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München
Historisches Seminar, Abteilung für Geschichte Ost‐ und Südosteuropas
Wintersemester 2019/2020
Basiskurs: Politik, Religion, Kultur und Alltagsleben in der Moskauer Rus’ (13.–16. Jh.) –
Annäherung an das mittelalterliche Russland über Andrej Tarkovskijs Film „Andrej Rublev“
Dozent: Reinhard Frötschner M.A.
Clemens Wagner
St.‐Cajetan‐Straße 37
81669 München
1. Semester Geschichte
15. Juni 2020
Clemens.Wagner@campus.lmu.de
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung: Das Epochenmodell und die Problematik seiner Anwendung auf die
Architektur Russlands .......................................................................……………………......2
2. Historischer Kontext der Moskauer Architektur………………………………………………………..4
2.1 Die Mongoleninvasion ………………………………………………………………………………………..…...4
2.2 Die Bedeutung des Moskauer Aufstiegs .......................................................................5
3. Die kulturellen Grundlagen für die Architektur der Moskauer Rus´ .............................6
3.1 Byzantinische Kultur als Vorbild der Moskauer Bautradition? .....................................7
3.2 Der Vladimir‐Suzdaler Stil..............................................................................................9
3.3 Die Holzarchitektur in der Rus´....................................................................................11
4. Fazit..............................................................................................................................13
5. Literaturverzeichnis......................................................................................................14
5.1 Quellen.........................................................................................................................14
5.2 Sekundärliteratur.........................................................................................................14
6. Abbildungsnachweise...................................................................................................15
1
1. Einleitung: Das Epochenmodell und die Problematik seiner Anwendung auf die Architektur
Russlands
Dass die Einteilung der Geschichte in Epochen keinesfalls ein objektives Gliederungssystem
darstellt, sondern immer auch eine Wertung bzw. Deutung der beschriebenen Zeitspanne
enthält, ist mittlerweile in den historischen Wissenschaften eine allgemein anerkannte
Tatsache. So suggeriert beispielsweise die Bezeichnung von Früh‐, Hoch‐ und Spätzeiten ganz
klar eine Vorstellung von Entstehung, Blütezeit und Verfall, der noch antikische Denkmuster
zugrunde liegen.1 Auch die Bezeichnung ‚Mittelalter‘ stellt weniger die konkrete Bestimmung
einer Zeit dar, als dass sie vielmehr eine Abwertung dieser als Zeit ‚zwischen etwas‘ impliziert.
Erschwerend kommt hinzu, dass diese Systematisierung nicht nur wenig objektiv, sondern
auch noch wenig präzise ist, denn die Setzung der Epochengrenzen steht unter bestimmten
Prämissen: So können zum Beispiel in verschiedenen Disziplinen die Anfänge einer
gleichnamigen Epoche unterschiedlich gewählt sein, je nachdem, welches Ereignis in der
jeweiligen Teildisziplin als ausschlaggebend für das Zustandekommen einer Strömung
erachtet wird. Eine weitere Prämisse – und bei bestimmten wissenschaftlichen
Fragestellungen entscheidende Schwäche – der Epochenbestimmung stellt der geographische
Bezugsrahmen dar, der oft nur unzureichend thematisiert wird. So zeigt beispielsweise ein
behelfsmäßiger und wertend aufgeladener Begriff wie ‚italienische Gotik‘ exemplarisch diese
Problematik auf.
Die geradezu dogmatische Anwendung dieses Epochendenkens in Wissenschaften wie der
Kunstgeschichte und Geschichte hat dies nicht verhindern können: Die Verinnerlichung der
Modelle führt zu einer bewussten oder unbewussten Übernahme ihrer Wertungen und
infolgedessen zur strukturellen Vernachlässigung von potentiellen Forschungsgegenständen,
die nach den Epocheneinteilungen als rückständig anderen Entwicklungen gegenüber
bewertet werden oder ganz durch das gewählte Raster fallen.
So beschreibt schon Lorenzo Ghiberti, später vermittelt über Giorgio Vasari, der auch heute
noch in mancher kunsthistorischen Einführungsvorlesung als ein ‚Gründervater‘ der
Kunstgeschichte vorgestellt wird, die byzantinische Kunst, in deren Tradition auch die
russische Kunst an vielen Punkten steht, folgendermaßen: „Die Byzantiner begannen in
1
Riedel, M.: Epoche, Epochenbewusstsein, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2: D‐F. Basel
1972, Sp. 596.
