in- integrierten Produzenten gibt es außer uns rungen aus einem strittigen Silizium-
teressante Sache … nicht mehr. geschäft in den USA den Aktionären so
lange vorenthalten hätten, bis Ihr damali-
ger Aktienverkauf abgewickelt war.
In den Schatten gestellt Preis für Solarmodule Asbeck: Wenn da irgendwas dran gewesen
in Deutschland pro Wp wäre, wäre es doch aufgegriffen worden.
4,00 € 0,30 € SPIEGEL: Ist der Firmensitz mit Ihrem Büro,
Wp: Watt Peak (elektrische
2006 Leistung von 1 Kilowatt unter 2016 den 99 Fuchsfellen an der Wand und dem
6000 Standardbedingungen) Gänsegehege draußen Teil der Insolvenz-
masse?
Asbeck: Nein, die Immobilie gehört mir
rd. 100 000
privat, die hat der Konzern von mir ge-
4000 Weltweite Produktions- mietet, für 9,80 Euro pro Quadratmeter.
kapazität von Solarmodulen,
SPIEGEL: Was haben Sie jetzt vor?
Leistung in Megawatt
Asbeck: Ich hab schon ein paar gute Ein-
Aktienkurs in Euro* davon China 70559 fälle, das hört ja nicht auf. Ich hab was im
2000
Kopf, was jeder braucht. Erneuerbare
Stand übriges Asien 17142 Energien natürlich. Der Markt wird auf
Quelle: 17. 5. 2017
Thomson Reuters Datastream 1,32 € rd. 4200 100 Gigawatt steigen. Da wird die eine
*um Kapitalmaßnahmen bereinigt übrige Welt 12285 oder andere sonnige Idee wohl noch rein-
2006 2016 2006 Quellen: Fraunhofer-Institut, IHS 2016 passen. Interview: Frank Dohmen, Nils Klawitter
DER SPIEGEL 21 / 2017 71
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Schlafwanderer
Die Provinzhauptstadt Zhengzhou ist ein Drehkreuz des chinesi-
schen Bahnverkehrs, hier treffen sich die Züge aus Peking und
Hongkong. Zehntausende steigen täglich um, viele erreichen ihren
Anschlusszug nicht. Weil es an preiswerten Schlafplätzen
mangelt, bleibt vor allem Wanderarbeitern nachts nur das Lager
vor dem Bahnhof – auf immerhin blank geputzten Platten.

Kommentar

Kein Messias wird kommen


Auch dieser US-Präsident wird (wie alle) am Nahostkonflikt scheitern.
Ein paar Monate lang erschien Donald Trump den israelischen ministerin Tzipi Livni. Ausgerechnet die Opposition feiert plötz-
Rechten als eine Art Messias. Erst versprach er im Wahlkampf, lich Trump. Auch die Palästinenser, deren Charmeoffensive in
die US-Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, Washington offenbar fruchtete, wirken geradezu heiter. Trumps
dann verwarf er die Zwei-Staaten-Lösung und brachte seinen erste Auslandsreise im Amt beginnt mit einem zweitägigen Be-
jüdischen Schwiegersohn als Vermittler ins Spiel. Doch vor such in Riad, wo er eine Rede zum Islam halten will – wie Ba-
seiner Reise ins Heilige Land ist die Ernüchterung groß, das rack Obama in Kairo 2009. Er wird dort auch die Führer der an-
zeigt der Streit ums Programm. Beim Besuch an der Klage- deren Mitglieder des Golfkooperationsrates treffen, die gerade
mauer will Trump den israelischen Premier nicht dabeihaben; eine Initiative planen, deren Kern ein Siedlungsbaustopp ist
sie liege ja im Westjordanland, soll einer von Trumps Leuten als Bedingung für Wirtschaftsbeziehungen mit Israel. Mit sunni-
das begründet haben. Und in Yad Vashem will er nur 15 Minu- tischen Staatschefs wie dem Ägypter Abdel Fattah el-Sisi ver-
ten verbringen. Die Botschaftsverlegung ist bis auf Weiteres steht Trump sich gut; Wirtschaftsinteressen dürften ihm ohne-
eingefroren; Trumps Sicherheitsberater betonte gar, der Präsi- hin wichtiger sein als ein gutes Verhältnis zu Israel.
dent wolle die „palästinensische Selbstbestimmung“ fördern. Dass Trumps Egotrip zu neuen Friedensverhandlungen, gar
Damit hat sich Trump der Position seiner Vorgänger ange- einem „ultimativen Deal“ führt, ist unwahrscheinlich – dem
nähert. „Wir haben einen Präsidenten, der groß denkt und die stehen all die inhaltlichen Fragen im Weg, an denen schon sei-
harten Themen anpackt“, sagte die liberale frühere Außen- ne Vorgänger immer wieder gescheitert sind. Nicola Abé

74 DER SPIEGEL 21 / 2017


Ausland
Frankreich rungsmehrheit in der Assem-
Kluge Eröffnung blée braucht, um seine Re-
formvorhaben durchsetzen zu
Obwohl jede Richtung – also können. Bis vor Kurzem galt
Linke, Rechte und die Mitte – das noch als schier unmögli-
vertreten ist, hat Emmanuel ches Vorhaben, nun zeigen
Macron sein Kabinett nicht Umfragen: Er hat gute Chan-
zusammengewürfelt. Eher cen. Macrons neue Partei La
gleicht die Besetzung einem
raffiniert geführten Schach-
République en marche liegt
gemeinsam mit dem Bündnis-
Trumps Woche
spiel. Sein Ziel: die bürgerli- partner Modem vorn. Am Wochenende beklagte
che Rechte matt zu setzen, da- Auch die anderen Posten sich Donald Trump bei Fox
mit sie keine Mehrheit be- hat Macron intelligent ver- News über seine Arbeits-
kommt bei den Parlaments- teilt, selbst treue sozialisti- belastung. „Ein anderer Präsi-
wahlen Mitte Juni. Zuerst er- sche Weggefährten hat er dent würde im Oval Office
nannte der Präsident mit nicht vergessen. So hat er sitzen und den ganzen Tag
Édouard Philippe, 46, einen den Lyoner Bürgermeister praktisch gar nichts machen.“
Konservativen zum Premier, Gérard Collomb zum Innen- Ganz anders Trump. Danach
dann übergab er ihnen zwei minister gemacht und den ging er Golf spielen, zum
wichtige Ministerien. Bruno bisherigen Verteidigungs- 21. Mal in seiner Amtszeit.
Le Maire, 46, ist für die Wirt- minister Jean-Yves Le Drian Die neue Woche wurde
schaft zuständig, Gérald Dar- ins Außenministerium ver- allerdings schlimmer als die
manin, 34, für den Haushalt. setzt. Die Europaabgeordnete Vorwoche, und die war schon
Le Maire war bereits Minister Sylvie Goulard, eine Verbün- katastrophal. Erst kam am
unter Nicolas Sarkozy, Dar- dete der ersten Stunde, hat er Montag heraus, dass Trump
manin dessen Sprecher. Beide zur Verteidigungsministerin mit geheimen Informationen
sind eher dem progressiven ernannt. Zudem hat Macron geprotzt hatte, ausgerechnet
Flügel der Rechten zuzuord- Wort gehalten und auch gegenüber dem russischen
nen. Von einer „Geiselnah- Nichtpolitiker mit Posten be- Außenminister. Dann wurde
me“ sprachen Vertreter der dacht, die Kulturministerin bekannt, dass der Ex-FBI-
Républicains, und der Partei- etwa, Chefin des angesehe- Chef seine Gespräche mit
chef verkündete sogleich den nen Verlags Actes Sud. Oder dem Präsidenten protokolliert
Parteiausschluss der drei. den neuen Umweltminister, hatte, der ihn offenbar zu er-
Damit könnte Macrons Kal- der zwar als Fernsehmodera- pressen versuchte. Danach
kül aufgehen: So gespalten tor äußerst beliebt ist, dessen wurde ein Sonderermittler be-
XIAO YU / IMAGINE CHINA / LAIF

wie die Rechte sich derzeit Einstellung zur Kernkraft stellt. Seitdem wird das Wort
zeigt, besteht wenig Aussicht jedoch bisher unklar ist. Die Impeachment in Washington
auf einen fulminanten Sieg wichtigen Ressorts hat der ziemlich oft gegoogelt.
bei den Parlamentswahlen. neue Präsident allerdings in Trotzdem hätte es mit dem
Das kommt dem neuen Präsi- den Händen der Profis be- Besuch seines Bruders im
denten zupass, der eine Regie- lassen. hey Geiste, des türkischen Präsi-
denten Recep Tayyip Er-
doğan, noch eine schöne Wo-
che werden können. Endlich
Brasilien Haft verurteilt. Temer und sei- rück und entkräftete Gerüchte gratulierte ihm mal wieder
Präsident ne Leute sollen von Schmier-
geldern des weltgrößten
über seinen bevorstehenden
Rücktritt. Sollten sich die Ent-
jemand zu seinem „legendä-
ren Triumph“ bei der Wahl,
im Zwielicht Fleischkonzerns JBS profitiert hüllungen als wahr erweisen, wofür sich Trump artig be-
Nach einem Jahr im Amt haben. Der Präsident wies am wäre eine Amtsenthebung dankte und auf die „unschlag-
steht Präsident Michel Temer Donnerstag alle Vorwürfe zu- unvermeidbar. jgl bare Beziehung“ zwischen
am Abgrund: Am Donnerstag den beiden Ländern verwies.
genehmigte Brasiliens Obers- Dumm nur, dass Erdoğans
tes Gericht Ermittlungen ge- Bodyguards mehrere De-
gen ihn. Temer soll der Zah- monstranten brutal angriffen,
lung von Schweigegeld an sei- wie sie das eben aus ihrer
nen inhaftierten Parteifreund Heimat so gewöhnt sind.
Eduardo Cunha zugestimmt Zum Glück konnte Trump
haben, das geht offenbar aus dem innenpolitischen Elend
einer Tonbandaufnahme her- am Freitag entkommen und
vor. Exparlamentspräsident nach Saudi-Arabien reisen.
Cunha gilt als Mastermind Zwar sind die Frauen ver-
EDEL RODRIGUEZ FÜR DEN SPIEGEL

hinter Dilma Rousseffs Ab- schleiert, aber man teilt hier


ANTONIO CRUZ / AFP

setzung, er wurde im Zusam- seine Vorliebe für Gold, Kris-


menhang mit dem Korrup- talllüster und die Herrschaft
tionsskandal um den Ölkon- Temer, Cunha im November 2015 von Familienclans. Und Golf-
zern Petrobras zu 15 Jahren plätze gibt es natürlich auch.

DER SPIEGEL 21 / 2017 75


SPENCER PLATT / AFP
Präsident Trump: „Kein Politiker in der Geschichte ist schlechter oder unfairer behandelt worden“

Der kindliche König


USA Das Weiße Haus versinkt in einem Strudel aus Skandalen, Chaos und Wahnwitz.
Nun soll ein Sonderermittler die Russlandverbindungen untersuchen. Doch die
wichtigste Frage lautet inzwischen: Ist der Präsident seinem Amt mental gewachsen?

A
m Mittwoch, wenige Stunden bevor wie ungerecht es zugeht in der Welt. Denn zwar ausgerechnet an den Außenminister
ein Sonderermittler gegen ihn ein- es gibt eine Regel bei Donald Trump: Der Russlands, Sergej Lawrow. Das ist nicht
gesetzt wird, steht Donald Trump Einzige, der nie schuld ist, ist er selbst. Da- strafbar, aber dumm.
vor Absolventen der Akademie der Küs- bei hat er fast alles, was in diesen Tagen Am Dienstag folgte der explosive Bericht,
tenwache. Er soll eine inspirierende Rede geschieht, sich selbst zuzuschreiben. dass FBI-Chef Comey seine Unterhaltun-
halten, eine positive Botschaft verbreiten, Die Präsidentschaft Donald Trumps hat- gen mit Trump schriftlich festgehalten hat;
wie man es eben macht bei Abschlussfei- te von Anfang an etwas Unwirkliches, et- Auszüge daraus wurden veröffentlicht.
ern. Stattdessen redet er mal wieder über was von Reality-TV. Doch seit vergangener Seither kann jedermann nachlesen, wie
sich selbst. „Im Lauf eures Lebens werdet Woche scheint es, als hätte endgültig ein der Präsident bei einem Dinner von Co-
ihr erfahren, dass die Dinge nicht immer Drehbuchautor auf Drogen das Komman- mey im Mafiastil Loyalität verlangt hat. In
fair sind“, sagt er zu den Graduierten. do übernommen. Seit dem 9. Mai, als einem anderen Gespräch soll er ihn ange-
„Schaut nur, wie ich behandelt worden bin, Trump den FBI-Direktor James Comey wiesen haben, die Untersuchung gegen
vor allem von den Medien. Kein Politiker entließ, endet fast jeder Tag in Washington den gefeuerten Nationalen Sicherheits-
in der Geschichte ist schlechter oder unfai- mit einer atemberaubenden Enthüllung berater Mike Flynn einzustellen. Beides
rer behandelt worden.“ der „New York Times“ oder der „Washing- lehnte Comey ab, deshalb wurde er später
Kein Politiker in der Geschichte. Nicht ton Post“. von Trump entlassen. Die Comey-Memos
Nelson Mandela, nicht Mahatma Gandhi, Am Montag kam heraus, dass Trump so werden nun die Untersuchungsausschüsse
nicht John F. Kennedy. Sondern er. Da stolz darauf war, dass er über „die besten beschäftigen. Trump könnte sich der
steht ein Milliardär, der das mächtigste Geheimdienstinformationen“ verfügt, dass Behinderung der Justiz schuldig gemacht
Amt der Welt ausübt, und beklagt sich, er zum Beweis einfach welche verriet, und haben.
76 DER SPIEGEL 21 / 2017
Ausland

Am Mittwoch überraschte Vizejustizmi- hauptungen prahlt und sich nicht unter und Pflichten seines Amtes auszuüben“.
nister Rod Rosenstein das Weiße Haus, in- Kontrolle hat. Dazu wird es aber wohl nicht kommen.
dem er eigenmächtig einen Sonderermittler Es geht daher nicht mehr nur darum, ob Schon verfassungsrechtlich ist der Vor-
ernannte, der die Verbindungen Trumps der Präsident Gesetze gebrochen hat, es schlag zweifelhaft. Aber er zeigt, dass sich
und seines Teams zu Russland untersuchen stellt sich die ganz grundsätzliche Frage selbst im Umfeld des Präsidenten viele
soll – die Macht dazu hat er, weil der Jus- nach seiner psychischen Verfasstheit – und Menschen Gedanken über seine geistige
tizminister sich in der Russlandangelegen- ob sie ihn daran hindert, sein Amt ord- Fitness machen.
heit für befangen erklären musste. Da war nungsgemäß auszuüben. Ob er, der impuls- Wenn es ein eindeutiges Zeichen dafür
die Woche erst zur Hälfte vorbei. getriebene Narzisst, womöglich gar nicht gibt, wie schlecht die Stimmung im Wei-
Der Sonderermittler, der ehemalige FBI- versteht, dass sein Handeln falsch ist. ßen Haus ist, dann sind es die ständigen
Chef Robert Mueller, untersteht zwar for- Warum feuerte er FBI-Chef Comey? Leaks. Jede Kleinigkeit aus dem Inners-
mal dem Justizministerium, aber er ist eine Weil er halt sauer war. Warum verriet er ten dringt nach draußen, in manchen Be-
allseits geschätzte, unabhängige Persönlich- den Russen geheime Informationen? Weil richten zitieren US-Medien ein oder zwei
keit. Er hat nun die Aufgabe, mit seiner er halt gern prahlt. Dutzend anonyme Quellen – was fast
Untersuchung die Fakten zu ergründen, Der konservative „New York Times“- schon an einen kollektiven Hilfeschrei
vielleicht auch: dem Land den Glauben da- Kolumnist Ross Douthat schrieb, er glaube denken lässt.
ran zurückzugeben, dass es noch so etwas nicht, dass der Präsident wirklich zu dunk- Es sind vielsagende Anekdoten. So sol-
wie eine unabhängige Instanz gibt, der man len Verschwörungen in der Lage sei – er len etwa die Mitarbeiter des Nationalen
vertrauen kann. verstehe einfach nicht ausreichend, wel- Sicherheitsrats, die den Präsidenten in Mi-
Es ist kaum zu glauben, aber Trump ist ches Amt er überhaupt bekleide. „Ein litär- und Geheimdienstangelegenheiten
erst seit 120 Tagen im Amt. Politisch hat Kind darf nicht Präsident sein. Ich liebe unterrichten, damit begonnen haben, in
er in dieser Zeit wenig erreicht, aber er meine Kinder. Aber sie dürfen nicht die möglichst vielen Absätzen ihrer Briefings
hat Amerika an den Rand eines Nerven- Codes für die Atomwaffen haben.“ den Namen „Trump“ unterzubringen.
zusammenbruchs getrieben. Es ist schwer Douthat schlägt vor, die Untersuchun- Denn da, wo er seinen Namen sehe, lese
vorstellbar, wie das Land weitere 120 Tage, gen zu Russland sein zu lassen, kein for- er weiter. Trump ist ein Mann von 70 Jah-
geschweige denn drei Jahre und acht Mo- melles Amtsenthebungsverfahren zu be- ren, dessen Persönlichkeitsstruktur ihn
nate überstehen kann. ginnen, sondern den Präsidenten über den daran hindert, Neues aufzunehmen. Er
Trumps Präsidentschaft versinkt in einem 25. Verfassungszusatz aus dem Amt zu ent- zieht es vor, sich im Kabelfernsehen über
Strudel aus Skandalen, Chaos und Wahn- fernen. Dazu müssten der Vizepräsident die Welt zu informieren statt in trockenen
witz. Alles kreist um die Neurosen des und eine Mehrheit des Kabinetts den Kon- Geheimdienstbriefings.
Amtsinhabers, der das Amt als persönliche gress darüber informieren, dass der Präsi- Viele Mitarbeiter und Republikaner sind
Gratifikation zu verstehen scheint und die dent „nicht in der Lage ist, die Funktionen besorgt darüber, wie sehr der Präsident
Institutionen schwächt, um Vertraute zu
beschützen. Seit dieser Woche stellen da-
her nicht mehr nur Demokraten, sondern
auch vereinzelt Republikaner die Frage, ob
es nicht für alle besser wäre, den Präsiden-
ten des Amtes zu entheben.
Denn wenn es stimmt, dass Trump ver-
suchte, die Untersuchung des FBI zu be-
hindern, dann wäre das zumindest theore-
tisch ein Grund für eine Amtsenthebung.
Behinderung der Justiz lautete der erste
Artikel in der Begründung für das Im-
peachment bei Richard Nixon 1974, der
sich dann jedoch entschied, selbst zurück-
zutreten.
Auch wenn historische Vergleiche nie
ganz zutreffen, ist die Watergate-Affäre
der einzige Vergleich, der sich in diesen
Tagen anbietet. Damals musste sich der
Rechtsstaat ebenfalls gegen einen Präsi-
denten wehren, der kriminelle Energie an
den Tag legte und die Institutionen be-
kämpfte. Und wie bei Watergate ist es
auch diesmal nicht die eigentliche Tat, die
dem Präsidenten am gefährlichsten wird,
sondern der Versuch der Vertuschung.
Andererseits ist Donald Trump genau
das Gegenteil von Richard Nixon, diesem
SPENCER PLATT / GETTY IMAGES

kalten, berechnenden Mann, der vor Pres-


sekonferenzen seine Antworten auswen-
dig lernte. Der „New York Times“-Kolum-
nist David Brooks verglich Trump mit
einem Kind, das nicht still sitzen, sich
nicht konzentrieren kann, das ständig Be-
stätigung braucht, mit übertriebenen Be- Ex-FBI-Chef Comey auf TV-Bildschirm: Im Mafiastil Loyalität verlangt

DER SPIEGEL 21 / 2017 77


Ausland

sich noch immer mit der Vergangenheit Präsident habe nicht wissen können, dass In europäischen Monarchien gab es die
befasst, mit dem Wahlsieg, anstatt sich auf die Information geheim sei. Man habe es Figur des „verrückten Königs“, den Fran-
Gesetzesvorhaben zu konzentrieren. So ihm nicht gesagt. Der Präsident, heißt das, zosen Karl VI. oder den Engländer Hein-
besessen von seinem Wahlsieg ist Trump, wusste nicht, was er tat. rich VIII. Auch damals standen deren engs-
dass er im West Wing eine Karte in Ge- Die Information, die Trump versehent- te Vertraute vor der Wahl, ob sie den
mäldegröße hat aufhängen lassen. Sie zeigt lich teilte, kam entweder vom israelischen wahnsinnigen Herrscher decken oder stür-
die Ergebnisse nicht nach Staaten, sondern oder jordanischen Geheimdienst – offen- zen sollten. In einer Demokratie gibt es
nach Wahlkreisen, und ist tiefrot. Besu- bar von einem Agenten im Innersten des dafür das Mittel des parlamentarischen
chern händigt er die Karte als Kopie aus, IS. Aus dieser Quelle erfuhren die USA, Amtsenthebungsverfahrens.
er hat ganze Stapel davon. Und gern fängt dass die Terrororganisation in der Lage ist, Es wurde in der amerikanischen Ge-
er in der Öffentlichkeit, aber auch bei Tref- eine Laptop-Bombe herzustellen, die sich schichte allerdings erst zweimal angewen-
fen mit anderen Staatschefs an, damit zu bei Sicherheitskontrollen nicht entdecken det: gegen Bill Clinton 1999 und gegen An-
prahlen. lässt. Der wertvolle Spitzel könnte sich drew Johnson 1868. Doch kein Präsident
Es zeigt sich zunehmend, dass der ein- nun in Lebensgefahr befinden. ist jemals auf diese Weise aus dem Amt
zige Zweck von Trumps Präsidentschafts- Während der Hofstaat versucht, den entfernt worden – denn dafür braucht es
kandidatur der Wahlsieg an sich war. Es Präsidenten zu decken, verschleißt Trump eine Zweidrittelmehrheit des Senats. So-
ging darum, den Beweis zu führen, dass seine Mitarbeiter auf demütigende Weise. wohl Clintons wie Johnsons Impeachment
er gewinnen konnte. Weit stärker als die Er zwingt sie, für ihn zu lügen, und des- scheiterten am Ende daran.
Frage, ob er es schafft, seine Wähler mit avouiert sie am nächsten Morgen, indem Die Wahrscheinlichkeit, dass Trump des
einer Gesundheitsreform oder Arbeits- er per Tweet die Vorwürfe zugibt, die sie Amtes enthoben wird, ist daher äußerst
plätzen zufriedenzustellen, beschäftigen am Vorabend noch dementierten. gering. In Washington herrscht eine unge-
ihn daher die Spielverderber, die ihm Dass seit Dienstag kein Mitarbeiter in heure Polarisierung. Die Mehrzahl der
seinen Wahlsieg madig machen wollen, seinem eigenen Namen die Enthüllungen Republikaner, die nicht aus sogenannten
die ihn daran erinnern, dass er nicht die der Comey-Memos dementieren wollte, Swing Counties kommen, verspüren kei-
Mehrheit aller Stimmen erhielt. Und spricht deshalb Bände. nen Druck ihrer Wähler. Zwar hat der Prä-
aus dem gleichen Grund machen Trump Trump ist wütend auf sein Team und sident schon jetzt eine Zustimmungsrate
nun auch die Untersuchungen zur russi- denkt offenbar darüber nach, es auszutau- von unter 40 Prozent, das ist ein Rekord-
schen Einflussnahme im Wahlkampf so schen. Von seinem Stabschef Reince Prie- tief; bei den Wählern der Republikaner
wütend. Er sieht sie als Versuch, die Le- bus über Pressechef Sean Spicer bis hin liegt er aber immer noch bei über 70 Pro-
gitimität seines Triumphs zu untergraben, zu seinem Chefideologen Stephen Bannon zent – doch auch hier sinkt er.
für den er in seinen Augen nicht genug gelten alle als gefährdet. Die Hoffnung, Das Praktische an Trump für die Füh-
gelobt wird. auf diese Weise werde das Irrlichternde rung der Republikaner ist seine ideologi-
In der Öffentlichkeit versuchen Trumps aus Trumps Präsidentschaft verschwinden, sche Flexibilität, man könnte auch sagen:
engste Mitarbeiter verzweifelt, ihn zu ver- ist aber vergebens. Es liegt nicht an den sein Desinteresse. Es stört ihn nicht, dass
teidigen. Als bekannt wurde, dass er dem Mitarbeitern, sondern an ihm. die Republikaner eine Krankenversiche-
russischen Außenminister wohl sensible Dazu kommt noch, dass Trump Leute rungsreform beschlossen, die seinen Wahl-
Informationen zum „Islamischen Staat“ schlecht erträgt, die keine Jasager sind. kampfversprechen zuwiderläuft und die
(IS) offenbart hat, die so geheim seien, Von McMaster, einem hochdekorierten Of- ausgerechnet seine Wählerschaft am
dass die USA sie nicht einmal mit ihren fizier, der dafür bekannt ist, seine Meinung stärksten treffen wird. Die Details über-
engen Verbündeten geteilt hätten, da ver- deutlich zu äußern, soll Trump genervt lässt er dem Sprecher des Repräsentanten-
teidigte ihn sein Nationaler Sicherheits- sein, weil er ihm für seinen Geschmack zu hauses; auch deshalb sind die Republika-
berater Herbert Raymond McMaster: Der oft widerspreche. ner bisher so unwillig, sich von Trump zu
distanzieren. Er lässt sie ihre Agenda un-
gehindert umsetzen. Trump reicht es, sich
danach als Sieger feiern zu lassen.
Je weiter die Beliebtheitswerte des Prä-
sidenten abstürzen und je länger das Dra-
ma andauert, desto mehr Republikaner
machen sich allerdings Sorgen wegen der
„Midterm“-Wahlen im Herbst 2018. Dort
verliert die Partei des Präsidenten tradi-
tionell Sitze – und in Umfragen liegen die
Demokraten landesweit bis zu zehn Pro-
zentpunkte vorne. Im schlimmsten Fall
könnten die Republikaner ihre Mehrheit
in beiden Kammern verlieren. Ein wichti-
ger Test werden demnächst drei Nachwah-
len für das Repräsentantenhaus in repu-
blikanischen Distrikten in Georgia, South
Carolina und Montana. Dort machen sich
nun die Demokraten Hoffnungen. Gewin-
nen sie, wird die Nervosität bei den Repu-
blikanern zunehmen.
ALEX WONG / AFP

Doch zunächst einmal kündigt sich in


Washington ein langer Sommer voller Un-
tersuchungen durch den Sonderermittler
FBI-Direktor Mueller 2013: Das Wort „Impeachment“ ist in aller Munde und den Kongress an. Das Weiße Haus ist

78 DER SPIEGEL 21 / 2017


JONATHAN ERNST / REUTERS
Politiker Trump, Lawrow auf TV-Bildschirm im Weißen Haus: Als hätte ein Drehbuchautor auf Drogen das Kommando übernommen

gelähmt, die Gesetzesvorhaben Trumps Türken und pikant deshalb, weil Flynn von Wenn Trump und seine Leute sich aller-
und der Republikaner – der Mauerbau, der ihnen als Berater bezahlt wurde. dings etwas haben zuschulden kommen
Einreisestopp, die Steuersenkungen – ka- Außerdem sollen Flynn und weitere lassen, dann müssen sie sich jetzt Sorgen
men schon bisher nicht voran, und so wird Kampagnenmitarbeiter laut Reuters in den machen.
es wohl bleiben. letzten sieben Monaten des Wahlkampfs Viele Mitarbeiter des Weißen Hauses
Schon in wenigen Tagen könnte es zu mindestens 18-mal mit dem russischen Bot- werden sich in den kommenden Monaten
einem bemerkenswerten Termin kommen: schafter und anderen Vertretern Moskaus rechtlichen Beistand für die Befragungen
Der Geheimdienstausschuss des Senats hat in Kontakt gewesen sein – offenbar sei durch den Sonderermittler suchen müssen,
Ex-FBI-Chef Comey aufgefordert, sowohl eine direkte Leitung zwischen Trump und und zwar auf eigene Kosten. Das wird die
öffentlich wie hinter verschlossener Tür Putin geplant worden. Beweise für tatsäch- Stimmung nicht heben.
auszusagen. Er hat zudem alle Aufzeich- liche Absprachen, die Wahl zu manipulie- Ausgerechnet in diesen Tagen verlässt
nungen Comeys angefordert, ebenso alle ren, gibt es bisher aber nicht. Trump Washington zum ersten Mal für
Dokumente des Weißen Hauses – inklusi- Muellers Untersuchung kann Monate, eine längere Auslandsreise. Sie wird ihn
ve möglicher „Aufnahmen“ der Gespräche vielleicht sogar Jahre dauern. Ähnliche Un- ab Freitag mehr als eine Woche lang aus
zwischen Trump und Comey, mit denen tersuchungen, etwa bei Bill Clinton, gingen seiner vertrauten Umgebung reißen, wo-
der Präsident auf Twitter drohte. stets weit über den ursprünglichen Anlass vor er sich laut Medienberichten ein wenig
Und dann nimmt auch bald der Sonder- hinaus. Die Sonderermittlung wird Trumps fürchtet. Die Reise führt ihn nach Saudi-
ermittler seine Arbeit auf: der ehemalige Präsidentschaft überschatten – und wohl Arabien und Israel, in den Vatikan, zum
FBI-Chef Robert Mueller hat die Befugnis, laufend Neuigkeiten zutage fördern. Nato-Gipfel in Brüssel und schließlich zum
in fast jede Richtung zu ermitteln. Er kann Als der Präsident am Mittwoch die über- G-7-Treffen nach Sizilien.
die Russlandverbindungen von Trumps raschende Nachricht von der Berufung des Es ist ein ungünstiger Zeitpunkt für ihn,
Team untersuchen, aber ebenso die Um- Sonderermittlers erhielt, reagierte er zu- fern von Washington zu sein, schließlich
stände von Comeys Entlassung unter die nächst erstaunlich zurückhaltend per Com- könnten in den nächsten Tagen immer
Lupe nehmen. Besonders genau wird muniqué. Doch schon am nächsten Mor- neue Enthüllungen folgen, vor allem, sollte
Mueller sich wohl den Fall Mike Flynn an- gen twitterte er wieder wütend: „Das ist Comey bald aussagen. Jedoch gibt es im
schauen, den Trump zu seinem Nationalen die größte Hexenjagd gegen einen Politiker Ausland auch viele Gelegenheiten, die Auf-
Sicherheitsberater gemacht hatte, obwohl in der amerikanischen Geschichte!“ merksamkeit auf sich zu ziehen – und so
sein Team, möglicherweise auch er selbst, Die Sache ist nun sehr ernst für ihn. Sei- von den Skandalen in der Heimat abzu-
längst wusste, dass das FBI gegen ihn er- ne einzige Hoffnung muss sein, dass Muel- lenken.
mittelte. Flynn war nur 24 Tage lang Sicher- ler ihm und seinen Leuten tatsächlich kei- Trump wird Königen, Prinzen, Staats-
heitsberater, bevor Trump ihn entließ, aber ne Verstrickungen mit Russland nachwei- chefs und dem Papst begegnen, da ist viel
die Enthüllungen über ihn sind bedenklich. sen kann – und er somit offiziell von allen Raum für Fauxpas und neue Anekdoten.
Der Sonderermittler wird unangenehme Vorwürfen freigesprochen wird. Dann wür- In Riad will er eine Rede über den Islam
Fragen stellen, etwa dazu, dass Flynn die de womöglich auch niemand mehr darüber halten. Darüber wird man ganz sicher
Kooperation mit den Kurden in Syrien stop- sprechen, dass er versuchte, die Ermittlun- noch sprechen. Mathieu von Rohr
pen wollte – ein lang gehegter Wunsch der gen zu stoppen. Mail: mvr@spiegel.de, Twitter: @mathieuvonrohr

DER SPIEGEL 21 / 2017 79


Junge Helden
Essay Ob Kurz in Österreich oder Macron in Frankreich: Europa erlebt eine Politik der
Hyperpersonalisierung. Das Gewicht der Parteien schwindet. Von Tobias Rapp

D
ie beiden Retter der österreichischen Demokratie sonen zusichern lassen, was nichts anderes heißt als: Kurz
kennen sich passenderweise aus dem Fitnessstu- ist das Programm.
dio, in dem beide trainierten. Ziemlich genau ein Ganz ähnlich hat es der neue französische Präsident
Jahr ist es her, dass Sebastian Kurz, damals konservativer gemacht. Ohne Altpartei zwar und mit anderer politischer
Außenminister einer zutiefst zerstrittenen Regierung, Ausrichtung als der konservative Kurz, aber nicht zufällig
Christian Kern anrief, SPÖ-Mitglied und damals Chef sind die Anfangsbuchstaben von „En Marche!“ die glei-
der Österreichischen Bundesbahnen. Es war nach der chen wie die von Emmanuel Macron. Auch hier ist der
ersten Runde der Präsidentenwahlen, die Kandidaten Mann das Programm. Hinter ihm steht eine Bewegung,
der beiden Parteien SPÖ und ÖVP, die das Land seit die es nur für ihn gibt.
einem halben Jahrhundert fast durchgehend zusammen Nun dürften Macron wie Kurz frei von diktatorischen
regiert hatten, lagen abgeschlagen auf Platz vier und Anwandlungen sein, auch wenn seine Gegner dem ÖVP-
fünf. Auf den ersten drei Plätzen: Kandidaten der FPÖ, Chef vorwerfen, mit seiner Wahlliste „orbánisiere“ er die
der Grünen und eine Unabhängige. Österreichs politi- österreichische Politik. Aber je mehr ein politisches Sys-
sches System lag in Trümmern. „Was wirst du machen?“, tem auf den Herrscher zugeschnitten ist, desto stärker
soll Kurz gefragt haben. lädt es zum Missbrauch ein. Starke Parteien verlangsamen
Die Dinge entschieden sich dann für Kern, er löste den Entscheidungen, zwingen zu Kompromissen, hegen die
bisherigen Kanzler ab und regierte weiter in einer Großen Kräfte des Einzelnen ein, kontrollieren den Machtwillen.
Koalition mit der ÖVP. Seit dieser Woche ist klar, dass Macron und Kurz nutzen mit der Personalisierung ihrer
auch dies nicht mehr gilt. Kurz, 30, immer noch Außen- Politik vor allem das, was die Werbung Storytelling nennt.
minister, lässt die Regierung platzen und will Neuwahlen Die Kunst, einem Produkt eine Geschichte zu geben. Jedes
im Herbst. Und er hat gute Gründe: In Umfragen liegt politische Programm hat einen starken emotionalen Kern.
der Außenminister auf Platz eins als beliebtester Politiker Doch heute, da die Beziehungen zu Politikern intimer
des Landes. Es ist eine kleine Revolution, die sich da in scheinen als je zuvor – schließlich stehen deren Postings
Österreich anbahnt, die nächste in den Timelines der sozialen Netzwerke neben den Ge-
nach der großen Revolution in burtstagsbildern der Kinder –, sind es Geschichten, die
Der Mann Frankreich, dem Wahlsieg Em- überzeugen. Macron und die Liebesgeschichte mit seiner

ist das ganze Pro- manuel Macrons.


