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Präventionsparadox und

Präventionsdilemma: Konsequenzen für


die Praxis

Thomas Altgeld

Zusammenfassung
Viele Präventionsmaßnahmen und Gesundheitsförderungsprojekte erreichen
nach wie vor nur Bevölkerungsgruppen mit einem höheren Bildungsniveau
und Einkommen. Die Angebote sind durch ihren Kontext oder ihre Struktur
oft indirekt mittelschichtorientiert. Die verbale und finanzielle Wertschätzung
der Angebote durch die Politik nimmt in Krisenzeiten auch deshalb schnell
ab. Insgesamt muss eine völlig zersplitterte und damit intransparente Prä-
ventionsindustrie davon wegkommen, alles in Einzelthemen und kleinteiligen
Zielgruppenvorstellungen zu organisieren. Es fehlt mehr Denken in Dialog,
Partizipation und sozialen Räumen.

Schlüsselwörter
Präventionsgesetz • Lebenskompetenzen • Wohlbefinden • Capacity-building •

Prevention Act • Life Skills • Well-being

Krisensituationen wie die Covid-19-Pandemie verdeutlichen wie ein Brennglas,


wo die Sollbruchstellen und politischen Prioritäten in Gesellschaften liegen.
So zeigt sich einerseits gerade im Sommer 2020 in Deutschland wieder das
sogenannte Präventionsparadox in fast reinster Ausprägung: Die Motivation von
gesunden Menschen für kleine Verhaltensänderungen im Alltag, wie etwa die

T. Altgeld (B)
Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V.,
Hannover, Deutschland
E-Mail: thomas.altgeld@gesundheit-nds.de

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2021 215
H. Schmidt-Semisch und F. Schorb (Hrsg.), Public Health,
Sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-30377-8_13
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Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln und Supermärkten, sinkt rapide,


wenn keine unmittelbaren persönliche Gefahren und kein greifbarer individuel-
ler Nutzen mehr wahrgenommen werden. Die Urlaubssaison 2020 führt deutsche
Urlaubshungrige zwar nicht mehr auf umweltschädliche Kreuzfahrtschiffe oder
Fernreisen. Der Verzicht auf Auslandsreisen fällt vielen dennoch schwer und es
zieht sie in andere europäische Länder wie Spanien, Frankreich, Österreich oder
Kroatien, trotz dort steigender Infektionsraten. Der Begriff „Präventionsparadox“
wurde 1981 von dem britischen Epidemiologen Geoffrey Rose erstmals geprägt
und am Beispiel der koronaren Herzkrankheiten beschrieben: „a measure that
brings large benefits to the community offers little to each participating indivi-
dual“ (Rose 1981, S. 1850). Zu Deutsch: „Eine Maßnahme, die für Bevölkerung
und Gemeinschaften einen hohen Nutzen bringt, bringt dem einzelnen Menschen
oft nur wenig – und umgekehrt“ (Franzkowiak 2018). Das gilt bis heute für die
bevölkerungs- und risikogruppenbezogene Prävention.
Auch auf politischer Ebene ist dieses Präventionsparadox zu erleben: Der Bun-
destag hat mit dem am 14. Mai 2020 beschlossenen „zweiten Gesetz zum Schutz
der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ die
Ausgabenverpflichtungen für Leistungen zur Primärprävention und Gesundheits-
förderung der gesetzlichen Kranken- und Pflegekassen für das Jahr 2020 einfach
ausgesetzt (vgl. Deutscher Bundestag 2020a). Das heißt im Klartext: Gesund-
heitsförderung und Prävention sind wieder von einer Soll- zu einer Kann-Leistung
der Sozialversicherungsträger geworden. Das umfassende Gesetzeswerk, das nicht
nur zwei Sozialgesetzbücher (V und XI), sondern auch das Infektionsschutzge-
setz, das Krankenhausfinanzierungsgesetz und nahezu alle Gesetzesgrundlagen
für die Gesundheitsberufe in Deutschland verändert, wurde in fast allen Facetten
öffentlich diskutiert und im Wesentlichen positiv aufgenommen. Die gleichzeitig
verabschiedete Zwangspause für die Gesundheitsförderung und Primärpräven-
tion wurde hingegen kaum wahrgenommen und noch weniger thematisiert. Der
winzige Passus, der den gesetzlichen Krankenkassen die Ausgaben für nicht-
betriebliche Lebenswelten allenfalls noch als freiwillige Leistungen aufgibt,
erschließt sich innerhalb des Gesetzestextes auch nur für Insider aus dem Kran-
kenkassensystem: „Unbeschadet der Verpflichtung nach Absatz 1 müssen die
Ausgaben der Krankenkassen für die Wahrnehmung ihrer Aufgaben nach dieser
Vorschrift und nach den §§ 20a bis 20c [SGB V] im Jahr 2020 nicht den in den
Sätzen 1 bis 3 genannten Beträgen entsprechen“ (ebd. S. 25). Auch die Mittel für
die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, für Gesundheitsförderung in
betrieblichen Lebenswelten, in der Pflege sowie in stationären Pflegeheimen wur-
den in weiteren Änderungsparagraphen praktisch ausgesetzt – eine vermeintlich
Präventionsparadox und Präventionsdilemma: Konsequenzen … 217