2
äußerster Schwäche mit der Kunst der Malerei und brachten darin in größter
Grobschlächtigkeit Werke hervor.“2
Dieser ‚minderwertigen‘ Kunst werden die Künstler der italienischen Renaissance als
mustergültige Wiedergeburt und Fortentwicklung der antiken Ideale entgegengestellt. Die
strikte Kategorisierung in fort‐ und rückschrittliche Werke lässt eine kritische
Auseinandersetzung mit dem eigenen, kulturell geprägten Betrachtungspunkt völlig außer
Acht, ebenso wie die Möglichkeit eines daraus resultierenden unterschiedlichen Empfindens
von Kunstästhetik.
Solche strukturellen Vorbehalte, die seit Ghiberti zwar weniger polemisch formuliert werden,
aber keineswegs als vollständig überwunden erachtet werden sollten, erklären vielleicht auch,
warum der Forschungsstand zu dem nun in meiner Hausarbeit zu behandelnden Themenfeld
auf einer stark veralteten Publikationskultur beruht: Man begegnet hier in erster Linie
Schriften sowjetischer Historiker und Kunsthistoriker, die die architektonischen Werke
grundsätzlich sehr stark unter politisch‐nationalen Gesichtspunkten analysieren und als
Symbol einer Nationsbildung interpretieren, was aus heutiger Sicht ebenfalls deutlich
problematisiert werden muss.
Die Annäherung an die Architektur der Moskauer Rus’ über die beschriebenen
stilgeschichtlichen Möglichkeiten kann nur ein höchst oberflächliches und eingeschränktes
Bild zeichnen und zu Fehlschlüssen bei der Bewertung dieses Feldes führen. Aus diesen
Gründen soll im Rahmen dieser Arbeit die Architektur vielmehr als künstlerischer Ausdruck
einer vergangenen Lebenswirklichkeit und demensprechend im Kontext der geographischen,
politischen, wirtschaftlichen, ereignis‐ und mentalgeschichtlichen Parameter der Rus’ des 13.–
16. Jahrhunderts begriffen werden.
Um im Folgenden die zugrundeliegenden Prinzipien der Moskauer Architektur zu
veranschaulichen, wird jeweils anhand eines Bauwerks der vermittelte Inhalt exemplarisch
dargelegt. Hierbei beziehe ich mich vor allem auf die Mariä‐Verkündigungs‐Kathedrale im
2
„Cominciorono i Greci debilissamente lˋarte della pittura e con molta rozzezza produssero in essa (…)“.
Ghiberti, Lorenzo: I commentarii. Hg. Lorenzo Bartoli, Firenze 1998, S. 32, zitiert nach: Bickendorf, Gabriele:
„Maniera greca“. Wahrnehmung und Verdrängung der Byzantinischen Kunst in der Italienischen Kunstliteratur
seit Vasari, in: Okzident und Orient, Özel Sayi (Sanat Tarihi Defterli Nr. 6). Istanbul 2002, S. 115.
3
Kreml. 1489 fertiggestellt3 liegt sie in der Hauptphase der betrachteten Bauentwicklung und
vereint entsprechend die Merkmale des sogenannten ‚Moskauer Stils‘ und die seiner
Grundlagen in sich. Auch die Errichtung im Machtzentrum der Metropole zeigt die besondere,
ja exemplarische Bedeutung dieser Kirche, die zudem – im Unterschied zu vielen anderen
Kirchen des Kremls aus dieser Zeit – nicht von italienischen, sondern von Baumeistern aus
Pskow errichtet wurde4, weshalb sich hier die Elemente der Architektur der Moskauer Rus’
aus erster Hand in ‚Reinform‘ studieren lassen.
2. Historischer Kontext der Moskauer Architektur
Ein gesamthistorischer Abriss, der für ein vollständiges Verständnis dieser Zeit und ihrer
Umstände zweifellos von Nöten wäre, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deshalb
möchte ich für die historische Vorgeschichte der Moskauer Architektur nur auf zwei Faktoren
eingehen, die nachvollziehbar Auswirkungen auf das Baugeschehen der Moskauer Rus’
hatten.
