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Werner Herzog - Jeder für sich und Gott gegen alle 29.10.

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Glanz&Elend Literatur und Zeitkritik


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Das große Staunen über Mensch & Welt
Werner Herzog, der am 5. September 80 Jahre alt wird, erinnert sich

Von Wolfram Schütte

I. Werner Herzog, der 1962 zur gleichen Zeit aus dem Dunkel der Geschichte Werner
auftauchte wie die »Oberhausener«, also die erste Generation des »Neuen Herzog
(Jungen) Deutschen Films« in der BRD, gehörte gleichwohl nicht zu ihnen. Jeder für
Schon damals, als die Generation Kluge, Reitz, Schlöndorff, Wenders è tutti sich und
quanti weltweit für Aufsehen sorgte, war der gleichaltrige Münchner Herzog ein Gott gegen
Außenseiter, der sowohl thematisch & stilistisch als auch, was seine Drehorte alle
anging, ganz & gar seine eigenen Wege ging. Erinnerungen
Carl Hanser
Obwohl er wie seine bundesdeutschen Generationsgenossen »Opas Kino« Verlag,
verabscheute (aber er allein verehrte das expressionistische deutsche München
Stummfilmkino), wirkte er selbst & auch seiner ersten Kurzfilme »befremdlich« 2022,
& »wie aus der Zeit« (der gärenden links-liberalen Unruhe) »gefallen«. 350 Seiten
Gesellschaftspolitisches Denken oder psychologisch-realistisches, »bürgerliches« 28,00 €
Kino schienen dem jungen »Wilden«, dem eigen-sinnigen Herzog 978-3-446-
»wesensfremd« zu sein. Er glich damals eher dem einst rätselhaft aufgetauchten 27399-3
Kaspar Hauser, dem er prompt seinen dritten Spielfilm widmete. Wie dessen
Titel (»Jeder für sich und Gott gegen alle«,1974) heißen nun auch wieder seine Leseprobe
»Erinnerungen«, die er vor einem Jahr abgeschlossen, aber jetzt erst zu seinem
80. Geburtstag publiziert hat. Das vom
Autor selbst
Begonnen hatte Werner Herzog seine Filmemacherkarriere mit emphatischen gesprochene
Dokumentarfilmen, z.B. über Taubblinde & mit zwei Spielfilmen: über einen Hörbuch
verrückt gewordenen deutschen Besatzungsoffizier in Griechenland kostet 26 €
(»Lebenszeichen«, 1967) und mit der ebenso absurden wie gewalttätigen tacheles
Rebellion von »Liliputanern« gegen ihre Kasernierung (»Auch Zwerge haben 978-3-
klein angefangen«,1970) – einer surrealistischen Parabel, die in der BRD als 86484-775-2
höhnischer Kommentar zur Revolte der Achtundsechziger verstanden wurde.

Herzog hatte international damit aber mehr Neugier erregt als in der
Bundesrepublik, wo er z.B. für seinen »Zwergenfilm« keinen Verleih fand. Er
irritierte damals sowohl durch seinen geistigen Geschichts-Pessimismus wie
durch seine Faszination von Ausnahme-Menschen, deren mutige oder tollkühne
Lebensentscheidungen zum »Gefährlichen Leben« (Nietzsche) er fokussierte.
Kategorisiert wurde er in der BRD als so etwas wie ein cinéastischer Fremdling
aus dem Geiste des »Anarchen« Ernst Jüngers.

Erst der weltweite Erfolg des »Aguirre« (1972) & danach von
»Fitzcarraldo«(1982) – kräftig befördert durch den Exzentriker Klaus Kinski –
machten Herzog zum Weltstar. Ein sogenannter »Durchbruch« nach Hollywood
war das gleichwohl nicht. Aber Herzog lebte fortan in Los Angeles. Von dort aus
– in dritter Ehe mit einer 28 Jahre jüngeren Frau verheiratet – mehrte er seinen
Ruhm als Solitär des Weltkinos weniger aber durch seine späteren Spiel- als
durch eine Vielzahl spektakulärer Dokumentarfilme, zu deren spezifischer
Attraktion sein bajuwarisches Englisch als Erzähler gehörte – ein individuelles
Spezifikum, wie die gehauchte Flüsterstimme Alexander Kluges in dessen
dokumentarischen Arbeiten.