einfache Lösung, um Mittel für die Bewältigung der Covid-19-Pandemie frei zu


machen und insgesamt Kosten zu sparen.
In der Verbandsbeteiligung und den Ausschussanhörungen zum Gesetzes-
entwurf wurde das von niemanden ernsthaft kritisiert. Nur der Vorstand der
Bundesvereinigung für Prävention und Gesundheitsförderung e. V. hat dies in
einer Stellungnahme vorsichtig infrage gestellt: „Die Aussetzung der Mittelver-
wendung erscheint nur teilweise nachvollziehbar und sie setzt das völlig falsche
Signal sowohl für die betrieblichen als auch für die nichtbetrieblichen Lebens-
welten“ (2020, S. 1). Das entscheidende Argument dieser Stellungnahme für die
Beibehaltung der Ausgabenverpflichtungen waren gerade die gestiegenen Belas-
tungen der in Bildungssettings arbeitenden und lernenden Personen, die unter
völlig veränderten Rahmenbedingungen arbeiten müssen, sowie das veränderte
Belastungsspektrum in der Arbeitswelt insgesamt. Maßnahmen der Primärpräven-
tion und Gesundheitsförderung seien „unverzichtbar“, um das Gesundheitssystem
auch für die Zeit nach der Covid-19-Pandemie nachhaltig zu stärken (ebd.).

1 Gesundheitsförderung darf kein Nice-to-have bei


Schönwetterlage sein

Das genannte Beispiel des „zweiten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung
bei einer epidemischen Lage“ macht deutlich, dass bei „Belangen von natio-
naler Tragweite“ Gesundheitsförderung offenbar als nachrangig oder gar ver-
zichtbar gilt. Dabei sollte das erst 2015 verabschiedete Gesetz zur Stärkung
der Gesundheitsförderung und der Prävention (Präventionsgesetz – PrävG) der
Primärprävention und Gesundheitsförderung in Deutschland einen höheren Stel-
lenwert verleihen. Mit dem Präventionsgesetz wurden erstmals in der deutschen
Gesetzgebung Legaldefinitionen für Gesundheitsförderung und primäre Präven-
tion vorgenommen (vgl. Altgeld 2018). Es regelt dabei allerdings im Wesentlichen
nur die Ausgaben der gesetzlichen Krankenversicherung neu. In §20 SGB V
heißt es: „Die Krankenkasse sieht in der Satzung Leistungen zur Verhinderung
und Verminderung von Krankheitsrisiken (primäre Prävention) sowie zur För-
derung des selbstbestimmten gesundheitsorientierten Handelns der Versicherten
(Gesundheitsförderung) vor“1 .
Die gesetzlichen Krankenversicherer wurden mit dem Präventionsgesetz ver-
pflichtet, für alle Präventionsebenen mehr Geld auszugeben: Von der Gesundheits-
förderung in Lebenswelten über die Individualprävention und die Ausweitung

1 https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_5/, Zugriff 7/2020.


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von Früherkennungsuntersuchungen in allen Lebensaltern bis hin zur Verdopp-


lung der Mittel für Selbsthilfeförderung und den Ausbau der Zuschüsse für
Rehabilitation. Das Gesamtausgabenvolumen der Kranken- und Pflegekassen für
Prävention und Gesundheitsförderung in den betrieblichen und nicht-betrieblichen
Lebenswelten sowie für die Individualprävention sah für 2016 den Betrag von
474 Mio. EUR vor, wobei jährliche Steigerungsraten im Gesetz festgeschrieben
sind. 2018 lagen die Ausgaben bei mehr als 544 Mio. EUR (Medizinischer Dienst
des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen MDS & GKV Spitzenverband
2019, S. 10). Die jährlichen Präventionsberichte von MDS und GKV und auch
der erste nationale Präventionsbericht von 2019 (Die Träger der Nationalen Prä-
ventionskonferenz 2019) zeigen, dass mit den Mehrausgaben auch die Anzahl der
erreichten Lebenswelten und Personen gestiegen ist.
Das Präventionsgesetz hat also für einen zusätzlichen Ausgabenschub gesorgt
und damit die Handlungsoptionen und die Reichweite für Aktivitäten der Gesund-
heitsförderung und Prävention erweitert. Gleichzeitig verhindert der nach wie
vor bestehende Kassenwettbewerb ein wirklich integriertes Vorgehen. Bei einem
zu großen Teilen identischen Leistungskatalog ist der Bereich Gesundheitsförde-
rung und Prävention einer der wenigen, wo Kassen sich individuell hervorheben
und potenziell neue Versicherte gewinnen können. Die derzeit 105 gesetzli-
chen Krankenkassen in Deutschland haben entsprechend ihre Programm- und
Maßnahmenentwicklungen intensiviert und schaffen immer wieder neue, kas-
senindividuelle Angebote, welche die Settings – von Bildungseinrichtungen bis
hin zu Betrieben – förmlich überfluten. Das Gros der Maßnahmen und Projekte
erreicht dabei nach wie vor insbesondere Bevölkerungsgruppen mit einem höhe-
ren Bildungsniveau und Einkommen. Viele Angebote sind durch ihren Kontext
oder ihre Struktur indirekt mittelschichtorientiert, ganz besonders gilt dies für
viele Maßnahmen der Individualprävention. Sie bauen häufig auf bereits vorhan-
denem Gesundheitsbewusstsein auf und werden in Settings angeboten, die besser
gestellte Bevölkerungsgruppen eher erreichen, z. B. Volkshochschulen, Sportver-
eine oder tarifgebundene Großbetriebe. Menschen mit wesentlich schlechteren
Ausgangslagen, z. B. aufgrund eines niedrigeren Bildungsstandes, eines geringen
Einkommens, ihrer Betroffenheit von Langzeitarbeitslosigkeit, ihrer kulturellen
Herkunft oder auch ihres Geschlechts, werden dagegen nach wie vor kaum
angesprochen.
Kühn & Rosenbrock haben für diese Art des Präventionsrosinen-Pickens
bereits 1994 in ihrer Analyse des Public Health Sektors in den USA bitter
festgestellt: „Es lassen sich Regelmäßigkeiten einer ‚Zuchtwahl‘ von Präventions-
konzepten erkennen. Die soziale Umwelt selektiert und mutiert präventive Ideen,
Ansätze und Konzepte in einer Weise, in der die Angepasstesten überleben“.
Präventionsparadox und Präventionsdilemma: Konsequenzen … 219