2.1 Die Mongoleninvasion
Zunächst richten wir den Blick auf die unmittelbare Vergangenheit der zu untersuchenden
Zeitspanne, weil diese unvermeidbar die Voraussetzungen für die ihr folgenden Kultur‐ und
damit auch Architekturlandschaft bildet.
Die Invasion der Mongolen in das Gebiet der Kiewer Rus’, die sich seit dem Winter des Jahres
1237 vollzog5 und in der Fremdherrschaft über nahezu das gesamte Gebiet gipfelte, ist ein
historisches Trauma und mit Sicherheit eine der ganz großen Zäsuren in der russischen
Geschichte.
Auch wenn in der Zeit selbst kaum repräsentative Architektur im Gebiet der Rus’ entstanden
ist6, ist dieses historische Ereignis für die Entwicklung des architektonischen Geschehens
3
Ainalov, Demitrius: Geschichte der russischen Monumentalkunst zur Zeit des Großfürstentums Moskau.
Leipzig 1932, S. 4.
4
Ebd.
5
Stökl, Günther: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 5., erweiterte Auflage. Stuttgart
1990, S.125.
6
Ainalov, Demitrius: Geschichte der russischen Monumentalkunst zur Zeit des Großfürstentums Moskau.
Leipzig 1932, S. 1.
4
prägend: Zwar unterband die Herrschaftsweise der Mongolen nicht unmittelbar individuell‐
kulturelle Ausprägungen der besetzten Bevölkerungen, allerdings förderten die selbst nicht
christlichen Tartaren auch keine Bauprojekte religiöser Natur, die zu jener Zeit die große
Mehrheit der repräsentativen Bauten darstellten. Hinzu kam ein wirtschaftlicher Verfall,
bedingt durch die hohen Tributforderungen der neuen Herrscher7, die kaum ein Budget für
Großbauprojekte übriggelassen haben dürften. Zudem führte auch der unter Zwang
vollzogene Einsatz einheimischer Baumeister und Arbeitskräfte auf den Baustellen im
Mongolenreich, insbesondere beim Ausbau der Hauptstadt Sarai8, zu einem Mangel an
technischem Wissen in den rußischen Gebieten, der noch lange nach Ende der
Tatarenherrschaft bemerkbar war. Dies war im Übrigen auch ein Grund für die Beauftragung
italienischer Baumeister in der Zeit der Moskauer Rus’. 9
2.2 Die Bedeutung des Moskauer Aufstiegs
Der Aufstieg des Moskauer Fürstentums zur vorherrschenden Macht in der Rus’ hängt
unmittelbar mit der Mongolenherrschaft in der Kiewer Rus’ zusammen: denn einerseits
bedeutete sie das Ende der Herrschaftsstrukturen wie man sie aus der Kiewer Rus’ kannte (es
gibt zahlreiche Beispiele für die Ernennung von Großfürsten durch die Khans entgegen der
traditionellen Erbfolgepraxis)10, andererseits war es den Moskauer Fürsten durch die
Zusammenarbeit mit den mongolischen Machthabern möglich, konkurrierende Fürstentümer
entscheidend zu schwächen. Außerdem gelang es den Moskauer Fürsten durch die
7
Martin, Janet: North‐eastern Russia and the Golden Horde (1246–1359), in: The Cambridge History of Russia.
Volume I: From Early Rus’ to 1689, S. 129.
8
Martin, Janet: North‐eastern Russia and the Golden Horde (1246–1359), in: The Cambridge History of Russia.
Volume I: From Early Rus’ to 1689, S. 130.
9
Ainalov, Demitrius: Geschichte der russischen Monumentalkunst zur Zeit des Großfürstentums Moskau.
Leipzig 1932, S. 5ff.
10
Martin, Janet: North‐eastern Russia and the Golden Horde (1246–1359), in: The Cambridge History of Russia.
Volume I: From Early Rus’ to 1689, S. 135ff.