II. Werner Herzog hat seine Filmkarriere in Abständen begleitet durch


eigenständige literarische Werke. Zuerst durch die Schilderung seines
Fußmarschs von München nach Paris zur »Lebenserrettung« Lotte Eisners (»Vom
Gehen im Eis«,1974), dann durch die Überarbeitung seiner Notizen während der

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Entstehung & Produktion von »Fitzcarraldo« im Amazonas-Dschungel
(»Eroberung des Nutzlosen«,2004), schließlich 2021 durch die novellistische
Storyline eines ungedrehten Films über den letzten Soldaten des japanischen
Kaiserreichs (»Das Dämmern der Welt«, 2021) & nun mit seinen
»Erinnerungen«. Erinnerungen, nicht »Autobiographie« oder »Memoiren«.

Der Achtzigjährige weiß, dass das menschliche Gedächtnis lückenhaft &


nachformend, also höchst subjektiv ist. Subjektivität ist für Herzog ohnehin ein
zentraler Begriff gewesen. Seine irritierende Formulierung von der »ekstatischen
Wahrheit«, der alle seine Filme folgen, die mit dokumentarischem Material
umgehen, meint eine von ihm als Künstler durch Imagination, Konzentration &
Intuition erschaffene »Wahrheit«, eine expressiv pointierte »poetische
Wahrheit«, die hohnlachend auf die bloß mechanisch registrierende
Widerspiegelungspraxis des »Cinema vérité« herabblickt. (»Ekstatisch« kann
aber auch die Wahrheit sein, wenn der erinnernde Künstler über sich selbst
schreibt.).

Für seine »exstatische Wahrheit« hat Herzog in seinen dokumentarischen Filmen


gelegentlich sogar eigene Ansichten als authentische Äußerungen seiner Helden
ausgegeben, also ihnen unterschoben – ein prekäres Verfahren, zumindest unter
journalistischen Gesichtspunkten & im Lichte der kürzlichen Erfahrung mit
Trumps »alternativen Fakten« - (die gewissermaßen die ekstatischen Wahrheiten
des Werner Herzog als deren Perversionen begleiten).

Für das jüngste Buch, das faktisch das Resümee seines gelebten & tätigen
Lebens ist (wie er es gesehen haben möchte), hat er den Titel seines Kaspar-
Hauser-Films gewählt. Das ist ein deutlicher Hinweis, an wessen Seite & unter
welchen pessimistischen Auspizien sich Werner Herzog gestellt sehen will. »Nur
Lumpe sind bescheiden«. (Goethe)

III. Der Filmemacher & Bücherschreiber hat keinen Grund, bescheiden zu sein,
wenn er auf sein Leben & Arbeiten zurückblickt. Auch nicht als
»Selberlebensbeschreiber« (Jean Paul). Erst recht nicht, wenn er nun selbst ein
Kunstwerk der literarischen Imagination aus seinem Leben durch Erzählung,
Pointierung oder Auslassung herstellt (gleich einem Film durch die Montage).
Denn als Schriftsteller – der mutmaßt, sein literarisches Oeuvre überdauere sein
kinematographisches! – ist er sich seiner selbst so bewusst wie als Filmemacher.

Das wird schon in der ebenso lakonischen wie komplexen Komposition des
Anfangs erkennbar - & gilt strukturell für alle seine assoziativ ausschwärmenden
36 Kapitel. Nach dem Vorwort hebt das erste Kapitel (»Sterne, das Meer«) mit
der Beschreibung zweier toter Männer an, die beweint & beschrien von ihren
Witwen & Verwandten in einem Raum neben dem Friedhof an der Südküste
Kretas aufgebahrt sind. Dem Gesetz der Blutrache folgend hatten sie sich
gegenseitig umgebracht.

