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>> Die Politische Meinung

Philosophische Reflexion Vom Wandern und Denken


verlangt nach Übersicht
Wolf Scheller

Die praktische Vernunft verlangt vom Spaziergänger, der, wie Michel de Mon-
Einzelnen die Fähigkeit zur Übersicht. taigne es formuliert hat, bloß um des Spa-
„Wer geht, sieht im Durchschnitt anthro- zierens willen hinausgeht. „Ich streife
pologisch und kosmisch mehr, als wer umher um des Umherstreifens willen.“
fährt“, urteilte der passionierte Wanderer Dennoch kann dem Spaziergang nachge-
Johann Gottfried Seume nach seinem be- sagt werden, dass auch er das Denken be-
rühmten Spaziergang nach Syrakus im flügelt. Auf jeden Fall bleibt auch der
Jahre 1802. Philosophen und Dichter, als „Blick vom Gipfel“ spürbar. Und der Kir-
Weltzuschauer und Flaneure scheinbar chenvater Augustinus warnte davor, die
dazu berufen, aus der Perspektive des Er- augenfällige Erhabenheit der Naturku-
habenen das Geschehen auf diesem Pla- lisse schon als das Wesentliche zu neh-
neten zu beobachten, haben sich immer men. Petrarca berichtet in seiner Schilde-
schon als geistige Bergsteiger versucht, rung über die Ersteigung des Mont Ven-
deren Welt klar in oben und unten geteilt toux, er habe, getrieben durch die Be-
ist. Der philosophische Bergsteiger wid- gierde, die ungewöhnliche Höhe dieses
met seinen Einsatz der Erhebung der Fleckes Erde durch Augenschein kennen-
Seele wie des Geistes. Was er dabei ge- zulernen, dagestanden, „durch einen un-
winnt, kann man als Übersicht, Überblick gewohnten Hauch der Luft und durch ei-
oder Zusammenschau bezeichnen. „Es nen ganz freien Rundblick bewegt, einem
gibt Grundfiguren“, so der Schriftsteller Betäubten gleich“.
Paul Nizon in seiner Poetikvorlesung
„Am Schreiben gehen“, „die quer durch Nietzsche und das Hochgebirge
die Literatur gehen, das heißt, quer durch Das berühmteste Beispiel für diese Stim-
die Zeiten eine thematische Auferstehung mung der Emphase in luftiger Höhe hat
erfahren, es ist fast wie eine Stafetten- wohl Nietzsche geliefert. Der „Einsied-
übergabe.“ Der literarische oder philoso- ler von Sils-Maria“ war ein ausdauern-
phische Wanderer aber ist eine Grundfi- der Spaziergänger, der die grandiose
gur, die den Gipfelblick sucht. Damit Hochgebirgslandschaft des Oberengadins
knüpft sie an die Zeit Homers an, in des- während seiner sieben Sommeraufent-
sen „Ilias“ die Gipfelwelt unwiderspro- halte zwischen 1881 und 1888 Jahr für Jahr
chen als Sitz der Götter akzeptiert wird. erlebte. Sein „Zarathustra“ begegnet uns
Allenfalls zu Opferzwecken darf der wie ein Buch des Gebirges, des Waldes.
Mensch sie betreten. „Ich liebe den Wald“, lässt Nietzsche
Das Wagnis der Gipfel- oder Himmels- Zarathustra sagen: „In den Städten ist
stürmerei gilt in der Philosophiege- schlecht zu leben.“
schichte als ein „Überschreiten“ des Ge- Nietzsche hatte das Hochgebirge, den
gebenen – und als Aufstieg. Das unter- blauen Himmel, die Sonne, die Berge be-
scheidet den denkenden Wanderer vom reits im Sommer 1879 in St. Moritz ent-

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Vom Wandern und Denken

Das Hochgebirge
bedeutete
für Nietzsche
Stimmung
der Emphase
in luftiger Höhe
(Ernst Ludwig
Kirchner,
Berggipfel.
1918,
Öl auf Leinwand,
79,5 x 90 cm).
© picture-alliance /
akg-images,
Foto: akg-images

deckt. „Graubünden ist mir wirklich sehr stiller und friedlicher auf Bergen und in
lieb und St. Moritz der einzige Ort der den Wäldern. An meinem Horizonte sind
Erde (soweit mir bekannt), der mir ent- Gedanken aufgestiegen, dergleiche ich
schieden wohlthut, bei gutem und noch nicht gesehen habe.“
schlechtem Wetter.“ Zehn Jahre später ist Zarathustra war am Surlei-Felsen in
dann Sils-Maria für ihn der „lieblichste der Sommermittagswende von Sils-Ma-
Winkel der Erde“: „So still habe ich’s nie ria gezeugt worden. Schon im Sommer
gehabt, und alle 50 Bedingungen meines 1882, im letzten Abschnitt des letzten Bu-
armen Lebens scheinen hier erfüllt zu ches der „Fröhlichen Wissenschaft“, heißt
sein. Ich nehme diesen Fund hin als ein es: „Als Zarathustra dreissig Jahre alt
ebenso unerwartetes wie unverdientes war, verließ er seine Heimat und den See
Geschenk“, schreibt er an seinen Freund, Urmi und ging in das Gebirge.“ Das Pa-
den Musiker Peter Gast. Bei einer seiner thos der Höhe entspricht dem Sendungs-
Wanderungen um den See von Silvaplana bewusstsein des philosophischen Berg-
erfuhr er jenes Inspirationserlebnis, das er steigers. Es hat nichts gemein mit dem ro-
später im Zarathustra-Kapitel von „Ecce mantischen Gipfelblick, wie man ihn
homo“ als ein europäisches Ereignis be- etwa von den Bildern eines Caspar David
schreibt, „eine Entzückung, deren unge- Friedrich kennt. Die Figuren treten in
heure Spannung sich mitunter in einem diesen Gemälde-Inszenierungen einsam
Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt auf, kehren dem Betrachter den Rücken
unwillkürlich bald stürmt, bald langsam zu und betrachten nicht die Welt zu ihren
wird …“ Dieser 6. August 1881 markiert Füßen, sondern schauen in die Gren-
das Datum vom Gedanken der ewigen zenlosigkeit ihres seelischen Empfin-
Wiederkehr des Gleichen. In Sils dachte dens, „Wanderer im Nebelmeer“, die
Nietzsche kosmisch. „Die Augustsonne in melancholischer Distanz verharren.
ist über uns, das Jahr läuft davon, es wird Diese Sehnsuchtsgebärde hat Kierke-