5
finanziellen Mittel der Tributzahlungen11 und die Vorteile der tatarischen Handelsrouten12,
ihre Vormachtstellung auszubauen. Die Macht des Großfürstentums Moskau wurde
schließlich so groß, dass es mit der Schlacht auf dem Schnepfenfeld (1380)13 den offenen
Widerstand gegen die Mongolen wagen konnte, der schließlich zum Ende der tatarischen
Herrschaft über die Rus’ führte. Damit war die Hegemonialstellung Moskaus gegenüber den
anderen Fürstentümern besiegelt.14 Die nun folgende Epoche war geprägt von
wirtschaftlichem Aufschwung und wachsender politischer Stabilität, was auch zu einer
Wiederbelebung des kulturellen Lebens führte.15 Insbesondere die Tatsache, dass Moskau
nun das neue Machtzentrum der Rus’ war16 und ab dem 14. Jahrhundert zu einer würdigen
Residenzstadt ausgebaut werden sollte, die Kiew als ehemaliges Zentrum der ‚alten‘ Rus’
überstrahlen sollte, führte zum Einsetzen eines regelrechten ‚Baubooms‘.17
3. Die kulturellen Grundlagen für die Architektur der Moskauer Rus´
Kunststile entstehen nicht aus dem Nichts im luftleeren Raum: genauso wie die Prinzipien und
die Ausformung eines Stils durch die Lebenswirklichkeit und die ‚äußeren‘ soziokulturellen
Umstände geprägt wird, in der er existiert, stellt der Bezug zu anderen Stilsprachen eine
weitere, ‚ästhetische‘ Größe dar, die in die Ausprägung einer eigenen Architekturgestaltung
einfließt. Dies zeigt sich im Aufgreifen bestimmter Elemente über die Weiterentwicklung
architektonischer Motive bis hin zur Opposition eines rezipierten Stils. Reizvoll und
aufschlussreich wirkt sich hier aus, dass über die Abgrenzung gegen bzw. vielmehr den
Vergleich mit anderen Stilen die untersuchte Stilsprache erst als eigenständige definiert
werden kann. Weiterhin kann diese Betrachtung Aufschluss über das Selbstverständnis,
sozusagen die ‚Haltung‘ der Architektur der Moskauer Rus’ geben, da im besonderen
11
Stökl, Günther: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 5., erweiterte Auflage. Stuttgart
1990, S. 163.
12
Martin, Janet: North‐eastern Russia and the Golden Horde (1246–1359), in: The Cambridge History of Russia.
Volume I: From Early Rus’ to 1689, S. 133.
13
Stökl, Günther: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 5., erweiterte Auflage. Stuttgart
1990, S. 174.
14
Ebd., S. 194ff.
15
Ainalov, Demitrius: Geschichte der russischen Monumentalkunst zur Zeit des Großfürstentums Moskau.
Leipzig 1932, S. 1.
16
Alpatov, Michail V.: Geschichte der altrussischen Kunst. Augsburg 1932, S. 81.
17
Ainalov, Demitrius: Geschichte der russischen Monumentalkunst zur Zeit des Großfürstentums Moskau.
Leipzig 1932, S. 1.
6
repräsentative Architektur immer eine wie auch immer geartete Aussage bzw. einen
Standpunkt ausdrückt.
3.1 Byzantinische Kultur als Vorbild der Moskauer Bautradition?
Die wohl naheliegendste kulturelle Grundlage, die man für das Verständnis der Stilsprache der
Moskauer Architektur heranziehen kann, ist die byzantinische Bautradition. Während
anfänglich die Kiewer Rus’ noch zwischen der Orientierung nach Lateineuropa oder Byzanz
‚schwankte‘18, ist spätestens seit der Einführung der Orthodoxie die religiöse und politische
Ausrichtung nach Konstantinopel, und damit einhergehend eine Durchdringung vieler
Lebensbereiche mit byzantinischer Kultur nicht mehr zu leugnen.19 So orientiert sich auch die
öffentliche Architektur, die darüber hinaus überwiegend aus Kirchenbauten besteht und somit
allein schon aus religiösen Gründen vielen orthodoxen Bauprinzipien folgt, anfangs am Vorbild
Konstantinopels. Die wichtigsten Merkmale, die dadurch den Kirchenbauten der Moskauer
Rus’ auferlegt sind, sollen in diesem Kapitel betrachtet werden.
Im Unterschied zum lateinischen Teil Europas, in dem die Basilika in Beziehung auf die
konstantinische Basilika Alt Sankt Peter in Rom sich als typische Bauform durchgesetzt hat, ist
in den orthodoxen Gebieten überwiegend der Zentralbau als Baukörper vorherrschend. Diese
Bipolarität wird in der Bezeichnung der Grundrisstypen als lateinisches bzw. griechisches
Kreuz evident. Auch der Kuppel als „mikrokosmisches Symbol“20 kommt in der byzantinischen
Bautheologie eine zentrale Bedeutung zu. Kombiniert man beide Bauprinzipien, erhält man
den Typus der Kreuzkuppelkirche21, der für die byzantinische und damit auch für die
Architektur der Kiewer Rus’ prägend ist. Dies legt den Austausch beider Reiche in religiösen
und damit verbundenen kulturellen Fragen auf einer architektonischen Ebene offen und
macht so verständlich, warum eine Auseinandersetzung mit Byzanz für eine Untersuchung der
Moskauer Architektur unabdingbar ist.
