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50 FEUILLETON 13.

Oktober 2022 DIE ZEIT N o 42

UNSERE WOCHE
Die andere SERIE oder mach ein Insta-Video davon, wie
du dir die Haare abschneidest! Darauf
würde man sich entgegnen: Äh, aber ich
Richtung Babylon will keine Likes dafür, dass ich mich mit
Menschen solidarisiere, die wirklich in

Afrikanisches Tagebuch VI.


Bielefeld Not sind. Und nach diesem inneren
Schweine-Dialog würde man sich selbst
dann für so redlich halten, dass es einem
Eine Begegnung in der Warum die Zwanzigerjahre gelungen wäre, aus dem schlechten Ge-
Hauptstadt von Madagaskar einfach nicht aufhören wissen wieder ein gutes zu machen, und
das ist auch der ganze Sinn der Übung:
VON NAVID KERMANI Da dachte man, man habe über die Ein schlechtes Gewissen legt man sich zu,
Goldenen Zwanziger schon alles erfah- um sich die eigene Integrität zu beweisen,

A
ren. Und nun muss man auch noch was in Schritt zwei bedeutet, dass man
Volker Bruch als Kommissar Gereon dieses schlechte Gewissen entweder
Rath in der neuen Staffel Babylon Berlin schon los ist oder es eigentlich ganz gerne
(jetzt angelaufen bei Sky) als Under- hat (in etwa das Gleiche).
cover-Nazi durch das Berlin der frühen Deswegen: Sparen Sie Zeit, legen Sie
Dreißigerjahre folgen. Aber ob Goldene sich nicht unters Bett, wenn Sie sich
Zwanziger oder düstere Dreißiger: Am überfordert und nutzlos fühlen! Statt-

Abb.: Tatsuki Fujimoto/Shueisha/Mappa


Ende stehen die Zeichen auf Sturm. dessen empfehle ich Ihnen ein Aufbau-
Die Zwanzigerjahre sind noch immer Programm, nämlich den Instagram-
das Jahrzehnt, in dem sich die Deutschen Account von Britney Spears, ja, genau,
am liebsten bespiegeln. Ein Großteil der der Pop-Königin aus den Nullerjahren,
uf dem Bürgersteig eine Bettlerin mit Faszination verdankt sich dabei auch die vor den Augen der Weltöffentlichkeit
Kleinkind, angelehnt an eine Mauer, jener gängigen Erzählung, wonach da- fulminant abstürzte, dann von ihrem
beider Kleidung, Haare, Haut ver- mals die Mitte der Gesellschaft immer Vater quasi entmündigt wurde und die
dreckt. So viele bettelnde Kinder auf radikaler und immer gespaltener wurde, nun, 20 Jahre später und wieder im Besitz
den Straßen von Antananarivo, da bist bis die Republik plötzlich weg war. Da ihrer Autonomie, für viele Menschen die
du schon froh, wenn du einer Mutter Sehr sympathisch, der Horrorheld in »Chainsaw Man« liegen die Parallelen zum Heute auf der Ikone der Entrechteten ist. Dabei ist sie
begegnest, der du etwas zustecken Hand, wo doch der Ton immer rauer, vor allem die einzige Person auf dieser
kannst, denn den Kindern selbst sollst die Gemengelage immer unübersicht- Welt, die soziale Medien verstanden hat:
du nichts geben. Aber das ist ja auch licher wird. Meint man jedenfalls. In schlecht aufgenommenen, schlecht

Jetzt wird mal


Quatsch, weil sie überhaupt keine Nur sagen viele Soziologen inzwi- beleuchteten, insgesamt überhaupt nicht
Chance hätten, zur Schule zu gehen, schen etwas anderes: Die oft kolportierte bearbeitet wirkenden Bildern zeigt sie sich
statt zu betteln, statt zu schuften, statt These von der Spaltung der heutigen am Strand, etwas zu stark tanzend, mit
auf der Straße zu übernachten. Oft Gesellschaft stimme gar nicht. Zumin- Sonnenbrand, also absolut unperfekt,

