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Springer-Lehrbuch

Franziska Schmithüsen
(Hrsg.)

Lernskript Psychologie
Die Grundlagenfächer kompakt

Mit 70 Abbildungen und 17 Tabellen


Unter Mitarbeit von Fernand Anton, Dieter Ferring,
Günter Krampen und Georges Steffgen

2123
Herausgeber
Franziska Schmithüsen
Schortens
Niedersachsen
Deutschland

ISBN 978-3-662-43563-2 ISBN 978-3-662-44941-7 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-662-44941-7

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© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015


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Planung: Joachim Coch, Heidelberg


Projektmanagement: Judith Danziger, Heidelberg
Lektorat: Dr. Marion Sonnenmoser, Stuttgart
Projektkoordination: Eva Schoeler, Heidelberg
Umschlaggestaltung: deblik Berlin
Fotonachweis Umschlag: © tyler olson / iStock / Thinkstock
Herstellung: Crest Premedia Solutions (P) Ltd., Pune, India

Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier

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V

Vorwort
zz Entstehungsgeschichte des Buches
Noch gut kann ich mich daran erinnern, wie meine Kommilitonen und ich im ersten Semester des
Studiums eine Hausarbeit zu dem Thema »mon processus d‘apprentissage« (mein Lernprozess) schrei-
ben mussten. Wir wurden darin zur Selbstreflexion aufgerufen und sollten uns einmal Gedanken da-
rüber machen, wie wir lernen und was wir brauchen, um Lerninhalte abspeichern zu können. Diese
Hausarbeit machte mir bewusst, wie wichtig eine klare, logische Struktur und die Verkürzung auf das
Wesentliche sind. In der Folge schrieb ich deshalb Zusammenfassungen des Lehrstoffs, um mich auf
meine Prüfungen vorzubereiten. Durch diese Strategie der kompakten Darstellung konnte ich während
meines gesamten Studiums erfolgreich lernen.

Im Laufe des Studiums stellte ich zweierlei fest: Erstens erhielt ich von Kommilitonen, denen ich mei-
ne Zusammenfassungen auslieh, fast immer die Rückmeldung, dass ihnen die Unterlagen einen klaren
und hilfreichen Überblick gaben und sie sehr gut damit lernen konnten. Zweitens stellte ich nach einem
Hochschulwechsel fest, dass ich aus dem Bachelor in Luxemburg ein sehr fundiertes Grundlagenwissen
mitgebracht hatte. Beides trug dazu bei, dass in mir die Idee heranreifte, diese gesammelten Texte auf-
zubereiten und zu veröffentlichen.

Das vorliegende Werk ist aus meinen eigenen Lernzusammenfassungen entstanden. Diese habe ich je-
doch etwas verständlicher aufbereitet, mit Lerninhalten anderer Hochschulen verglichen, umstruktu-
riert und ggf. ergänzt. Es bleiben jedoch große Überschneidungen zu den Vorlesungen in Luxemburg,
die ich selbst besucht habe – mit Absicht, da ich feststellte, dass die Lehre, so wie ich sie erfahren durf-
te, sehr gut war. Nach der Überarbeitung der Lernzusammenfassungen wurden diese von den jeweili-
gen Professoren auf Richtigkeit und Aktualität hin überprüft und korrigiert.

zz Intention des Buches


Das Ziel des Buches ist es, eine Orientierung darüber zu geben, was in dem jeweiligen Fachbereich und
für die jeweilige Prüfung wichtig ist. Manche Vorlesungen überfrachten den Zuhörer mit interessan-
ten Informationen, und man bekommt das Gefühl, dass unglaublich viele Dinge oder gar »alles« wich-
tig ist. Hier soll dieses Buch Informationen reduzieren und Orientierung geben. Es kann konkret dazu
dienen, während des Semesters die Vorlesung nachzubereiten, vor einer Prüfung nochmal einen Über-
blick zu bekommen oder zum Nachschlagen, wenn das Studium bereits vorüber ist. Es ist nicht dazu
geeignet, das Besuchen von Vorlesungen zu ersetzen – dafür sind die Inhalte zu stark verkürzt. Ich hof-
fe, dass es dabei hilft, sich Vorlesungsinhalte langfristig zu merken, und dass es dem »Bulimie«-Lernen
entgegenwirkt. Denn es nützt meiner Meinung nach nichts, viele Details für eine Prüfung auswendig
zu lernen, um sie nach der Prüfung gleich wieder zu vergessen. Deshalb hat mir das Prinzip »Weniger
ist mehr« als Leitfaden während des Schreibens gedient.

Das Buch weist bewusst unterschiedliche Schreibstile auf: Es besteht zum Teil aus Fließtext, zum Teil
aus Auflistungen. Leicht missverständliche oder komplizierte Inhalte, bei denen es vor allem darum
geht, den Inhalt zu verstehen, habe ich eher als Fließtext formuliert, einfachere Inhalte habe ich eher in
Stichpunkten zusammengefasst, da diese meist nur auswendig gelernt werden sollen.

zz Danksagungen
Es ist erstaunlich, wie oft einen während des Schreibens Zweifel an der eigenen Arbeit überkommen.
Nicht umsonst sind in Vorworten meist lange Dankesreden enthalten. Ohne Menschen in meinem pri-
vaten und beruflichen Umfeld, die mir immer wieder zusicherten, dass die Buchidee wirklich gut, der
Text wirklich verständlich und diese oder jene Abbildung wirklich klärend ist, hätte ich nicht die Ge-
duld und Ausdauer aufbringen können, dieses Werk fertigzustellen.
VI Vorwort

Dieses Buchprojekt wäre ohne die großzügige Unterstützung meiner ehemaligen Professoren Prof.
Steffgen, Prof. Krampen, Prof. Ferring und Prof. Anton nicht möglich gewesen, denn große Teile der
Kapitel basieren auf ihren Vorlesungen. Ich danke für die gute Lehre sowie die Erlaubnis, mich auf
diese Vorlesungen beziehen zu dürfen. Weiterhin bedanke ich mich für das kritische Gegenlesen und
Feedback zu meinen Texten. Ich hoffe, dass die studentischen Leser von dem Werk ebenso profitieren
werden wie ich.

Mein Dank gilt ferner folgenden Personen: Herrn Joachim Coch für die Begeisterungsfähigkeit für die
Buchidee und jegliche Beratung während des gesamten Entstehungsprozesses; Frau Dr. Marion Son-
nenmoser für die Anregungen und Ergänzungen, die den Text haben flüssiger werden lassen; Thomas
Berg für die tägliche Unterstützung, die konkreten strukturellen Anregungen und die Geduld mit mei-
nen wiederkehrenden Zweifeln; Anke Dörsam für das ehrliche Feedback, den fachlichen Austausch,
die immer wieder ermutigenden Worte und dafür, dass sie mir den letzten Anstoß gegeben hat, das
Buch tatsächlich anzufangen; meiner Familie, auf deren Unterstützung ich mich stets verlassen kann,
insbesondere meinem Vater für das unerschütterliche Vertrauen in das Buchprojekt und die Selbstver-
ständlichkeit von finanzieller und jeder anderen Unterstützung in Ausbildungszeiten; allen Kollegen
und Freunden, die das Buch für eine gute Idee hielten und mir damit Mut und Hoffnung gegeben ha-
ben.

Franziska Schmithüsen
Wilhelmshaven, im Juli 2014
VII

Vorwort der Koautoren


Einige Jahre nach ihrem »Bachelor of Science in Psychology« (BSc) an der Universität Luxemburg hat
Franziska Schmithüsen die Unterlagen aus ihrem Studium genutzt, um ein sehr übersichtliches und
aussagekräftiges Kompakt-Repetitorium zu den Grundlagenfächern der Psychologie zu erstellen.
Unter dem Motto »von Studierenden für Studierende« gibt dieses Buch einen einführenden Überblick
zu ausgewählten Inhalten des Psychologiestudiums auf dem Bachelorniveau.

Ausgangs- und Angelpunkt aller Kapitel des Bandes sind die umfangreichen PowerPoint©-Foliensätze,
die unterstützend, strukturierend und zum Teil auch vertiefend in unseren Vorlesungen eingesetzt wer-
den. Die Unterlagen dienen dazu, den Studierenden das Mitschreiben während der Vorlesungen, die
Nachbearbeitung des Vorlesungsstoffes sowie die Prüfungsvorbereitung zu erleichtern. Diese Folien-
sätze waren nie im Internet frei verfügbar, Zugriff hatten (und haben) nur Studierende der Universität
Luxemburg, die dort immatrikuliert und für die jeweilige Vorlesung persönlich eingeschrieben sind.

Franziska Schmithüsen hat diese Unterlagen aus ihrem Studium nun als Basis für ihre Verschriftung
ausgewählter Vorlesungs- und Prüfungsinhalte genutzt. Sie hat dabei nicht nur die didaktische Struk-
turierung, sondern auch wesentliche Inhalte häufig eins zu eins übernommen, dabei aber auch einiges
gekürzt und somit Lehrstoff wegfallen lassen. Wir haben in der Folge ihre Texte geprüft und dabei (1)
Unklarheiten in der Verschriftung beseitigt, (2) da, wo uns die inhaltlichen Lücken zu groß erschienen,
zumindest kurz das Fehlende (mit gezielten Literaturhinweisen) benannt, und (3) unverzichtbare Quel-
len, aus denen wir bei der Vorlesungsgestaltung selbst geschöpft haben, zitiert. Bei Neuauflagen und
ggf. auch bei Neuerscheinungen haben wir die angegebene Literatur auf den aktuellen Stand gebracht.

Nicht nur die Fachliteratur, sondern auch Vorlesungen entwickeln sich weiter – dies bleibt bei der Lek-
türe des Bandes zu bedenken. Die Kapitel geben also nicht die Struktur und die Inhalte der derzeitigen
Vorlesungen wieder, sondern die in der Studienzeit von Franziska Schmithüsen. Gleichwohl vermitteln
die Texte einen sehr soliden Eindruck von den Inhalten der Grundlagenfächer im Hauptfachstudium
»Bachelor of Science in Psychology«, und das Buch dürfte damit für alle Studierenden der Psychologie
ein sehr hilfreicher Studienbegleiter sein.

Fernand Anton
Dieter Ferring
Günter Krampen
Georges Steffgen
Luxemburg, im Frühsommer 2014
IX

Inhaltsverzeichnis

Geschichte der Psychologie����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   1


1 
Franziska Schmithüsen und Günter Krampen
1.1  Über den Fachbereich����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   2
1.1.1 Fachgeschichte als Teil der Wissenschaftsforschung����������������������������������������������������������������������������������������������������   2
1.1.2 Modelle der Fachgeschichte ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   2
1.1.3 Methoden der Fachgeschichte��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   3
1.1.4 Gründe für die Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte������������������������������������������������������������������������������������   4
1.2  Problemgeschichte der Psychologie������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   5
1.2.1 Seele und Seelenleben ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   5
1.2.2 Bewusstsein und das Unbewusste��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   5
1.2.3 Erleben und Verhalten������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   6
1.2.4 Leib-Seele-Problem ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   6
1.2.5 Anlage-Umwelt-Debatte��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   7
1.3  Ideengeschichte der Psychologie������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   7
1.3.1 Die Ideengeschichte im Überblick��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   7
1.3.2 Schulen und Psychotherapieformen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  10
1.3.3 5. Epoche: Zündstoff für die Schulenentstehung ���������������������������������������������������������������������������������������������������������  11
1.3.4 6. Epoche: Ausdifferenzierung der Schulen��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  14
1.3.5 6. Epoche: Konsolidierung der Psychologie �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  16
1.3.6 7. Epoche: Charakteristika der modernen Psychologie�����������������������������������������������������������������������������������������������  17
1.4  Konklusion�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  18
Literatur������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  19

Allgemeine Psychologie�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  21


2 
Franziska Schmithüsen und Dieter Ferring
2.1  Grundlagen �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  23
2.1.1 Zur Psychologie im Allgemeinen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  23
2.1.2 Zum Fachbereich der Allgemeinen Psychologie�����������������������������������������������������������������������������������������������������������  26
2.2  Lernpsychologie �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  26
2.2.1 Allgemeines zur Lernpsychologie �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  26
2.2.2 Zum Lernen im Allgemeinen�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  27
2.2.3 Assoziationslernen�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  28
2.2.4 Klassische Konditionierung �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  29
2.2.5 Operante Konditionierung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  30
2.2.6 Beobachtungslernen�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  33
2.2.7 Zum Gedächtnis im Allgemeinen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  35
2.2.8 Gedächtnisformen �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  35
2.2.9 Gedächtnismodelle�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  37
2.2.10 Enkodierungsprozesse�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  40
2.3  Kognitive Psychologie���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  40
2.3.1 Allgemeines zur kognitiven Psychologie�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  40
2.3.2 Repräsentation von Wissen �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  43
2.3.3 Das Wesen der Sprache���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  46
2.3.4 Sprachwahrnehmung �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  48
2.3.5 Sprachproduktion�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  55
2.3.6 Zusammenhang von Sprache und Denken���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  57
2.3.7 Logisches Denken und Schlussfolgern�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  57
2.3.8 Problemlösen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  60
2.3.9 Urteilen und Entscheiden�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  63
2.3.10 Der Mensch – Ein defizitäres Wesen? �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  66
X Inhaltsverzeichnis

2.4  Motivationspsychologie�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  67


2.4.1 Allgemeines zur Motivationspsychologie�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  67
2.4.2 Zur Motivation im Allgemeinen����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   68
2.4.3 Einfache Motivationsmodelle��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   69
2.4.4 Komplexe Motivationsmodelle������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   71
2.4.5 Volitionsmodelle��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   74
2.4.6 Intrinsische Motivation��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   77
2.4.7 Leistungsmotivation��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   78
2.4.8 Affiliationsmotiv ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   80
2.4.9 Machtmotivation��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   81
2.5  Emotionspsychologie ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   82
2.5.1 Allgemeines zur Emotionspsychologie ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   82
2.5.2 Einführung��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   83
2.5.3 Historische Emotionstheorien��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   84
2.5.4 Moderne (kognitive) Emotionstheorien��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   86
2.6  Konklusion������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   89
Literatur�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   89

Sozialpsychologie ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   95
3 
Franziska Schmithüsen und Georges Steffgen
3.1  Einführung������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   96
3.1.1 Der Fachbereich und seine Geschichte ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   96
3.1.2 Methoden in der Sozialpsychologie ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   98
3.2  Das Individuum als soziales Wesen����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 100
3.2.1 Identität und Selbst ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 101
3.2.2 Einstellungen������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 104
3.2.3 Soziale Kognition������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 109
3.3  Das Individuum in Interaktion mit anderen������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 112
3.3.1 Enge Beziehungen ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 112
3.3.2 Prosoziales Verhalten����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 115
3.3.3 Aggression������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 120
3.3.4 Sozialer Einfluss��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 125
3.4  Das Individuum als Teil einer Gruppe������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 131
3.4.1 Gruppenentwicklung und Gruppensozialisation ������������������������������������������������������������������������������������������������������� 132
3.4.2 Strukturen innerhalb einer Gruppe��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 134
3.4.3 Auswirkungen der Gruppensituation����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 136
3.4.4 Intergruppenbeziehung����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 142
3.5  Das Individuum in der Gesellschaft����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 145
3.5.1 Rollen als internalisierte Erwartungen der Gesellschaft������������������������������������������������������������������������������������������� 145
3.5.2 Gerechtigkeit als soziale Norm����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 147
3.5.3 Vorurteile und Diskriminierung ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 149
3.5.4 Kollektive Gewalt������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 151
3.5.5 Sozialer Wandel��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 152
Literatur���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 152

Biopsychologie����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 159
4 
Franziska Schmithüsen und Fernand Anton
4.1  Die Biopsychologie als Fachbereich ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 161
4.2  Das Nervensystem ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 164
4.2.1 Das zentrale Nervensystem����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 164
4.2.2 Das periphere Nervensystem�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 170
4.2.3 Die Nervenzelle��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 171
4.2.4 Reizübertragung an Synapsen ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 176
XI
Inhaltsverzeichnis

4.3  Allgemeine Sinnesphysiologie ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 179


4.3.1 Allgemeines zur Sinnesphysiologie��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 179
4.3.2 Wahrnehmung und Psychophysik����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 181
4.3.3 Somatosensorik��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 182
4.3.4 Nozizeption und Schmerz�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 184
4.3.5 Visuelles System��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 188
4.3.6 Akustisches System��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 194
4.3.7 Der Geschmackssinn ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 200
4.3.8 Der Geruchssinn ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 201
4.4  Motorik ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 203
4.4.1 Aufbau und Kontraktion des Muskels����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 203
4.4.2 Innervation des Muskels und der Sehne ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 206
4.4.3 Verarbeitung motorischer Informationen im ZNS������������������������������������������������������������������������������������������������������� 207
4.4.4 Reflexe ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 208
4.5  Das Hormonsystem ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 208
4.5.1 Allgemeine Endokrinologie����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 208
4.5.2 Vom Hypothalamus unabhängige Hormone��������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 210
4.5.3 Aufbau des hypothalamisch-hypophysären Systems ����������������������������������������������������������������������������������������������� 211
4.5.4 Hormone des hypothalamisch-hypophysären Systems ������������������������������������������������������������������������������������������� 212
4.6  Das Immunsystem��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 215
4.6.1 Überblick über das Immunsystem����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 215
4.6.2 Bestandteile des Immunsystems ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 216
4.6.3 Das angeborene Immunsystem ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 217
4.6.4 Das adaptive Immunsystem����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 219
4.6.5 Unerwünschte Immunreaktionen ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 221
4.6.6 Erkrankungen des Immunsystems����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 222
4.7  Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen Grundlagen��������������������������������������������������������������� 223
4.7.1 Bewusstsein und Aufmerksamkeit����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 223
4.7.2 Schlaf und zirkadiane Periodik ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 224
4.7.3 Lernen und Gedächtnis������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 227
4.7.4 Motivation������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 232
4.7.5 Emotionsverarbeitung��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 234
4.7.6 Kognitive Funktionen����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 236
4.8  Zusammenhänge zwischen psychischen und biologischen Funktionsbereichen����������������������������������� 238
4.8.1 Psychoneuroendokrinologie��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 238
4.8.2 Psychoneuroimmunologie������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 238
Abkürzungen ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 241
4.9 
Literatur���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 242

Entwicklungspsychologie����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 245
5 
Franziska Schmithüsen und Dieter Ferring
5.1  Der Gegenstandsbereich Entwicklungspsychologie ������������������������������������������������������������������������������������������� 246
5.1.1 Gegenstand, Aufgaben, Geschichte ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 246
5.1.2 Der Entwicklungsbegriff����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 248
5.1.3 Grundlegende Modellvorstellungen über die Ursachen von Entwicklung��������������������������������������������������������� 249
5.1.4 Methoden der Entwicklungspsychologie ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 250
5.2  Kognitive Entwicklung ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 253
5.2.1 Theorie der kognitiven Entwicklung nach Piaget������������������������������������������������������������������������������������������������������� 253
5.2.2 Wygotskis soziokulturelle Theorie����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 259
5.2.3 Der Informationsverarbeitungsansatz ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 260
5.2.4 Neurowissenschaftliche Perspektive������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 260
5.3  Psychosoziale Entwicklung, Identität und Selbstkonzept��������������������������������������������������������������������������������� 266
5.3.1 Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung����������������������������������������������������������������������������������������������������� 266
XII Inhaltsverzeichnis

5.3.2 Die Rolle von Entwicklungsaufgaben und kritischen Lebensereignissen����������������������������������������������������������� 269


5.3.3 Modell der Identitätsentwicklung nach Marcia����������������������������������������������������������������������������������������������������������� 270
5.4  Soziale Beziehungen��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 270
5.4.1 Bindungstheorie ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 271
5.4.2 Familiäre Beziehungen ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 272
5.4.3 Freundschaftliche Beziehungen��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 274
5.5  Ökologische Aspekte von Entwicklung��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 274
5.6  Charakteristika der Entwicklung in bestimmten Lebensphasen��������������������������������������������������������������������� 277
5.6.1 Schwangerschaft, Geburt und Kindheit������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 277
5.6.2 Jugendalter����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 279
5.6.3 Erwachsenenalter����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 281
5.7  Konklusion����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 283
Literatur���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 283

