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29. März 2016, 18:51 Uhr

Europapolitiker fordern Aufklärung:


Das Rätsel der vermissten Flüchtlingskinder

Die gefährliche Überfahrt überlebt, doch nun gestrandet im griechischen Idomeni:


Tausende Migranten harren in improvisierten Zeltlagern aus - die Gefahr, dass Eltern und
Kinder unfreiwillig getrennt werden, ist groß.
(Foto: Matt Cardy/Getty Images)

• Im Februar teilte Europol mit, dass mindestens 10 000 alleinreisende


Flüchtlingskinder in den vergangenen 18 bis 24 Monaten nach ihrer Ankunft in
Europa spurlos verschwunden seien.
• Mehrere Europa-Abgeordnete weisen nun in einem Brief an den Rat der 28
Mitgliedstaaten darauf hin, dass die Verschollenen möglicherweise Opfer von
paneuropäischen Banden würden, die sie für Sexarbeit, Sklaverei oder Organhandel
missbrauchen.
• Extra für Kinder unter 15 Jahren gibt es nun den Suchdienst "Trace the Face Kids",
ein Pilotprojekt des Internationalen Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes.

Von Ulrike Heidenreich


Sie sieht ernst in die Kamera, trägt ein schwarzes Kopftuch. Nummer 0000524 vermisst
ihren Sohn. Daneben ein junges Mädchen, schwarze Rastafrisur, Nummer 0000315, es
sucht nach seinem Vater: "I'm looking for my father" heißt es in der Sprechblase, die aus
seinem Mund kommt. Oder der junge Bursche, Fußballerfrisur, kariertes Hemd, Blick ins
Leere: Er hat seine gesamte Familie irgendwo verloren.
Zu sehen sind diese und 700 weitere Bilder auf einer Suchdienst-Seite des Deutschen
Roten Kreuzes (DRK). Diese soll helfen, ein großes Rätsel zu lösen: Das Rätsel der
verschwundenen Flüchtlingskinder in Deutschland. Mal sind es 5000, mal mehr, mal
weniger. Die Zahlen alarmieren, lassen Raum für Ängste, Spekulationen, Unsicherheiten.
Die Lage ist unübersichtlich, sicher ist nur eines: Die Zahlen sind nicht belastbar, denn oft
kommt es zu Vielfachzählungen.
Anfang Februar hatte eine Mitteilung der europäischen Polizeibehörde Europol Bestürzung
ausgelöst. Mindestens 10 000 alleinreisende Flüchtlingskinder seien in den vergangenen 18
bis 24 Monaten nach ihrer Ankunft in Europa spurlos verschwunden. "Dies bedeutet nicht,
dass allen etwas passiert ist. Ein Teil der Kinder könnte sich tatsächlich mittlerweile bei
Verwandten aufhalten", fügte der Europol-Sprecher an. Diese Kinder könnten aber Opfer
von Missbrauch werden, sagte er und appellierte: "Wir bitten unsere Kollegen in Europa,
sich darüber im Klaren zu sein, dass dies passieren könnte."

4749 minderjährige Flüchtlinge, von denen niemand weiß, wo sie gerade


sind
Mehrere Europa-Abgeordnete fordern nun Aufklärung. In einem Brief an den Rat der 28
Mitgliedstaaten weisen sie darauf hin, dass die Verschollenen möglicherweise Opfer von
paneuropäischen Banden würden, die sie für Sexarbeit, Sklaverei oder
Organhandel missbrauchen.
Beim deutschen Bundeskriminalamt (BKA) waren Anfang Januar 4749 minderjährige
Flüchtlinge registriert, von denen niemand weiß, wo sie gerade sind. 431 von ihnen waren
jünger als 13 Jahre. Die Statistik wird vierteljährlich erstellt. Sie unterliegt starken
Schwankungen, manchmal mit 200 bis 300 Fällen pro Tag. Außerdem schränkt die Behörde
ausdrücklich ein, dass hier auch Mehrfachregistrierungen von Flüchtlingskindern Unklarheit
erzeugen. Man könne nicht ausschließen, dass bei der hohen Vermisstenzahl auch
Straftaten eine Rolle spielten, so eine BKA-Sprecherin: "Bislang aber liegen keine Hinweise
vor, wonach kriminelle Banden Flüchtlingskinder versklaven."