zerhackt
haben sie nicht einmal Eltern, wie wir dest nicht im deutschen Fall. So war aber das eigentlich Entscheidende dabei
erfahren haben, als wir sie ansprachen, auch kürzlich auf dem deutschen Sozio- ist: Alles, was ihre Augen sagen – ohne
geschweige denn ein Zuhause oder logenkongress in Bielefeld wieder zu ver- Scham und den Versuch einer ironischen
einen Clan, der sie zum Betteln schickt. nehmen, dass es zwar durchaus zu einer Brechung –, ist: Bitte liebe mich. Um
Obwohl sie auf sich allein gestellt sind, Radikalisierung der Ränder gekommen nichts anderes geht es, wenn man mit
gebe ich den Kindern nichts, höchstens
Dieser Anime bricht alle Rekorde. Was ist nur dran am sei, aber keineswegs zu einer der Mitte. schlechtem Gewissen unter dem Bett liegt
mal was zu essen, und spüre beinah neuen Kettensägenmann? VON FLORIAN EICHEL Die Polarisierungsformel diene daher (und sonst auch). ANTONIA BAUM
physisch, wie sich deswegen mein Herz allenfalls als eine Metapher, empirisch
von Tag zu Tag mehr verschließt. Also belegen könne man sie nicht.
der Mutter ein Scheinchen. Merci, sagt Das sind so die Filme, die entweder einfältig oder nahe selbst von einem Teufel getötet wird, schließt Also doch keine Straßenschlachten.
sie, und rasch gehe ich weiter. pornografisch sind, zu sehen in Kinos mit speckigen Pochita einen Pakt mit ihm. Fortan baumelt eine Keine neuen Zwanzigerjahre, weder DAS ECHTE LEBEN
Einige Minuten darauf komme ich Sitzen oder auf DVDs, die in klebrigen Hüllen Reißschnur von Denjis Brust. Mit einem Ruck kann goldene noch blecherne. Weder in Berlin
ein zweites Mal an ihr vorbei, weil ich stecken: ein Horror. Horror also ist ein Genre, das er sich in den titelgebenden Chainsaw Man ver- noch in Bielefeld, auch nicht im heißen
in die falsche Richtung gegangen war,
und sehe das Kind, vielleicht ein Jahr
nicht unbedingt vorteilhafte Assoziationen hervor-
ruft, die Nische scheint sein Stammplatz zu sein.
wandeln und gegen die Dämonen zurückschlagen.
Eigentlich hatte der Horrorklassiker The Texas
Herbst 2022. So die Diagnose der So-
ziologie. Wie die Geschichte weitergeht,
Diesmal ohne
alt, wie es den Schein sorgfältig rollt
und in die Blechdose steckt, wieder
Dieses Ressentiment wurde gerade klein gehackt
und zerfetzt, und zwar von einem Kettensägen-
Chainsaw Massacre der Kettensäge samt ihren Trägern
einen unverrückbar archetypischen Platz im pop-
will man dann aber schon wissen. Auch
die Geschichte vom verdeckten Ermitt- Bali
herausholt, aufrollt, einrollt und ab- mann. Chainsaw Man, so der Titel der jüngst kulturellen Bewusstsein zugewiesen: den des Bösen. ler Gereon Rath. PETER NEUMANN
legt, eine ganze Weile. Es ist vollkom- gestarteten Horrorserie, ist der am meisten erwar- Der neue Chainsaw Man bedient sich dieser Phobie Warum der beste Filter
men vertieft, und ich bin vertieft in das tete Anime aller Zeiten. Allein der Ankündigungs- – und dreht sie um. Denn der Kettensägenmann kein Filter ist
Kind, aber nicht nur ich, auch die trailer wurde auf YouTube über 15 Millionen Mal ängstigt nicht als Antagonist die Zuschauer; statt-
Mutter, wie ich aus dem Augenwinkel angesehen, ein Branchenrekord. Nur zum Vergleich: dessen zieht er als Held ihre Sympathien auf sich. INSTA Mit Social-Media-Phänomenen ist das
entdecke, sie schaut ebenfalls lächelnd Der erste Trailer der horroraffinen Netflix-Serie Diese Dialektik von Furcht und Bewunderung hatte so eine Sache. Musste man bis vor Kur-
auf ihr Kind, das mit dem Scheinchen
spielt, und schon trifft sich unser Blick.