Jahrelang gewannen in
Lehrerin, die nun seine Ehefrau ist. Macron, der zurück-
tritt, als er seine Ideen nicht durchsetzen kann. Das ist
gramm. Hinter Europa Bewegungen und Partei-
en an Stärke, die behaupteten,
die Oberfläche, unter der Wahlkampfstrategen die Inhalte
platzieren. Sie sind da, sie zeigen sich nur anders. Auch
ihm steht eine einfache Lösungen auf komple- der 51-jährige Kanzler Christian Kern hat das begriffen,

Bewegung, die es
xe Probleme zu haben, die im er twittert, ist auf Instagram unterwegs. Das erfolgreichste
Namen der Abgehängten rede- Facebook-Video der jüngeren Zeit war ein Ostergruß
nur für ihn gibt. ten und der etablierten Politik
die Legitimität absprachen. Nun
Kerns mit dem Hund eines Mitarbeiters.
Kurz tritt im Oktober als der Mann an, der es wagte,
gibt es eine Gegenbewegung. Angela Merkel in der Flüchtlingskrise zu widersprechen.
Wie junge Helden ziehen sie auf die Bühne. Kurz in Der die sogenannte Balkanroute schloss und sich dem an-
Österreich. Macron in Frankreich. Auch Matteo Renzi in geblichen Mainstream der Gutmenschen widersetzte.
Italien ist bereit für ein Comeback. Gut aussehende Män- Kern, sein Kontrahent von der SPÖ, wird den coolen Prag-
ner mit besten Verbindungen. Geschickte Techniker der matiker geben. So werden sie sich gegenüberstehen –
Macht, die aus der Mitte des politischen Establishments und versuchen, den dritten Kandidaten, Heinz-Christian
kommen und denen es trotzdem gelingt, sich als Erneuerer Strache von der rechtspopulistischen FPÖ, zu verdrängen.
zu inszenieren. Politiker neuen Typs, möglicherweise.

E
Machtmenschen, die glauben zu wissen, wie man die rech- s war Unzufriedenheit, die in den vorigen Jahren Popu-
ten und linken Populisten angreifen kann: durch Hyper- listen zu Erfolgen verhalf, die hat viel mit der diffusen
personalisierung, zulasten der Parteien. Wut auf ein erstarrtes Parteiensystem zu tun. Beson-
Kurz kommt aus Wien, seine Mutter ist Lehrerin, sein ders in Österreich und Frankreich, wo die leeren Rituale der
Vater Ingenieur. Er ist seit seiner Jugend in der ÖVP und Macht, der Glaube an die Tradition und die Wichtigkeit der
hat mit Anfang zwanzig sein Jurastudium abgebrochen, Vor- und Hinterzimmer noch größer sind als anderswo.
um Staatssekretär zu werden. Er kennt nichts als Politik Tatsächlich wirken die Parteien wie aus der Zeit gefal-
und hat es damit nicht nur geschafft, Chef und Kanzler- len. Sehr viele Menschen haben keine gerade Erwerbs-
kandidat der ÖVP zu werden. Ihm ist es auch gelungen, biografie mehr, ihr Leben ist von Brüchen und Neuanfän-
die Partei für die kommende Wahl hinter seiner Person gen durchzogen – das verträgt sich immer weniger mit
fast völlig verschwinden zu lassen. „Liste Sebastian Kurz – der lebenslangen Loyalität, die viele Mitglieder in der
die neue Volkspartei“ heißt sein Wahlbündnis. Kurz hat Vergangenheit ihrer Partei entgegengebracht haben, oft
sich ein sogenanntes Durchgriffsrecht auf Inhalte und Per- über Generationen. Das Leben im 21. Jahrhundert wird

80 DER SPIEGEL 21 / 2017


Ausland

DOMINIK BUTZMANN / LAIF


Österreichischer Kanzlerkandidat Kurz: „Was wirst du machen?“

in Projekten organisiert, nicht in Lebensaufgaben – nicht deren, die Exsozialisten und Exgaullisten, braucht Macron
nur in den Großstädten, längst auch auf dem Land. So aber genauso. Deshalb holte er viele von ihnen in sein
ein Projekt ist „En Marche!“. So ein Projekt könnte auch neues Kabinett. Macron möchte Frankreich umkrempeln.
die Shortlist von Herrn Kurz werden. Das geht nicht ohne Apparat, ohne Verbündete vor Ort.
Nun haben Parteien in Westeuropa allerdings über Jahr- Und Leute, die das Neue verteidigen, die es erklären.
zehnte Stabilität garantiert, weil sie gerade keine Projekte In Österreich wird der Gewinner der Parlamentswahl
waren. Sondern Heimat. Orte, an denen man sein Leben im Herbst voraussichtlich mit der rechtspopulistischen
mit der Gesellschaft verzahnen konnte. Von den großen FPÖ regieren müssen, eine weitere Große Koalition ist
Fragen der Außenpolitik bis zu den kleinen Fragen der eher unwahrscheinlich. Als das im Jahr 2000 schon einmal
Umgehungsstraßenführung. Ein Populist wie Geert Wil- passierte, durchlebte Österreich eine der größten Krisen
ders in den Niederlanden braucht keine Partei. Er will seiner Nachkriegsgeschichte. Die Linke sah den Faschis-
schimpfen, polemisieren und beleidigen. Dafür reicht ein mus zurückkehren, die EU verhängte symbolische Sank-
Laden wie seine Freiheitspartei, die nur ein Mitglied hat: tionen. So wie die Kräfteverhältnisse sind, könnte es die
ihn selbst. Wer allerdings regieren will, wird auf Dauer FPÖ wieder in die Regierung schaffen. Das werden Kurz
eben doch nicht ohne eine funktionierende Partei aus- oder Kern dem Land erklären müssen – und ihren Parteien.
kommen. Mit Gremien und Kassenwarten, mit Vorstands-

U
wahlen und mit Postengeschiebe. nd Deutschland? Auf den ersten Blick scheint der
Was passieren kann, wenn all das fehlt, lässt sich gerade Bundestagswahlkampf in einer anderen Welt zu
in den Vereinigten Staaten an der Präsidentschaft von Do- spielen. Martin Schulz will nicht gegen, sondern
nald Trump beobachten. Der zog als Antipolitiker ins mit der Partei an die Macht. Damit sieht es nach drei ver-
Weiße Haus ein, ohne je regiert zu haben, ohne ein Netz- lorenen Landtagswahlen nicht gut aus. Was nichts am
werk von erfahrenen Politroutiniers mitzubringen und deutschen Sonderweg der vergangenen Monate ändert:
ohne nachhaltige Unterstützung der Republikanischen Ob im Saarland, in Schleswig-Holstein oder in Nordrhein-
Partei, auf die er im Wahlkampf gern schimpfte. Trump Westfalen, alle Landtagswahlen wurden von kompetenten
ist der mächtigste und ohnmächtigste Mann der Welt. Langweilern gewonnen. Von Leuten, für die einmal das
Nicht nur, dass seine Verordnungen von Gerichten ein- schöne Wort „Parteipolitiker“ erfunden worden ist.
kassiert wurden. Ohne verlässlichen Rückhalt einer Partei, Doch man sollte sich nicht täuschen. Zum einen sind
ohne entsprechende Strukturen und Unterstützer überall die Populisten nicht besiegt. Zum anderen haben die gro-
draußen im Land lässt sich Politik nicht umsetzen. ßen Fragen nach der Demokratie im digitalen Zeitalter
So wollen Kurz und Macron nicht enden. Die 50 Prozent nichts an Bedeutung verloren. Wie kann sie aussehen?
Politneulinge aus der Zivilgesellschaft, die Macron für die Sind andere Möglichkeiten der politischen Meinungsbil-
Parlamentswahlen im Juni hat aufstellen lassen, braucht dung denkbar als in Strukturen des Parteienstaats, der
er, um zu gewinnen. Die Künstler und Anwälte, Sportler den Bürger alle paar Jahre an die Urne ruft? Diese Fragen
und Lehrer, die begeistert für République en marche in werden Deutschland einholen, eher früher als später.
den Wahlkampf ziehen, die zeigen, dass es dieser Bewe- Auch wenn im Augenblick weit und breit kein junger
gung mit einer Erneuerung Frankreichs ernst ist. Die an- Held in Sicht ist. I

DER SPIEGEL 21 / 2017 81


Ausland
Foltervorwürfe gegen sationen wie auch Zeugenaussagen. Auch Ali Arkady hat diese nun geliefert. An der
irakische Sondereinheiten der SPIEGEL berichtete schon, dass irakische Authentizität seines Materials und der Iden-
Der irakische Fotograf und Dokumentarfilmer Sicherheitskräfte willkürlich Menschen fest- tität der Täter besteht kein Zweifel. Seine
Ali Arkady begleitet das Geschehen in sei- nehmen, foltern und töten. Schilderungen stehen im Gegensatz zur gän-
nem Heimatland seit 2006. Er ist nicht nur So stießen SPIEGEL-Reporter im Mai des gigen Berichterstattung über den Feldzug zur
ein exzellenter Fotograf, seine vielseitigen vergangenen Jahres bei einer Recherche in Befreiung Mossuls. Viele Reporter hatten die
Kontakte im Land sowie zahlreichen Doku- der Stadt Tus Churmatu südlich von Kirkuk irakischen Armeeeinheiten bisher als Befreier
mentationen verschafften ihm auch unge- auf die Spuren einer Vertreibungs- und Mord- erlebt und beschrieben. Vielleicht auch weil
wöhnlich tiefe Einblicke in die verschiedenen kampagne schiitischer Milizen. Übereinstim- sie einfach nicht sahen, sehen konnten, was
Konfliktherde des Irak. mend erzählten Zeugen ihnen von entführten außerhalb der Stadt geschah? Die von Ar-
Seit 2011 arbeitet der SPIEGEL mit Arkady Angehörigen. Schon damals hieß es, bis zu kady begleitete Einheit Emergency Response
zusammen. Die Folterszenen, Vergewaltigun- tausend Sunniten seien allein aus Tus Chur- Division, die dem Innenministerium unter-
gen und gezielten Tötungen, die Ali Arkady im matu verschwunden. Geflohene aus anderen steht, verschleppte ihre Opfer nicht aus Mos-
vergangenen Jahr über Monate minutiös foto- Provinzen des Irak bestätigten die Entfüh- suls befreiten Stadtvierteln – sondern aus
grafiert und gefilmt hat, bestätigen ähnliche rungen. Doch stets fehlten Beweise jenseits Dörfern der Umgebung, immer nachts, wenn
Beobachtungen von Menschenrechtsorgani- der Zeugen und der verlassenen Orte. keine Journalisten zugegen waren.

Nicht Helden, sondern Monster


Irak Ein Fotograf begleitet Mitglieder einer Sondereinheit, um ihren Kampf
gegen den IS zu dokumentieren. Und wird plötzlich Zeuge von Vergewaltigungen,
Folter und gezielten Tötungen – ein Protokoll. Von Ali Arkady

I
ch komme aus Chanakin, einer kleinen Ich habe damals eine Facebook-Seite Die Männer führten Razzien und nächt-
Stadt im Nordosten des Irak – dort, wo eingerichtet, sie hieß Happy Baghdad, ich liche Kommandooperationen durch. Trai-
der kurdische und der arabische Teil stellte ein Zwei-Minuten-Video der beiden niert wurden sie vor allem von Amerika-
aufeinandertreffen. Bei uns war es immer unter dem Titel „Befreier, nicht Zerstörer“ nern. Vom ERD-Kommandeur, Oberst
normal, dass Sunniten, Schiiten, Kurden, ein. Das Echo war überwältigend, 345 815 Thamer Mohammed Ismail, erhielt ich die
Araber neben- und miteinander leben. Views, die Seite wurde 1360-mal geteilt Erlaubnis, die Truppe bei ihren Einsätzen
Vielleicht habe ich deswegen mehr als an- und kommentiert. Ich bin auf dem richti- zu begleiten.
dere daran geglaubt, dass Iraker verschie- gen Weg, dachte ich. Mit jeder gewonnenen Schlacht wuchs
dener Herkunft auch in Zukunft miteinan- Ich nahm mir vor, den beiden bis zum das Selbstvertrauen meiner Protagonisten.
der leben könnten. Ende dieses Krieges zu folgen, der Befrei- Ende Oktober 2016 fotografierte ich für
Im Oktober des vergangenen Jahres be- ung von Mossul. Beide waren einverstan- den SPIEGEL im Irak und hielt mich mit
gann ich mit meinem Projekt, ich wollte den, die „Helden“ meiner Geschichte zu Omar und Haider im Hauptquartier der
zwei Soldaten der Emergency Response werden. Es ging darum zu zeigen, dass Truppe in Kajara, südlich von Mossul, auf,
Division (ERD), eines Militärverbands des nicht nur die Elitekämpfer der „Goldenen nicht weit von einer US-Basis.
irakischen Innenministeriums, begleiten, Division“, sondern auch andere Einheiten Am 22. Oktober kamen Omars Männer
wollte ihren Kampf gegen den „Islami- bemerkenswerte, mutige Dinge tun. mit zwei jungen Gefangenen zur Basis,
schen Staat“ (IS) dokumentieren. Das zu- Omars und Haiders Truppe, die Emer- mutmaßlichen IS-Unterstützern. Ich foto-
mindest war der Plan. gency Response Division, hatte klein be- grafierte sie, wusste aber nicht, was weiter
Ich hatte bei der Befreiung der Stadt gonnen. Aber seit Sommer 2014, als der mit ihnen geschehen würde. Später erzähl-
Falludscha im Sommer zuvor zwei Mitglie- ganze Irak auf einmal im Krieg mit dem ten mir die Soldaten, dass die beiden nach
der dieser Einheit kennengelernt. Schon IS stand, wuchs die Truppe rasant. Sie glie- drei Tagen Folter gestanden hätten, IS-Mit-
damals sprachen sie davon, dass sie Men- derte sich in drei Verbände: Aufklärung, glieder zu sein. Eine Woche später seien
schen umbringen würden. Aber da dachte Scharfschützen und die Kampfgruppe. sie umgebracht worden.
ich noch, sie machen Scherze. Hauptmann Omar Nazar kommandiert die Von diesem Zeitpunkt an begann sich
Ich traf die beiden im Herbst wieder, als Kampfgruppe, in der auch Haider Ali ein- mein Projekt zu verändern. Meine „Hel-
die Befreiung Mossuls begann: Hauptmann gesetzt ist, der Unteroffizier. den“ taten Dinge, die ich nie für möglich
Omar Nazar, einen Sunniten, und Haider gehalten hätte. Zunächst durfte ich ihnen
Ali, einen schiitischen Unteroffizier. Nach dabei nur zuschauen, später hatten sie
allen gängigen Klischees wären sie Gegner. auch nichts mehr dagegen, wenn meine
Aber die beiden waren „buddies“, engste
Freunde, die einander auf dem Schlacht-
Ich war dabei, Kamera lief.
Ich fuhr wieder nach Hause, auch Omar
feld beschützten. Ich begleitete, filmte sie als sie mehrere Männer und Haider hatten zwei Wochen frei. Wir
tagelang. So entstand die Idee, die beiden
zu Protagonisten eines Dokumentarfilms
festnahmen, unter hatten verabredet, uns im neuen Haupt-
quartier der Truppe in Hamam al-Alil, et-
zu machen: Der Film sollte zeigen, dass ihnen der Putzmann was näher an Mossul, wieder zu treffen.
Sunniten und Schiiten des Irak im Kampf
gegen den „Islamischen Staat“ zusammen- der Moschee. Ich kam vor ihnen am 11. November an.
So lernte ich die anderen Offiziere kennen
halten können. und bekam fortan noch mehr mit. Mehr,
82 DER SPIEGEL 21 / 2017
Gefangener Mahmoud im Hauptquartier der irakischen ERD-Truppe
Den Vater hängten sie an der Decke auf, beschwerten seinen Rücken mit Wasserflaschen, dann begannen sie, ihn zu schlagen

FOTOS: ALI ARKADY / VII / REDUX / LAIF

DER SPIEGEL 21 / 2017 83


Truppe des Innenministeriums in der Nähe von Mossul, überfallene Familie von Fathi Ahmed Saleh
Sie zerrten den Mann aus dem Raum, dann kündigte Unteroffizier Haider an, er werde jetzt die Frau vergewaltigen

FOTOS: ALI ARKADY / VII / REDUX / LAIF

84 DER SPIEGEL 21 / 2017


Ausland

als mir lieb war und ich vermocht hatte geraten? Warum lassen sie ten. Schon in derselben
mir vorzustellen: Folter, Vergewaltigungen, dich filmen, wie sie Men- Mossul Nacht ging es weiter mit
aber auch Morde an Menschen, gegen die schen foltern? Wie soll das Festnahmen. Die Soldaten
Baswaja
nur vage Verdachtsmomente vorlagen. Teil einer Dokumentation hatten verschiedene Namen
Oder nicht einmal das. über die Befreiung vom vom IS von einem Informanten be-
Die Soldaten hatten damals gerade das „Islamischen Staat“ wer- kontrolliert
(BBC, Stand: 15. Mai)
kommen, Namen von Män-
Dorf Kabr al-Abd vom IS zurückerobert. den? Aber sie denken nicht nern, die angeblich früher
Hauptmann Thamer al-Duri, der für die wie Journalisten. Für sie für den IS gekämpft hatten.
Hamam al-Alil
Geheimdienstabteilung zuständig war, lei- war es einfach normal ge- Die Soldaten zogen einfach
tete die Razzien. Ich war dabei, als sie worden. los, ohne weitere Klärung
nachts mehrere Männer festnahmen, unter Gleichzeitig sagte ich mir: oder einen Befehl der höhe-

Tigr
Mossul
ihnen auch Raad Hindiya, der Wächter Du musst das hier aufneh- ren Offiziere. Ich durfte wie-

is
und Putzmann der Dorfmoschee gewesen men! Du musst dokumen- der mitkommen.
war. Er war von einem Informanten be- tieren, beweisen, was sie Bagdad Der Zweite, den sie in
schuldigt worden, ein IS-Mann zu sein. tun, zeigen, dass sie Kriegs- dieser Nacht aus dem Haus
verbrechen begehen. Aus- IRAK holten, war ein Mann na-
Zuerst nahmen sie ihn nur für ein paar
Stunden mit, um ihn zu schlagen und zu ländische Reporter waren mens Fathi Ahmed Saleh.
verhören. Aber schon da sagte Hauptmann zwar in der Gegend, aber Sie zerrten ihn aus dem
Duri mir, dass er den Mann in einigen sie kamen nur tagsüber, fuh- Raum, in dem er mit seiner
Tagen noch mal festnehmen und dann tö- ren nachmittags stets zu- 10 km Kajara Frau und den drei Kindern
ten werde. Am 22. November gingen zehn rück ins sichere Arbil im geschlafen hatte. Unteroffi-
Mann, alle ausgerüstet mit Nachtsicht- kurdischen Gebiet. Nachts zier Haider Ali ging in das
geräten los, die US-Truppen in der Nähe war ich allein mit den Truppen des Zimmer, kündigte an, er werde jetzt die
waren unterrichtet und verfolgten die Innenministeriums. Frau vergewaltigen. Ich folgte den anderen,
nächtliche Razzia mit einer Drohne. Mitte Dezember zogen wir um auf die um zu sehen, was sie mit dem Ehemann
Raad Hindiya schlief mit seiner Familie andere Seite des Tigris, in eine neue Basis machten. Fünf Minuten später traf ich Hai-
in einem Raum, als sie ihn festnahmen. in Baswaja am östlichen Rand von Mossul. der Ali vor der geöffneten Tür wieder. Die
Die Soldaten brachten ihn zu Hauptmann Es gab dort zwei junge Brüder, Laith und Frau weinte. Hauptmann Omar Nazar frag-
Omar Nazar, meinem Protagonisten, wo Ahmed, die schon einmal von der „Golde- te ihn, was er gemacht habe.
sie ihn stundenlang folterten, bevor sie ihn nen Division“ festgenommen, aber wieder „Nichts“, antwortet Haider Ali, „sie hat-
am Morgen zum Hauptquartier der Ge- freigelassen worden waren, aus Mangel an te ihre Tage.“
heimdienstler weitertransportierten. Dort Beweisen. Jetzt hatte man sie wieder ge- Ich filmte in den Raum hinein, in dem
wurde er eine Woche lang gefoltert. An- fangen genommen und hierhergebracht. die Frau mit ihrem jüngsten Kind im Arm
schließend sei er zusammen mit anderen Aber in der Nacht waren keine Offiziere saß. Sie schaute mich an. Ich filmte, ohne
IS-Verdächtigen umgebracht worden. So da, nur die Soldaten, die fürs Foltern zu- nachzudenken.
erzählte es mir später Hauptmann Duri. ständig waren. Als ich mir später das Video angeschaut
In derselben Nacht verhafteten sie einen Sie begannen, die beiden zu traktieren, habe, als ich sah, wie sie in meine Richtung
jungen Mann namens Raschid, der unschul- erst mit Schlägen, dann, indem sie Ahmed blickte, ihre Kinder küsste, habe ich ge-
dig war, das sagten selbst die Aufklärer immer wieder mit einem Messer hinter das dacht: Sie muss akzeptiert haben, dass ich
der irakischen Armee. Aber sein großer Ohr stachen. Es sei eine Technik, die er filme in dieser furchtbaren Situation. Da-
Bruder war zum IS gegangen, ebenso des- von amerikanischen Experten gelernt mit Menschen erfahren können, was ge-
sen Frau. Das war Raschids Verhängnis. habe, brüstete sich Ali, einer der Soldaten. schehen ist! In der Zwischenzeit räumten
Er starb nach drei Tagen unter Folter, ich Ich war überrascht, verängstigt, dass sie die anderen Soldaten das Haus aus, stah-
habe seine Leiche im Quartier der Geheim- mich alles filmen ließen. Ich blieb für eine len, was sie mitnehmen wollten.
dienstler gesehen. Stunde. Am nächsten Morgen erzählte mir Der letzte Gefangene dieser Nacht war
Nun begann der Albtraum. Die Klein- ein Soldat, dass beide im Laufe der Nacht ein junger Angehöriger der Volksmobilisie-
stadt Hamam al-Alil war vollständig vom zu Tode gefoltert worden seien, und zeigte rungseinheiten, auf Arabisch kurz: Haschd,
IS befreit worden. Viele, die vor den Kämp- mir ein Video ihrer Leichen, schickte es die auch gegen den IS kämpfen. Er war Sun-
fen geflohen waren, kamen zurück. Die mir sogar über WhatsApp. nit, aber die schiitischen Haschd mögen kei-
ERD-Teams zogen los, um reihenweise jun- Am 16. Dezember trafen die beiden ne Sunniten. Sie brachten ihn ins Gebäude
ge Männer zu verhaften, offiziell, um zu Männer in Baswaja ein, über die ich meine von Omar Nazar, wo er von einem der Sol-
klären, ob IS-Männer unter ihnen seien. Dokumentation hatte drehen wollen: daten vergewaltigt wurde. Die Männer, die
Unter den Festgenommenen befanden sich Hauptmann Omar Nazar und Unteroffi- ich begleitete, hatten harte, schwere Kämpfe
ein Vater und sein 16-jähriger Sohn, die zier Haider Ali, der Sunnit und der Schiit, erlebt. Aber mittlerweile dachten sie wohl,
Soldaten brachten beide ins Hauptquartier. die gemeinsam gegen den IS kämpfen woll- ihnen wäre alles erlaubt. Morde, Vergewal-
Mahdi Mahmoud, den Vater, hängten sie tigungen, alles ist halal, legitim. Wenn sie
mit den Armen hinter dem Kopf an der zurückkamen von ihren Nachtrazzien und
Decke auf, beschwerten seinen Rücken mit das Hauptquartier über Funk fragte, was sie
einer Palette voller Wasserflaschen und be-
gannen, ihn zu schlagen. Der Sohn saß ne-
Ich war überrascht, gemacht hätten, antwortete Hauptmann
Omar: „Oh, alles! Wir haben uns Männer,
benan und konnte die Schreie seines Vaters dass sie mich alles filmen Frauen genommen, die Häuser geplündert.“
hören. Und ich war dabei und filmte. Nie-
mand stoppte mich. Dann schlugen sie den
ließen. Sie schickten Die Antwort: „Okay, macht, was zu tun
ist!“ Die Vorgesetzten wussten alles. Auch
Sohn vor den Augen seines Vaters. Später mir sogar ein die Amerikaner müssen eigentlich mitbe-
brachten sie den Sohn um.
Alles geriet immer mehr außer Kontrol- Video der Leichen. kommen haben, was geschah.
Es gab sogar eine Art Wettkampf zwi-
le. Ich dachte, wo bist du da nur hinein- schen der Nationalpolizei und der Truppe
DER SPIEGEL 21 / 2017 85
Ausland

ALI ARKADY / VII / REDUX / LAIF


Gefangener Ahmed Mitte Dezember östlich von Mossul: Sie stachen ihm mit einem Messer hinter das Ohr

des Innenministeriums: Wenn die Polizis- fuhr in meine Heimatstadt Chanakin, aber samen Geschichte. Das wird nun nicht
ten erzählten, wie sie in einem Haus eine nur für wenige Tage. Anschließend habe mehr geschehen.
gut aussehende Frau fanden und vergewal- ich meine Familie in Sicherheit gebracht Ich wollte sie als Helden darstellen.
tigten, wollten die ERD-Männer auch noch und den Irak verlassen. Mein Land. Aber Auch das wird nicht geschehen.
mal hin. Um den Kampf gegen den „Isla- es war klar, dass mein, unser Leben in Ge- Es ist nicht leicht, woanders ein neues
mischen Staat“ ging es immer weniger. fahr ist, sobald ich die Beweise dieser Leben zu beginnen. Chanakin ist meine
Wenn die Männer der Sondereinheit Kriegsverbrechen veröffentliche. Heimat, ich habe gern dort gelebt. Aber
überhaupt eine Strategie haben, dann die, Jetzt verstehe ich, warum der IS es so dies ist der Preis für meine Arbeit, dafür,
alle Sunniten der Gegend in Todesangst leicht hatte, Mossul und andere sunnitische zu veröffentlichen, was ich gesehen habe.
und Schrecken zu versetzen, sie in die Gegenden einzunehmen. Die Menschen Es ist mein Preis, ich zahle ihn.
Flucht zu treiben, um die Demografie des dort hatten Angst, nicht zu überleben ohne Seit Omar, Haider und die anderen
Nordirak zu verändern. militärischen Schutz. Nur dass der IS letzt- Offiziere verstanden haben, was die Ver-
Es waren meine letzten Tage bei der lich ihre Lage noch verschlimmert hat. öffentlichung ihrer Taten für sie bedeuten
ERD. Ich ertrug es nicht mehr, filmte, was Jetzt leben wir im Ausland. Wo genau, kann, erhalte ich Drohungen. Erst kamen
geschah, und dachte später: Das könnte möchte ich aus Sicherheitsgründen nicht Fragen: „Wir müssen Ali sprechen, wo
meine Frau, meine Tochter sein. Als schreiben. Ich frage mich manchmal, wie ist er?“
Hauptmann Omar und einer der Soldaten Omar und Haider wohl nun über mich den- Dann wurde es konkreter. Sehr konkret.
weitere Gefangene schlugen, forderten sie ken. Ich habe ja nicht einmal eine Verab- Als ich am 4. Januar 2017 nach Katar
mich auf mitzumachen. Es war eine absur- redung gebrochen, habe nichts heimlich reiste, war alles noch ruhig. Nach meiner
de Situation: Alle behandelten mich wie gefilmt. Ankunft kontaktierte ich Haider Ali über
einen Teil ihres Teams. Alle haben zugeschaut, wie ich stunden- Facebook, fragte ihn, ob er mir noch das
Ich bekam es mit der Angst zu tun, ich lang ihre Misshandlungen dokumentierte. eine Video schicken könne, das er mir
war Kurde, arbeitete für eine amerikani- Ja, sie schickten mir sogar nachträglich gezeigt hatte: wie er und Hauptmann
sche Fotoagentur. Sie waren zu viert, be- Videos ihrer Morde, wenn ich sie darum Omar Nazar einen ihrer Gefangenen von
waffnet, ich war allein. Sie sagten immer bat. Und im Fall der getöteten Brüder sag- hinten erschießen. Der Mann läuft durch
wieder: „Jetzt komm, schlag auch zu, los!“ ten sie sogar explizit, ich könne diese Vi- die Steppe und fleht um sein Leben,
Dann habe ich einem der Gefangenen eine deos für meine Dokumentation benutzen. sie schießen einfach auf ihn, als er läuft,
Ohrfeige gegeben. Nicht zu hart, nicht zu Sie hatten alle Maßstäbe verloren dafür, selbst noch als er schon auf dem Boden
weich. Es war schrecklich und das Letzte, was richtig ist und was falsch. liegt.
was ich dort tat. Ursprünglich wollte ich mit den beiden „Klar“, schrieb Haider zurück – und
Ich gab vor, meine Tochter sei krank, in das nach hartem Kampf befreite Mossul schickte mir das Video. Ich habe es noch
ich müsse zurück nach Hause fahren. Ich einrollen, als letzten Teil unserer gemein- immer auf meinem Telefon. I

86 DER SPIEGEL 21 / 2017


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Ausland

„Wir sind immer die Bösen“


SPIEGEL-Gespräch WikiLeaks-Gründer Julian Assange, 45, äußert sich zu dem Vorwurf, ein
Werkzeug der Russen zu sein, zur Beeinflussung von Wahlen im Westen und zu „WannaCry“.

