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Die Geschichte von den beiden Pantoffeln

Quelle: Tausend und ein Tag - Orientalische Erzählungen

Es lebte zu Bagdad ein seines Geizes wegen berühmter


Kaufmann namens Abu-Kasem-Tamburifort. Obwohl er sehr
vermögend war, bestanden seine Kleider doch nur aus zu-
sammengeflickten Lumpen; sein Turban aus grobem Linnen
war so schmutzig, daß man seine ursprüngliche Farbe nicht
mehr erkennen konnte; doch von allen seinen Kleidungsstü-
cken verdienten seine Pantoffeln die größte Aufmerksamkeit
der Neugierigen: die Sohlen waren mit großen Löchern verse-
hen, das Oberleder aber war über und über geflickt. Niemals
hat das berühmte Schiff von Argos aus mehr Stücken bestan-
den, und seit zehn Jahren – so alt waren die Pantoffeln – hat-
ten die geschicktesten Schuhflicker Bagdads ihre Kunst in An-
wendung gebracht, um die Trümmer auszubessern. Und sie
waren darüber so berühmt geworden, daß sie sprichwörtlich
wurden; und wenn man irgendeine törichte Sache ausdrücken
wollte, mußten Kasems Pantoffeln immer zum Vergleich her-
halten.
Eines Tages nun ging unser Kaufmann in dem großen
Basare der Stadt auf und ab; man schlug ihm vor, eine be-
trächtliche Menge Kristallgläser zu kaufen; er schloß den Han-
del ab, denn er war vorteilhaft; zudem hatte er erfahren, daß
wenige Tage später ein zugrunde gerichteter Händler von
Wohlgerüchen um jeden Preis Rosenöl verkaufen mußte; Ka-
sem zog seinen Vorteil aus dem Unglücke dieses Mannes und
kaufte ihm sein Rosenöl um die Hälfte des Wertes ab; solch
prächtiges Geschäft versetzte ihn in fröhliche Stimmung; an-
statt jedoch nun nach Sitte der Kaufleute, die einen günstigen
Handel abgeschlossen haben, ein großes Fest zu geben, hielt
er es für ratsamer, ins Bad zu gehen, wo er seit langem nicht
gewesen war.
Als er nun seine Kleider auszog, sagte einer seiner
Freunde, oder wenigstens hielt er ihn für einen solchen, zu
ihm, daß seine Pantoffeln der ganzen Stadt zum Gerede dien-
ten, und er sich wirklich neue kaufen müßte. »Ich überlege es
mir schon lange,« entgegnete Kasem, »aber sie sind noch
nicht so abgenützt, daß sie mir nicht mehr zum Gebrauche
dienen könnten.« Also plaudernd, war er ausgekleidet und
trat in den Baderaum.
Während er sich wusch, kam der Kadi von Bagdad an,
um auch ein Bad zu nehmen. Kasem war vor dem Richter fer-
tig und ging in den ersten Raum zurück, nahm seine Kleider
und suchte vergebens nach seinen Pantoffeln: eine neue Fuß-
bekleidung stand an Stelle der seinigen da; unser Geiziger re-
dete sich ein – dieweil er es wohl wünschen mochte –, daß sie
ein Geschenk dessen wäre, der ihm so gut zugeredet hatte,
und zog die schönen Pantoffeln an, die ihm den Kummer,
neue zu kaufen, ersparten, und verließ freudigen Herzens das
Bad.
Als der Kadi sich gebadet hatte, suchten seine Sklaven
vergeblich die Pantoffeln ihres Gebieters; sie fanden nur ganz
elende Schuhe, die man bald als die Kasems erkannte. Die Ge-
richtsdiener eilten dem vermeintlichen Schelme nach und
brachten den des Diebstahls Überführten zurück; der Kadi
tauschte die Pantoffeln um und schickte ihn ins Gefängnis. Er
mußte sich aus den Händen der Gerechtigkeit loskaufen; und
da Kasem für mindestens ebenso reich wie geizig galt, ließ
man ihn nur um einen teuren Preis laufen.

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In seine Wohnung zurückgekehrt, warf der gebeugte
Kasem in zorniger Aufwallung seine Pantoffeln in den Tigris,
der unter seinen Fenstern hinschlich; einige Tage hernach
glaubten Fischer einen reicheren Fang als gewöhnlich zu tun,
es waren jedoch Kasems Pantoffeln. Die Nägel aber, mit denen
sie beschlagen waren, hatten die Maschen des Netzes zerris-
sen.
Die auf Kasem und seine Pantoffeln erbosten Fischer
beschlossen, sie durch die Fenster, die offen geblieben waren,
in sein Haus zu werfen; die mit aller Wucht geschleuderten
Pantoffeln streiften die Gläser, die auf einem Sims standen,
und warfen sie um: die Flaschen zerbrachen, und das Rosenöl
war verloren.
Man wird sich, wenn man es vermag, Kasems Schmerz
angesichts einer solchen Verwüstung vorstellen können.
»Elende Pantoffeln,« rief er aus, »ihr sollt mir keinen Schaden
weiter zufügen!« Sprachs und nahm einen Spaten und grub
ein Loch in seinem Garten, um seine alten Schuhe darin zu
versenken.
Seiner Nachbarn einer nun, der ihm seit langem übel-
wollte, bemerkte, wie er die Erde aufwühlte, lief alsobald zum
Statthalter und benachrichtigte ihn, daß Kasem einen Schatz in
seinem Garten ausgegraben habe; es gehörte nicht viel dazu,
um die Habgier des Statthalters anzufachen. Unser Geizhals
konnte noch so oft versichern, er hätte keinen Schatz gefun-
den und einzig und allein seine Pantoffeln einscharren wollen:
der Statthalter hatte auf das Geld gerechnet, und der nieder-
geschmetterte Kasem erhielt die Freiheit nur um sehr schwe-
res Geld.
Unser verzweifelter Mann verwünschte die Pantoffeln in

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seinem Herzen zum Teufel und warf sie jetzt in eine von der
Stadt entfernte Wasserleitung; er glaubte für dieses Mal, er
würde nicht mehr von ihnen sprechen hören, aber der Teufel,
der nicht müde wurde, ihm Possen zu spielen, lenkte die Pan-
toffeln gerade in die Röhre der Wasserleitung, wodurch der
Wasserstrahl gehemmt wurde. Die Brunnenwärter eilten hin-
zu, um dem Schaden abzuhelfen; sie fanden die Schuhe, tru-
gen sie zum Statthalter und erklärten Kasem für den Urheber
des Übels.
Der unglückliche Pantoffelbesitzer wurde gefangen ge-
setzt und zu einer sehr viel empfindlicheren Buße verurteilt als
die beiden ersten Male; der Statthalter, der das Vergehen be-
straft hatte, wollte jedoch nichts von ihm zurückbehalten und
lieferte ihm getreulich seine Pantoffeln wieder aus. Kasem
beschloß, sie zu verbrennen, um endlich von allem Übel, das
sie ihm verursacht hatten, loszukommen; da sie aber von
Wasser durchtränkt waren, stellte er sie, um sie an der Sonne
trocknen zu lassen, auf den Altan seines Hauses.
Doch das Schicksal hatte noch nicht all seine Bosheit
gegen ihn ausgespielt, und die letzte, der es ihn aussetzte, war
die grausamste von allen. Der Hund eines Nachbars bemerkte
die Schuhe, sprang von dem Altane seines Herrn auf den unse-
res Geizigen, nahm einen Pantoffel in sein Maul, und mit ihm
spielend, warf er ihn auf die Straße; der unselige Schuh fiel
einer schwangeren Frau auf den Kopf, die gerade am Hause
vorüberging. Der Schreck und die Wucht des Schlages bewirk-
ten bei der verwundeten Frau eine Fehlgeburt; ihr Gatte führ-
te beim Kadi Klage, und Kasem wurde verurteilt, eine dem
Unglück, das er verursacht hatte, entsprechende Buße zu zah-
len.
Er wollte in sein Haus zurückkehren; und seine beiden