Diese „Zuchtwahl“ gab und gibt es auch im deutschen Präventionssektor und


insbesondere bei der Auswahl von Lebenswelten, in die investiert wird. Allein
die ausgabenmäßige Gleichsetzung von betrieblichen und nicht-betrieblichen
Lebenswelten, die das SGB V nun vornimmt, ist eine Schlechterstellung der hete-
rogeneren, alle Menschen betreffenden nicht-betrieblichen Lebenswelten. Zudem
werden bei betrieblichen Lebenswelten beispielsweise eher Großbetriebe als
Kleinbetriebe adressiert. 2018 konnten 19.544 Betriebe direkt erreicht werden
(MDS & GKV SpiBu 2019, S. 63). Das sind bei einer Gesamtanzahl von
3.27 Mio. Betrieben in Deutschland2 gerade einmal 0,6 (!) Prozent aller Betriebe.
Diese verschwindend geringe Reichweite der GKV-Aktivitäten wird an keiner
Stelle der regelmäßigen Präventionsberichte oder innerhalb des nationalen Prä-
ventionsberichtes kritisch diskutiert, da die Inanspruchnahme durch die Betriebe
ja „freiwillig“ ist. „Unternehmen verschiedener Branchen nutzen in unterschied-
lichem Maße die Unterstützung der Krankenkassen bei BGF-Aktivitäten. Dabei
spielen die jeweiligen strukturellen Bedingungen für die Gesundheit der Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter in der jeweiligen Branche und der daraus abzuleitende
Bedarf an Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit eine Rol-
le“(MDS & GKV SpiBu 2019, S. 64). Die Angebotsstruktur der GKV, die nicht
auf Klein- und Kleinstbetriebe mit den in der Summe meisten Beschäftigten
ausgelegt ist, sowie die Marketinginteressen der Kassen, die häufig mit ihrem
Engagement in Betrieben verbunden sind, wird dabei völlig außer Acht gelassen.
Bei den anderen adressierten Lebenswelten stehen Bildungssettings, insbeson-
dere KiTas und Grundschulen in besser gestellten Stadtteilen, höher im Kurs als
andere kommunale Settings (z. B. Obdachlosenhilfe), Hochschulen viel mehr als
Integrationskurse, und der ohnehin gut geförderte organisierte Sport mehr als neue
informelle Bewegungsinitiativen wie Parcours. Für den Bereich der Prävention in
Schulen hat Bauer bereits 2005 auf das enge Zusammenwirken zwischen den
strukturellen Rahmenbedingungen des deutschen, stark sortierenden Bildungssys-
tems und dem Versagen breit angelegter Präventionsprogramme bei niedrigeren
Bildungsstufen hingewiesen. Er hat dafür den Begriff des „Präventionsdilemmas“
(Bauer 2005) geprägt. Besondere Förderungs- und Kompensationsprogramme
werden in der Regel nicht angeboten, weil auch für Primärprävention und Gesund-
heitsförderung das Prinzip der Freiwilligkeit gilt: „Das Präventionsdilemma – die
hohe Teilnahmeakzeptanz bei wenig gefährdeten Adressatengruppen sowie die
umgekehrt proportionale Ablehnung und fehlende Motivation bei jugendlichen

2 Vgl. https://de.statista.com/statistik/daten/studie/246358/umfrage/anzahl-der-unternehmen-

in-deutschland/, Zugriff 7/2020.


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Risikogruppen – findet durch die schulstrukturelle Rahmung einen besonderen


Nährboden“ (Bauer 2005, S. 74).
Dieses Präventionsparadox zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte
deutsche Präventionslandschaft, die ein hohes Maß an Ausdifferenzierung der
Angebote aufweist: Verschiedene gesetzliche Aufgaben unterschiedlicher staat-
licher Akteure oder Sozialversicherungsträger sind ein Grund dafür. Die Sachlage
verkompliziert sich zu Ungunsten benachteiligter Bevölkerungsgruppen, wenn
man sich die Struktur der deutschen Präventionslandschaft genauer anschaut.
Konstituierend dafür ist die Tatsache, dass für jedes Krankheitsbild praktisch ein
eigenes Programm mit spezifischen, häufig zudem noch untereinander konkurrie-
renden Anbieterstrukturen existiert.