Stranger Things kommt nicht einmal auf zehn Mil-
lionen Aufrufe. Was ist das für ein Werk, das in
zuletzt den Erfolg von Serien wie Invincible und
The Boys bedingt, in denen Superhelden als instabile Bitte liebe zem noch digital sein Gesicht konturie-
ren, um online mitspielen zu können,
Wir lachen uns an, wirklich hörbar, Zeiten fasziniert, die genügend eigenen Stoff zum Massenvernichtungswaffen dekonstruiert werden, lautet das aktuelle Credo: be real.
wenn auch keine halbe Sekunde lang.
Wir lachen, weil wir das Gleiche sehen,
Fürchten mit sich bringen?
Die Antwort darauf liegt in der kathartischen
die sich jederzeit gegen das Wohl der restlichen
Menschheit entscheiden könnten.
mich BeReal ist eine der derzeit meistgelade-
nen Apps im App Store und fordert
uns über das Gleiche freuen, für eine Funktion, die jede gelungene Horrorgeschichte er- Chainsaw Man hingegen dekonstruiert nicht Nutzer jeden Tag zu unterschiedlichs-
Viertelsekunde entsteht eine Bezie- füllt: unsere Ängste überdeutlich zu allegorisieren unsere Hoffnungen, sondern unsere Ängste. Der-
Mit Britney Spears gegen ten Zeiten, gänzlich ohne Vorwarnung,
hung, obwohl wir auf zwei verschiede- und greifbar zu machen. Chainsaw Man gelingt das Autor Tatsuki Fujimoto nutzt die ästhetischen Topoi die Tristesse dazu auf, ein Foto von sich und der je-
nen Planeten leben, und ihrer könnte mit Bravour. des Horrorgenres, um den Zuschauer zu ermächtigen, weiligen Umgebung zu machen und zu
unwirtlicher nicht sein. Vielleicht den- Schauplatz der Serie ist die gleiche angstzerfressene anstatt ihn das Fürchten zu lehren. Anfangs ist man Die Welt stellt sich gerade täglich auf teilen. Die Idee: Das Inszenierte soll
ken wir sogar das Gleiche, nicht mal Gegenwart, die man mehr oder weniger selbst kennt noch irritiert, wenn das Blut in Fontänen spritzt und den Kopf, es gibt viel zu viel, was ver- dem Authentischen weichen, im Mittel-
eine halbe Sekunde lang, denken bang, – nur dass in Chainsaw Man kollektiv gehegte Körperteile in lapidarer Regelmäßigkeit abgehackt standen oder gar getan werden müsste, punkt steht der ehrliche, nackte Alltag.
was für eine Zukunft dieses Kind wohl Ängste als Teufel zum Leben erwachen. Tagtäglich werden, dann stellt sich eine tranceartige Faszination und man will sich also am liebsten ein- Keine Flucht zu den Fotos der letzten
haben mag, wenn nicht zu betteln, zu suchen so etwa die Personifikationen der Furcht vor ein. Mit jedem scheinbar unüberwindbaren Teufel, fach unters Bett legen. Da würde man Bali-Reise, keine Filter, die die Zähne
schuften, früh zu sterben wie all die Fledermäusen, vor Nadeln oder vor Bomben die den Denji in Stücke haut, hat man selbst das Gefühl, dann aber ein schlechtes Gewissen be- aufhellen. Berühmt mag man damit
anderen Kinder auf den Straßen – und Menschheit heim, die sich dagegen nur leidlich zu einen Teil der eigenen Ängste zersägt zu haben. Kein kommen, man würde denken: Ent- vielleicht nicht werden, dafür tröstet
sind froh, dass es sich im Spiel vergisst. wehren vermag. Allein der verarmte Teenager Denji Wunder also, dass Chainsaw Man solch einen Anklang schuldigung, aber du hast keine ernsten einen das Wissen, dass das eigene Le-
Rasch gehe ich weiter, in die andere schafft es, sich mit einem der Wesen, dem Ketten- findet. Noch nie war Horror so wohltuend, eine Sorgen, sei proaktiv, geh spenden, ben auch nicht viel langweiliger ist als
Richtung jetzt. sägenteufel Pochita, anzufreunden. Als Denji bei- Kettensäge so therapeutisch. twittere einen klugen Satz zur Ukraine, das der anderen. EVA SAGER