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Pantoffeln in die Hände nehmend, sagte er zum Kadi mit einer
Heftigkeit, die dem Richter ein Gelächter entlockte: »O Herr,
dies ist der verhängnisvolle Gegenstand aller meiner Leiden;
diese verwünschten Pantoffeln haben mich an den Bettelstab
gebracht; geruhe zu befehlen, daß man mich nicht mehr für
das Unheil, so sie zweifelsohne noch verursachen werden,
verantwortlich macht.« Der Kadi konnte ihm seine Bitte nicht
abschlagen; und Kasem hatte unter großen Kosten das Übel
kennengelernt, das daraus entsteht, wenn man nicht oft ge-
nug seine Pantoffeln wechselt,

-- Ende ---

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Nacherzählung und Analyse - Heinrich Zimmer

Indische Geschichte aus einer Nacherzählung von Heinrich


Zimmer aus seinem Buch "Weisheit Indiens. Märchen und
Sinnbilder" 1938 im L.C. Wittich Verlag in Darmstadt erschie-
nen. S. 51-71.
Wer kennt die Geschichte von Abu Kasem und seinen Pantof-
feln? Diese Pantoffeln waren seinerzeit in Bagdad so bekannt,
ja berühmt, wie der große Geschäftemacher und Geizhals sel-
ber: Sie galten jedermann als das sinnfällige Zeugnis seines
schmutzigen Geizes. Abu Kasem war reich und suchte es um-
sonst zu verhehlen, aber seiner Pantoffeln hätte sich der
Ärmste geschämt, — so waren sie über und über aus Flicken
gestückt. Allen Flickschustern Bagdads eine Qual und altbe-
kannte Kundschaft, waren sie im Munde der Bürger sprich-
wörtlich geworden: Wollte man irgend etwas Törichtes aus-
drücken, so zog man sie vergleichsweis heran.
Mit diesen Pantoffeln angetan, die unzertrennlich von seiner
Erscheinung waren und wie das Wahrzeichen seines bis zur
Knickrigkeit entwickelten Geschäftssinnes, ging Abu Kasem
täglich durch den Basar. Einmal tätigte er einen glücklichen
Gelegenheitskauf: einen großen Posten Kristallfläschchen, die
gerade zu einem Schleuderpreise zu haben waren. Er kombi-
nierte damit die Chance, wenige Tage darauf von einem zu-
grunde gegangenen Parfümhändler einen großen Posten Ro-
senöl billigst einzuhandeln. Das gab zusammen ein gutes Ge-
schäft, viel besprochen im Basar, und wäre er nicht Abu Kasem
gewesen, er hätte es in üblicher Weise mit ein paar Geschäfts-
freunden durch ein kleines Festmahl gefeiert, so aber versetz-
te ihn die gehobene Stimmung in die Laune, sich selber etwas

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Gutes anzutun, dass er sich selten vergönnte: Er beschloss ins
öffentliche Bad zu gehen, wo er schon länger nicht mehr ge-
wesen war.
Im Vorraum, wo man Kleider und Schuhe zurücklässt, traf er
einen Bekannten, der ihm Vorhaltungen machte wegen seiner
Pantoffeln, — er legte sie gerade ab, und man konnte sehen,
wie unmöglich sie waren. Der Freund redete ihm ernstlich ins
Gewissen, sich nicht länger zum Gerede der ganzen Stadt zu
machen, ein so glücklicher Geschäftsmann wie er müsse sich
endlich ein paar neue leisten. Abu Kasem betrachtete die ihm
lieb gewordenen Greuel lange und schweigend, schließlich
sagte er: „Ich überlege es mir schon lange, aber sie sind noch
nicht so abgenutzt, dass sie mir nicht zum Gebrauche dienen
könnten". Damit gingen die beiden, ausgekleidet wie sie wa-
ren, in den Baderaum.
Indes Abu Kasem sein seltenes Bad genoß, kam auch der Kadi
von Bagdad, ein Bad zu nehmen. Abu Kasem war früher fertig
als der mächtige Herr Richter, er ging in den Ankleideraum
zurück und zog sich an, — aber wo? ja wo waren seine Pantof-
feln? — sie waren verschwunden; an ihrer Stelle, oder beinahe
genau an ihrer Stelle, stand ein Paar anderer, wunderschöner,
augenscheinlich nagelneuer. Sollten die ein Geschenk, eine
kleine Überraschung von sSeiten seines Bekannten sein, der es
einfach nicht länger mit ansehen konnte, seinen viel reicheren
Freund Abu Kasem in den abgetragenen Dingern einhergehen
zu sehen, und sich bei dem Wohlvermögenden durch eine
zarte Aufmerksamkeit einschmeicheln wollte? Jedenfalls zog
Abu Kasem diese Pantoffeln, die ihm den großen Kummer er-
sparten, sich neue kaufen zu müssen, unter solchen Erwägun-
gen ohne Gewissensbisse an und verließ das Bad.
Als der Kadi aus dem Bade kam, setzte es eine Szene: nirgends

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konnten seine Sklaven die Pantoffeln ihres Herren finden, nur
ein Paar scheußlichen Flickwerks blieb übrig, das jedermann
als die stadtbekannte Fußbekleidung Abu Kasems erkannte.
Der Kadi fauchte, ließ Abu Kasem in seiner Wohnung verhaf-
ten, er wurde eingesperrt, denn die Gerichtsdiener fanden
wirklich die Pantoffeln des Kadi bei ihm. Es kostete den Geizi-
gen eine gute Stange Geld, sich aus den Klauen der Justiz los-
zukaufen, da er für mindestens so reich galt, wie er geizig war.
Man machte ihm einen entsprechenden Preis, — aber dafür
bekam er auch seine lieben alten Pantoffeln wieder.
Gramgebeugt warf er, in seine Wohnung heimgekehrt, die
Unglückspantoffeln, die lange zärtlich gehegten, in einer Wal-
lung tiefen Unmuts aus dem Fenster: Sie flogen in den Tigris,
der schlammig unter seinem Hause hinzog. Ein paar Tage spä-
ter meinten Fischer einen ganz besonders pfundigen Fisch im
Flusse gefangen zu haben, aber es waren bloß die Flickenpan-
toffeln des alten Geizkragens, deren Nägelbeschlag — eine
ökonomische Nuance Abu Kasems — ihnen Löcher ins Netz
gerissen hatte. Wütend schleuderten sie die schlammbedeck-
ten, wasserschweren Dinger durch ein Fenster, das gerade
offenstand, ihm ins Haus zurück. Sie segelten durch die Luft
und landeten mit voller Wucht auf einem Tisch, der reihen-
weis jene billig erworbenen, wertvollen Kristallflakons trug, —
wertvoller noch durch das köstliche Rosenöl, mit dem Abu
Kasem sie inzwischen verkaufsfertig gefüllt hatte. Sie fegten
die ganze Herrlichkeit zu Boden, da lag sie: ein triefender Hau-
fen Scherben vermengt mit Schlamm.
Der Erzähler, bei dem wir Abu Kasems Geschichte lesen, ver-
zichtet darauf, seinen Kummer zu malen. „Elende Pantoffeln",
rief der Ärmste aus, „ihr sollt mir keinen Schaden mehr zufü-
gen." Sprach's, nahm einen Spaten, begab sich still und ge-