Islamisten
Wie anfällig Flüchtlinge für Radikalisierung sind
Politiker und Verfassungsschützer warnen vor der Bedrohung durch Salafisten. Fragt man
nach, stellen sich die Anwerbeversuche meistens als Einzelfälle heraus.   Von Lisa Schnell
Schon seit dem Sommer befürchten Hilfsorganisationen, dass Verbrecher das Chaos rund
um die Aufnahmestellen und Asylunterkünfte ausnutzen könnten. Der Fall des vierjährigen
Flüchtlingsjungen Mohamed, den ein 32-jähriger Mann am 1. Oktober vor dem Berliner
Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) entführt, später missbraucht und
umgebracht hatte, fachte die Befürchtungen noch mehr an. Mehrere Wochen war der
Junge vermisst, bevor seine Leiche gefunden wurde. In dieser Zeit wucherten
Spekulationen, dies sei und bleibe möglicherweise kein Einzelfall.

Mahdis Mutter dachte, er sei bei der Flucht ertrunken


In regelmäßigen Abständen werden nun die Zahlen von Europol zum Gegenstand der
Diskussion. Viele vermisste Kinder tauchen aber ebenso wieder auf: Etwa der zehn Jahre
alte Mahdi, der vor zwei Wochen vom Roten Kreuz in der Schweiz aufgespürt wurde und
inzwischen wieder mit seiner Familie vereint ist. Seine Eltern Shokrieh und Ibrahim Rabani
hatte es mit dem kleinen Bruder Jusuf nach Hannover verschlagen. Mahdi hatte seine
Familie auf der Flucht aus Afghanistan an der türkischen Küste nur kurz aus den Augen
verloren und sie dann nicht mehr gefunden. Er schloss sich einer anderen afghanischen
Familie an, die es bis in die Schweiz schaffte. Die verzweifelte Mutter von Mahdi war ein
Jahr lang davon ausgegangen, ihr Junge sei bei der Flucht mit einem
Schlepperboot ertrunken.

Oder der Fall der 13 Jahre alten Katrin Kalil aus Syrien. Sie war mit ihrer Familie im Sommer
über Passau eingereist und dann auf der Zugfahrt in die Asylunterkunft in Chemnitz
verschwunden. Irgendwo am Bahnhof von Hof. Das Mädchen wurde als vermisst gemeldet,
die Fahndung nach ihm lief auch über die Fernsehsendung "Aktenzeichen XY". Nun scheint
klar zu sein: Katrin ist bei Verwandten in Dänemark. Wie sie es dorthin geschafft hat, ist
noch nicht bekannt.

Flüchtlinge in Europa

Warum Hilfsorganisationen die griechischen Flüchtlingslager verlassen


Die neue EU-Flüchtlingspolitik hat den Schleppern in der Ägäis das Geschäft verdorben,
nur noch wenige Flüchtlinge kommen in Griechenland an. Gleichzeitig verwandeln sich die
Lager dort in Festungen.   Von Christiane Schlötzer
"Ein Kind, das sich alleine auf einem Schlauchboot über das Mittelmeer gekämpft hat, lässt
sich durch nichts und niemanden aufhalten. Es hat schon einige höhere Hürden
genommen", sagt Susanne Pohl vom DRK. Die Organisation hat neben dem Suchdienst,
der Ende des Zweiten Weltkrieges gegründet wurde, 2013 für Flüchtlinge die Online-Suche
"Trace the Face" ins Leben gerufen. DRK-Präsident Rudolf Seiters rechnet vor, dass es
wegen der Suche nach Flüchtlingskindern 60 Prozent mehr Anfragen beim Suchdienst als
in den vergangenen Jahrzehnten gibt. Etwa zwei Drittel der Fälle könnten geklärt, die
Familien wieder zusammengeführt werden.