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DIE ZEIT N o 42 13. Oktober 2022 SINN & VERSTAND 51

Die philosophische Seite

A Und was ist


lles sollte anders werden. Aber wo ist vorn? Da ist zum Beispiel die
Zumindest in Berlin hatte Dichterin, Malerin und Bohemienne Franziska
man sich für den Jahrhun- Gräfin zu Reventlow, die zur selben Zeit, als
dertwechsel 1899/1900 in Thomas Mann mit der zweiten Auflage seiner
Form gebracht. Tausende Familiensaga Buddenbrooks endlich der literari-
der ständigen oder zeitwei- sche Durchbruch gelingt, in der Schwabinger

mit morgen?
ligen Bewohner der Haupt- Boheme mit ihrem heute fast schon vergessenen
stadt strömten abends nach elf Uhr aus den Debüt Ellen Olestjerne für Furore sorgt. Un-
Theatern, Varietés und Kaffeehäusern auf die gezügelt soll das Leben sein, frei und selbst-
Straße. Ob aus Charlottenburg, Schöneberg bestimmt. Die Gräfin, die es aus dem hohen
oder Rixdorf, aus allen Nachbarstädten waren Norden in den Süden verschlagen hat, treibt sich
die Menschen nach Mitte gekommen, um an auch im Kreis der »Kosmiker« um den Meister
den Silvesterfeierlichkeiten zwischen Branden- Stefan George herum. Als es dort aber zu anti-
burger Tor und Rotem Rathaus teilzunehmen. semitischen Angriffen auf ihren Freund Karl
Das Jahrhundert von Napoleon, Goethe und Wolfskehl kommt, wird es der Gräfin zu viel. Sie
Bismarck war vorbei. Wer oder was kam nun?
Die Welt wartet auf rettende Ideen. Doch die Zeit der großen Utopien ist vorbei. ist auf der Suche nach etwas anderem, viel Hand-
Als das 20. Jahrhundert in den Startlöchern
stand, hatte einer bereits mit ihm gründlich
Wer sich in der Geschichte umsieht, kann aber spüren: festerem als dem Geraune dieses geheimnis-
umwitterten Kreises: Franziska zu Reventlow ist
Schluss gemacht. Schon 1883 spottete Friedrich Die Zukunft lässt sich auch heute neu entwerfen VON PETER NEUMANN eigentlich nur hungrig nach Leben.
Nietzsche über seine Zeitgenossen, denen er Da ist der irische Dramatiker Samuel
den Titel der »letzten Menschen« gab, sie hätten Beckett, der auf seiner Reise durch Deutschland
ihr »Lüstchen für den Tag« und ihr »Lüstchen im Winter 1936/37 nicht nur mit ansieht, wie
für die Nacht« und seien auch sonst leider recht mehr und mehr Kunstgegenstände, expressio-
bequem in ihren Ansichten. Zu bequem. Nietz- nistische Werke von Emil Nolde, Ernst Ludwig
sche fühlte sich erdrückt und wollte Platz schaf- Kirchner oder Karl Schmidt-Rottluff, in den
fen für etwas radikal Neues. Und auch wenn er unterirdischen Magazinen der Museen ver-
kein gutes Haar an seinen Mitmenschen ließ, schwinden, zerstört oder für harte Devisen ins
so war sein Denken doch von einer großen uto- Ausland verkauft werden. Am 30. Januar 1937,
pischen Kraft durchdrungen. Alles sollte anders auf den Tag genau vier Jahre nach der Macht-
werden. Die Gesellschaft, und am besten auch ergreifung der Nazis, reist Beckett nach Dresden
gleich der Mensch. und steht in der Alten Akademie plötzlich vor
Heute hingegen, ein langes Jahrhundert an einem Bild, das ihm die Augen öffnet. Caspar
Ernüchterung und Illusionslosigkeit später, David Friedrichs Zwei Männer in Betrachtung
sucht man nach Utopien vergebens. Und man des Mondes, eines der deutschesten aller deut-
darf sich dabei wundern: Wäre es nicht gerade schen Gemälde, wird später zur Inspiration für
jetzt, wo das Alte vergangen und das Neue seinen Welterfolg Warten auf Godot.
bereits jenseits der Schwelle in Sichtweite sein Da ist aber auch die Philosophin Hannah
soll, genau dafür an der Zeit? Für einen großen Arendt, die 1949 im Auftrag einer jüdischen
Wurf, einen überraschenden Zug, einen präzi- Restitutionsorganisation nach 16 Jahren Exil in
sen Pass aus der Tiefe des Raums? Zeitenwende! ein völlig zerstörtes Deutschland zurückkehrt
Doch gehorcht die krisengeschüttelte Ge- und trotz der Ausflüchte der Menschen, die ihr
genwart von heute einem anderen Manöver. auf den Marktplätzen und Straßen und in den