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schwind in seinen Garten und grub ein Loch, um die Unglücks-
dinger darin zu versenken. Aber diese Anstalten zu ihrem stil-
len Begräbnis bemerkte Abu Kasems Nachbar, den alles, was
der reiche Mann nebenan tat, natürlich maßlos interessierte
und der — wie Nachbarn leicht sind — keinen Grund hatte,
ihm wohlzuwollen. Der Geizhals, der Diener genug hat, gräbt
höchst persönlich und heimlich in seinem Garten, er gräbt ein
Loch. Er gräbt einen Schatz aus, das ist klar! Der Nachbar lief
zum Statthalter und zeigte Abu Kasem an; was ein Schatzgrä-
ber findet, gehört doch dem Kalifen; die Erde und was sie
birgt, ist Eigentum des Beherrschers der Gläubigen. Abu Ka-
sem wird vor den Statthalter zitiert, seine Erklärung, er habe
die Erde nur aufgegraben, um ein Paar alte Pantoffeln darin zu
verscharren, erregt Gelächter, — hat man je einen Verdächti-
gen sich alberner verantworten hören? Je mehr er sich auf
seine Angaben versteift, desto unglaubwürdiger, strafbarer
wird er. Der Statthalter rechnete schon mit dem Schatz, und
der niedergedonnerte Abu Kasem erhielt seine Freiheit nur für
schweres Geld.
Er war verzweifelt, er wünschte die Unglückspantoffeln zu
allen Teufeln, — aber wie sollte er sie loswerden? Fort mit
ihnen aus der Stadt! Er pilgerte hinaus und versenkte sie
schließlich weit weg in einem Teich; als sie in seinem stillen
Spiegel versanken, atmete er auf, sie glücklich los zu sein. Aber
hatte der Teufel die Hand im Spiel? — der Teich war ein Stau-
becken, das die Wasserleitung der Stadt speiste, die Pantof-
feln gerieten in das Zuleitungsrohr und verstopften es. Die
Brunnenwärter rückten an, den Schaden zu beheben, sie fan-
den die Pantoffeln und — wer kannte sie nicht ? — zeigten
Abu Kasem beim Statthalter wegen Verunreinigung der öffent-
lichen Leitungen an. Schon saß er wieder im Loch und wurde

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zu einer Geldbuße verurteilt, die noch empfindlicher war als
die beiden früheren Male. Was blieb ihm übrig? Er zahlte sie
und kam frei, — dafür bekam er auch seine lieben alten Pan-
toffeln wieder, denn der Fiskus bereichert sich nicht.
Das Maß war voll; diesmal wollte er ihnen ein Ende bereiten,
dass sie ihm keine Streiche mehr spielen sollten. Er beschloss,
sie zu verbrennen. Aber sie waren noch nass, daher legte er
sie oben auf den Altan seines Hauses, die Sonne sollte sie
trocknen. Ein Hund auf dem Altan des Nachbarhauses sah die
komischen Dinger liegen, sie interessierten ihn, er sprang her-
über und schnappte sich einen Pantoffel. Aber wie er mit ihm
spielte, ließ er ihn fallen -- vom Altan auf die Straße. Das unse-
lige Ding sauste aus beträchtlicher Höhe herunter und schlug
geradewegs einer [Frau] auf den Kopf. Es war eine Schwange-
re, die ausgerechnet in diesem Augenblick unter Abu Kasems
Hause vorüberging. Der jähe Schreck und die Wucht des Auf-
pralls bewirkten bei der Armen eine Fehlgeburt, ihr Mann lief
zum Kadi und klagte den Reichen auf Schmerzensgeld und
Schadenersatz. Abu Kasem war schier von Sinnen, aber er
zahlte.
Ehe er aber aus dem Gericht nach Hause wankte, ein völlig
gebrochener Mann, hob er die Unglückspantoffeln in beiden
Händen beschwörend empor und sagte mit einer Heftigkeit,
über die der Kadi einen Lachanfall bekam: „O Herr, dies ist der
verhängnisvollste Gegenstand aller meiner Leiden, diese ver-
fluchten Pantoffeln haben mich an den Bettelstab gebracht;
geruhe zu befehlen, dass man mich nicht mehr für das Unheil
verantwortlich macht, das sie ohne Zweifel noch anrichten
werden!" — Der orientalische Erzähler schließt seine merk-
würdige Geschichte mit den Worten: Der Richter konnte ihm
seine Bitte nicht abschlagen, und Abu Kasem hatte unter gro-

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ßen Kosten das Übel kennengelernt, das daraus erwächst,
wenn man nicht oft genug seine Pantoffeln wechselt.

Ist das die ganze Nutzanwendung, der ganze Ernst der komi-
schen Geschichte? — eine triviale Belehrung: sich nicht vom
Geiz versklaven zu lassen —, was enträtselt sie an dem sinn-
vollen Spiele des Zufalls, das die teuren Pantoffeln immer wie-
der ihrem Herrn zurückbringt? Der Witz der grotesken Ge-
schichte liegt doch in den tückischen Wiederholungen des
Gleichen und wie sie sich steigern, liegt in dem Element, das
man die „Tücke des Objekts" genannt hat, und in dem un-
heimlichen Zusammenspiel eines dämonisch gewordenen Din-
ges mit der schrulligen Anlage seines Besitzers, die das Ding
verhext hat, liegt weiter in der beziehungsvollen Verflechtung
von Zufallsspielern in diesen Konflikt: Nachbarn, Hunde und
Behörden und Einrichtungen aller Art, Bad und Wasserleitung,
helfen ihrerseits Gelegenheit machen und Verhängnis knüp-
fen. Die Nutzanwendung spricht nur von einem bestraften
Geizhals, von einem Laster, das dem Lasterhaften zum Ver-
hängnis wird: ein Beispiel, wie einer sich selbst mit seinem
Lieblingshange bestraft. Aber ein solches Exempel brauchte
bei allem Aufwand von Erzählungskunst lange nicht so witzig
zu sein, so hintergründig gescheit, wie diese Geschichte; Moral
ist ohne Geheimnis, aber Abu Kasems Beziehung zu seinen
Pantoffeln und was er mit ihnen erlebt ist eine eher mysteriö-
se Begebenheit, schicksalsvoll dunkel und sinnreich wie der
Ring des Polykrates.
Eine Kette tückischer Zufälle, — aber sie bilden miteinander

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eigentümlich Figur, es lässt sich davon erzählen und die Ge-
schichte vergisst sich nicht; dieses Vexierspiel mit den Pantof-
feln, die einer um keinen Preis loswerden kann, und die ihn
ein Vielfaches kosten von dem, was sie Wert sind — wert sind
sie nichts und kosten ihn sein Vermögen, dieses Thema mit
Variationen bildet eine Hieroglyphe, ein Sinnzeichen für vieler-
lei.
Aus lauter Zufällen häkelt sich ein Verhängnis: eben indem der
Betroffene ihm ein Ende setzen will, wird der Schneeball zur
Lawine, die ihn schließlich fast begräbt. Eine Kette von Zufäl-
len: Ein Schelm verstellt die Pantoffeln, wohl um sich am
Schreck des Geizigen zu weiden; ein Zufall bringt die Pantof-
feln gerade unter dem Hause wieder ans Licht, aus dem sie in
den Fluss flogen; ein Zufall wirft sie gerade in die kostbaren
Flakons, ein Zufall lenkt den Blick des Nachbarn auf Abu
Kasems Geschäftigkeit im Garten, ein Zufall treibt die Pantof-
feln in die Leitung, ein Zufall schickt den Hund auf den be-
nachbarten Altan, schickt die schwangere Frau unten vorüber
und schickt ihr den Pantoffel gerade auf den Kopf. Aber was
macht den Zufall folgenschwer?
Immer gehen schwangere Frauen unter Häusern eine Straße
entlang, immer schnappen fremde Hunde nach fremden Din-
gen, immer läuft Wasser durch die Leitungen und verstopft sie
dann und wann; verstellte Überschuhe, vertauschte Regen-
schirme, dergleichen ereignet sich alle Tage, ohne dass eine
sinnvolle Geschichte daraus zusammenwächst. Das alles ist
nur eine Handvoll Zufälligkeiten unter tausenden, die an ihre
Stelle treten könnten und wirklich in Wolken von Myriaden
wie stäubender Samen die Luft erfüllen, ihre Keime bilden
eigentlich die Atmosphäre alles Lebens und Geschehens. Was
einer aus dieser Unsumme herumwirbelnder Atome barer