SPIEGEL: Herr Assange, nachdem WikiLeaks manen und demütigenden Behandlung un- Wahlen verloren hatte, hat sie beim da-
im US-Wahlkampf vergangenes Jahr Do- terworfen worden sei. Vor Gericht erklärte maligen FBI-Direktor James Comey, bei
kumente der Demokratischen Partei ver- Manning, dass sie mit jemandem von Wiki- Russland und uns die Schuld gesucht.
öffentlicht hatte, sagte Donald Trump: „Ich Leaks kommuniziert habe, aber – entgegen SPIEGEL: Aber die Glaubwürdigkeit von
liebe WikiLeaks!“ Nun hat der neue CIA- den Aussagen von CIA-Chef Pompeo – WikiLeaks basiert doch darauf, nicht par-
Direktor Mike Pompeo die Organisation nicht von WikiLeaks angeleitet worden sei. teiisch zu sein, nicht mit einer verborgenen
als „nicht staatlichen, feindlichen Geheim- SPIEGEL: WikiLeaks wurde in den vergan- politischen Agenda zu arbeiten.
dienst“ eingestuft. Verschärft die US-Regie- genen Monaten immer wieder vorgewor- Assange: Unsere Glaubwürdigkeit hängt
rung die Verfolgung von WikiLeaks? fen, russischen Propagandazwecken und davon ab, wie akkurat wir arbeiten. Wir
Assange: Die Leute lieben WikiLeaks, gezielter Desinformation zu dienen. haben in zehn Jahren über zehn Millionen
wenn es Korruption bei ihren Gegnern ent- Assange: Das nenne ich umgekehrt Fehl- Dokumente veröffentlicht. Kein einziges
hüllt. Und sie sind gegen WikiLeaks, wenn information. Nachdem Hillary Clinton die war gefälscht. Aber natürlich verfolgt jede
wir ihr gefährliches Handeln öffentlich ma-
chen. Wir haben enthüllt, wie gefährlich
inkompetent die CIA mit ihrem giganti-
schen Hackingprogramm umgeht. Und wir
haben ihre Hackergruppe im US-General-
konsulat in Frankfurt bloßgestellt. Jetzt ist
CIA-Direktor Pompeo zum Gegenangriff
übergegangen.
SPIEGEL: Er hat gesagt: „Das“ – gemeint
war WikiLeaks – „hört jetzt auf.“ Klingt
ziemlich ernst.
Assange: Wir nehmen sehr ernst, dass Pom-
peo entschieden hat, WikiLeaks zum zen-
tralen Thema seiner ersten Rede als CIA-
Direktor zu machen. Insbesondere weil
auch der neue US-Justizminister erklärt
hat, meine Verhaftung habe Priorität.
SPIEGEL: Gegen welche WikiLeaks-Mitglie-
der ermittelt die Grand Jury in Virginia
außerdem?
Assange: Soweit ich weiß, wird gegen die
WikiLeaks-Journalisten Sarah Harrison,
Joseph Farrell und Kristinn Hrafnsson er-
mittelt wie auch gegen den WikiLeaks-Un-
terstützer Jacob Appelbaum. Und unlängst
gab es eine offizielle Erklärung, nach der
gegen alle unsere Mitarbeiter ermittelt
wird, auch die angestellten Techniker.
SPIEGEL: Die wichtigste Quelle von Wiki-
Leaks, die einstige US-Soldatin Chelsea
Manning, wurde am Mittwoch aus der Mi-
litärhaft entlassen. Barack Obama hatte sie
nach sieben Jahren begnadigt. Hat sie über
die Kooperation mit WikiLeaks ausgesagt?
Assange: Erst mal ist die Freilassung von
Chelsea Manning ein erstaunlicher Erfolg,
ANDY GOTTS / PICTURE PRESS / CAMERA PRESS

für den WikiLeaks und viele andere hart


gekämpft haben. Darauf sind wir stolz,
auch wenn wir glauben, Manning hätte
man freisprechen und entschädigen, nicht
begnadigen müssen. Ich erinnere daran,
dass der damalige Uno-Sonderbericht-
erstatter zu Foltervorwürfen festgestellt
hat, dass Manning einer grausamen, inhu-

Das Gespräch führten die Redakteure Jörg Schindler und


Michael Sontheimer in London. WikiLeaks-Sprecher Assange: Bald fünf Jahre ohne Sonnenlicht

88 DER SPIEGEL 21 / 2017


Quelle, verfolgen auch unsere Quellen ihre
eigenen Interessen. Das ist ein Grundge-
setz des Journalismus.
SPIEGEL: Kennen Sie Ihre Quellen?
Assange: Wir haben normalerweise einen
sehr guten Einblick in unser Material, weil
wir es gründlich verifizieren. Manchmal
erhalten wir dadurch auch Informationen
über die Quelle.
SPIEGEL: Wenn die US-Regierung beweisen
könnte, dass die CIA-Dokumente, die
WikiLeaks veröffentlicht hat, von russi-
scher Seite stammen, würde das nicht Ihr

TOM WILLIAMS / CQ ROLL CALL / DDP IMAGES


Handeln infrage stellen?
Assange: Das sind Medienfantasien. Oba-
ma hat bei seiner letzten Pressekonferenz
als Präsident selbst gesagt, die US-Regie-
rung verfüge über keine Beweise für eine
Zusammenarbeit von WikiLeaks und
Russland. US-Behörden glauben mittler-
weile, dass die CIA-Dokumente nicht von
einem Staat kommen, sondern von einer
privaten Firma, die für die CIA arbeitet. Ex-Präsidentschaftskandidatin Clinton: „Sie ist ein bisschen sonderbar – wie ich“
SPIEGEL: Aber Sie können doch nicht ab-
streiten, dass WikiLeaks einen großen Teil verstanden werden könnte, wäre es sinn- Assange: Auf einer persönlichen Ebene
seiner Popularität verloren hat, seit es voll, sie zu verschieben. würde ich mich wahrscheinlich ganz gut
Dokumente veröffentlichte, die Hillary SPIEGEL: Die Veröffentlichung der Clinton- mit ihr verstehen. Sie ist charismatisch, sie
Clinton geschadet haben. Dokumente haben Sie nicht verschoben. ist ein wenig streberhaft – wie ich. Ein biss-
Assange: Was wollen Sie damit sagen? Dass Assange: Wir sind nicht in dem Geschäft, chen sonderbar – wie ich. Trotzdem muss
Clinton gewonnen hätte, wenn wir die Ma- um Likes zu sammeln. WikiLeaks macht man irgendwo einen Strich ziehen. Sie
nuskripte ihrer Reden vor Goldman-Sachs- Dokumente über mächtige Organisationen hat beschlossen, den libyschen Staat zu
Bankern nicht veröffentlicht hätten? Sollen öffentlich. Für die Mächtigen werden wir zerstören. Damit befeuerte sie die euro-
wir Informationen zensieren, um bestimm- immer die Bösen sein. päische Flüchtlingskrise. Wir haben eine
te Kandidaten zu schonen? Das würden SPIEGEL: Und was sagen Sie all jenen, die Menge E-Mails dazu veröffentlicht. Die
wir nie tun. WikiLeaks dafür mitverantwortlich ma- Schlussfolgerung, dass sie eine Kriegsver-
SPIEGEL: Aber Geheimdienste versuchen chen, dass Donald Trump US-Präsident brecherin ist, erscheint unausweichlich.
offenbar zunehmend, Wahlen in anderen wurde? SPIEGEL: Steuern wir auf Zeiten zu, in de-
Ländern zu beeinflussen. Assange: WikiLeaks hat Clintons schmut- nen die Partei mit den besseren Hackern
Assange: Das kann schon sein. zige Wahlkampftaktiken enthüllt. Einige Wahlen gewinnt?
SPIEGEL: Wenn diese Geheimdienste Wiki- Wähler haben sich davon beeinflussen Assange: Nicht unbedingt. Schauen Sie
Leaks als nützliche Waffe benutzen, kön- lassen. Es war ihre freie Entscheidung, nach Frankreich: Die Macron-Leaks hatten
nen Sie sich doch nicht zurücklehnen und keinerlei Einfluss auf die Wahl, dafür ka-
sagen, „kann schon sein“.
Assange: Geheimdienste lancieren jeden
„Die Macron-Leaks men sie zu spät. Die Dokumente beinhal-
ten übrigens sehr auffällige Metadaten, die
Tag Dinge in den Medien. Und wenn Wiki- hatten keinerlei Einfluss auf einen Partner des russischen Geheim-
Leaks in der Lage ist, Dokumente vor ei-
ner Wahl zu veröffentlichen, werden wir
auf die Wahl. Dafür dienstes FSB hindeuten. Aber warum soll-
te Russland signalisieren, dass es dahin-
das auch tun und nicht bis nach der Wahl kamen sie zu spät.“ tersteckt? Das wäre ziemlich dumm.
warten. Das genau erwartet auch die Öf- SPIEGEL: Im Programm von WikiLeaks aus
fentlichkeit von uns. dies zu tun. Ihr gutes Recht. Das ist De- dem Gründungsjahr 2006 hieß es: „Unsere
SPIEGEL: Ihnen ist es egal, wenn Ihre Publi- mokratie. vorrangigen Ziele sind die besonders re-
kationen Wahlen mitentscheiden? SPIEGEL: Clinton ist gegen WikiLeaks vor- pressiven Regime in China, Russland und
Assange: WikiLeaks besteht aus Menschen, gegangen. War Ihre Veröffentlichung eine Zentralasien.“ Über diese Länder erfährt
die unterschiedliche politische Ansichten Vendetta, eine Racheaktion? man von Ihnen aber sehr wenig.
haben. Aber das darf nicht dazu führen, Assange: Das ist amerikanisches Ostküs- Assange: Das ist absolut falsch! Den Ein-
dass wir unsere Prinzipien verraten. ten-Psychogebabbel: WikiLeaks publiziert druck haben Sie, weil der Westen und die
SPIEGEL: Und diese Prinzipien besagen, al- Dokumente, weil ein Mann ein Problem Amerikaner immer nur Nabelschau betrei-
les was echt ist, schnellstmöglich zu ver- hat. Nein! Aber es ist schon eine Ironie ben. Wenn wir Dokumente veröffent-
öffentlichen, unabhängig davon, wem es der Geschichte. Clinton war daran betei- lichen, die nicht in Englisch abgefasst sind,
nutzt oder schadet? ligt, unsere angebliche Quelle Chelsea interessiert das im Westen niemanden.
Assange: Das ist unsere bisherige Praxis, Manning ins Gefängnis zu bringen. Es SPIEGEL: Aber Ihre großen Scoops, Doku-
die sich nur unter extremen Umständen scheint eine Art natürliche Gerechtigkeit mente über die Kriege in Afghanistan und
ändern könnte. zu geben. im Irak, die diplomatischen Depeschen,
SPIEGEL: Welche Umstände könnten das SPIEGEL: Also war Clintons Niederlage eine die Clinton-Mails oder die CIA-Akten,
sein? Genugtuung für Sie? richteten sich alle gegen die USA.
Assange: Wenn wir am Rande eines Atom- Assange: … Assange: Die USA sind ein Empire mit mehr
kriegs stünden und eine Publikation miss- SPIEGEL: Sie lächeln. als 700 Militärstützpunkten auf der ganzen
DER SPIEGEL 21 / 2017 89
Ausland

hüllungen versprochen, dass die Geheim-


dienste ihre Kenntnisse über Sicherheits-
lücken nicht mehr verschweigen, sondern
sie den betroffenen Firmen mitteilen. Das
war offenbar gelogen. Eine andere offene
Frage ist, wer die von der NSA zu ver-
antwortenden Millionenschäden über-
nimmt, die „WannaCry“ in aller Welt ver-
ursacht hat.
SPIEGEL: Sie sprechen über die ganze
Welt, sind aber eingeschlossen in zwei klei-
nen Räumen ohne Sonnenlicht in der
ecuadorianischen Botschaft in London.
Leidet Ihre politische Urteilsfähigkeit nicht
zwangsläufig unter dieser Situation?
Assange: Es stimmt, ich lebe nicht in Lon-
don, sondern in der Botschaft. Aber meine
Besucher kommen aus aller Welt, ich bin
eine ultraglobalisierte Person. Ich lese sehr
viel. Meine Wahrnehmung der Welt mag
verzerrt sein durch die Informationen, die
für mich erhältlich sind. Aber Sie arbeiten
für ein prestigereiches deutsches Magazin,

REUTERS
gehören einer bestimmten Klasse an – Ihre
Wahrnehmung ist auch verzerrt.
Selfie von Whistleblowerin Manning: Die ersten Schritte in Freiheit SPIEGEL: Von Lenín Moreno, dem im April
gewählten linken Präsidenten Ecuadors,
Welt. Wenn die Macht Amerikas bloß- Assange: Journalisten bestimmter Medien hängt ab, ob Sie weiter hier lesen und Be-
gestellt wird, ist das weltweit von Interesse. behaupten das, um ihre Erfolglosigkeit zu sucher empfangen können. Erwarten Sie,
Als wir 2,3 Millionen syrische Dokumente entschuldigen. Viele Medien ahmen unsere dass er zu dem Asyl steht, das sein Vor-
veröffentlicht haben, darunter E-Mails von Methode doch inzwischen nach, indem sie gänger Ihnen im August 2012 gewährt
Baschar al-Assad, wurde das im Westen Möglichkeiten schaffen, über ihre Websites hat?
nicht als Scoop angesehen. anonyme Informationen entgegenzuneh- Assange: Er hat das gesagt, aber man kann
SPIEGEL: Nach der Annexion der Krim men. Wir veröffentlichen härter als ande- sich dennoch nicht sicher sein. Wir sollten
durch Russland haben Sie getwittert: „Die re. Die Quellen kommen zu uns, weil wir nicht vergessen, dass diese Botschaft in
USA haben die ganze Welt mit Massen- zu unseren Werten stehen und unsere Großbritannien steht und die Überwa-
überwachung annektiert.“ Ist es weise, ein Quellen robust verteidigen. chung vor der Tür intensiv ist; mit Zivil-
Verbrechen mit einem anderen zu ent- SPIEGEL: Wie schätzen Sie die globale polizisten, Kameras, mit merkwürdigen
schuldigen? „WannaCry“-Attacke der vergangenen Dingen, die in diesem Gebäude vorgehen.
Assange: Ach, kommen Sie, das ist typische Woche ein? Es gab erheblichen politischen Druck auf
journalistische Haarspalterei. Ich war sehr Assange: Die amerikanische National Se- Ecuador, auch wirtschaftlichen, sowie
kritisch gegenüber Russlands Aktionen in curity Agency (NSA) hat 2013 die Kon- zahlreiche Hackerangriffe auf die Bot-
der Ukraine. Auf der strategischen Ebene schaft.
war es ein Desaster, für die Ukraine und
für Russland.
„Wir akzeptieren keine SPIEGEL: Und wie ist der Stand in dem Er-
mittlungsverfahren wegen eines „minder-
SPIEGEL: Wenn Sie Wladimir Putin mit der Zensur. Aber es ist schweren Falles von Vergewaltigung“, das
Veröffentlichung von Dokumenten stürzen
könnten, würden Sie es tun?
nicht unsere Aufgabe, die schwedische Justiz seit sieben Jahren
gegen sie führt?
Assange: Wenn die Dokumente authentisch Politiker zu stürzen.“ Assange: Wegen der schwedischen Vorwür-
wären, würden wir sie veröffentlichen. fe, die ich abstreite, bin ich nie angeklagt
Aber es ist nicht unsere Aufgabe, Politiker trolle über ihr gigantisches Arsenal an worden. Das zuständige Gremium der Ver-
zu stürzen. Wir akzeptieren keine Zensur. Cyberwaffen verloren. Sie zog es vor, Mi- einten Nationen hat festgestellt, dass der
Wir denken, was die menschliche Zivilisa- crosoft, Apple und andere Firmen nicht Haftbefehl gegen mich gesetzeswidrig ist.
tion braucht, um gerecht und vernünftig über Sicherheitslücken in deren Program- Aber die schwedischen Staatsanwältinnen
zu sein, ist die Freiheit der Information. men zu informieren. Stattdessen hat die setzen ihre Verzögerungstaktik fort.
SPIEGEL: Gibt es für Sie keine Grenzen der NSA selbst Angriffswerkzeuge produziert, SPIEGEL: Wie kommen Sie mit dieser
Transparenz? um in diese Lücken vorzustoßen. Das ist schwierigen Situation klar?
Assange: Die müssen nicht wir ziehen, son- nun das Resultat. Assange: Keine Ahnung. Vielleicht ist es
dern die Gesellschaft. Jede Organisation SPIEGEL: Rechnen Sie mit noch Schlimme- mir einfach zur Gewohnheit geworden,
hat ihre spezielle Aufgabe. Die Aufgabe rem? damit klarzukommen.
der Polizei ist es, die Mafia zu stoppen. Assange: Es ergeben sich erst mal ernst- SPIEGEL: Herr Assange, wir danken Ihnen
Die Aufgabe der Medien ist es, den Men- hafte Fragen: Haben NSA und CIA die für dieses Gespräch.
schen die Wahrheit zu erzählen. Das ist Tatsache, dass sie die Kontrolle über die
unsere Aufgabe. Und nicht Zensur. meisten ihrer Cyberwaffen verloren Video: Das Phantom
SPIEGEL: Sehen Sie nicht die Gefahr, dass haben, geheim gehalten, oder haben sie der Botschaft
anonyme Lieferanten von Dokumenten Präsident Obama informiert? Die US- spiegel.de/sp212017assange
WikiLeaks missbrauchen können? Regierung hatte nach den Snowden-Ent- oder in der App DER SPIEGEL

90 DER SPIEGEL 21 / 2017


Sport
Doping wurde. Die Tabelle listet 218 sogenannte Adverse Analytical
Viel mehr Fußballer erwischt Findings auf, also verbotene Substanzen im Blut oder Urin
der Spieler. Die Wada hatte ein Jahr zuvor nur 160 Fälle
Die Zahl auffälliger Dopingproben bei Fußballern hat 2016 unter Fußballern entdeckt. Damit ist die Zahl im Vergleich
erheblich zugenommen. Das geht aus einer internen Aus- zum Vorjahr um fast 40 Prozent gestiegen. Welche Spieler
wertung der Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) hervor, die mit verbotenen Substanzen erwischt und wie sie sanktioniert
dem SPIEGEL von der Hackergruppe Fancy Bears zugespielt wurden, geht aus den Dokumenten nicht hervor.

Positive Blut- 2005 2007


und Urinproben 343 348
bei Fußballprofis

2016

2003 218
187
2013
140

PATRICK SE EGE R / DPA


Proben
gesamt
noch
nicht
20104 22 329 23 478 25727 28313 33 445 32 526 30398 28578 28008 28002 31242 32 362 bekannt

Magische Momente

„Tennis war mir wurscht“


IMAGO SPORT

Die Schwäbin Laura Siegemund, 29, über ihren Spätstart in die Weltklasse

SPIEGEL: Vor drei Wochen Auf diesem Niveau verdient später belohnt. Diese ein- einfach zu sagen, dass alles
haben Sie in Stuttgart das am man kein Geld, man reist fache Gleichung funktioniert schlecht war, bloß weil man
höchsten dotierte Tennistur- ohne Trainer von Turnier zu aber nicht. Irgendwann verloren hat. Ich kann mit
nier für Frauen in Deutsch- Turnier, und wenn man war mir Tennis wurscht. Und mir zufrieden sein, auch
land gewonnen. Was bedeu- früh verliert, ärgert man sich von diesem Moment an wenn Außenstehende es an-
tet Ihnen dieser Erfolg? bloß. Es war ein langer, har- lief es plötzlich richtig gut. ders sehen. Mein Trainer und
Siegemund: Es war mein „Fi- ter Prozess, an dessen Ende SPIEGEL: Das klingt paradox. mein Freund begleiten mich.
nale dahoim“, und es gibt ich mir eingestehen musste, Siegemund: Ist es aber nicht. Dadurch kreisen meine Ge-
nichts Schöneres als die tota- dass es so nicht weitergeht. Ich versuche heute, meine danken nicht ständig nur um
le Unterstützung von Fans, SPIEGEL: Als Sie mit zwölf Leistung unabhängig vom Re- den Tenniszirkus. Das ist mir
Freunden und Familie. Für Jahren das bedeutendste sultat zu beurteilen. Es ist zu äußerst wichtig. pk
Höchstleistungen muss ich Nachwuchsturnier der Welt
mich absolut wohlfühlen, gewonnen hatten, wurden
und es waren alle da – bis Sie schon als neue Steffi
auf meinen Papa. Wenn ich Graf gefeiert.
Siegemund: Dieser Vergleich
DPA PICTURE-ALLIANCE / ANTON DENISOV / PICTURE ALLIANCE

spiele, steht er unter Strom,


und deshalb bleibt er lieber nervt. Es hieß oft, dass ich
zu Hause vor dem Fernseher. an den Erwartungen geschei-
SPIEGEL: 2012 schien Ihre tert sei. Das stimmt so nicht.
Karriere am Ende, Sie wid- Vielmehr war ich immer sehr
meten sich Ihrem Psycho- ehrgeizig, rückblickend
logiestudium. Warum woll- stand ich mir damit selbst im
ten Sie aufhören? Weg.
Siegemund: Ich habe sehr SPIEGEL: Sind Sie heute gelas-
früh angefangen und hatte in sener?
der Jugend große Erfolge. Siegemund: Ja, früher glaubte
Letztlich kam ich in der ich, wer harte Arbeit und
Weltrangliste aber nicht viel Disziplin in den Sport inves-
weiter als auf Position 200. tiert, der wird früher oder Siegemund im April in Stuttgart

DER SPIEGEL 21 / 2017 91


ALEXANDRE SIMOES / BORUSSIA DORTMUND / GETTY IMAGES
Dortmunder Profi Aubameyang (r.): Im goldfarbenen Lamborghini durch die Stadt

Empört euch!
Showsport Jedes Jahr fließt mehr Geld in den Fußball. Die Millionen haben
den Profibetrieb und seine Darsteller deformiert. Bilanz einer
Scheinwelt, die Gefahr läuft, ihr Stammpublikum zu verlieren. Von Gerhard Pfeil

MARTIN LUKAS KIM / DER SPIEGEL


ANNEGRET HILSE / IMAGO

Fanprotest im Berliner Olympiastadion, Anhänger des Hamburger SV: Die Leute haben das Monopoly satt

92 DER SPIEGEL 21 / 2017


Sport

W
ürde man eine Weltkarte des Das viele Geld habe die Mentalitäten insgesamt 19,4 Millionen Euro verabredet.
Fußball-Irrsinns basteln, dann verändert, sagt Lahm. Der Fußball sei ab- Und auch der Spieler musste seinen Bera-
müssten auch in Deutschland ein surd aufgeladen mit Bedeutung. ter entlohnen – mit 2,6 Millionen Euro.
paar Fähnchen stehen. Sechsjährige, die auf dem Spielplatz Raiola hat somit an dem Transfer eines
In Dortmund zum Beispiel, wo der nicht das Trikot eines Bundesligavereins einzigen Spielers insgesamt 49 Millionen
Borussen-Torjäger Pierre-Emerick Auba- oder der Nationalmannschaft tragen, sind Euro verdient. Und auch sein Klient ist
meyang, 27, Jahresgehalt vier Millionen schnell Außenseiter. Einen ballbegabten nun gut versorgt. Pogba verdient in
Euro, wahlweise in einem Aston Martin Sohn zu haben gilt Eltern in manchen Manchester rund 200 000 Euro – in der
Cabrio, einem Ferrari, einem Porsche Großstadtmilieus als Statussymbol. Der Woche.
mit Batman-Logo oder einem goldfar- Konkurrenzkampf in den Nachwuchszen- Die Episode über den trickreichen Be-
benen Lamborghini durch die Stadt fährt. tren der Klubs, den Brutstationen des rater handelt nicht von einem Raubzug,
In München, wo der Stürmer Robert Kommerzfußballs, wird immer härter. Ta- einer Gaunerei. Sie zeigt den ganz nor-
Lewandowski, 28, bis zu 20 Millionen lente werden zu Ego-Shootern ausgebildet, malen Wahnsinn des Fußballgeschäfts.
Euro beim FC Bayern kassiert. Und na- die wie ferngesteuert dem Ball und einem Holger Stanislawski, der ehemalige Trai-
türlich in Herzogenaurach. Dort ist der Profivertrag hinterherjagen. ner des FC St. Pauli, der inzwischen einen
Sportartikelhersteller Adidas ansässig, der Wer es geschafft hat, marschiert mit dem Supermarkt in Hamburg führt, wurde
Real Madrid für einen Ausrüstervertrag ersten Gehalt ins Autohaus, um sich mit kürzlich von der „Bild“-Zeitung gefragt,
eine Milliarde Euro bietet (SPIEGEL einem standesgemäßen Traumauto auszu- was er mit einem Lottogewinn anfangen
19/2017). rüsten. Willkommen im Klub. würde. Stanislawski antwortete, er würde
Die Menschen lieben den Fußball. Weil Die Maßlosigkeit des Profibetriebs wird sämtliche Logen im St.-Pauli-Stadion kau-
dieses Spiel so einfach ist, weil es Emotio- selten öffentlich thematisiert. Die Vereine fen und überall Transparente aufhängen
nen schürt, weil es Ablenkung vom Alltag haben sich abgeschottet. Wer nicht dazu- mit der Aufschrift: „Scheiß Millionäre“.
bringt. Weil jeder mitmachen und mit- gehört, blickt nicht so leicht hinter die Ku- Es war als Witz gemeint. Tatsächlich
reden kann. Aber wer versteht noch die lissen. aber zielte Stanislawski auf den Kern des
Summen, die im Geschäft mit dem Fußball Vorigen Dezember druckte der SPIEGEL Problems.
bezahlt werden? zwei Titelgeschichten über das Geschäft mit Fußball galt lange als Spiel der einfachen
Philipp Lahm sitzt auf einem Sofa in dem Fußball, über Geheimklauseln in Ver- Leute. Mit Akteuren wie Uwe Seeler, Gerd
der Agentur seines Beraters Roman Grill, trägen, über Fantasiegehälter und Steuer- Müller und Katsche Schwarzenbeck, alle-
er kommt gerade vom Training beim FC tricksereien. Nach der Veröffentlichung samt geerdete, bescheidene Stars, konnte
Bayern, die Sonne scheint, es gibt Espres- schwärmten in England, Frankreich und in sich das Publikum identifizieren.
so. Er sagt, für viele Menschen seien die Spanien Staatsanwälte aus, um sich einige Bei heutigen Darstellern ist das schwie-
Summen, die im Profigeschäft bewegt wer- Protagonisten vorzuknöpfen. Vorige Woche rig. Die Lebenswelten von Berufsfußbal-
den, „abstrakt“. lern und ihren Fans driften immer weiter
Für ihn nicht?
„Doch, schon.“
Die Lebenswelten von auseinander. 2016 verdienten die rund
500 Spieler der 18 Bundesligavereine im
Der Fußball hat Lahm reich und be- Berufsfußballern und Schnitt 1,9 Millionen Euro im Jahr. Wenn
rühmt gemacht. Er wohnt in einem weit-
läufigen Haus mit Blick auf die Alpen, hat
ihren Fans driften immer Profis Volksnähe demonstrieren, so wie
die Kicker des FC Bayern mit einem Be-
im Alter von 33 Jahren ausgesorgt. Jetzt weiter auseinander. such auf dem Oktoberfest, oder die Mann-
beendet der Weltmeister seine Karriere. schaft von Schalke 04, die jedes Jahr den
Er sei darüber nicht traurig, er habe die ist das SPIEGEL-Buch „Football Leaks“ er- Schacht eines Bergwerks besichtigen muss,
guten Zeiten miterlebt. schienen, das wieder für Unruhe in der Profi- dann handelt es sich bei solchen Ausflügen
Lahm wurde als Kind bei einem Ama- branche sorgt. Die Autoren haben Spieler- um Zwangsmaßnahmen der Vereinsfüh-
teurverein in München, der FT Gern, so- verträge und Abkommen internationaler rung, die dazu dienen, dem Publikum eine
zialisiert. Er erlebte dort, wie die Eltern Stars und ihrer Berater ausgewertet. Die Bodenständigkeit vorzuspielen, die es in
Fahrgemeinschaften bildeten, um die Kin- Dokumente stammen aus einem Daten- Wahrheit schon lange nicht mehr gibt.
der zu Spielen zu bringen. Er erlebte, wie fundus, den die Onlineplattform Football Hans-Joachim Watzke, der Geschäfts-
Väter mit anpackten, um ein Klubheim zu Leaks dem SPIEGEL überlassen hat. führer von Borussia Dortmund, hat von
renovieren. Vereinsleben also. Als er spä- Das Buch beschreibt anhand entlarven- seinem Büro aus einen schönen Blick auf
ter, als 15-Jähriger, in der Jugend des FC der Fakten die Gier der Vereine, der Profis den Signal Iduna Park. Im Stadion des
Bayern spielte, war Fußball für ihn immer und ihrer Agenten. Ein Kapitel erzählt BVB können Zuschauer ein Heimspiel
noch ein Spiel: „Ich hatte nicht im Kopf, eine Geschichte aus dem Leben des Spie- noch für elf Euro sehen. Es gibt 23 Logen,
Berufsfußballer zu werden.“ lerberaters Mino Raiola, eines typischen in der Allianz Arena in München sind es
Lahm schaffte den Sprung in die Bun- Geschöpfs des entfesselten Weltfußballs. 106. Die Borussia, der Traditionsklub aus
desliga, weil er ein Ausnahmetalent war. Der gebürtige Italiener, der in Haarlem in dem Ruhrgebiet, gilt als Klub der kleinen
Während seiner Profilaufbahn entwickelte den Niederlanden aufwuchs, ist unter an- Leute. Watzke ist stolz auf das Image des
sich der Fußball rasant weiter. Die Trai- derem der Agent des französischen Natio- Arbeitervereins. „Wir wissen nach wie vor,
ningsmethodik und die Qualität der Spie- nalspielers Paul Pogba, der im Sommer wo wir herkommen“, sagt er.
ler verbesserten sich. Das Niveau im 2016 für die Rekordsumme von 105 Millio- Es gibt viele Probleme in Dortmund, in
internationalen Fußball ist heute so nen Euro von Juventus Turin zu Manches- manchen Vierteln liegt die Arbeitslosigkeit
hoch wie nie. Im gleichen Zeitraum nahm ter United wechselte. bei 24 Prozent, am Borsigplatz, wo der
auch das Geschäft mit dem Fußball ge- Von diesem Betrag flossen 27 Millionen BVB 1909 gegründet wurde, stehen die
waltig Fahrt auf. In den vergangenen an Raiola und seine Firma Topscore Sports Drogendealer. „Diese Gesellschaft verliert
20 Jahren stiegen die Transferausgaben Limited in London. Doch damit nicht ge- immer mehr an gemeinsamen Themen, die
in der Bundesliga von rund 50 Millionen nug. Mit den Verantwortlichen von Man- Bindungskräfte erlahmen“, sagt Watzke,
Euro auf fast 650 Millionen in der Saison chester United hatte Raiola für die Ver- „der Politik, den Verbänden, den Kirchen
2016/17 an. pflichtung Pogbas Honorarzahlungen von laufen die Leute weg. Aber der Fußball hat

DER SPIEGEL 21 / 2017 93


Sport

eine unfassbare Bindungskraft.“ Für die Fans bilden das Kraftzentrum des Fuß- sich in den USA und in Asien eigentlich
Menschen in Dortmund ist der BVB ein balls. Diese Energiequelle wird gnadenlos gut vermarkten. Aber nur, wenn es wirk-
Anker im harten Alltag. Und Watzke will, ausgebeutet. Die günstigsten Dauerkarten lich um etwas geht.
dass der Klub für die Leute greifbar bleibt. in der Bundesliga sind seit 2010 im Schnitt In Fanforen artikuliert sich bereits der
Er lehnt es ab, die Bundesliga für um 13 Prozent teurer geworden. Das Bier Frust über die große Langeweile. Die Ver-
Großinvestoren zu öffnen, die dann in den Arenen kostet immer mehr, die bände aber wollen nicht regulierend ein-
mitbestimmen wollen. „Ein Investor will Bratwurst auch. Um die horrenden Sum- greifen, Gelder gerechter verteilen, um so
sein Geld irgendwann zurückhaben, sonst men für die TV-Rechte wieder hereinzu- den Wettbewerb wiederzubeleben. Statt-
wäre er ja ein Gönner. Das bedeutet: bekommen, erhöhen die Bezahlsender die dessen wird das Angebot erweitert. Die
Die Preise gehen nach oben. Da machen Abo-Preise. Damit die Anhänger jede Champions League wurde längst aufge-
wir nicht mit. In Dortmund wird nicht Spielzeit ein neues Trikot kaufen, verän- stockt, im nächsten Jahr soll es einen zu-
massiv an der Preisschraube gedreht“, sagt dern die Klubs das Design oder die Farbe sätzlichen Wettbewerb für die National-
Watzke. der Hemden. teams geben. Die Fifa hat die Teilnehmer-
Andererseits will der BVB ein interna- Was passiert mit dem ganzen Geld? Es zahl bei Weltmeisterschaften ab 2026 von
tionaler Topklub bleiben. Er muss deshalb wird für immer teurere Spieler ausgege- 32 auf 48 Mannschaften erhöht.
Geld verdienen, viel Geld. Ein aktuelles ben, die immer mehr verdienen wollen. Mehr Spiele bringen mehr Geld. Die
Trikot der Borussia kostet daher im Fan- Und für deren Berater. Eine Milliarde Euro Rechnung der Funktionäre ist ganz ein-
shop in Dortmund etwa so viel wie ein gaben Klubs voriges Jahr weltweit für fach.
Trikot des FC Bayern im Megastore in Agenten aus. Ein Kreislauf des Irrsinns. Diese Rechnung werde nicht aufgehen,
München: 80 Euro. Dortmunds Klubchef Watzke sagt: „Die- meint Bundestrainer Joachim Löw; er be-
Ist das nicht zu teuer? Watzke denkt ser Kreislauf wäre schnell zu Ende, wenn klagt, dass unter der Masse der Spiele „die
nach und sagt dann: „Das ist ein Preis, der die Leute nicht mehr ins Stadion kommen Qualität“ leide. Der Teammanager des Na-
sich am Markt bildet. Ich denke aber, dass und die TV-Quoten sinken. Dann würde tionalteams, Oliver Bierhoff, warnt inzwi-
hier die Grenze langsam erreicht ist.“ in allen Bereichen eine Abwärtsbewegung schen davor, die Kommerzialisierung noch
Der Markt gibt es her. Dieser Satz fällt beginnen.“ weiter voranzutreiben. Irgendwann werde
immer, wenn der Wucher, die vielen Un- Immer im Januar treffen sich beim Neu- es sonst „knallen“.
verhältnismäßigkeiten im Geschäft mit jahrsempfang der Deutschen Fußball Liga Es knallt bereits. Anfang Mai verkün-
dem Fußball hinterfragt werden. Das ZDF (DFL) in Frankfurt am Main die Manager dete der Deutsche Fußball-Bund (DFB),
bezahlt über 50 Millionen Euro aus Ge- der deutschen Profivereine. Seit zwölf Jah- Länderspiele künftig auch in kleineren Sta-
bührengeldern, um ein paar Champions- ren verkündet die DFL, der Vermarkter dien austragen zu wollen, weil zuletzt die
League-Spiele übertragen zu dürfen. Der der Bundesliga, einen neuen Umsatz- Partien in den großen Arenen in Dort-
Markt gibt es her. Ein Durchschnittskicker rekord für die zurückliegende Saison. Der mund und Mönchengladbach nicht ausver-
wie Lewis Holtby verdient beim chroni- aktuelle liegt bei 3,24 Milliarden Euro. kauft waren.
schen Krisenklub Hamburger SV 292 000 Zum Ritual der Veranstaltung gehört, dass Fußball ist das beliebteste Spiel der
Euro im Monat. Ohne Prämien. Der Markt DFL-Chef Christian Seifert in einer klei- Deutschen. Der Profifußball aber hat ein
gibt es her. nen Rede ausführt, warum es in Zukunft Imageproblem. Die Fanvereinigung FC
Natürlich ist das, was Holtby am Ball so weitergehen werde. Nämlich weil das PlayFair!, in der sich Fußballsympathi-
kann, keine 3,5 Millionen Euro im Jahr Produkt, das man abliefere, einfach saugut santen zusammengetan haben, hat beim
wert. Das Gehalt ergibt sich aus einer Wet- Deutschen Institut für Sportmarketing eine
te auf die Zukunft, die Vereine bei jedem
Spielerkauf eingehen. Im Fall von Holtby
Väter gehen mit ihren Studie in Auftrag gegeben, die den Blick
von Anhängern auf den Kommerzfußball
waren Hamburger Funktionäre offenbar Kindern nicht ins Stadion, abbilden soll. Die Untersuchung ergab: Die
der Meinung, dieser Kicker würde ihre
Mannschaft weiterbringen, und sie würden
weil so ein Ausflug Leute haben das Monopoly satt. Spieler-
gehälter und Ablösesummen, so heißt es
das Geld, das er kostet, schon wieder rein- zu teuer geworden ist. in der Analyse, würden vom Publikum als
bekommen, durch eine gute Platzierung „realitätsfremd“ wahrgenommen werden.
in der Tabelle. Hat nicht geklappt. sei. Anschließend gehen alle ans Buffet Viele Fans hätten das Gefühl, es gehe „nur
Es gibt Vereine in der Bundesliga, die und essen sich satt. noch um noch mehr Geld“.
es schaffen, kontinuierlich aus sportlichen Fußball ist eine Blase, die so bald nicht Die Zahl der Verweigerer steigt. Es sind
Erfolgen Profit zu schöpfen. Aber alle le- platzen wird. Das ist die Botschaft der Fei- Romantiker, die lieber Kickern in der fünf-
ben von der größten, schier unerschöpf- er in Frankfurt. Aber stimmt diese Bot- ten Liga zugucken, als Geld für ein Spiel
lichen Ressource, die der Fußball hat: der schaft? in einer mit Werbung zugepflasterten
Leidenschaft der Fans. Sepp Herberger hat mal gesagt, die Leu- Großarena auszugeben. Es sind Väter, die
Aus ihr speist sich alles. Ohne die Lei- te würden auch deshalb so gern ins Stadion mit ihren Kindern nicht ins Stadion gehen
denschaft der Hamburger Fans, die seit gehen, weil sie nicht wüssten, wie es aus- können, weil so ein Ausflug ein viel zu
Jahren tapfer zu den Auftritten des HSV geht. Heute weiß man, wie es ausgeht. teures Vergnügen geworden ist. Es sind
pilgern, würde es den Verein, nach Jahr- Die Champions League wird von den Leute, die es ärgert, dass ihr Spiel von der
zehnten der Misswirtschaft, nicht mehr Großklubs aus Madrid, Barcelona, Turin Fifa verschachert und eine WM nach Katar
geben. Bei der Sanierung des hoch ver- und München dominiert, die deshalb auch vergeben wird. Es sind Eltern, die genervt
schuldeten BVB vor gut zehn Jahren hat die höchsten Prämien einstreichen und sind vom Hype um den Fußball und die
Klubchef Watzke einen großartigen Job sich somit immer weiter vom Rest abset- nicht wollen, dass ihre Kinder in diese
gemacht. Aber ohne die treuen Anhänger, zen. In Deutschland werden die Bayern Mühle geraten.
die das Stadion auch in der Krise füllten, vorzeitig Meister – in dieser Saison zum Zu den Verdrossenen gehört auch der
wäre die Borussia heute nicht die zweit- fünften Mal hintereinander. Bundestagsabgeordnete Özcan Mutlu. Der
stärkste Marke im deutschen Fußball. Bei der DFL ist man nicht glücklich über Grünenpolitiker, der in Berlin-Kreuzberg
„Echte Liebe“, so lautet der PR-Slogan die Überlegenheit der Münchner. Ein Spit- aufgewachsen ist, hat früher mal bei Tür-
von Borussia Dortmund. zenspiel wie das gegen RB Leipzig ließe kiyemspor gespielt. Er sitzt für seine Partei

94 DER SPIEGEL 21 / 2017


AFP / GETTY IMAGES
Spitzenspiel zwischen RB Leipzig und Bayern München: Frust über die große Langeweile

im Sportausschuss des Bundestags und Bis in den Bundestag. Wenn er seine Zu- ten sich ihr Spiel zurückholen. Empört
arbeitet sich unter anderem an den Zu- hörer dann fragt, was sie später mal ma- euch!
ständen im Profisport ab. chen wollen, sagen fast alle Jungen: Fuß- Mutlu hat keine Stimme in der Fußball-
Mutlu ist eine Empörungsmaschine. baller werden. welt. Er wird nicht zu Länderspielen einge-
DFB-Sommermärchen-Affäre, Fifa-Skan- Für die Fifa, den DFB, für die Klubs sind laden. Parlamentarier unterhalten sich oft
dal, Infantino-Intrigen, die Football- das gute Nachrichten. An Nachwuchs man- über Fußball. Über den letzten Spieltag, die
Leaks-Enthüllungen des SPIEGEL – immer gelt es nicht. Für Mutlu ist es eine Kata- aktuelle Tabelle, das letzte Supertor von
wenn irgendwo etwas hochgekocht ist, strophe. „Diese jungen Menschen träumen Lewandowski. Aber während man in Berlin
verschickt der Parlamentarier Statements von einer Scheinwelt, in der ja nur die we- die schamlosen Boni und Gehälter mancher
an die Medien, in denen er wortgewaltig nigsten Fuß fassen können.“ Vor allem Banker und Konzernmanager jetzt begren-
Aufklärung fordert, Aufarbeitung, Re- Kinder und Jugendliche mit Migrations- zen will, bleiben die Profiteure des Fußballs
formen. hintergrund seien fixiert auf Fußball, der unbehelligt. Warum? Ist Fußball doch nicht
Mutlu hat sein Büro in der Nähe des ihnen den sozialen Aufstieg ermöglichen so wichtig? Oder zu wichtig?
Bundestags. Oft sieht er auf dem Weg zu soll. Bestärkt würden sie durch Stars, die Die Autoren des SPIEGEL-Buchs „Foot-
Ausschusssitzungen Freizeitkicker auf der vor ihren Sportwagen posieren und solche ball Leaks“, die sich monatelang durch den
Wiese vor dem Reichstagsgebäude bolzen. Bilder ins Internet stellen. Mutlu ärgert Sumpf des Kommerzfußballs gearbeitet
Das gibt ihm das Gefühl, dass Fußball das. Sport sei eigentlich ein Integrations- haben, versuchen, auch darauf eine Ant-
Menschen zusammenbringen kann. motor. Wenn jedoch Kinder aus Einwan- wort zu geben. Sie schreiben: „Die Lei-
Aber dann liest Mutlu, dass Fußballstars dererfamilien statt auf Bildung und Schule denschaft, die im Spiel ist, das Bangen wie
versuchen, mit Tricksereien Steuergelder auf ihre Künste am Ball setzten, wenn der das Hoffen, die Wucht der Masse, die
zu sparen. Er frage sich dann, ob Fußballer Fußball falsche Anreize schaffe, „dann Sehnsucht nach Erlösung, das Perpetuum
die richtigen Vorbilder seien. Seine Ant- wird er irgendwann schädlich für die Inte- mobile der Gefühle, all dies hat eine Ver-
wort darauf laute immer öfter: nein. gration“. führungskraft, die die Verstandeskraft be-
Mutlu hält hin und wieder Vorträge an Mutlu findet, dass der Profifußball der zwingt.“ Amen.
Berliner Brennpunktschulen. Seine Kar- gesellschaftlichen Relevanz, die ihm bei- Doch die Zahl derer, die nachdenklich
riere als Politiker soll den Schülern zeigen, gemessen wird, nicht gerecht wird. Der werden, steigt. Die erste Auflage von
wohin man es in Deutschland als Kind aus Politiker wünscht sich, dass noch mehr „Football Leaks“ war kurz nach Erschei-
einer Einwandererfamilie bringen kann. Fans den Kommerz boykottieren. Sie soll- nen ausverkauft. I

DER SPIEGEL 21 / 2017 95


Die exklusive
Kino-Preview!
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DER SPIEGEL – das deutsche Nachrichten-Magazin.