Die Zukunft hält nicht mehr, was sie verspricht, Büros der Ministerien begegnen, das Vertrauen
die Gegenwart ist diffus und unübersichtlich in ihre Zeitgenossen nicht aufgeben will. Denn
geworden, und die Vergangenheit gibt keine ohne jedwedes Vertrauen auf das bereitwillige
Ruhe und kehrt in längst überholten Vorstel- Entgegenkommen eines anderen Menschen, so
lungen zurück. Utopien, kühne Zukunfts- Arendt, wären nicht nur das gemeinsame
träume, wirken da sperrig. Und überhaupt Gespräch, sondern ausnahmslos alle zwischen-
scheint es einen allgemeinen Verdacht zu ge- menschlichen Beziehungen am Ende. Es ergäbe
ben: Kommen Utopien nicht aus dem Grusel- dann schlicht keinen Sinn mehr, von Person
kabinett von vorgestern? Haben große Visio- und Moral, von Freiheit und Verantwortung
nen nicht schon immer für die allergrößten zu sprechen. Wenn überall nur der Verdacht
Schäden gesorgt? regierte, wäre alle Hoffnung verloren.
Bereits Mitte der Achtzigerjahre stellte Und da ist schließlich auch die Essayistin
Jürgen Habermas eine »Erschöpfung der uto- und public intellectual Susan Sontag, die 1993
pischen Energien« fest. So wie am Ende des in die belagerte Stadt Sarajevo aufbricht, um
18. Jahrhunderts mit den Idealen der Franzö- sich nicht nur ein Bild vom Krieg in Jugosla-
sischen Revolution die Paradieshoffnungen ins wien zu machen, sondern auch Becketts Warten
Diesseits eingewandert seien, komme es heute, auf Godot auf die Bühne zu bringen. »Warten
zweihundert Jahre danach, so Habermas, zu auf Godot«, das hieß für die Menschen in
einer Entladung ebendieser Spannung. Kein Sarajevo damals so viel wie »Warten auf
goldenes Zeitalter also, kein »ewiger Frieden«, Clinton«. Warten auf die Unterstützung der
wie ihn der Aufklärer Immanuel Kant der internationalen Gemeinschaft. 1395 Tage. So
Weltgemeinschaft vormals in Aussicht gestellt lange dauerte die Belagerung der bosnischen
hatte. Und in der Tat konnte ein Blick in die Stadt. Für Susan Sontag, die auf dem Theater
unübersichtliche Welt schon damals Sorgen die Stellung hielt, hieß die Zeit, die sie zwischen
und einiges Kopfzerbrechen bereiten. den Trümmern zubrachte, oft auch nur »Warten
Die Spirale des Wettrüstens, die strukturelle auf die Requisiten«.
Verarmung der Entwicklungsländer, Arbeits- Wer sich mit offenen Augen auf eine Reise
losigkeit, wachsende soziale Ungleichheit, Um- durch das »Jahrhundert der Extreme« begibt –
weltbelastungen, dazu die sensiblen Großtech- so hat es der Historiker Eric Hobsbawm ge-
nologien, die jederzeit außer Kontrolle geraten nannt –, wird noch viele weitere solcher utopi-
konnten. Nur ein Jahr nach Habermas’ Erschöp- schen Momentaufnahmen finden und weitere
fungsdiagnose meldete sich auch der Soziologe mutige Denkerinnen und Denker, die sich vom
Ulrich Beck mit seinem Buch Risikogesellschaft Philosophieren, Forschen, Schreiben, Malen,
zu Wort, in dem er in geradezu unheimlicher Komponieren nicht abbringen ließen. Sie
Parallelität zur Reaktorkatastrophe in Tscherno- bilden untereinander ein loses, aber resonantes
byl ein atomares Gefahrenzeitalter von bisher Netzwerk von Freunden, Vertrauten, nahen
nie da gewesenem Ausmaß erkannte. und fernen Bekannten, in dem über die Zeiten
Nach dem Ende des Booms moderner Er- hinweg bestimmte Begriffe, Stile, Erfahrungen
lösungsverheißung fing die Zukunft an, negativ und Ideen immer wieder neu belebt werden.
besetzt zu werden. Bisher hatten die Wegweiser Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie Utopien
klar in eine andere Richtung gezeigt: Immer nicht als Bauanleitung für die Geschichte,
weiter sollte es gehen. Sowohl technisch als sondern stattdessen als eine Art des In-der-
auch moralisch. So lautete zumindest das Fort- Welt-Seins begriffen. Nicht wie die Welt
schrittscredo des 20. Jahrhunderts. Und für die beschaffen sein soll, verlangten sie von der
Foto: plainpicture/Callum Ollason