Persönlichkeitspsychologie������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 287
6 
Franziska Schmithüsen und Günter Krampen
6.1 Der Fachbereich Persönlichkeitspsychologie ��������������������������������������������������������������������������������������������������������� 288
6.1.1 Definition und Abgrenzung����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 288
6.1.2 Methoden ������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 289
6.2  Persönlichkeitstheorien��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 290
6.2.1 Neopsychoanalytische Persönlichkeitsmodelle����������������������������������������������������������������������������������������������������������� 291
6.2.2 Humanistisch-kognitivistische Persönlichkeitstheorien������������������������������������������������������������������������������������������� 292
6.2.3 Eigenschaftstheoretische Ansätze der Persönlichkeit����������������������������������������������������������������������������������������������� 294
6.2.4 Sozial-kognitive und handlungstheoretische Ansätze ��������������������������������������������������������������������������������������������� 296
6.3  Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 297
6.3.1 Leistungs- und Fähigkeitsmerkmale������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 297
6.3.2 Temperamentsmerkmale��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 307
6.3.3 Selbst- und umweltbezogene Kognitionen ����������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 310
6.4  Persönlichkeitsentwicklung������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 312
Literatur���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 313

Stichwortverzeichnis��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 315

XIII

Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Fernand Anton Nürnberg, 1985 Habilitation an der Universität Trier.
Universität Luxemburg Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Universitäten
Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur, Geis- Trier und Erlangen-Nürnberg. Seit 1990 Professor für
teswissenschaften, Psychologie an der Universität Trier. Honorarprofessor
Kunst und Erziehungswissenschaften für Psychologie an der Universität Luxemburg, Gastpro-
162A, avenue de la Faïencerie fessor an der Universität Fribourg, Schweiz. Seit 2004
L-1511 Luxembourg Direktor des Leibniz-Zentrums für Psychologische Infor-
mation und Dokumentation (ZPID) sowie Inhaber des
Prof. Dr. phil. Dr. med. habil. Fernand Anton, geb. 1954. Lehrstuhls für Klinische Psychologie, Psychotherapie
1976–1983, Studium der Psychologie und Promotion an und Wissenschaftsforschung an der Universität Trier. 
der Universität Innsbruck. 1994 Habilitation für Physio-
logie an der medizinischen Fakultät der Universität Prof. Dr. Georges Steffgen
Erlangen-Nürnberg. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an Universität Luxemburg
physiologischen Instituten der Universitäten Heidel- Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur,
berg und Erlangen-Nürnberg sowie an den National Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungswissen-
Institutes of Health, USA. Seit 2003 Professor für biologi- schaften
sche Psychologie an der Universität Luxemburg. Route de Diekirch
L-7220 Walferdange
Prof. Dr. Dieter Ferring
Universität Luxemburg Prof. Dr. Georges Steffgen, Dipl.-Psych., geb. 1961.
Fakultät für Sprachwissenschaften und Literatur, 1982–1989 Studium der Psychologie in Trier, anschlie-
Geisteswissenschaften, Kunst und Erziehungswissen- ßend 1993 Promotion an der Universität Trier. 1993 bis
schaften 2000 Forschungs- und Lehrbeauftragter u. a. an einer
Route de Diekirch Fachhochschule und einer pädagogischen Hochschule
L-7220 Walferdange in ­Luxemburg. Von 2000 bis 2002 Assistenzprofessor
und seit 2002 Professor für Psychologie an der Universi-
Prof. Dr. Dieter Ferring ist Professor für Entwicklungs- tät Luxemburg. Seit 2009 Studiendirektor des Bachelor
psychologie und Gerontopsychologie und Direktor of Science in Psychology und seit 2014 Studiendirektor
der »Integrative Research Unit on Social and Individual des Master of Science in Psychology: Psychological
Development (INSIDE)« an der Universität Luxemburg. Intervention an der Universität Luxemburg.
Seine Forschung zentriert differentielle Entwicklungs-
prozesse über die Lebensspanne, insbesondere das M.Sc. Psych. Franziska Schmithüsen
menschliche Altern. Forschungsprojekte und Publika- Theodor Heuss Ring 64
tionen fokussieren personale und soziale Faktoren, die 26419 Schortens
zu Autonomie oder Abhängigkeit im Alter beitragen.
Ferring ist Mitherausgeber und Gutachter für mehrere Franziska Schmithüsen, geb. 1987. 2006–2011 Stu-
Fachzeitschriften und internationale Forschungsver- dium der Psychologie an der Universität Luxemburg
bände. (Bachelor Académique en Psychologie) und der TU
Braunschweig (Master of Science). Von 2011 bis 2012
Prof. Dr. Günter Krampen beschäftigt in einer Klinik für Onkologie und Gastroen-
Universität Trier terologie, seit 2013 in einer Mutter-Kind-Klinik. Derzeit
Klinische Psychologie, Psychotherapie und Wissen- in Ausbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin
schaftsforschung mit Schwerpunkt Verhaltenstherapie.
D-54286 Trier

Prof. Dr. Günter Krampen, Dipl.-Psych. und


PsychTh, geb. 1950. 1971–1976 Studium der Psychologie
in Trier, 1980 Promotion an der Universität Erlangen-
1 1

Geschichte der Psychologie


Franziska Schmithüsen und Günter Krampen

1.1 Über den Fachbereich – 2


1.1.1 Fachgeschichte als Teil der Wissenschaftsforschung – 2
1.1.2 Modelle der Fachgeschichte – 2
1.1.3 Methoden der Fachgeschichte – 3
1.1.4 Gründe für die Auseinandersetzung mit der Fachgeschichte – 4

1.2 Problemgeschichte der Psychologie – 5


1.2.1 Seele und Seelenleben – 5
1.2.2 Bewusstsein und das Unbewusste – 5
1.2.3 Erleben und Verhalten – 6
1.2.4 Leib-Seele-Problem – 6
1.2.5 Anlage-Umwelt-Debatte – 7

1.3 Ideengeschichte der Psychologie – 7


1.3.1 Die Ideengeschichte im Überblick – 7
1.3.2 Schulen und Psychotherapieformen – 10
1.3.3 5. Epoche: Zündstoff für die Schulenentstehung – 11
1.3.4 6. Epoche: Ausdifferenzierung der Schulen – 14
1.3.5 6. Epoche: Konsolidierung der Psychologie – 16
1.3.6 7. Epoche: Charakteristika der modernen Psychologie – 17

1.4 Konklusion – 18

Literatur – 19

F. Schmithüsen (Hrsg.), Lernskript Psychologie, Springer-Lehrbuch,


DOI 10.1007/978-3-662-44941-7_1, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
2 Kapitel 1 • Geschichte der Psychologie

1.1 Über den Fachbereich


1
1.1.1 Fachgeschichte als Teil der Wissenschaftsforschung

Die Geschichte der Psychologie gehört zum übergeordneten Bereich der Wis-
senschaftsforschung, die – wie der Name schon sagt – sich selbst erforscht,
also in der Forschung grundsätzlichen, übergreifenden Fragen nachgeht, die
alle wissenschaftlichen Disziplinen betreffen (Krampen & Montada, 2002).
Die Wissenschaftsforschung umfasst neben der Wissenschaftsgeschichte auch
noch andere Bereiche, wie in . Abb. 1.1 ersichtlich ist. Bei allen Subdisziplinen
kann man sich entweder auf Wissenschaft allgemein beziehen oder auf einen
bestimmten Fachbereich konzentrieren. So kann sich z.  B. Wissenschaftsge-
schichte entweder mit der Entwicklung von Wissenschaft oder mit der Ent-
wicklung der Psychologie beschäftigen (Fachgeschichte, auch Fachhistorio-
graphie), wobei sich beides miteinander überschneidet. In diesem Kapitel  soll
es um die Fachgeschichte der Psychologie gehen, die problemgeschichtlich und
ideengeschichtlich beleuchtet wird (7 Abschn. 1.1.2).
Zur Wissenschaftsforschung gehören die im Folgenden aufgelisteten Berei-
che, die sich z. T. auch im Psychologiestudium wiederfinden (wie z. B. die Wis-
senschaftsgeschichte oder Wissenschaftstheorie):
55 Wissenschaftstheorie:
55 Sie beschäftigt sich mit den theoretischen Grundlagen von Wissenschaft
(z. B. mit Fragen wie »Auf welchen Vorannahmen und Voraussetzungen
basieren die Erkenntnisse?«) und unterteilt sich wiederum in:
–– Epistemologie (Erkenntnislehre): Sie beschäftigt sich mit den Er-
kenntniswegen der Wissenschaft, d. h. mit der Frage, auf welche
Weise wir Wissen erlangen können.
–– Methodologie (Methodenlehre): Sie beschäftigt sich mit den
Methoden, die in der Wissenschaft angewendet werden können.
55 Epistemologie und Methodologie sind sich zwar sehr ähnlich, unter-
scheiden sich aber in folgendem Punkt: Die Epistemologie geht eher
von einem übergeordneten, philosophischen Standpunkt aus (z. B. mit
Fragen wie »Können wir überhaupt etwas tatsächlich wissen?« oder
»Wenn wir etwas wissen, woher wissen wir dann, dass das auch ge-
sichertes Wissen ist?«), dagegen beschäftigt sich die Methodologie mit
konkreten Vorgehensweisen (z. B. mit Fragen wie »Welche Methoden
stehen uns zur Verfügung, um etwas herauszufinden?« oder »Welche
Vor- und Nachteile hat die Methode XY?«).
55 Wissenschaftssoziologie beschäftigt sich mit sozialen Bedingungen und
der Organisation von Wissenschaft.
55 Wissenschaftspsychologie beschäftigt sich mit den individuellen Be-
dingungen von Wissenschaft, also v. a. mit der Forschungs- und Publika-
tionstätigkeit von Wissenschaftlern und Arbeitsgruppen.
55 Wissenschaftspolitik beschäftigt sich mit politischen Bedingungen von
Wissenschaft.
55 Wissenschaftsgeschichte/Fachgeschichte beschäftigt sich mit der histori-
schen Entwicklung von Wissenschaft.

1.1.2 Modelle der Fachgeschichte

Die Fachgeschichte kann auf verschiedenen Wegen beschrieben werden, wo-


von zwei in diesem Kapitel  verwendet werden: Die Problemgeschichte ist
1.1 • Über den Fachbereich
3 1

Wissenschaftsforschung

Problemgeschichte
Wissenschaftspsychologie

Wissenschaftsgeschichte
Wissenschaftssoziologie
Wissenschaftstheorie

Wissenschaftspolitik
Ideengeschichte

Sozialgeschichte

Personalistischer Ansatz

. Abb. 1.1  Die Wissenschaftsgeschichte mit ihren unterschiedlichen Modellen als Teil
der Wissenschaftsforschung. In diesem Kapitel  wird die Wissenschaftsgeschichte (Fach-
geschichte der Psychologie) problemgeschichtlich und ideengeschichtlich behandelt

inhaltlich-logisch orientiert und beschäftigt sich mit bestimmten Konzepten


oder Problemen (z. B. dem Leib-Seele-Problem) und wie sich deren wissen-
schaftliche Behandlung im Laufe der Jahrhunderte verändert haben (z. B. bei
Pongratz, 1984). Die Ideengeschichte geht im Gegensatz dazu streng chro-
nologisch vor und beschreibt, wann welche Ideen in der Vergangenheit in
welchen historischen Kontexten und ggf. auch aus welchen Gründen entstan-
den sind (z. B. bei Lück, 2013; Schönpflug, 2013). Zusätzlich zu diesen beiden
Modellen ist es auch möglich, einen personalistischen Ansatz anzuwenden,
der die Geschichte der Psychologie in biographischer Form anhand heraus-
ragender Persönlichkeiten erzählt (etwa bei Galliker, Klein & Rykart, 2007;
Volkmann-Raue & Lück, 2011), oder aber die Fachgeschichte in Form der
Sozialgeschichte zu berichten. Man bezieht sich dann auf die soziale Dimen-
sion, d.  h. die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der Fachbereich
in der Vergangenheit existiert hat, und auf die Entwicklung der Rahmenbe-
dingungen von Forschung und Lehre sowie Berufstätigkeit als Psychologe in
der Anwendungs- und/oder Forschungspraxis (etwa bei Ash & Geuter, 1985).
Die meiste Literatur, die es zur Geschichte der Psychologie gibt, ist problem-
geschichtlich, ideengeschichtlich oder personalistisch aufgebaut.

1.1.3 Methoden der Fachgeschichte

Um die Geschichte eines Fachbereichs zu untersuchen, können verschiedene


Methoden angewandt werden:
55 Quellenstudium und hermeneutische Methode: Bei dieser Vorgehens-
weise analysiert man Primär- (Texte aus 1. Hand), Sekundär- (Überblicks-
texte, die sich auf Primärliteratur beziehen) und Tertiärliteratur (Lehr-
texte, die sich v. a. auf Sekundärliteratur beziehen). Der hermeneutische
Zirkel beschreibt die Art und Weise, wie diese Quellen historisch einge-
ordnet und in ihrem wechselseitigen Bezug interpretiert werden können.
55 Archive und Museen: Neben der Nutzung von schriftlichen Informationen
kann natürlich auch auf alle anderen Materialien aus Archiven und Mu-
seen zurückgegriffen werden. In Deutschland existieren etwa interessante
4 Kapitel 1 • Geschichte der Psychologie

Dauerausstellungen historischer Untersuchungsapparate aus der frühen


1 Experimentalpsychologie im Deutschen Museum in München (Abteilung
Physik) und an der Universität Würzburg. Sehenswert sind auch Museen,
die großen Personen in der Geschichte der Psychologie gewidmet sind
(wie etwa die beiden Sigmund-Freud-Museen in Wien und in London).
55 Zeitzeugen befragen: Sofern möglich kann man z. B. bedeutende For-
scher über ihre eigenen Erfahrungen mit einem Fachbereich befragen
(z. B. Krampen, 2009).
55 Zeitreihenanalyse: Diese Methode ermittelt zeitabhängig historische
Trends (z. B. die Entwicklung der Suizidalität anhand von Suizidraten
oder von bibliometrisch ermittelten thematischen Entwicklungstrends in
der Forschung; etwa bei Krampen & Montada, 2002).
55 Bibliometrie/Szientometrie: Auch diese Methode versucht, zeitliche
Trends herauszuarbeiten, allerdings durch die Untersuchung von Publika-
tionsschwerpunkten, d. h. man ermittelt die Anzahl von veröffentlichten
Büchern zu einem bestimmten Themenbereich. Man untersucht z. B., in
wie vielen Veröffentlichungen in den letzten 100 Jahren das Schlagwort
»Bewältigung« vorkommt. Alternativ kann man auch Autoren, Forscher
oder Universitäten in einem bestimmten Bereich zählen (z. B. wie viele
Universitäten bieten seit 1875 den Studiengang Psychologie an). Um sol-
che Analysen vorzunehmen, kann auf die Inhalte von psychologischen
Datenbanken zurückgegriffen werden. Diese Datenbanken speichern die
Titel, Autoren und Zusammenfassungen von veröffentlichten Werken
oder Artikeln. Die zwei wichtigsten Datenbanken sind PsycINFO, die
primär Dokumentationen der angloamerikanischen Fachliteratur um-
fasst, und PSYNDEX, in der die gesamte psychologische Fachliteratur aus
den deutschsprachigen Ländern dokumentiert ist. Der Nachteil der Me-
thode der Bibliometrie ist, dass es sich um eine rein quantitative Methode
handelt, die keine qualitativen Aussagen ermöglicht. Das reine Auszählen
kann durch Dubletten (in einer Bibliothek doppelt vorhandene oder dop-
pelt katalogisierte Bücher) verzerrt werden, und außerdem muss man sich
auf die Klassifikation in den Datenbanken verlassen.

Bei allen Quellen (seien es Exponate, Schriftstücke oder Erinnerungen einer


Person) muss man im Hinterkopf behalten, dass sie erstens selektiv entste-
hen und zweitens selektiv überleben, d.  h. dass z.  B. irgendjemand darüber
entscheidet, ob ein Buch auf den Markt kommt oder ob es vernichtet oder
vergessen wird. Literatur oder auch andere Quellen zeigen somit immer ein
verändertes Abbild der tatsächlichen Fachgeschichte. Diese doppelte Selektivi-
tät und damit auch Subjektivität der Fachhistoriographie entspricht recht gut
der doppelten Selektivität und Subjektivität von biographischen Analysen in
der psychologischen Forschung und Diagnostik: Nicht alles, was ein Mensch
in seiner Biographie erlebt, wird dokumentiert (etwa durch Aufzeichnungen,
offizielle Dokumente, Fotos oder Filmaufnahmen), und nicht alles, was doku-
mentiert wurde, bleibt erhalten, sondern wird weggeworfen, absichtlich oder
unabsichtlich zerstört oder auch vergessen.

1.1.4 Gründe für die Auseinandersetzung mit der


Fachgeschichte

Es ist keine Willkür, dass die Geschichte der Psychologie häufig Teil des Stu-
diums ist. Vielmehr gibt es Gründe, die die Auseinandersetzung mit der Ge-
schichte des eigenen Fachbereichs sinnvoll machen (Lück, 2013):
1.2 • Problemgeschichte der Psychologie
5 1
55 Ordnungsfunktion: Für das Verständnis in einem Fachbereich hilft es,
vorhandenes Wissen in einen historischen Kontext einzuordnen.
55 Korrekturfunktion: Sich mit Geschichte zu beschäftigen, bringt es mit
sich, dass in der Vergangenheit gemachte Fehler aufgezeigt werden. Diese
können dann in Zukunft vermieden werden.
55 Erweiterung der Perspektiven: Die Auseinandersetzung mit der Fachge-
schichte weitet den Blick für unterschiedliche Perspektiven auf ein be-
stimmtes Forschungsthema.
55 Geschichte lehrt Bescheidenheit: Eigene Forschungsergebnisse werden
an bereits vorhandenen Errungenschaften relativiert.

1.2 Problemgeschichte der Psychologie

Wie bereits erläutert, beschäftigt sich die Problemgeschichte damit, wie sich
bestimmte Konzepte über die Zeit hinweg verändern. Um die Entwicklung
der Psychologie als Fachbereich zu verstehen, ist die Auseinandersetzung mit
der Ideengeschichte geeigneter. Allerdings gibt es in der Psychologie einige
Begriffe, die immer wieder eine zentrale Rolle eingenommen haben, weshalb
es sinnvoll ist, diese problemgeschichtlich zu behandeln (vgl. hierzu v. a. Pong-
ratz, 1984).

1.2.1 Seele und Seelenleben

Der Begriff der Seele ist in der heutigen psychologischen Forschung nicht
mehr präsent, er fand vielmehr Verwendung, bevor sich die Psychologie als
eigenständiges Fach im Kanon der Wissenschaften etablierte. So sprachen
(und sprechen) z.  B. Mythologien und Religionen von der Seele und unter-
schieden manchmal auch schon historisch sehr früh zwischen zwei Aspekten:
Der hierarchische Papyrus (Ägypten, um 2000 v.  Chr.) beschreibt beispiels-
weise eine Hauchseele (Ba), die den Tod eines Menschen überdauert, und
eine Körperseele (Ka), die an den physisch vorhandenen Menschen gebunden
ist. Eine ähnliche Vorstellung von zwei verschiedenen Seelen war auch in der
Antike (benannt als Psyche und Thymos) und im Mittelalter (etwa Anima
intellectiva und Anima vegetative bei Thomas von Aquin) vorherrschend. Erst
im Rationalismus kam es zu einer Umdeutung. Hier beschrieb Descartes die
Seele als denkende Substanz, und Leibniz bezeichnete sie als substanzielle Le-
benskraft. Der Begriff der Seele wurde so etwas weniger mystisch und als der
Person zugehörig interpretiert. Schließlich wurde die Vorstellung der Seele im
19. und 20. Jahrhundert vom Begriff der Person/Persönlichkeit abgelöst.
Während die Seele etwas Statisches ist, das eine Person umgibt, betont das
Seelenleben die Dynamik und Veränderung. Wie der Seelenbegriff wurde
auch das Seelenleben über die Zeit in etwas weniger Mystisches umdefiniert.
Überdauernd ist jedoch die Vorstellung, dass das Seelenleben durch die Sinnes-
erfahrung und persönlichen Wahrnehmungen gestaltet und beeinflusst wird.
Heute spiegelt sich das, was früher als Seelenleben bezeichnet wurde, wohl am
ehesten in dem Begriff der Psyche wider.