"Der Datenabgleich ist oft schwierig, weil viele die gleichen


Geburtsdaten haben"
Schwer kontrollierbar
Laut Bundeskriminalamt galten am 1. Januar 2016 genau 4749 unbegleitete Flüchtlinge im
Kindes- und Jugendlichen-Alter als vermisst. 431 davon waren jünger als 13 Jahre, 4287
zwischen 14 und 17 Jahren und 31 über 18. Am 1. Juli 2015 lag die Zahl der vermissten
unbegleiteten Flüchtlinge noch bei 1637. Die Gruppe der allein reisenden minderjährigen
Flüchtlinge ist für die Behörden nur schwer zu kontrollieren. Mehr als 90 Prozent sind
Jungen, sie kommen meist aus Afghanistan, Irak und Syrien. Sie haben sich oft monatelang
allein oder in Gruppen durchgeschlagen. Auf der Flucht nach Europa sind nach UN-
Angaben in den vergangenen sechs Monaten 340 Kinder im Mittelmeer ertrunken. Der
Anteil der Kinder an den Flüchtlingen liege bei 36 Prozent.
SZ
Und so gibt es nun, ganz neu, extra für Kinder unter 15 Jahren den Dienst "Trace the Face
Kids". Es ist ein Pilotprojekt des Internationalen Roten Kreuzes und des Roten Halbmondes,
in das bereits mehrere Hundert Fotos von vermissten Kindern eingestellt wurden. Die
Sicherheitsvorkehrungen sind hoch, nur Mitarbeiter des Suchdienstes kommen über
Passwörter hinein. Zu sehen sind Kinder, die ihre Eltern suchen, aber auch Eltern, die nicht
wissen, wo ihre Kinder sind. So kann beispielsweise eine Mutter in Afghanistan in einem
Büro des Roten Halbmondes ihr vermisstes Kind per Internet suchen.

Warum so viele Kinder nach der Registrierung in Deutschland spurlos verschwinden? "Bei
Kindern ist die Kontrollkette Gott sei Dank relativ eng. Sobald ein minderjähriger Flüchtling
alleine einreist, wird er sofort registriert und vom Jugendamt in Obhut genommen", sagt
Rotkreuz-Sprecherin Susanne Pohl. Wenn das Kind aber am nächsten Tag die Einrichtung
verlässt, um sich alleine auf den Weg zum Beispiel zu Verwandten in Berlin zu machen,
meldet das Heim das Kind als vermisst. Wenn es auf seiner Weiterreise wieder aufgegriffen
wird, kommt es mitunter zu Doppelt- und Dreifachregistrierungen. "Der Datenabgleich ist
oft schwierig, weil viele die gleichen Geburtsdaten haben, meist den 1.1. oder den 1.7.
eines Jahres. Gerade in ländlichen Regionen zum Beispiel in Afghanistan wird das immer
ähnlich beurkundet", sagt Pohl.
Die meisten der vermissten Kinder in den Suchdateien stammen aus Afghanistan, an
zweiter Stelle steht Eritrea, dann folgt Syrien. "Die Zahlen in der Vermisstenstatistik sind
schwer zu bewerten", sagt die DRK-Sprecherin. Auch im Bundesfamilienministerium gibt
man sich bedeckt, die Zahlen seien "überaus missverständlich und auch nicht belastbar".
Viele unbegleitete Flüchtlingskinder reisten ohne Ausweispapiere, ihre Identität sei
ungeklärt. An einer besseren Registrierung "arbeiten wir noch", heißt es aus
dem Ministerium.
Bis es so weit ist, appelliert Heinz Hilgers, Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, zu
erhöhter Aufmerksamkeit. "Die Kinder sind sehr gefährdet auf ihrem Fluchtweg", sagt er. Es
gebe kriminelle Banden, die Kapital schlügen "aus dem Elend, der Not, der Verzweiflung
und dem Schmerz der Kinder."

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