Die Preview-Aktion wird am Montag,
dem 29.05.2017, stattfinden. Sie
können zwei kostenlose Kinokarten
– solange der Vorrat reicht – von
Samstag, den 20.05.2017, 12 Uhr, bis
Montag, den 29.05.2017, 18 Uhr,
unter den angegebenen
Telefonnummern reservieren.
Achtung: Die Tickets sind nicht
übertragbar. Missbrauch wird zur
Anzeige gebracht.

Berlin
Filmtheater am Friedrichshain
Bötzowstraße 1 – 5
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 62 62 – 0*

Bremen
Gondel Filmtheater
Schwachhauser Heerstraße 207
Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 62 62 – 1*
Düsseldorf
IN ZEITEN DES atelier-Kino im Savoy-Theater
ABNEHMENDEN LICHTS Graf-Adolf-Straße 47
Beginn: 20.00 Uhr
Ostberlin, im Frühherbst 1989. Wilhelm Hotline 0900 324 62 62 – 2*
Powileit, hochdekoriertes SED-Partei-
mitglied und Patriarch der Familie, wird Frankfurt am Main
heute 90 Jahre alt. Für die DDR, die Harmonie
Wilhelm aus Überzeugung mitaufbaute, Dreieichstraße 54
wird es der letzte Geburtstag sein. Beginn: 20.00 Uhr
Hotline 0900 324 62 62 – 3*
Wilhelm und seine Frau Charlotte,
einander in inniger Verbitterung verbun- Hamburg Zeise-Kinos
den, rüsten sich für Wilhelms Ehrentag. Friedensallee 7 – 9
Nachbarn, Genossen und singende Beginn: 20.00 Uhr
Pioniere treten an, um dem Genossen Hotline 0900 324 62 62 – 4*
i Powileit zu gratulieren und ihm einen
Preview am 29. Ma weiteren Orden zu verleihen. Das partei- Köln Odeon
Severinstraße 81
i
Kinostart am 1. Jun
konforme Jubiläumsspektakel nimmt
Beginn: 20.00 Uhr
seinen Lauf, bis eine Nachricht wie eine
Hotline 0900 324 62 62 – 5*
Bombe in die Festgesellschaft platzt: Der
erwachsene Enkel Sascha ist nur wenige Leipzig Passage Kinos
Tage zuvor in den Westen abgehauen. Hainstraße 19a
Geheimnisse brechen sich Bahn, und die Beginn: 20.00 Uhr
Veränderung ist nicht mehr aufzuhalten … Hotline 0900 324 62 62 – 6*
Es ist die Zeit des abnehmenden Lichts.
Die Vorlage zum Film liefert der mit dem München
City Kinos
Deutschen Buchpreis ausgezeichnete
Sonnenstraße 12
gleichnamige Roman von Eugen Ruge. IN Beginn: 20.00 Uhr
ZEITEN DES ABNEHMENDEN LICHTS Hotline 0900 324 62 62 – 7*
feierte 2017 seine Weltpremiere auf den
67. Internationalen Filmfestspielen Berlin. Nürnberg Cinecittà
Gewerbemuseumsplatz 3
Beginn: 20.00 Uhr
www.x-verleih.de Hotline 0900 324 62 62 – 8*
/inzeitendesabnehmendenlichts
Stuttgart
Atelier am Bollwerk
Hohe Straße 26
Wählen Sie die Hotline eines der aufgeführten Kinos. Beginn: 20.00 Uhr
QR-Code scannen Sie erhalten eine vierstellige Eintrittsnummer und Hotline 0900 324 62 62 – 9*
und Trailer ansehen. können Ihre Karten bis kurz vor Beginn der Vorführung
abholen. Bei einer ausgebuchten Veranstaltung in Ihrer
* Mondia Media, 0,69 €/Min. aus dem
Stadt erhalten Sie eine entsprechende kurze Ansage. dt. Festnetz; Mobilfunk ggf. abweichend.
Moos statt Eis
Der Eiskontinent wird grüner –
eine Folge des Klimawandels.
„Die ansteigenden Temperaturen
haben dramatische Effekte auf die
Moospolster in der Antarktis“,
berichtet Matt Amesbury von der
britischen Universität Exeter. Ein
Ausblick wie hier auf Green Island
wird wohl trotzdem selten bleiben.
Bislang sind nur 0,3 Prozent der
Antarktis bewachsen.

Einwurf

Im Land der Ungläubigen


Der Evangelische Kirchentag wird vom Staat mitfinanziert – und das im gottlosen Berlin.
Am Tag vor Christi Himmelfahrt beginnt in Berlin der diesjäh- gionsgemeinschaften freundlich zugewandt“, schreibt de
rige Evangelische Kirchentag. Er mag als Musterbeispiel für Maizière. Man könnte hinzufügen: freundlich zugewandt auch
jene Leitkultur gelten, die Innenminister Thomas de Maizière in Form unfairer Zuwendungen.
(CDU) einforderte mit den Worten: „In unserem Land ist Reli- So wird der Kirchentag in Berlin mehr als zur Hälfte aus
gion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft.“ Aber taugt Kirche Steuergeldern finanziert, mit rund zwölf Millionen Euro von
wirklich (noch) als Bindemittel der Gesellschaft? Nach dem Bund und Ländern. Warum nur? Wenn Kirchen Zuschüsse für
Krieg waren über 95 Prozent der Deutschen Kirchenmitglied, Krankenhäuser bekommen, nutzt das allen Menschen, auch
inzwischen sind es nur etwas mehr als die Hälfte. Weder Ka- den Ungläubigen. Vom Kirchentag hingegen haben Gottlose
tholiken (29 Prozent) noch Protestanten (27 Prozent) stellen nichts – außer Staus auf den Straßen. Die Krux mit dem
heute die größte Gruppe, sondern die Nichtkonfessionellen Kreuz: Wer eine Leitkultur fordert, sollte bedenken, dass gera-
mit rund 36 Prozent. Deutschland gilt in Sachen Religions- de die Hauptstadtbewohner der Leitkulturnation zu einem
losigkeit als eine der größten Nationen der Welt. Schon in ei- großen Teil religiös indifferent und konfessionell ungebunden
ner Generation könnten Kirchenmitglieder in der Minderheit sind. Nichts gegen Kirchentage, jeder nach seiner Fasson.
sein. Das braucht man weder zu feiern noch zu beklagen – Aber andere Glaubensgruppen müssen ihre Jahrestreffen
aber man sollte es wenigstens zur Kenntnis nehmen. „Unser schließlich auch selbst bezahlen: ob Muslime oder Anthropo-
Staat ist weltanschaulich neutral, aber den Kirchen und Reli- sophen, ob Humanisten oder Nudisten. Hilmar Schmundt

98 DER SPIEGEL 21 / 2017


Mail: wissenschaft@spiegel.de · Twitter: @SPIEGEL_Wissen · Facebook: facebook.com/spiegelwissen
Wissenschaft+Technik
Ernährung künftig in Becken züchten. können die Blaualgen unter
Blaualgen für Afrika Spirulina gilt als besonders extremen Bedingungen
nahrhaft. 100 Gramm Spiru- wachsen. „Herkömmliche
Regensburger Studenten wol- lina-Pulver enthält 60 Gramm Landwirtschaft ist in der
len mithilfe von Blaualgen Eiweiß sowie wichtige Mine- Turkanaregion unmöglich“,
die Mangelernährung in Afri- ralstoffe, Vitamine und Fett- sagt Daniel Kotter von Thri-
ka bekämpfen. Am Turkana- säuren. Getrocknet lässt sich ving Green. Das Wasser des
see in Kenia baut die Gruppe Spirulina wie Gemüse essen Turkanasees sei für Nutz-
Thriving Green eine Zucht- oder zu Brot verarbeiten. pflanzen viel zu salzig, das
anlage für Spirulina-Cyano- Der Ertrag ist pro Hektar Klima zu heiß, „aber genau
bakterien auf. Einheimische 10- bis 25-mal höher als bei diese Bedingungen sind per-
Bauern sollen die Mikroben Getreide. Vor allem aber fekt für Spirulina“. phb

Raumfahrt wünschte Nutzlast bis zum Nebel: Nein. Wie in histori-


„Bergleute wären die Mond bringen könnte. Not- schen Felsfestungen auf der
besten Pioniere“ wendig wären daher zunächst
kleinere Flüge zur ISS, wo
Erde ließen sich ein paar
Fenster einbauen, um Tages-
Florian Nebel, 39, die Module zusammengebaut licht hereinzulassen. Speziell
ist promovierter werden. Von dort aus würden am Mondsüdpol gibt es sogar
Kernphysiker und sie dann zum Mond starten. Standorte, wo es immer hell
arbeitet für einen SPIEGEL: Sie schlagen vor, die ist. Infrage käme beispiels-
europäischen Mondsiedlung unter der weise der 5000 Meter hohe
Luft- und Raum- Oberfläche zu errichten. Wie Malapert-Berg, der sehr
fahrtkonzern. Mit sind Sie denn auf diese Idee schön im Sonnenlicht liegt.
seinem Buch „Die gekommen? SPIEGEL: Aber welche Astro-
Besiedlung des Nebel: Um oberirdische Be- nauten wären in der Lage,
Mondes“ (LV-Buch hausungen zu errichten, Berge auf dem Mond anzu-
Münster) legt er einen Plan für müssten wir das Baumaterial bohren?
die Kolonisierung des Erdtraban- von der Erde mitbringen. Nebel: Unter den ersten
ten vor. Viel günstiger wäre es, Höh- Siedlern müssten Bergleute
len in ein geeignetes Berg- sein. Die Kumpel sind es ge-
SPIEGEL: Wie lange wird es massiv zu graben. Die Fels- wohnt, unter Tage Schwerst-
dauern, bis Menschen auf wände böten zudem einen arbeit zu leisten. Ihre irdi-
dem Mond leben können? natürlichen Schutz vor der schen Erfahrungen könnten
Nebel: Innerhalb von 10 bis 15 feindlichen Umwelt – dem sie auf den Mond übertragen.
Jahren könnten wir eine dau- Vakuum, den extremen Tem- Aus meiner Sicht wären sie
MATT AMESBURY

erhafte Siedlung aufbauen. peraturschwankungen und die am besten geeigneten


Am Anfang bestünde diese der kosmischen Strahlung. Pioniere, um schnell eine au-
aus etwa 25 Personen. Wenn SPIEGEL: Müssten Mondsiedler ßerirdische Kolonie zu er-
man kontinuierlich neue Sied- also im Dunkeln hausen? schaffen. sta
ler nachschickte und irgend-
wann auch Kinder dort auf
Fußnote Reiseziel Mond

5 Prozent
die Welt kämen, könnte die
Kolonie innerhalb von 30 Jah-
ren auf über tausend Bewoh-
ner anwachsen.
SPIEGEL: Wie teuer wäre ein
selbstfahrende Autos auf solcher Außenposten im All?
den Straßen reichen aus, Nebel: Eine sich selbst versor-
um nervige Stop-and-go- gende Siedlung würde zwi-
Wellen etwa auf Autobah- schen 33 und 120 Milliarden
nen zu verhindern, haben Euro kosten. Beteiligen sich
US-Forscher der Universi- viele Nationen am Aufbau,
ty of Illinois in Urbana- ähnlich wie bei der Interna-
Champaign ausgerechnet. tionalen Raumstation ISS,
Um den Verkehrsfluss zu müsste Deutschland weniger
regulieren, müssten die als eine Milliarde Euro pro
autonomen Fahrzeuge al- Jahr dafür aufbringen.
lerdings genau überwacht SPIEGEL: Anders als einst bei
und ihr Fahrverhalten „Apollo“ wollen Sie Men-
angepasst werden. Dann schen und Material aber nicht
könnten alle Autos im direkt hinschicken.
Stau bis zu 40 Prozent Nebel: Es gibt derzeit keine
NASA

Kraftstoff einsparen. Rakete, welche die ge-

DER SPIEGEL 21 / 2017 99


Wissenschaft

Fahnden nach den Ahnen


Genealogie Sie stöbern in staubigen Listen, fotografieren Grabsteine, lassen ihr Erbgut
analysieren – Hobbyforscher auf Ururururopas Spur.
Nie waren mehr Menschen auf der Suche nach ihren eigenen Wurzeln.

MARIA FECK / DER SPIEGEL


Ahnenforscher Kracke: „Ein Hobby, das süchtig macht“

I
rgendwann zu den Zeiten, als Johannes geboren wurde; der Herr erreichte ein für „My Heritage“ oder „Ancestry“ haben in
Gutenberg am Buchdruck tüftelte, muss mittelalterliche Verhältnisse hohes Lebens- den vergangenen Jahren zumindest einen
der Bauer Sander Upte Hurlo eine Frau alter von 78 Jahren und ist Krackes Opa Teil der deutschen Kirchenbücher, Aus-
unbekannten Namens geschwängert ha- mit mindestens 20 Urs davor. wanderungslisten und andere Schriftstücke
ben. Wäre dies nicht geschehen, gäbe es Kracke mit seinem Spleen für die Vor- digitalisiert und online gestellt. Es braucht
Timo Kracke nicht, der an einem Abend fahren passt schlecht ins Klischee vom ah- also nur noch einen Internetzugang und
im März fast 600 Jahre später bei Apfel- nenforschenden Pensionär, der Archivare unter Umständen eine Kreditkarte, schon
schorle und Salzbrezeln an seinem Ess- mit Anfragen und Freunde mit ausufern- kann es losgehen mit der Familienrecher-
zimmertisch sitzt, in Ganderkesee, einem dem Geschwafel über anno dunnemals che. Ein Angebot, das allein bei My Heri-
Ort bei Bremen. nervt. Dabei gibt es viele wie ihn: ver- tage Deutschland schon etwa vier Millio-
Kracke, 42, arbeitet im Kundendienst gleichsweise junge Leute, die sich der Su- nen Menschen annahmen – freilich meist
eines Automobilzulieferers; gerade hat er che nach Urururopa verschrieben haben. mit dem Ergebnis, dass man um den Be-
Feierabend gemacht und sein Oberhemd „Es ist ein Hobby, das süchtig und glücklich such echter Archive nicht herumkommt,
gegen ein lässiges T-Shirt getauscht, das macht“, sagt Kracke. wenn man es ernst meint mit der Ahnen-
auch wegen seines Kinnbärtchens irgend- Die Begeisterung für Ahnenforschung suche; bisher steht nämlich nur ein Bruch-
wie besser zu ihm zu passen scheint. Es ist in Deutschland zwar noch nicht so groß teil des genealogisch interessanten Mate-
trägt die Aufschrift „Genealogy“ – Krackes wie in Schweden, Großbritannien oder rials im Netz zur Verfügung.
Hobby, zu Deutsch: Ahnenforschung. gar den USA, wo „Genealogy“ ein Brei- Timm, die zum Thema forscht, vermu-
Bei seiner Arbeit stieß der Laienwissen- tensport ist und Messen zum Thema auch tet, dass viele Menschen auch deswegen
schaftler bereits auf die Namen von über mal 30 000 Besucher anlocken. Doch auch nach ihren Vorfahren suchen, weil sie sich
8000 Vorfahren. Wobei es sich hier nur um hier werden Veranstaltungen, Onlinean- in einer komplexen und unübersichtlichen
einen Bruchteil seiner Ahnen und der sei- gebote und Vereine beliebter. „Es wächst Welt nach einer Art „Sinnzusammenhang“
ner Frau und der beiden Kinder handeln da eine sehr wirkmächtige Geschichts- sehnten. Außerdem gebe es eine große Be-
kann, aber die schiere Zahl bedeutet, dass kultur von unten heran“, sagt die Münste- geisterung für kriminalistisch anmutende
Kracke weiter in die Vergangenheit vorge- raner Kulturanthropologin Elisabeth Arbeit – und immer weniger Vorbehalte
drungen ist als die meisten seiner Hobby- Timm, 48. gegenüber der Ahnenforschung.
forscherkollegen. Er fand zum Beispiel Hauptgrund für die Lust an der Ahnen- Durch die NS-Zeit geriet vieles in Ver-
eine Art altes Grundstücksregister und forschung dürfte sein, dass es noch nie so ruf, was mit Herkunft und Abstammung
schaffte es auf diesem Wege zurück ins einfach war, den Toten hinterherzuschnüf- zu tun hatte. Genealogie wurde damals in
Jahr 1415, als besagter Sander Upte Hurlo feln. Unternehmen wie „Familiy Search“, erster Linie betrieben, um einen „Arier-
100 DER SPIEGEL 21 / 2017
nachweis“ erbringen zu können. Jetzt gehe
es den meisten Familienforschern nicht
Im Kreis der Familie
mehr um Abgrenzung, sondern um Ver- Die größtmögliche Zahl
netzung, behauptet Timm. Und weil auch an Vorfahren je Generation
der letzte Altnazi bald gestorben sein dürf-
te, läuft man beim fröhlichen Forschen
auch nicht mehr Gefahr, einen noch leben-
den Uropa oder Großonkel aus Versehen
als SS-Schergen zu enttarnen und damit 3. Generation
den Familienfrieden zu stören. Urgroßeltern
Oft ist es der Todesfall eines nahen Ver-
wandten, die Geburt eines Kindes oder
8
irgendein anderes biografisches Großereig-
nis, das laut Timm am Anfang einer Ah- 4. Generation
nenforscherkarriere steht. Bei Kracke hatte Alteltern
der Einstieg allerdings rein gar nichts mit
Trauer, Freude oder Sinnsuche zu tun. 16
Ihm fehlten nur die Ideen, was er sonst
hätte tun können. 5. Generation
Es war Ende 1997, und er hatte sich Altgroßeltern
die Internetdomain Kracke.org gesi-
chert. Nun brütete er darüber, was er
auf seiner Homepage veröffentlichen
32
sollte. News aus Ganderkesee? Fotos
vom letzten Urlaub mit den Kum-
pels? Ein Freund riet ihm, die Do- Vorausgesetzt, dass im Durchschnitt
main wörtlich zu nehmen und etwas
1. Generation
alle 25 Jahre eine neue Generation Eltern
über die Familiengeschichte zu ver- geboren wird, wäre die 16. Generation
öffentlichen. Kracke fand das beste-
chend und tat erst einmal das, was
vor 400 Jahren entstanden. 2
alle tun sollten, wenn sie mit der
Genealogie beginnen: Verwandte 16. Generation 15. Generation 14. Generation 10. Generation
besuchen, sich über längst vergan- Urahneneltern Ahnenurgroßeltern Ahnengroßeltern Stammeltern
gene Zeiten berichten lassen und
nach Stammbüchern, Fotos und an- 65 536 32 768 16 348 1024
derem Material fragen.
Er könne es nicht näher erklären,
aber irgendwie habe es sich „gut an-
gefühlt“, über die Alten zu reden,
sagt Kracke. Also besuchte er einen
VHS-Kurs zum Thema „Genealo-
gie“ – und war prompt angefixt: Er 6. Generation
wollte jetzt ganz genau wissen, wer Alturgroßeltern
seine Vorfahren waren, unter welchen
Bedingungen sie lebten und was er viel- 64
leicht von ihnen geerbt hatte.
Kracke, der mittlerweile Vorstandsmit-
glied der nach eigenen Angaben größten 7. Generation
Obereltern
n .
he

genealogischen Vereinigung Deutschlands


sc

ist, dem Verein für Computergenealogie 128


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(CompGen), zog durch Standesämter,


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Pfarrbüros und Archive. Er lernte den Ge-


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ruch alten Papiers lieben, das Blättern in 8. Generation


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Büchern mit dicken Ledereinbänden, die


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Recherche mit Mikrofilmen, auf denen


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viele Stammbücher und andere Abstam-


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Kracke findet auch nach fast 20 Jahren


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detektivischen Sammelns kaum etwas


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spannender, als die Lebensumstände sei-


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ner Vorfahren zu rekonstruieren, ihre Ge-


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schichte wieder lebendig zu machen und


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sie dann auf seiner Website zu veröffent-


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lichen. Und wenn er darüber hinaus auch


noch Verwandte aus den USA ausfindig
machen kann, wie es ihm schon vor Jahren
gelang, kennt seine Begeisterung kaum
DER SPIEGEL 21 / 2017 101
Wissenschaft

MARTIN JEHNICHEN / DER SPIEGEL


Bücher im Staatsarchiv Leipzig: Unleserliches Pfaffen-Gekrakel

Grenzen. „Genau wie die meisten meiner Im Staatsarchiv lagern etwa 21 Regal- anspruchsvollen Job diese in ihrer Freizeit
Vereinskollegen habe ich durch das Hobby kilometer Kirchenbücher, Polizeiakten, erledigen.
sehr viele nette Menschen kennengelernt, Leichenpredigten, Familienchroniken und Die Archivarin geht eine Treppe hinun-
mit denen ich nun Kontakt halte“, erzählt andere Schriftstücke, die von anderen Be- ter, öffnet eine schwere Eisentür und
Kracke. hörden übernommen wurden und für betritt einen turnhallengroßen Raum vol-
Ahnenforschung, so berichten die, die Genealogen interessant sein könnten. Vie- ler Schieberegale aus Metall. Sie greift
sich ihr verschrieben haben, öffne den le Dokumente stammen aus den ehema- ein altes Kirchenbuch von 1713 heraus.
Blick dafür, wie sehr Migration zu allen ligen Ostgebieten, aber in Leipzig werden „Schauen Sie sich diese Schrift an“, sagt
Zeiten die Weltgeschichte bestimmt hat. mittlerweile auch Schriftstücke aus ande- sie und zeigt auf ein unleserliches Pfaffen-
Sie erzähle Geschichten, indem sie an fer- ren Teilen der heutigen Republik archi- Gekrakel, das so oder so ähnlich jedem
ne Orte führt, auf andere Kontinente, zu viert. Ahnenforscher mal unterkommt. Wer da
Menschen, deren Leben von Flucht, Krieg Als Kluttig 2008 zur Leiterin der Zen- nicht aufpasst und etwas Falsches heraus-
und Familienkatastrophen geprägt waren. tralstelle berufen wurde, erntete sie von liest, recherchiert sich schnell eine falsche
Dabei gilt es aufzupassen, dass man bei Kollegen eher Mitleid als Bewunderung. Familie zusammen.
der schieren Menge an Orten und Men- Die Ahnenforschung galt damals noch in Genealogen müssen im Grunde neu le-
schen, die einem bei der Recherche unter- erster Linie als Belastung für die Archive, sen lernen, wenn sie bei ihren Forschungen
kommen, nicht den Überblick verliert. als Zumutung für „echte Historiker“, die in jener Zeit ankommen, als Schreibma-
Weil es den sogenannten Ahnen- zur Recherche kamen. Genealogen, so schinen noch nicht zur Grundausstattung
schwund gibt, auch Implex genannt, der hieß es, seien in erster Linie komische Kau- von Ämtern und Pfarrgemeinden zählten.
nichts mit Inzest zu tun haben muss und ze, die zum Beispiel die Abstammung von So sollten sie Kurrentschriften entziffern
auch immer dann eintritt, wenn entfernte Karl dem Großen oder eine adlige Her- können, die oft mit dem erst 1915 einge-
Verwandte Kinder miteinander zeugen, kunft nachweisen wollten. führten und später von Hitler verbotenen
verdoppelt sich die Zahl der Vorväter und Das mit Karl, der 814 starb, ist nahezu Sütterlin verwechselt werden.
-mütter zwar nicht mit jeder Generation. unmöglich, weil im tiefen Mittelalter prak- Ebenso müssen Ahnenforscher zusehen,
Doch wer es bis zur Mitte des 18. Jahrhun- tisch keine genealogisch verwertbaren dass sie sich nicht von alten Ortsnamen
derts schafft und damit etwa zehn Gene- Schriftstücke produziert wurden. Die we- täuschen lassen. Viele deutsche Kommu-
rationen zurück, kann schon mit mehr als nigen Unterlagen, die es gab, wurden zu nen heißen heute anders als noch vor 100
tausend Ururururururururgroßmüttern einem großen Teil im Dreißigjährigen Jahren, wurden eingemeindet oder liegen
und -vätern rechnen, die von Forschern Krieg zerstört, viele davon verbrannten. gar in einem völlig anderen Teil der Welt.
praktischerweise „Stammeltern“ genannt Und die Suche nach adligen Wurzeln en- Im einstigen Bessarabien zum Beispiel gab
werden. Noch einmal zehn Generationen det häufig mit einer Enttäuschung oder es ein Leipzig, was laut Kluttig den Effekt
weiter wäre man dann bei den „Erzgroß- einer Lüge: Die meisten Deutschen stam- hat, dass etliche Ahnenforscher verzweifelt
eltern“ angelangt und müsste bereits mit men eben von Bauern oder anderen armen in Sachsen nach Vorfahren fahnden, ihre
etwa einer Million Namen jonglieren. Teufeln ab – und nicht von Fürsten oder Suche aber eigentlich auf ukrainisches
Wer wissen will, wie schwierig sich Ah- Königen. Staatsgebiet ausweiten müssten.
nenforschung zuweilen gestalten kann, Kluttig hat immer noch gelegentlich mit Die namentliche Erschließung des oft
muss nach Leipzig zur „Deutschen Zen- Genealogen zu tun, die sich in einen re- verwirrenden und schwer lesbaren genea-
tralstelle für Genealogie“ fahren und dort gelrechten Ahnenkult verrennen. Den logischen Erbes ist eine gewaltige Aufgabe,
Thekla Kluttig, 48, besuchen. Die promo- Großteil ihrer Kunden hat sie aber als und sie könne weder von der öffentlichen
vierte Historikerin ist die Hüterin des größ- „sehr gewissenhafte Hobbyforscher“ ken- Hand bezahlt noch von deren Mitarbeitern
ten genealogischen Schatzes Deutschlands. nengelernt, und nun will sie zeigen, welch geleistet werden, sagt Kluttig. Einen Teil
102 DER SPIEGEL 21 / 2017
MARTIN JEHNICHEN / DER SPIEGEL
Historikerin Kluttig: Hüterin des größten deutschen Ahnenschatzes

des Jobs übernehmen die Onlineanbieter, etwa 1200 gewesen sein. Zu den Ausstellern bei My Heritage begann, habe sie fast aus-
doch auch Vereine wie CompGen wollen zählen Vereine, Buchverlage, Berufsgenea- schließlich „70- bis 80-jährige Opas“ am
dazu beitragen. logen und Designer, die das Erforschte op- Kundentelefon gehabt, die erste Gehver-
So schlossen sich 700 der über 3600 Mit- tisch aufbereiten und Stammbäume gestal- suche im Netz unternahmen. Heute werde
glieder zusammen, um die Verlustlisten ten, die bis zu 2000 Euro kosten können. sie deutlich häufiger von Menschen ange-
des Ersten Weltkriegs zu erfassen. Sie Mitten im Saal hat Silvia da Silva, rufen, die um die dreißig seien.
können nun neben vielen anderen Daten, Deutschlandbeauftragte für My Heritage, Timo Kracke hat seine DNA bereits 2008
die bereits von den Hobbyforschern di- ihren Stand aufgebaut. Sie bietet eine analysieren lassen, doch die genealogische
gitalisiert wurden, auf der Internetseite Dienstleistung an, die unweigerlich an Aussagekraft war damals noch sehr gering.
compgen.de eingesehen werden. Schwerverbrechen und TV-Krimis denken Geholfen hat ihm das bei seiner Arbeit bis-
Derlei Crowdsourcing-Projekte gibt es lässt. Die 33-Jährige schiebt ein „Kit“ über her nicht. Ohnehin musste er sich bei der
viele in der Genealogenszene, und oft pa- den Tisch, in dem Wattestäbchen und zwei Recherche immer wieder eine Frage stel-
cken Menschen aus aller Welt mit an. So kleine Plastikröhrchen stecken. Wer es len, die mit Blick auf heutige Familienkon-
haben sich Zehntausende Hobbyhistoriker kauft, soll Proben seines Speichels sichern stellationen immer wichtiger werden dürf-
in aller Welt daran beteiligt, amerikanische und diese dann an ein Labor schicken, wo te für Genealogen: Was ist es eigentlich,
Volkszählungsdaten zu digitalisieren. die DNA analysiert und anschließend zer- das einen Menschen zum Ahnen macht?
Außerdem widmen sich CompGen-Mitar- stört werde, wie da Silva versichert. Einen Der Umstand, dass man vom gleichen Blu-
beiter und andere Ahnenforscher derzeit guten Monat später erfährt man dann, aus te ist, wie es oft heißt?
einem weiteren Megaprojekt, das späteren welchen Teilen der Welt die Vorfahren Bei seiner Arbeit stieß Kracke auf einen
Forschergenerationen dienen soll: Sie wol- der vergangenen Jahrtausende stammen Fall aus der jüngeren Familienvergangen-
len nach und nach jeden Friedhof im Lan- könnten und welchen Ethnien sie ange- heit, genauer will er es nicht verraten. Dabei
de besuchen, alle Grabsteine fotografieren hörten. handelte es sich um einen Mann, der nicht
und die eingemeißelten Namen und Daten Datenschutzrechtlich finden das viele der biologische Vorfahr eines Blutsverwand-
elektronisch erfassen. deutsche Ahnenforscher heikel, aber das ten Krackes war, sondern dessen Stiefvater.
Wie quirlig und wissbegierig Deutsch- ändert nichts daran, dass die Szene in der Streng betrachtet war dieser Mann also kein
lands Hobbyhistoriker sind, lässt sich an DNA-Genealogie auch eine große Chance Ahn, doch die folgenden Generationen tra-
einem Samstag im März in Altenberge bei sieht. Denn in dem Maße, in dem sich über- gen seinen Familiennamen.
Münster beobachten. Die Westfälische Ge- all auf der Welt Menschen analysieren und Was tun? Den Stammbaum abändern
sellschaft für Genealogie und Familienfor- ihre Daten speichern lassen, wird es viel- und den „echten“ Vater einsetzen, egal
schung hat zum Genealogentag eingela- leicht leichter, Afrikaner, Asiaten oder wie dessen Verhältnis zum Nachwuchs
den, einer der größten Veranstaltungen Inuit ausfindig zu machen, mit denen man war? Oder es beim Stiefvater und dessen
dieser Art in Deutschland. dieselben Vorfahren teilt. Vorfahren belassen? Kracke entschied sich
Kurz vor zehn Uhr, die Türen der Sport- Da Silva hofft, dass die Begeisterung für für die zweite Lösung. „Familie“, sagt er,
halle an der Ludgerischule sind noch ge- DNA-Genealogie auch in Deutschland so „hat nicht vorrangig mit DNA und biolo-
schlossen, und doch sind schon alle Park- groß wird wie in den USA, wo bereits Tau- gischer Abstammung zu tun.“ Sondern?
plätze besetzt. Etliche Gäste kurven mit sende Menschen bei My Heritage und an- „Mit Liebe.“ Guido Kleinhubbert
ihrem Auto durch die angrenzenden Sied- deren Dienstleistern eine Speichelprobe
lungen, einige davon sind laut Kennzeichen abgegeben haben. Sie erlebe die deutsche Video: Von wem stamme
500 und mehr Kilometer bis hierher gereist. Ahnenforschergemeinde mittlerweile auf ich ab?
Kurz darauf strömen die ersten Besucher jeden Fall als „sehr aufgeschlossen und spiegel.de/sp212017ahnen
in die Halle, am Ende des Tages werden es modern“, sagt sie. Als sie vor acht Jahren oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 21 / 2017 103


Wissenschaft

Giftbömbchen im Duschgel
Umwelt Nylon, Teflon, Silikon – Kosmetika enthalten verborgenes Plastik, das in Flüsse und
Meere gelangt. Die Kunststoffe können gefährlich für Fische, Muscheln und Krebse sein.