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Wolf Scheller

gaard in seiner Selbstdarstellung so cha- Literaturwissenschaftlers Peter Szondi


rakterisiert: „Mein Kummer ist meine Rit- mit Adorno in Sils-Maria hatte treffen
terburg. Niemand kann sie stürmen. Von wollen, schrieb rückblickend sein Prosa-
diesem Wohnsitz fliege ich hinunter in stück „Gespräch im Gebirg“, ein fiktives
die Wirklichkeit und ergreife meine Gespräch über die jüdische Identität,
Beute. Aber ich halte mich nicht unten fiktiv auch deswegen, weil Celan den
auf; ich trage sie heim auf mein Schloß. imaginierten Gesprächspartner in Sils
Was ich erbeute, sind Bilder.“ nicht mehr angetroffen hatte.
Viele haben vor und nach Nietzsche in
diesem Hochgebirge herumprobiert, bis Wandern als Exkursion
sie glaubten, in der Übersicht des Gipfel- „Wir müssen gehen, um denken zu kön-
blicks die Wahrheit gefunden zu haben, nen, schreibt Thomas Bernhard in seiner
„die ganze Thatsache Mensch aus unge- Erzählung ,Gehen‘“. „Wenn wir gehen,
heurer Ferne“ (Nietzsche). Die Liste der […] kommt mit der Körperbewegung
Namen ist lang. Viele waren wie Nietz- die Geistesbewegung. […] Wir gehen
sche Gast in Sils-Maria: Marcel Proust mit unseren Beinen, sagen wir, und den-
und Hermann Hesse, Thomas Mann, Rai- ken mit unserem Kopf.“ Das war auch
ner Maria Rilke, Karl Kraus, Ernst Robert schon Montaigne vertraut: „Mein Geist
Curtius und Theodor W. Adorno, dem es geht nicht voran, wenn ihn nicht meine
vor allem das im Grand-Hotel-Stil ge- Beine in Bewegung setzen.“ Und Rous-
führte „Waldhaus“ angetan hatte. seau bekannte seinerseits: „Im Wandern
liegt etwas meine Gedanken Anfeuern-
Adornos Zufluchtsort des und Belebendes, mein Körper muß
Jeden Sommer zwischen 1955 und 1966 in Bewegung sein, wenn es mein Geist
verbrachte Adorno mit seiner Frau im sein soll.“ Die klassische Spaziergänger-
„Waldhaus“ seine Ferien. Sie wanderten Literatur muss sich immer wieder ent-
durch das Fex-Tal, zu der Halbinsel scheiden zwischen vermeintlichem Mü-
Chasté, dem direkt am Silser See gelager- ßiggang und zielgerichtetem Wandern.
ten Weiler Isola oder auf die Laret-Höhe. Goethe oder Wilhelm von Humboldt
„Aus der Höhe“, schreibt Adorno, „neh- laufen nicht einfach ziellos durch Rom.
men die Dörfer sich aus, als wären sie von Ihre Spaziergänge sind gewichtige Ex-
oben mit leichten Fingern hingesetzt, be- kursionen zur Aneignung von Bildung.
weglich und ohne Fundament. So glei- Das Flanieren überlassen sie den Fran-
chen sie dem Spielzeug, mit dem Glücks- zosen, die sich im Paris des neunzehn-
versprechen der Riesenphantasie: Man ten und zwanzigsten Jahrhunderts aus-
könnte mit ihnen machen, was man will. schließlich für das bunte Treiben in ihrer
Unser Hotel aber, in seinen unmäßigen Metropole interessieren. Walter Benja-
Dimensionen, ist einer von den winzigen min: „Der Promeneur ist zum Lustwan-
mit Zinnen gekrönten Bauten, die in der deln nicht mehr imstande; er flüchtet sich
Kindheit die Tunnels zierten, durch wel- in den Schatten der Städte: er wird Fla-
che die Zimmereisenbahn hindurch- neur.“ Die Frage des Narrs in Nietzsches
brauste. Nun betritt man sie endlich und „Zarathustra“ : „Warum gingst du nicht
weiß, was darin ist.“ Der Lyriker Paul in den Wald?“ bleibt aber damals wie
Celan, der sich durch Vermittlung des heute unbeantwortet.

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