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Möglichkeiten zu Ereignissen jeden Ranges auf sich bezieht,
dem erlaubt er, mit seinem eigenen Wesen Figur zu bilden. Es
genügt, dass er es in einem Zusammenhang mit seinen Zielen
und Wünschen, Befürchtungen und Gedankengespinsten
sieht, — da wirkt es ja da ist es schon ein Stück seines Schick-
sals. Indem er davon gelten lässt, es ginge ihn etwas an, geht
es ihn schon an; dass er es als ihn betreffend empfindet,
macht sein Betroffenwerden.
Darin liegt die Möglichkeit einer hohen, freilich fernen Frei-
heit: wieweit es einem gelänge, von seinen Affekten und Vor-
stellungen frei zu kommen und also von sich selber als Kreatur
und Geist frei zu werden. Das wäre Freiheit von dem, was Zu-
fall scheinen kann, aber oft zu sinnvoll, ein andermal mindes-
tens zu beziehungsreich witzig wirkt, um diesen matten Na-
men zu verdienen, — ein Freisein von dem naturhaften Zwan-
ge, jeweils eine charakteristische Auswahl treffen zu müssen
aus dem Atomwirbel barer Möglichkeiten von Ereignis zu et-
was, das einen angeht als Schicksalsmöglichkeit und einen
mindestens innerlich betrifft.
Als Ganzes ist, was so zustande kommt, die Spiegelwelt außen,
die äußere Maya-Wirklichkeit zu einer inneren Ganzheit, die
alle dem außen erlaubt, unwillkürlich mit sich Figur zu bilden.
Zwei Spiegelwelten, einander gegenüber schwebend, und der
Mensch mittendrinnen zwischen der Maya seiner äußeren
Welt und einer inneren Überwelt, die ihn trägt und mit ihm
spielt. Wie zwei „Magdeburger Halbkugeln", zwischen denen
die Luft herausgepumpt ist, sich mit ihren Rändern
aneinandersaugen, und viele Pferdekräfte können die beiden
nicht voneinander lösen, so sind diese beiden Sphären „Innen"
und Außen" aneinandergeschlossen und Punkt um Punkt
aufeinanderbezogen. Was sich als äußere Bindung, Neigung,

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Widerwille, geistiges Interesse, — ist Widerstrahl einer Kräfte-
spannung innen, die wir nicht leicht gewahren, weil wir sie
selbst in unserem Innern sind, ganz unwillkürlich; auch außen
greifen wir sie schwer, selbst wenn sie uns manchmal so ding-
haft greifbar anspringt, wie Abu Kasem seine Pantoffeln.
Er hat an ihnen so zäh und verbissen geschustert wie an sei-
nem Glück und Geschäft, er hängt an ihrer Bettelhaftigkeit wie
an seinem Reichtum, sie sind die verhehlende Fratze seines
Wohlstandes, dessen zweites Gesicht. Wie wären sie ohne
diese geheime Bedeutung so buntscheckig, in ihrer Einzigkeit
stadtbekannt, in ihrem Hintersinn sprichwörtlich geworden
und in Abu Kasems Liebe zu hohen Jahren gelangt? Wie sie für
die Leute den ganzen Kerl mit seinem Geiz bezeichnen, stellen
sie ihm selber unbewusst seine höchste, bewusst gepflegte
Tugend greifbar dar: den Geiz. Abu Kasem hat nicht Geiz, aber
der Geiz hat ihn, er ist ein selbstständig gewordenes Stück an
ihm, das ihn in seinem Banne hält. Bezeichnend, dass Abu Ka-
sem mit seinen Pantoffeln alles selber tun muss, nichts einem
Diener überlassen kann. Er mag sich von diesen Dingen nicht
trennen, sie sind sein Fetisch, durchtränkt mit seiner Dämonie,
sie haben die Leidenschaft seines Lebens in sich gezogen, von
diesem Geheimnis an ihnen kommt er nicht los : noch im Ver-
nichten geht er leidenschaftlich mit ihnen um; es ist etwas von
der Lust des Mörders aus Liebe an seiner Zweieinsamkeit mit
den beiden Opfern.
Und diese Leidenschaft ist gegenseitig, das ist der Witz der
Geschichte, dass diese zwei Pantoffeln wie zwei abgeschaffte
Hunde, die in langer Lebensgemeinschaft ein Teil ihres Herrn
geworden sind, immer wieder zu ihm zurückfinden. Er tut sie
von sich ab, sie werden selbstständig, aber nur um zu ihm
heimzukehren; mit ihrer Treue entwickeln sie eine unschulds-

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volle Tücke, ihre gekränkte Liebe rächt sich anscheinend für
den Verrat, dass Abu Kasem sich in Unmut von den Sinnbil-
dern seiner Leidenschaft scheiden wollte.
Wie immer man es ansieht, — die Dinge spielen mit; allmäh-
lich und unwillkürlich von uns mit unseren Spannungen gela-
den, werden sie endlich magnetisch, bilden Kraftfelder, die
uns selbst magnetisieren.
Abu Kasem sieht nicht den Zug, der ihn beherrscht, lässt es
nicht gelten, dass dessen sinnfällige Konkretion ihn lächerlich,
ja sprichwörtlich macht, er ist seinem Geiz zu nah, um ihn zu
gewahren; nur bei anderen kann er sein Schattenbild und Ne-
gativ bemerken und nennt es geringeren Geschäftssinn,
Leichtfertigkeit, Verschwenden und albernen Aufwand. Was
ist die Wirklichkeit für jeden? Wie kommt sie zustande?
Jemand blickt aus dem Fenster auf Bäume, in ein blätterloses
Grau von Zweigen, da bildet sich im Astgewirr ein Kopf, ein
eigentümliches Gesicht mittendrinnen zwischen Mensch und
Tier, narbig vielleicht, mit breitgezogenem Mund und querem
Blick. Es schaut einen an und ist leicht wiederzufinden. Ande-
ren Tages aber, in einem andern Licht, ist es verschwunden,
dafür taucht vielleicht anderwärts ein anderes auf im Netz-
werk des Gezweiges. Das Draußen, die Welt und was sich be-
gibt, sind solch ein Ineinander von Lineament, ungewollt,
ungesucht steigen uns Figuren und Gesichter daraus entge-
gen, und wir müssen sie annehmen, wie wir sie selbst aus dem
in sich beziehungslosen Gewirr als ein in sich Bezogenes her-
ausheben und auf uns beziehen. Wir haben diese Gesichter
nicht schon irgendwo gesehen, aber dergleichen ist uns ir-
gendwoher bekannt; sie steigen ungewollt aus uns auf und
legen sich zwanglos auf ein formloses Gewirr, das bereitsteht.
Sie gliedern ein Stück davon. Es kommt darauf an, wie das

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Licht fällt, ob wir dieselben Gesichter wiederfinden oder nichts
an ihrer Stelle. Wir blicken in die Welt, Licht fällt darüber, und
sie konstelliert sich unserem Auge zu Gesichtern und Figuren
wie der Streusand des Weltraums zu sprechenden Sternbil-
dern.
Die Erkenntnistheorie des 18. Jahrhunderts hat (mit Hume und
Kant) den Anteil des Erkennenden am Bilde der erkannten
Welt herausgearbeitet: den Anteil der Erkenntnisfunktionen
an ihrem schließlichen Gegenstand. Danach kam die romanti-
sche Philosophie, sie versuchte den Anteil des Ich an seiner
Welt über den theoretischen Raum der Erkenntniskritik hinaus
zu ergründen, da schlug der Rationalismus um in Metaphysik,
— ungewollt war das ein Gang ins Jenseits vom Bewusstsein,
ein Versuch das Unbewusste zu erfassen. Zeitgemäß gab er
sich als rationale Spekulation, als ein mythisch vernünftelndes
Gemunkel über das Ich oder das Absolute, über Wille und
Weltgrund. Er hätte nur zur Erkenntnis seines eigenen Trei-
bens zu kommen brauchen, um in seinen metaphysischen
Formeln Keime einer Psychologie zu finden, die sich anschickt,
die Erbschaft der philosophischen Grundprobleme menschli-
chen Daseins anzutreten, nachdem die Metaphysik als sub-
stanzielle Lehre davon entschlafen war. Davon blieb nur ein
Sternregen übrig, eine Saat, die unterm wissenschaftlichen
Positivismus des 19. Jahrhunderts zunächst vergraben wurde,
aber sie barg einen Auftrag an die Zukunft.
Mit Abu Kasems Pantoffeln tritt man unwillkürlich vor eine der
umfassendsten Fragen menschlichen Lebens, die Indien mit
Begriffen wie „Karman" und „Maya" ins Auge gefasst hat, —
Indien, dessen Philosophie in ihren originalsten Stücken aus
einer weitgetriebenen Erfahrung des inneren Jenseits des
Über-Ich oder Unbewussten schöpft.

