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W er jünger ist als, sagen wir, 80, der kann sich grund: Was Küsse im Körper auslösen, was sie bedeu-

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wohl kaum vorstellen, dass auch die Queen ten, welchen Ursprung und welches Ziel sie haben,
einmal jung war. Geschweige denn, dass sie jemals all das ist äußerst komplex. Und die Wissenschaft
eine Konvention missachtet hätte. Doch genau das lebt nun mal von klaren Aussagen und von der
tat sie, just bei ihrer Krönungszeremonie im Jahr Reproduzierbarkeit ihrer Ergebnisse.
1953 – als sie die jahrhundertealte Regel brach, dass Am ehesten zu fassen ist noch die Rolle einzelner
nur der Mann die Frau zu küssen habe und nicht Hormone. Und das spannendste unter ihnen ist
umgekehrt. Elizabeth, schwer verliebt in ihren Philip, sicher das Oxytocin. Oxytocin ist für Mediziner und
küsste ihn zurück und gestand später: „Ich habe es Biologen ein alter Bekannter. Man weiß seit langem,
für ihn getan.“ dass es bei den Säugetieren dafür sorgt, dass bei der
Ts, ts. Regelverletzung! Ausschweifung! Wollust! Mutter die Wehen einsetzen, die Geburt eingeleitet
Da sieht man, was Hormone mit gesitteten Men- wird und dass die Milch einschießt – deshalb wurde
schen anstellen können. Warum aber ist das Küssen es lange als typisches „Säugetierhormon“ angesehen.
so mächtig und so allgegenwärtig? „Küssen ist etwas, Tatsächlich kann Oxytocin aber viel mehr. Es ist
das Menschen gerne tun“, sagt der Neurobiologe evolutionsgeschichtlich gesehen uralt und spielt
René Hurlemann mit entwaffnender Schlichtheit. nicht nur bei Säugetieren eine Rolle, sondern auch
Aber Hurlemann, Direktor der Abteilung Medizini- bei Fischen und Vögeln und sogar bei manchen
sche Psychologie am Bonner Universitätsklinikum, niederen Organismen. Bei Fadenwürmern zeigte
hat natürlich auch eine wissenschaftlichere Defini- sich, dass sie, wenn man ihnen das Oxytocin-Gen
tion parat. „Der Kuss ist die intensivste Form der entfernt hatte, die Geschlechtsteile des Partners

Tanz der
Berührung“, erklärt er. „Ein intensiver Kuss ist einer nicht mehr fanden. Es scheint sich hier also um
der stärksten Erzeuger von Dopamin und Oxytocin, zentrale Vorgänge zu handeln, unverzichtbar für das

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das schafft ein maximales Belohnungsgefühl und ein Fortbestehen der Art.
maximales Einssein.“
In der Tat: Bei einem leidenschaftlichem Kuss gibt
»Ein intensiver Kuss schafft ein