Der junge Deutsche, der die nebeneinander liegenden Toten betrachtet, ist
sechzehn Jahre alt. In der folgenden Nacht wird er zusammen mit anderen
Fischern, jeder allein in einem Boot mit einer Karbidlampe, auf das spiegelglatte
Meer in vollkommener Stille zur Pulpojagd hinaus geschleppt & allein gelassen
werden: über sich der unermessliche Sternenhimmel, unter sich das Glitzern
unzähliger kleiner Fische. »Eingebettet in ein Weltall ohnegleichen, oben, unten,
überall, in dem es allen Geräuschen den Atem verschlagen hatte, fand ich mich
selbst auf einmal in einem unfassbaren Staunen wieder«. Der Junge war von der
rätselhaften Schönheit dieser magischen Welterfahrung derart überwältigt, dass
er glaubte, bald sterben zu müssen, weil »es niemals wieder gewöhnliche Zeit
für mich geben könnte«.

Aber schon im nächsten Kapitel (»El Alamein«) erleben wir den Hals-über-Kopf
aus den USA nach Mexiko geflohenen 23jährigen Werner Herzog als clownesken
Rodeo-Reiter auf Jungbullen zum samstäglichen Vergnügen der Arena, wenn »El
Aleman« abgeworfen im Staub liegt. Er habe darauf bestanden, behauptet der
Selbsterzähler, dass die ergötzten Mexikaner ihn aber »El Alamein« nannten –
weil er »kurz vor den entscheidenden Wendepunkten des Zweiten Weltkriegs
(Stalingrad- & El Alamein-Niederlage) in München geboren worden war.

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Überbewerte ich diese wortspielerische Verbindung des Autors an den Beginn
des Untergangs (Nazi-) Deutschlands als diskrete Anspielung auf die
»glücklichen« astrologischen Konstellationen, die Goethe in »Dichtung und
Wahrheit« zu seiner Geburt aufgeboten hat? Mit diesem Beginn hat Herzog aber
schon alle die Spezifika seiner Welterfahrung versammelt: Tod, Archaik,
Einsamkeit, individueller Mut, elementare Welterfahrung, physisches Abenteuer,
persönliches Draufgängertum.

Dieses Geburtskapitel unseres Helden ist zugleich ein Mäander, in dessen


Erzählverlauf Werner Herzog nicht nur von seiner ersten Liebe erzählt oder wie
er nach den USA (& Mexico!) gekommen ist & bei seiner Rückkehr mit der
Geliebten für ein paar Tage durchgebrannt war, obwohl sie gerade von der
Hochzeitsreise mit seinem Cousin (!) zurückgekehrt gewesen war. »Das
grandiose Mysterium und die Agonie der Liebe habe ich nie ganz verstanden«,
bemerkt er hier, obwohl er später erzählt, dass er eine lebensgefährliche,
geradezu unglaublich tollkühne winterliche Alpenüberquerung, allein zu Fuß
natürlich, nur unternommen habe, um einer seiner drei Ehefrauen zu
imponieren.

Aber in »El Alamein« spricht Werner Herzog auch von seiner imponierenden
Mutter, die noch im hohen Alter, allein & ohne die Landessprache zu können,
eine türkische Freundin in Anatolien besuchte; seinen Vater, der als
nichtsnutzige Drohne sich von seinen Ehefrauen aushalten ließ, verachtet er
umso mehr, während er von deren beider Voreltern sympathische Eigenschaften
berichtet.

So habe der Großvater mütterlicherseits »einen Hang zum surrealen Witz & zum
Absurden« besessen. Auf väterlicher Seite zitiert er aus den bis 1829
zurückreichenden Memoiren seiner auf einem ostpreußischen Gut groß
gewordenen Ururgroßmutter. Sie schreibt, dass die Förster aus Wolfslagern die
Jungtiere in Säcken entführten & sie den begeisterten Kindern zum
vorübergehenden Spielen mitbrachten – bevor die Jungwölfe alle getötet wurden
& ihre Ohren & Klauen als Beleg für eine Prämie der Regierung dienten.

Greift die Erzählung dieses zweiten Kapitels bis tief ins 19. Jahrhundert des
ländlichen Ostpreußens zurück, so greift sie zugleich auch voraus – ohne dass
man als Leser durch diese Zeitsprünge & deren Hin & Her aus der Bahn
geworfen würde oder der muntere Erzählfluss ins Stocken geraten würde.