2 Präventionstrendthemen oder: Eine eigene Strategie


für jedes Krankheitsbild?

Präventionsansätze sind abhängig von gesellschaftlicher und politischer Auf-


merksamkeit und deshalb gewissen konjunkturellen Zyklen unterworfen. Jedes
Jahrzehnt kann auf sein eigenes Präventionstrendthema zurückblicken. Vielleicht
wird das angesichts der aktuell wahrgenommenen Bedrohungslage für das dritte
Jahrzehnt dieses Jahrhunderts die Prävention von neuen viralen Erkrankungen
sein, die neben einer Konjunktur für Hygiene- und Desinfektionsartikel und
der Entwicklung von Impfstoffen Maßnahmen wie Hygieneschulungen auf die
Agenda setzen wird. Aber für eine solche Prognose ist es noch zu früh. Das
zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts wird in die Präventionsgeschichtsschrei-
bung vermutlich als die Boomjahre der Prävention von psychischen Erkran-
kungen eingehen. Nachrichtenmagazine sind und waren im Hinblick auf die
öffentliche Wahrnehmung von bestimmten Gesundheitsthemen immer ein guter
Trendindikator: Das noch aktuelle Boomthema lässt sich leicht aus nur wenigen
exemplarischen Titelgeschichten des Magazins „Der Spiegel“ ablesen: „Neustart
– Wege aus der Burn-out-Falle“ (Nr. 30/2011), „Mobbing – der Feind in mei-
nem Büro“ (Nr. 16/2012), „Die Psycho-Falle (Nr. 4/2013), „Generation Stress
– Wenn Schule krank macht“ (Nr.17/2013) oder „Stress lass nach“ (Nr. 30/2018).
Es geht also um psychische Gesundheit, insbesondere in Verbindung mit Stress
und Arbeitsfähigkeit.
War es zu Beginn der Zweitausenderjahre die medial befeuerte Adipositas-
hysterie, die die Diskurse um gesundheitliche Problemlagen in der Gesellschaft
dominierte, wurden die Themen Stress, Resilienz, Depression und Burnout in
den vergangenen 10–15 Jahren immer mehr in den Mittelpunkt der öffentlichen
Präventionsparadox und Präventionsdilemma: Konsequenzen … 221

wie fachlichen Präventionsaufmerksamkeit gerückt – eine sich selbst verstärkende


Aufmerksamkeitsspirale. Allein das Digitale Wörterbuch der Deutschen Spra-
che (https://www.dwds.de/) zeigt für diese Begriffe einen enormen Anstieg in
der Nutzungshäufigkeit in deutschen Publikationen unterschiedlichster Art. Auch
regierungsamtliche Berichte und Präventionsprogramme ließen nicht lange auf
sich warten. Der marktschreierisch betitelte „Stressreport 2012“ des Bundes-
ministeriums für Arbeit und Soziales fand ein enormes Medienecho und fast
alle Förderrichtlinien für arbeitsweltbezogene Prävention werden zurzeit auf die
Reduktion von psychischen Belastungen am Arbeitsplatz gebürstet.
Zum neuen Stellenwert von psychischer Gesundheit in der Präventionsland-
schaft gehört auch ein gewisser Begriffswirrwarr. Psychische Gesundheit ist nur
einer von vielen Begriffen, die synonym, nebeneinander oder auch in Abgrenzung
zueinander benutzt werden. Die Liste der in Deutschland momentan am wei-
testen verbreiteten Begriffe reicht von „Mental Health“, als direkter Übernahme
aus dem Englischen, über „Seelische Gesundheit“, „Psychisches Wohlbefinden“,
„Psychosoziale Gesundheit“ bis hin zu „Resilienz“ und „Achtsamkeit“.
Aktuell zeichnet sich die Diabetesprävention als neues politisches Trendt-
hema ab, das in dem Entwicklungsauftrag des Bundestages für eine „Nationalen
Diabetesstrategie“ schon jetzt einen ersten Höhepunkt erreicht hat. „Bei der
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) wurde eine Geschäfts-
stelle eingerichtet, die sich mit der Entwicklung, Umsetzung und Evaluation
einer Nationalen Aufklärungs- und Kommunikationsstrategie zu Diabetes mellitus
befasst. Diese soll alle Phasen des Diabetes (Primär-, Sekundär- und Tertiär-
prävention) umfassen, um gesundheitsschädigendes Verhalten zu verringern und
gesundheitsförderliches Verhalten zu stärken“ (Deutscher Bundestag 2020b, S. 4).
Angesichts der bereits skizzierten Problemlagen – dem Präventionsdilemma,
dem Präventionsparadox sowie der Ausdifferenzierung von Präventionsangeboten
– stellen sich zwei entscheidende Fragen: Zum einen, ob eine von der Politik
ohnehin nur als Verhaltensprävention angedachte Präventionsstrategie für Dia-
betes überhaupt sinnvoll ist. Alle primärpräventiven Maßnahmen, die wirksam
bei Übergewichtsvermeidung sind (z. B. Bewegungsförderung, Stressabbau oder
ausgewogene Ernährungsweise), sind auch unmittelbar wirksam bei Herzkreislau-
ferkrankungen, Krebs, Unfällen und selbst psychischen Erkrankungen. Wie viel
Sinn macht es, für jedes Krankheitsbild mit erheblichem Ressourceneinsatz eine
eigene Präventionsstrategie und entsprechende Maßnahmen zu entwickeln, wenn
alle diese Strategien am Ende dieselben Verhaltensänderungen empfehlen? Die
zweite Frage ist, wie derartige Strategien das Präventionsdilemma überwinden
sollen. Warum sollte es mit Diabetesprävention in Schulen und Kitas gelingen,
Kinder aus benachteiligten Lebenslagen zu erreichen und zu fördern, wenn dies
222 T. Altgeld