Hormone
unser inneres Sinfonieorchester Vollgas. Der Puls
beschleunigt sich, der Blutdruck steigt, die Wangen
röten sich; die sinnliche Wahrnehmung wird
maximales Belohnungsgefühl
gestärkt, das logische Denken geschwächt und im und maximales Einssein«
Gehirn wird ein wahrer Cocktail von Glücks-, aber
René Hurlemann, Neurobiologe, Uniklinikum Bonn
auch von Stresshormonen ausgeschüttet: Oxytocin,
Serotonin, Dopamin, Cortisol, Adrenalin, ... Glücks-
Er ist älter als die Menschheit, einfach und kompliziert und Stresshormone gleichzeitig? Klingt unlogisch? Zudem stellt sich in den letzten Jahren immer
zugleich: der Kuss. Doch wie ist er entstanden und was Frag nach bei der Queen. deutlicher heraus, dass Oxytocin nicht nur biologi-
bedeutet er? Die Wissenschaft tut sich erstaunlich sche Funktionen hat, sondern auch psychologische
Wangenkuss, Lippenkuss, Zungenkuss, Begrü- und psychosoziale. Tatsächlich klingt das, was
schwer, den Kuss exakt zu fassen – und zu erforschen ßungsküsschen, Bruderkuss, Judaskuss – kein anderes Forscher in aller Welt seither über das Oxytocin
TEXT: MARTIN RASPER Lebewesen hat eine derartige Vielfalt von Kussformen herausgefunden haben, geradezu märchenhaft:
entwickelt wie der Mensch. Daher muss man, sobald Oxytocin entstresst, verringert Ängste, erhöht die
man über den Kuss spricht, erstmal fragen: Welchen Kommunikationsbereitschaft, macht vertrauens-
denn? Ein ritueller Kuss ist etwas anderes als ein ero- würdiger gegenüber Geschäftspartnern, verstärkt die
tischer, und selbst bei dem gibt es eine enorme Band- Fähigkeit, sich in ein Gegenüber einzufühlen, erzeugt
breite, abhängig von Form und Dauer, von der Situa- Nähe und Vertrautheit und stärkt die Bindung an
tion und dem Zustand der Protagonisten. Unsinn den Partner. Kein Wunder, dass es schnell seinen
sind deshalb die präzisen Zahlen, die immer wieder Spitznamen als „Kuschelhormon“ weg hatte.
durch Zeitungsartikel geistern, etwa: Ein Kuss ver- 2005 fand ein Team um Markus Heinrichs,
brauche 6,4 Kilokalorien pro Minute. Oder die zwei Psychologe und Neurowissenschaftler an der Univer-
Millionen Bakterien, die angeblich während der ora- sität Freiburg, heraus, dass Oxytocin das Vertrauen
len Zärtlichkeit den Wirt wechseln. Das ist so sinn- bei einem Ökonomiespiel verstärkt. Die Forscher
voll wie die Aussage, der Mensch sei 1,65 Meter groß. hatten ihren Probanden Oxytocin als Nasenspray
Tatsächlich tut sich die Wissenschaft schwer, den verabreicht und sie dann ein Spiel spielen lassen,
Kuss genauer zu fassen, aus verschiedenen Gründen. wobei sich herausstellte, dass sie ihren Spielpartnern
Jahrhundertelang war der erotische Kuss als Untersu- größeres Vertrauen entgegenbrachten als die Kon-
chungsgegenstand schlicht verpönt, galt er doch als trollgruppe. Seither kamen weltweit viele Studien
Einfallstor für Unzucht und Sünde. Seit die Sitten hinzu, die ähnliche Effekte nachwiesen. Häufig wird
liberaler sind, steht ein anderes Hindernis im Vorder- auch im Magnetresonanztomografen unter- >

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sucht, wie die Probanden nach einer Oxytocingabe Art notwendig ist. Auch wenn wir den Kuss als Rote Lippen soll man
auf Bilder reagieren oder bestimmte Aufgaben lösen. unverzichtbaren Teil der körperlichen Liebe sehen – küssen? Aber sicher!
Heinrichs betont jedoch nachdrücklich, dass solche andere sehen es nicht so. Die Farbe rot ist in
der Natur positiv
Ergebnisse immer mit Vorsicht betrachtet werden Dennoch ist die wahrscheinlichste evolutionäre
besetzt, steht sie
müssten – schon allein, weil das Oxytocin vor allem Erklärung die, dass der erotische Kuss deshalb einen doch für gute Durch-
im Gehirn entsteht und wirkt, aber dort nicht direkt Sinn ergibt, weil er die Wahrscheinlichkeit einer blutung und damit
gemessen werden kann. Besonders interessant sexuellen Begegnung und somit die Reproduktions- Gesundheit und
scheint der Zusammenhang des Oxytocins mit rate erhöht. Der Kuss als Vorspiel also. Schon die Vitalität
psychischen Störungen wie etwa Autismus zu sein. So Lippen sind ja ein Signal, das auf die
konnten Veränderungen der Gensequenz des sexuelle – und somit repro-
Oxytocinrezeptors nachgewiesen werden, duktive – Komponente
die offenbar mit sozialen Verhaltens- des Küssens hin-
störungen zusammenhängen. Ak- weist. Denn Rote
tuell laufen nicht nur in Frei- Lippen sind
burg, sondern weltweit ein Zeichen
zahlreiche klinische Stu- für gute
dien an Patienten mit Durchblu-
schweren sozialen tung, gute
Defiziten. Aber, so Gesundheit