Es ist z.B. schon aberwitzig, wie Herzog von seiner kindlichen Erfahrung des
Kuhmelkens in dem Waldidyll von Sachrang, wohin die geschiedene Mutter mit
ihren Kindern im Krieg geflohen war, bis zu einer NASA-Shuttlebesatzung »von
hochqualifizierten Wissenschaftlern« gelangt, die als Darsteller in einem seiner
Sciencefiction-Filme mitspielen sollen. Er habe diese »ernsthaften
Intellektuellen« für sein »wüstes« Film-Spektakel gewonnen, als er einem von
ihnen auf den Kopf zusagte, dass er Kühe melken könne.

Herzog behauptet, dass er durch seine »Arbeit mit Darstellern und Gesichtern
oft Dinge, die in Personen ruhen, erkennen könne« – so auch in den »klaren,
starken Zügen, wie man sie aus Cowboyfilmen kennt« bei einem der
Wissenschaftler dessen Melker-Vergangenheit. Wie sich herausstellte, war er auf
einer Farm aufgewachsen, wo er als Bauernjunge Kühe melken musste. Damit
hatte der bayerische »Hellseher« alle Wissenschaftler im Kontrollzentrum von
Houston beeindruckt.

IV. Das ist die erste von zahlreichen Koinzidenzen, Merkwürdigkeiten oder
intuitiven Hell-& Weitsichtigkeiten, die sich Werner Herzog im Laufe seines
Lebens & dessen fortlaufenden anekdotischen Beschwörungen in »Jeder für sich
und Gott gegen alle« zuspricht. Dazu zählt z.B. auch, was er von einem seiner
Vorfahren geerbt zu haben scheint: »Landschaften lesen« zu können. Von der
Konversion des a-religiös Aufgewachsenen zum Katholizismus (noch während
seiner Gymnasialzeit), bemerkt er, sei ihm einzig seine »Heilsgewissheit«
geblieben – obgleich der Begriff der protestantischen Theologie entstammt.
Herzog möchte damit aber die Rechtschaffenheit seines oftmals tollkühn-
lebensgefährlichen Handelns ausdrücken, wenn er – als Dokumentarist des

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Außerordentlich-Außergewöhnlichen –»immer Außenposten zu halten«
versuchte, »die von anderen fluchtartig verlassen worden waren«.

Dazu gehörte physische Kraft, Mut, Kühnheit, Empathie & Abenteuerlust, ja


auch Abenteurertum, dem eine unersättliche Neugier für die Wunder & Gefahren
der Welt auf die Sprünge ins Lebensbedrohliche half. Aber auch einen
unzerstörbaren Glauben an sich selbst & seine außergewöhnlichen Fähigkeiten.

Dass er etwas Besonderes werden werde, habe ihm schon seine Schullehrerin
prophezeit. Aber durch das Ritual eines über 1000 Kilometer langen Fußmarschs
von München nach Paris die krebskranke Lotte Eisner vorm Tod gerettet zu
haben, ließ ihm magische Kräfte bei sich vermuten. Früh war die Neigung da,
den elementaren Rätseln Mensch, Leben, Welt mit transzendentaler Spekulation
& poetischer Energie auf die Spur zu kommen.

Frühromantik & deutscher Stummfilmexpressionismus kreuzen sich in Herzog &


seinen Filmen. Kaspar Hauser, Aguirre & Fitzcarraldo sind monumentale
Projektionen des Visionärs, der mehrfach betont, nicht zu träumen – wenngleich
sein Oeuvre gespickt ist mit Traumlandschaften, die er der realen Welt
abgelesen & nicht künstlich hergestellt hat. Dieser irrationale Kern seines
filmischen Oeuvres erzeugt dessen faszinierende Leuchtkraft, das es in die Nähe
von Tarkowski, aber auch von Joseph Beuys rückt, dem anderen deutschen
Schamanen unter den Künstlern unserer Zeit.