mit vergleichbaren Ansätzen und Maßnahmen schon Sucht-, Adipositas- und


Kriminalprävention nicht gelungen ist?
Mit der Überarbeitung des nationalen Gesundheitszieles „Gesund aufwachsen“
wurde 2003 und 2010 eine grundsätzliche Weichenstellung in eine andere Rich-
tung vorgenommen: weg von meist wirkungslosen, monothematischen Präventi-
onsprogrammen in Bildungssettings hin zur Stärkung von Lebenskompetenzen
(vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2010). Dem Verständnis der Weltge-
sundheitsorganisation (WHO 1994) folgend, lässt sich unter Lebenskompetenzen
(engl.: life skills) ein Set an psychosozialen Fähigkeiten verstehen, die es der Per-
son ermöglichen, mit den alltäglichen Anforderungen und Schwierigkeiten des
Lebens konstruktiv und produktiv umzugehen. Sie sind somit als wesentliche
Voraussetzung für ein umfassendes gesundheitliches Wohlbefinden zu betrach-
ten. Personen, die diesem Ansatz nach als lebenskompetent zu bezeichnen sind,
weisen folgende Fertigkeiten auf:

• Fähigkeit der Selbstwahrnehmung


• Empathie
• kritisches und kreatives Denken
• Kommunikations- und Beziehungsfähigkeit
• Fähigkeit Entscheidungen zu treffen
• Problemlösefähigkeit sowie
• Fähigkeit der Emotions- und Stressbewältigung (Bühler und Heppekausen
2005; WHO 1994).

Dieser Ansatz hebt sich deutlich von solchen Strategien ab, die ausschließ-
lich auf die Vermittlung und Förderung einzelner Fähigkeitsbereiche abzielen
(vgl. Bundesministerium für Gesundheit 2010), etwa Entspannungstrainings oder
monothematisch angelegte Programme z. B. im Bereich der Suchtprävention.
Einzelne Bundesländer haben diesen Ansatz in die Neuorientierung ihrer schu-
lischen Präventionsstrategien aufgenommen. Baden-Württemberg beispielsweise
fasst die Stärkung personaler und soziale Schutzfaktoren in fünf zentrale Lern-
und Handlungsfeldern zusammen:3

• „Selbstregulation: Gedanken, Emotionen und Handlungen selbst regulieren


• ressourcenorientiert denken und Probleme lösen
• wertschätzend kommunizieren und handeln

3 https://praevention-in-der-schule-bw.de/,Lde/Startseite/stark_staerker_WIR_/Lebenskom

petenz. Zugriff 7/2020.


Präventionsparadox und Präventionsdilemma: Konsequenzen … 223

• lösungsorientiert Konflikte und Stress bewältigen


• Kontakte und Beziehungen aufbauen und halten“

Was allerdings noch aussteht, ist eine Veränderung von Lehrplänen und All-
tagsroutinen in Schulen in diese Richtung. Gesundheit wird in Schulen nicht
als Querschnittsanforderung oder übergreifendes Bildungsziel gedacht, sondern
noch allzu häufig als Wissensvermittlung im Rahmen von Curricula in ein-
zelnen Fächern. Aber Schulen könnten auch außerhalb des Sportunterrichts
beispielsweise bewegungsfreundliche und bewegungsfördernde Orte sein, wenn
sie nicht nur als Lern- sondern auch als Lebensraum begriffen werden. Allein die
Lebenskompetenzen durch und für Bewegung lassen sich auf allen Ebenen der
Schulorganisation fördern, wie beispielsweise das Programm „Bewegte, gesunde
Schule in Niedersachsen“ (Abb. 1) sehr gut veranschaulicht:

Abb. 1 Bausteine Bewegter Schulen (https://www.bewegteschule.de/, Zugriff 7/2020)