dreißig Jahre nach dem Ende des Zweiten Zukunft zu wissen, sondern wie sie auch
Weltkriegs, die »Trente Glorieuses« (1945–1975), beschaffen sein könnte.
schien das Versprechen von wirtschaftlichem Vieles an den Geschichten von damals mag
Aufschwung und gesellschaftlichen Liberali- heute vielleicht nicht mehr aktuell erscheinen.
sierungen auch mehr oder minder in Erfüllung So wie jede unglückliche Familie auf ihre
gegangen zu sein. Weise unglücklich ist, so ist auch jede besorgte
Aber auf einmal war die Luft raus. Selbst als Zeit auf ihre Weise alarmiert. Aber Krisen-
wenige Jahre später die Mauer in Berlin fiel Auch in einer Seifenblase kann es wirbeln, ohne dass sie platzt stimmung und Zukunftsängste hat es auch
und ein Beamter des US-Außenministeriums, schon zuvor gegeben. Und sie wurden schließ-
ein bis dahin vollkommen unbekannter Politik- lich bezwungen: Aus Krieg und Gewalt ging
wissenschaftler namens Francis Fukuyama, das 1919 in Weimar eine junge Demokratie her-
Ende der Geschichte ausrief, führte das allenfalls Aber spätestens mit den Anschlägen auf HINTER DER GESCHICHTE Energien mit der Französischen Revolution in vor. Aus der moralischen Katastrophe von
für einen kurzen historischen Augenblick zu die Zwillingstürme in New York 2001, der die Geschichte einwanderten, dann sind sie Auschwitz heraus, dem absoluten Tiefpunkt,
einer Regeneration der ideologischen Reserven. Finanzkrise von 2008 und der Wahl Donald In seinem letzten Buch »Jena 1800« heute aus ihr ausgewandert. Nur, niemand erblickte die Allgemeine Erklärung der Men-
Denn für einen Dienst nach Vorschrift wollte Trumps zum amerikanischen Präsidenten hat Peter Neumann von der romantischen weiß, wohin. schenrechte das Licht der Welt. Die Lehre, die
sich die Geschichte auch nach dem Zusam- 2016 sollten die Fanfarenklänge des liberalen Republik der freien Geister erzählt und In Momenten wie diesen kann es von Vorteil sich heute aus Nietzsches Spott über den
menbruch des Ostblocks und dem vermeint- Universalismus endgültig stiller werden. Und den Freundeskreis um Novalis und die sein, für einen Moment die Augen zu schließen, »letzten Menschen« ziehen lässt, ist so nüch-
lichen Siegeszug der liberalen Demokratien des nun hat die russische Invasion in der Ukraine Brüder Schlegel porträtiert. Seit einem Jahr sie wieder zu öffnen und den Blick in eine ande- tern wie folgenreich: So hoffnungslos der Fall
Westens partout nicht einspannen lassen. auch noch die letzten Töne des Triumph- ist der 35-jährige Philosoph und Lyriker re Richtung schweifen zu lassen. Weg von den auch immer sein mag, es gibt nur diesen einen
Vielmehr bestätigte sich bald der Verdacht, gesangs von einst zum Verstummen gebracht. Redakteur im Feuilleton der ZEIT. großen ideologischen Höhenflügen des vergan- Menschen. Wenn der letzte Mensch ver-