V. Lieb ist Herzog auch zur Selbstcharakterisierung das metaphorische Bild des
(einfachen) »Soldaten«, womit er aber eher soldatische Tugenden wie Mut,
Loyalität, Verlässlichkeit, Tapferkeit meint & nicht den barbarischen Killer. Er
beschreibt, wie er seinen jugendlichen Jähzorn besiegte & sich disziplinierte.
Schon im Vorwort tritt er dem öffentlichen Eindruck des »einsamen
Einzelkämpfers« entgegen: »Tatsache ist, dass ich fast immer Mitarbeiter um
mich hatte, Familie, Frauen«. Diesem Begleitpersonal seines Lebens & Arbeitens
wie seinem Bruder Lucki, seiner jüngsten Ehefrau Lena & seinem häufigen
Kameramann Thomas Mauch, attestiert er, »ausnahmslos selbständig, stark,
schön und intelligent« gewesen zu sein: »Ich wäre nur ein Schatten meiner
selbst ohne sie«.

Das ist zwar sehr pauschal gesagt & das Beiwort »schön« bezieht sich wohl eher
nur auf seine Lebensbegleiterinnen, obwohl er seinen Frauen & Kindern ein
eigenes Kapitel widmet; aber Herzogs Wunsch, mit seinen bösartigen,
exzentrischen Helden nicht identifiziert zu werden (ein psychologischer
Kollateralschaden durch das Hollywood-Kino), ist ihm womöglich primär im
Hinblick auf sein usamerikanisches Publikum wichtig. Obgleich ich den Eindruck
habe, dass durch sein Schielen auf die potentiellen Interessen & Kenntnisse
seiner US-Fans der erzählerische Schwung erlahmt, weil das Buch im zweiten
Teil seine literarische Qualität reduziert & gelegentlich zum Namedropping &
Prominentensammelsurium sich vermindert.

Werner Herzogs Großzügigkeit bei der Beurteilung von Zeitgenossen offenbart


sich darin, dass er an Menschen »Warmherzigkeit« als oberste Tugend schätzt &
seine »Erinnerungen« ganz ohne »bad memories« auskommen. Bis auf die
Ausnahme eines österreichischen Opern-Dramaturgen, der Herzog einen
Opernstoff entwendet hatte. Aber auch den Namen des Diebs & Hehlers schreibt
er nicht aus – um das Buch seiner Erinnerungs-Freuden nicht durch eine Person
zu verbittern, die ihn tief & nachhaltig verletzt hatte?

Die »Erinnerungen« Herzogs sind deshalb so spannend (wie ein


Abenteuerroman) zu lesen, weil ihre assoziative, a-chronologische Erzählweise
nicht nur jederzeit die künstlerische Souveränität ihres Verfassers offenbart, der
seine biographische Darstellung zu einem bewundernswerten Selbstporträt
literarisch verdichtet, sondern weil es ihm auch gelingt, beim Leser selbst
permanent Neugier zu generieren, weil nie absehbar oder vorhersehbar ist,
wohin uns der versatile Autor als nächstes führen wird.

Wenn ich gefragt würde, was die schönsten Passagen seien, die dem Erzähler
Werner Herzog diesmal in dem überaus anekdotenreichen Buch gelungen sind,

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würde ich die traurige Geschichte seiner Freundschaft mit Bruce Chatwin nennen
– oder seine kleine Novelle von den Zwillingsschwestern Freda & Greta Chaplin,
über die er einen seiner unrealisierten Spielfilme hätte machen wollen.

Aber das berührendste Prosastück erzählt in einer plastisch beschworenen (Film-


)Sequenz von seinem dement gewordenen Großvater väterlicherseits, einem
berühmten Archäologen. Bis zuletzt kümmerte sich dessen gesunde Ehefrau um
ihren wahnsinnig gewordenen Mann: Er »erkannte sie am Ende über Jahre
hinweg nicht mehr, redete sie mit >gnädige Frau< an. Bei einem Abendessen
erschien er ungewohnt formell, mit Anzug und Krawatte. Nach der Vorspeise
legte er sorgfältig seine Serviette an ihren Falten wiederzusammen, reihte das
Besteck säuberlich neben den Teller auf und erhob sich. >Gnädige Frau<, sagte
er mit einer Verbeugung, >wenn ich nicht schon verheiratet wäre, würde ich
jetzt um ihre Hand anhalten wollen<«.

Artikel online seit 04.09.22

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