D
ie Haarmilch glänzt im schönsten Microbeads finden sich inzwischen welt- brauchertäuschung.“ Zum einen seien flüs-
Nivea-Blau und verspricht „Tiefen- weit im Sediment von Seen, Flüssen und sige, wachs- oder gelartige Kunststoffe bei
pflege“, „Hitzeschutz“ und „Kräf- Meeren, in Speisefischen, Garnelen und dem „Kosmetikdialog“ einfach ausgeklam-
tigung“. Die Inhaltsstoffe der „Pflege- Muscheln. Dort können sie zum Problem mert worden. Zum anderen beziehe sich
Sprühkur 7Plus“ von Beiersdorf allerdings werden, zumal Forscher gezeigt haben, die Einigung nur auf „Rinse off“-Produkte
lesen sich weniger verlockend: Cyclome- dass die Plastikperlen Umweltgifte wie wie Peelings, Shampoos oder Duschgele,
thicone, Polyquaternium-16 und Dimethi- PCB oder Bisphenol A an sich binden und die gleich nach der Anwendung abgewa-
conol heißt es im Kleingedruckten. dadurch anreichern. schen werden. Cremes, Haarsprays oder
„Pflegt mit Plastik“, so warnt Green- In Gesprächen mit dem Bundesumwelt- Make-up-Artikel, die zunächst auf Haut und
peace die Verbraucher vor den Umweltge- ministerium (BMUB) hat sich die Industrie Haaren bleiben, seien von der Selbstver-
fahren solcher synthetischer Polymere. In zwar verpflichtet, bis 2020 freiwillig auf pflichtung ausgenommen – obwohl auch sie
einer neuen Studie haben die Ökoaktivis- die Mikroperlen zu verzichten. Doch Um- nach und nach durch den Abfluss rauschen.
ten untersucht, wie weit verbreitet Kunst- weltschützern geht die Selbstbeschrän- Über 250 verschiedene Kunststoffe fand
stoffe in Kosmetika sind. Keiner der Bran- kung nicht weit genug. Greenpeace in den Kosmetika, berichtet
chenriesen wie Beiersdorf, L’Oreal, Procter „Das ist ein Freifahrtschein für die Bran- Schöttner. Überraschendes ist darunter: So
& Gamble, Henkel, Dm, Rossmann und che, künftig Produkte als mikroplastikfrei enthält das Produkt „Loose Face Powder“
Johnson & Johnson verzichtet demnach zu bezeichnen, die es in Wahrheit gar nicht von der Firma Body Shop neben Polyethy-
auf deren Einsatz. sind“, sagt Sandra Schöttner, „das ist Ver- len auch Nylon und PTFE (Handelsname:
„Fast alle konventionellen Kos- Teflon), Stoffe, die gemeinhin eher
metikprodukte enthalten Kunst- in Strumpfhosen oder Bratpfannen
stoffe, von denen einige im Ver- vermutet werden.
dacht stehen, giftig zu sein und Im „3 Wetter Taft-Power-Haar-
sich in Lebewesen anzureichern“, spray“ von Henkel ist Methacrylate
sagt Sandra Schöttner von Green- Copolymer enthalten, ein mit Ple-
peace. „Über den Abfluss gelangen Die meisten Körper- xiglas verwandter Stoff. Oder Sili-
viele dieser Stoffe in Flüsse und pflegeprodukte kon: Was im Bad Fugen abdichtet,
Meere.“ Dabei geht es nicht nur enthalten Plastik macht auch das „Natural Bronzing
um jene kleinen Plastikperlen, in flüssiger, gelartiger Powder“ der Firma Manhattan oder
die zum Beispiel in Peelings ver- oder fester Form Niveas „Q10plus Anti-Falten Au-
wendet werden, sondern auch um genpflege“ geschmeidig.
flüssige, gel- oder wachsartige Für die Hersteller macht es Sinn,
Kunststoffe. all diese Polymere zu verwenden.
Greenpeace lässt derzeit prüfen, Die Stoffe erzeugen ein sanftes
ob die Plastikfracht ein Verstoß ge- Hautgefühl, erhöhen den Sonnen-
gen Umweltgesetze darstellt. „Wenn schutz oder dienen als Trübungs-
diese Stoffe wirklich so gefährlich mittel. Doch was geschieht, wenn
für die Umwelt sind wie befürchtet, die Substanzen in Flüsse und Meere
könnte der Straftatbestand der Ge- gelangen, weiß niemand so genau.
wässerverunreinigung erfüllt sein“, „Für viele der Inhaltsstoffe ist die
sagt Martin Heger. Der Rechtspro- Umweltverträglichkeit nie geprüft
fessor von der Humboldt-Universi- worden“, kritisiert Schöttner. Eini-
tät zu Berlin fordert sogar, dass bis ge der häufig verwendeten Polyqua-
zur Klärung des Gefahrenpotenzials 137 € ternium-Verbindungen stehen bei-
die Vermarktung derartiger Produk- Pro-Kopf- 250 spielsweise im Verdacht, giftig für
te „kurzfristig unterbunden wer- Ausgaben verschiedene Wasserlebewesen zu sein und sich
den“ müsse. für Schönheits- Kunststoffe in Tieren anzureichern. Auch Sili-
pflegemittel * werden in Kosmetika
Die Kosmetikindustrie steht 2016 kone sind äußerst langlebig und bio-
und Pflege-
schon länger als Plastikmüll-Verur- produkten logisch schwer abbaubar. Einige
sacher am Pranger. Das Verbrau- eingesetzt von ihnen scheinen hormonell zu
cherportal Codecheck und der wirken und könnten deshalb zum
Bund für Umwelt- und Naturschutz
Deutschland präsentierten zuletzt
11 Mio. Beispiel die Fortpflanzung von Le-
bewesen beeinflussen.
im Oktober eine Studie, nach der Plastikpartikel Acrylate Co- und Crosspolymere,
können in einer Tube
jedes dritte untersuchte Gesichts- Körperpeeling Nylon, Polyacrylate, Silsesquioxa-
peeling Mikroperlen aus Polyethy- stecken ne – die Liste der in Kosmetika ver-
len enthält. Die auch Microbeads borgenen Kunststoffe ist lang und
genannten Kügelchen helfen dabei, unübersichtlich. Auch Wissenschaft-
die Haut abzuschuppern. Danach lern bereitet das Sorgen. „Wir kön-
* ohne Düfte; Quellen: IKW, Greenpeace, „Öko-Test“
rauschen sie in den Abfluss. nen kaum abschätzen, wie diese
104 DER SPIEGEL 21 / 2017
SPIEGEL TV MAGAZIN
SONNTAG, 21. 5., 24.00 – 0.45 UHR | RTL
Substanzen in Gewässern wirken, vor al- den in Kläranlagen fast vollständig ausge-
lem nicht in der Kombination“, sagt der filtert“, behauptet Beiersdorf. Henkel teilt Integration hinter Gittern – Der
Ökotoxikologe Stephan Pflugmacher-Lima mit, dass viele Polymere „in Kläranlagen sächsische Musterknast Waldheim;
von der TU Berlin. durch Adsorption an den Klärschlamm gut Blut gegen Blut – Die archaischen
Kunststoffgele oder -partikel könnten eliminiert werden“. Hintergründe des Mordes in Vissel-
sich zum Beispiel auf Algen ablagern und Doch eine Studie des Alfred-Wegener- hövede; Deutschlands neue Sucht –
deren Fotosynthese stören. Bei Fischen Instituts im Auftrag des Niedersächsischen Das Geschäft mit Schmerzmitteln.
drohten die Kiemen zu verkleben. Was- Landesbetriebs für Wasserwirtschaft, Küs-
serflöhe würden eine „Stresshäutung“ ten- und Naturschutz zeigt das Gegenteil.
durchführen, wenn sich zu viele Partikel Hunderte Millionen Plastikpartikel jährlich SPIEGEL TV REPORTAGE
auf ihnen ablagerten. „Das machen die passieren demnach die Klärwerke. DIENSTAG, 23. 5., 23.20 – 0.15 UHR | SAT.1
zweimal – dann sterben sie“, sagt Pflug- Und selbst was im Klärschlamm hängen
macher-Lima. bleibt, kann noch in die Umwelt kommen. Brautkleid, ungetragen,
Die Hamburger Umweltchemikerin Ge- Ein Teil des Schlamms nämlich wird als zu verkaufen! – Ein (Alb)traum
sine Witt sorgt sich um die Giftstoffe, die Dünger ausgebracht. „Die Stoffe gelangen in Weiß
sich an den Plastikpartikeln anlagern. Die auf jeden Fall in den Naturkreislauf“, sagt Wer in den gängigen Verkaufsporta-
Forscherin untersuchte Kunststoffe aus die Greenpeace-Expertin Schöttner. Um- len die Stichwörter „Brautkleid“ und
Elbe, Weser, Trave, Nord- und Ostsee. weltministerin Barbara Hendricks (SPD) „ungetragen“ eingibt, wird schnell
„Die Plastikteilchen, die wir dort finden, müsse sich deshalb auf EU-Ebene für ein fündig. Hinter den meisten Anzeigen
sind drei- bis viermal stärker mit Schad- Verbot von Mikrokunststoffen einsetzen: steckt die Geschichte eines geplatz-
stoffen belastet als das ohnehin schon kon- „Stattdessen ist man beim BMUB damit ten Traums: Nur wenige Frauen
taminierte Sediment“, sagt Witt. Sie be- beschäftigt, sich für den Kosmetikdialog finden den Mut, über die größte Ent-
fürchtet, dass die Giftbömbchen den Was- selbst auf die Schulter zu klopfen.“ täuschung ihres Lebens zu sprechen.
serlebewesen schaden. Die bisherige Einigung könnte aber auch
„Nanopartikel können sogar ins Gewebe umweltrechtlich noch zum Problem wer-
von Tieren einwandern“, warnt Witt. For- den. „Dieser Deal zwischen Bundesregie- SPIEGEL GESCHICHTE
scher der belgischen Universität Gent ha- rung und Herstellern ist eine Duldung, kei- MITTWOCH, 24. 5., 20.15 – 21.00 UHR | SKY
ben jüngst Hinweise dafür gefunden. Rund ne Genehmigung“, sagt Jurist Heger. Vor
hundert winzige Plastikpartikel fanden sie Strafverfolgung wegen Gewässerverunrei- Wie die Wilden – Rebellion auf
in 100 Gramm Muschelfleisch. Verursachen nigung seien die Unternehmen dadurch dem Tanzparkett
solche Teilchen Gewebsentzündungen? nicht geschützt. Walzer, Tango, Rock ’n’ Roll – die
Oder entweichen aus den Kunststoffen gif- Beim BMUB sieht man dennoch keinen Klassiker von heute galten einst als
tige Chemikalien? Niemand weiß das bis- weiteren Handlungsbedarf. Europaweit sei unmoralisch: Modetänze wie Shim-
her so genau. die Zahl der Mikroperlen zwischen 2012 my, Charleston, Swing oder Twist
Die Hersteller halten die Befürchtungen und 2015 um 82 Prozent zurückgegangen, sind Spiegel ihrer Epoche und Aus-
für übertrieben. Beiersdorf räumt zwar ein, zitiert das Ministerium den Industriever- druck gesellschaftlichen Wandels.
immer noch „kleinste feste synthetische band Cosmetics Europe. Und zur Umwelt-
Polymere“ zu verwenden. Das Hamburger schädlichkeit der übrigen synthetischen
Unternehmen arbeite jedoch mit „hohem Polymere lägen „keine Informationen FREITAG, 26. 5., 20.15 – 21.00 UHR | ZDF INFO
Aufwand“ an Alternativen. Mikroperlen vor“, heißt es lapidar aus dem Ministerium.
aus Polyethylen benutzt die Firma schon Dabei warnt sogar die eigene Fachbe- Freimaurer in der DDR
seit 2015 nicht mehr. hörde, das Umweltbundesamt, im Internet Freimaurer – ein jahrhundertealter
vor den Stoffen: Kosmetika sollten „aus Männerbund voller Mythen und
Selbst Plastikpartikel, Umweltsicht keine schwer abbaubaren syn-
thetischen Polymere“ enthalten. Verbrau-
dunkler Rituale. Den Mächtigen wa-
ren Freimaurer stets ein Dorn im
die im Klärschlamm hängen cher sollten „bevorzugt zu Produkten grei- Auge, und auch in der DDR war ihr
bleiben, gelangen in fen, die solche Stoffe nicht enthalten“.
Bleibt also nur, an die Verantwortung
Treiben streng verboten. Neueste
Forschung zeigt, dass es in Ost-
die Umwelt – als Dünger. der Verbraucher zu appellieren? Immerhin
lassen sich die Plastikzusätze leicht ver-
Bei flüssigen und gelartigen Polymeren meiden. Naturkosmetik enthält keinerlei
sieht Beiersdorf jedoch keinen Handlungs- Kunststoffe. Bei Lavera und Co. schrub-
bedarf. „Es liegen uns keine wissenschaft- ben zerkleinerte Olivenkerne oder Nuss-
lichen Nachweise vor, dass die von uns ein- schalen die Hautschuppen vom Körper.
gesetzten Polymere Ökosysteme schädi- Fürs Wohlgefühl sorgen natürliche Tenside
gen“, heißt es in einer Stellungnahme. und Öle.
Auch die Firma Henkel beschwichtigt. Die „Die konventionellen Hersteller behaup-
meisten polymeren Substanzen zeigten ten, dass Kunststoffe für ihre Produkte un-
JOCHEN BLUM

„weder Effekte auf den Menschen noch auf verzichtbar seien“, spottet Schöttner, „da-
Umweltorganismen“. Synthetische Poly- bei steht der Gegenbeweis in der Drogerie
mere würden sich nicht anreichern. Orga- direkt im Nachbargang.“ Philip Bethge
nismen könnten die meisten dieser Stoffe Mail: philip.bethge@spiegel.de, Twitter: @philipbethge Freimaurerkelch
aufgrund der Molekülgröße gar nicht auf-
nehmen. Video: deutschland dennoch rege frei-
Vor allem aber bestreiten die Hersteller, Stoppt das Plastik! maurerische Aktivitäten gab.
dass die Stoffe überhaupt in großen Men- spiegel.de/sp212017plastik Ein bislang unbekanntes Kapitel
gen in die Umwelt gelangen. „Partikel wer- oder in der App DER SPIEGEL der DDR-Geschichte.
DER SPIEGEL 21 / 2017 105
FABERCOURTIAL
Computeranimation des antiken Rom zur Zeit des Kaisers Nero: Bemerkenswerte Nachblüte?

Bunte
In Wahrheit entstammt die täuschend Grundlage für die Datenschlacht waren
echte Stadtansicht den Hochleistungs- historische Berichte und Atlanten, alte
rechnern des Darmstädter Animations- Stiche und Gemälde, aber auch Grabungs-

Datenschlacht
büros Faber Courtial. Die Effektspezia- und Bebauungspläne und neueste digitale
listen erweckten virtuell schon einen Vermessungsdaten. Aus diesem Fundus
eruptierenden Vulkan, stampfende Sau- destillierten die Digitalkünstler in Darm-
rierherden und marschierende Ritter- stadt ein Bild des alten Rom, wie es in
Geschichte Tricktechniker lassen horden zum Leben. Für die neueste Geschichtsbüchern kaum zu finden ist:
Ausstellung der Mannheimer Reiss-Engel- bunt bis zur Kitschigkeit und mit einem
das alte Rom wiederauferstehen. horn-Museen rekonstruierte Faber Cour- Kapitol, das weit weniger monströs über
Ihre virtuelle Rekonstruktion tial das alte Rom zu drei unterschied- der Stadt thront, als historische Darstel-
lichen Epochen: zur Zeit des Kaisers lungen glauben machen wollen.
zeigt den baulichen Niedergang Nero, in der Spätantike und in der Re- Doch wie nah kommen die Spezialisten
im Laufe der Jahrhunderte. naissance*. für visuelle Effekte tatsächlich der Wirk-
„Das ist unser Meisterstück“, sagen die lichkeit? Auch nach über 150 Jahren in-

W
o einst die Führer des alten Rom Firmengründer Maria und Jörg Courtial. tensiver Romforschung existiert unter
herumstolzierten, klafft eine ge- Wohl nie zuvor wurde das antike Zen- Geschichtskundlern noch immer kein ein-
waltige Lücke. Der Platz erin- trum der Welt mit so viel Detailverses- heitliches Bild von der Schaltzentrale des
nert nicht mehr an das Forum einer Welt- senheit und Aufwand dreidimensional Cäsarenreichs. Viele Arbeitsschritte muss-
macht, sondern an einen Dorfacker, auf nachempfunden. Über 45 000 Wohnhäu- ten die Grafiker von Faber Courtial mit
dem Kinder bolzen. Die große alte Zeit ser, dazu etliche Tempel, repräsentative den Historikern der Reiss-Engelhorn-Mu-
ist längst vorbei. Bauten, Bäder und Arenen der alten seen abstimmen – und gerieten dabei
Im Hintergrund aber wird eine riesige Metropole bauten die Grafiker am Com- hinein in den Gelehrtenstreit.
Baustelle sichtbar. Dort wächst gen Him- puter virtuell neu auf. Denn anfangs stellten die 3-D-Experten
mel, was dereinst die bedeutendste Kirche Selbst Dachziegel, Fenster und Fassa- den Verlauf vom wahnhaften Herrscher
der Welt sein wird: der Petersdom. den ließen die Courtials so echt wie mög- Nero bis zum Bau des Petersdoms allzu
Verwirrend und faszinierend zugleich lich nachbilden. „Unser Rom ist so fett radikal nur als bedrückende Verfallsge-
ist dieser gestochen scharfe Schnappschuss und verschlingt derart große Datenmen- schichte dar: In rund 1500 Jahren schrumpf-
aus einer Zeit, in der die Erfindung des gen, dass unsere Rechner tagelang lahm- te das imposante Machtzentrum der An-
Fotoapparats noch Jahrhunderte in der gelegt waren“, erzählt Jörg Courtial. „Wir tike zur Viehweide.
Zukunft liegt. Genau so würde ein Erin- haben unsere Möglichkeiten ausgereizt bis Da meldeten die Historiker plötzlich
nerungsfoto aussehen, wenn es Romtou- zum Gehtnichtmehr.“ Bedenken an: Erlebte Rom in der Renais-
rist Martin Luther im Herbst 1510 bei sei- sance nicht doch eine bemerkenswerte
ner Stippvisite in der heiligen Stadt ge- *„Die Päpste und die Einheit der lateinischen Welt“. Nachblüte? Nach längeren Diskussionen
knipst hätte. Vom 21. Mai bis 31. Oktober. schwächten die Grafiker den städtebau-
106 DER SPIEGEL 21 / 2017
Wissenschaft

lichen Niedergang ein wenig ab. Gesi-


chert ist, dass die Römer einen unsenti-
mentalen Umgang mit ihrem kulturellen
Erbe pflegten. Die Gebäude des einstigen
Regierungsviertels um das Forum Roma-
num wurden mit Beginn der Spätantike
ohne Skrupel geplündert, um an anderer
Stelle wieder als Baumaterial Verwen-
dung zu finden.
„Zu allen Zeiten war Rom eine alte
Stadt“, sagt Jörg Courtial, „die Zeitgenos-
sen sahen immerfort den Zwang zur Er-
neuerung.“ Schon um 100 nach Christus
spottete der römische Satiredichter Juve-
nal, die meisten Häuser der Metropole
würden nur notdürftig von Stützpfeilern
zusammengehalten. Als größte Sorge der
Einwohner beschrieb er deren Furcht, ih-
nen könnte nächtens im Schlaf das Dach
über dem Kopf zusammenbrechen.
Diese Angst war wohl nicht ganz un-
berechtigt. Anders als in der Moderne
galten im alten Rom Erdgeschosswoh-
nungen als besonders begehrenswert; die
obersten Etagen hingegen waren als bil-
lige Absteigen verschrien. In der Rekon-
Das Nachrichten-Magazin
struktion von Faber Courtial erlebt die
römische Mietskaserne nun eine beson-
dere Würdigung.
Zwar gaben das Forum Romanum, das
Kolosseum und der Circus Maximus der
für Kinder.
antiken Metropole ihr unverwechselbares
Gesicht. Das wahre Herzstück waren je-
doch die Behausungen der Plebs. Schon
im 2. Jahrhundert vor Christus zogen rö-
mische Bauherren in der rasant wachsen- Jetzt testen:
den Stadt Wohnblocks in die Höhe, wie „Dein SPIEGEL“ digital
sie in dieser Form im restlichen Europa
erst viele Jahrhunderte später im Zuge Mehr Infos unter
www.deinspiegel.de/info
der industriellen Revolution auftauchten.
Zur Zeit des Kaiser Augustus (27 vor bis
14 nach Christus) hatte sich ein derartig
ausufernder Bauboom entwickelt, dass die
Behörden einschreiten mussten. Die mit-
unter wackligen Wohnsilos durften nun
nur noch nach festen Vorschriften und mit
begrenzter Etagenzahl errichtet werden.
Für die Animationsexperten von Faber
Courtial stellten jene fortschrittlichen Mas-
senunterkünfte eine der größten Heraus-
forderungen dar. Zehntausende dieser
Wohnblocks mussten am Computer neu
erschaffen werden – samt Fenstern, Balko-
nen und zeittypisch begrüntem Innenhof.
Würde ein Römer von einst seine Stadt
in der rekonstruierten Version aus Darm-
stadt wiedererkennen? „Sicher kann man
nicht sein“, sagt Maria Courtial, „aber eine
Sache weiß ich gewiss: Ich selbst würde
leidenschaftlich gern durch unser altes
Rom laufen.“ Frank Thadeusz
Mail: frank.thadeusz@spiegel.de

Video: Rundflug durch


das antike Rom
spiegel.de/sp212017rom
oder in der App DER SPIEGEL

DER SPIEGEL 21 / 2017 107


Szene aus „Nocturama“

REAL FICTION
Filme findet, und dann ist die Mafia hinter ihnen her, wie in einfalls-
Terror als Event armen Filmen üblich. Denn sinnlose Gewalt so schick zu
inszenieren, wie es hier der Fall ist – das ist in diesen Zeiten
Der Film Nocturama von Bertrand Bonello funktioniert wie schon heikel. In „Nocturama“ ist Terror schlicht ein Produkt
eine Kippfigur: Erst sieht man was, dann wieder was anderes, der bürgerlichen Langeweile: Die jungen Leute finden es
irgendwann sind zwei Stunden um. Am Anfang erblicken aufregend, die Stadt in die Luft zu jagen. Es ist ein Event, und
wir Paris, glorreich aus einem Hubschrauber aufgenommen. nachdem sie es inszeniert haben, konsumieren sie es. Der
Schon mal prima. Dann folgen wir jungen Leuten, die durch Konsumaspekt ist deutlich: Die Gruppe verschanzt sich in ei-
Métro und Straßen eilen. Sie vergleichen die Uhrzeit, machen nem Kaufhaus und bedient sich dort. Der Kampf für die Sa-
Fotos. Um der Sache Relevanz zuzufügen, entwickelt es sich che endet bei der Verfügbarkeit von Zeug, für das man nicht
so, dass diese netten jungen Menschen Mörder und Terroristen bezahlen muss. Wertvoll ist dieser Aspekt: „Nocturama“ ver-
sind, die in Paris zuschlagen. Sie bomben und schießen und deutlicht, dass die Gewalt des Terrors nicht von außen kommt,
legen Feuer. Man denkt: Es hätte gereicht, dass einer Kokain sondern aus der Mitte der Gesellschaft. nm

Helene Fischer an die Spitze der Charts bis Disco noch dazu – in ih-
Deutscher finden wird und das so heißt ren jüngsten Liedern kon-
Sonderweg wie sie, „Helene Fischer“.
Schon rufen Anhänger atem-
zentriert sie sich musikalisch
wie textlich wieder auf
Millionenfach kaufen die los nach Helene, der Retterin. den traditionellen deutschen
Deutschen ihre Tonträger, zu Denn nach dem miserablen Schlager. Typische Titel:
Hunderttausenden besuchen Abschneiden der Sängerin „Gib mir deine Hand“. Es ist
sie ihre Konzerte, sie über- Levina beim Eurovision Song ein Schritt zurück zum Hei-
schütten Helene Fischer mit Contest hat der hiesige Pop matpublikum. In einem euro-
Zuneigung und mit Auszeich- ein Imageproblem, die deut- päischen Wettbewerb wird
nungen. „Die erfolgreichste sche ESC-Kandidatin kam sie damit kaum mehrheitsfä-
AXEL HEIMKEN / DPA

europäische Sängerin“, heißt nur auf den vorletzten Platz. hig sein. So taugt sie musi-
es entsprechend selbstbewusst Doch auch wenn Fischer die kalisch nur eingeschränkt als
im Pressetext zum neuen spektakuläre Liveshow be- Vertreterin ihres Landes:
Album der Sängerin, welches herrscht und eine stilistische als Botschafterin deutscher
in diesen Tagen seinen Weg Bandbreite von Schmuserock Fischer Selbstbezogenheit. jon

108 DER SPIEGEL 21 / 2017


Kultur
Regisseure Premiere beim Festival von Nils Minkmar Zur Zeit
Zurück nach Cannes. In Deutschland zeigt
Twin Peaks der Bezahlsender Sky die
Serie von Sonntagnacht an.
Mit Schulz in Verdun
Die Filmbranche verändert „Kabelfernsehen ist das neue Die SPD hatte einen Bus gemietet,
sich, nicht unbedingt zum Programmkino“, sagt Lynch. um uns von Saarbrücken nach Ver-
Besseren. „Die Zeit der Film- „Twin Peaks“ wurde erstmals dun zu fahren. Der Fahrer aber
kunst für Programmkinos ist 1990 im US-Fernsehen ausge- war ortsunkundig und fand Frank-
vorbei“, sagt ausgerechnet strahlt und kombinierte eine reich nicht. Er hatte auch kein
einer der profiliertesten Film- verschachtelte Krimihand- Benzin. Wir überquerten die Gren-
künstler der vergangenen lung mit Humor und über- ze erst 50 Minuten nach Abfahrt,
drei Jahrzehnte, der Regis- sinnlichen Elementen. Der eigentlich reichen 8. Das war
seur David Lynch, 71 („Blue Regisseur schuf so die erste das berühmte, schon von Günter Grass
Velvet“). Sein letzter Spiel- moderne TV-Serie über- beschriebene Schneckentempo eines jeden EsPeDe-
film, „Inland Empire“, kam haupt, die bis heute von Fans Wahlkampfs.
vor elf Jahren in die Kinos. in aller Welt verehrt wird. An jenem Tag besuchte Martin Schulz Verdun. Er tut
So ist es konsequent, dass Über den Inhalt der 18 neuen es jedes Jahr, seit seiner Jugend. Wir Journalisten durf-
Lynch jetzt wieder fürs Fern- Episoden hat er bislang fast ten ihn dieses Mal begleiten. Ich war davor noch nie in
sehen gedreht hat: die Fort- nichts verraten. Wie schon Verdun und konnte das, am Ende des Tages, gar nicht
setzung seiner eigenen Er- 1990 spielt Kyle MacLachlan verstehen: Ich habe lange in Saarbrücken gewohnt, in
folgsserie „Twin Peaks“. An auch diesmal den FBI-Agen- meiner deutsch-französischen Familie war der Krieg ein
diesem Sonntag wird die ten Dale Cooper; Lynch großes Thema, der erste wie der zweite. Warum bin
neue Staffel gefeiert wie ein selbst verkörpert einen FBI- ich nie hingefahren? Es liegt nicht an mir allein. Verdun
Kunstfilm, mit einer großen Chef. mwo entzieht sich der Geografie, eine schöne Stadt, wie aus
der Zeit gefallen und in einer für Europa völlig untypi-
schen grünen Weite. Wer sich nähert, meint auch, sich
verfahren zu haben. Martin Schulz erklärte uns im Bus
Ausstellungen Trash-Stil erinnert an Action- Strategie und Taktik der Kriegsparteien des Ersten
Kakerlake im Kaffee filme wie „Avengers“. Eder Weltkriegs vor Verdun sowie den größeren historischen
selbst sagt über die Ästhetik Zusammenhang und dann die damit für heute ver-
Goslar, im Harz gelegen und seiner Kunst, er packe – im bundenen moralischen Implikationen. Ein Kollege frag-
nicht besonders groß, ist übertragenen Sinn – das te, was er denn heute hier herumturne, wo doch in
der Wohnort des deutschen „Grauen ins Dessert“ und die Deutschland Wahlkampf sei. Schulz erläuterte freund-
Außenministers und die „Kakerlake in die Kaffee- lich die Zusammenhänge. Ich hatte ein Foto dabei:
Stadt, die zu Walpurgis einen tasse“. Auf jeden Fall ist er mein französischer Großvater in der Flugschule der
gewissen Hexenkult zele- ein Meister darin, Metaphern französischen Luftwaffe 1938. Sein Vater war 20 Jahre
briert. Von Ende Mai an las- für die echten Abgründe früher im Ersten Weltkrieg gefallen. Dieser Tod stürzte
sen sich im Museum Mönche- dieser Epoche zu finden. uk seine Witwe und ihre beiden Söhne in bittere Armut –
haus frisch aus eine Erfahrung, die meinen Großvater psychisch bis zu
Berlin angelieferte seinem Lebensende 2003 im Griff hielt. Doch als mich
Gemälde bewun- in Verdun jemand fragte, ob in meiner französischen
dern, die passender- Familie jemand im Ersten Weltkrieg umgekommen sei,
weise wie ein Kom- wollte ich spontan verneinen. Der Krieg überfordert
MARTIN EDER/VG BILD-KUNST, BONN 2017; COURTESY GALERIE EIGEN+ART LEIPZIG/BERLIN; FOTO: UWE WALTER

mentar zur ange- uns immer noch.


spannten Weltlage Über den weißen Kreuzen der Gräberfelder surrte es
und auch zu den wie von Insekten, die einen Garten erkunden. Es war
Frauen von heute aber eine Drohne mit Kamera. Flora und Fauna sind in
wirken. Auf seinen Verdun nicht lieblich. Die Wälder wirken heimtückisch
neueren Bildern verwachsen, der Boden ist unregelmäßig geschwollen
zeigt der ziemlich er- wie eine Narbe. Man stößt immer noch auf Teile von Ske-
folgreiche Künstler letten und versucht dann, sie zu identifizieren. Wer für
Martin Eder lauter Faulkners berühmten Satz von der Vergangenheit, die
schöne Kriegerinnen, nicht tot ist, nicht einmal vergangen, einen Beleg sucht,
die Rüstungen oder er findet ihn in Verdun. Die Erinnerungsebenen überla-
zumindest Teile gern sich. Frank Schirrmacher war hier mit Martin Schulz
davon tragen, die gewesen, im Sommer 2013, und schrieb darüber einen sei-
manchmal auch ein tenlangen Text. Dessen letzter Satz lautet: „Bei all dem,
Schwert in der Hand was Europa bevorsteht, ist es irgendwie beruhigend, dass
halten. Allerdings Martin Schulz von Verdun nicht loskommt.“
sehen sie trotzdem Natürlich war Frank Schirrmacher nie beruhigt. Er hielt
nicht kämpferisch, sehr viel von Martin Schulz, wusste aber, dass der nicht
sondern eher melan- alles allein kann. Wenn Schirrmacher etwas wichtig war,
cholisch aus – und sagte er: Das machen wir selber. Und dann: Kopf hoch.
wie eine leicht zu er- Es ist nicht zu früh, nach Verdun zu reisen.
obernde Beute.
Der Science-Fiction- Eder-Gemälde „Blut/Blood“, 2015 An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und Elke Schmitter im Wechsel.