1.2.2 Bewusstsein und das Unbewusste

Der Begriff des Bewusstseins hat sich seit der Antike kaum verändert. Heu-
te wie damals bezeichnet das Bewusstsein die Fähigkeiten zur Intentionalität
6 Kapitel 1 • Geschichte der Psychologie

und Reflexivität des Menschen. Dem entgegen steht der Terminus des Un-
1 bewussten, der erst durch die Strukturmodelle der Persönlichkeit von Sig-
mund Freud Ende des 19. Jahrhunderts bekannt wurde. Alltagssprachlich (und
weniger korrekt) hört man oft auch das Wort Unterbewusstsein, womit das
Gleiche gemeint ist. Freud bezeichnete mit dem Unbewussten nicht abrufbare
Informationen, die nur in Träumen, Versprechern und freien Assoziationen an
die Oberfläche kommen. Heute gibt es dafür unterschiedliche Bedeutungen.
Auf der einen Seite meint man ein irrationales Gefühl oder eine Motivation
(»Mein Unbewusstes will mir sagen, dass…«; Bauchgefühl). Auf der anderen
Seite benutzt man das Unbewusste im Sinne von nicht bewusst (also prinzipiell
durchaus abrufbar, nur in dem Moment nicht im Bewusstsein). Zu dieser letzt-
genannten Bedeutung zählt z. B. die unbewusste Wahrnehmung, wie sie beim
inzidentellen Lernen (Lernen ohne Lernabsicht) eine Rolle spielt.

1.2.3 Erleben und Verhalten

Die Begriffe des Erlebens und Verhaltens spiegeln einen der methodischen
Grundkonflikte in der psychologischen Forschung wider. Als sich die Psy-
chologie als Wissenschaft zu entwickeln begann, herrschten zunächst wenig
empirische, primär subjektivistische Forschungsstrategien (wie z. B. Introspek-
tion = selbstreflektiertes Nachdenken) vor. Das wurde von den Behavioristen
(z.  B. Watson, Skinner) zu Beginn des 20.  Jahrhunderts stark kritisiert, da
diese Methode zu subjektiv sei. Sie vertraten die Auffassung, man könne sich
nur auf sichtbare Messwerte verlassen – also das Verhalten eines Menschen.
Was zwischen einem Reiz und dem ausgelösten Verhalten passierte, wurde in
die Black-Box verbannt und mit einem Fragezeichen versehen. Die kognitive
Wende in den 1960er Jahren schließlich brachte Gedanken und Gefühle in den
Fokus der Forschung zurück: Es vollzog sich eine Wandlung vom Behavioris-
mus zum Kognitivismus. Heute sind Erleben und Verhalten bzw. Handeln
(als mehr oder weniger reflektierte, ziel- und erwartungsbezogene Form des
Verhaltens) zentrale Grundbegriffe der Psychologie und stellen zwei der drei
großen Bereiche zur Beschreibung menschlichen Funktionierens (Emotion
und Motivation, Kognitionen, Verhalten) dar.

1.2.4 Leib-Seele-Problem

Das Leib-Seele-Problem ist die philosophische Frage danach, wie der Körper
und die Seele zusammenhängen. Es gibt sehr viele verschiedene Antworten auf
diese Frage, nur die wichtigsten werden hier dargestellt. Schon in der Antike
machte man sich über das Verhältnis von Leib und Seele Gedanken: Demokrit
ging z.  B. davon aus, dass Körper- und Seelenatome nebeneinander existie-
ren (parallelistischer Dualismus), ohne dass es einen Zusammenhang gebe,
schließlich könne sonst die Seele den Körper nach dem Tod nicht verlassen.
Aristoteles hingegen nahm an, dass Leib und Seele untrennbar verbunden sei-
en (Monismus), und Platon vermutete, dass Leib und Seele in Wechselwirkung
zueinander stünden (interaktionistischer Dualismus).
Das Leib-Seele-Problem wurde auch in anderen Zeitepochen immer wie-
der aufgegriffen. Als wichtiger Name ist René Descartes zu nennen, der im 17.
Jahrhundert die interaktionistisch-dualistische Idee fortführte. Er behauptete,
Leib und Seele seien zwar etwas Verschiedenes, aber es gebe eine Schaltstelle,
1.3 • Ideengeschichte der Psychologie
7 1
an der beides miteinander interagiere. Er nahm hierfür die Zirbeldrüse (Epi-
physe) an, da diese nur einmal im Gehirn vorkommt, täuschte sich damit aber.
Letztlich muss gesagt werden, dass sich die grundlegende Frage des Leib-
Seele-Problems nicht beantworten lässt. Im naturwissenschaftlichen Denken
von heute herrschen jedoch häufig materialistische Ideen vor, d. h., dass oft
implizit oder auch explizit davon ausgegangen wird, dass alle seelischen Vor-
gänge letztlich auf körperliche Variablen und Prozesse zurückgeführt werden
können (biologischer Materialismus).

1.2.5 Anlage-Umwelt-Debatte

Die Anlage-Umwelt-Debatte beschäftigt sich mit der Frage, ob das, was uns
Menschen auszeichnet und wie wir uns entwickeln, durch unsere Anlage (also
genetisch) oder durch unsere Umwelt bestimmt wird. Schon in der Antike
haben sich Philosophen mit dieser Frage beschäftigt, deren Ideen auch später
wieder aufgegriffen wurden. So ging Platon und später im Rationalismus auch
Descartes davon aus, dass angeborene Faktoren die Entwicklung des Men-
schen bestimmen. Diese Haltung nennt sich Nativismus. Dem gegenüber steht
der Empirismus, den z. B. Aristoteles in der Antike und Locke in der Zeit der
Aufklärung vertraten und der davon ausgeht, dass allein die Erfahrung und da-
mit die Wahrnehmung den Menschen prägen. Dahinter steckt die Vorstellung,
dass ein neugeborenes Kind eine Tabula rasa (d. h. eine leere Tafel) ist, die erst
durch die individuellen Erfahrungen beschrieben wird. Auch der Grundsatz
»Nihil est in intellectu, quod non prius fuerit in sensu«, was bedeutet »Nichts
ist im Verstand, was nicht vorher in den Sinnen war«, ist Ausdruck dieser
Haltung.
Beide Richtungen, der Nativismus und der Empirismus, sammelten Belege
dafür, dass ihre Haltung die richtige sei. Wie so oft erkannte man schließlich,
dass keine der beiden Absolutpositionen »wahr« ist, sondern beide einen wich-
tigen Ansatz liefern. Heute geht man deshalb davon aus, dass sowohl unsere
genetischen Vorbedingungen als auch unsere Wahrnehmungen aus der Um-
welt den Menschen formen und prägen. Diese Konzepte der Anlage-Umwelt-
Interaktion oder -Kovariation wurden von der amerikanischen Psychologin
Anna Anastasi Ende der 1950er Jahre vorgestellt.

1.3 Ideengeschichte der Psychologie

1.3.1 Die Ideengeschichte im Überblick

Die Ideengeschichte der Psychologie kann grob und vereinfachend in sieben


Epochen eingeteilt werden (Einteilung nach Krampen, 2006) und ist in der
folgenden Auflistung im Überblick dargestellt. Im Anschluss wird zunächst auf
die Beziehung zwischen verschiedenen Schulen und Therapieformen einge-
gangen, um eine begriffliche Klärung zu erreichen. Danach sollen die 5., 6. und
7. Epoche noch etwas genauer vorgestellt werden, da diese für das Verständnis
der heutigen Psychologie am wichtigsten sind.
1. Epoche (um 2000 v. Chr. bis ca. 500 v. Chr.): In diesem Zeitabschnitt
fanden sich die Seele und psychologische Fragen in Religion und Mytho-
logie wieder. Als erste Aufzeichnung über die Seele gilt der hierarchische
Papyrus, der die beiden Seelenteile Ka und Ba beschreibt.
8 Kapitel 1 • Geschichte der Psychologie

2. Epoche (ca. 500 v. Chr. bis 200 v. Chr.):


1 55 Übergang vom magischen zum wissenschaftlichen Denken: Psycho-
logische Themen wurden nicht mehr in der Religion, sondern in der
Philosophie und den frühen Naturwissenschaften wie z. B. Medizin
diskutiert. Zur Psychologie trugen vor allem Hippokrates, Aristoteles
und Platon bei.
55 Die antike Temperamentslehre von Hippokrates: Der Arzt Hippokra-
tes entwickelte u. a. die Theorie, dass jeder Mensch vier Temperamente
in sich trage. Solange zwischen den Typen Sanguiniker, Phlegmatiker,
Choleriker und Melancholiker Gleichgewicht herrsche, sei der Mensch
gesund. Nach Hippokrates‘ Beschreibung ist der Sanguiniker tempe-
ramentvoll, sorglos und unvorsichtig, der Phlegmatiker ist passiv und
bedacht, der Choleriker reizbar, launisch und hitzig, und der Melan-
choliker geht traurig und schwermütig durchs Leben. Diesen Typen
wurde je eine dominante Körperflüssigkeit zugeordnet, weshalb diese
Theorie auch unter dem Namen Viersäftelehre bekannt ist: Blut (San-
guiniker), Schleim (Phlegmatiker), gelbe Gallenflüssigkeit (Choleriker)
und schwarze Gallenflüssigkeit (Melancholiker). Geraten diese Säfte in
ein Ungleichgewicht, so bilden sich die Temperamenteigenschaften in
ihrem Extrem heraus.
55 Die Erkenntniswege der Deduktion und Induktion von Platon und
Aristoteles: Platon vertrat die Deduktion, was bedeutet, dass man von
der Theorie auf die Erfahrungen der Realität schließt und nicht um-
gekehrt, da Erfahrungen fehlerbehaftet sind. Aristoteles hingegen ver-
teidigte die Induktion als Erkenntnisweg, bei dem man versucht, aus
der erfahrbaren Umwelt über viele Beobachtungen eine Theorie abzu-
leiten. Platon und Aristoteles bildeten auch hinsichtlich der Anlage-
Umwelt-Debatte einen Gegensatz: Während Platon sich für die Anla-
georientierung aussprach, vertrat Aristoteles die Umweltorientierung.
3. Epoche (ca. 200 v. Chr. bis 1600 n. Chr.): Diese Phase zeichnete sich
dadurch aus, dass psychologische Fragestellungen wieder im Rahmen
von Religion erklärt wurden. In dieser Zeit vollzog sich zunächst ein
Rückschritt in die Mythologie, bis dann im Mittelalter die christliche
Dogmenlehre bestimmend wurde. Alles wurde Gottes Gesetz unter-
worfen (Theonomie = Gottesbestimmtheit des Menschen); man predigte,
dass alles Wissen von Gott stamme und deshalb auch nur durch Gottes-
nähe erreicht werden könne. Ab dem 11. Jahrhundert entwickelte sich
die Scholastik, die die Erkenntnisse der Antike mit der Dogmenlehre zu
verbinden versuchte: Man schmuggelte also die Wissenschaft durch die
Hintertür wieder herein und versuchte dennoch, es den Autoritäten recht
zu machen. Als wichtiger Vertreter ist hier Thomas von Aquin zu nennen.
4. Epoche (ca. 1600 bis 1900): Diese Epoche war durch das Zeitalter der
Aufklärung geprägt. Es kam zu einer Ausdifferenzierung der Wissen-
schaften, und auch psychologische Fragen wurden nun wieder wissen-
schaftlich untersucht. Allerdings gab es noch keinen eigenständigen Fach-
bereich der Psychologie, sie siedelte sich vielmehr in den Bereichen der
Medizin und Metaphysik (damalige Bezeichnung für die Philosophie) an.
5. Epoche (Ende des 19. Jahrhunderts): Dieser Zeitabschnitt kann auch als
Gründungsphase der Psychologie bezeichnet werden, da hier die Psy-
chologie als eigenständige Wissenschaft entstand. Herausragendes Datum
ist das Jahr 1875, in dem der Physiologe Wilhelm Wundt den ersten Lehr-
stuhl für Psychologie an der Universität Leipzig erhielt. Manchmal wird
1.3 • Ideengeschichte der Psychologie
9 1
als Gründungsdatum auch das Jahr 1979 angegeben, in dem Wundt das
erste experimentalpsychologische Labor ins Leben rief. Wundt begrün-
dete die erste Schule der Psychologie, den Strukturalismus und Elemen-
tarismus. Daneben begann ab 1890 auch Sigmund Freud an Theorien zur
zweiten Schule, der Psychoanalyse, zu arbeiten. Beide Schulen wurden auf
vielfältige Weise kritisiert und lieferten den Zündstoff für die Entstehung
weiterer Schulen in der 6. Epoche. Die zeitliche Zuordnung der Schulen
ist allerdings eher als grobe Orientierung zu verstehen, da es selten schar-
fe Grenzen von Beginn und Ende einer dieser Denkrichtungen gibt. So
begann z. B. Freud in der 5. Epoche damit, Ideen zur Psychoanalyse zu
veröffentlichen, aber die Weiterentwicklung von psychoanalytischen und
tiefenpsychologischen Themen blieb bis in die 6. Epoche und auch darü-
ber hinaus aktuell.
6. Epoche (ca. 1900 bis 1940/60): Diese Phase kann auch Konsolidierungs-
phase der Psychologie genannt werden, da sich hier die Psychologie
mehr und mehr als Wissenschaft verankerte und in der Gesellschaft
etablieren konnte. An immer mehr Universitäten entstanden Lehrstüh-
le für Psychologie, so dass sich nun mehr und mehr forschende Köpfe
Gedanken um psychologische Themen machten. Jeder hatte natürlich
andere Ideen, kritisierte fleißig die Vorgänger und versuchte, bessere und
passendere Erklärungsmodelle für das Funktionieren von Menschen zu
finden. Für den Fachbereich der Psychologie ist diese Zeit eine Art Selbst-
findungsphase und die »Zeit der großen Schulen«, da sich hier viele wei-
tere (neben dem Strukturalismus/Elementarismus und der Psychoana-
lyse/Tiefenpsychologie) grundlegende Ideen und Richtungen (Schulen)
entwickelten: Funktionalismus, Behaviorismus, Gestaltpsychologie und
phänomenologische/geisteswissenschaftliche Psychologie.
7. Epoche (seit ca. 1960): Dieser Zeitabschnitt umfasst die moderne Psycho-
logie und ist durch zwei Hauptmerkmale gekennzeichnet:
55 Auflösung des Schulendenkens: Das Schulendenken beginnt sich
mehr und mehr aufzulösen, es existiert nur noch in Nischen. Die
Psychologie ist zwar durchaus zu einem Fachbereich zusammenge-
wachsen, der sich klar zu verwandten Bereichen wie z. B. Pädagogik
abgrenzen kann, nach innen bedarf es jedoch weiterhin der Integra-
tion von Denkrichtungen, die sich etwa auf unterschiedliche methodo-
logische und theoretische Präferenzen beziehen.
55 Sonderstellung der Psychologie im Kanon der Wissenschaften: Die
verschiedenen Schulen standen und stehen teilweise auch heute noch
den Wissenschaftsbereichen Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaft
unterschiedlich nahe. Somit hat die Psychologie, verglichen mit ande-
ren Fachbereichen, die meist einem Bereich zugeordnet werden, einen
besonderen Stellenwert: Je nach Universität ist sie einer Fakultät/einem
Fachbereich für Natur-, Sozial- oder Geisteswissenschaft zugeordnet,
was sich etwa auch darin zeigt, dass promovierte Psychologen sowohl
einen Doktorgrad der Naturwissenschaften (Dr. rer. nat.), der Philo-
sophie (Dr. phil.) oder auch der Sozialwissenschaften (Dr. rer. soc.)
haben können.

Wie sich bereits in dieser Übersicht zeigt, ist die Geschichte der Psychologie
sehr von den verschiedenen Schulen geprägt. Diese werden noch genauer vor-
gestellt. Eine Übersicht findet sich in . Tab. 1.1.
10 Kapitel 1 • Geschichte der Psychologie

. Tab. 1.1  Übersicht über die verschiedenen Schulen der Psychologie. (Nach Bourne & Ekstrand, 1992; Krampen, 2006)
1
Schule Vertreter Forschungs- Psychologische Fach- Forschungs- Grundannahmen
methode bereiche gegenstand

Strukturalis- Wundt Introspektion, Völkerpsychologie, Wahrnehmung Jede Erfahrung ist aus


mus/Elemen- experimentelle experimentelle Psy- und Sinnes- einzelnen Teilen zusammen-
tarismus Ansätze chologie empfindungen gesetzt.

Psychoanalyse/ Freud Introspektion, Persönlichkeitspsycho- Das Unbewus- Verhalten und Erleben


Tiefenpsycho- Jung Einzelfallana- logie, Motivationspsy- ste, Triebe, werden maßgeblich von
logie Adler lyse chologie, Entwick- Abwehr unbewussten Inhalten ge-
lungspsychologie, steuert.
klinische Psychologie

Funktionalismus Dewey Introspektion, Lernpsychologie, Moti- Lernprozesse, Denken und Verhalten


James Tierexperiment vationspsychologie Assoziationen erfüllen eine Funktion und
sind ständiger Veränderung
unterworfen.

Behaviorismus Watson Experiment Lernpsychologie, Klassische und Menschliches Verhalten ist


Skinner Methodik in der Psy- operante Kon- erlernt und lässt sich durch
Hull chologie ditionierung Reiz-Reaktions-Ketten er-
Tolman klären (S-R-Theorien).

Gestaltpsycho- Wertheimer Experiment Wahrnehmungs- und Wahrnehmung, Will man etwas über die
logie Köhler Denkpsychologie Gestaltgesetze Psyche herausfinden, muss
Lewin man das Ganze in den Blick
Külpe nehmen.

Geisteswissen- Dilthey Hermeneutik Phänomenologie Menschliches Um psychische Phänomene


schaftliche Husserl Erleben (z. B. zu verstehen, ist ein deuten-
Psychologie Spranger Gefühle) der Ansatz nötig.
Jaspers

1.3.2 Schulen und Psychotherapieformen

Die Uneinigkeit in der Psychologie, einhergehend mit dem Ringen um Berech-


tigung und Anerkennung der jeweiligen Ideen, sorgt im Psychologiestudium
oft für Verwirrung. Deshalb steht zunächst eine wichtige begriffliche Unter-
scheidung im Vordergrund.
Die Ideenvielfalt der Psychologie spiegelt sich in zwei Kontexten wider: zum
einen im Forschungskontext, in dem man von Schulen der Psychologie spricht
und damit die verschiedenen Denkrichtungen bezeichnet, die in der Vergangen-
heit an den Universitäten vorherrschend waren; zum anderen im Anwendungs-
kontext, in dem man verschiedene Psychotherapieformen unterscheidet, die
jeweils andere Ansätze an die Behandlung von psychischen Störungen haben.
Beides hängt miteinander zusammen, da die Anwendungspraxis aus den uni-
versitären Gedanken entstanden ist. Allerdings ist die Einteilung der einzel-
nen Ideen je nach Kontext etwas unterschiedlich: Wenn man von Schulen der
Psychologie spricht, meint man damit i. d. R.: Strukturalismus/Elementarismus,
Psychoanalyse/Tiefenpsychologie, Funktionalismus, Behaviorismus, Gestalt-
psychologie und geisteswissenschaftliche Psychologie. Wenn man jedoch die
Psychotherapieformen beschreiben will, unterteilt man in: tiefenpsychologische/
psychodynamische, verhaltenstherapeutische (manchmal noch in lerntheoreti-
sche und kognitive Verhaltenstherapie geteilt), humanistische und systemische
Ansätze sowie die allgemeine Psychotherapie (etwa von Klaus Grawe), die ver-
sucht, alle Ideen zu vereinen. Zum Teil ist begrifflich klar, was woraus entstanden
ist bzw. sich beeinflusst hat. Allerdings nimmt z. B. die systemische Therapie eine
1.3 • Ideengeschichte der Psychologie
11 1

Tiefenpsy- Funktiona- Behavioris-


chologie/ lismus mus Gestalt-
Psycho- psychologie
Geistes-
analyse
wissen-
Struktu- schaftliche
ralismus Psychologie

Humanistische Ansätze

Systemische Therapie
Verhaltenstherapie
Tiefenpsychologie

Allgemeine Psychotherapie

. Abb. 1.2  Überblick über den Zusammenhang von psychologischen Schulen und
Therapierichtungen

gewisse Sonderstellung ein, da sie weniger von psychologischen Schulen als viel-
mehr aus philosophischen und kybernetischen Theorien entstanden ist. Welche
Schulen welche Therapierichtungen beeinflusst haben bzw. welche zueinander
Parallelen aufweisen, verdeutlicht . Abb. 1.2.

1.3.3 5. Epoche: Zündstoff für die Schulenentstehung

In der 5. Epoche der Geschichte der Psychologie entstanden die ersten beiden
großen Schulen: der Strukturalismus/Elementarismus und die Psychoanaly-
se/Tiefenpsychologie. Beide wurden auf vielfältige Weise kritisiert und lie-
ferten den Zündstoff für die Entstehung weiterer Schulen; sie sind damit also
bis heute von erheblicher heuristischer Bedeutung für die Entwicklung der
modernen Psychologie.