An diesen Grundlagen hält die Architekturentwicklung der Moskauer Zeit fest, worin eine
weiterhin ausgeprägte kulturelle Distanz zu ‚Westeuropa‘ deutlich wird. Jedoch sollte man
18
Stökl, Günther: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 5., erweiterte Auflage. Stuttgart
1990, S. 57.
19
Alpatov, Michail V.: Geschichte der altrussischen Kunst. Augsburg 1932, S. 4f.
20
Koch, Wilfried: Baustilkunde. Europäische Baukunst von der Antike bis zur Gegenwart. München 1988, S. 48
21
Ebd., S. 48ff.
7
nicht dem Trugschluss verfallen, die Architektur in der Moskauer Rus’ als klares Bekenntnis zu
Byzanz werten zu wollen. Es handelt sich lediglich um das Festhalten an den grundlegenden
Bautypen und stellt vielmehr eine Fortführung der Religions‐ und Kulturtradition der Kiewer
Zeit dar, die teilweise noch sehr ‚byzantinisch‘ anmuten mag. Hierin lässt sich nun das
‚Programm‘ des Moskauer Fürstentums erkennen, das sich in der Tradition der Kiewer
Großmacht sieht und politisch sowie kulturell daran anzuknüpfen sucht.22
Diese Verbundenheit mit den Grundlagen der Orthodoxie ist auch am Beispiel der
Verkündigungskathedrale im Kreml erkennbar, die auf einem älteren Kirchenbau errichtet
ist.23 Entsprechend stellt der Grundriss der Kirche einen Zentralbau nach byzantinischem
Vorbild dar. Jedoch ist die strenge Gliederung von Lang und Querhaus schon zugunsten eines
Vierstützenbaus24 aufgelöst und wird von selbigen nur noch angedeutet, was einen deutlich
offeneren Raumeindruck schafft. Auch das Prinzip der Kuppel findet sich im Bau wieder, der
mit nicht weniger als neun Kuppeln ‚gekrönt‘ ist.
Abb. 1 (links): Moskauer Kreml, Maria‐
Verkündigungs‐Kathedrale, Grundriss, 1489
Abb. 2 (rechts): Moskauer Kreml, Maria‐
Verkündigungs‐Kathedrale, Außenansicht
Eingang, 1489
22
Ainalov, Demitrius: Geschichte der russischen Monumentalkunst zur Zeit des Großfürstentums Moskau.
Leipzig 1932, S. 1.
23
Ebd., S. 4.
24
Ebd.
8
3.2 Der Vladimir‐Suzdaler Stil
Das Gebiet der Kiewer Rus’ gliederte sich in eine Vielzahl von Teilfürstentümern und
bedeutenden Städten, die zum Teil mit weitreichenden Möglichkeiten der Selbstverwaltung
ausgestattet waren. Diese politischen Strukturen förderten eine zunehmende kulturelle
Differenzierung und führten auch in der Architekturlandschaft zu geographischen
Unterschieden und Sonderentwicklungen.25 Doch warum nimmt das im Nordosten von Kiew
gelegene Vladimir‐Suzdal’ für die Betrachtung der späteren Moskauer Architektur eine
besondere Stellung zwischen den anderen Stilen ein? – Zum einen war das Fürstentum eines
der politischen Schwergewichte in der Kiewer Rus’ und somit als Referenz für das
Selbstverständnis Moskaus äußerst attraktiv.26 Zum anderen fand in Vladimir‐Suzdal’ die
Entwicklung einer eigenständigen Formensprache statt, die im Folgenden zu einer
weitreichenden Emanzipation von der byzantinischen Architektur führte.
Als ausschlaggebend für diese Entwicklung wird Fürst Andrei Bogoljubski angesehen, der
während seiner Regentschaft in Vladimir zahlreiche Bauwerke errichten ließ, wozu er u.a.