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3 Integrierte kommunale Handlungskonzepte als


zentrale Herausforderung

Nicht nur für die Gesundheitsförderung und Primärprävention in Schulen bedarf


es einer grundsätzlichen Neuorientierung weg von heterogenen, sporadischen,
monothematischen Präventionsversuchen hin zu einem integrierten Gesamtkon-
zept, das die Entwicklung von Lebenskompetenzen als zentrales Ziel definiert
und Schulen nicht nur als Lern-, sondern vor allem als Lebensorte begreift.
Dieses Umdenken weg von einfachen Präventionslogiken und konkurrierenden
Angebotsstrukturen ist auch für andere Settings, insbesondere das kommunale
Setting, unbedingt notwendig (vgl. Altgeld 2017). Auf kommunaler Ebene kön-
nen durch konsequente Orientierung am kindlichen Wohlergehen entscheidende
Erfolge für die Gestaltung der Bedingungen eines gesunden Aufwachsens erzielt
werden. Die Auswirkungen von materieller Armut im Kindesalter sind zurzeit
die größte Public Health Herausforderung in der Praxis. Gerade die aktuelle
Corona-Krise trifft arme und armutsnahe Familien besonders hart, etwa durch
Kurzarbeit, Arbeitslosigkeit und unveränderte Regelsätze für das Arbeitslosen-
geld 2, obwohl die Lebenshaltungskosten, insbesondere für Obst, Gemüse und
Hygieneartikel, gestiegen sind. Auch ein digitaler Schulunterricht stellt Familien
mit geringem Einkommen oder/und mehreren Kindern vor besondere finanzielle
Herausforderungen.
Die Bertelsmann-Stiftung bezeichnet Kinderarmut deshalb als „unbearbeitete
Großbaustelle“ in Deutschland. „Nach wie vor überschattet Armut den Alltag
von mehr als einem Fünftel aller Kinder in Deutschland. Das sind 21,3 %
bzw. 2,8 Mio. Kinder und Jugendliche unter 18, die oft viele Jahre ihrer Kind-
heit von Armut bedroht sind“4 . Eine Kindheit in Armut stellt aufgrund der
hohen Vulnerabilität in frühen Lebensphasen ein erhebliches Entwicklungsri-
siko dar. Im weiteren Lebensverlauf können sich diese und weitere Belastungen
zu sogenannten „Belastungskarrieren“ verdichten. Betroffen sind sowohl orga-
nische, wachstumsbezogene Prozesse als auch die kognitive Entwicklung, die
psychische Stabilität und die Persönlichkeitsentwicklung. Damit lassen sich
erhebliche Einschränkungen des kindlichen Wohlbefindens unmittelbar auf mate-
rielle Unterversorgung zurückführen. Der Child-Well-Being-Index, abgeleitet aus
der UN-Kinderrechtskonvention, definiert kindliches Wohlergehen dementspre-
chend erstmals umfassend und erfasst folgende Dimensionen, die eng miteinander
verknüpft sind:

4 https://www.bertelsmann-stiftung.de/de/themen/aktuelle-meldungen/2020/juli/kinder

armut-eine-unbearbeitete-grossbaustelle, Zugriff 7/2020.


Präventionsparadox und Präventionsdilemma: Konsequenzen … 225

• materielles Wohlbefinden (material well-being)


• Gesundheit und Sicherheit (health and safety)
• bildungsbezogenes Wohlbefinden (educational well-being)
• familiäre Beziehungen und Beziehungen zu Gleichaltrigen (family and peer
relationships)
• Risiko-Verhalten (behaviours and risks)
• subjektives Wohlbefinden (subjective well-being)5 .

Die Chancen auf ein gelingendes Aufwachsen in Wohlbefinden für alle Kinder
zu fördern ist eine Querschnittsaufgabe, die individuell ausgerichtete und kon-
textbezogene Maßnahmen erfordert. Dies stellt die kommunalen Verwaltungen
vor die Herausforderung, im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten Hilfs- und
Unterstützungsmaßnahmen für alle Kinder – und insbesondere für benachteiligte
Kinder und ihre Familien – zu initiieren und umzusetzen. Dazu müssen sie das
breite Spektrum der Maßnahmen unterschiedlicher Institutionen und Träger wirk-
sam und nachhaltig koordinieren (vgl. www.praeventionsketten-nds.de, Zugriff
7/2020).
Antworten und Lösungsvorschläge müssen von der Lebenssituation der
Benachteiligten ausgehen und sie selbst in die Angebotsentwicklung mit einbe-
ziehen. Angebotsstrukturen und auch Behördenroutinen müssen armutssensibel
sein und dürfen nicht stigmatisierend wirken. Kommunale Präventionsketten sind
eine wirksame Antwort auf die Herausforderung, Probleme des Zugangs zu den
Angeboten und Maßnahmen der öffentlichen und freien Träger für Kinder und
Familien zu lösen. Sie zielen auf die Zusammenführung von kommunalen Akti-
vitäten über die Altersgruppen und Lebensphasen hinweg. Sie bieten Übersicht
über die lokalen Angebote und Maßnahmen und sind auf die Zusammenführung
der kommunalen Netzwerke zur Förderung, Unterstützung, Beratung, Bildung,
Betreuung, Partizipation und zum Kinderschutz ausgerichtet. Präventionsketten
sind als Strukturansatz zu verstehen, der auf Nachhaltigkeit des präventiven Han-
delns angelegt ist. Sie können auf Kommunen – unabhängig von der räumlichen
oder bevölkerungsmäßigen Größe – zugeschnitten und sozialräumlich auf die
Gesamtkommune, einen Stadtteil oder ein spezielles Quartier ausgerichtet werden.
Aufbau und Weiterentwicklung von Präventionsketten werden mittels integrierter
Fachplanung mit anderen Planungsprozessen in einer Kommune verbunden und
basieren auf einer integrierten Entscheidungsvorbereitung auf der Grundlage der
kommunalen Armuts-, Sozial- und Gesundheitsberichterstattung (Abb. 2).