1. Schule: Strukturalismus und Elementarismus


Wilhelm Wundt war nicht nur Begründer des Fachbereichs Psychologie, son-
dern auch der ersten Schule – dem Strukturalismus und Elementarismus (5.
Epoche). Zu Wundts Leben muss man wissen, dass er die Psychologie in zwei
Teilbereiche unterschied: die experimentelle Psychologie, die den Einzelnen,
das Individuum als Forschungsobjekt betrachtete, und die Völkerpsychologie,
die sich mit dem Kollektiv, genauer den kulturellen, historischen und sozialen
Bedingungen, beschäftigte. Während letztere heute eher Gegenstand der An-
thropologie, Soziologie und z.  T. der kulturvergleichen (Sozial-)Psychologie
ist, gehört Erstgenanntes nach wie vor in den Fachbereich Psychologie.
Betrachten wir Wundts sog. experimentelle Psychologie etwas genauer.
Er nutzte die damals übliche, aber an sich wenig wissenschaftliche, da sehr
subjektivistische Methode der systematischen Introspektion, was eine etwas
hochtrabende Bezeichnung für »Hinsetzen und Nachdenken« ist. Man beob-
achtet sich selbst und versucht herauszufinden, wie Menschen wohl funktio-
nieren mögen. Wundt fand diese Vorgehensweise allein nicht aussagekräftig,
12 Kapitel 1 • Geschichte der Psychologie

weshalb er sie in experimentelle Bedingungen einbettete, d. h. er befragte als


1 Versuchsleiter die Teilnehmer ganz genau nach ihren Empfindungen. Wundts
Forschungsschwerpunkte lagen bei Wahrnehmung und Sinnesempfindungen.
Ihn interessierte die Frage, wie ein Reiz von den Nervenzellen in das Bewusst-
sein gelangt. Er nahm an, dass sich jede Erfahrung aus kleineren Teilen zu-
sammensetzt, er betrieb somit eine Elementenanalyse und versuchte Struktur
in die Funktionsweise des Menschen zu bringen.
Der Strukturalismus stützt sich auf verschiedene Grundannahmen und
Axiome, die im Folgenden aufgeführt sind:
55 Subjektivismus: Alle Erlebnisse und Erfahrungen sind subjektiv. Deshalb
sind Erfahrungen Gegenstand der Untersuchungen.
55 Elementarismus/Atomismus: Die Psyche ist in Einzelteile zerlegbar.
55 Sensualismus: Empfindungen sind der Ursprung von Denken und Han-
deln, weshalb Sinnesdaten Grundlage der Forschung sein müssen.
55 Mechanismus: Man nimmt mechanische Verarbeitungsprozesse an (ge-
nauer: einzelne Elemente verbinden sich durch Assoziationen zu Ketten).
55 Dualistischer Parallelismus: Leib und Seele sind voneinander getrennte
Systeme, die parallel existieren.

2. Schule: Psychoanalyse und Tiefenpsychologie


Die Entstehung der Psychoanalyse begann in der 5. Epoche und reicht bis
in die 6. hinein. Untrennbar ist die Psychoanalyse mit dem Namen Sigmund
Freud verbunden (1856–1939). Obwohl man diesen Namen aufs Engste mit
der Psychologie verknüpft, war Freud nicht Psychologe, sondern Mediziner.
Bei seiner Tätigkeit als Arzt wurde er wiederholt mit Hysterie-Patienten kon-
frontiert, die körperliche Beschwerden aufwiesen, ohne dass eine organische
Grundlage zu finden war. Freud führte Studienreisen zu Jean Martin Charcot
in Paris (1885–1886) und Hippolyte Bernheim in Nancy (1889) durch, die ihn
zu der Theorie der Psychoanalyse inspirierten. Er lernte auf diesen Reisen die
Hypnosetechnik und ihre Auswirkungen kennen und schlussfolgerte, dass es
etwas Unbewusstes geben müsse, das unser Verhalten maßgeblich steuert, zu
dem uns der direkte, bewusste Zugang jedoch verwehrt bleibt. Der Grund-
gedanke von Freuds Behandlung war folgender: Gelingt es, die Ursache einer
Krankheit aus dem Unbewussten ins Bewusstsein zu rufen, so ist der Mensch
geheilt. Obwohl die Hypnose Freud überhaupt erst auf die Idee zu seinen Per-
sönlichkeitsstrukturmodellen gebracht hat, arbeitete Freud selbst weniger mit
dieser Technik, sondern zog Analysen freier Assoziationen, die Traumanalyse
und Analysen von Fehlleistungen (z. B. Versprecher) vor.
Ab 1890 begann Freud seine Theorie zur Psychoanalyse aufzubauen. Er
entwickelte nach und nach vor allem Theorien zur Persönlichkeit, Motivation
und Entwicklung eines Menschen, die im Folgenden vorgestellt werden.
Als Beiträge zur Persönlichkeitspsychologie lieferte Freud drei Theorien
(zur Übersicht s. Nitzschke, 2011): zwei Strukturmodelle, die sich mit dem
Aufbau der menschlichen Psyche beschäftigen, und eine Theorie zu Abwehr-
mechanismen, die sich stärker auf die Dynamik menschlichen Funktionierens
konzentriert.
Das 1. Strukturmodell geht davon aus, dass sich unsere Persönlichkeit in
unterschiedliche Bewusstseinsbereiche unterteilen lässt, wobei das Unbewus-
ste für unser Verhalten und Erleben von großer Bedeutung ist. Die Bereiche
sind:
55 Das Bewusste bezeichnet das, was im jeweiligen Moment im Bewusstsein
ist.
1.3 • Ideengeschichte der Psychologie
13 1
55 Das Vorbewusste bezeichnet Dinge, die im Moment nicht im Bewusst-
sein sind, die aber jederzeit abgerufen werden können.
55 Das Unbewusste enthält Informationen, die nicht abrufbar sind und sich
nur in freien Assoziationen, ggf. auch in Träumen oder Fehlhandlungen
äußern.

In seinem 2. Strukturmodell unterteilte Freud die Psyche ebenfalls in drei


Teile, wobei jeder die unterschiedlichen Anforderungen widerspiegelt, denen
Menschen ausgesetzt sind:
55 Es (»Lustprinzip«): Das Es ist angeboren, umfasst die sexuelle Energie des
Menschen und strebt immer nach direkter Triebbefriedigung.
55 Ich (»Realitätsprinzip«): Das Ich entwickelt sich sehr schnell im Laufe
des Heranwachsens und hat die Aufgabe, zwischen Es und den Realitäts-
anforderungen, später auch zwischen dem Es und dem Über-Ich zu ver-
mitteln.
55 Über-Ich (»Gewissen«, »Moralprinzip«): Das Über-Ich entsteht nach
Freud im Alter von 4–5 Jahren und beinhaltet Regeln und Normen, die
ursprünglich von außen an uns herangetragen, aber im Laufe der ersten
Lebensjahre ein Teil von uns selbst werden.

In einer dritten Persönlichkeitstheorie schließlich beschäftigte Freud sich da-


mit, wie menschliches Verhalten und Erleben reguliert werden. Er ging davon
aus, dass es Mechanismen geben müsse, die das Ich vor Konflikten schützen,
die er als Abwehrmechanismen bezeichnete. Obwohl der Begriff der Abwehr
später von einigen Autoren auf Strategien beschränkt wurde, die für die Person
eher ungünstig sind, verwendete Freud den Begriff neutral, d. h. dass Abwehr-
mechanismen im Freudschen Sinne sowohl günstig als auch ungünstig sein
können. Heute würde dafür besser der Begriff »Bewältigung« passen, wobei
auch dieser von vielen Autoren unterschiedlich verstanden wird. Einige Bei-
spiele für Abwehrmechanismen sind:
55 Verdrängung: Ein (innerer oder äußerer) Reiz wird ins Unbewusste ver-
schoben (langfristig).
55 Verleugnung: Äußere Reize werden als kurzfristige Schutzreaktion ge-
leugnet.
55 Sublimierung (Ersatzhandlungen): Innere Reize werden abgewehrt, in-
dem die Triebwünsche in gesellschaftlich anerkannte Handlungen um-
gewandelt werden.

Für die Motivationspsychologie steuerte Freud seine Libido-Theorie bei, die


folgende Grundannahmen und Gedanken umfasst:
55 Unser gesamtes Gefühlsleben wird von einer Energie bestimmt: der Libi-
do.
55 Libido bezeichnet (nach Freud) dabei nur sexuelle Energie.
55 Libido (Eros, Liebestrieb) und – im Spätwerk Freuds hinzugetreten –
Thanatos (als Aggressions- und Todestrieb) sind die Pole, zwischen denen
sich das Gefühlsleben (Es) abspielt.
55 Freud unterschied zwischen »reifer« und »unreifer« Libidoentwicklung:
Während sich die eine von selbstbezogenen Interessen lösen kann, führt
die andere zu Neurosen.

Im Bereich der Entwicklungspsychologie erarbeitete Freud seine Phasenlehre


von der menschlichen Entwicklung, wobei das Kind in jeder Phase aus einem
anderen Objekt Lustgewinn zieht. Im Laufe der Zeit entwickelt sich dann die
14 Kapitel 1 • Geschichte der Psychologie

stabile sexuelle Identität von Erwachsenen. Folgende Phasen werden unter-


1 schieden:
55 Orale Phase:
55 Sie umfasst das 1. Lebensjahr.
55 Der Mund ist erogene Zone.
55 Kritischer Entwicklungspunkt: Abstillen bzw. Übergang zum Löffel
55 Anale Phase:
55 Sie umfasst das 2.–3. Lebensjahr.
55 Dominanz der Ausscheidungsorgane
55 Kritischer Entwicklungspunkt: Reinlichkeitserziehung
55 Phallische (ödipale) Phase nach Freud, heute: prä-genitale Phase:
55 Sie umfasst das 4.–5. Lebensjahr.
55 Erforschen des eigenen Körpers (Autoerotik)
55 Kritischer Entwicklungspunkt: Verbot der Autoerotik
55 Entwicklung der Geschlechterrollen
55 Latenzphase:
55 Sie umfasst das 6. Lebensjahr und reicht bis zur Pubertät.
55 Rollenausdifferenzierung
55 Genitale Phase:
55 Sie beginnt in der Pubertät.
55 Hinwendung zum anderen Geschlecht (nach Freud) bzw. zu Sexual-
partnern

Freuds Theorien erzielten vielfältige und weitreichende Wirkungen. Zunächst


wurde Freud für seine Ideen kritisiert, sie fanden jedoch schnell internationale
Verbreitung. Er wurde aus folgenden Gründen kritisiert:
55 Seine Konstrukte und Aussagen sind empirisch kaum fassbar.
55 Seine Methode ist sehr subjektiv.
55 Seine Theorien sind sehr stark verallgemeinert.

Trotzdem sind Freud einige Verdienste zuzuschreiben:


55 Er gab Impulse für Persönlichkeits-, Motivations-, Entwicklungspsycho-
logie sowie Psychopathologie.
55 Gerade weil er heftig kritisiert wurde, entstanden vielfältige, andere Ideen
und neue Schulen, die sehr fruchtbar für die Psychologie waren.
55 Er hatte eine zentrale Bedeutung für die Entwicklung psychotherapeuti-
scher Behandlungsmethoden.

1.3.4 6. Epoche: Ausdifferenzierung der Schulen

In Reaktion auf den Strukturalismus und die Tiefenpsychologie entstanden


weitere Schulen: Funktionalismus, Behaviorismus, Gestaltpsychologie und
geisteswissenschaftliche Psychologie. Jede kritisierte die Ideen der anderen
Schulen und versuchte, neue und (vermeintlich) bessere Gedanken zur Psy-
chologie beizutragen.

3. Schule: Funktionalismus
Der Funktionalismus entstand in Reaktion auf den Strukturalismus und Ele-
mentarismus. Beispielsweise kritisierte John Dewey das atomistische Auf-
spalten in kleine Subteile. Der Funktionalismus versuchte, die Dynamik
psychischer Prozesse zu betrachten und fragte nach dem Warum und nach
der Funktion. Als wichtiger Vertreter ist William James zu nennen, der die
1.3 • Ideengeschichte der Psychologie
15 1
Psychologie als Fachbereich an amerikanischen Universitäten etablierte. In-
haltlich beschäftigte sich der Funktionalismus mit lernpsychologischen The-
men und leitete damit in den Behaviorismus über. Als wichtigen Beitrag zur
Lernpsychologie formulierte Edward L. Thorndike das Effektgesetz, das eine
wesentliche Grundlage für Lernprozesse darstellt. Korrekt formuliert lautet
es: Hat in einer bestimmten Situation eine bestimmte Reaktion positive Kon-
sequenzen, so wird die Assoziation zwischen der Situation und der Reaktion
gefestigt. Etwas einfacher ausgedrückt, kann man sagen: Wird ein bestimmtes
Verhalten (auch ein bestimmtes Gefühl) belohnt, so wird der Auslöser mit dem
ausgelöstem Verhalten verknüpft. Dieser Zusammenhang wurde im Behavio-
rismus schließlich unter dem Schlagwort »operante Konditionierung« weiter
erforscht.
Als Forschungsmethoden nutzte der Funktionalismus wie auch der Struk-
turalismus und die Psychoanalyse die Introspektion, versuchte jedoch auch
allmählich zu Tierexperimenten überzugehen, da sich die Forscher an der
Subjektivität der Introspektion störten. Als Verdienste des Funktionalismus
sind folgende Punkte zu nennen:
55 Einführung einer dynamische Sichtweise: Es wurde zum ersten Mal dem
Umstand Rechnung getragen, dass sich die Psyche ständig verändert.
55 Betonung der Zielgerichtetheit von Denken und Verhalten: Abkehr von
Ursachen, die in der Vergangenheit liegen, und Hinwendung zum Sinn
und Zweck unseres Verhaltens, die in der Zukunft liegen.
55 Die Formulierung des Effektgesetzes war ein wichtiger Schritt, um
menschliches (Lern-)Verhalten zu verstehen.
55 Die Orientierung an der Funktion von Verhalten stellte die Geburtsstun-
de der Motivationspsychologie dar.

4. Schule: Behaviorismus
Der Behaviorismus entwickelte sich aus dem Funktionalismus, nahm jedoch
eine radikalere Position gegenüber Subjektivität in der Psychologie ein und
versuchte sich damit massiv sowohl vom Strukturalismus und Elementarismus
als auch von der Psychoanalyse/Tiefenpsychologie abzugrenzen. Infolgedessen
propagierten die Behavioristen das Experiment als methodischen Königsweg
der Forschung. Man versuchte sich nur an beobachtbaren und sinnlich wahr-
nehmbaren Dingen zu orientieren (Empirismus), um dadurch ein möglichst
hohes Maß an Objektivität zu erreichen. Wie der Funktionalismus beschäftigte
sich auch der Behaviorismus mit menschlichen Lernprozessen und begründete
die S-R-Theorien (Stimulus-Response-Theorien). Im Gegensatz zum Funktio-
nalismus (der sich z.  B. mit nicht beobachtbaren Motivationen beschäftigte)
machte sich der Behaviorismus keine Gedanken über das, was zwischen einem
Reiz und einer Reaktion innerhalb eines Organismus passiert. Da man dies
ohnehin nicht erforschen könne, ohne die Ergebnisse subjektiv zu verfälschen,
wurde einfach eine Black-Box dazwischengeschaltet, in der die Reize »verarbei-
tet« würden. Es wurde also ein wichtiger Teil menschlichen Seins sehr stark
vereinfacht und aus dem Forschungsinteresse ausgeschlossen.
Zu den radikalen Behavioristen zählten John Watson, der sich mit der klas-
sischen Konditionierung beim Menschen beschäftigte (bekanntes Experiment
»Little Albert«), und Burrhus Frederic Skinner, der sich mit operanter Kondi-
tionierung und Verhaltensbeobachtung auseinandersetzte. Zu den etwas libe-
raleren Neo-Behavioristen zählten Clark Hull, der auch hypothetische, d.  h.
nicht beobachtbare Konstrukte in seinen Theorien zuließ, sowie Edward Tol-
man, der Mechanismen des latenten Lernens (unbewusstes Lernen) erforschte.
16 Kapitel 1 • Geschichte der Psychologie

1 5. Schule: Gestaltpsychologie
Die Gestaltpsychologie entstand in Reaktion auf den Elementarismus des Struk-
turalismus. Inhaltlich beschäftigte man sich viel mit menschlicher Wahrneh-
mung und stellte dabei fest, dass Menschen oft mehr wahrnehmen als tatsäch-
lich vorhanden ist, dass also die elementaristische Konstanzannahme, nach der
identische Reize stets zu identischen Wahrnehmungen führen, nicht gilt. Dies
wird an zahlreichen Bildern zu optischen Täuschungen offensichtlich. Man
kritisierte deshalb die Aufteilung des Menschen in Einzelbestandteile, die nach
Meinung der Gestaltpsychologie gar nicht wichtig seien, aber wie es z. B. im
Strukturalismus und der Psychoanalyse üblich war. Max Wertheimer betonte,
man müsse vielmehr das Ganze (die »Gestalt«) in den Blick nehmen, wenn
man etwas über menschliches Funktionieren herausfinden wolle. Christian
von Ehrenfels formulierte erste Gestaltgesetze, die diese Position begründen:
55 Übersummativität: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile
(1. Gestaltgesetz).
55 Transponierbarkeit: Wenn man alle Einzelteile eines Systems ändert, kann
die Gestalt trotzdem erhalten bleiben (2. Gestaltgesetz).

Innerhalb der Gestaltpsychologie können verschiedene Subschulen unter-


schieden werden: Die Berliner Schule wurde durch Wolfgang Köhler, der sich
mit Einsichtslernen beschäftigte, und Kurt Lewin, der menschliches Verhalten
in Abhängigkeit vom Lebensraum (Person und Situation) untersuchte (Feld-
theorie), geprägt. Die Würzburger Schule wurde v. a. von Oswald Külpe ver-
treten, der Denkprozesse mithilfe von fraktionierter (unterbrochener) Intro-
spektion untersuchte und sich vehement gegen die Auffassung sträubte, dass
Denken mechanistisch ablaufe. Er war damit einer der wichtiger Vorbereiter
der kognitiven Wende.

6. Schule: Geisteswissenschaftliche Psychologie


Auch die geisteswissenschaftliche Psychologie stellte wie die Gestaltpsycho-
logie eine Gegenbewegung zum Elementarismus dar. Darüber hinaus kriti-
sierte sie jedoch auch den Objektivismus der Behavioristen. Man vertrat die
Auffassung, dass psychische Phänomene nicht allein mit Experimenten er-
forscht werden könnten, sondern ein verstehender deutender Ansatz nötig sei.
Inhaltlich beschäftigte sich die geisteswissenschaftliche Psychologie mit der
Phänomenologie, d. h. mit der Lehre von inneren (d. h. Erleben) und äußeren
(d. h. Verhalten) Erscheinungen/Phänomenen. Als methodischen Ansatz griff
sie entsprechend auf die Hermeneutik (Deutungslehre) zurück.
Als Gründer der geisteswissenschaftlichen Psychologie kann Wilhelm Dil-
they gesehen werden, der psychische Phänomene aus ihrem Kontext heraus zu
erklären versuchte. Edmund Husserl betonte darüber hinaus, wie wichtig das
subjektive Erleben für die Beschreibung des Seelischen sei (Subjektivismus).
Weitere wichtige Vertreter waren Eduard Spranger, der Psychologie als Wis-
senschaft vom Einzelsubjekt verstand, und Karl Jaspers, der den geisteswissen-
schaftlichen Ansatz auf die klinische Psychologie übertrug.