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Im Traume baut sich der innere Kräfteschoß jenseits der ge-
wollten Person eine unwillkürliche Spiegelwelt seiner selbst in
mayahafter Wirklichkeit: aus dem inneren Vorrat möglicher
Bilder und Zeichen gestaltet er sich in dichterischer Erleuch-
tung die beziehungsreiche Figur eines ihm aktuellen inneren
Spieles. In diesem Spiegelbild des Traumes findet dieser Kräf-
tering sich wieder, — reiner vielleicht und sprechender, aber
nicht eigentlich anders als wie in dem anekdotischen sinnvol-
len Verlauf, den er im äußeren Tageslicht aus dem Vorrat wir-
belnder Atome bloßer Ereigniskeime zur ausgewachsenen
Figur des aktuellen Lebenslaufes formt.
Im Traume ging einer durch die Landschaft und trug ein kost-
bares Gefäß in der Hand, ein eigentümliches Stück, — mehr
seltsam vielleicht als kostbar, und wertvoll war es ihm viel-
leicht vor allem, weil er kein arideres Gefäß zur Hand hatte auf
seinem Gange nach dem Wasser. Es war aus schlichtem brau-
nem Ton, der eigentliche Krug, nicht sehr groß im Verhältnis
zum Ganzen, hing in tönernen Stäben, die einander begeg-
nend eine Art Käfig rings um ihn bildeten. Ein kunstvolles Ding,
eher künstlich als praktisch und recht zerbrechlich, darum
hielt der es behutsam mit angewinkeltem Ellbogen in der
Rechten und gab acht, auf seinem Pfad, der über hügeliges
Land ging, nicht zu stolpern. Wie er mit diesem seltsamen Ding
Wasser schöpfen wollte, ob sein sperriges Gestänge sich
überhaupt in eine Quelle tauchen ließ oder sein Mund einem
Wasserstrahl nahe kommen könnte, schien ihn nicht zu be-
kümmern.
Augenscheinlich war er auf dem Weg nach dem Wasser des
Lebens, aber er wurde abgelenkt: eine Frau begegnete ihm,
die war ihm vertraut wie die selbstverständliche Erfüllung sei-
ner Träume. Zwei kleine Hunde umspielten ihre Füße in

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verbuhlten Neckereien, sie haschten und kosten sich, eben
tollten sie ganz nahe, bald jagten sie sich kreuz und quer in die
wellige Weite. Unwillkürlich folgten die beiden Menschen ih-
rem aufgeregten Spiel, verließen den Weg, an dem sie einan-
der begegnet waren, und zogen zusammen querfeldein über
grasig hellgraues Hügelland. Aber wie Irr- und Abwege gern zu
unverhofften Zielen führen, lag es unversehens vor ihnen: das
Wasser — eine prächtig tobende, breite Ache, wie sie aus
Bergseen zu Tal fährt, schoss es gefährlich und donnernd vor
ihnen dahin. Das war kein Quell, daraus Wasser zu schöpfen,
es war der Strom des Lebens, auf dem es zu fahren galt.
Man sah auch Männer, die waren beschäftigt, ihr Schifflein
flott zu machen und sich dem schäumenden Tobel zu schneller
Talfahrt anheimzugeben. Aber sie waren am anderen Ufer. Sie
hatten Kähne mit flachem Boden, wie man sie im Gebirge auf
den Seen gebraucht, um zu überholen, eine Ladung Heu oder
Holz oder ein Stück Vieh zu führen. Die Männer verstanden
sich auf das schwierige Wasser, aber seltsam war, was sie ta-
ten: Sie hatten ihre Boote umgekehrt, mit dem flachen Kiel
nach oben, und indem sie das Haltetau vom Ufer lösten, um
auf diesen Schilden talwärts zu gleiten, legten sie sich flach auf
den flachen Kiel, packten sie den Bordrand am oberen Ende
mit der Rechten und, flach geschmiegt an die flache Wölbung
des Bodens, glitten sie furchtlos, steuerlos auf den umgekehr-
ten Booten dahin und entglitten dem Blickfeld.
Bald war der letzte davon, das Ufer drüben lag leer; indes hat-
te der Wanderer einen Kahn — er schien für ihn bestimmt —
bei sich am Ufer gewahrt. Er lag vertäut im überhängenden
Gebüsch, und es war eine vertrackte Aufgabe — kaum lösbar
—, sein Haltetau aus dem Astwerk zu befreien. Überdies lag
er, wie Kähne gewöhnlich, den Kiel nach unten, den Hohlraum

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nach oben. Aber das galt hier augenscheinlich nicht, das war
die falsche unpraktische Art, mit der man kentern und ertrin-
ken musste; hier konnte man nur verkehrt, kieloben und ohne
Fracht, von freiwilliger Leere getragen, furchtlos von den
schießenden Wassern bespült, die gleitende Fahrt zu Tale wa-
gen.
Wie aber sollte einer allein, auch wenn er den Kahn vom Ast-
werk freibekommen hatte, das flache schwere Ding umwen-
den mit seinen zwei Armen? In diesem Gedanken blickte der
Mann sich unmutig und wie Beistand suchend um und sah die
Frau, mit der er gekommen war, und sah, wie sie in stiller
selbstverliebter Besessenheit in einem primitiven Tanze sich
um sich selber drehte. „Sie könnte schon einmal damit aufhö-
ren", wallte es in ihm auf, „mit ihren lasziven Gebärden" —
aber sogleich durchfuhr es ihn: „Sie würde ja gern und gleich
damit aufhören, wenn du selbst nur mit deinem Kahne fertig
wärest, dass ihr beide auf ihm zu Tale gleiten könntet".
Wer den Gleicher kreuzt, sieht den letzten Stern versinken,
der seine Fahrt unter dem Himmel, der ihm vertraut ist, leiten
konnte. Wer auf die andere Hemisphäre seines Lebens
hinübergleitet, muss neue Zeichen am fremden Himmel su-
chen, die ihn leiten; neue Lebensphasen stehen unter immer
anderen Sternhimmeln. Dem Träumer ist der eitle Krug, mit
dem er das Wasser des Lebens schöpfen ging, unversehens
entschwunden, denn auch das Wasser ist, indes er nach ihm
ging, unversehens ein anderes geworden: Es gilt auf ihm zu
fahren, und es ist Gefahr. Die Frau, die wie ein Traumbild ihm
begegnete und wie Erfüllung mit ihm zog, kann ihm noch nicht
helfen angesichts des reißenden Elements und der Aufgabe,
die es ihm stellt; die selbstverliebte Lust, die ihre Füße spie-
lend umsprang, hat sie weglos über Land geführt, wissend und