Meister aus Polen und dem deutschen Gebiet beauftragte27. Durch das Zusammenwirken
dieser verschiedenen kulturellen Bautraditionen formte sich der typische Vladimir‐Suzdaler
Stil, der sich noch vergleichsweise lange während der Mongoleninvasion erhalten konnte und
somit als Repräsentant der alten Kiewer Rus’ auch als eine Art ‚Endpunkt‘ der vortatarischen
Architektur gesehen werden konnte, an die man anknüpfen wollte.28
Die Architektur Vladimirs zeichnet sich gegenüber der byzantinischen Tradition durch eine
stärker ornamentalisierende Formensprache aus und einen Sinn für das Dekorative, wodurch
sie sich von der sehr geometrischen Gliederung byzantinischer Bauten abhebt. Dieser Eindruck
entsteht durch die Verwendung schmückender Architekturelemente, wie z.B. Pilaster und
Blendarkaturen, Rücksprungportale und ‐fenster, sowie Fassadenskulptur bzw. ‐reliefs.29 Die
ursprünglichen Baukörper byzantinischen Ursprungs werden beibehalten: So bleibt der
25
Ein Beispiel hierfür wären die sog. „Gemeindekirchen“ Nowgorods (Alpatov, Michail V.: Geschichte der
altrussischen Kunst. Augsburg 1932, S. 62ff.)
26
Martin, Janet: North‐eastern Russia and the Golden Horde (1246–1359), in: The Cambridge History of Russia.
Volume I: From Early Rus’ to 1689, S. 127.
27
Komeč, Aleksej I.: Russia. III. Architecture, in: The Dictionary of Art. Ed. by Jane Turner. Band 27: Rome,
ancient § III to Savot. New York 1996, S. 369.
28
Ainalov, Demitrius: Geschichte der russischen Monumentalkunst zur Zeit des Großfürstentums Moskau.
Leipzig 1932, S. 1.
29
Komeč, Aleksej I.: Russia. III. Architecture, in: The Dictionary of Art. Ed. by Jane Turner. Band 27: Rome,
ancient § III to Savot. New York 1996, S. 369.
9
beliebteste Typus die Kreuzkuppelkirche, jedoch gewinnt die mittlere Kuppel (Hauptkuppel)
an Bedeutung und wird durch die Erhöhung der Tambourzone gestelzt. Dadurch entsteht der
charakteristische ‚Höhenschuss‘ der Gebäude. 30
Auf bautechnischer Ebene stellt an den Bauten das neuartige Mauerwerk, das Michail Alpatov
als „Gußmauerwerk mit [weißer] Hausteinverkleidung“31 beschreibt, eine Neuerung dar.
Abb. 3 (links): Mariä‐Schutz‐und‐Fürbitte‐Kirche an der Nerl, Fassade, 1165
Abb. 4 (rechts): Mariä‐Schutz‐und‐Fürbitte‐Kirche an der Nerl, Außenansicht vom Fluss, 1165
All diese Innovationen bilden die zentrale Grundlage, auf der die Architektur der Moskauer
Zeit entsteht: Sie finden sich zahlreich in deren Bauten in teils abgewandelter oder
weiterentwickelter Form wieder. Auch hierfür ist die Fassade der Mariä‐Verkündigungs‐Kirche
im Kreml exemplarisch anzuführen: Sowohl die hohen Tambourzonen unter den Kuppeln, als
auch die vielfache Verwendung von Fassadenschmuck, wie zum Beispiel die vorgeblendeten
Pilaster, Friese und Arkaturen32, sowie die Stufung der Bögen legen diesen Zusammenhang
offen.
30
Alpatov, Michail V.: Geschichte der altrussischen Kunst. Augsburg 1932, S. 35.
31
Ebd.
32
Ainalov, Demitrius: Geschichte der russischen Monumentalkunst zur Zeit des Großfürstentums Moskau.
Leipzig 1932, S. 5.
10
Abb. 5: Moskauer Kreml,
Maria‐Verkündigungs‐Kathedrale,
Sicht auf den Chor außen, 1489
Jedoch handelt es sich hier um keine bloße Übernahme der vladimir‐suzdaler Baukunst, da die
Formen mit einer neuen – fast klassizistisch anmutenden – Systematik zum Einsatz kommen,
die den Bauten Vladimirs völlig fehlt. Es lässt sich also festhalten, dass die Moskauer
Architektur von den Formen Vladimir‐Suzdals inspiriert wird, jedoch die Verwendung dieser
auf grundlegend andere Weise und mit verschiedenen Zielen erfolgt.