1.3.5 6. Epoche: Konsolidierung der Psychologie

Die jüngere Geschichte der Psychologie wurde durch zwei Krisen und die Auf-
lösung der Schulen in der modernen Psychologie geprägt. Die 1. Krise der
Psychologie umfasste den Streit um Gegenstand und Methoden der Psycho-
1.3 • Ideengeschichte der Psychologie
17 1
. Tab. 1.2  Übersicht über die Gegensätze zwischen qualitativer und quantitati-
ver Methodik. (Nach Bortz & Döring, 2006)

Quantitative Methode Qualitative Methode

Naturwissenschaftlich Geisteswissenschaftlich

Partikulär Holistisch

Nomothetisch Idiographisch

Laborstudien Feldstudien

»Forschungsobjekte« »Forschungssubjekte«

Reliabilität und interne Validität häufig gut Reliabilität und interne Validität oft
fragwürdig

Externe Validität häufig fragwürdig Externe Validität häufig gut

Deduktiv Induktiv

Erklären Verstehen

logie. 1927 setzte sich Karl Bühler mit dem damaligen Stand der Psychologie
auseinander und fand zwei Pole in der Psychologie, die sich gegenüberstanden:
Auf der einen Seite stand der naturwissenschaftliche Ansatz, der vom Struk-
turalismus, Behaviorismus und Funktionalismus vertreten wurde, und auf der
anderen Seite der gestaltpsychologische und geisteswissenschaftliche Ansatz.
Levy vertrat die Hypothese, die Krise der Psychologie komme durch eine ein-
seitige quantitative Herangehensweisen an die Psychologie zustande und es
fehle an ganzheitlicher Theorienbildung. Durch diese Kritik wurde der Gegen-
satz von qualitativer und quantitativer Methode offensichtlich, der in . Tab. 1.2
dargestellt ist, aber nicht im Sinne eines absoluten Entweder-Oders, sondern
eher im Sinne eines abwägenden Sowohl-als-Auchs behandelt werden sollte.
Die 2. Krise der Psychologie bestand in der Ideologisierung des Fachbe-
reichs während der NS-Zeit. Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 wurden
viele Professoren entlassen, und es kam zu einer Emigrationswelle, die die
psychologische Forschung auf bestimmten Gebieten sehr ins Stocken brachte.
Psychologische Theorien, die nicht in das Schema der NS-Ideologie passen,
wurden angepasst. Die Psychologie, die in Deutschland noch geduldet, ge-
braucht und genutzt wurde, war die Arbeits- und Militärpsychologie, in der
man Eignungsverfahren für das Militär entwickelte. Die pädagogische Psy-
chologie profitierte sogar von dieser Zeit, was sich konkret im Ausbau von
Erziehungsberatungsstellen äußerte, die dem Ziel dienten, auf die Familien
Einfluss zu nehmen. Kontrolle auszuüben war für die Nationalsozialisten auch
im Hinblick auf das Psychologiestudium wichtig: So entwickelten sie die 1.
Diplomprüfungsordnung und bauten psychologische Institute aus, die mit der
Ideologie konform waren.

1.3.6 7. Epoche: Charakteristika der modernen Psychologie

Die moderne Psychologie, die sich ab den 1960er/70er Jahren entwickelt,


zeichnet sich durch folgende Charakteristika aus:
55 Es kommt zu einem enormen personellen Aufschwung in der Lehre,
Forschung und Anwendung, gesprochen wird auch von einem »Psycho-
Boom« in den Industrieländer.
18 Kapitel 1 • Geschichte der Psychologie

55 Dadurch mit bedingt kann eine klare Trennung der Schulen nicht mehr
1 aufrecht erhalten werden. Zunehmend wird erkannt, dass jede Schule
ihre Berechtigung hat, dabei allerdings alleine nicht der Komplexität
menschlichen Erlebens und Verhaltens gerecht werden kann. Resultat ist
ein theoretischer Pluralismus in der Psychologie, in dem die einzelnen
Schulen beginnen zu verschwinden, wenngleich in einem nur langsamen
Prozess. So ist z. B. das Studium an einigen Universitäten auch heute noch
auf eine Schule ausgerichtet und erwähnt die anderen nur am Rande.
Auch in der Ausbildung zum Psychotherapeuten halten sich hartnäckig
die Konzepte der Verhaltenstherapie, Tiefenpsychologie/Psychoanalyse,
klientzentrierter (humanistischer) und systemischer Therapie als getrenn-
te Wege, wenngleich in der Praxis die verschiedenen Psychotherapeuten
Seite an Seite arbeiten. Die Etablierung einer allgemeinen Psychotherapie
wurde im deutschsprachigen Bereich von Klaus Grawe ins Rollen ge-
bracht, sie hat sich jedoch (noch) nicht durchgesetzt.
55 Der personelle Aufschwung erfordert auch eine zunehmende Institutio-
nalisierung, schließlich müssen die Interessen des Fachbereichs durch
Gremien, Vereine, Gesellschaften usw. organisiert und vertreten werden.
55 Die Psychologie wird zunehmend gesellschaftsfähig, d. h. es gibt ein grö-
ßer werdendes Interesse der Gesellschaft an der Psychologie.
55 Die Ausbildung wird zunehmend anwendungsorientierter, die For-
schung spezialisierter.
55 Prinzipiell gibt es einen methodischen Pluralismus, alle Methoden sind
erlaubt und werden angewendet. Allerdings dominiert die naturwissen-
schaftliche Orientierung leicht gegenüber der geisteswissenschaftlichen
(wohl weil die quantitative Methode leichter anzuwenden und zu inter-
pretieren ist).

Darüber hinaus ist die moderne Psychologie durch die kognitive Wende ge-
prägt, die sich in den 1960er Jahren vollzog und die Hinwendung der Psycho-
logie zu nicht direkt Messbarem und nicht Sichtbarem, wie Gedanken und
Gefühlen, bezeichnet. Nachdem die Behavioristen solche »weichen« Daten aus
der psychologischen Forschung und der Psychotherapie verbannt hatten und
sich stattdessen nur auf Verhalten konzentrierten, schmuggelten sie nun die
Kognitionen durch die Hintertür wieder herein. Besonders deutlich wird dies
an den verschiedenen Psychotherapieformen: Erst entwickelte sich die Ver-
haltenstherapie (in ihrer ursprünglichen Form), die sich sehr massiv von der
Tiefenpsychologie abgrenzen wollte, hinterher dann die kognitive Verhaltens-
therapie, die plötzlich wieder viele Ähnlichkeiten mit der konkurrierenden
Therapieform aufwies. Die kognitive Wende war ein notwendiger Schritt in der
Geschichte der Psychologie, denn sie zwang die Behavioristen, einen wichtigen
Teil der menschlichen Psyche wieder in die Forschung mit einzubeziehen.

1.4 Konklusion

Die hier erläuterte Geschichte der Psychologie lässt sich durch zwei Zitate
charakterisieren (Krampen, 2006). Das eine stammt von Hermann Ebbing-
haus aus dem Jahre 1908: »Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, aber
nur eine kurze Geschichte.« Dies verdeutlicht, dass die Psychologie als eigen-
ständiger Fachbereich im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen
recht jung ist (1875 mit dem ersten Lehrstuhl entstanden), dennoch haben sich
die Menschen schon in der Vergangenheit mindestens seit 2000  v.  Chr. mit
Literatur
19 1
psychologischen Konzepten zunächst im Rahmen von Mythologien und Reli-
gionen, dann auch im Rahmen anderer Wissenschaften beschäftigt.
Das zweite Zitat stammt von Wolfgang Schönpflug aus dem Jahr 2000:
»Die Psychologie hatte nur eine kurze Geschichte, doch eine lange Zukunft.«
Diese Aussage verdeutlicht, dass sich die Psychologie als Wissenschaft gut eta-
bliert hat, so dass sie nicht mehr als »neuer Fachbereich« heraussticht. Die zu-
künftige Entwicklung des Fachbereichs scheint vielversprechend: Die Psycho-
logie nimmt z. B. zunehmend Einfluss auf zahlreiche andere Ausbildungs- und
Studiengänge (z. B. Lehramt, Medizin, Pädagogik, Sozialarbeit, Pflegewissen-
schaft, Stadtplanung, Theologie, Jura) und entwickelt sehr viele lebensnahe
Anwendungsfelder, was den hohen Bedarf der modernen Industriestaaten
nach psychologischer Expertise verdeutlicht.

Literatur

Ash, M. G. & Geuter, U. (Hrsg.). (1985). Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert.
Opladen: Westdeutscher Verlag.
Von Aster, E. (1980). Geschichte der Philosophie (17. Aufl.). Stuttgart: Kröner.
Bortz, J. & Döring, N. (2006). Forschungsmethoden und Evaluation (4. Aufl.). Heidelberg:
Springer.
Bourne, L. E. & Ekstrand, B. R. (1992). Einführung in die Psychologie. Eschborn: Klotz.
Ebbinghaus, H. (1908). Abriß der Psychologie. Leipzig: Feit & Co.
Galliker, M., Klein, M. & Rykart, S. (2007). Meilensteine der Psychologie: Die Geschichte der
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Grawe, K. (2004). Neuropsychotherapie. Göttingen: Hogrefe.
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21 2

Allgemeine Psychologie
Franziska Schmithüsen und Dieter Ferring

2.1 Grundlagen – 23
2.1.1 Zur Psychologie im Allgemeinen – 23
2.1.2 Zum Fachbereich der Allgemeinen Psychologie – 26

2.2 Lernpsychologie – 26
2.2.1 Allgemeines zur Lernpsychologie – 26
2.2.2 Zum Lernen im Allgemeinen – 27
2.2.3 Assoziationslernen – 28
2.2.4 Klassische Konditionierung – 29
2.2.5 Operante Konditionierung – 30
2.2.6 Beobachtungslernen – 33
2.2.7 Zum Gedächtnis im Allgemeinen – 35
2.2.8 Gedächtnisformen – 35
2.2.9 Gedächtnismodelle – 37
2.2.10 Enkodierungsprozesse – 40

2.3 Kognitive Psychologie – 40


2.3.1 Allgemeines zur kognitiven Psychologie – 40
2.3.2 Repräsentation von Wissen – 43
2.3.3 Das Wesen der Sprache – 46
2.3.4 Sprachwahrnehmung – 48
2.3.5 Sprachproduktion – 55
2.3.6 Zusammenhang von Sprache und Denken – 57
2.3.7 Logisches Denken und Schlussfolgern – 57
2.3.8 Problemlösen – 60
2.3.9 Urteilen und Entscheiden – 63
2.3.10 Der Mensch – Ein defizitäres Wesen? – 66

2.4 Motivationspsychologie – 67
2.4.1 Allgemeines zur Motivationspsychologie – 67
2.4.2 Zur Motivation im Allgemeinen – 68
2.4.3 Einfache Motivationsmodelle – 69
2.4.4 Komplexe Motivationsmodelle – 71
2.4.5 Volitionsmodelle – 74
2.4.6 Intrinsische Motivation – 77
2.4.7 Leistungsmotivation – 78

F. Schmithüsen (Hrsg.), Lernskript Psychologie, Springer-Lehrbuch,


DOI 10.1007/978-3-662-44941-7_2, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
2.4.8 Affiliationsmotiv – 80
2.4.9 Machtmotivation – 81

2.5 Emotionspsychologie – 82
2.5.1 Allgemeines zur Emotionspsychologie – 82
2.5.2 Einführung – 83
2.5.3 Historische Emotionstheorien – 84
2.5.4 Moderne (kognitive) Emotionstheorien – 86

2.6 Konklusion – 89

Literatur – 89
2.1 • Grundlagen
23 2
2.1 Grundlagen

2.1.1 Zur Psychologie im Allgemeinen

Psychologie und ihre Teildisziplinen


Die Psychologie ist die Lehre vom Erleben und Verhalten des Menschen und
beschäftigt sich auf der einen Seite mit Beobachtbarem (Verhalten) und auf der
anderen Seite mit Nicht-Beobachtbarem (Fühlen, Denken, Wollen). Sie steht
als Fachbereich nicht allein, sondern ist vielmehr – nicht zuletzt bedingt durch
ihre Entstehungsgeschichte – »von Natur aus« interdisziplinär und macht sich
die Erkenntnisse aus anderen Fachbereichen wie Medizin, Biologie, Philoso-
phie und Statistik zunutze (Zimbardo, 2004; Myers, 2008).
Sie hat zwei eng verwandte Fachgebiete, die ebenfalls den Menschen zum
Forschungsobjekt machen: Soziologie und Anthropologie. Die Soziologie
grenzt sich von der Psychologie dadurch ab, dass sie sich auf Menschen im so-
zialen Gefüge konzentriert. Etwas vereinfacht gesagt, untersuchen Soziologen
das Verhalten von vielen Menschen, Psychologen das von einzelnen Menschen.
Die Anthropologie beschäftigt sich im Vergleich zur Psychologie eher mit der
phylogenetischen Entwicklung des Menschen, d. h. mit der Entwicklung der
menschlichen Gattung von der Entstehung bis heute (Phylogenese = Stam-
mesgeschichte). Es handelt sich also um einen evolutionsbiologischen Ansatz,
während die Psychologie eher eine ontogenetische Perspektive einnimmt, d. h.
sie untersucht, wie sich ein einzelner Mensch von seiner Geburt bis zum Tod
entwickelt und verändert (Ontogenese = Geschichte des Einzelnen). Natürlich
weisen alle Bereiche Überschneidungen auf, wie z. B. in der evolutionären So-
zialpsychologie oder Kulturpsychologie deutlich wird.
Nach innen teilt sich die Psychologie in mehrere Teildisziplinen auf, wobei
man sich die Frage besser nicht stellt, warum die einzelnen »Psychologien«
genau in dieser Weise entstanden sind und ab wann ein bestimmter Bereich
als eigenständige Disziplin gewertet werden kann. Um eine Orientierung zu
erreichen, betrachtet man besser, nach welchen Kriterien sich die einzelnen
Bereiche unterscheiden lassen. Man kann die Teildisziplinen abgrenzen nach
theoretischen Prinzipien, Funktionsbereichen, Untersuchungsaspekten, An-
wendungsbereichen und methodischen Ansätzen (.  Abb.  2.1; Schönpflug,
1999f).
Die Teildisziplinen der Psychologie, die sich nach theoretischen Prin-
zipien richten, stellen die verschiedenen Schulen der Psychologie dar, die
in  7  Kap. 1 ausführlich dargestellt wurden. Die Disziplinen, die sich auf be-
stimmte Funktionsbereiche richten, werden unter allgemeiner Psychologie«
zusammengefasst und werden in diesem Kapitel dargestellt. Die Bereiche, die
sich durch ihren Untersuchungsgegenstand abgrenzen, werden in je eigenen
Kapiteln behandelt. Die Anwendungsbereiche und methodischen Ansätze
sind sehr umfangreich und würden je ein eigenes Buch in Anspruch nehmen.
Die Teildisziplinen, die sich durch eine besondere Methodik abgrenzen, sind
weniger bekannt und haben sich im Studium nicht als eigenständige Bereiche
durchgesetzt; meist wird die Methodenlehre nicht in weitere Subdisziplinen
unterteilt.
In diesem Kapitel  sollen die grundlegenden Funktionsbereiche des Men-
schen aufgegriffen werden: Lern-, Motivations-, Emotions- und kognitive Psy-
chologie. Nur die Wahrnehmungspsychologie wird hier ausgeklammert und
stattdessen im  7  Kap. 4 (Biopsychologie) aufgegriffen, da Wahrnehmung mit
der neuronalen Reizübertragung und damit mit biopsychologischen Aspekten
beginnt.
24 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Theoretische Funktions- Untersuchungs- Anwendungs- Methodische


Prinzipien bereiche aspekte bereiche Ansätze
2
Strukturalismus Wahrnehmungs- Sozial-
psychologie Klinische Experimentelle
psychologie
Tiefen- Psychologie Psychologie
psychologie Lernpsychologie
Biopsychologie
Funktionalismus
Motivations- Pädagogische Verstehende
psychologie Psychologie Psychologie
Behaviorismus Entwicklungs-
Emotions- psychologie
Gestalt- psychologie
psychologie Arbeits- &
Mathematische
Persönlichkeits- Organisations-
Geisteswiss. Kognitions- Psychologie
psychologie psychologie
Psychologie psychologie

. Abb. 2.1  Überblick über die verschiedenen Teildisziplinen der Psychologie. Die umrahm-
ten Bereiche werden in je eigenen Kapiteln in diesem Buch aufgegriffen

Aufgaben der Psychologie


Die Psychologie hat – wie andere Wissenschaften auch – folgende Aufgaben:
Beschreiben, Erklären, Vorhersagen, Verändern (Nolting & Paulus, 1999;
Zimbardo, 2004).
Beschreiben erfolgt dadurch, dass man Daten sammelt, genauer: dass man
Verhalten und die Bedingungen, unter denen es auftritt, beobachtet:
55 Definition von Beobachten: Man macht einen Ablauf von Ereignissen
aktiv zum Objekt der eigenen Aufmerksamkeit. Wir beobachten, indem
wir wahrnehmen, interpretieren, speichern, abrufen und dies wieder in
Verhalten umsetzen.
55 Beobachtungen erfolgen über die Messmethoden der Psychologie:
55 Introspektion
55 Fremdbeobachtung (teilnehmender oder nicht-teilnehmender
Beobachter)
55 Befragungen (z. B. Anamnese, Interview, therapeutisches Gespräch)
55 Experimente
55 Videoaufzeichnungen
55 Non-reaktive Maße
55 Wie gut eine Beobachtung ist, wird über die Gütekriterien bestimmt:
55 Objektivität (Unabhängigkeit vom Beobachter/ist das Ergebnis neut-
ral/objektiv?)
55 Reliabilität (Unabhängigkeit vom Messgerät oder Zuverlässigkeit der
Messung/ist das Ergebnis richtig?)
55 Validität (Unabhängigkeit von der gesamten Untersuchungssituation
oder Gültigkeit der Daten/ist das Ergebnis relevant?)

Um zu erklären, greift die Psychologie auf zwei grundlegend unterschiedliche


Strategien zurück, eine geistes- und eine naturwissenschaftliche Vorgehens-
weise:
55 Die in den Geisteswissenschaften angewandte idiographische (= das Einzel-
ne beschreibend) Vorgehensweise sucht nach dem Einmaligen und will das
Individuum in seiner Ganzheit erfassen. Man bedient sich der Induktion als
Schlussfolgerung, um vom Einzelnen auf das Allgemeine zu schließen.
2.1 • Grundlagen
25 2
55 Die in den Naturwissenschaften übliche nomothetische (= auf das Auf-
finden von Gesetzmäßigkeiten zielend) Vorgehensweise sucht nach all-
gemeinen Gesetzen und schließt vom Allgemeinen auf den Einzelnen
(Deduktion).

Die Vorhersage erfolgt in der Psychologie über statistische Methoden, die auf
der Grundlage von bestimmten Daten eine Wahrscheinlichkeitsaussage über
die zukünftige Entwicklung erlauben. Vorhersagen haben in der Psychologie
allerdings ein grundlegendes Problem: Die Vorhersage, die uns meistens wirk-
lich interessiert, ist die eines Einzelfalls, z. B.: Ist es für Jonas, dessen Noten-
durchschnitt sich deutlich verschlechtert hat, nötig, auf eine andere Schule zu
wechseln oder nicht?
Statistik kann aber immer nur Aussagen über Populationen, d. h. über viele
Menschen treffen. Bei einem Münzwurf sagt z. B. die Wahrscheinlichkeit von
50 % nur, dass wenn man ganz oft wirft, in der Hälfte der Fälle Kopf und in der
Hälfte der Fälle Zahl oben liegen wird. Man kann allerdings nie vorhersagen,
wie der Einzelfall (z. B. der nächste Wurf) ausgehen wird. Bezogen auf obige
Beispielfrage heißt das, dass wir nur sagen können, ob es für ein Schulkind in
dieser Situation normalerweise gut ist, die Schule zu wechseln. Ein Einzelfall
kann aber vom Durchschnitt ganz erheblich abweichen.
Diese Erläuterung mag überraschen, ist doch die Statistik die Methode, die
der Psychologie ihre Wissenschaftlichkeit verleiht. Letztlich ist Statistik jedoch
eine Hilfswissenschaft, die wir nutzen, weil sie verglichen mit anderen Vorge-
hensweisen (z. B. Introspektion) deutlich erkenntnisreicher ist.
Übrigens sind natürlich auch andere Wissenschaften diesem Vorhersage-
problem unterworfen: Meteorologen können z. B. auch nicht genau vorhersa-
gen, ob es über meinem Haus heute regnen wird oder nicht, die Vorhersage ist
vielmehr auf eine größere Region bezogen. Der Unterschied zur Psychologie ist
aber, dass es beim Wetter meistens weniger relevant ist, wenn man mit der Vor-
hersage falsch liegt – im schlimmsten Fall wird man eben nass –, in der Psycho-
logie ist jedoch z. B. ein Schulwechsel mit tiefgreifenden sozialen Veränderun-
gen verbunden, wie dem Wechsel des Freundeskreises, und das wiederum mit
dem allgemeinen Wohlbefinden und der Lebenszufriedenheit. Abweichungen
von der Vorhersage können wir beim Wetter besser tolerieren und uns deshalb
auch erlauben, so zu tun, als wäre die Vorhersage zuverlässiges Wissen. In der
psychologischen Praxis sollte man sich jedoch klar sein, dass Wahrscheinlich-
keiten eine Entscheidungshilfe für den Einzelfall sind und keine Wahrheit oder
Realität darstellen, und das sollte man dem Laien auch so kommunizieren.
Die Vorhersage von Verhalten ist v. a. deshalb interessant, weil sie erlaubt,
problematisches Verhalten zu verändern. Verhaltenskontrolle umfasst dabei,
55 neues Verhalten auszulösen,
55 bereits vorhandenes Verhalten aufrechtzuerhalten,
55 Verhalten zu beenden,
55 die Häufigkeit oder Intensität eines Verhaltens zu beeinflussen.