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glückhaft querfeldein auf dem kürzesten Wege, — aber jetzt
ist ihr Spiel geschwunden: Es hat sich gewandelt in dumpfe
Selbstbesessenheit, es erweist sich als ein rauschhafter Bann,
den es zu lösen gälte, um mit vereinter Kraft das Lebensschiff
in jene paradoxe aber überzeugende neue Lage zu wenden.
Der Bann wäre gebrochen, gelänge es das Schiff umzuwenden,
das Schiff wäre leicht umgedreht, wäre der Bann behoben: In
dieser Ausweglosigkeit liegt der Sinn der Situation, — es müss-
te ein Wunder geschehen.
Wie war die Lehre aus Abu Kasems Schicksal? Man soll darauf
bedacht sein, im Laufe seines Lebens die Pantoffeln zu wech-
seln, — das Boot will umgedreht sein. Man geht nicht in den-
selben Pantoffeln den Berg des Lebens hinauf und hinab. Die
erwachende Liebe lebt vom Geheimnis, das durchdrungen
sein will, vom reizenden Befremden; sie entzündet sich an
Wißbegier, wie eigentlich der Andere sei; sie will den Anderen
ganz sehen, ihn nackt haben, will wissen, wie er bei sich selber
innen ist, wo der Blick der Welt nicht hindringt. Sie will in sein
Geheimstes dringen und es mit ihm teilen, wie keiner sonst.
Dass soviel dunkel an ihm ist und immer überraschend neu,
macht seinen Reiz erst reizend, darum ist er der Fremde, der
Wanderer im Mantelschwunge, der Gott aus der Wolke. Aber
die aufgeblühte Liebe, die Frucht ansetzt, ist voll Wissen statt
Neugier. Alles ist ihr voll schöner Selbstverständlichkeit, statt
voll Spannung; sie hat an allem teil und badet sich im Licht,
das keine Wolkenhülle übriglässt. In der beglückten Vertrau-
lichkeit mit der völligen Alltagsprosa, den kleinen ungöttlichen
Zügen am zauberhaften Partner, dass sein Zauberhaftes nicht
ohne dieses andere denkbar ist und es übergoldet, verwan-
delt, darin liegt die Wirklichkeit der ausgereiften Liebe. Sie
liebt auch das Komische am Anderen, es stört nicht mehr.

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Aber mancher kann die Pantoffeln nicht wechseln; die Dämo-
nie der erwachenden Liebe, des Rausches der Begegnung ver-
zaubert ihn: Er muss der Erweckende bleiben, der immer
Fremde, Unerkannte, Schweifende. So verhext er sich selbst.
Er will die entstehende Vertrautheit nicht wahrhaben, will
nicht aus der Wolke zur Erde herab, in Haus und Alltag, Frucht
geben, Frucht tragen; er hüllt sich in seinen Mantelschwung
und wird ein Schauspieler seines dämonischen Augenblicks,
ein Opfer der faszinierenden Romantik, immer der Fremde zu
bleiben, er wird ein Gespenst der Gebärde, die zum Wachstum
der Liebe notwendig war, aber die erwachsene Liebe stört. Er
bringt sich um die Früchte der Epoche, in die er eintreten soll-
te, versäumt die Stunde, die längst geschlagen hat; ihn schau-
dert vor dem ständigen Zwischentode, der Schwelle hinter
Schwelle Räume des Lebens auftut und das Geheimnis seiner
Lebendigkeit ist. Er will das bezaubernde Requisit — den Man-
tel, die Wolke — nicht fahren lassen in den natürlichen Ver-
wandlungen des Lebens, das lautlos seine Szenerie verändert,
will sich nicht gleiten lassen in das Gleitende, — er geizt mit
sich.
Abu Kasem geizt, — der Geizhals mit seinen Pantoffeln ist das
Sinnbild des Menschen, der sich festhalten möchte, wie er sich
geschaffen hat: Stück um Stück, Flicken um Flicken. In diesen
Pantoffeln hat er seinen Lebensweg gemacht, sie sind ihm
selbstverständlich, unentbehrlich, aber es käme eben darauf
an, sie zu wechseln, wie die Vögel ihr Federkleid mausern. Die
Lebensleistung und soziale Person eines Menschen, die auf-
gewölbte, patinierte Maske um den inneren Kern, — das sind
Abu Kasems Pantoffeln. Sie sind das Eigenste der bewussten
Person, dazu die greifbaren Triebe aus dem Unbewussten, der
Inbegriff des Gewollten und Gekonnten, wofür man vor sich

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und anderen herumläuft und Figur geworden ist, die achtbare
Lebenssumme, um die man sich gemüht hat. All das hat einen
weit gebracht, aber eben damit hat es mehr Gewalt über ei-
nen gewonnen, als einer ahnen mag. Auf einmal spielen diese
Dinge mit ihm, — tückisch, so meint er, — aber spielt er nicht
mit sich selbst? Ein Innen, das ein Außen ward, spielt mit ihm.
„So unten wie oben", sagt der hermetische Spruch der sma-
ragdenen Tafel, aber die kosmischen Räume sind seelisch-
symbolisch. Befremdend narrt ihn außen, was er innen nicht
gewahrte, weil er darin so ganz befangen war. Es ist die Folge
verpaßter Mauserung, dass er sich mit dem herumschlagen
muss, was er nicht auf die rechte natürliche Weise loswerden
mochte: in Zwischenherbsten, Zwischentoden, mit denen sich
die Raupe einspinnt, um einem ihr unfasslichen Leben als Flü-
gelwesen entgegenzuwerden.
Anderwärts gibt es sakramentale Formen, den alten Adam
auszuziehen: einen gründlichen Abbruch der bestehenden
Form, die den Träger verzaubert „verweile doch!" — mit ei-
nem völligen Kostümwechsel, der einen neuen wegweisenden
Zauber auf ihn legt. Indien hat, mindestens als Idealschema,
die vier geheiligten Lebensalter des Lernenden, des Haushal-
ters, des Waldeinsiedlers und des Pilgers; nach Kleidung und
Unterhalt, Requisit und Pflichten sind sie einander entgegen-
gesetzt. Der Lernende — Knabe und Jüngling — lebt keusch
und unterwürfig in der Gewalt des Lehrers und bettelt seine
Nahrung, dann, sakramental ohne Übergang in den eigenen
Haushalt gesetzt, hat er ein Weib und die Pflicht, Söhne zu
zeugen; er arbeitet und erwirbt, befiehlt und teilt Nahrung
aus. Als Waldeinsiedel lebt er danach von Wildwuchs, ohne
Arbeit und häusliche Pflichten, nach innen gewandt wie einst
nach außen in Familie, Dorf und Gilde. Als Pilger löst er sich

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schließlich von jeder Behausung, heimatlos bettelt er wieder
seinen Unterhalt, wie einst der lernende Knabe, und soll jetzt
ein Wissen-Gebender sein, wie einst ein Wissen-
Empfangender. Aber nichts was er besaß an Menschen und
Dingen ist ihm geblieben, es ging ihm nur wie auf Zeit geliehen
durch die Hände.
Magisch gebundene Kulturen, wie Indien, helfen ihren Kindern
zu den notwendigen Verwandlungen, die aus sich zu vollzie-
hen den Menschen schwer fällt, mit unbezweifelten Sakra-
menten. Beleihung mit Kleid und Gerät, ein Siegelring, ein
Kronreif schaffen wirklich eine neue höhere Person; Umstel-
lung der Nahrung, ein völlig verändertes Zeremoniell der Um-
welt geben dies und verbieten jenes an Tun und Fühlen, wie
ein Befehl in Hypnose erteilt. In diesen Kulturen sind alle Mög-
lichkeiten des Seelischen zu etwas sinnlich Greifbarem ausge-
formt: als Gestalten der Götter- und Dämonenwelt, als Bildzei-
chen und symbolische Räume, daneben als Sakramente, die
einen verwandeln, als Rituale, die Beziehungen zu neuen Grö-
ßen stiften und in andere Seelenlagen hinüberführen, als vor-
gezeichnete Wege, die man einzuschlagen hat. Eine lückenlose
Spiegelwelt sakraler Greifbarkeiten fängt die Ausstrahlungen
der Seelentiefe auf, macht sie als ein Äußeres greifbar, das
sich behandeln lässt, — diese beiden „Halbkugeln" entspre-
chen einander ganz.
Es genügt im magischen Lebensraum, an der äußeren Sphäre
des Menschen eine gründliche, seelisch erprobte Umstellung
vorzunehmen durch ein verzauberndes Sakrament, durch Ver-
änderung von Umwelt und Betätigung, durch Verordnung ei-
nes neuen Gehabens, und das unbewusste Innere wird sich
unwillkürlich aus seiner ihm selbstverständlich und zwanghaft
gewordenen Haltung in eine andere herumwerfen. Es findet