DER SPIEGEL 21 / 2017 109


Kultur

„Der demokrat’sche Bänkelsänger“


Literatur 200 Jahre Georg Herwegh. Herwegh? Von ihm blieb nichts
außer vier Zeilen, die jeder kennt. Dabei war er mal so berühmt wie mutig
und blamierte sich oft. Von Dirk Kurbjuweit

D
er Dichter ist vergessen, aber ein aber ganz gut. Ein bisschen eifersüchtig Was rasch herauskam. Freiligrath spottete:
paar Zeilen von ihm leben. Steht war Heine wohl auch. Der Jüngere machte „Du trotziger Diktator, / Wie bald zerbrach
ein Streik bevor, liest man sie in gerade mehr Furore als er selbst, war auf dein Stab! / Dahin der Agitator, / Und übrig
Zeitungen oder auf Plakaten. Man kann dem Weg zum Freiheitshelden. nur – der Schwab’!“
sie auch singen, denn er hat sie für ein War das denn schicklich für einen Künst- Auch Heine nutzte die Gelegenheit,
Lied gereimt: „Mann der Arbeit, aufge- ler, so politisch zu sein, fragte sich die Kon- dem Jüngeren eine zu verpassen. Er
wacht! / Und erkenne deine Macht! / Alle kurrenz. Ferdinand Freiligrath hat Ende schrieb das Gedicht „An Georg Herwegh“,
Räder stehen still, / Wenn dein starker Arm 1841 den Ton dieser Debatte gesetzt: „Der in dem er ihn zum Fantasten erklärte. Al-
es will.“ Diese vier Zeilen, 18 Wörter, sind Dichter steht auf einer höhern Warte, / Als lerdings waren beide Kritiker nicht ganz
geblieben von Georg Herwegh, aber kaum auf den Zinnen der Partei.“ Herwegh ant- unabhängig. Freiligrath bezog eine finan-
einer weiß, dass er sie aufgeschrieben hat. wortete prompt mit einem Aufschrei: „Par- zielle Unterstützung vom preußischen Kö-
Vor 200 Jahren wurde er geboren, am tei! Partei! Wer sollte sie nicht nehmen,/Die nig, Heine von der Regierung des franzö-
31. Mai 1817. Seine Heimatstadt Stuttgart noch die Mutter aller Siege war! / Wie mag sischen Königs Louis Philippe.
hat zu einem kleinen Festakt eingeladen, ein Dichter solch ein Wort verfemen, / Ein Der Besuch bei Friedrich Wilhelm war
die Schweiz, wo er im Exil lebte, feiert ihn Wort, das alles Herrliche gebar?“ Einen ein Desaster, aber in jenem November
ein bisschen, aber das große Erinnern wird solchen Sänger könnten SPD-Chef Martin 1842 in Berlin passierte Herwegh auch das
wohl ausbleiben. Schulz oder CDU-Chefin Angela Merkel Beste, was ihm je passiert ist: Er lernte
Wer wird erinnert, wer vergessen? Das gut gebrauchen. Emma Siegmund kennen, Tochter eines
ist die Frage zum Herwegh-Jubiläum, die Heine dagegen nannte Leute wie Her- reichen Seidenhändlers, der am Schloss-
Frage nach den Regeln für das Geschichts- wegh verächtlich „Tendenzdichter“. Und platz lebte. Sie hatte sich in seine Gedichte
buch. Es gibt zwei, die besonders dick sind, richtig, Herwegh hatte eine klare Tendenz, verliebt und den Schöpfer dieser Worte in
das Buch für die Politik, das Buch für die nannte sich Kommunist, war nach heuti- das Haus ihrer Eltern gelotst. Nach weni-
Kunst. Herwegh hatte eine Chance auf bei- gen Begriffen aber eher Sozialist. Karl gen Tagen war man verlobt, nach wenigen
de, das macht ihn so besonders. Und dass Marx empfing ihn in Köln, druckte seine Monaten verheiratet. Der russische Anar-
er es zweimal nicht geschafft hat. Texte in der „Rheinischen Zeitung“. chist Michail Bakunin war Trauzeuge.
Anders als Heinrich Heine, der als gro- Im November 1842 traf Herwegh in Ber- Auch Emma Herwegh hatte ihre Chance
ßer Dichter erinnert wird. Sie waren Zeit- lin ein und versuchte sich als Politiker. Es auf ein Geschichtsbuch – das des deut-
genossen, sie waren Rivalen, sie sind sich gelang ihm, eine Audienz beim preußi- schen Feminismus. Auch sie hat es nicht
hin und wieder begegnet. Heine, knapp schen König Friedrich Wilhelm IV. zu er- geschafft. Ihr 200. Geburtstag ist gerade
zwanzig Jahre älter, schrieb Gedichte über gattern, um für eine Verfassung und mehr geräuschlos verstrichen. Emma wurde we-
Herwegh, Spottgedichte. Wahrscheinlich Freiheiten zu werben, aber irgendwie hat nige Tage vor Georg geboren, am 10. Mai
haben mehr Leute Heines Gedichte über es ihm wohl die Sprache verschlagen. Her- 1817. Sie war 25, als sie Herwegh traf, und
Herwegh gelesen als Herweghs Gedichte. wegh trat nicht besonders entschlossen auf. galt als „spätes Mädchen“, als „Ladenhüter
Bitterer geht es kaum. Verdient ist das aus dem Hause Siegmund“. Aber sie hatte
nicht, aber eher wegen der Politik. einfach gewartet, bis jemand kam, der so
Im Jahr 1842 war Georg Herwegh ein war wie sie: politisch, freiheitsliebend, re-
Star. Seine „Gedichte eines Lebendigen“ volutionär gesinnt. Es gab nicht viele Män-
waren im Jahr zuvor erschienen und in ner von diesem Schlag in ihren Kreisen.
Preußen verboten worden, weil sie wenig Sie lebten dann in Paris, in einem luxu-
verhohlen zur Revolution aufriefen. Trotz- riösen Exil, bezogen üppigen Unterhalt
dem waren in gut drei Jahren 16 000 Exem- von Emmas Vater, führten einen Salon für
plare unter der Hand verkauft. Herwegh, die intellektuelle Schickeria. Franz Liszt
der im Exil in Zürich lebte, machte eine kam vorbei, Bakunin, Karl Marx, Iwan
Tournee durch Deutschland, wurde von Turgenjew, manchmal auch Heine. Her-
begeisterten Mengen empfangen, mit Ka- wegh vergaß das Dichten, vergaß die Poli-
pellen, Hochrufen, und immer wieder tik, erforschte stattdessen die Anatomie
musste er seinen „Morgenruf“ vortragen. von allerlei Meeresgetier. Er trug feinste
So klang das dann: „Der Tag, der Tag ist Stoffe und wäre fast zum Urvater aller
erwacht! / Die Nacht, / Die Nacht soll blutig Salonsozialisten geworden: viel Geld, gro-
verenden. / Heraus, wer ans ewige Licht ße Klappe, keine Taten.
noch glaubt! / Ihr Schläfer, die Rosen der Doch als es darauf ankam, war er wieder
Liebe vom Haupt / Und ein flammendes da. Im Februar 1848 brach in Paris die Re-
Schwert um die Lenden!“ volution aus und schwappte über den
BPK

Das dröhnte und schepperte, Pathos, ho- Rhein nach Deutschland. Willkürherr-
her Ton. Heine nannte Herwegh bald die Revolutionärin Emma Herwegh 1842 schaft, Zensur, Elend, Hunger, die letzten
„eiserne Lerche“. Das war gemein, traf es „Ladenhüter aus dem Hause Siegmund“ Jahre waren furchtbar gewesen. Im März

110 DER SPIEGEL 21 / 2017


DICHTER- UND STADTMUSEUM LIESTAL

Dichter Georg Herwegh 1843


„Der liebste männlich geformte Mensch“

DER SPIEGEL 21 / 2017 111


Kultur

begann der Aufstand, Barrikaden in Berlin,


eine direkt vor dem Haus der Siegmunds.
Die Eltern lagen auf dem Boden, während
draußen geschossen wurde.
In Baden rief Friedrich Hecker die Repu-
blik aus und marschierte mit einem kleinen
Trupp von Konstanz los, um den Großher-
zog in Karlsruhe zu stürzen. Geschichte wur-
de gemacht, besser: sollte gemacht werden.
Herwegh gründete in Paris mit anderen
die Deutsche Demokratische Legion. Da-
mals lebten Zigtausende deutsche Hand-
werker in Paris, weil sie in der Heimat kei-
ne Arbeit gefunden hatten. Rund tausend
schlossen sich der Legion an, übten Mar-
schieren, übten Schießen, machten sich be-
reit für den Kampf gegen die Fürsten in
Deutschland.
Hier liegt Herweghs Größe, in der Ent-
scheidung zur Tat, im Mut zum Kampf für
eine gerechte Sache, Pistole statt Schreib-
feder. Marx wollte nicht mittun, hatte kein
Interesse an einer bürgerlichen Revolution,
wollte auf die proletarische warten. Heine
drückte sich ebenfalls, kränkelte, war aber
ohnehin kein Mann der Tat. Er wartete

AKG
nur darauf, dass Herwegh sich wieder lä-
cherlich machen würde. Nicht vergebens. Schlacht bei Dossenbach 1848: „Die Schüsse knallen – der Held erblaßt“
Es gab in jenen Pariser Tagen noch eine
andere Entscheidung zur Tat, noch unge- die Frau und der Dichter. Sie versorgten sich in der Paulskirchen-Versammlung in
wöhnlicher als die des Dichters Herwegh, die Legionäre mit Munition. Es war ein ewigen Debatten und ließen sich am Ende
und die kam von seiner Frau. Emma sorgte kurzer Kampf, gegen die Regierungssolda- einseifen. Die Fürsten blieben an der
für einen frühen feministischen Moment ten war die Legion, die zum Teil mit Sen- Macht.
in Deutschland, indem sie nicht, wie von sen kämpfte, ohne Chance. Die Männer Das politische Geschichtsbuch fordert
aller Welt erwartet, bei den Kindern blieb, flohen, auch die Herweghs, die es über den Erfolg, auch den bösen. Je schlimmer
sondern Horace und den kränkelnden Ca- den Rhein nach Rheinfelden schafften. Ihr die Verbrechen, desto größer der Eintrag.
mille mit dem Kindermädchen zu ihren El- Sohn Camille war inzwischen in Berlin Auch ein schöner Revolutionserfolg ist er-
tern nach Berlin schickte. Emma Herwegh gestorben. innerungsfähig, wie in Frankreich oder den
zog mit in den Krieg gegen die Fürsten, Die Flucht der Herweghs bewegte da- USA, nur gab es den hierzulande eben
als einzige Frau der Legion. Sie besorgte mals die intellektuellen Zirkel Europas, die nicht. Zudem wirken deutsche Anstren-
sich Pistolen. Zeitungen berichteten ausführlich, Spott- gungen für die Demokratie vor 1933 be-
Am 24. April 1848, Ostermontag, um gedichte, Karikaturen. Sie seien mit einer sonders klein, da sie die Katastrophe nicht
ein Uhr morgens, ließ sich die Deutsche Kutsche geflohen, hieß es, Emma auf dem verhindern konnten. „1848“ ist weitgehend
Demokratische Legion bei Kembs über Kutschbock, Georg unter einer Spritzde- vergessen. Was schade ist.
den Rhein schiffen. Sie wollte sich in Kan- cke versteckt. Prompt galt er als Feigling In den Jahren nach der gescheiterten
dern mit dem Heer von Friedrich Hecker Nummer eins der Revolution, gerettet nur Revolution fiel Herwegh vor allem durch
vereinen. Es war ein trauriger Haufen, nur von seiner Frau. eine Affäre mit der Frau seines Freundes
noch 650 Mann und nur 200 Gewehre, Heine, weit vom Schuss in seiner Pariser Alexander Herzen auf. Sie zog sich über
nicht jeder Soldat trug Schuhe. So zogen Matratzengruft, spitzte grinsend die Feder: Jahre hin und führte in die tiefsten Ab-
sie über die Rheinebene auf die Schwarz- „Die Schüsse knallen – der Held erblaßt, / Er gründe des Liebeslebens hinab. Das Ende
waldhöhen zu. Oben lag Schnee. Emma stottert manche unsinnige Phrase, / Er war der Tod Natalie Herzens im Wochen-
Herwegh saß auf dem Bagagewagen. phantasieret gelb – die Gattin / Hält sich bett. Herwegh kassierte eine Ohrfeige, und
Als sie in Kandern ankamen, war He- das Tuch vor der langen Nase.“ Mit ande- wieder zischelte es im europäischen Blät-
cker schon geschlagen und auf der Flucht. ren Worten: Herwegh habe sich aus Angst terwald. Er hatte wirklich ein Talent dafür,
Die Legion wollte sich nun mit der Revo- in die Hosen gemacht. sich zu blamieren.
lutionsarmee von Gustav Struve vereinen, Belege, das gab Heine zu, fanden sich Emma Herwegh ertrug die Herzen-Af-
aber auch das gelang nicht. Herwegh und dafür nicht. Die Herweghs dementierten färe mit Eselsgeduld. Sie ließ sich zur Post-
die anderen entschlossen sich zur Flucht die Sache mit der Spritzdecke, wurden sie botin für Liebesbriefe machen, zum Instru-
in die Schweiz, nach Rheinfelden. Tag und aber nicht mehr los. Georg Herwegh, der ment für die Leidenschaft der beiden an-
Nacht wurde marschiert, über die Berge, ein deutscher Held hätte werden können, deren, sie hielt das aus und hielt zu ihrem
durch den Schnee, ohne Verpflegung. Am war als politischer Akteur erledigt. Georg, womit sie für den Feminismus er-
27. April stellten Regierungssoldaten die- Als Revolutionär ist er komplett verges- ledigt war. Als Revolutionärin qualifiziert,
sen Elendstrupp in der Nähe von Dossen- sen. Aber das gilt auch für die anderen als Gattin diskreditiert. Das Urteil: Verges-
bach. Es gibt dort eine Gedenktafel, die Anführer dieses Aufstands wie Hecker und senheit.
an dieses Gefecht erinnert. Struve. Sie alle sind Gescheiterte: Die Ihr Mann jedoch bekam noch sein Ren-
Emma und Georg Herwegh rannten radikalen Revolutionäre verloren ihre dezvous mit der Geschichte. Zwei Chan-
nicht weg, sondern standen ihren Mann, Schlachten, die gemäßigten verhedderten cen wurden ihm gewährt. Im Zürcher Exil
112 DER SPIEGEL 21 / 2017
in den Fünfzigerjahren des 19. Jahrhun- Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin „buchreport“ (Daten: media control);
derts lernte er Richard Wagner kennen, nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
für den Herwegh „der liebste männlich ge-
formte Mensch“ wurde. Zwei Pathetiker Belletristik Sachbuch
hatten sich gefunden.
Wagner schenkte ihm das Libretto vom 1 (4) Maja Lunde 1 (5) Eckart von Hirschhausen Wunder
„Ring“ mit der Widmung: „Seinem Freun- Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro wirken Wunder Rowohlt; 19,95 Euro
de Georg Herwegh zur Fortsetzung von
Richard Wagner“. Er wollte, dass sein 2 (1) Jussi Adler-Olsen 2 (1) Andreas Michalsen
Freund weitere Teile schrieb. Herwegh tat Selfies dtv; 23 Euro Heilen mit der Kraft der Natur
Insel; 19,95 Euro
es nicht. Chance eins war verpasst.
Dann lernte er einen Mann namens Fer- 3 (2) Rebecca Gablé
Die fremde Königin Lübbe; 26 Euro
3 (3) Cameron Bloom / Bradley Trevor Greive
dinand Lassalle kennen, einen Sozialisten, Penguin Bloom Knaus; 19,99 Euro
der einen Allgemeinen Deutschen Arbei- 4 Gerhard Polt
terverein gegründet hatte. Später wurde
(7)
4 (4) Peter Wohlleben Das geheime Leben
Der große Polt Kein & Aber; 12 Euro
der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
daraus die SPD. Da damals viel gesungen
wurde, brauchte Lassalle eine Hymne für 5 (5) Elena Ferrante Meine geniale 5 (2) Yuval Noah Harari
seinen Verein, ein „Bundeslied“. Herwegh Freundin Suhrkamp; 22 Euro Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro
schrieb ihm den Text dazu: „Mann der Ar-
beit, aufgewacht ...“ Chance zwei war ge- 6 (3) Martin Walker 6 (8) Andrea Wulf Alexander von Humboldt
nutzt, unsterblich wurden aber nur einige Grand Prix Diogenes; 24 Euro und die Erfindung der Natur
Verse, nicht der Dichter. C. Bertelsmann; 24,99 Euro
Hans von Bülow hat das Bundeslied ver- 7 (6) Carlos Ruiz Zafón Das Labyrinth
der Lichter S. Fischer; 25 Euro 7 (6) Roger Willemsen
tont. Er war der Mann, dem Wagner die
Wer wir waren S. Fischer; 12 Euro
Gattin Cosima ausgespannt hatte. Cosima
8 (9) Martin Suter
wiederum war eine Tochter von Franz 8 (11) Christian Nürnberger / Petra Gerster
Elefant Diogenes; 24 Euro
Liszt und der Comtesse Marie d’Agoult, Der rebellische Mönch, die entlaufene
mit der Herwegh in Paris eine Affäre hatte. 9 (8) Elena Ferrante Die Geschichte Nonne und der größte Bestseller aller
Es ging bunt zu in Exilkreisen. eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro Zeiten – Martin Luther Gabriel; 14,99 Euro
Wagner und Herwegh haben sich später
9 (12) J. D. Vance
entzweit, weil der Komponist dem deut- 10 (13) Zsuzsa Bánk Schlafen werden
Hillbilly-Elegie Ullstein; 22 Euro
schen Nationalrausch erlag, der Dichter wir später S. Fischer; 24 Euro
nicht. Sie haben, wie damals üblich, un- 10 (7) Robin Alexander
freundliche Verse übereinander geschrieben. 11 (12) John Grisham Die Getriebenen Siedler; 19,99 Euro
Wagner höhnte: „Und Du, ob Politik Du Bestechung Heyne; 22,99 Euro
treibst, / ob Poesie, Physik, Du bleibst / der 11 (10) Hannelore Hoger Ohne Liebe trauern
demokrat’sche Bänkelsänger.“ 12 (14) Sebastian Fitzek die Sterne Rowohlt; 19,95 Euro

Herwegh giftete: „Und mache dir klar, Das Paket Droemer; 19,99 Euro
12 (9) Krzysztof Charamsa
mein Bester, / Die einzig wahre Zukunfts- Der erste Stein C. Bertelsmann; 19,99 Euro
13 (20) Toni Morrison
musik / Ist schließlich doch Krupps Orches-
Gott, hilf dem Kind
ter.“ Kanonen also; der späte Herwegh hat Rowohlt; 19,95 Euro
13 (14) Henning Sußebach Deutschland ab
genau gesehen, wohin das 1871 vereinte vom Wege Rowohlt; 19,95 Euro
Deutschland streben würde. Leider wur- Die Nobelpreisträgerin Toni 14 (20) Katrin Weber
den seine vielen Mahnungen nicht gehört. Morrison schildert das Le-
ben eines schwarzen Mäd- Sie werden lachen Aufbau; 18,95 Euro
Als Demokrat und Freiheitskämpfer war
chens in den von Rassismus
er seiner Zeit voraus, als Dichter jedoch durchdrungenen USA 15 (–) Michael Quetting
nicht. Da war er mit seinem Pathos auf Plötzlich Gänsevater
der Höhe seiner Zeit und wurde dann mit 14 (11) Natascha Wodin Ludwig; 19,99 Euro
den Jahren überholt. Heinrich Heine da- Sie kam aus Mariupol Rowohlt; 19,95 Euro
gegen war früh dran mit seiner eleganten Laborleiter Michael Quetting
15 (10) Julian Barnes Der Lärm bereitete sieben Gänse
Ironie, war als Dichter seiner Zeit voraus. auf ein Experiment vor –
Auch heute, im ironischen Zeitalter, wirkt der Zeit Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro und entwickelte eine starke
er frisch und modern. Das sichert seinen Bindung zu den Tieren
Platz im Geschichtsbuch der Kunst. 16 (16) Hanya Yanagihara
Ein wenig Leben Hanser Berlin; 28 Euro 16 (17) Peter Wohlleben Das Seelenleben
Georg Herwegh starb 1875 in Lichtental
bei Baden-Baden, verarmt und fast schon der Tiere Ludwig; 19,99 Euro
17 (17) Nicholas Sparks
vergessen. Zur Beerdigung kam Ferdinand
Seit du bei mir bist Heyne; 19,99 Euro
17 (–) Barbara Stollberg-Rilinger
Freiligrath. Man hatte einander verziehen. Maria Theresia C. H. Beck; 34 Euro
Emma Herwegh zog wieder nach Paris, 18 (–) Lucinda Riley Die Schattenschwester
wo sie bis 1904 lebte, ebenfalls verarmt. 18 (16) Hamed Abdel-Samad Mouhanad
Sie hat bis zuletzt daran geglaubt, dass ihr
Goldmann; 19,99 Euro
Khorchide Ist der Islam noch
Mann ein großer, ein unsterblicher Dichter 19 (15) Amy Ewing Das Juwel – Der Schwarze zu retten? Droemer; 19,99 Euro

war. Schlüssel Fischer JB; 18,99 Euro 19 (18) Zana Ramadani Die verschleierte
Gefahr Europa; 18,90 Euro
Kurbjuweit hat gerade den Roman „Die Frei- 20 (19) Joanne K. Rowling / John Tiffany /
heit der Emma Herwegh“ (Hanser; 336 Seiten; Jack Thorne Harry Potter und das 20 (–) Peter Berthold
23 Euro) veröffentlicht. verwunschene Kind Carlsen; 19,99 Euro Unsere Vögel Ullstein; 24 Euro

DER SPIEGEL 21 / 2017 113


Als alles begann
USA Vor 22 Jahren wurde der Football-Star O.J. Simpson trotz erdrückender Beweise
vom Vorwurf des Mordes freigesprochen. Schon damals zeigten
sich viele der Faktoren, die nun zur Wahl Donald Trumps geführt haben.

SID AVERY / MPTV / INTERTOPICS

Werbefigur Simpson 1978

114 DER SPIEGEL 21 / 2017


Kultur

G
il Garcetti wohnt immer noch nur ihn wohl die Karriere gekostet. Der Be- hat? Dass es weniger um Wahrheiten als
zwei Straßenecken entfernt vom zirksstaatsanwalt wird in den meisten Staa- um sogenannte Narrative geht, um Ge-
ehemaligen Grundstück des Foot- ten der USA von den Bürgern gewählt. schichten, die Menschen glauben wollen,
ball-Spielers O. J. Simpson. Sie waren mal Nach seiner zweiten Amtsperiode wollten obwohl sie vielleicht ahnen, dass sie nicht
Nachbarn, doch dann hat Garcetti ein Jahr die Bürger nicht mehr für Garcetti stim- stimmen.
lang versucht, Simpson wegen Doppel- men. Heute fertigt er künstlerische Foto- Man könnte auch sagen, „O. J.: Made
mordes lebenslang ins Gefängnis zu sper- grafien an und trägt gestreifte Oberteile in America“ – so heißt Edelmans fünf-
ren. Garcetti war damals Bezirksstaats- wie Pablo Picasso. teilige Dokumentation – handle acht Stun-
anwalt von Los Angeles, Simpson ein Die Karriere, die Gil Garcetti eigentlich den lang von all den Problemen, die die
gefallener Held auf der Anklagebank. für sich vorgesehen hatte, hat dann sein Nation bis heute bedrücken und deren
CNN hat jede Minute des Prozesses live Sohn gemacht: Eric Garcetti ist heute Bür- jüngste Konsequenzen der Abschied von
übertragen. germeister von Los Angeles und häufig in der Vernunft und ein zerstörerischer
Simpson hat gewonnen. Er wurde frei- den Schlagzeilen, weil er sich Präsident Präsident sind. Donald Trump wurde ge-
gesprochen, Garcetti und seine Staatsan- Trump entgegenstellt und sich weigert, wählt, obwohl ihm die ganze Welt dabei
wälte waren gedemütigt. Immigranten ohne Aufenthaltserlaubnis zuhören konnte, wie er davon sprach,
Heute ist Gil Garcetti 75 Jahre Frauen an die „Pussy“ zu grap-
alt und versucht immer noch, schen; er wurde gewählt, obwohl
nicht an Simpsons ehemaligem jedem klar sein musste, dass er
Haus auf der North Rockingham ein Lügner und Betrüger ist und
Avenue vorbeizufahren. dass seine psychische Ausstat-
„Ich erinnere mich“, erzählt er, tung der eines Zehnjährigen
„wie meine Tochter am Mittag möglicherweise gar nicht so viel
nach der Tatnacht nach Hause voraushat.
kam und sagte: Ich glaube, bei O. J. Simpson wurde von dem
O. J. haben sie eingebrochen. Mord an seiner Exfrau und einem
Überall Polizei. Eine Minute spä- Bekannten freigesprochen, ob-
ter bekam ich den Anruf. Nein, wohl sein Blut und seine DNA
kein Einbruch. Seine Exfrau war am Tatort gefunden wurden; er
umgebracht worden, und die Poli- verließ das Gericht als freier
zei hatte einen blutigen Hand- Mann, obwohl der blutige Hand-
schuh auf Simpsons Grundstück schuh, der bei der Tat benutzt
gefunden. In dem Moment hat worden war, in seinem Garten
sich mein Leben verändert.“ entdeckt wurde; er wurde für
Damals, vor 23 Jahren, im Juni nicht schuldig befunden, obwohl
1994, war Garcetti gerade in sein im Gerichtssaal Aufnahmen von
Haus eingezogen, ein in die Na- Polizeinotrufen vorgespielt wur-
tur eingepasster, modernistischer den, auf denen seine Ehefrau in
ZUMA PRESS / ACTION PRESS

Bungalow aus Beton und Glas. Todesangst vor Simpsons Gewalt


Hier in Brentwood, einer ruhigen um Hilfe fleht.
Gemeinde zwischen Santa Moni- Natürlich kann für alles eine
ca und Beverly Hills, wohnte man alternative Erklärung hervorge-
neben Stars wie O. J. Simpson, bracht werden, und Simpsons
dem größten Angriffsspieler des sogenanntes Dream-Team aus
American Football – obwohl Polizeifoto mit festgenommenem Simpson 1994 Starverteidigern war brillant da-
Simpson, wie sich später heraus- Störende Fakten ignorieren rin, diese der Jury und einem Teil
stellen sollte, hier auch nicht der Welt plausibel erscheinen zu
wirklich hingehörte. Das hier war West abzuschieben, wie sich der Präsident das lassen. Genauso hat es Wege gegeben, das
L. A., wie man sagte, und West L. A. be- wünscht. Verhalten des Präsidentschaftskandidaten
deutete: weiß, distinguiert, glamourös und Ursprünglich hatte Garcetti vor, über Trump zu „normalisieren“, wie es bald
ein bisschen verfilzt und verlogen. O. J. Simpson und seinen Freispruch, der hieß, also mit dem eigenen Welt- und Wer-
Das andere L. A., der zweite Teil der damals beinahe die Nation zerrissen hat, tebild irgendwie in Einklang zu bringen
Stadt, hatte sich zu jener Zeit gerade einen nie wieder öffentlich zu reden. Doch dann und störende Fakten zu ignorieren.
Namen als „South Central“ gemacht. Zwei sprach ihn der Filmemacher Ezra Edelman Ähnliche Faktoren, die die Wahl
Jahre war es bei Prozessbeginn her, dass an, der gerade einen Dokumentarfilm für Trumps ermöglichten – ein relativer Wahr-
in South Central bei den sechstägigen den Sportsender ESPN über den Fall Simp- heitsbegriff, distanzlose Medienfaszina-
L. A. Riots Teile der schwarzen Bevölke- son drehte – nein, nicht das Übliche über tion, eine Spaltung zwischen Privilegier-
rung Stadtviertel ausgeplündert und ange- die bestialischen, bis heute unaufgeklärten ten und Wütenden –, traten zum ersten
zündet hatten. Auslöser war auch hier ein Morde, den Prozess und seine Skandale. Mal zutage beim Freispruch O. J. Simp-
Gerichtsurteil: ein Freispruch für vier wei- Sondern die ganze Geschichte, die ganz sons. Damals, Mitte der Neunzigerjahre,
ße Polizisten, denen auf einem Video großen Fragen. begann mit der an Sportsendungen ange-
dabei zuzusehen war, wie sie nach einer Inwieweit O. J. Simpsons Freispruch mit lehnten CNN-Liveübertragung des „Trial
Verfolgungsjagd einen schwarzen Autofah- der amerikanischen Geschichte des Ras- of the Century“, was 20 Jahre später in
rer halb totschlugen. sismus verknüpft war, welche Rolle die einem erratisch tweetenden US-Präsiden-
Dass Garcetti es 1995 nach acht Monaten in den Neunzigerjahren entstehende Ce- ten münden sollte. So wenig die Welt auf
Prozess nicht gelungen ist, Simpson lebens- lebrity-Kultur spielte und wie hier zum die Wahl Trumps vorbereitet war, so we-
lang wegzusperren, hatte auch mit diesem ersten Mal öffentlich geschah, woran man nig war sie es damals auf den Freispruch
Urteil zwei Jahre zuvor zu tun, und es hat sich heute in der Trump-Welt so gewöhnt O. J. Simpsons. Vielleicht also lässt sich
DER SPIEGEL 21 / 2017 115
Kultur

aus den Mechaniken des Simpson-Falls ja „I’m not black, I’m O. J.“, lautete Simp- Währenddessen wartete wenige Automi-
noch etwas lernen. sons Antwort, wenn er zu Anliegen der nuten entfernt vor dem Tor von Simpsons
Jedenfalls hat die amerikanische Öffent- Afroamerikaner befragt wurde. Anwesen der Chauffeur. Er war schon kurz
lichkeit den Fall und seine merkwürdigen Gil Garcetti wusste all das. Und dennoch vor halb elf angekommen, doch Simpsons
Umstände wiederentdeckt. Sie gucken in schienen schon wenige Tage nach der Tat Haus sei kaum erleuchtet gewesen, nie-
ihn hinein wie in ein Kaleidoskop, in dem die Beweise gegen Simpson erdrückend. mand habe die Tür geöffnet. Erst gegen
sie Erklärungen für die Gegenwart vermu- „Wir waren uns sicher, wir hatten einen zehn vor elf habe sich etwas auf dem An-
ten. Gleich zwei Filme sind vergangenes Slam-Dunk-Case, wie wir es nannten.“ wesen bewegt. Simpsons Untermieter kam
Jahr erschienen: Neben Edelmans acht- Die Theorie über das Geschehen, die aus dem Gästehaus; er hatte Geräusche ge-
stündiger Dokumentation gibt es die zehn- Garcetti und seine Staatsanwälte schnell hört. Kurz danach sei eine große dunkel-
teilige Fernsehserie „The People v. O. J. rekonstruiert hatten, ging folgendermaßen: häutige Gestalt, wie der Fahrer aussagte,
Simpson“, die die Ereignisse um den Pro- Am Sonntag, dem 12. Juni 1994, hatten ins Haupthaus gehuscht. Der Fahrer klin-
zess herum nachstellt. Ein dritter Film, Simpson und seine Exfrau Nicole Brown gelte wieder, wenige Augenblicke später
„LA 92“, wieder dokumentarisch, hatte eine Tanzaufführung ihrer Tochter besucht. meldet sich Simpson über die Sprechanlage,
kürzlich auf dem Tribeca Film Festival Simpson und Brown waren seit zwei Jahren er habe geschlafen, er sei gleich draußen.
in New York Premiere. Er befasst sich geschieden. Brown soll Simpson bei der Das LAPD hatte sehr brauchbare Spu-
mit der Vorgeschichte, dem Freispruch für Tanzaufführung keines Blickes gewürdigt ren gefunden: Ein Männerlederhandschuh,
die vier weißen Polizisten und den an- haben, und zu einem anschließenden Fami- der Blutspuren von Simpson, Brown und
schließenden Ausschreitungen in South
Central.
Gil Garcetti war kurz nach den Riots ins
Amt gekommen. Die Stimmung in der
Stadt war nach den brennenden Vierteln
angespannt, und es gab immer wieder Pro-
bleme mit dem Los Angeles Police Depart-
ment (LAPD), das als rassistisch und kor-
rupt galt und Ende der Achtzigerjahre be-
gonnen hatte, die steigende Drogen- und
Gangproblematik in South Central mit
Panzern und paramilitärischer Ausrüstung
zu beantworten.
Garcetti selbst ist in South Central auf-
gewachsen, sein Vater war aus Mexiko ein-
gewandert. Auch deswegen wollte er, dass
seine Polizisten ihr Verhalten ändern, vor
allem aber weil er wusste, dass rassistische
oder korrupte Cops vor Gericht schlechte
Zeugen für Staatsanwälte sind.
Und Garcetti wusste noch etwas: Poli-

L.A. TIMES / POLARIS / LAIF


zisten liebten O. J. Simpson. Er war nicht
nur einer der besten Sportler der Football-
Geschichte. O. J. war mehr für Amerika.
Wenn er mit seinen Zickzack-Läufen über
das ganze Feld stürmte, das Football-Ei un-
ter dem Arm, mit ungeheurem Speed Ge- Flüchtender Simpson, ihn verfolgende Polizeifahrzeuge 1994: Distanzlose Faszination
genspieler nach Gegenspieler hinter sich
lassend – dann sah es aus, als würde er liendinner mit Browns Eltern sei Simpson Goldman aufwies, lag am Tatort. Den da-
durch das behelmte Chaos auf dem Platz nicht eingeladen gewesen. Er war später mit zugehörigen Handschuh, ebenfalls in Blut
einfach hindurchrennen. Er tat das lä- einem Freund, der in seinem Gästehaus getränkt, fand ein Polizist auf Simpsons
chelnd und mit Leichtigkeit, und viele wohnte, bei McDonald’s gewesen, von wo Grundstück hinter dem Gästehaus. Dersel-
Amerikaner behaupteten, sie fänden auf er um 21.36 Uhr zurückkehrte. Um 22.45 be Polizist entdeckte auch Simpsons So-
eine merkwürdige Art Trost in den Wun- Uhr sollte Simpson von einer Limousine ab- cken in seinem Schlafzimmer, befleckt mit
dern, die O. J. auf dem Feld vollbrachte. geholt und für einen Nachtflug nach Chica- Blut von Nicole Brown, ebenso fand er
Er war ein schwarzer Ausnahmesportler go zum Flughafen gebracht werden. In der Blutstropfen von Simpson, Brown und
wie Muhammad Ali, doch im Unterschied Zwischenzeit sei er, so die Theorie der An- Goldman in Simpsons Ford Bronco.
zu Ali musste das weiße Amerika vor klage, zu dem wenige Minuten entfernten Gil Garcetti wertete es als gutes Zei-
Simpson keine Angst haben. Sie durften Haus seiner Exfrau gefahren. Er habe ge- chen, dass Simpson den Hollywood-An-
ihn „Oh-Jay“ oder „The Juice“ nennen, klingelt und seine Exfrau sofort mit einem walt Bob Shapiro anheuerte. Sein Freund
während er scherzend jeden Football sig- Messer attackiert, obwohl die beiden ge- Bob, wusste Garcetti, hatte seit Jahren in
nierte, der ihm hingehalten wurde. Simp- meinsamen Kinder im Haus schliefen. Mit- keinem Gerichtssaal mehr gestanden, er
son war, wenn man so will, wie das weiße ten hinein in die Tat platzte Ronald Gold- war kein Mann für Kreuzverhöre und Plä-
Amerika sich einen Schwarzen wünscht: man, ein Kellner und Freund, der die Brille doyers. Er war der Strippenzieher für
gut aussehend, athletisch, freundlich, lus- von Browns Mutter brachte, die diese im Deals mit den Staatsanwälten. Wer Sha-
tig. Sie mochten, dass Simpson sich klei- Restaurant liegen gelassen hatte. Nachdem piro anheuerte, wusste, dass er in Schwie-
dete, als käme er direkt aus dem Country Simpson Goldman mit rund 30 Messersti- rigkeiten steckte.
Club, und dass seine Freunde und Golf- chen getötet hatte, soll er anschließend sei- Bevor es zum Prozess kommen konnte,
partner überwiegend weiß waren. ner Exfrau die Kehle aufgeschlitzt haben. mussten zwei wichtige Entscheidungen ge-
116 DER SPIEGEL 21 / 2017
troffen werden. Garcetti entschied sich in waren die Anfangstage der 24-Stunden- türlich schuldigen Simpson und einem gro-
beiden falsch. Medien, und es herrschte Euphorie über tesken Fehlurteil, das schon vor 22 Jahren
Zunächst musste festgelegt werden, wo diese neue Gleichzeitigkeit der Ereignisse, Amerika als eine kaputte Nation entlarvt
der Prozess stattfinden würde. Der Tatort alles überall in Echtzeit, ungefiltert und habe mit ihren unüberbrückbaren Span-
Brentwood gehört in die Jurisdiktion des roh, die Welt vergrößerte sich plötzlich. nungen zwischen den Ethnien, die einem
Strandorts Santa Monica. Eine Jury in Santa Garcetti glaubte, durch die Liveübertra- so bekannt vorkommen in den USA der
Monica ist aller Wahrscheinlichkeit nach gung würde niemand an den Fakten dre- Gegenwart. Oder die andere Version von
relativ wohlhabend, gebildet – und vorwie- hen können, niemand würde alternative einem hereingelegten O. J. Simpson, dem
gend weiß. Doch das Gerichtsgebäude in Szenarien entwerfen, Wahrheit käme un- tatsächlich in rassistischer Tradition ein
Santa Monica war klein, die Sicherheitsvor- gefiltert an die Öffentlichkeit. Mord untergeschoben werden sollte, doch
kehrungen nicht ausreichend, kein perfek- Aber was ist Wahrheit vor Gericht? Da- die Selbstreinigungskräfte des Systems, sei-
ter Ort für den Prozess des Jahrhunderts. für ist F. Lee Bailey Spezialist. Bailey, heute ner Institutionen, der Gerichte in diesem
Vor allem aber war der Prozess gegen die 83 Jahre alt, lebt an der Küste von Maine. Fall, hätten funktioniert und für einen Frei-
Polizisten, die Rodney King verprügelt hat- Viel weiter kann man sich geografisch und spruch gesorgt.
ten, deswegen gescheitert, weil Garcettis geistig von Brentwood und South Central Shapiro war noch vor dem Prozess auf
Vorgänger es zugelassen hatte, dass er nach nicht entfernen. Damals, im Sommer 1994, die Idee gekommen, dass ein möglicher
Simi Valley verlegt wurde, in einen weißen kam er sofort nach Los Angeles, um seinem Ausweg für Simpson darin bestehen könn-
Vorort, in dem viele Cops wohnten. jüngeren Kollegen und Freund Bob Shapiro te, die Geschichte so darzustellen, dass ein
erfolgreicher schwarzer Bürger von Polizei
und Strafverfolgungsbehörden mit rassis-
tischen Tendenzen viel zu schnell vorver-
urteilt werde. Doch um diese Strategie
wirksam verkaufen zu können, brauchte
man schwarze Anwälte.
Johnnie Cochran und seine rechte Hand
Carl Douglas waren zuletzt zum Dream-
Team gestoßen. Cochran, ehemals Garcet-
tis Chef bei der Staatsanwaltschaft, kurvte
inzwischen im Rolls-Royce durch Beverly
Hills, und wehe dem armen Polizisten, der
den Fehler machte, ihn anzuhalten, weil
er ihn für einen Drogendealer hielt. Im
Fernsehen erzählte er der weißen Welt von
Polizeiexzessen gegen Schwarze, und je-
den Sonntag um zehn traf man ihn in einer
Gospelkirche in South Central, und dort
muss er sich auch den Stil abgeguckt ha-
ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL

ben, in dem er seine Plädoyers hielt.