5 Vgl. https://www.fcd-us.org/2013-child-well-being-index-cwi/, Zugriff 7/2020.


226 T. Altgeld

Abb. 2 Kommunale Präventionsketten (Richter-Kornweitz und Utermark 2013)

In Niedersachsen wurde 2016 mit Unterstützung der Auridis Stiftung ein


landesweites Modellprojekt gestartet, das Kommunen bei dem Aufbau von Prä-
ventionsketten unterstützt. 2020 werden in insgesamt 20 beteiligten Kommunen
25 Vorhaben gefördert. Neuartig an dem Modellvorhaben ist auch die Wir-
kungsorientierung. Es wurden keine vordefinierten Zielindikatoren von außen
vorgegeben, die alle Kommunen gleichermaßen zu erfüllen haben. Stattdessen
entwickeln die beteiligten Kommunen für ihre Ansätze, lokalen Bedarfe und
Gegebenheiten mit Unterstützung der Programmkoordination individuelle Wir-
kungsmodelle für die eigene Arbeit. Diese „wirkungsorientierte Arbeitsweise ist
dadurch gekennzeichnet, dass man sich regelmäßig mit dem gesamten Verlauf
(Planung, Umsetzung und Auswertung) eines Projekts oder Programmes aus-
einandersetzt“6 . Daraus entwickelt sich der Kreislauf der wirkungsorientierten
Steuerung, der den meisten Mainstreampräventionsansätzen fehlt (Abb. 3).

6 PraxisblattWirkung: https://www.praeventionsketten-nds.de/fileadmin/media/downloads/
praxis-praeventionskette/Praxisblatt-5_Wirkung.pdf, Zugriff 07/2020.
Präventionsparadox und Präventionsdilemma: Konsequenzen … 227

Abb. 3 Kreislauf der wirkungsorientierten Steuerung (Präventionskette: Praxisblatt


Wirkung (https://www.praeventionsketten-nds.de/fileadmin/media/downloads/praxis-praeve
ntionskette/Praxisblatt-5_Wirkung.pdf, Zugriff 07/2020.))

4 Alter Präventionswein in neuen digitalen Schläuchen?

Anders als das wirkungsorientierte und systematische Vorgehen, das in den


Präventionsketten umgesetzt wird, führen klassische anbieterdominierte Stra-
tegien zu einer Überbewertung von Medien und Material (insbesondere im
Bereich Bewegungsförderung, Ernährung und Sucht) und einer Unterbewertung
von verhältnispräventiven Ansätzen, Capacity-Building vor Ort und Peer-to-Peer-
Ansätzen. Deshalb profitieren von den vorhandenen Angebotsstrukturen häufig
vor allem die Bevölkerungsgruppen, die einen höheren sozioökonomischen Sta-
tus und ein höheres Gesundheitsbewusstsein aufweisen. Die Interventionslogiken
228 T. Altgeld

haben sich trotz viel mehr Geld im Präventionssystem aufgrund des Präventions-
gesetzes und weiterer Fördermöglichkeiten leider nicht grundlegend verändert. Es
wird nach wie vor primär auf Wissensvermittlung gesetzt, ob nun über analoge
oder digitale Kanäle.
Die zunehmende Digitalisierung von Präventionsangeboten ist mit der trü-
gerischen Hoffnung verbunden, dass sich auf diesen Wegen möglicherweise
doch die sogenannten „Zielgruppen“ besser erreichen lassen, die ansonsten als
schwer erreichbar gelten. Insbesondere in spielerische Ansätze der Prävention und
Gesundheitsförderung, wie Serious Games und Gamification, werden mittlerweile
erhebliche Investitionen getätigt. Das ist bislang aber nur auf den ersten Blick
vielversprechender als der „normale“ digitale Präventionsstandard, in dem große
Präventionseinrichtungen ihre Materialien und Botschaften praktisch unverändert
auch über soziale Medien präsentieren, aber nicht damit rechnen, das soziale
Medien eben sozial sind. Die Kommentierungen großer Programme (wie bei-
spielsweise „Alkohol – Kenn dein Limit“ der Bundeszentrale für gesundheitliche
Aufklärung; BZgA) auf Instagram, Twitter oder Facebook sind häufig gegenläu-
figer oder lächerlich machender Natur, z B. in der Art der Kommentierung vom
„teamvollsuff“ zu einem Kenn-Dein-Limit-Kampagnenmotiv, auf dem zwei Bier-
flaschen zu sehen sind: „Endlich mal richtige Bilder, auf denen gescheit gesoffen
wird“7 . Die beauftragten Agenturen können kritische Kommentare gar nicht so
schnell löschen oder neu kommentieren, wie sie dort immer wieder auftauchen.
„Digitale Spieleanwendungen können im Bereich Prävention und Gesundheits-
förderung eingesetzt werden, um etwa gesundheitsrelevante Informationen zu
vermitteln oder Verhaltensänderungen zu evozieren“ (Tolks et al. 2020, S. 698).
Obwohl Tolks et al. die Chancen digitaler Spieleanwendungen insgesamt sehr
positiv beurteilen, sehen sie als möglichen Nachteil insbesondere „die unter-
schiedlichen Zielgruppen“, die nicht erreicht werden, insbesondere Frauen und
ältere Menschen (ebd. S. 706). Außerdem sehen sie „die Gefahr, dass der Einsatz
von Gamification nicht als unterstützendes Element fungiert, sondern als zen-
traler Aspekt der Anwendung wahrgenommen wird und die eigentlichen Inhalte
in den Hintergrund treten. Durch den Einsatz von Gamification wird zudem die
Tendenz zur individualisierten Gesundheitsförderung verstärkt, die Strukturen und
Institutionen treten dabei in den Hintergrund“.
Dies liegt vor allem an dem Grundproblem, das auch digital eher auf Grup-
pen gezielt als mit ihnen der Dialog gesucht wird. In der Regel machen Politik
und Präventionsforschung, also insbesondere Akademiker*innen, Gesundheits-
probleme bei häufig bildungsfernen, sogenannten „Zielgruppen“ aus. Schon dieser