Wie Verhalten modifiziert werden kann, ist dabei die grundlegende Frage,
auf die die Anwendungsbereiche der Psychologie eine Antwort geben. Allge-
mein gesprochen gibt es drei verschiedene Intentionen und Zielsetzungen, aus
denen heraus eine Veränderung herbeigeführt werden soll:
55 Korrektur:
55 Der Ausgangszustand ist problematisch oder gestört.
55 Die Veränderung richtet sich darauf, dieses Negative bzw. den Leidens-
druck aufzuheben (z. B. durch Therapie).
26 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Förderung:
55 Der Ausgangszustand ist nicht in besonderem Maße problematisch, es
ist jedoch Optimierungspotenzial vorhanden.
2 55 Man versucht, die Situation zu verbessern, obwohl kein Leidensdruck
besteht (z. B. durch Training).
55 Prävention:
55 Der Ausgangszustand ist ebenfalls unproblematisch, ggf. liegen bereits
Risikofaktoren vor.
55 Man versucht, das Auftreten von Problemen zu verhindern (z. B. durch
Alkoholprävention mit Jugendlichen).

In der Praxis sind die Übergänge zwischen diesen verschiedenen Ansätzen


fließend.

2.1.2 Zum Fachbereich der Allgemeinen Psychologie

Im Vergleich zu den anderen Subdisziplinen hat man insbesondere bei dem


Bereich der Allgemeinen Psychologie versucht, ihm seine Berechtigung als
eigenständigem Bereich abzusprechen, da sich die behandelten Themen im
Prinzip auch in der Sozial-, Bio-, Entwicklungs- und Persönlichkeitspsycho-
logie wiederfinden (Schönpflug, 1999). Folgt man jedoch der Definition von
Psychologie als Lehre vom Erleben und Verhalten, so kann das menschliche
Erleben in drei Grunddimensionen unterteilt werden, die bereits von Aris-
toteles und Platon benannt wurden: Denken = Kognition, Fühlen = Emotion
und Wollen = Motivation. Diesen grundlegenden Funktionsbereichen des
Menschen widmet sich die Allgemeine Psychologie und versucht, möglichst
allgemeingültige Regeln zu finden, um die Aufgaben der Psychologie zu er-
füllen. Somit gibt sie im Vergleich zu anderen Teildisziplin die wohl direkteste
Antwort auf die Frage, wie der Mensch funktioniert, und möglicherweise ist
das der Grund, warum sie stets fester Bestandteil der Modulprogramme im
Studium ist.

2.2 Lernpsychologie

2.2.1 Allgemeines zur Lernpsychologie

Die Lernpsychologie beschäftigt sich mit den Mechanismen des Wissens-


erwerbs (Lernen) und denen der Abspeicherung (Gedächtnis), wie in
.  Abb. 2.2 ersichtlich. Im Prinzip können vier Arten des Lernens unterschie-
den werden: Assoziationslernen, klassische Konditionierung, operante Kon-
ditionierung und Beobachtungslernen. Der Bereich zum Gedächtnis umfasst
drei Themenabschnitte: Gedächtnisformen, Gedächtnismodelle und Enkodie-
rungsprozesse.
Die Lernforschung wurde dabei hauptsächlich von zwei Richtungen beein-
flusst (Mazur, 2004):
55 Der Behaviorismus betonte die äußeren Ereignisse und versuchte, Lern-
prozesse ohne intervenierende Variablen (z. B. Motivation) zu erklären.
55 Der Kognitivismus beschäftigte sich gerade mit diesen inneren Ereig-
nissen, da intervenierende Variablen Theorien deutlich vereinfachen
können.
2.2 • Lernpsychologie
27 2

Lernpsychologie

Lernen Gedächtnis

Assoziations- Klassische

Ge
en
rm


lernen Konditionierung

ch
sfo

tn
ni

ism
c ht
Operante Beobachtungs-

od

ell
Ge
Konditionierung lernen Enkodierung

e
. Abb. 2.2  Übersicht über die Themen der Lernpsychologie

Die Unterschiedlichkeit der beiden Ansätze des Behaviorismus und des Kogni-
tivismus zeigen sich im Bereich der Lernpsychologie deutlicher als in anderen
Teildisziplinen der Psychologie. Der Paradigmenwechsel wird daran deutlich,
dass man bei der klassischen Konditionierung noch jegliche kognitive Beteili-
gung am Lernprozess ausklammerte, diese jedoch beim Modelllernen explizit
betonte.
Allen Lerntheorien liegen jedoch zwei Postulate zugrunde: zum einen das
Gesetz der Assoziation (Menschen erwerben Wissen, indem sie Ideen mit-
einander verbinden), zum anderen das Gesetz des adaptiven Hedonismus
(Menschen versuchen, sich so anzupassen, dass sie möglichst positive Gefühls-
zustände erreichen).

2.2.2 Zum Lernen im Allgemeinen

Lernen kann definiert werden als Wissensspeicherung oder als dauerhafte Ver-
änderung des Verhaltens, die sich durch Erfahrung vollzieht und somit nicht
angeboren ist. Um sich erlernten Verhaltensweisen zu widmen, ist es zunächst
wichtig, zu wissen, von welchen angeborenen Verhaltensweisen Lernen ab-
gegrenzt werden muss:
55 Orientierungsreaktion: Hinwendung zu einem neuen Reiz
55 Schreckreaktion: Erschrecken nach einem unerwarteten Reiz
55 Reflex: Stereotype Reaktion auf einen Stimulus; Reflexe können auch von
klassischer Konditionierung beeinflusst werden (wie z. B. der Speichel-
fluss bei Pawlows Hunden).
55 Fixes Verhaltensmuster: Mehrere Verhaltensweisen, die, wenn sie erst mal
durch einen Stimulus ausgelöst wurden, bis zum Ende ablaufen
55 Reaktionskette: Mehrere Verhaltensweisen, bei denen die Fortsetzung
von einem Verhalten zum nächsten vom richtigen Stimulus abhängt

Da Lernen als Verhaltensänderung definiert ist, muss es von anderen Formen


der Verhaltensänderung abgegrenzt werden:
55 Ermüdung: Verhaltensänderung durch Änderung der physischen Bedin-
gungen
28 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Sensorische Adaptation: Verringerte Sensibilität der Sinnesorgane auf-


grund konstanter Stimulation
55 Reifung: Reifung ist angeboren und genetisch bedingt.
2 55 Prägung: Angeborene Verhaltenstendenz
55 Habituation, Gewöhnung: Abnahme der Reaktionsstärke nach wieder-
holter Präsentation des Stimulus (z. B. bei Schreckreaktion), ohne dass
dies auf Ermüdung oder sensorische Adaptation zurückgeführt werden
könnte
55 Sensitivierung: Zunahme der Reaktionsstärke nach wiederholter Präsen-
tation des Stimulus

Darüber hinaus fallen als Formen des Lernens immer wieder die folgenden
Begriffe:
55 Latentes Lernen: Lernen hat schon stattgefunden, obwohl es sich noch
nicht zeigt.
55 Implizites Lernen: Lernen ohne Aufmerksamkeit (unbewusst)
55 Explizites Lernen: Lernen mit Aufmerksamkeit
55 Inzidentelles Lernen: Beiläufiges Lernen
55 Intentionales Lernen: Motiviertes Lernen

Während eines Lernprozesses finden verschiedene physiologische Verände-


rungen im Zentralnervensystem statt. Im Prinzip kann Lernen auf drei ver-
schiedene Prozesse zurückgeführt werden:
55 Wachstum neuer Synapsen: Verzweigung der Dendriten (Arborisation)
und Vergrößerung der Synapsenoberfläche
55 Wachstum neuer Neurone
55 Biochemische Veränderung bestehender Synapsen

2.2.3 Assoziationslernen

Das Assoziationslernen ist die einfachste Form des Lernens und liegt den
anderen Lernformen zugrunde. Als Assoziation bezeichnet man die gedank-
liche Verknüpfung von zwei oder mehr Informationen. Schon Aristoteles
formulierte wichtige Assoziationsprinzipien (z.  B. Ähnlichkeit, Kontrast
und zeitliche/räumliche Nähe). Später wurden diese von Thomas Brown
erweitert. Zusammengefasst unterliegt das Assoziationslernen folgenden
Einflüssen (Mazur, 2004):
55 Zeitliche/räumliche Nähe (Kontiguität)
55 Ähnlichkeit
55 Kontrast
55 Zeitdauer der Koexistenz zweier Wahrnehmungen
55 Lebendigkeit/Prägnanz der Wahrnehmungen
55 Häufigkeit der Präsentation der Wahrnehmungen
55 Dauer, die seit der letzten Präsentation vergangen ist
55 Freiheit der Wahrnehmungen von anderen Assoziationen
55 Konstitutionelle (körperliche, geistige, seelische) Unterschiede
55 Aktueller emotionaler Zustand
55 Aktueller physischer Zustand
55 Verhaltensgewohnheiten
2.2 • Lernpsychologie
29 2
2.2.4 Klassische Konditionierung

Der Lernmechanismus der klassischen Konditionierung wurde von Iwan


Pawlow entdeckt, der eigentlich die chemische Zusammensetzung der Ver-
dauungssäfte (z.  B. Speichel) analysieren wollte und sich zunächst nicht für
Verhaltens- und Lernmechanismen interessierte. Bei seinen Experimenten mit
Hunden beobachtete er jedoch, dass die Hunde schon Speichel produzierten,
bevor sie das Futter wahrnehmen (sehen oder riechen) konnten. Vielmehr war
es ein neutraler Reiz, auf den die Hunde reagierten und der die Verdauungsre-
aktion auslöste. In nachfolgenden Experimenten benutzte Pawlow eine Glocke
als neutralen Reiz und erforschte viele Phänomene und Regeln der klassischen
Konditionierung.
Die klassische Konditionierung kann definiert werden als: Ein anfäng-
lich neutraler Stimulus (neutraler Stimulus = NS) und ein nicht neutraler
Stimulus (unkonditionierter Stimulus = UCS oder US) werden so lange ge-
koppelt, bis es zu einer Reizsubstitution kommt, d. h. dass nun der NS die
gleiche Reaktion auslöst wie der UCS und so zu einem konditionierten Sti-
mulus (CS) wird (Mazur, 2004). In den Experimenten von Pawlow stellt die
Glocke den NS dar, der UCS ist das Futter und die ausgelöste Reaktion die
Speichelproduktion. In klassischen Fällen wie bei Pawlow ist die ausgelöste
Reaktion beim CS und beim UCS die gleiche, es kann allerdings auch manch-
mal Unterschiede geben, weshalb sprachlich zwischen konditionierter (CR)
und unkonditionierter Reaktion (UR) unterschieden wird. Durch klassische
Konditionierung lassen sich v. a. Reflexhandlungen beeinflussen (z. B. Lid-
schlussreflex), was mit ein Grund dafür ist, dass klassisch konditioniertes
Verhalten sehr löschungsresistent ist.
Bei der klassischen Konditionierung können folgende Phasen unterschie-
den werden:
55 Kontrollphase: NS darf nicht die UR auslösen, UR und Orientierungsre-
aktion müssen unterscheidbar sein.
55 Konditionierungsphase (Akquisitionsphase): NS und UCS werden so
lange gekoppelt, bis der NS zu CS wird, indem er die CR auslöst.
55 Extinktionsphase (Löschung, Überlernen): Präsentation des CS ohne
UCS, bis die Reaktion verschwindet.
55 Spontanerholung: Auftreten der (eigentlich gelöschten) CR nach einer
längeren Pause

Wie eng CS und UCS aneinander gekoppelt werden, hängt von den Einfluss-
größen der Assoziation ab, v. a. (Mazur, 2004)
55 vom zeitlichen Abstand zwischen Beginn des CS und dem Einsetzen des
UCS (Interstimulusintervall = ISI). Es können verschiedene Formen der
Konditionierung unterschieden werden:
55 Simultane Konditionierung: Gleichzeitige Präsentation von CS und
UCS
55 Spurenkonditionierung: CS und UCS sind durch ein zeitliches Inter-
vall ohne Stimulus getrennt.
55 Verzögerte Konditionierung: CS setzt ca. 1s vor dem UCS ein (CS
und UCS enden gleichzeitig) a kurze Verzögerung, CS setzt mehrere
Sekunden vor dem UCS ein (CS und UCS enden gleichzeitig) a lange
Verzögerung.
55 Rückwirkende Konditionierung: CS wird nach dem UCS präsentiert.
55 von der Aufmerksamkeit, die dem CS geschenkt wird.
55 von der Stärke des UCS bzw. Reaktionsamplitude.
30 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 von der Reaktionslatenz (Schnelligkeit, mit der CR auf CS folgt).


55 vom Löschungswiderstand: Emotional-motivationale Reaktionen sind
widerstandsfähiger gegen Löschung.
2
In der Erforschung der klassischen Konditionierung hat man viele Phänomene
entdeckt und beschrieben:
55 Konditionierung höherer Ordnung: Eine CR von einem CS wird auf
einen anderen CS übertragen. Ein Beispiel ist die Konditionierung zwei-
ter Ordnung, bei der nach der Konditionierung eines CS1, CS1 und CS2
gekoppelt werden, so dass nun auch der CS2 die CR auslöst.
55 Sensorische Präkonditionierung: CS1 und CS2 werden vor der Konditio-
nierung von CS1 gekoppelt, Kopplung von CS1 und US, CS2 löst nun auch
die CR aus.
55 Disinhibition: Wird nach erfolgreicher Extinktion vor dem CS ein ablen-
kender (neuer) Stimulus präsentiert, tritt die CR wieder auf.
55 Schneller Wiedererwerb: Führt man nach erfolgreicher Akquisition und
Extinktion eine zweite Akquisitionsphase durch, so ist der Lernerfolg in
dieser Phase höher.
55 Reizgeneralisierung: Nach erfolgreicher Akquisition lösen auch dem CS
ähnelnde Stimuli die CR aus.
55 Reizdifferenzierung (Diskrimination): Reaktion auf einen bestimmten
Stimulus, ein ähnlicher wird ignoriert.
55 Selektive Assoziation: Angeborene Tendenz, bestimmte Reize miteinan-
der zu verknüpfen
55 Konditionierte Inhibition: Ein CS verhindert das Auftreten einer CR a
konditionierter Inhibitor.
55 Konditionierte kompensatorische Reaktion: CR ist das Gegenteil der UR.

In der praktischen Anwendung der klassischen Konditionierung nutzt man


folgende Mechanismen, um eine Verhaltensänderung zu bewirken:
55 Gegenkonditionierung: Entwicklung einer aversiven konditionierten
Reaktion auf Reize, die mit unerwünschtem Verhalten (z. B. Rauchen,
Drogen) assoziiert sind a aber Kontextreize können eine Gegenkonditio-
nierung erfolglos machen.
55 Systematische Desensibilisierung: Schrittweise Präsentation von Reizen, die
zunehmend stärker Angst auslösen. Durch diese Art der Exposition kommt
es zur Gewöhnung an den Reiz (Habituation) und Löschung der CR.

Die drei letztgenannten Mechanismen (Gegenkonditionierung, konditionierte


kompensatorische Reaktion und systematische Desensibilisierung) werden in
der Verhaltenstherapie genutzt, um problematisches und belastendes Verhal-
ten zu verändern.

2.2.5 Operante Konditionierung

Die operante Konditionierung (auch instrumentelle Konditionierung) basiert


auf dem Effektgesetz von Edward Thorndike. Dieses besagt, dass sich die Wahr-
scheinlichkeit, dass ein bestimmtes Verhalten in Zukunft wieder auftritt, dann er-
höht, wenn dem spezifischen Verhalten befriedigende Konsequenzen folgen. Man
geht hier also davon aus, dass Menschen über die Konsequenzen ihres Verhaltens
lernen. Der Deutlichkeit halber spricht man nun jedoch nicht mehr von positiven
oder negativen Konsequenzen, sondern von Verstärkung und Bestrafung:
2.2 • Lernpsychologie
31 2

. Tab. 2.1  Übersicht über die Verstärkerpläne und ihre Wirkung

Kontinuierliche Intermittierende Verstärkung


Verstärkung
Fixierter Intervallplan Fixierter Quotenplan Variabler Variabler
Quotenplan Intervallplan

Definition Jedes Auftreten Die erste Reaktion, die Nach jeder n-ten Reaktion Durchschnittlich Verstärker sind
der gewünsch- nach einer bestimmten wird ein Verstärker ver- jede n-te Reaktion nach nicht
ten Reaktion Zeitspanne auftritt, abreicht. wird verstärkt. voraussagba-
wird verstärkt. wird verstärkt. ren Intervallen
Dies führt verfügbar.
schnell zum
gewünschten
Verhalten.

Wirkung Führt schnell Führen zu hoher Löschungsresistenz.


zum gewünsch-
Führen zu stark wechselnden Verhaltenshäufigkeiten. Führen zu gleichmäßigem Verhalten.
ten Verhalten.
Führen zu hohen Reaktionshäufigkeiten.

55 Über Verstärkung wird Verhalten aufgebaut:


55 Positive Verstärkung: Darbietung einer angenehmen Konsequenz
55 Negative Verstärkung: Entzug einer unangenehmen Konsequenz
55 Über Bestrafung wird Verhalten abgebaut:
55 Positive Bestrafung: Darbietung einer unangenehmen Konsequenz
55 Negative Bestrafung: Entzug einer angenehmen Konsequenz

Der Ablauf der operanten Konditionierung kann wie die klassische Konditio-
nierung in Phasen beschrieben werden:
55 Kontrollphase: Bestimmung der Grundrate eines Verhaltens
55 Akquisitionsphase: Verstärkung des Verhaltens
55 Extinktionsphase (Löschung, Überlernen): Abnahme und Verschwinden
den Verhaltens durch Ausbleiben der Verstärkung
55 Spontanerholung: Nachdem das gelernte Verhalten eigentlich gelöscht ist,
tritt es nochmal auf.

Wie sehr die über operante Konditionierung gelernten Inhalte behalten wer-
den, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Generell lernt man über Verstär-
kung besser als über Bestrafung. Verstärkung ist aber nicht gleich Verstärkung,
sondern kann nach unterschiedlichen Verstärkungsplänen gestaltet werden.
Die Definition und die Wirkung der jeweiligen Pläne sind in .  Tab. 2.1 dar-
gestellt. Bei einem optimalen Verstärkerplan würde man die kontinuierliche
Verstärkung zum Verhaltensaufbau nutzen und dann abnehmende intermit-
tierende Verstärkung anwenden.
Nutzt man Bestrafung zum Lernen von Verhaltensänderungen, sind fol-
gende Faktoren für die Wirksamkeit wichtig:
55 Stabilität des unerwünschten Verhaltens: Je stabiler, desto schwieriger zu
ändern
55 Motivation zur Ausführung des unerwünschten Verhaltens: Je größer
die Motivation zur Beibehaltung des Verhaltens, desto schwieriger zu
ändern
55 Unmittelbarkeit der Bestrafung: Je unmittelbarer, desto wirksamer
55 Intensität der Bestrafung: Je intensiver, desto wirksamer
32 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Bestrafungsplan (vgl. Verstärkerpläne): Am besten zuerst kontinuierlich,


dann abnehmend intermittierend
55 Bereitstellung eines alternativen Verhalten: Wenn vorhanden, erfolgt Ver-
2 haltensänderung schneller

Bestrafung ist insgesamt weniger gut geeignet, um einen Lernprozess in Gang


zu setzen. Die Nachteile von Bestrafung sind v. a. die folgenden:
55 Generalisierung: Nicht nur das unerwünschte Verhalten wird unter-
drückt.
55 Strafe kann auch Belohnung sein: Durch Bestrafung schenkt man Auf-
merksamkeit.
55 Bestrafung löst Angst aus: Dies führt zur Vermeidung auch positiven
Verhaltens.
55 Strafende Personen sind Modelle für aggressives Verhalten und können
damit das Auftreten unerwünschten Verhaltens fördern.