3.3 Die Holzarchitektur in der Rus’
Auch wenn die Bezeichnung ‚Holzarchitektur’ eigentlich technischer Natur ist, so soll in diesem
Kapitel der Fokus auf den ästhetischen Eigenheiten liegen, die – wenn auch ohne Zweifel
ursprünglich durch die Besonderheit des zu bearbeitenden Materials entstanden – einen
eigenen Wert darstellen, der für die Moskauer Architektursprache von Bedeutung ist.
Die Holzarchitektur ist die wahrscheinlich älteste Bautradition der Rus’. Die geologisch
bedingte Schwierigkeit der Steingewinnung, wie auch die großflächige Bewaldung des
Gebietes legen dies nahe33.
In der Moskauer Rus’ findet eine regelrechte ‚Renaissance’ der Holzarchitektur statt34 und
zwar in doppelter Hinsicht: Einerseits werden wieder Holzkirchen errichtet (eine Entwicklung,
die bis ins 18. Jahrhundert andauern wird, auf die in dieser Arbeit aber nicht weiter
eingegangen werden kann), andererseits halten auch die eigentümliche Formensprache und
33
Kappeler, Andreas: Russische Geschichte. 5., aktualisierte Auflage. München 2008, S. 11.
34
Ainalov, Demitrius: Geschichte der russischen Monumentalkunst zur Zeit des Großfürstentums Moskau.
Leipzig 1932, S. 8.
11
einzelne Elemente der Holzbauten Einzug in die großen Steinarchitekturen. Demitrius Ainalov
bezeichnet das diesem Stil zugrunde liegende Prinzip als „heidnischen Schönheitsbegriff“35,
jedoch wird dieser missverständliche Begriff erst richtig fassbar, wenn er in Kontrast zur
„einfache[n], streng logische[n]“36 byzantinischen Ästhetik gesetzt wird. „Heidnisch“ stellt also
in diesem Fall keine religiöse Kategorisierung dar, sondern ist ein Versuch, den kulturellen
Hintergrund der intuitiven, archaischen und manchmal fast naiv anmutenden Freude an
Formen und Verzierungen, kurzum einer einzigartigen ornamentalen Detailverliebtheit, die
der Holzarchitektur innewohnt, zu erklären.
An der Verkündigungskathedrale tritt die Tradition der Holzarchitektur vor allem in Form
zweier prominenter Elemente zutage: Die Verwendung von Kielbögen als Gewölbe37, deren
Form schon auf ihre ursprüngliche Materialität hindeutet, sowie die zwiebelartigen
Krönungen der Kuppeln.38
Abb. 6:
Moskauer Kreml,
Maria‐Verkündigungs‐
Kathedrale,
Dachdetails, 1489
Auch hier lässt sich wieder das Muster erkennen, dass zwar die Formen der Holzbaukunst in
den Baustil der Kirche einfließen, jedoch nicht die ursprünglichen Intentionen, die mit ihnen
verfolgt wurden.
35
Ebd.
36
Ebd.
37
Ebd., S. 4.
38
Ebd., S. 31.
12
4. Fazit
„Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“39. Mit diesem Zitat von Aristoteles lässt sich
vielleicht die Antwort auf die Frage umreißen, ob im Falle der Architektur in der Rus’ des 13.–
16. Jahrhunderts von einer eigenen Strömung gesprochen werden kann. Dass sich die
Moskauer Bauten in vielerlei Hinsicht auf eine lange Tradition berufen und diese Einflüsse im
eigenen Schaffen rezipieren, ist erwiesen. Jedoch wird auch deutlich, dass sich die Stile in
vielen Punkten unterscheiden, sowie in der Aussageabsicht, die sie mit ihrer Bautätigkeit
verfolgen.
Bauwerke können als Ausdruck des historisch‐politischen Selbstverständnisses gedeutet
werden und sind in dieser Hinsicht eine historische Quelle, eine Quelle allerdings, die sich
ohne historische Kontextualisierung und Interpretation nicht erschließt.