7 Vgl. https://www.instagram.com/alkohol_kenndeinlimit/?hl=de, Zugriff 7/2020.


Präventionsparadox und Präventionsdilemma: Konsequenzen … 229

unausrottbare Fachterminus macht die Asymmetrie im Agenda-Setting klar. Es


geht zumeist nicht um wahrgenommene Bedarfe der Gruppen, sondern um zuge-
schriebene, vermeintlich objektive Bedarfslagen aufgrund von ökonomischen
(z. B. Ausgabensteigerungen in den Sozialversicherungen) oder gesundheitswis-
senschaftlichen Kriterien (z. B. hohe Morbidität oder Mortalität).
Die Menschenbilder hinter diesen Konzepten sind meistens trivial, gehen
sie doch davon aus, dass beispielsweise vielbeschäftigte Menschen im Arbeits-
leben nicht wissen, wie sie ihre Ressourcen außer- und innerhalb der Arbeit
wieder auftanken können. Ob nun über kleine Tests, lange Broschüren, lustige
Animationen, Computerspielchen oder gelenkte Chatmöglichkeiten, immer soll
irgendwann eine Erkenntnis erfolgen, die möglichst ein „problematisches“ Ver-
halten in eine gewünschte Richtung verändert. Der Kybernetiker von Foerster
hat den Begriff der „nicht-trivialen Maschinen“ geprägt: „Der Großteil unserer
institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu tri-
vialisieren. Ich verwende diesen Begriff ‘Trivialisierung’ genau so, wie er in der
Automatentheorie gebräuchlich ist. Dort ist eine triviale Maschine durch eine fest-
gelegte Input–Output-Beziehung gekennzeichnet, während in einer nicht-trivialen
Maschine (Turingmaschine) der Output durch den Input und den internen Zustand
der Maschine bestimmt wird“ (1993). Bezogen auf die von der Arbeit gestressten
Menschen gehen aber fast alle Programme oder Kampagnen davon aus, dass sie
wüssten, wie welches Verhalten ausgelöst werden kann. Gesundheitsverhalten im
Alltag ist aber keine Frage des Abspulens irgendeines Gesundheitswissens. Selbst
die Pädagogik verfügt mittlerweile über fortschrittlichere Menschenbilder, hält
etwa Siebert (2006, S. 88) fest: „Erwachsene sind lernfähig, aber unbelehrbar.“

5 Verwirklichung statt Volksbeglückung

Ob nun analog oder digital: Gesundheitsförderung und noch viel mehr die
Primärprävention braucht zunächst eine andere Leitidee – eine, die nicht besser-
wisserisch oder volksbeglückend daherkommt. Dies fängt mit dem Ernstnehmen
von Lebensentwürfen und -wirklichkeiten von Menschen an und geht mit der Dia-
logbereitschaft und -fähigkeit von Praktikern weiter. Amartya Sen schlug bereits
2002 „Verwirklichungschancen“ als Denkfigur dafür vor. Verwirklichungschancen
sind für ihn die Möglichkeit jedes Menschen, bestimmte Dinge zu tun und über
die Freiheit zu verfügen, ein von ihm oder ihr für erstrebenswert gehaltenes Leben
zu führen. Aus vielen Einzelprogrammen für ausgesuchte, sogenannte Zielgrup-
pen ergibt sich kein Gesundheitsnutzen für Menschen in multiplen Problemlagen,
230 T. Altgeld

benachteiligte Gruppen oder gar ganze Bevölkerungen. Insgesamt muss des-


halb eine völlig zersplitterte und damit intransparente Präventionsindustrie davon
wegkommen, alles in Einzelthemen und kleinteiligen Zielgruppenvorstellungen
zu organisieren. Es fehlt mehr Denken in Dialog, Partizipation und sozialen
Räumen. Das Ganze müsste zudem fundiert werden durch eine gesundheitsför-
dernde Gesamtpolitik, also Health in all Policies – nur so kommen wir über das
Präventionsdilemma hinweg.

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