Wie bei der klassischen, so gibt es auch bei der operanten Konditionierung
viele verschiedene Phänomene (Halisch, 1992; Mazur, 2004) wie etwa:
55 Shaping (sukzessive Annäherung): Erlernen neuer Verhaltensweisen
durch schrittweise Verstärkung der langsamen Annäherung an das ge-
wünschte Verhalten
55 Diskriminative Reize:
55 Organismen wissen, in welchen Situationen ein Verhalten zur Ver-
stärkung führt, d. h. sie nutzen Umgebungsinformationen als Hinweis-
reize.
55 Diskriminative Reize weisen darauf hin, dass in dieser Situation eine
Verstärkung erfolgen wird.
55 Dazu müssen diskriminativer Reiz, Reaktion und Verstärker gleichzei-
tig auftreten (Dreifachkontingenz).
55 Chaining (Ausbildung von Verhaltensketten):
55 Aufbau durch Verstärkung der einzelnen Glieder. Jedes Glied der Kette
ist konditionierter Verstärker und diskriminativer Hinweisreiz für die
nächste Reaktion. Nach dem letzten Glied folgt ein primärer Verstär-
ker.
55 Rückwärtsverkettung: Letztes Glied wird als Erstes verstärkt, danach
folgen die vorhergehenden Glieder mit Verstärkung.
55 Vorwärtsverkettung: Erstes Glied wird verstärkt, danach folgen die
weiteren Glieder bis zum Zielverhalten als letztem Glied der Kette.
55 Ganzheitsmethode: Alle Glieder werden – sobald sie auftreten – verstärkt.
55 Abergläubisches Verhalten:
55 Überzeugung, dass eigentlich unkontrollierbares Verhalten von eige-
nem Verhalten beeinflusst wird.
55 Beispielexperiment von Skinner (1948):
–– Aufbau: Tauben werden unabhängig von ihrem Verhalten alle 15s
verstärkt.
–– Ergebnis: Tauben zeigen das Verhalten, das zufällig kurz vor der
Verstärkung auftritt häufiger.
–– Erklärung und Interpretation: Verhalten, das zufällig kurz vor der
Verstärkung auftritt, wird verstärkt. »Abergläubisches« Verhalten
entsteht oft, wenn man keine Kontrolle über das Ereignis hat.
55 Erlernte Hilflosigkeit:
55 Erlernte Erwartung, dass das eigene Verhalten keine Auswirkungen hat.
55 Sie entsteht in unkontrollierbaren und nicht vorhersagbaren Situationen.
2.2 • Lernpsychologie
33 2
55 Sie ist in gewisser Weise das Gegenteil von Aberglauben: Bei erlernter
Hilflosigkeit glaubt man, keine Kontrolle zu haben, auch wenn dem
nicht so ist, und bei Aberglauben glaubt man, Kontrolle zu haben, ob-
wohl das nicht stimmt.
55 Beispielexperiment von Seligman und Maier (1967):
–– Aufbau: Ein Hund erhält in einem Käfig Elektroschocks, denen er
nicht entrinnen kann. Danach kommt er in einen Zweikammer-
käfig, in dem er vor Elektroschocks flüchten könnte, indem er
von der einen in die andere Kammer springt.
–– Ergebnis: Der Hund lernt nicht, zu fliehen. Er bleibt im Zwei-
kammerkäfig, erleidet die Elektroschocks passiv, winselt und
zeigt weitere Stresssymptome wie Koten und Urinieren.
–– Erklärung und Interpretation: Durch die erste Phase des Experi-
ments bildet sich eine Hilflosigkeitserwartung heraus, die zur
Verminderung der Lernfähigkeit führt.
55 Effekt der erlernten Hilflosigkeit vs. Hypothese der erlernten Hilflosigkeit:
55 Aus der Beobachtung des hier beschriebenen Effekts der erlernten
Hilflosigkeit entwickelten Seligman und Mitarbeiter die Hypothese,
dass erlernte Hilflosigkeit für die Entstehung von Depression verant-
wortlich sei.
55 Während die Effekte von erlebter Unkontrollierbarkeit und Nicht-Vor-
hersagbarkeit auf das psychophysische Befinden sehr gut belegt und
bei Tieren wie bei Menschen nachgewiesen werden können, ist das
Erklärungspotenzial der Hypothese der erlernten Hilflosigkeit durch-
aus umstritten.

Die operante und klassische Konditionierung weisen einige Einschränkun-


gen ihrer Aussagekraft auf, die immer wieder kritisiert wurden. Erstens sind
beide Lernmechanismen hauptsächlich in Tierexperimenten erforscht worden
(mangelnde Generalisierbarkeit). Zweitens werden kognitive und motivatio-
nale Faktoren nicht berücksichtigt. Und drittens funktioniert Konditionierung
nicht immer, sondern stößt in bestimmten Situationen an Grenzen:
55 Reize werden schlicht wieder vergessen.
55 Instinctive Drift: Mit zunehmender Erfahrung weicht man von dem er-
lernten Verhalten ab und zeigt instinktive Verhaltensweisen.
55 Autoshaping: Unverstärktes Verhalten tritt auf.

2.2.6 Beobachtungslernen

Das Beobachtungslernen (auch Modelllernen oder instrumentelles Lernen)


stellt das vierte grundlegende Lernprinzip dar und läuft folgendermaßen
ab: Man beobachtet ein Modell bei einer Tätigkeit, versteht das Prinzip der
Handlung und ahmt sie nach. Entscheidend ist dabei der Aspekt »versteht
das Prinzip«, denn dadurch unterscheidet sich echtes Beobachtungslernen
vom bloßen Nachahmen. Etwas komplizierter kann man diesen Unterschied
auch anhand der vier Kontrollebenen menschlichen Verhaltens nach Halisch
(1992) erklären:
55 Ausführungskontrolle: Koordination der motorischen Ausführungen
55 Programmkontrolle: Entscheidung über Teilhandlungen durch Wenn-
Dann-Sätze
55 Prinzipienkontrolle: Verstehen des logischen oder moralischen Prinzips
55 Systemkontrolle: Vorstellung über das eigene Selbst
34 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Findet Lernen nur auf der Ebene der Ausführungskontrolle statt, handelt es
sich um reines Nachahmen, findet es jedoch auf der Ebene der Prinzipienkon-
trolle statt, handelt es sich um Beobachtungslernen.
2 Beim Modelllernen kann es auch zu Kontraimitation kommen, d. h. dass
die lernende Person bewusst einen Aspekt der Handlung nicht oder falsch aus-
führt. Was durch das Beobachtungslernen gelernt werden kann, verdeutlichen
die folgenden vier Effekte:
55 Modellierender Effekt: Ein Beobachter lernt neue Verhaltensweisen, die in
seinem bisherigen Verhaltensrepertoire nicht vorhanden waren.
55 Enthemmender Effekt: Beim Beobachter bereits vorhandene Verhaltens-
weisen treten zukünftig öfter auf.
55 Hemmender Effekt: Beim Beobachter bereits vorhandenen Verhaltens-
weisen treten zukünftig seltener auf.
55 Auslösender Effekt: Über Modelllernen erworbenes Verhalten setzt ähn-
liche Verhaltensweisen frei.

Die Entdeckung des Modelllernens hatte für die Fachgeschichte der Psycho-
logie eine wichtige Bedeutung, da sie die kognitive Wende mit einläutete.
Während sich die Lernprozesse der Konditionierung durch vergleichsweise
einfache Reiz-Reaktions-Ketten darstellen und erklären ließen, war dies nun
nicht mehr so leicht möglich, da offenbar während des Lernens ein nicht
sichtbarer Erkenntnisprozess stattfand. Trotzdem hat man versucht Modell-
lernen, mithilfe der Phänomene aus klassischer und operanter Konditionie-
rung zu erklären:
55 Modelllernen als instrumentelles Lernen: Die Modellperson ist ein dis-
kriminativer Hinweisreiz, d. h. Imitation findet statt, wenn in der Vergan-
genheit Imitation bei dieser Person verstärkt wurde.
55 Modelllernen als stellvertretende Verstärkung: Neue Verhaltensweisen
sind nur Variationen ähnlicher Reaktionen, die in der Vergangenheit ver-
stärkt wurden a Generalisierung.

Es entwickelten sich Theorien, die den kognitiven Prozessen mehr Aufmerk-


samkeit schenkten. Dazu gehört z. B. Banduras Imitationstheorie oder auch
sozial-kognitive Theorie (Mazur, 2004):
55 Bandura geht davon aus, dass vier Prozesse das Auftreten einer Imitation
bestimmen:
55 Aufmerksamkeitsprozesse: Reizen wird mehr Aufmerksamkeit ge-
schenkt, wenn
–– sie von Gewohntem abweichen,
–– sie emotionsgeladen sind,
–– die aktuellen Motive und Bedürfnisse des Beobachters anspre-
chen,
–– der Reiz direkten Aufforderungscharakter hat.
55 Gedächtnisprozesse: Imitation wird gefördert, wenn das beobachtete
Verhalten nicht nur bildhaft, sondern auch symbolisch repräsentiert ist
(duale Kodierung).
55 Motorische Reproduktionsprozesse: Grundsätzliche motorische Fähig-
keit muss gegeben sein, ansonsten kann kein Lernen stattfinden.
55 Motivierungsprozesse: Der Beobachter muss die Erwartung hegen, für
sein Verhalten verstärkt zu werden a Belohnungsfaktor.
55 In der Aneignungsphase nehmen Aufmerksamkeits- und Gedächtnispro-
zesse, in der Ausführungsphase motorische Reproduktions- und Motivie-
rungsprozesse Einfluss.
2.2 • Lernpsychologie
35 2

. Tab. 2.2  Begriffliche Übersicht über die verschiedenen Gedächtnisformen

Eigenschaft des Gedächtnisformen Art der gespeicherten


Gedächtnisses Information

Bewusstheitsgrad Implizites Gedächtnis

Explizites Gedächtnis

Speicherdauer Ultrakurzzeitgedächtnis/ Sensorisches Ikonisches Gedächtnis Visuell


Gedächtnis
Echoisches Gedächtnis Auditiv

Kurzzeitgedächtnis/ Arbeitsgedächtnis Visuell-räumlicher Skizzenblock Visuell

Zentrale Exekutive

Phonologischer Speicher Auditiv

Episodischer Puffer

Langzeitgedächtnis Prozedurales Gedächtnis Handlungsabläufe

Semantisches Gedächtnis Konzeptbedeutung

Episodisches Gedächtnis Autobiographisches

2.2.7 Zum Gedächtnis im Allgemeinen

Lernen besteht darin, dass man neues Verhalten oder Wissen zu seinem bis-
herigen Repertoire hinzufügt. Das bedeutet, dass diese Inhalte abgespeichert
werden müssen, um in Zukunft verfügbar zu sein. Unser Gedächtnis umfasst
also die Fähigkeit, Informationen zu speichern und abzurufen.
Die ersten Experimente zum Gedächtnis führte Hermann Ebbinghaus
durch. Er lernte im Selbstversuch sinnlose Ketten von Silben auswendig und
überprüfte nach einer bestimmten Zeitspanne, wie viele der Silben er noch
wusste. Daraus entwickelte er eine Vergessenskurve, aus der im Wesentlichen
folgende Erkenntnisse abgeleitet werden können:
55 Je größer der Zeitabstand zwischen Lernen und Abruf, desto weniger
wird erinnert.
55 Wir vergessen schneller als uns lieb ist. Schon nach 20 Minuten ist fast die
Hälfte (45 %) des Gelernten nicht mehr abrufbar.

2.2.8 Gedächtnisformen

Um etwas so Komplexes wie das Gedächtnis zu beschreiben, hat man zunächst


versucht, es in kleinere Bestandteile aufzuteilen. Eine Einteilung, die man aus
dem täglichen Sprachgebrauch kennt, ist z. B. die in Kurzzeitgedächtnis und
Langzeitgedächtnis. Beschäftigt man sich jedoch auf wissenschaftlicher Ebene
mit dem Gedächtnis, so wird man mit einem Dutzend weiterer solcher Ge-
dächtnisformen konfrontiert, die sich z. T. überschneiden.
Die Unterscheidung in verschiedene Gedächtnisformen erfolgt nach einem
bestimmten Kriterium: zum einen nach Eigenschaften des Gedächtnissystems
(z. B. Bewusstheitsgrad oder Speicherdauer), zum anderen nach Art der ab-
gespeicherten Informationen (z. B. visuelle und akustische Informationen sind
in unterschiedlichen Gedächtnissen repräsentiert). Welche Begriffe wie zuge-
ordnet werden können, zeigt . Tab. 2.2.
Versucht man das Gedächtnis nach seinem Bewusstheitsgrad einzuteilen,
können das explizite und das implizite Gedächtnis unterschieden werden:
36 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Implizites Gedächtnis: Informationen sind ohne bewusste Anstrengung


verfügbar.
55 Explizites Gedächtnis: Informationen können nur durch bewusste An-
2 strengung abgerufen werden.

Die Unterscheidung verschiedener Gedächtnisformen in Abhängigkeit ihrer


Speicherdauer ist die bekannteste. Das Gedächtnis mit der kürzesten Spei-
cherdauer ist das sensorische Gedächtnis (auch Ultrakurzzeitgedächtnis,
sensorisches Register oder präkategorialer Speicher). Es bezeichnet ganz all-
gemein den Teil des Gedächtnisses, in dem die Reize aus der Umwelt ankom-
men, die relevanten ausgewählt und weitergeleitet werden. Es ist damit die
erste Stufe des menschlichen Gedächtnisses, in dem ein eintreffender Reiz
einen Augenblick festgehalten wird (Reizverlängerung), um ihn zur weiteren
Verarbeitung weiterzureichen. Das sensorische Gedächtnis ist damit nach
dem Sinneseindruck, aber vor dem Wiedererkennen (= dem Abgleich mit
vorhandenem Wissen/Kategorien) wirksam und heißt deshalb auch präkate-
gorialer Speicher. Es hat eine relativ große Kapazität, um zunächst möglichst
viele Sinneseindrücke zu speichern und dann die wichtigen zu selektieren.
Das sensorische Gedächtnis ist modalitätsspezifisch, d.  h. man nimmt für
jeden der Sinneskanäle ein eigenes sensorisches Gedächtnis an, zwei tragen
dabei einen eigenen Namen:
55 Ikonisches Gedächtnis: Sensorisches Gedächtnis für den visuellen Bereich
55 Echoisches Gedächtnis (auch präkategorialer akustischer Speicher): Sen-
sorisches Gedächtnis für den auditiven Bereich

Das Kurzzeitgedächtnis (KZG, auch Kurzzeitspeicher oder Primärgedächt-


nis) verarbeitet eingegangene Informationen auf einer bewussten Ebene
und hat eine kurze Speicherdauer und eine begrenzte Aufnahmekapazität
von nur 7±2 Chunks (Chunk = bedeutungsvolle Informationseinheit). Al-
lerdings können diese Informationseinheiten sehr unterschiedlich komplex
sein, z. B.: 1 2 5 7 9 6 stellen sechs Chunks dar, aber »12«, »57« und »96« nur
drei (Zimbardo, 2004). Das Kurzzeitgedächtnis ist zwar selbst begrenzt, es
kann aber ohne Probleme auf Informationen aus dem Langzeitgedächtnis
zurückgreifen. Im Kurzzeitgedächtnis können zwei grundlegende Prozesse
unterschieden werden:
55 Bottom-Up-Verarbeitung: Man nimmt Reize wahr und kategorisiert sie.
Sie werden vom sensorischen Gedächtnis ins Langzeitgedächtnis trans-
portiert.
55 Top-Down-Verarbeitung: Man erwartet etwas und beeinflusst so die
Wahrnehmung, d. h. das Langzeitgedächtnis beeinflusst das sensorische
Gedächtnis.

Das Kurzzeitgedächtnis wurde von Baddeley in das Arbeitsgedächtnis um-


benannt, um deutlich zu machen, dass es sich nicht mehr nur um eine Einheit
handelt, sondern in sich nochmals unterteilt werden kann. Diese Aspekte wer-
den unten im Rahmen des Gedächtnismodells von Baddeley genauer erläutert.
Das Langzeitgedächtnis (LZG, auch Langzeitspeicher oder Sekundär-
gedächtnis) speichert Informationen aller Art (z.  B. Begriffe, Hierarchien,
Handlungsskripte usw.) langfristig ab und hat eine unbegrenzte Kapazität. Die
enthaltenen Informationen können dabei unterschiedlich schnell abgerufen
werden, je nachdem, wie oft sie »benutzt« werden. Innerhalb des Langzeit-
gedächtnisses wird nach Art der abgespeicherten Informationen noch einmal
zwischen folgenden Teilen unterschieden:
2.2 • Lernpsychologie
37 2

. Tab. 2.3  Übersicht über die drei wichtigsten Gedächtnisformen. (Nach Ferring, 2006)

Sensorisches Gedächtnis (SG) Kurzzeitgedächtnis (KZG) Langzeitgedächtnis (LZG)

Speicherdauer 250ms 10–20s Tage, Monate, Jahre, permanent

Kapazität Größer als KZG 7+-2 Chunks Unbegrenzt

Funktion Reizverlängerung, Reizauswahl Bewusste Verarbeitung von Infor- Langfristige Speicherung


und Weiterleitung mationen unter Berücksichtigung
von Informationen aus dem SG
und dem LZG

Zugriff Unbewusste Speicherung Bewusste Speicherung, verbali- Durch Abruf der Informationen
sierbar, kommunizierbar ins KZG; erfolgt unterschiedlich
schnell je nach Häufigkeit der
»Benutzung«

Kodierungsform Modalitätsspezifisch, d. h. für je- Modalitätsunspezifisch, seman- Modalitätsunspezifisch, seman-


den der Sinne gibt es ein eigenes tisch tisch, assoziativ
Speichersystem

Vergessen Durch Verblassen, Auslöschen Durch Eintreffen neuer Informa- Durch proaktive und retroaktive
tionen Interferenz, Spurenzerfall, Versa-
gen der Abrufprozesse, Verdrän-
gung, motiviertes Vergessen

55 Prozedurales Gedächtnis: Es enthält Handlungsabläufe.


55 Semantisches Gedächtnis: Es enthält Bedeutungen von Konzepten.
55 Episodisches Gedächtnis: Es enthält autobiografische Erfahrungen.

Trotz der langen Speicherdauer sind die Informationen des Langzeitgedächt-


nisses dem Vergessensprozess unterworfen. Das Vergessen erfolgt durch:
55 Spurenzerfall: Allmähliche Abnahme von Informationen
55 Versagen der Abrufprozesse
55 Verdrängung: Aktiver Prozess, Gedanken werden aus dem Bewusstsein
entfernt
55 Motiviertes Vergessen: Wir vergessen Dinge, weil wir sie nicht erinnern
wollen

Außerdem können die Inhalte des Langzeitgedächtnisses, d. h. alte Informatio-


nen, das Lernen neuer Informationen beeinflussen:
55 Proaktive Interferenz: Informationen, die in der Vergangenheit erworben
wurden, erschweren den Erwerb neuer Informationen.
55 Retroaktive Interferenz: Erwerb neuer Informationen erschwert das Be-
halten »älterer« Informationen.

Die drei wichtigsten Gedächtnisformen sind das sensorische Gedächtnis, das


Kurz- und das Langzeitgedächtnis. Die Kenndaten werden deshalb für diese
drei in . Tab. 2.3 einander gegenübergestellt.

2.2.9 Gedächtnismodelle

Die im Folgenden vorgestellten Gedächtnismodelle beschäftigen sich mit der


Interaktion der Gedächtnisformen und konzentrieren sich auf den Prozess der
Informationsverarbeitung.
38 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Sensorisches Kurzzeitgedächtnis Langzeitgedächtnis


Register
2
Sensorischer Episodisches
Zentrale Exekutive
Speicher Gedächtnis

Semantisches
Gedächtnis

Episodischer Puffer
Visuell-räumlicher

Phonologischer
Skizzenblock
Prozedurales

Speicher
Gedächtnis

Phonologische
Schleife

. Abb. 2.3  Überblick über das Mehrspeichermodell von Atkinson und Shiffrin (äußere Rahmen) und das Working-Memory-Modell von
Baddeley (innere Kästchen). (Nach Baddeley, 2010, © 2010, with permission from Elsevier)

Eines der ersten Gedächtnismodelle ist das Einspeichermodell (Craik &


Lockhart, 1972), das – wie der Name es sagt – das Gedächtnis als einen ein-
zigen Speicher beschreibt. Wie gut Informationen behalten werden, hängt
nach diesem Modell einzig und allein von der Verarbeitungstiefe (levels of
processing) ab. Eine tiefe Verarbeitung wird demzufolge erreicht durch hohe
Aufmerksamkeitszuwendung und möglichst gute Verträglichkeit der Infor-
mationen mit der kognitiven Struktur. Die Verarbeitung kann auf folgenden
Ebenen stattfinden:
55 Physikalische Verarbeitung: Wir merken uns die Größe und Erscheinung
der Buchstaben eines Wortes.
55 Akustische Verarbeitung: Wir merken uns die Kombination der Laute
eines Wortes.
55 Semantische Verarbeitung: Wir merken uns die Einordnung des Konzepts
a Bedeutung.