39
Das bekannte Zitat stellt eine verkürzte und vereinfachte Übersetzung der ursprünglichen Formulierung bei
Aristoteles dar: „Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, daß das Ganze eines ist, […] ist nicht nur seine
Elemente.“ Aristoteles: Metaphysik. Nach der Übersetzung von Herrmann Boniz, bearbeitet von Horst Seidl
(=Aristoteles. Philosophische Schriften. Band 5). Hamburg 1995, Buch VII, Kap. 17, 1041b, S. 168.
13
5. Literaturverzeichnis
5.1 Quellen
Aristoteles: Metaphysik. Nach der Übersetzung von Herrmann Boniz, bearbeitet von Horst Seidl
(=Aristoteles. Philosophische Schriften. Band 5). Hamburg 1995.
5.2 Sekundärliteratur
Ainalov, Demitrius: Geschichte der russischen Monumentalkunst zur Zeit des Großfürstentums
Moskau. Leipzig 1932.
Alpatov, Michail V.: Geschichte der altrussischen Kunst. Augsburg 1932.
Bickendorf, Gabriele: „Maniera greca“. Wahrnehmung und Verdrängung der Byzantinischen Kunst in
der Italienischen Kunstliteratur seit Vasari, in: Okzident und Orient, Özel Sayi (Sanat Tarihi Defterli Nr.
6). Istanbul 2002, S. 113–125.
Kappeler, Andreas: Russische Geschichte. 5., aktualisierte Auflage. München 2008.
Koch, Wilfried: Baustilkunde. Europäische Baukunst von der Antike bis zur Gegenwart. München 1988.
Komeč, Aleksej I.: Russia. III. Architecture, in: The Dictionary of Art. Ed. by Jane Turner. Band 27: Rome,
ancient § III to Savot. New York 1996, S. 368–373.
Martin, Janet: North‐eastern Russia and the Golden Horde (1246–1359), in: The Cambridge History of
Russia. Volume I: From Early Rus’ to 1689. Oxford 2006, S.127–157.
Riedel, M.: Epoche, Epochenbewusstsein, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2: D–F.
Basel 1972, Sp. 596–599.
Stökl, Günther: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. 5., erweiterte Auflage.
Stuttgart 1990.
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6. Abbildungsnachweise
Titelabbildung: Ostansicht der Mariä‐Verkündigungs‐Kathedrale im Moskauer Kreml (1489 erbaut),
in: Raimann, Alfons: Der Kreml und seine Kunstschätze. München 1989, o. S.
Abb. 1: Grundriss der Mariä‐Verkündigungs‐Kathedrale im Moskauer Kreml (1489 erbaut), in: Grabar,
I. E. / Lasarew, W. N. / Kemenow, W. S. (Redaktion): Geschichte der russischen Kunst. Band III.
Dresden 1959, S. 222, Abb. 165.
Abb. 2: Außenansicht Nordost der Mariä‐Verkündigungs‐Kathedrale im Moskauer Kreml (1489
erbaut, fotografiert im Januar 1958 von Peter H. Feist), in: Farbdiasammlung des Instituts für Kunst‐
und Bildgeschichte, Humboldt‐Universität Berlin: https://rs.cms.hu‐
berlin.de/ikb_mediathek/pages/view.php?ref=3043 (letzter Aufruf am 15.06.2020)
Abb. 3: Fassade der Mariä‐Schutz‐und‐Fürbitte‐Kirche an der Nerl (1165 erbaut, fotografiert 1959
von Peter H. Feist), in: Farbdiasammlung des Instituts für Kunst‐ und Bildgeschichte, Humboldt‐
Universität Berlin: https://rs.cms.hu‐berlin.de/ikb_mediathek/pages/view.php?ref=3425
(letzter Aufruf am 14.06.2020)
Abb. 4: Mariä‐Schutz‐und‐Fürbitte‐Kirche an der Nerl, Ansicht vom Fluss aus (erbaut 1165), in:
Allenov, Michail / Dmitrijewa, Nina / Medwedkowa, Olga: Russische Kunst. Freiburg 1992, S. 113,
Abb. 23.
Abb. 5: (Ausschnitt) Ostansicht der Mariä‐Verkündigungs‐Kathedrale im Moskauer Kreml (1489
erbaut), in: Raimann, Alfons: Der Kreml und seine Kunstschätze. München 1989, o. S.
Abb. 6: (Ausschnitt) Kielbögen und Kuppeln der Mariä‐Verkündigungs‐Kathedrale im Moskauer Kreml
(1489 erbaut), in: Ebd.
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