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Thomas Altgeld
Zusammenfassung
Viele Präventionsmaßnahmen und Gesundheitsförderungsprojekte erreichen
nach wie vor nur Bevölkerungsgruppen mit einem höheren Bildungsniveau
und Einkommen. Die Angebote sind durch ihren Kontext oder ihre Struktur
oft indirekt mittelschichtorientiert. Die verbale und finanzielle Wertschätzung
der Angebote durch die Politik nimmt in Krisenzeiten auch deshalb schnell
ab. Insgesamt muss eine völlig zersplitterte und damit intransparente Prä-
ventionsindustrie davon wegkommen, alles in Einzelthemen und kleinteiligen
Zielgruppenvorstellungen zu organisieren. Es fehlt mehr Denken in Dialog,
Partizipation und sozialen Räumen.
Schlüsselwörter
Präventionsgesetz • Lebenskompetenzen • Wohlbefinden • Capacity-building •
T. Altgeld (B)
Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V.,
Hannover, Deutschland
E-Mail: thomas.altgeld@gesundheit-nds.de
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 215
H. Schmidt-Semisch und F. Schorb (Hrsg.), Public Health,
Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-30377-8_13
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Das genannte Beispiel des „zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung
bei einer epidemischen Lage“ macht deutlich, dass bei „Belangen von natio-
naler Tragweite“ Gesundheitsförderung offenbar als nachrangig oder gar ver-
zichtbar gilt. Dabei sollte das erst 2015 verabschiedete Gesetz zur Stärkung
der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) der
Primärprävention und Gesundheitsförderung in Deutschland einen höheren Stel-
lenwert verleihen. Mit dem Präventionsgesetz wurden erstmals in der deutschen
Gesetzgebung Legaldefinitionen für Gesundheitsförderung und primäre Präven-
tion vorgenommen (vgl. Altgeld 2018). Es regelt dabei allerdings im Wesentlichen
nur die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung neu. In §20 SGB V
heißt es: „Die Krankenkasse sieht in der Satzung Leistungen zur Verhinderung
und Verminderung von Krankheitsrisiken (primäre Prävention) sowie zur För-
derung des selbstbestimmten gesundheitsorientierten Handelns der Versicherten
(Gesundheitsförderung) vor“1 .
Die gesetzlichen Krankenversicherer wurden mit dem Präventionsgesetz ver-
pflichtet, für alle Präventionsebenen mehr Geld auszugeben: Von der Gesundheits-
förderung in Lebenswelten über die Individualprävention und die Ausweitung
2 Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/246358/umfrage/anzahl-der-unternehmen-
Dieser Ansatz hebt sich deutlich von solchen Strategien ab, die ausschließ-
lich auf die Vermittlung und Förderung einzelner Fähigkeitsbereiche abzielen
(vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2010), etwa Entspannungstrainings oder
monothematisch angelegte Programme z. B. im Bereich der Suchtprävention.
Einzelne Bundesländer haben diesen Ansatz in die Neuorientierung ihrer schu-
lischen Präventionsstrategien aufgenommen. Baden-Württemberg beispielsweise
fasst die Stärkung personaler und soziale Schutzfaktoren in fünf zentrale Lern-
und Handlungsfeldern zusammen:3
3 https://praevention-in-der-schule-bw.de/,Lde/Startseite/stark_staerker_WIR_/Lebenskom
Was allerdings noch aussteht, ist eine Veränderung von Lehrplänen und All-
tagsroutinen in Schulen in diese Richtung. Gesundheit wird in Schulen nicht
als Querschnittsanforderung oder übergreifendes Bildungsziel gedacht, sondern
noch allzu häufig als Wissensvermittlung im Rahmen von Curricula in ein-
zelnen Fächern. Aber Schulen könnten auch außerhalb des Sportunterrichts
beispielsweise bewegungsfreundliche und bewegungsfördernde Orte sein, wenn
sie nicht nur als Lern- sondern auch als Lebensraum begriffen werden. Allein die
Lebenskompetenzen durch und für Bewegung lassen sich auf allen Ebenen der
Schulorganisation fördern, wie beispielsweise das Programm „Bewegte, gesunde
Schule in Niedersachsen“ (Abb. 1) sehr gut veranschaulicht:
4 https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/juli/kinder
Die Chancen auf ein gelingendes Aufwachsen in Wohlbefinden für alle Kinder
zu fördern ist eine Querschnittsaufgabe, die individuell ausgerichtete und kon-
textbezogene Maßnahmen erfordert. Dies stellt die kommunalen Verwaltungen
vor die Herausforderung, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten Hilfs- und
Unterstützungsmaßnahmen für alle Kinder – und insbesondere für benachteiligte
Kinder und ihre Familien – zu initiieren und umzusetzen. Dazu müssen sie das
breite Spektrum der Maßnahmen unterschiedlicher Institutionen und Träger wirk-
sam und nachhaltig koordinieren (vgl. www.praeventionsketten-nds.de, Zugriff
7/2020).