Foto: Hammer Film / A.P.L. Allstar Picture Library aus „Wie schmeckt das Blut von Dracula?“, Shelli Jensen / stock.adobe.com, Konrad Wothe / Picture Press
Heinrichs, „Stand und somit gute
heute gibt es Gene und wirken
noch keine ab- deshalb attraktiv.
schließenden Emp- „Rote Lippen soll man
fehlungen zur thera- küssen“, wusste in den
peutischen Anwendung.“ 60er Jahren der Schlagerbarde
Immerhin hat die neue Sicht auf das Cliff Richard zu empfehlen; schon in der Anti-
Oxytocin das Bild gerundet: Seine biologische und ke haben Frauen deshalb die Form und Farbe ihrer
seine psychische Wirkung ergänzen einander. Beim Lippen verstärkt. Das Rot wiederum war von der
Stillen etwa bewirkt das Oxytocin, dass überhaupt Evolution bereits seit längerem als positiv wirkendes
Milch fließen kann – aber es sorgt auch für die oft Signal codiert, etwa mittels roter Früchte. Geht der Kuss auf das
beschriebene Innigkeit, das berühmte „Einssein“, bei Darüber hinaus halten manche Forscher, auch der Saugen an der Mut-
dem Mutter und Kind alles um sich herum verges- Bonner Neurobiologe Hurlemann, es für möglich, terbrust zurück? Oder
sen, weil sich tatsächlich ihre ganze Wahrnehmung dass das Küssen zumindest teilweise mit dem Saugen ist die Geste, die so-
verändert. des Säuglings an der Mutterbrust zusammenhängt – gar Primaten verwen-
den, aus der Mund-zu-
Sehr erhellend in dieser Hinsicht waren Experi- eine Ansicht, die bereits auf Freud zurückgeht. Der
Mund-Fütterung
mente mit Ratten. Dort konnte man nachweisen, Mund ist aus Sicht des Säuglings der lebensnotwen- entstanden, die bei
dass das Oxytocin sowohl im Gehirn als auch im digste Körperteil überhaupt, von dort kommt > vielen Tierarten Teil
Körper vorhanden sein muss, damit die Mütter ihre der Brutpflege ist?
Jungen säugen können. War es nur im Körper vor-
handen, produzierte der zwar Milch, aber die Mütter
Der Kuss und der Tod – Von Menschen und Vampiren kümmerten sich nicht um die Jungen. Wirkte es nur
im Gehirn, dann wollten die Mütter zwar die Jungen
säugen, aber es kam keine Milch.
Das zärtliche, spielerische Beißen an der Kehle, wie es beim erotisch auf- Menschen an. Und weil sie dabei Krankheiten übertragen können, sind
geladenen Kuss vorkommen kann, scheint direkt aus dem Tierreich zu sie potenziell nicht ganz ungefährlich. Man geht davon aus, dass eine Wie ist aber nun das Küssen entstanden? Die
stammen: Wenn der Gepard der Gazelle, die er gerade erwischt hat, die Genmutation ein gerinnungshemmendes Enzym im Speichel der Tiere Wissenschaft ist sich nicht sicher, warum wir
Kehle durchbeißt, tut er das mit exakt der gleichen Bewegung, nur eben entstehen ließ, das das Blut ihrer Opfer stark und lange aus der Wunde küssen. Schon zu der Frage, wie verbreitet es über-
tödlich. Auch beim Biss des Vampirs – jedenfalls so, wie er meist dar- strömen lässt. Zuerst haben sich die Fledermäuse wohl von Vogelblut haupt auf der Welt ist, gibt es unterschiedliche
gestellt wird – sind Zärtlichkeit und Grausamkeit scheinbar nicht zu ernährt, Säugetiere kamen später dazu. Ansichten. Lange Zeit hieß es, dass etwa 90 Prozent
trennen. Meist von schräg hinten oder von der Seite kommend, beugt er Bei der Vampirfledermaus ist aber nicht die Natur das Vorbild für den aller Kulturen küssen. Das scheint nicht zu stimmen.
sich über den Hals seines Opfers, das mit dem zurückgelegten Kopf eine Mythos, sondern umgekehrt. Der Vampir-Mythos ist uralt, im Volksgut Eine neue, sehr ausführliche Studie von Justin Garcia
passiv-hingebende Position einnimmt. einiger Balkanländer tief verwurzelt und bestand lange vor der vom renommierten Kinsey Institut in Bloomington,
Auch hier scheint die Natur das Vorbild zu liefern. Es existieren drei wissenschaftlichen Benennung der Fledermäuse. Ursprünglich war der USA, kam zu dem Ergebnis, dass nur etwa 40 Prozent
Arten von Vampirfledermäusen, die sich vom Blut anderer Tiere ernäh- Vampir auch gar nicht in erster Linie ein Blutsauger, sondern schlicht ein der Ethnien auf der Welt das Küssen mit den Lippen
ren, am bekanntesten ist der Gemeine Vampir, Desmodus rotundus. Alle Untoter. Das Element, dass er sich vom Blut von Menschen (vorzugs- überhaupt praktizieren. Es kann sich also nicht um
drei leben in Nord- und Mittelamerika und fallen theoretisch auch den weise zarter, hübscher Frauen) ernährt, kam erst später hinzu. einen Vorgang handeln, der für das Fortbestehen der