Mit Cochran an Bord verselbstständigte
sich die Strategie der Verteidigung schnell
von Shapiros Anfangshypothese einer Vor-
verurteilung zu der Annahme, das LAPD
habe bewusst versucht, Simpson den Mord
in die Schuhe zu schieben.
Exstaatsanwalt Garcetti: Die Karriere gekostet In einer Stadt, die sich gerade von den
übelsten Rassenunruhen ihrer Geschichte
Würde Garcetti auf einem Prozess in zu helfen, der sich den Simpson-Fall gean- erholt hatte, hielt Shapiro die Instrumen-
Santa Monica bestehen, würde es heißen, gelt hatte, sich nun aber überfordert fühlte. talisierung von Simpsons Hautfarbe für
er wolle eine weiße Jury für die schwarze Bailey war zu der Zeit einer der schil- verantwortungslos.
Ikone. Garcetti glaubte, er sei zu schlau, lerndsten amerikanischen Strafverteidiger. Bailey sagte dazu nichts. Reglos wie ein
diesen Fehler zu machen. Er galt als Meister des modernen psycho- Raubtier saß er auf seinem Stuhl im Ge-
Das Hauptgericht liegt in Downtown Los logischen Kreuzverhörs und ist Autor des richtssaal und wusste genau, was er tun
Angeles, im selben Gebäude, in dem auch 800-seitigen Standardwerks „Excellence in wollte. Er wartete auf den Hauptzeugen
Garcetti und seine Staatsanwälte ihren Sitz Cross-Examination“. der Anklage, den er im Kreuzverhör aus-
hatten. Downtown ist umgeben von Los An- Bis heute ist Bailey einer der wenigen, einandernehmen wollte. „Und Fuhrman“,
geles’ ärmsten Stadtteilen, in den meisten die sich in der Schuldfrage festlegen: Simp- so Bailey heute, „entpuppte sich als ein
von ihnen leben Afroamerikaner. Bei einem son kann es angesichts der vorliegenden Geschenk des Himmels.“
Prozess hier müsste man mit einer eher Beweise schlicht nicht getan haben. Mark Fuhrman war als erster LAPD De-
schwarzen Jury rechnen, die möglicherwei- Wenn man mit ihm einen Tag lang in tective am Tatort erschienen. Später in der
se größere Sympathien für Simpson hegte. Maine über Simpson spricht, scheint es am Nacht würde er alle entscheidenden Blut-
Die zweite Entscheidung betraf die Ende so, als hätte man über einen anderen spuren entdecken.
Kameras im Gerichtssaal. Es gab Anfragen Fall gesprochen. Nichts ist konsistent mit Bailey hatte zwei seiner Privatdetektive
von Fernsehsendern. Die Verfolgungsjagd, dem, was Garcetti über den Fall gesagt hat- auf Fuhrman angesetzt. Erste Lektion aus
als eine Kolonne aus Polizeiwagen Simp- te, über die Jahrzehnte haben sich zwei „Excellence in Cross-Examination“: Wisse
sons Ford Bronco auf einem Freeway Versionen der Geschichte gehalten, die bei- alles über dein Gegenüber.
hinterherfuhr, war aus Hubschraubern de mit gleicher Vehemenz vorgetragen Die Detektive hatten zwölf Jahre alte
gefilmt live im Fernsehen gelaufen. Dies werden: Erstens die Version von einem na- Gerichtsakten ausgegraben. Fuhrman hatte

DER SPIEGEL 21 / 2017 117


Kultur

damals seinen Arbeitgeber LAPD auf Privatdetektiven hatte sie aufgetrieben. Douglas empfängt in seiner Kanzlei mit
Frührente verklagt. Die Einsätze in den Sie gehörten einer Filmemacherin, die Blick über Beverly Hills. Ein schwarzer An-
sozial schwachen Gegenden, der Umgang einen Polizeifilm drehen wollte. Die Bän- walt in Beverly Hills – Douglas ist diese
mit Gangs, Drogendealern und vor allem der waren ein paar Jahre alt, aber Fuhr- Feststellung wichtig, es ist nicht selbst-
„Minderheiten“ habe ihn psychisch ausge- man war auf ihnen zu hören, wie er verständlich. Bis heute verteidigt er schwar-
brannt. Auch bei O. J. Simpson war Fuhr- wiederholt davon berichtete, dass er als ze Bürger gegen Übergriffe der Polizei. Vor
man Jahre zuvor schon einmal gewesen, Polizist „Nigger“ misshandle, wo er nur Gericht wird er nicht müde, von den „zwei
nach einem Notruf von O. J.s Frau, als der könne. Fuhrman wurde zurück in den Zeu- Amerikas“ zu berichten: das der Weißen,
sie sichtlich misshandelt hatte. Es hatte ihn genstand gerufen. Diesmal machte er in dem eine relative Rechtssicherheit
frustriert, dass Simpson damals nicht be- von seinem Zeugnisverweigerungsrecht herrscht, und jenem Amerika, in dem
straft wurde. Dieser Polizist war nun aus- Gebrauch. einem als Schwarzem immer noch jedes
gerechnet die wichtigste Verbindung zwi- Die Verteidigung stellte ihm nur noch mögliche Unrecht geschehen kann.
schen der Tat und O. J. Simpson. eine letzte Frage: „Haben Sie bei den Er- Und dass dies ein einziges Mal in der
„Ich wollte ihn dazu bringen zu lügen“, mittlungen irgendwelche Beweise manipu- Geschichte nicht so war, und das auch
sagt Bailey. „Fuhrman wusste nicht, dass liert oder fingiert?“ noch bei dem prominentesten Prozess der
meine Ermittler mehr als ein Dutzend Zeu- Er berufe sich auf sein Zeugnisverwei- Nation – darin liegt für Douglas die Be-
gen aufgetan hatten, die bestätigten, Fuhr- gerungsrecht, antwortete Fuhrman. deutung des Simpson-Prozesses und auch
man benutze gern das Wort ‚Nigger‘.“ Es war alles, was die Jury hören musste. seine persönliche Lebensleistung.
Der Freispruch für O. J. Simpson hat Los
Angeles und Amerika gespalten und tut
es bis heute. Es war ein Rückschlag für die
Beziehung zwischen Schwarzen und Wei-
ßen, unter dem die geteilte Stadt bis heute
leidet. 22 Jahre später ist die Nation noch
entzweiter. Inzwischen allerdings über
existenziellere Fragen als jene, ob eine
Football-Ikone nun ein Mörder war oder
nicht; Fragen, die, wenn sie falsch beant-
wortet werden, die Existenz der amerika-
nischen Idee, für die einst auch Simpson
gestanden hat, massiv gefährden.
O. J. Simpson wurde nach seiner Entlas-
sung aus der Untersuchungshaft in Brent-
wood nicht mehr glücklich. Bei seiner Sie-
gesparty am selben Abend blieben die
Golfpartner fern, in seinem Stammlokal
bekam er keinen Tisch mehr: Das weiße
ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL

Millionärsestablishment hatte seine Absto-


ßungskräfte aktiviert. 1997 verurteilte eine
JEFF SCHER / DER SPIEGEL

überwiegend weiße Jury in einem Zivil-


prozess in Santa Monica, wo ursprünglich
auch der Strafprozess hätte stattfinden sol-
len, O. J. Simpson zu der Zahlung von 33,5
Millionen Dollar an die Familie des Opfers
Anwälte Bailey, Douglas Ron Goldman, was einem indirekten
Was ist Wahrheit vor Gericht? Schuldspruch gleichkam. Das Dream-Team
hatte seine Verteidigung inzwischen abge-
Am zweiten Tag des Kreuzverhörs kam Carl Douglas trägt immer noch Krawat- geben, Carl Douglas und Johnnie Cochran
es zu folgendem Dialog: ten mit afrikanischem Muster, wie einst vertraten jetzt Michael Jackson.
Bailey: „Haben Sie jemals das Wort ,Nig- sein Vorbild und Chef Johnnie Cochran. Simpson zog es nach Florida, dort kam
ger‘ in den letzten zehn Jahren benutzt?“ „Das war der Moment, an dem wir zum er offenbar in kriminelle Kreise und an
„Nicht dass ich wüsste, nein.“ ersten Mal glaubten, wir könnten das ge- Drogen und Alkohol. Viele Jahre später,
„Sie meinen, wenn Sie jemanden ,Nig- winnen“, sagt er. Seit Cochran im Jahr 2005 2007, wollte er in Las Vegas Fanartikel-
ger‘ genannt hätten, würden Sie sich nicht gestorben ist, nimmt Douglas die Leistung Händlern, von denen er sich bestohlen
daran erinnern?“ der Verteidigung und das Urteil der Jury in fühlte, Urkunden und Bälle wieder abneh-
So geht es noch weiter hin und her, bis Schutz. Es sei folgerichtig und gerecht ge- men, die Sache geriet außer Kontrolle,
Bailey schließlich seinen Mattzug setzt. wesen, findet er, allerdings nur zu begreifen einer von Simpsons Begleitern zog eine
„Das heißt, alle, die in diesen Gerichts- im Kontext von Los Angeles zu jener Zeit. Pistole, damit war es bewaffneter Raub-
saal kommen und behaupten, Sie hätten „Ich bin in Los Angeles aufgewachsen. überfall. Eine Richterin in Nevada schöpf-
dieses Wort im Umgang mit Afroamerika- Es gibt hier eine dunkle Geschichte der te das Strafmaß voll aus und verurteilte
nern benutzt, wären Lügner, richtig, De- Beziehung zwischen dem LAPD und der Simpson zu 33 Jahren Gefängnis. Er sitzt
tective Fuhrman?“ afroamerikanischen Bevölkerung.“ Immer heute noch.
„Ja, das wären sie.“ wieder habe er Fälle erlebt, bei denen Poli- Ist das nun Gerechtigkeit? Weder Gil
„Jeder Einzelne von ihnen, richtig?“ zeibeamte vor Gericht die Unwahrheit Garcetti noch F. Lee Bailey noch Carl
„Jeder Einzelne.“ gesagt hätten, um eine Verurteilung bei Douglas haben diese Frage bejaht.
Ein paar Wochen später tauchten In- einem Angeklagten zu erreichen, den sie Philipp Oehmke
terviewbänder auf. Einer von Baileys für schuldig hielten. Twitter: @oehmke

118 DER SPIEGEL 21 / 2017


t z t n e u!
Je n del.
Im H a

. Das macht was mit dir!


Kultur

Bruder Hitler
Autoren Der letzte Band von Karl Ove Knausgårds Überwältigungswerk „Mein Kampf“

E
inmal hätte er es ihnen allen beinahe herausragenden Kunststücke der ersten schen, die sich ständig frei nennen, aber
gesagt. Es war an seinem 40. Ge- Bände zu sein. Und jetzt sitzt da der See- durch tausend Verpflichtungen und Kom-
burtstag, Karl Ove Knausgård wollte lenkenner Knausgård panisch vor seinem promisse am Boden festgetackert sind. Kin-
ihn auf gar keinen Fall feiern, er hasst sol- Computer und hat nicht die leiseste Ah- der. Ehe. Krankheit. Eltern. Arbeit.
che verlogenen Feste, außerdem hat er nur nung, wer wie auf seine Beschreibung rea- Er ist der Beichtvater des modernen Le-
einen Freund. Was soll das für eine Party gieren wird. Mail auf Mail trifft ein. Man- bens. Einer, der sein Leben so offen wie
werden? Aber seine Frau Linda und sein che der Geschilderten sind cool, manche möglich erzählt, und die Leser kommen
einer Freund Geir haben ihn dann doch stolz, manche erschüttert, manche freuen in seine Bücher wie in eine Beichtkabine,
überredet, es sind ein paar Leute zusammen- sich einfach, sich so intensiv an ihr eigenes hören ihm zu und erkennen sich selbst.
gekommen, und als sie so dastehen mit ih- altes Leben erinnert zu fühlen. „Es gibt etwas, das alle erleben“, schreibt
ren Champagnergläsern, überlegt er kurz, Knausgård erwartet und registriert die Knausgård, „das für alle Menschen iden-
ihnen bei der Begrüßung mitzuteilen, dass Reaktionen aus der Wirklichkeit erschüt- tisch ist, das aber nirgendwo vermittelt
sie übrigens alle Figuren in einem Roman tert und eiskalt zugleich. Was wird zum wird, außer im ganz privaten Bereich.“
seien, an dem er gerade schreibe, und dass Beispiel sein Bruder sagen, der in allen Karl Ove Knausgård vereint Größen-
alles, was sie heute sagen, gegen sie ver- Bänden eine der Hauptrollen spielt? Der wahn und totale Zerknirschtheit, Selbst-
wendet werden könnte. Doch er tut es Autor mutmaßt: „Er könnte sagen ,Fuck liebe und Selbstverachtung in jeweils ma-
nicht. Er schweigt. Und schreibt. you, ich will nichts mehr mit dir zu tun ha- ximaler Potenz. Ein Mann verachtet sich
Der norwegische Schriftsteller Karl Ove ben‘. Was würde ich dann machen? Die selbst und erklärt zugleich seine eigene
Knausgård hat ein mehr als 4500-seitiges Stellen streichen? Oder stehen lassen und Mickrigkeit und Verlogenheit zum Gleich-
Überwältigungswerk in sechs Bänden ge- einen Bruder verlieren? Ich würde sie nis einer ganzen Welt. Es geht ihm um die
schrieben, im Original trägt es den Titel stehenlassen und einen Bruder verlieren. kleinen, geheimen Details, die alle zu-
„Min kamp“, „Mein Kampf“. Es ist das auf- Es gab keinen Zweifel. Warum? War ich sammen das Leben ausmachen: „Diese
regendste literarische Projekt unserer Zeit, verrückt?“ kleine Dunkelheit, dieser Schatten auf der
in mehr als dreißig Sprachen wurde es Doch der Bruder reagiert entspannt. An- Seele, die eigene kleine Hölle des kleinen
schon übersetzt. Auf Deutsch heißen die ders als der Bruder seines Vaters, der fas- Mannes, so klein, dass sie eigentlich un-
bislang erschienenen Bände „Sterben“, aussprechlich ist, gleichzeitig aber alles
„Lieben“, „Spielen“, „Leben“, „Träumen“,
und der letzte Band, der gerade auf
„Wir wissen alle, dass ausfüllt.“
Er ist gewöhnlich bis zur Selbstauslö-
Deutsch herauskommt, trägt den Titel wir selbst hinter der Fahne schung. Er ist wie alle Männer, die er
„Kämpfen“. Und hierin erfahren wir auch
endlich, warum Knausgård sich für seinen
der Nationalsozialisten kennt. Er liebt Fußball, amerikanische Fil-
me, Comics, er glaubt, als Familienvater
größenwahnsinnigen Ichroman den Titel marschiert wären.“ viel zu viel zu tun, die Ehefrau viel zu we-
von Adolf Hitlers Autobiografie geliehen nig, er sieht den Wetterbericht im Fernse-
hat. sungslos mit Klage droht, der schimpft, wü- hen der schönen Frauen wegen, in die er
Aber zunächst einmal erfahren wir tet, hasst. Ein „erniedrigendes, unmorali- sich verliebt, er hört immer noch die Mu-
das, was die Leser der ersten Bände sches, egozentrisches Machwerk“ sei das, sik, die er als Zwölfjähriger schon mochte,
mindestens ebenso interessiert: die Rück- erfunden, um Knausgårds „Brieftasche zu „und wenn mir ein Buch oder Gemälde ge-
kopplung dieser mikroskopischen Wirk- füllen“. Der Autor zitiert schamlos alle Be- fiel, wusste ich nie, warum“.
lichkeitsmitschrift mit der Welt da drau- schimpfungen: „Ich würde mich selbst ver- Karl Ove Knausgård fühlte sich, bevor
ßen. Mit den Menschen seines Lebens, die herrlichen, ich sei ein hilfloser armer er Schriftsteller wurde, unsichtbar. Einge-
Karl Ove Knausgård in Figuren seines Ro- Wicht, und ich sei böse.“ Der Onkel bietet froren in die Konventionen des Lebens.
mans verwandelt hat. Denn er hat zwar ihm an, ihm einen Platz in der Psychiatrie Verlogen. Verstohlen. Ein Gefühl des Man-
auf jenem Geburtstagsfest keine Rede ge- zu besorgen. gels, das ihn beherrschte, zerriss ihn fast.
halten, aber er hat vor Veröffentlichung Und spätestens hier fragt man sich wie- In diesem sechsten und letzten Band
des ersten Bandes den Protagonisten das der einmal, was das eigentlich ist, was man von „Min kamp“ geht es vor allem auch
Manuskript zur Prüfung vorgelegt. Die da liest. Was diese enorme Faszination aus- um seine Suche nach Vorbildern, nach Be-
Schockwellen der Reaktionen der Be- macht, die dazu führt, dass die Beschrei- freiern aus seinem Gefrierkästchen der
schriebenen umkreisen von nun an das bung eines durchschnittlichen Norweger- Lüge. Das oben zitierte Gefühl Knaus-
Leben und Schreiben Knausgårds in kon- lebens in weiten Teilen der Welt so einen gårds, nicht zu wissen, warum ihm ein
zentrischen Kreisen. enormen Erfolg hat. Und einigen der Be- Buch oder Gemälde gefällt, erweist sich
Er erhält „die fürchterlichsten E-Mails“, schriebenen den Boden unter den Füßen beim Lesen als große Gabe. Er umkreist
und er weiß, es werden weitere folgen. Er wegzieht. seine literarischen Vorbilder in Suchbewe-
weiß nur nicht, aus welcher Ecke. Ist das Es ist diese Schonungslosigkeit, mit der gungen, die sich dem Gegenstand langsam,
ein Eingeständnis des Scheiterns? Denn er den Blick auf sich selbst richtet, auf die bewundernd nähern. Er schreibt seitenlang
Seelenkenntnis, nicht nur der eigenen, Lügen des modernen Lebens, auf die Lü- über das unerreichbare Vorbild Peter
Menschenkenntnis, das schien eines der gen der Welt, in der die Menschen dem Handke, über Thomas Bernhard, die
Terrortraum der totalen Selbstverwirk- Schönheit der Sätze in Hermann Brochs
Karl Ove Knausgård: „Kämpfen“. Aus dem Norwegi-
lichung nachjagen und die Fesseln, die sie „Tod des Vergil“, über Jon Fosse, Paul Ce-
schen von Paul Berf und Ulrich Sonnenberg. Luchter- am Boden halten, einfach weglügen. Weg- lan und Thomas Mann. Und schließlich
hand; 1280 Seiten; 29 Euro. schweigen. Oder wegtherapieren. Men- über Adolf Hitler. Den Künstler, den Autor
120 DER SPIEGEL 21 / 2017
von „Mein Kampf“, der die ersten dreißig
Jahre seines Leben als Unsichtbarer ver-
bracht hatte. Bis er sich in diese gigan-
tische, totale, weltumspannende Sichtbar-
keit schoss.
Knausgård liest „Mein Kampf“ als Bil-
dungsroman eines Verwandten. Als die Ge-
schichte eines gescheiterten Künstlers, der
in seinen Illusionen lebte, der sich weiger-
te, sich diese Illusionen von der Wirklich-
keit zerstören zu lassen. Der jahrelang aus
der Ferne in ein Mädchen, Stefanie, ver-
liebt war, aber nicht im Traum daran dach-
te, sie anzusprechen. Der von der Wiener
Kunst-Akademie abgelehnt wurde, sich
weigerte, ein Empfehlungsschreiben bei
einem Professor zu nutzen, der verspro-
chen hatte, sich Hitlers Arbeiten anzuse-
hen, aus Angst, dass die Wirklichkeit auch
diese Illusion zertrümmern würde. Und
der schließlich, in einem magischen Mo-
ment seines Lebens, seine Gabe der Rede
entdeckte, das Vertrauen der Menschen
spürte und sich selbst befreite. Und der
dann, in seinem Lebensbuch „Mein
Kampf“, Deutschland in ein Theater ver-
wandelte. Immer mit dem erklärten Ziel,
diese Inszenierung so bald wie möglich in
die Wirklichkeit zu übertragen.
Knausgård erkennt sich selbst im frühen
Hitler wieder. Dabei lässt er natürlich kei-
nen Moment einen Zweifel daran aufkom-
men, dass die Verbrechen dieses Mannes
über alles Fassbare hinaus monströs waren.
Knausgård glaubt nur nicht daran, dass die
reflexhafte Beschreibung des Urbösen als
das fundamental andere, das unendlich
weit von uns entfernt Stehende, der Wahr-
heit entspricht. Er beschreibt die Mittäter-
schaft von Norwegern am Holocaust. Er
geißelt die moralische Selbstgewissheit un-
serer Zeit, in der sich jeder wohlfeil auf
die Seite der ewig Guten stellt. „Gleich-
zeitig wissen wir alle, selbst wenn es nicht
jeder zugibt, dass wir selbst, wären wir ein
Teil der damaligen Zeit gewesen und nicht
dieser, wahrscheinlich hinter der Fahne
der Nationalsozialisten marschiert wären.“
Einmal hat Knausgård diese verführe-
rische „Kraft des Wir“ erlebt, und das war
am Tag des Massenmords von Anders Beh-
ring Breivik. Das Zusammengehörigkeits-
gefühl, das Knausgård da erlebte, dieses
Zusammenstehen gegen die Bedrohung
von außen, das Aufgehen des Einzelnen
in der großen Gemeinschaft, das war in
diesen dunklen Tagen eine kraftspenden-
de, unhinterfragbare, starke Illusion.
„Groß ist die Kraft des Wir“, schreibt
JEPPE BØJE NIELSEN / DER SPIEGEL

Knausgård, „fast unzerreißbar seine Fes-


seln, und im Grunde können wir nur hof-
fen, dass unser Wir ein gutes Wir ist.“
Dass unser heutiges, westliches, wohli-
ges, selbstgewisses Wir ein Gutes ist, daran
glaubt Karl Ove Knausgård nicht. Er weiß,
dass unsere rundumsorgte Saturiertheit auf
Schriftsteller Knausgård: Gewöhnlich bis zur Selbstauslöschung dem Elend der sogenannten Dritten Welt
DER SPIEGEL 21 / 2017 121
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Demagoge Hitler in Rednerpose um 1925: Eine reichlich peinliche Verwandtschaft

basiert, dass die wohlfeile Übertoleranz saugende Kraft. Für sein Personal muss es
der westlichen Mittelschicht in Wahrheit grauenvoll sein. Sie haben diesen Schein-
repressive Intoleranz ist, die alle kulturel- werfer nicht gesucht. Es ist nicht ihre
len Unterschiede negiert. Die die willkom- Wahrheit. Es ist seine.
men geheißenen Einwanderer in Traban- Im Grunde lesen sich diese 4500 Seiten
tenstädte jenseits unseres Wohlfühlgürtels vor allem wie ein Liebesroman. Die Ge-
verbannt und ihre Kinder, sobald sie in die schichte der unendlich schwierigen, roman-
Schule kommen, vor den so willkomme- tischen Liebe zu seiner Frau, der Schrift-
nen Ausländern bewahren will. stellerin Linda Boström Knausgård, Mutter
Jet z t
graimtis
Karl Ove Knausgård ist kein Richtender. ihrer vier gemeinsamen Kinder, die unter
Er sieht die Lügen, die Selbstgerechtigkeit einer bipolaren Störung leidet. Und die
und Gewöhnlichkeit immer zunächst bei ihr Leben, vielleicht noch intensiver als
del!
Buchhan sich selbst. Indem er Hitler zu einem wir alle, auf Illusionen, romantischen Un-
Bruder erklärt, folgt er einer frühen Spur, wahrheiten, Träumen errichtet hat. So
die Thomas Mann in seinem brillanten schildert sie uns ihr Mann. Er hat diese
Essay „Bruder Hitler“ aus dem Jahr 1938 Träume mit seinem Schreiben alle zerstört.
gelegt hatte. Dass Knausgård, der in die- Indem er ihr gemeinsames Leben bis auf
Die Sommerausgabe sem sechsten Band unendlich viel zitiert, das Gerippe seziert und bloßgestellt hat,
ausgerechnet diesen Text nicht erwähnt, hat er ihr ihr Leben genommen. Er hatte
ab sofort bei Ihrem Buchhändler! ist verwunderlich. „Ein Bruder ... Ein et- lange gezögert, es ihr zu lesen zu geben.
was unangenehmer und beschämender „Ich werde es ertragen“, hatte sie tapfer
Bruder; er geht einem auf die Nerven, es gesagt. „Hauptsache, es ist wahr.“ Doch
Lust auf Sommer – Romane für ist eine reichlich peinliche Verwandtschaft. dann las sie es. Und es war alles noch viel
die schönste Zeit des Jahres: Ich will trotzdem die Augen nicht davor schlimmer. Sie hat ihn dann angerufen und
schließen, denn nochmals: Besser, aufrich- nur diesen Satz gesagt: „Was sollen wir
Unter diesem Motto präsentieren wir tiger, heiterer und produktiver als der Hass jetzt tun, Karl Ove?“
Ihnen zarte Romanzen und aufregende ist das Sich-wieder-Erkennen, die Bereit- Sie erleidet einen totalen psychischen
Familiengeschichten, aber auch hoch schaft zur Selbstvereinigung mit dem Zusammenbruch. Ist der Roman daran
Hassenswerten.“ schuld? Wer kann das wissen?
spannende Krimis und Thriller, denn Karl Ove Knausgård hat sich in seinem Im Roman geht schließlich alles irgend-
schließlich hat auch der sonnigste Kampf mit dem Hassenswerten vereint, wie gut aus. Die beiden feiern auf einer
Urlaubsort seine Schattenseiten. hat die dunklen Seiten seines Ichs ins Licht Bühne gemeinsam ihre neuen Bücher. Er
gestellt. Die Grenzen des normalerweise verkündet, dass er ab sofort kein Schrift-
Wer hingegen Klassiker wie Jane Austen Verschwiegenen, die Grenzen der Moral steller mehr ist. Er ist befreit. Aber das
oder Hermann Hesse neu entdecken eingerissen und ein totalitäres Lebens- Buch ist in der Welt.
kunstwerk geschaffen. Es war Linda Boström, die im Novem-
möchte, kommt ebenfalls auf seine
„Komm ins Offene, Freund!“, ist die ber vergangenen Jahres die Scheidung von
Kosten. Und selbstverständlich gibt es Hölderlin-Zeile, die er immer wieder ihrem Mann der Öffentlichkeit verkündet
zudem Buchtipps für junge Leser. als leuchtendes Vorbild zitiert. Doch hat. „Wir teilen alles, was es bedeutet, El-
Knausgård schreibt eben nicht nur über tern zu sein“, hat sie in einem Interview
sich. Er zerrt die Menschen, mit denen er gesagt. „Und weiter weiß ich nicht.“
Das buch aktuell Taschenbuch-Magazin erscheint in der sein Leben teilt, auf die Bühne seiner Es war die stolze Erklärung einer Roman-
Harenberg Kommunikation Verlags- und Medien Romane. Leuchtet sie aus, mit dem figur, die ihr Leben zurückhaben will. Und
GmbH & Co. KG, Königswall 21, 44137 Dortmund.
Suchscheinwerfer seiner Wahrhaftigkeit. ihre Illusionen. Ihre Lügen. Ihre Träume.
Auf uns, die Leser, hat es mitunter ein- Volker Weidermann
www.buchaktuell.de
122 DER SPIEGEL 21 / 2017
Livemitschnitte ihres Auftritts im Olympia in Paris 2001
oder beim Jazzfestival in Montreal 2004 gehört hat, merkt,
mit wie viel Verve diese Frau musizieren kann. „Turn up
the Quiet“ dagegen kommt schaumgebremst daher, ist
sehr still – eine Spur zu still.
Ein paar Songs sind zwar in klassischer Trio- oder Quar-

Still, still, still tettbesetzung aufgenommen, ihre jahrelangen vertrauten


Begleiter Anthony Wilson und Russell Malone (Gitarre)
oder Christian McBride und John Clayton Jr. (Bass) sowie
Jazzkritik „Turn up the Quiet“, das neue Jeff Hamilton (Schlagzeug) sind dabei. Doch auch bei
ihrem jüngsten Album kommt Krall nicht ohne Streicher
Album von Diana Krall aus. Was irgendwie nach Veredelung der Songs aussehen
soll, wirkt letztlich wie eine Verelendung. Was Intimität

W
enn eine Jazzsängerin und -pianistin in den ver- verspricht, löst sich in Sterilität auf. Warum traut sie nicht
gangenen elf Jahren Alben herausgebracht hat, durchgehend einer klassischen Rhythmusgruppe? Warum
in denen sie sich mit Popsongs der vergangenen so oft dieses Pathos eines Streichorchesters?
50 Jahre beschäftigte, den Ragtime der Zwanzigerjahre Alan Broadbent, der in Charlie Hadens Quartet West
reanimierte, brasilianischer Bossa-nova-Musik huldigte Klavier spielte und die Arrangements schrieb, stand nun
oder gar Weihnachtslieder süßlich vertonte, dann freut auch bei Krall im Dienst und schrieb die Streicher-Arran-
man sich unbändig darauf, wenn es in der Ankündigung gements. Dem „Down Beat“-Magazin erzählten beide,
zum neuen Album heißt: Diana Krall kehre „zu den wie sie sich auf die Aufnahmen vorbereitet haben. „Wir
Wurzeln zurück, mit denen sie die Basis ihrer Weltkarriere hatten zwei Pianos nebeneinander und gingen die Ideen
legte“ – ein echtes Jazzalbum also? So richtig mit eige- durch“, so Krall. „Ich fütterte sie mit ein paar Noten,
nen Songs, improvisierten Soli am
Klavier, klassischer Quartettbeset-
zung, Raum für Entfaltung der übri-
gen Bandmitglieder?
„Turn up the Quiet“ heißt das neue
Album von Diana Krall, der 52-jähri-
gen Kanadierin. Ihre Platten hören
auch Menschen, die Jazz sonst für
disharmonisches Getröte halten. Sie
gehört seit 20 Jahren zu den Super-
stars des Genres, fünf Grammys, drei
Echo Jazz, Gold- und Platinalben in-
klusive. Als sie 2012 im Weißen Haus
zu Ehren von und vor Burt Bacharach
und Barack Obama spielte, wurde sie

MARY MCCARTNEY / UNIVERSAL MUSIC


angekündigt mit den Worten: „Sie ist
der glänzende Beweis, dass Jazz in
modernen Zeiten lebendig und wohl-
auf ist.“
Den Lärm dieser Welt etwas dim-
men, die Nuancen der Kunst dafür
etwas mehr betonen, das in etwa dürf-
te ihr Ansatz gewesen sein, glaubt
man dem Titel des Albums. Als Beleg, Musikerin Krall: Formidable Pianistin
dass es dabei um Entschleunigung
geht, legt Krall auf dem Cover in behaglicher Atmosphäre aber sie stieg nie dann ein, wenn ich es erwartete“, erzählt
eine klassische Vinylplatte auf, statt mit Ohrstöpseln MP3- Broadbent. Es muss eine herrliche Jam-Atmosphäre
playernd durch den Central Park zu joggen. gewesen sein – auf dem Album aber ist davon nichts zu
Das Album lärmt nicht, betont wird aber auch nichts – hören.
es ist damit zugleich geglückt und schiefgegangen. Elf „Night and Day“ oder „Isn’t It Romantic?“ sind tausend-
Titel hat sich Diana Krall ausgesucht, die sie mit drei ver- fach aufgenommen worden, auch im Capitol Studio in
schiedenen Ensembles interpretiert und eingespielt hat. Hollywood, wo Krall ihr Album eingespielt hat. Produziert
Es sind – mal wieder – überwiegend Stücke aus dem Great hat es Tommy LiPuma, neben Quincy Jones der andere
American Songbook. „Like Someone in Love“ ist dabei, Großmeister amerikanischer Unterhaltungsmusik. Es war
„I’m Confessin’ (That I Love You)“ oder „Moonglow“. LiPumas letztes großes Werk, im März ist er 80-jährig
Krall hat sicher nichts falsch gemacht, diese Lieder auszu- gestorben. Mit Barbra Streisand, Al Jarreau, Natalie Cole
wählen, aber sie hören sich an, wie sich Standards immer oder George Benson hat er im Laufe seiner Karriere ge-
anhören, wenn sie von Krall interpretiert werden: gefällig arbeitet. Und immer wieder mit Diana Krall.
und überraschungsarm. Die Arrangements sind erwartbar, Ihr voriges Album „Wallflower“ rangierte bei Amazon
die Stimme klingt sanft und wohltemperiert. in der Kategorie „Smooth Jazz“ lange auf Rang eins. Ihr
Dabei ist sie eine formidable Pianistin, die gerade in sei es egal, in welcher Kategorie sie Nummer eins sei,
ihren Anfängen mindestens ebenso viel Wert auf ausge- sagte Krall damals in einem Interview. „Man darf da kein
lassene Klavierläufe legte wie auf den Gesang. Wer die Snob sein.“ Janko Tietz