Antworten und Lösungsvorschläge müssen von der Lebenssituation der
Benachteiligten ausgehen und sie selbst in die Angebotsentwicklung mit einbe-
ziehen. Angebotsstrukturen und auch Behördenroutinen müssen armutssensibel
sein und dürfen nicht stigmatisierend wirken. Kommunale Präventionsketten sind
eine wirksame Antwort auf die Herausforderung, Probleme des Zugangs zu den
Angeboten und Maßnahmen der öffentlichen und freien Träger für Kinder und
Familien zu lösen. Sie zielen auf die Zusammenführung von kommunalen Akti-
vitäten über die Altersgruppen und Lebensphasen hinweg. Sie bieten Übersicht
über die lokalen Angebote und Maßnahmen und sind auf die Zusammenführung
der kommunalen Netzwerke zur Förderung, Unterstützung, Beratung, Bildung,
Betreuung, Partizipation und zum Kinderschutz ausgerichtet. Präventionsketten
sind als Strukturansatz zu verstehen, der auf Nachhaltigkeit des präventiven Han-
delns angelegt ist. Sie können auf Kommunen – unabhängig von der räumlichen
oder bevölkerungsmäßigen Größe – zugeschnitten und sozialräumlich auf die
Gesamtkommune, einen Stadtteil oder ein spezielles Quartier ausgerichtet werden.
Aufbau und Weiterentwicklung von Präventionsketten werden mittels integrierter
Fachplanung mit anderen Planungsprozessen in einer Kommune verbunden und
basieren auf einer integrierten Entscheidungsvorbereitung auf der Grundlage der
kommunalen Armuts-, Sozial- und Gesundheitsberichterstattung (Abb. 2).
6 PraxisblattWirkung: https://www.praeventionsketten-nds.de/fileadmin/media/downloads/
praxis-praeventionskette/Praxisblatt-5_Wirkung.pdf, Zugriff 07/2020.
Präventionsparadox und Präventionsdilemma: Konsequenzen … 227
haben sich trotz viel mehr Geld im Präventionssystem aufgrund des Präventions-
gesetzes und weiterer Fördermöglichkeiten leider nicht grundlegend verändert. Es
wird nach wie vor primär auf Wissensvermittlung gesetzt, ob nun über analoge
oder digitale Kanäle.
Die zunehmende Digitalisierung von Präventionsangeboten ist mit der trü-
gerischen Hoffnung verbunden, dass sich auf diesen Wegen möglicherweise
doch die sogenannten „Zielgruppen“ besser erreichen lassen, die ansonsten als
schwer erreichbar gelten. Insbesondere in spielerische Ansätze der Prävention und
Gesundheitsförderung, wie Serious Games und Gamification, werden mittlerweile
erhebliche Investitionen getätigt. Das ist bislang aber nur auf den ersten Blick
vielversprechender als der „normale“ digitale Präventionsstandard, in dem große
Präventionseinrichtungen ihre Materialien und Botschaften praktisch unverändert
auch über soziale Medien präsentieren, aber nicht damit rechnen, das soziale
Medien eben sozial sind. Die Kommentierungen großer Programme (wie bei-
spielsweise „Alkohol – Kenn dein Limit“ der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung; BZgA) auf Instagram, Twitter oder Facebook sind häufig gegenläu-
figer oder lächerlich machender Natur, z B. in der Art der Kommentierung vom
„teamvollsuff“ zu einem Kenn-Dein-Limit-Kampagnenmotiv, auf dem zwei Bier-
flaschen zu sehen sind: „Endlich mal richtige Bilder, auf denen gescheit gesoffen
wird“7 . Die beauftragten Agenturen können kritische Kommentare gar nicht so
schnell löschen oder neu kommentieren, wie sie dort immer wieder auftauchen.
„Digitale Spieleanwendungen können im Bereich Prävention und Gesundheits-
förderung eingesetzt werden, um etwa gesundheitsrelevante Informationen zu
vermitteln oder Verhaltensänderungen zu evozieren“ (Tolks et al. 2020, S. 698).
Obwohl Tolks et al. die Chancen digitaler Spieleanwendungen insgesamt sehr
positiv beurteilen, sehen sie als möglichen Nachteil insbesondere „die unter-
schiedlichen Zielgruppen“, die nicht erreicht werden, insbesondere Frauen und
ältere Menschen (ebd. S. 706). Außerdem sehen sie „die Gefahr, dass der Einsatz
von Gamification nicht als unterstützendes Element fungiert, sondern als zen-
traler Aspekt der Anwendung wahrgenommen wird und die eigentlichen Inhalte
in den Hintergrund treten. Durch den Einsatz von Gamification wird zudem die
Tendenz zur individualisierten Gesundheitsförderung verstärkt, die Strukturen und
Institutionen treten dabei in den Hintergrund“.
Dies liegt vor allem an dem Grundproblem, das auch digital eher auf Grup-
pen gezielt als mit ihnen der Dialog gesucht wird. In der Regel machen Politik
und Präventionsforschung, also insbesondere Akademiker*innen, Gesundheits-
probleme bei häufig bildungsfernen, sogenannten „Zielgruppen“ aus. Schon dieser
Ob nun analog oder digital: Gesundheitsförderung und noch viel mehr die
Primärprävention braucht zunächst eine andere Leitidee – eine, die nicht besser-
wisserisch oder volksbeglückend daherkommt. Dies fängt mit dem Ernstnehmen
von Lebensentwürfen und -wirklichkeiten von Menschen an und geht mit der Dia-
logbereitschaft und -fähigkeit von Praktikern weiter. Amartya Sen schlug bereits
2002 „Verwirklichungschancen“ als Denkfigur dafür vor. Verwirklichungschancen
sind für ihn die Möglichkeit jedes Menschen, bestimmte Dinge zu tun und über
die Freiheit zu verfügen, ein von ihm oder ihr für erstrebenswert gehaltenes Leben
zu führen. Aus vielen Einzelprogrammen für ausgesuchte, sogenannte Zielgrup-
pen ergibt sich kein Gesundheitsnutzen für Menschen in multiplen Problemlagen,
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Literatur