dass die Erschöpfung der utopischen Energien Weit davon entfernt, noch einmal die Sachen In seinem neuen Buch, das Ende Oktober genen Jahrhunderts, hin zu den Ahnungen, Ab- schwindet, kommt lange Zeit nichts.
nicht nur eine vorübergehende kulturpessimis- zu packen und sich auf große Expansionsreise erscheinen wird, denkt er über die schweifungen und Zukunftsträumen, die sich Die Geschichte wurde oft als eine zyklische
tische Stimmungslage war, sondern tiefer reichte in die Zukunft zu begeben, geht es längst um Geschichte der Zukunftsentwürfe nach, unterhalb jener verharschten und vergletscherten Kreisbewegung beschrieben, dann wieder als
und an die Substanz ging. Nicht nur das sozia- das Vertrauen der westlichen Kultur und ihrer es heißt: »Feuerland. Eine Reise ins lange Gipfelregionen befinden. Diesseits der Schnee- eine aufsteigende Linie, im vergangenen Jahr-
listische Experiment im Osten war gescheitert, Eliten in sich selbst. Jahrhundert der Utopien 1883–2020« grenze, in den vegetativen Zonen, lassen sich hundert endete sie mehr als einmal in der
auch der Westen stand vor einem gewaltigen Was die Erschöpfung der utopischen Ener- (Siedler). Den Essay über die Frage, was Personen und ihre Lebensgeschichten entdecken, Katastrophe. Eines der ersten überlieferten
Transformationsprozess, dem mit unverbrüch- gien bedeutet, wird eigentlich erst heute, in der morgen wird, hat er für diese Seite verfasst. die auch für morgen noch Mut und Kraft zu Geschichtsbilder stammt von dem Vorsokrati-
licher Siegesgewissheit nicht mehr beizukom- Nachspielzeit des 20. Jahrhunderts, deutlich, geben versprechen. Weil die Philosophinnen, ker Anaxagoras aus dem 5. Jahrhundert vor
men war. Die dringend benötigte Reform des wenn die Verdichtung verschiedenster Krisen Die nächste Seite Sinn & Verstand Dichter, Malerinnen, Musiker und Lebens- Christus, der sie sich als fortlaufende Welle von
sozialen Wohlfahrtsstaates war nur eines von zwar tatsächlich eine Zeitenwende erfordern erscheint am 10. November künstler, um die es dabei geht, vor den Krisen »Wirbeln« vorstellte, in denen nichts verloren
vielen Sanierungsprojekten, die den Druck im würde, aber entweder der politische Wille, die ihrer Zeit nicht kapitulierten, sondern sich ihnen ging. Nicht das Böse. Aber eben auch nicht das
Inneren des Kessels ansteigen ließen. So, wie es soziale Kraft oder der intellektuelle Kompass mit aller Macht und manchmal auch mit der Gute. Nicht die mitschwingende Resignation.
war, konnte es jedenfalls nicht bleiben. dafür offenbar fehlen. Wenn die utopischen nötigen Portion Glück entgegenstellten. Aber eben auch nicht die utopischen Fantasien.

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