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außen nicht mehr das gleiche vor, mit dem es so lange Figur
gebildet hat, aber ein anderes, das etwas Neues in ihm als
Entsprechung weckt, um mit ihm Figur zu bilden. Darin liegt
die große seelenführende Möglichkeit magischer Lebensräu-
me: Ein Szenenwechsel in der greifbaren sakramentalen Spie-
gelsphäre bewirkt, bis in Annäherung ans Automatische, eine
entsprechende Umschichtung der inneren Einstellungen.
Der Gewinn, den die Auflösung magischer Gebundenheit dem
neueren Menschen gebracht hat, die Entzauberung der Welt
von greifbaren Göttern und Dämonen, dafür die wachsende
rationale Macht über stoffliche Kräfte der Erdrinde, bezahlt
sich mit dem Verlust dieser Magie über das Seelische; der
Mensch von heute steht der unwillkürlich übermächtigen Ma-
gie seines Inneren, die ihn treibt und aus dem möglichen Un-
gefähr von Ereignissen die wirkliche Figuren-Maya seiner äu-
ßeren Welt zusammenhext, ohne einen wirksamen Gegenzau-
ber, ja ohne rechtes Wissen um diesen Bann gegenüber. Da
bleibt die unzulängliche Lösung der großen Lebensfrage das
Typische: ein Zwischenreich der echten Not des vielfach Unge-
lösten, Ausweglosigkeit, die für einen unmitleidigen Blick be-
lustigend wirkt. Ihr entspricht im Bereiche der Darstellung, in
der Kunst, das Komische: eben die Geschichte Abu Kasems
und ihresgleichen.
In Mythos und Märchen geht es gern gut aus. Der Held erlegt
den Wurm, befreit die Jungfrau, er bändigt das Flügelpferd
und gewinnt die Zauberwaffe. Aber im Leben aller Tage sind
solche Helden rar. Was sich die Leute alle Tage im Basar erzäh-
len, Geschäftstratsch, Gerichtsklatsch, stammt von der Kehr-
seite der Münze. Statt der Wunder seltenen Vollbringens die
Komik des Versagens; statt Perseus auf dem Flügelrosse, dem
Bezwinger der Medusa, der, ihr versteinerndes Haupt im

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Schilde, Andromeda vom Meerungeheuer errettet, kommt
Abu Kasem auf Flickenpantoffeln daher. Er ist der häufigere
Typ, es gibt im Alltag draußen mehr Tragikomödie als mytho-
logische Oper, und Tratsch, wie er um Abu Kasem bei Lebzei-
ten war und ihn als komische Figur unsterblich machte, ist
Mythologie des Alltags; die Anekdote als seine endgültige
Form kann die Entsprechung des Mythos sein, wenn es zu des-
sen Erhabenheit nicht langt. Sie zeigt die Komik des unent-
wirrbaren Knotens, den nur das Zauberschwert des mythi-
schen Helden zerteilt.
Also wechseln wir die Pantoffeln! — Wenn das so einfach wä-
re! Aber die alten, ein Leben lang gehegten und liebevoll ge-
stückten kehren — die Geschichte lehrt es —, wenn wir sie
endgültig ablegen wollen, hartnäckig wieder zu uns zurück.
Und nähmen wir Flügel der Morgenröte und blieben am äu-
ßersten Meer, — schon sind sie wieder bei uns! Die Elemente
nehmen sie nicht an: das Wasser speit sie aus, die Erde ver-
weigert sie, und ehe das Feuer sie verzehren kann, stürzen sie
sich aus der Luft herab, Abu Kasems Ruin zu vollenden! Nicht
einmal der Fiskus will sie behalten. Warum sollte auch irgend-
ein Ding der Welt sich mit den großgezüchteten Dämonen
unseres Ich belasten, weil sie uns neuerdings unheimlich ge-
worden sind?
Wer erlöst Abu Kasem von sich selbst? — Die Art, wie er's ver-
suchte, war entschieden unzureichend. Man wirft sein gelieb-
tes Ich auch nicht als Ding mit einemmal auf Nimmerwieder-
sehen zum Fenster hinaus, wenn es anfängt einem Streiche zu
spielen. Schließlich beschwört Abu Kasem den Richter, ihn
wenigstens für die künftigen dieser Streiche nicht mehr haft-
bar zu machen, — dazu lacht der Kadi, und soll unser Kadi uns
nicht auslachen? Wir sind verantwortlich für diesen harmlos

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lebenslangen Prozess unserer Ichbildung; unwillkürlich und
liebevoll haben wir zusammengeschustert, worauf wir einher-
gehen, und unterliegen der Übermacht des Unwillkürlichen.
Wir kennen seine Gewalt aus unseren Beobachtungen an an-
deren, wenn wir ihr absichtsloses Gebaren uns zu deuten su-
chen. Im Unwillkürlichen des Ausdrucks, der Gebärde und der
Handschrift, im Sinn der Fehlleistungen, in Träumen und un-
gewollten Bildern spricht die Macht, die mehr über den Men-
schen vermag als er selbst von sich weiß und als er uns weis-
machen kann. Und wie dieses Unwillkürliche uns mehr über
ihn verrät als sein bewusstes Gebaren uns einprägen kann,
vermag es auch über sein eigenes Leben unendlich mehr als
sein bewusster Wille. Dieses Unwillkürliche sind die dämoni-
schen Rosse an seinem Lebenswagen und sein bewusstes Ich
ist nur der Lenker und ihm bleibt fast nichts übrig als die Re-
signation des Goetheschen Egmont: „Die Zügel fest zu halten
und bald rechts bald links, vom Steine hier, vom Sturze da, die
Räder abzulenken".
In zahllos kleinsten Regungen schwemmt es sich an, in kaum
bewusstem Tun und Unterlassen aller Stunden, in Wählen und
Verschmähen, Betreiben und Versäumen lagert sich's ab, bis
die Lösung übersättigt ist und reif, Kristall zu treiben. Ein win-
ziger Anstoß genügt, nun fällt sich als Schicksal aus, kristallklar
und hart, was lange trüb-flüssig nur ein Reagieren war, ein
Sich-Verhalten und Unbestimmtsein. Bei Abu Kasem ist es die
gehobene Stimmung über den gelungenen Coup; ein kleiner
Rausch über das famose Doppelgeschäft mit den Kristall-
fläschchen und dem Rosenöl steigert sein Selbstgefühl und
setzt es in begreiflichen Schwung. So soll es jetzt weitergehen
mit Gaben des Glücks, kleinen Geschenken der Gelegenheit,
wie seine Tüchtigkeit sie verdient, — siehe da! schon wieder