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124 DER SPIEGEL 21 / 2017


Nachrufe
CHRIS CORNELL, 52 ROGER AILES, 77
Die Grunge-Ära war wahr- Er war kein Politiker, sondern
scheinlich die letzte große nur ein Fernsehmann. Doch
Zeit der aggressiven Rockmu- zwei Jahrzehnte lang hat er
sik – ohne Chris Cornell hätte das politische Klima in den
sie anders geklungen. Er kam USA bestimmt, viele sagen:
aus Seattle, der Stadt, die vergiftet. 1996 gründete Ailes,
Selbstporträt „Komm, man mit dieser Musik verbin- einst Medienberater von Prä-
setz’ Dich zu uns“, 1970 det; seine Band Soundgarden sident Richard Nixon, im Auf-
AKG

gründete er 1984. Die Musiker trag von Rupert Murdoch den


wurden für ihren harten, psy- Nachrichtensender Fox News
JOHANNES GRÜTZKE, 79 chedelischen und konfrontati- und überholte bald den Kon-
Er war, was man aus seinem Werk nicht unbedingt geschlos- ven Sound geliebt und neben kurrenten CNN. Aggressiv
sen hätte, ein angenehmer, ja liebenswürdiger Mensch. Das Nirvana und Pearl Jam die er- verbreiteten (und verbreiten)
Groteske seiner Menschendarstellung trat bei ihm persönlich folgreichsten Protagonisten die Moderatoren Ailes’ reak-
als Schalk in Erscheinung, das historisch Anspielungsreiche des Grunge. 1997 löste sich tionäres Weltbild. Fox News
als private Gelehrsamkeit, das Abgründige als wortwitziger die Band auf, fand aber 2010 insinuierte, dass Barack Oba-
Hintersinn. Der bedeutendste öffentliche Auftrag des in wieder zusammen. Cornell ma ein Muslim sei und Hillary
Berlin geborenen Malers, „Der Zug der Volksvertreter“, ein nahm Soloplatten auf, spielte Clinton ins Gefängnis gehöre.
33 Meter langes Rundbild für die Rotunde der Frankfurter in der Band Audioslave und Ohne die Propaganda von
Paulskirche, enttäuschte bei seiner Enthüllung 1991 jede kämpfte mit einer Alkohol- Fox News wäre Donald
Hoffnung auf Pathos, Würde und optimistische Geschichts- und Drogenabhängigkeit; Trump vermutlich nicht Präsi-
auffassung: Scheeläugige und Schiache, proletarische Weiber, dent geworden. Im Juli 2016
Kerle und Kinder stören den hoffnungsvollen Zug der Volks- musste Ailes zurücktreten,
vertreter zur ersten deutschen Nationalversammlung – ein weil er unzählige Mitarbeite-
kreisender Pulk von Männern im schwarzen Anzug, nicht rinnen des Senders sexuell
wenige eher überfordert als beseelt wirkend, nicht zuletzt belästigt haben soll, was er
der Träger einer bedrohlich rutschenden Christusfigur. bis zuletzt bestritt. Roger
Grützke spielte in Filmen mit („Die flambierte Frau“), ge- Ailes starb am 18. Mai. mwo

PEDERSEN / DPA
staltete Bühnenbilder, schrieb für das Theater, komponierte
und war Gründungsmitglied der Künstlergruppen „Die Er- MAUNO KOIVISTO, 93
lebnisgeiger“ und „Die Schule der Neuen Prächtigkeit“. Sein In jungen Jahren galt der sozi-
polemischer Realismus stand quer zu Abstraktion und Kon- aldemokratische Politiker als
zeptkunst; „Kunst“, sagte er, „ist nicht modern, sondern im- 2003 machte er einen Entzug. „finnischer Kennedy“ und
mer!“ Johannes Grützke starb am 17. Mai in Berlin. es Am Mittwochabend trat er „Retter der Demokratie“ in sei-
noch auf, danach brach er zu- nem Heimatland. Zu verdanken
sammen. Chris Cornell starb hatte er das seinem markanten
BRAD GREY, 59 am 17. Mai in Detroit. rap Aussehen und vor allem dem
Bis vor ein paar Monaten Eintreten gegen den damali-
war er einer der mächtigs- KARL-OTTO APEL, 95 gen Präsidenten Urho Kek-
ten Männer Hollywoods: Als wendiger Wortjongleur konen, der sein Land zuneh-
ANDREW KELLY / REUTERS

Grey entschied über Mil- mochte der Frankfurter Philo- mend selbstherrlich lenkte.
lionengagen und darüber, soph nie auftreten – rang er Koivisto, der sich vom Dock-
was in aller Welt im Kino doch, wie die Größten seines arbeiter, Lehrer, Banker zum
läuft. Seine Karriere im Fachs, um „Letztbegrün- Leiter der Zentralbank hoch-
Showgeschäft hatte er in dung“, vor allem der Ethik. gearbeitet hatte, traute sich als
New York als Laufbursche Dass Werte nur im offenen Einziger, Kekkonen zu wider-
für die Brüder Weinstein begonnen, die späteren Filmprodu- Diskurs unter Gleichberechtig- sprechen. Koivisto wurde Fi-
zenten. Als 21-Jähriger organisierte Grey für sie ein Frank- ten ausgehandelt werden nanzminister und Ministerprä-
Sinatra-Konzert. 1984 schloss er sich dem Starmanager und könnten, wurde zur Kernbot- sident. Als Staatspräsident
TV-Produzenten Bernie Brillstein („Alf“) an. Sein Gespür schaft seiner „transzendenta- (1982 bis 1994) führte er Kek-
für gute Stoffe bewies Grey, als er „The Sopranos“ an den len Sprachpragmatik“. Apels konens russlandfreundliche
Kabelkanal HBO verkaufte; die großen Sender hatten intersubjektiver, demokratie- Außenpolitik fort; nach dem
die Serie abgelehnt. 2005 wurde er Chef der Paramount- freundlicher Ansatz, inspiriert Zerfall der Sowjetunion unter-
Studios, berühmt für Klassiker wie „Der Pate“. Er sei „nur durch den US-Theoretiker stützte er Finnlands Beitritt
ein Kind in Hollywood, das einen Traum hat“, sagte Grey. Charles Sanders Peirce und zur EU. Mauno Koivisto starb
Er kaufte Frank Sinatras alte Villa in Los Angeles und er- von Jürgen Habermas fortent- am 12. Mai in Helsinki. kle
setzte sie später durch einen Neubau. Ähnlich skrupellos wickelt, erntete Skepsis von
verfuhr Grey bei Paramount: Er bestellte Neuverfilmungen Rationalisten und galt den
von populären, aber angestaubten Stoffen wie „Star Trek“ Postmodernen als zu vernunft-
oder „Transformers“. Unter seiner Ägide gewann das Studio selig. Aber der allzeit diskussi-
Oscars für Filme wie „No Country for Old Men“. Doch bei onsfreudige Denker ließ sich
Comic-Adaptionen und Animationsfilmen verlor Paramount nicht mehr in der Überzeu-
LEHTIKUVA / REUTERS

gegenüber Disney und Warner Bros. den Anschluss. 2016 gung beirren, dass er die bes-
machte das Studio 445 Millionen Dollar Verlust. Im Februar, seren Argumente habe. Karl-
kurz vor der Oscar-Verleihung, wurde Grey gefeuert. Brad Otto Apel starb am 15. Mai
Grey starb am 14. Mai in Los Angeles an Krebs. mwo in Niedernhausen. sal
DER SPIEGEL 21 / 2017 125
Offline in
Cannes
Der Hollywoodstar Jessica
Chastain, 40, Jurymitglied bei
den diesjährigen Filmfest-
spielen von Cannes, hat eine
Kontaktsperre verhängt:
Freunde, die mit einem Film
im Wettbewerb vertreten
sind, dürfen während des Fes-
tivals nicht mit ihr kommu-
nizieren. „No texting!“ habe
sie sich erbeten, so Chastain,
schließlich wolle sie so objek-
tiv wie möglich über die
Filme urteilen. Damit dürfte
eine Reihe von Leuten ent-
täuscht das Handy weglegen:
Mit einem Portfolio, das von
Blockbustern wie „Interstel-
lar“ über Theaterverfilmun-
gen wie „Fräulein Julie“ bis
zu kleinen Politfilmen wie
„Die Erfindung der Wahrheit“
(Start: 6. Juli) reicht, ist Chas-
tain eine der vielseitigsten
und am besten vernetzten
Schauspielerinnen Holly-
woods. Ihren Durchbruch er-
lebte sie übrigens in Cannes.
Mit Terrence Malicks eso-
terischem Palmen-Gewinner
„The Tree of Life“, in dem
sie buchstäblich zu schweben
beginnt, wurde sie 2011 schlag-

ALASTAIR GRANT / AP
artig berühmt. „‚The Tree
of Life‘ ist der Film meines
Lebens“, schwärmt
Chastain noch heute. hpi

Der Mann am Klavier strument sei verstimmt gewe-


sen, wie Putin später bemän-
dieser Film, der im Schuljun-
gen Wolodja einst den
Neulich in Peking, beim War- gelte. Aber da er keine Ak- Wunsch weckte, zum KGB zu
ten auf den chinesischen Prä- korde spielen kann, störte das gehen. Putin kennt die Klassi-
sidenten Xi Jinping, setzte sich kaum. Er klimpert gern auch ker des Kriegslieds („Im Erd-
Russlands Präsident Wladimir mal vor Zuschauern. 2010 loch“) und der Kosmonautik
Putin, 64, an den Flügel in sang er bei einem Charity- („14 Minuten bis zum Start“),
der Residenz des Gastgebers, Abend „Blueberry Hill“ (rus- aber sein Repertoire ist
um sich mit sowjetischem sisch: „Bljuberri Chill“), um beschränkt, seine Technik
Liedgut die Zeit zu vertrei- dann am Flügel seine Lieb- schlicht. Anders als Frank-
ben: mit „Stadt an der freien lings-Geheimdienst-Schnulze reichs neuer Präsident
ALEXEI NIKOLSKY / AP

Newa“, einer Hymne auf sei- vorzutragen: „Wo die Heimat Emmanuel Macron hat er in
ne Heimatstadt Sankt Peters- anfängt“, ein Lied aus dem seiner Jugend kein Konserva-
burg, und dem Schlager sowjetischen TV-Mehrteiler torium besucht, sondern ei-
„Moskauer Fenster“. Das In- „Schild und Schwert“. Es war nen Judoklub. esc

126 DER SPIEGEL 21 / 2017


Personalien
Jungfer und Braut tionsschluss noch nicht
bekannt. Herzogin Catherine
Vor sechs Jahren avancierte ist es definitiv nicht, als
Philippa („Pippa“) Middleton, verheiratete zweifache Mut-
heute 33, zur heißesten Braut- ter kommt sie nicht infrage.
jungfer der Welt: Sie trug An potenziellen Aufregern
die Schleppe ihrer Schwester herrscht trotzdem kein Man-
Catherine die Stufen von gel. Zum einen ist da der
Westminster Abbey hoch, Trauzeuge Spencer Matthews,

UWE MOOSBURGER / DER SPIEGEL


die Bilder von Pippas Po sind Bruder des Bräutigams und
legendär. An diesem Sonn- einst Teilnehmer bei „The Ba-
abend nun feiert die jüngere chelor“. Ihm wird ein locke-
Middleton-Tochter rer Umgang mit
ihre eigene Hoch- Drogen und Alko-
zeit, sie heiratet hol nachgesagt.
den Millionär Zum anderen
James Matthews in stehen die Chan-
einer Dorfkirche. cen hoch, dass Der Augenzeuge
Pippa dürfte Wert die Freundin von
darauf legen, ein Prinz Harry, „Lebensgefährliche Reste“
INSTARIMAGES.COM / DDP IMAGES

vergleichbares Meghan Markle,


Brautjungfernspek- da sein wird. Der pensionierte Biologielehrer Ernst Hasenfuss, 67, aus
takel auszuschlie- Vielleicht fängt dem niedersächsischen Großenkneten setzt sich seit Jahren
ßen. Wer die Ehre die geschiedene dafür ein, dass Festveranstalter nicht massenhaft Luftbal-
dieser Rolle zu- Schauspielerin aus lons aufsteigen lassen – denn an deren Überresten können
gedacht bekommen den USA ja den Tiere verenden. Bei der kürzlich zu Ende gegangenen Bremer
hat, war bei Redak- Brautstrauß. ks Bürgerpark-Tombola hatte er mit seinem Protest Erfolg.

„Vor Jahren habe ich im Nationalpark-Haus Juist eine


Vitrine voller Ballonschnüre gesehen, die ein Zivi am
Treffer, versenkt Gut also für Depp, dass er ab
kommender Woche in „Sala-
Strand gesammelt hatte. In vier Monaten kamen 500 Me-
ter zusammen. Solche Schnüre und die Reste von Luft-
Die Rolle des wirren und zars Rache“, dem fünften Teil ballons sind lebensgefährlich: Sie werden von Fischen,
meist volltrunkenen Kapitäns der Piratenserie, wieder Vögeln, Kühen oder Schafen gefressen, und diese armen
Jack Sparrow in den „Fluch auf Raubzug gehen kann. Mit Geschöpfe krepieren dann elendig, zum Beispiel an
der Karibik“-Filmen hat verschrobenem Witz und Darmverschluss. Und das alles nur zur Belustigung von
Johnny Depp, 53, zu einem der Lust am Slapstick lallt und Menschen, die bei irgendwelchen Festen Luftballons auf-
reichsten Männer Holly- stolpert er durch die Szenen steigen lassen. Seitdem mir das bewusst geworden ist,
woods gemacht. Doch von und macht aus dem Film ein schreibe ich Leserbriefe gegen solche Massenstarts oder
den rund 650 Millionen Dol- kurzweiliges Vergnügen. wende mich auch direkt an die Veranstalter, um sie da-
lar, die er in 13 Jahren ver- Weniger Spaß hatte offenbar von abzubringen.
dient haben soll, soll kaum das Filmteam, das manchmal Voriges Jahr bin ich sogar zur Polizei gegangen: Ich
noch etwas übrig sein. Das stundenlang warten musste, habe den Bremer Bürgermeister Carsten Sieling von der
behaupten Depps frühere weil Depp ausschlafen wollte. SPD wegen vorsätzlicher Umweltverschmutzung ange-
Finanzberater, die der Star Nun hat Hollywood für zeigt. Der hat nämlich 2016 die alljährliche Tombola zur
verklagt hat. Sie werfen ihm den exzentrischen Star, bei Finanzierung des Bremer Bürgerparks eröffnet, und wie
vor, sein Vermögen versenkt dem offenbar nie ganz klar das in Bremen so üblich ist, hat er dabei auch 500 Luft-
zu haben, unter anderem in ist, wann und in welchem ballons mit anhängenden Freilosgutscheinen aufsteigen
Weinlieferungen (30 000 Dol- Zustand er am Set auftaucht, lassen. Ein paar Tage später hat die grüne Finanzsenato-
lar monatlich) und die Unter- ein maßgeschneidertes Pro- rin Karoline Linnert auch noch mal 200 Ballons für die
haltung einer Segeljacht jekt gefunden: Bald soll er Tombola fliegen lassen. Sie habe ich ebenfalls angezeigt,
(350 000 Dollar monatlich). einen Unsichtbaren spielen. lob genauso wie die Verantwortlichen der Tombola. Meine
Anzeigen sind leider niedergeschlagen worden – aber
der Protest hat trotzdem etwas bewirkt: In diesem Jahr
lief die Eröffnungsveranstaltung ohne Ballonstart. Ein
toller Erfolg.
Mein Mitstreiter Wilfried Papenhusen und ich haben
auch schon andere Veranstalter umstimmen können,
beispielsweise einen Sportverein in Niedersachsen oder
eine Schule in Bremen. Und wir machen weiter. Inzwi-
schen haben wir Leute in ganz Deutschland, die uns auf
solche Massenstarts hinweisen. Mir ist klar, dass viele
mich für verrückt halten. Oft werde ich als Spaßbremse
beschimpft. Aber wenn wir den Leuten unser Anliegen
erklären, dann sagen sie: Stimmt, darüber habe ich ja
DISNEY

noch nie nachgedacht.“ Aufgezeichnet von Eckhard Stengel

DER SPIEGEL 21 / 2017 127


„Wenn wir Macron jetzt nicht unterstützen, lässt sich Marine Le Pen
in fünf Jahren nicht verhindern. Teurer Freund? Ja bitte!“
Prof. Peter Krippeit-Drews, Tübingen

Zum Heulen! Besser ein teurer Freund als ein kostspie-


liger Gegner. Deutschland hat von der EU
einer dunklen Nacht. Die Äußerungen des
Innenministers als Verordnungen auszule-
Nr. 20/2017 Teurer Freund – Emmanuel Macron rettet übersatt profitiert und will wohl weiter Ge- gen mag eine eigentümliche Interpretation
Europa, und Deutschland soll zahlen
winn daraus ziehen. Ergo sollte der Starke sein. Auch ein Anarchist wird sich mit
Glückwunsch zu Text und Cover – mithilfe den Schwächeren unter die Arme greifen. einem Gesetzbuch nicht zufriedengeben.
einer Zeiss-3-D-Brille, rot-grün, sehe ich Ma- Jürgen-S. König, Bad Bevensen (Nieders.) Wenn Kulturen untergehen, ist dies ein
cron körperlich vortreten, eine bisher eher Prozess, der Dekaden dauern kann.
unbekannte Person in voller Plastizität. Mit Macron haben die Franzosen das ge- Dr. Matthias Euler, Vallendar (Rhld.-Pf.)
Hendrik Hösel, Bonn ringere Übel gewählt. Ein weiterer Präsi-
dent, der von Bankern und Spekulanten Sie schreiben von „Einwanderern, die ler-
Ich wünsche mir, dass Macron Europa ret- der Börsen ins Amt gehoben wurde. nen, welche Kultur gerade die bundesre-
tet, da ist jeder Cent, auch aus Deutsch- Jochen Richter, Karlsruhe publikanische ist. Wenn man sie lässt und
land, bestens angelegt. wenn sie es wollen“. Und wenn sie es nicht
Dr. Walter Dallacker, Wolfenbüttel (Nieders.) wollen und lieber eine Parallelgesellschaft
bilden? Genau an der Frage entzündet sich
„Und Deutschland soll zahlen“ ist Abwas- doch die Diskussion um die Leitkultur.
ser auf die Mühlen der Europagegner und Christian Nunhofer, Nürnberg
für den SPIEGEL rufschädigend.
„Kultur ist, was selbstverständlich ist.“ Ba-

LAURENT CIPRIANI / AP
Hans Schinke, Offenbach
naler geht’s nicht. Was ist an einer Heirat
Deutschland soll so selbstherrlich weiter- mit 2000 Geladenen aus aller Welt selbst-
machen, dann gewinnt das nächste Mal verständlich, wo die Braut mit Gold und
Marine Le Pen. Und wir haben ein Land Geldscheinen umhängt und anschließend
weniger, das unsere Waren importiert. Macron-Anhänger nach dem Wahlsieg von ihrem Bräutigam in Leibeigenschaft
Karin Nolte, Bad Homburg mit Ausgehverbot gehalten wird? Das alles
Sämtliche Probleme in Europa werden da- im klassischen Facharbeitermilieu des
Ich hätte mir eher einen echten „Jean d’Arc durch gelöst, dass Deutschland zahlt oder Ruhrgebiets mit Migrationshintergrund in
2017“ auf dem Titel gewünscht, der das bürgt. So war es, und so wird es bleiben. zweiter, dritter Generation, in der Tradi-
Land aus dem Schockzustand zweier klei- Bernhard Ottenbreit, Bad Kreuznach (Rhld.-Pf.) tion von Eltern, die kaum Deutsch können.
ner Präsidenten herausführt. Achim Ragsch, Bochum
Dr. Olaf Müller-Soppart, Düsseldorf Nur ein einziges Mal kommen die Gewerk-
schaften vor. Das ist bei Weitem nicht ge- Der Begriff der Kultur umfasst ein weites
Da wählt unser Nachbar Frankreich einen nug. Entweder Macron räumt sie aus dem Feld, das von der Kunst über Gebräuche bis
ganz außergewöhnlichen, charismatischen Weg, oder es gelingt ihm das Wunder, sie zu Grundwerten reicht. Der Moralphilosoph
Politiker zum Präsidenten, der die Krise dazu zu bringen, sich neu aufzustellen. Konfuzius unterschied zwischen standardi-
Europas überwinden möchte und hierfür Gernot Förster, Hessigheim (Bad.-Württ.) siertem Verhalten (Sitte) und den wichtige-
die deutsch-französische Zusammenarbeit ren grundlegenden Werten (Moral). Thomas
sucht. Und was fällt dem angeblich so
europafreundlichen Deutschland dazu ein,
Banaler geht’s nicht de Maizière bleibt bei den Gebräuchen hän-
gen und übersieht die für das Zusammen-
einem Deutschland, das riesige Exportüber- Nr. 19/2017 Leitartikel von Elke Schmitter: Warum leben grundlegenden Werte der Menschen-
Deutschland keine Leitkultur braucht
schüsse erzielt und dessen Minister Schäub- rechte und der deutschen Verfassung.
le nicht weiß, wohin mit seinen immer Leitkultur ist also eine Kultur, die „einer Christian Schneeweiß, Schlehdorf (Bayern)
wachsenden Steuereinnahmen? „Mir gebet Leitung bedarf“ und „die verordnet wird“.
nix“, wie die Schwaben (und neuerdings Danach ist ein Leitartikel das Gegenteil Zur Leitkultur gibt es keine bessere Erklä-
wohl auch die Badener) in solchen Fällen dessen, was man bisher darunter verstand. rung als die Friedrichs des Großen, dem-
zu sagen pflegen. Es ist zum Heulen! Hermann Pütter, Neustadt an der Weinstraße zufolge jeder nach seiner Fasson selig wer-
Prof. Dr. Hans J. Tümmers, Leustetten (Bayern) den könne – solange er die Gesetze beach-
Wie kann man die Bedeutung der Silbe tet. Unser Zusammenleben wird durch das
Es geht um wesentlich mehr, als diese ver- „Leit“ so verkennen, dass man dabei an Grundgesetz in ausreichendem Maße be-
zerrende Formel suggeriert, und neben die „Vergegenwärtigung stalinistischer Dik- stimmt. Eine weitere Belehrung durch den
Deutschland und Frankreich gibt es 25 an- taturen“ denkt? Es geht doch darum, dass Staat ist so überflüssig wie ein Kropf.
dere Mitgliedstaaten, die „Europa retten“ das, was deutsche Staatsbürger für lebens- Heinrich Buchholz, Oberhausen (NRW)
müssen – im gemeinsamen Eigeninteresse. wert halten, eine Orientierung für Zuwan-
Justus Schönlau, Brüssel derer bietet. Nicht mehr und nicht weniger. Widerspruch: Kultur ist nie selbstverständ-
Reinhard Egenolf, Freiburg im Breisgau lich. Wo keine geteilten, erlernbaren und
Die mediale Heilsbringererwartung gegen- verhandelbaren Leitbilder existieren, blei-
über Macron erinnert an die gegenüber Oba- Mit einer erstaunlichen Unbekümmertheit ben nur unverhandelbare Alternativen –
ma – und dann kam Trump. Also bitte mehr wagt die Autorin eine Analyse, was Kultur die Gesetze. Das kann sich niemand wün-
Pragmatik – Politik ist kein Operettenspiel. ausmacht. Demnach ist Kultur so selbst- schen, der für eine offene Gesellschaft ist.
Gernot Hilge, Münster (NRW) verständlich wie der helle Morgen nach Isabella Seidel, Köln

128 DER SPIEGEL 21 / 2017


Briefe

Unser Sohn hat Trisomie 21 und wechselt Herrlich genau beschrieben: Hier im Dorf
jetzt von einer Grundschule mit langer In- kennt jeder jeden, der Bürgermeister wird
klusionserfahrung auf eine Förderschule. In- mit Vornamen und Du angesprochen.

JOANNA NOTTEBROCK / DER SPIEGEL


klusion war für ihn Erfolg, weil er von sei- Auch hier ansässige Asylbewerber grüßen
nen Mitschülern ebenso profitierte wie diese auf der Straße zurück.
von ihm, aber auch Scheitern, weil es dem Friedrich Steinert, Lehre (Nieders.)
größten Teil des pädagogischen Personals
schlicht an Kompetenz und Willen mangelte. Im Zeitalter des Internets sollte es doch
Svenja und Hauke Schrieber, Hamburg eher weniger bedeutsam sein, wo jemand
wohnt, weil der für alle User gleiche und
Unterricht an Kölner Gesamtschule Als geradezu diffamierend empfinde ich schnelle Zugang zu Informationen und der
die Formulierung des „Wegsperrens in För- zunehmende Aufenthalt der Menschen im
Wir haben’s ja vorher gewusst derschulen“. Dies wird dem Grundgedan-
ken von gezielter Förderung nicht gerecht.
Netz eher eine Nivellierung der Erfah-
rungsräume und des sozialen Habitus be-
Nr. 19/2017 Gut gemeint, schlecht gemacht – warum
Hans-Jürgen Waidler, Wassertrüdingen (Bayern) wirken dürfte. Das Auseinanderdriften von
die Inklusion an deutschen Schulen zu scheitern droht
Stadt und Land ist ein altes Klischee.
Die beschriebenen Mängel der Umsetzung Es werden hier Ängste gegen Inklusion ge- Dr. Klaus Nielandt, Neumünster (Schl.-Holst.)
und der zu Recht benannte Widerspruch, schürt, dabei klappt es deutlich besser.
die Inklusion auf ein selektives Schulsystem
aufzupfropfen, sind kein Zufall. Sie verdeut-
Guido Schürmann, Essen
Abgeschmackt
lichen die kaum verschleierte Absicht, trotz Beinahe täglich erlebe ich das Elend Nr. 19/2017 Warum Feminismus heute
Teil der Popkultur ist
der Verpflichtung, ein inklusives Schulsys- schlecht gemachter Inklusion. Wenn sie
tem aufzubauen, genau das zu vermeiden. mehr nützen als schaden soll, kostet es Für mich sind diese jungen rosafarbigen
Gerd-Ulrich Franz, Groß-Umstadt (Hessen) richtig Geld. Gute Förderschulen sind Feministinnen nicht ernst zu nehmen, da
schlecht gemachter Inklusion vorzuziehen. sie ohne jedes Wissen um den historischen
Als Konrektor einer Realschule musste ich Thomas Pap, Facharzt für Kinderpsychiatrie, Cottbus Kampf von uns Frauen sind. Sie greifen
die beschriebenen negativen Erfahrungen Alice Schwarzer an, ohne ihre historische
machen: Emotional und sozial erheblich ge-
störte Kinder haben sehr oft den kompletten
Großes Gefühl Bedeutung für die Emanzipation der Frau-
en zu würdigen. Mit 26 Jahren habe ich
Unterricht aufgemischt, Mitschüler und Nr. 19/2017 Auf dem Land, heißt es, wohnen die
Abgehängten und die Verlierer – ist das wirklich so?
Lehrpersonal massiv gefährdet. Als ich die-
Eine Expedition nach Albersdorf in Schleswig-Holstein
ses Problem öffentlich machte, da das Schul-

GORDONWELTERS.COM / DER SPIEGEL


amt auf Tauchstation gegangen war, wurde Da ich selbst auf einem Bauernhof groß ge-
ich von der Bezirksregierung einbestellt, die worden bin, hat mich der Artikel tief berührt.
mir disziplinarische Maßnahmen androhte. Die Hybris der Stadtmenschen, smarter, mo-
Thilo von Stillfried, Balve (NRW) derner und schneller zu sein als die doofen
Landeier, hat mich schon immer angewidert.
Ich kenne viele Kollegen, denen Sie damit Albrecht Hofmann, Nisterberg (Rhld.-Pf.)
aus der Seele gesprochen haben. Unter
den augenblicklichen Rahmenbedingun- Wertschätzung erfahren und einfach echt
gen ist ein Scheitern, ein Über- beziehungs- gemocht zu werden ist unsere Sehnsucht. Popfeministin Suzie Grime
weise Unterfordern nicht zu vermeiden. Großstädter verarmen seelisch an der zu-
Erstaunlicherweise finden sich in der Grup- fälligen Chance auf oberflächliche Likes mich, heute 75, mit zwei kleinen Kindern
pe der Befürworter viele Kollegen, die spätabends, wenn der Stau sie wieder in scheiden lassen, da mein Mann mich ge-
nicht aktiv vor einer Klasse stehen – sie der anonymen Masse einsperrt. Landbe- schlagen hatte. Es ging um Leben und Tod.
wissen wohl, warum. wohner fühlen Zuneigung der Nachbarn, Dagegen sind die heutigen Feminismus-
Rainer Dittrich, Bohlsen (Nieders.) des Vereins und der bürgerlichen Gemein- themen doch abgeschmackt. Dank Schwar-
schaft. Man kennt sich, streitet sich und zer gibt es diese unglaubliche Rechtsgleich-
Deutsche Politiker machen nur widerwillig freut sich. Großes Gefühl. Diese Familie heit der Frauen heute. Und wer sich in
ein bisschen Inklusion, erhalten aber das ziehe ich dem vergänglichen Fremden im dieser Zeit als Frau für den gleichen Job
komplette Sondersystem, zeigen dann em- „mediterranen“ Berlin vor. Das kann ich weniger zahlen lässt als ein Mann, der hat
pört überall dorthin, wo Inklusion nicht als Landei so auch haben, denn wir haben kein gesundes Ichgefühl.
gut funktioniert, um schließlich zu sagen: ja die Wahl. Warum sollte sich das ländli- Renate Berghöfer, Bremen
Wir haben’s ja vorher gewusst – Sonder- che Deutschland also abgehängt fühlen?
schulen sind für die Behinderten halt doch Renate Lex, Gaimersheim (Bayern) Egal was man über Alice Schwarzer denkt –
viel besser! So bricht man Völkerrecht. sie verfügt über Eigenschaften, die den Neu-
Kirsten Ehrhardt, Projekt Inklusionsbeobachtung, feministinnen überwiegend fehlen: einen
Walldorf (Bad.-Württ.) intelligenten Umgang mit dem Thema, den
Verzicht auf dümmliche Anglizismen in der
Die Klassen, Lehrer und Behinderten, de- Wortwahl und das Wesentliche nicht mit
nen Inklusion angetan wird, tun mir leid. plakativer Wichtigtuerei zu verwechseln.
JAKOB UND LAURENZ GOOS

Dabei kann nichts Vernünftiges rauskom- Dr. Robert Günther, Mainz


men. Jeder Lehrer weiß, dass die Verhal-
tensgesetze in einer Kinder- und Jugendli- Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
chengemeinschaft nicht human und nicht (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
behindertenfreundlich sind. sowie digital zu veröffentlichen und unter
Joachim Lange, Vater einer autistischen Tochter, Bad Doberan Dorfansicht in Albersdorf www.spiegel.de zu archivieren.

DER SPIEGEL 21 / 2017 129


Hohlspiegel Rückspiegel

Zitate
Der „Tagesspiegel“ zum SPIEGEL-Titel
„Teurer Freund“ über Frankreichs Präsi-
dent Emmanuel Macron (Nr. 20/2017):

Aus der „Neuen Westfälischen“


Jetzt im In der Großen Koalition in Berlin ist in
den vergangenen Tagen ein Wettstreit da-
rüber entbrannt, wer der bessere Freund
Aus „TV Today“:
„Und Jack (Milo Ventimiglia) wartet
Handel Frankreichs ist. Pünktlich zum Amts-
antritt Macrons wurde ein Papier von
ungeduldig auf den Geburts- Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) mit
termin seiner Frau (Mandy Moore).“ Vorschlägen zur Vertiefung der deutsch-
französischen Zusammenarbeit bekannt.
Darin fordert der Minister einen deutsch-
französischen Investitionsfonds, einen
Kompromiss zwischen Berlin und Paris
„für eine dauerhaft stabile Architektur
für den Euro“ und eine gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik. Das geht
aus im SPIEGEL veröffentlichten Passa-
Aus der „Neuen Zürcher Zeitung“ gen aus dem Papier hervor.

Die „Frankfurter Allgemeine“ zum


SPIEGEL-Gespräch „Der Überschuss ist
zu hoch“ mit Bundesfinanzminister
Wolfgang Schäuble (Nr. 20/2017):

Aus der „Schweriner Volkszeitung“ Vor dem Wochenende gibt das Magazin
DER SPIEGEL die Vorabmeldung heraus,
Schäuble halte Macrons Kritik an der
Von der Website FAZ.net: deutschen Exportstärke für berechtigt.
„Wie viele Fehler dürfen Ärzte machen? Es zitiert ihn mit den Worten: „Richtig
Jährlich sterben Tausende ist, dass der deutsche Leistungsbilanz-
Menschen in Deutschland wegen überschuss mit knapp über acht Prozent
Behandlungsfehlern. des Bruttoinlandsprodukts zu hoch
Was können Betroffene tun?“ ist.“ … Das politische Spiel gefällt
Schäuble augenscheinlich immer noch.
Ob er nach der Bundestagswahl im Amt
bleiben wird? Mit Merkel im Kanzleramt
und dem Zugriffsrecht der Union auf das
Finanzministerium wird ihm das kaum
abzuschlagen sein, wenn der dann 75
Jahre alte Politiker weitermachen will.

Ehrungen
Film, Design, Kunst SPIEGEL-Autor Stefan Berg erhält den
Herbert-Riehl-Heyse-Preis, gestiftet von
Die Welt der den Gesellschaftern des Süddeutschen
Verlags. Ausgezeichnet wird er für den
Fünfzigerjahre Essay „Das Erbe der DDR“ (40/2016)
Schild an der Landstraße K1227 über die Gründe für den Hass auf Flücht-
bei Magdeburg linge. Berg habe, so die Jury, „eine
fulminante politische Analyse verfasst –
Gründungskanzler ganz in der Tradition Riehl-Heyses, der
Aus der „Segeberger Zeitung“: bis zu seinem Tod im Jahr 2003 die ,Süd-
„Wissenschaftler haben herausgefunden, Adenauers Demokratur deutsche Zeitung‘ mitgeprägt hat“.
dass Menschen, die häufig
Geburtstag haben, länger leben.“ SPIEGEL-Redakteurin Dialika Neufeld ist
mit einem Medienpreis des Berufsver-
Vertriebene bands der Kinder- und Jugendärzte aus-
gezeichnet worden. In ihrem Artikel
Die mühsame „Stiefvater Staat“ (7/2016) beschreibt sie,
wie unbegleitete minderjährige Flücht-
Integration linge in Deutschland durch das System
Aus der „Rheinischen Post“ der Jugendämter fallen.
130 DER SPIEGEL 21 / 2017
Warum hatte man früher eigentlich
Sparstrümpfe zum Sparen?

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