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sagt man auch metaphorisch immer noch, dass man


sich erstmal „beschnuppern“ muss, um zu sehen, ob
man zueinander passt. Ein weiterer Erklärungsansatz
geht auf den Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibes-
feldt zurück: Das Küssen, erklärte er, sei ein Relikt
der Fütterung des Babys durch die Mutter, eine Art
Erinnerung daran, dass sie ihm die Nahrung vorkaut.
Dieses Verhalten ist bei manchen Tierarten und Völ-
kern (und war früher, vor dem Aufkommen vorberei-
teter Babynahrung, auch bei uns) weit verbreitet.

»Viele Erklärungsversuche

Foto: Biosphoto / juniors@wildlife, Philippe Clement / NaturePL, Shutterstock / Neil Burton


sind evolutionsbiologisches
Geschichtenerzählen«
Karl Grammer, Verhaltensforscher und Evolutionsbiologe

Doch die monokausalen Herleitungen greifen mit


Sicherheit zu kurz. Diese Erklärungsversuche, sagt
der österreichische Verhaltensforscher Karl
Grammer, seien im Grunde „evolutionsbiologisches
Manche Tiere schle-
cken sich gegenseitig Geschichtenerzählen“. Grammer, der vor einigen
die Mäuler, andere alles, Nahrung, Zuwendung, Wärme, und dieser In- Jahren damit Furore machte, dass er die Anziehungs-
beschnuppern sich an stinkt wird beibehalten. Zwar verweisen andere zu kraft der Pheromone erforschte, hat aber auch gut
den Genitalien, um Recht darauf, dass zwischen Säugling und Mutter ja reden, denn er ist inzwischen emeritiert und muss
die Paarungsbereit- keine sexuelle Beziehung bestehe. Aber wenn man sich nichts mehr beweisen.
schaft zu erkennen. die vielschichtige Rolle des Oxytocins vergegenwärtigt, So ist denn die einfachste und zugleich umfassen-
Beides gilt als mög-
ist der Zusammenhang nicht mehr so abwegig. de Erklärung die: Küssen ist etwas Intimes. Man tut
liche Vorform des
menschlichen Kusses Eine andere Theorie führt den Ursprung des es aus bestimmten Gründen, mit bestimmten
Küssens darauf zurück, dass die Menschen in der Absichten und in bestimmten Situationen, und diese
Urhorde vertraute Personen am Geruch erkennen Umstände können zu einem gewissen Grad variieren.
wollten. Der Ursprung dieses Verhaltens wäre dann Oder, um wieder mit Karl Grammer zu sprechen:
wiederum noch viel älter, nämlich das gegenseitige „Es macht halt einfach Spaß.“ Aber eine wissen-
Schnuppern an den Genitalien. Und nicht umsonst schaftliche Erklärung ist das natürlich nicht. ■

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