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eins? Abu Kasem, du Glückspilz: diese Luxuspantoffeln, ganz
neu, an Stelle der eben geschmähten, möchten von dem kriti-
schen Freunde stammen, der es nicht länger mit ansehen
konnte, dass du die alten Fetzen trägst.
Abu Kasems Geiz, vom Augenblick gebläht, schlägt ein wenig
über die Schnur; es hätte sein Hochgefühl allzusehr gekränkt,
die ganze gehobene Stimmung ihm zerstäubt, hätte er sich mit
der Vorstellung vertraut machen müssen, er müsse wirklich in
den Beutel greifen und sich ein Paar neue Pantoffeln anschaf-
fen. Die alten Dinger wären ja zu finden gewesen, wie die be-
flissenen Sklaven des Kadi sie bald hernach ausfindig machten,
Abu Kasem hätte nur ein wenig suchen müssen, in der nüch-
ternen, wenn auch kränkenden Ahnung, es habe ihn einer
verspotten wollen, anstatt von sich selbst berauscht und ge-
blendet von dem schönen Gegenstand sich mit dem Zugriff zu
schmeicheln, der seinen unbewachten, unbewussten Trieben
Genüge tat. Ein kindischer Akt süßer Selbstvergessenheit war
das, ein augenblicklicher Mangel an Selbstkontrolle, aber ein
lange Unbeachtetes, längst im stillen übermächtig, über-
schlägt sich darin: ein winziges Zuviel, das zur Lawine schwillt,
setzt sich in Fahrt.
Dasselbe Netz, mit dem Abu Kasem in der Welt draußen seine
berüchtigten Gewinne im Basar zu fischen wusste, hat er sich
unbewusst auch innen geknüpft, aus Fäden, die sein Geiz ihm
spann; — eine unbedachte Gebärde. Jetzt sitzt er selbst im
Netz, und was bislang ein inneres Brüten und Brauen war, eine
von langher anwachsende, drohende Spannung, entlädt sich
jetzt in der äußeren Welt, wirft Abu Kasem ins Räderwerk der
Justiz, in die Hackmaschine privater Missgunst, Erpressung,
behördlicher Schikane. Sein eigenes Verhalten, sein Geiz, sein
Wohlstand haben dieses Messerwerk längst geschliffen und

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zum Getriebe gefügt.
Nach indischer Formel: unablässig streut man Saat und achtet
es nicht, die Saat schießt auf und reift, ein jeder muss die
Frucht von seinem Acker ernten und essen. „Tun" — schon
reines Verhalten wird Schicksal, — das Ungetane, Ungewollte
rechnet sich auf wie Absicht und Vollzug, wird offenkundig als
Begebnis, das einen trifft, — das ist „Karman". „Selbsthenker",
Selbstopfer ein jeder und, wie Abu Kasem, sein eigener Narr,
und das Lachen des Kadi ist das Gelächter der Hölle über den
Verdammten, der sich selbst das Urteil sprach und in sich sel-
ber brennt.
Abu Kasems Geschichte zeigt, wie fein gewoben das Netz des
Karman ist und wie fest seine zarten Fäden sind. Kann ihn sein
Ich erlösen von jenem Über-Ich in ihm, dessen Dämonen ihn in
ihren Klauen halten? Steht er in seiner Verzweiflung schon
nicht mehr fern von der Umkehr, von der Erkenntnis, dass
niemand ihm seine Pantoffeln abnehmen kann und keine Ge-
walt sie zerstören, und dass der Abschied von ihnen anders
ansetzen müsste? Könnten sie ihm wesenlos werden, Flicken
um Flicken, wie sie ihm kostbarer wurde mit jeder Reparatur,
könnte er ihr scheckiges Wesen Fetzen um Fetzen von sich
lösen, bis es nur mehr ein paar gleichgültige Lumpen sind: —
Damaskus! — diesen „Weg zurück" hat Strindberg aus seiner
Infernozeit gestaltet. Er fand bei Swedenborg den Begriff der
selbstverhängten Strafe aus dem Unbewussten, er hatte er-
lebt, wie die Dinge unheimlich mitspielten: fremde Leute,
Häuser und Plätze, Einrichtungen und Fetzen des Tages.
Beiläufig hat er dann im Alter mit ermatteter Hand ein Mär-
chenspiel geschrieben „Abu Kasems Pantoffeln". Aber es hält
nicht, was der Titel verspricht; Wesentliches ist verändert, viel
Unwesentliches hineingeflossen; die Pantoffeln sind gar nicht

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Abu Kasems eigenstes Lebenswerk, sind nur vom Kalifen ihm
zugespielt, um seinen Geiz zu erproben. Das Entscheidende
zur Frage nach dem selbstgewirkten Verhängnis, dem selbst-
gezimmerten Lebenstheater, das dann mit uns spielt, wie sei-
ne Kulissen und Requisiten Veräußerungen unseres Inneren
sind, wie unsere Dingwelt unserer Unwillkürlichkeit ent-
springt, dämonisch oder schweigsam hilfreich sich gebärdend,
— all das hat Strindberg hellsichtiger, entscheidender als Fazit
seiner Infernowanderung früher gestaltet.
Wer erlöst Abu Kasem? Es heißt, der Richter konnte ihm seine
Bitte nicht abschlagen, — er wurde also vom Spuk seiner Pan-
toffeln befreit. Kann der Schein, der ihn erleuchten wird, an-
derswoher kommen als aus dem vulkanischen Schacht, der ihn
mit seinen Dünsten umwölkte? Das unheimliche weitgespann-
te Ich, das er als Welt um sich gewoben hat, mit Kadi, Nach-
barn, Fischern, Elementen, die sich mit seinem heimeligen
Lieber-Ich, den lumpigen Pantoffeln, dem klotzigen Reichtum
befassten, gab ihm Wink auf Wink, — wer soll ihm noch von
außen winken? Die äußere Spiegelwelt hat auf ihre Art ge-
sprochen, wie sie konnte: Schlag um Schlag. Es müsste ein
Wink von innen kommen. Nemo contra deum nisi deus ipse.
Der Dämon hinter dem bewussten Ich, der soviel beiträgt zu
der Spiegelwelt, mit der es sich umgibt, vermag auch mehr
dazu, nächtens aufzutrennen was tagaus, tagein gewoben
ward. Mindestens kann er winken, „wechsle die Pantoffeln!"
— denn er weiß, was es geschlagen hat, — dem bewussten Ich
ist das selten deutlich. Dann träumt man, was in diese Rich-
tung schlägt.
So träumte einer, der sich gerade in einer Mauserung fühlte,
er stände über einem runden steinernen Brunnenloch, dessen
Mund war mit einem alten Gitter von Eisenstäben kreuzweis

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verschlossen. Das hinderte ihn aber nicht, seine Angelschnur
in den Brunnen zu tauchen, und, siehe da, er fischte eine Uhr
heraus, eine große viereckig-altmodische Wanduhr. Triefend
vom Wasser brachte er sie — das Gitter war ihm dabei nicht
im Weg — aufs Trockene. Er wollte die Zeit auf ihr lesen, aber
so sehr er seine Augen auch mühte, immer rieselte Wasser
über das Zifferblatt, und er konnte nicht recht erkennen, wel-
che Stunde die Uhr eigentlich zeigte. Da gab er's auf und senk-
te die Uhr wieder — das Gitter war dabei kein Hindernis —
behutsam an der Angelschnur in den tiefen Brunnen zurück.
Er ging fort und ging durch die Straßen seiner Stadt: den Weg,
den er immer zu seiner Arbeit ging, Geschäftsstraßen waren
das, voller Läden, und dann und wann war an den Häusern
eine Uhr. Er blickte gewöhnlich auf die Uhren, um sich zu ver-
gewissern, wie spät es sei, um danach sein Tempo zu regeln;
so tat er auch jetzt, aber er bemerkte etwas Sonderbares: die
Uhren an seinem Wege zeigten zweierlei verschiedene Zeit,
die einen waren alle um ein paar Stunden weiter als die ande-
ren. Da fuhr es ihm durch den Kopf: die Zeiten, die sie zeigen,
sind alle beide falsch, die richtige Zeit stand auf der Uhr, die
aus dem Brunnen kam.
Es nützt nicht viel, die weise Uhr aus dem Brunnen zu fischen,
wenn man nicht lesen kann, wie ihre Zeiger stehen; aber wenn
man weiß, daß sie im tiefen Brunnen liegt, gelingt es einem
vielleicht, zu merken, welche Stunde ihr Schlag unten summt.
Es nützt nichts, seine Pantoffeln aus dem Fenster zu werfen
oder irgendwohin versenken zu wollen; aber wenn man das
gemerkt hat, gelingt es vielleicht, etwas Wesentlicheres zu
bemerken: nämlich woraus man sich eigentlich die Pantoffeln
zusammengeschustert hat, die zu wechseln die Geschichte
Abu Kasems rät.

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