Dieses sehr einfache Gedächtnismodell beschreibt die Komplexität unseres


Behaltensapparats noch sehr unzureichend.
Das Mehrspeichermodell (Atkinson & Shiffrin, 1968) ist demgegenüber
schon etwas komplexer. Es geht von einer festen Folge der Informationsver-
arbeitung aus: Ein bestimmter Reiz tritt zunächst im sensorischen Gedächt-
nis auf und wird dann erst ins Kurz- und anschließend ins Langzeitgedächt-
nis weitergeleitet (sofern er relevant genug ist, um alle Selektionsprozesse zu
überstehen). Die Informationsverarbeitung startet hier mit dem sensorischen
Input, der dann im KZG unter Nutzung der Informationen aus dem LZG ana-
lysiert und gespeichert wird.
Das Working-Memory-Modell von Alan Baddeley kann als Erweiterung
des Mehrspeichermodells angesehen werden (.  Abb. 2.3). Baddeley differen-
zierte allerdings v.  a. das Kurzzeitgedächtnis in mehrere Subkomponenten,
die miteinander interagieren, und benannte es in das Arbeitsgedächtnis um.
2.2 • Lernpsychologie
39 2
Das Arbeitsgedächtnis ist demnach kein einheitlicher Kurzzeitspeicher,
sondern besteht aus mehreren Komponenten (Baddeley, 1997, 2000, 2010):
55 Zentrale Exekutive:
55 Sie kontrolliert und koordiniert die phonologische Schleife, den visu-
ell-räumlichen Skizzenblock und den episodischen Puffer.
55 Sie hat eine begrenzte Kapazität.
55 Sie ist selektiv aufmerksam für bestimmte Stimuli.
55 Phonologischer Speicher:
55 Er umfasst sprachliche Informationen.
55 Auch visuelles Material wird in Sprache umgesetzt.
55 Er zeichnet sich außerdem durch eine phonologische Schleife (auch:
artikulatorische Schleife) aus, durch die wir Informationen aktiv
halten:
–– Inneres Sprechen: Wir sprechen ständig mit uns selbst.
–– Informationen bleiben 2s lang bestehen.
55 Visuell-räumlicher Notizblock:
55 Er speichert visuell-räumliche Informationen.
55 Informationen können direkt durch die visuelle Wahrnehmung oder
indirekt durch die Vorstellung eines Bildes aufgenommen werden.
55 Er ist ein Unterstützungssystem für räumliche Orientierung.
55 Er besteht aus zwei Komponenten:
–– Visueller Speicher: Er enthält Repräsentationen physikalischer
Merkmale (»Was?«).
–– Räumlicher Mechanismus: Er reaktiviert den Inhalt des visuellen
Speichers (Rehearsal) und plant Bewegungen (»Wo?«).
55 Episodischer Puffer:
55 Er umfasst episodische Informationen, d. h. miteinander zusammen-
hängende Inhalte.
55 Er trägt dem Umstand Rechnung, dass man sich Informationen, die
miteinander in Zusammenhang stehen, leichter behalten kann als ein-
zelne, ohne dass daran das Langzeitgedächtnis beteiligt wäre (Bsp: Soll
man sich Wörter merken, die ohne Zusammenhang sind, schafft man
etwa fünf Wörter. Stehen sie aber in Zusammenhang, z. B. in einem
Satz, kann man sich ca. 16 Wörter merken).
55 Während in den anderen Komponenten des Arbeitsgedächtnisses
(visuell-räumlicher Skizzenblock, phonologischer Speicher) modali-
tätsspezifische Informationen gespeichert werden (visuell, bzw. audi-
tiv), umfasst der episodische Puffer modalitätsunspezifische Informa-
tionen über die Kombination verschiedener Wissensinhalte.

Es gibt viele Belege, die für das Arbeitsgedächtnismodell von Baddeley spre-
chen, einige sollen hier herausgegriffen werden:
55 Belege für den phonologischen Speicher:
55 Similarity-Effect: Ähnlich klingende Worte werden kurzzeitig schlech-
ter behalten.
55 Wortlängeneffekt: Wörter, die schneller gesprochen werden können
(kürzer sind), werden besser behalten.
55 Belege für die phonologische Schleife:
55 Irrelevanter Spracheffekt: Sprache lenkt am meisten vom Lernen ab.
55 Artikulatorische Suppression: Sprechen beeinflusst das Lernen stärker
als nicht-artikulatorische Aufgaben.
40 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Dem Gedächtnismodell von Baddeley sind folgende Verdienste zuzuschreiben:


55 Die artikulatorische Schleife trägt der Alltagsbeobachtung Rechnung,
dass wir unter einem ständigen Gedankenstrom stehen, und zwar einem
2 verbalen Gedankenstrom. Wir sprechen immer innerlich mit uns selbst.
55 Detaillierte Vorstellungen über das Kurzzeitgedächtnis und damit das,
was Denken auszeichnet.
55 Es trägt dem Umstand Rechnung, dass das Arbeitsgedächtnis mehr ist als
nur aktivierte Inhalte des Langzeitgedächtnisses.

2.2.10 Enkodierungsprozesse

Wie gelangen Inhalte in das Gedächtnis? Dafür sind Enkodierungsprozes-


se verantwortlich, d. h. Prozesse, die die ankommende Information in einen
Code übersetzt, den das Gehirn versteht. Weil man nur schwer sagen kann, in
was genau eigentlich übersetzt wird, bezeichnet man die enkodierten Infor-
mationen mit dem Begriff »mentale Repräsentationen«. Die Enkodierungs-
prozesse sind nötig, damit Informationen ins Langzeitgedächtnis übergehen
können. Entsprechend des Sinneskanals werden folgende Enkodierungen
unterschieden:
55 Visuelle Enkodierung: Bildhafte Repräsentationen
55 Akustische Enkodierung: Phonetische Repräsentationen
55 Semantische Enkodierung: Bedeutungshafte Repräsentationen

Methoden der Enkodierung, d. h. Methoden der Abspeicherung von Informa-


tionen, sind dabei folgende:
55 Rehearsal: Einfaches Wiederholen
55 Elaboration: Vertiefte Informationsverarbeitung, Bilden von Assoziationen
55 Chunking/Organisation: Gliederung von Informationsmengen in größere
Einheiten
55 Schematische Verarbeitung
55 Mnemotechniken: Die Kombination der einzelnen Verarbeitungsmodali-
täten verbessert die Speicherung. Bekannte Informationen werden mit
den neuen assoziiert.
55 Priming: Beim Zugriff auf das implizite Gedächtnis entsteht ein Vorteil
durch die vorherige Darbietung eines Wortes oder einer Situation.

Im folgenden Kapitel  zur kognitiven Psychologie soll nun genauer darauf ein-
gegangen werden, wie abgespeicherte Informationen im Gedächtnis reprä-
sentiert sind, wie die Sprachverarbeitung funktioniert und auf welche Weise
Denken stattfindet.

2.3 Kognitive Psychologie

2.3.1 Allgemeines zur kognitiven Psychologie

Inhalte des Fachbereichs


Die kognitive Psychologie beschäftigt sich damit, wie und was wir denken
(Eysenck & Keane, 2005; Anderson, 2007). Sie versucht, die internen Pro-
zesse aufzuschlüsseln, die bei der Wahrnehmung und Interpretation unserer
Umwelt ablaufen. »Kognitiv« (lat.: cognoscere) bedeutet »erkennen« oder
»erfahren« und wird meistens im Sinne von »denkend/gedanklich« oder »auf
2.3 • Kognitive Psychologie
41 2

Kognitive Psychologie

Repräsentation
Sprache Denken
von Wissen

Logisches
Wesen der
Denken &
Sprache
Schlussfolgern

Sprach-
Problemlösen
wahrnehmung

Sprach- Urteilen und


produktion Entscheiden

. Abb. 2.4  Überblick über die Themenbereiche der kognitiven Psychologie

Gedanken/das Denken bezogen« benutzt. Es bezieht sich meistens auf be-


wusste Prozesse, manchmal werden aber auch unbewusste Prozesse darunter
zusammengefasst. Kognitionen sind somit bewusste oder unbewusste Gedan-
ken. Die kognitive Psychologie als Teilbereich der Psychologie überschneidet
sich mit folgenden anderen Bereichen bzw. greift in ihrer Forschung auf deren
Erkenntnisse zurück.
55 Kognitive Neurowissenschaft: Sie beschäftigt sich ganz allgemein mit
den physiologischen Grundlagen des Denkens, also dem Aufbau und der
Funktionsweise des Nervensystems a ist in erster Linie an der Physio-
logie interessiert.
55 Kognitive Neuropsychologie: Sie beschäftigt sich mit den Zusammen-
hängen zwischen physiologischen Grundlagen und dem Denken a ist
vorwiegend an der psychologischen Komponente, dem Denken, interes-
siert.
55 Kognitionswissenschaft: Sie beschäftigt sich mit allen bewussten und
unbewussten Prozessen, also nicht nur mit Kognitionen, sondern auch
Emotionen und Motivation a ist eine Art Oberbegriff, unter dem alle
Wissenschaften zusammengefasst werden, die sich mit Kognitionen
beschäftigen.

Inhaltlich widmet sich die kognitive Psychologie im Wesentlichen drei gro-


ßen Bereichen: Repräsentation von Wissen, Sprache und Denken. Sprache
wird nochmals in weitere typische Themen unterteilt (z. B. Wesen der Spra-
che, Sprachwahrnehmung, Sprachproduktion), Denken ebenfalls (z.  B. logi-
sches Denken und Schlussfolgern, Problemlösen, Entscheiden und Urteilen;
.  Abb.  2.4). In je eigenen Unterabschnitten werden zusätzlich noch der Zu-
sammenhang von Sprache und Denken sowie die Frage aufgegriffen, ob der
Mensch als ein defizitäres Wesen anzusehen ist.
Der kognitiven Psychologie ist eigen, dass sie sich gewissermaßen mit der
kleinsten psychologischen Einheit des Menschen, den Gedanken, befasst. Sie ist
damit quasi das grundlegendste der psychologischen Grundlagenfächer (aus-
genommen Psychobiologie). Alle anderen Bereiche (Sozialpsychologie, Ent-
wicklungspsychologie usw.) konzentrieren sich auf komplexere menschliche
42 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Facetten. Auch innerhalb der allgemeinen Psychologie sind die Inhalte der
kognitiven Psychologie vergleichsweise elementarer als die der Lern-, Motiva-
tions- oder Emotionspsychologie.
2 In der Aufbereitung dieses Lernstoffs zeigt sich, dass es sehr viele Theorien,
Modelle und Ansätze gibt, die je einen sehr kleinen Bereich menschlichen
Funktionierens beschreiben (z. B. Wie verstehen wir ein Wort?), und man läuft
Gefahr, im Theoriedschungel völlig den Überblick zu verlieren. Eine weitere
Schwierigkeit ist, dass einige Funktionsbereiche noch gar nicht ausreichend er-
forscht sind, als dass sich eine bestimmte Theorie als wegweisend durchgesetzt
haben könnte. Im Folgenden wird deshalb versucht, die verschiedenen Ideen,
Modelle und Theorien einerseits verständlich aufzubereiten, dies aber anderer-
seits auf das Wesentliche zu beschränken. Dabei werden zum einen die Ansätze
vorgestellt, die bereits eine gewisse Verbreitung gefunden haben, zum anderen
die, die besonders plausibel und vielversprechend scheinen.

Typische Forschungsmethoden
Im Prinzip können drei große Forschungsansätze in der kognitiven Psycho-
logie unterschieden werden: Beschäftigung mit Hirnläsionen und doppelten
Dissoziationen, Erstellung von Computermodellen oder Simulationen und die
Anwendung von bildgebenden Verfahren. Alle drei Methoden werden im Fol-
genden erläutert (Eysenck & Keane, 2005; Anderson, 2007).
Der erste Ansatz ist die Beschäftigung mit Hirnläsionen, also mit Schädi-
gungen oder Störungen des Gehirns. Man untersucht die Beeinträchtigungen,
die Menschen mit solchen Läsion haben, und versucht herauszufinden, welche
Schäden welche Folgen haben. Man versucht dabei, sog. doppelte Dissozia-
tionen zu finden, da diese als starker Hinweis auf die Unabhängigkeit von
zwei kognitiven Systemen gewertet werden (großer Vorteil dieser Methode).
Eine doppelte Dissoziation liegt dann vor, wenn zwei Patienten mit unter-
schiedlichen Hirnläsionen entgegengesetzte Krankheitsbilder haben, d. h. der
eine Patient kann Aufgabe A noch erfüllen, aber Aufgabe B nicht mehr, und
der andere kann Aufgabe A nicht erfüllen, dafür aber Aufgabe B. Es gibt z. B.
Menschen, die lesen, aber nicht buchstabieren können, und solche, die buch-
stabieren, aber nicht lesen können, was dafür spricht, dass Lesen und Buch-
stabieren zwei voneinander unabhängige Fähigkeiten und in unabhängigen
Gehirnregionen repräsentiert sind. Damit doppelte Dissoziationen jedoch als
Beleg der Unabhängigkeit interpretiert werden können, muss man einige theo-
retische Annahmen zugrunde legen:
55 Funktionale Modularität: Kognitive Systeme sind bereichsspezifisch, d. h.
sie reagieren nur auf eine bestimmte Klasse von Reizen.
55 Anatomische Modularität: Jedes kognitive System kann einem Hirnareal
zugeordnet werden.
55 Uniformität der funktionalen Struktur: Der Aufbau des Gehirns ist bei
jedem Menschen gleich.
55 Subtraktivität: Kognitive Prozesse können zerstört werden, aber man
kann keine hinzufügen.

Wie es Annahmen eigen ist, kann man nicht sicher wissen, ob sie stimmen.
Deshalb hat diese Forschungsmethode ihre Grenzen:
55 Bei den meisten untersuchten Probanden ist ein großes Hirnareal zer-
stört, das viele verschiedene Symptome nach sich zieht, so dass man nicht
genau sagen kann, welches kognitive System wo liegt.
55 Der Ansatz arbeitet naturgemäß nur mit Einzelfallstudien, und man muss
sich fragen, ob Verallgemeinerung so ohne Weiteres möglich sind.
2.3 • Kognitive Psychologie
43 2
55 Man kann nicht ausschließen, dass es kompensatorische Strategien des
Gehirns gibt, die eventuelle Schädigungen in Hirnarealen wieder ausglei-
chen.

Die zweite typische Methode der kognitiven Psychologie ist die Verwendung
von Computermodellen oder Simulationen. Ein großer Vorteil dieser Vorge-
hensweise ist, dass die Programmierung mit Computern testbare Vorhersagen
erfordert. Mit vage formulierten Annahmen könnte ein Rechensystem nichts
anfangen. Dieser Umstand verlangt vom Forscher, seine Hypothesen genau
und präzise auszuarbeiten und zu formulieren. Der Nachteil der Methode ist,
dass sie Gedächtnisprozesse nur beschreibt, aber nicht erklärt. Typischerweise
bestehen Computermodelle aus folgenden Elementen:
55 Semantische Netzwerke: Dabei handelt es sich um Assoziationsnetz-
werke, die die Arbeitsweise des Gehirns nachahmen sollen (ähnlich eines
beim Brainstorming erstellten Mind-Maps).
55 Produktionssysteme: Sie erklären mit Wenn-Dann-Regeln die Arbeits-
weise des Gehirns (z. B. beim logischen Denken).
55 Konnektionistische Netzwerke: Es handelt sich ebenfalls um Netzwerke
aus Gedanken, allerdings mit hemmenden und erregenden Verbindun-
gen, was sie zu lernfähigen Systemen macht.

Der dritte Forschungsansatz ist die Verwendung von bildgebenden Verfah-


ren (EEG, MRT, PET, MEG), mit deren Hilfe die Funktionsweise des Gehirns
untersucht werden soll. Diese verschiedenen bildgebenden Verfahren unter-
scheiden sich hinsichtlich der Größe des Gehirnbereiches, den sie untersu-
chen, und hinsichtlich der Zeit, während der die Aktivität untersucht wird. Wie
sinnvoll dieser Untersuchungsansatz ist, hängt deshalb davon ab, wie gut er zu
der entsprechenden Fragestellung passt. So ist z. B. der Einsatz der Positronen-
emissionstomographie (PET) nicht geeignet, um spontane Hirnreaktionen auf
visuelle Reize zu erforschen.

2.3.2 Repräsentation von Wissen

Beschäftigt man sich mit dem, was in unserem Gehirn los ist, fällt einem zu-
nächst ein, dass dort unser Wissen und unsere Gedanken sitzen. Eine der
Fragen, mit denen sich die kognitive Psychologie beschäftigt, ist die, wie die-
ses Wissen im Gehirn organisiert und repräsentiert ist. Wissen kann dabei
definiert werden als alle vererbten und gelernten Informationen. Mit einer
mentalen Repräsentation meint man, einfach gesagt, das Abbild, das sich das
Gedächtnis von einer bestimmten Information erstellt. Da wir nicht wissen,
wie dieses abgespeicherte Bild aussieht, weicht man auf den Begriff der Re-
präsentation aus: Auf diese Weise muss man nur sagen, welches Urbild reprä-
sentiert wird, und umgeht so die Notwendigkeit, zu konkretisieren, wie dieses
Abbild genau aussieht – ähnlich wie bei einem Spiegelbild.
Prinzipiell kann das Wissen in zwei Arten unterteilt werden (Anderson,
2007): konzeptuelles und propositionales Wissen. Ersteres umfasst Wissen
über Objekte und Objekthierarchien (z. B. »Was ist ein Baum?«) und letzteres
Wissen über Beziehungen, d. h. wie bestimmte Objekte miteinander verbun-
den werden (z. B. »Ein Baum braucht Wasser zum Wachsen« beschreibt die
Beziehung zwischen Baum und Wasser).
44 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Konzeptuelles Wissen
Damit Wissen zugänglich ist und bei Bedarf abgerufen werden kann, muss es
mithilfe von Konzepten und Kategorien strukturiert und organisiert werden
2 (Eysenck & Keane, 2005; Anderson, 2007). Ein Konzept ist die Vorstellung von
einem bestimmten Objekt (z. B. Küchentisch), d. h. durch welche Eigenschaften
es sich auszeichnet. Kategorien haben darüber hinaus eine Ordnungsfunktion,
die verschiedene Konzepte zu einer Objektklasse bündeln (z. B. Möbel). Diese
Objektklassen können auf unterschiedlichen Ebenen existieren: übergeordnete
Ebene (z. B. Möbel), Basisebene (z. B. Tisch) und untergeordnete Ebene (z. B.
Küchentisch), wobei unsere Kommunikation dabei auf der Basisebene statt-
findet. Kategorien stellen damit ein hierarchisches Ordnungssystem für unsere
Gedächtnisinhalte dar. Darüber hinaus helfen sie aber auch, Vorhersagen zu
treffen. Sind z. B. »Hund« und »beißen« in derselben Kategorie, und sieht man
einen Hund, so weiß man, dass er beißen kann.
Eine wichtige Frage, mit der sich die kognitive Psychologie beschäftigt, ist
die, welche Informationen Konzepte und Kategorien genau umfassen. Es gibt
drei Ansätze, die erklären, wie Begriffe, Bilder, Ideen usw. in unserem Gehirn
abgebildet sind und wie ein bestimmtes Objekt zu einer bestehenden Kategorie
zugeordnet werden kann (Pohl, 2007):
55 Definierender Eigenschaftsansatz:
55 Er definiert ein Konzept als Set von definierenden Eigenschaften, d. h.
dass alle (und nur diese) Eigenschaften erfüllt sein müssen, damit
ein Begriff diesem Konzept oder dieser Kategorie zugeordnet werden
kann.
55 Das bedeutet, dass alle Kategorien scharfe Grenzen haben und sich
nicht überschneiden.
55 Vorteile/Nachteile: Kategorien lassen sich im Allgemeinen nicht so
genau voneinander abgrenzen, wie es dieser Ansatz nahelegt.
55 Prototypenansatz:
55 Er geht davon aus, dass Konzepte nach Prototypen organisiert sind.
Dabei ist ein Prototyp die zentrale Beschreibung einer Kategorie und
besteht entweder aus dem repräsentativsten Exemplar einer Kate-
gorie oder einem Set von charakteristischen (nicht definierenden)
Attributen. Die Kategorisierung erfolgt, wenn Ähnlichkeiten zu dem
repräsentativsten Exemplar bestehen oder wenn einige der charakteris-
tischen Attribute erfüllt sind.
55 Das heißt konkret: Ist die Kategorie »Vogel« in unserem Gedächtnis
durch ein Exemplar repräsentiert, so denken wir z. B., wenn wir an
»Vogel« denken, an einen Spatz. Ist die Kategorie »Vogel« durch einige
charakteristische Attribute erfüllt, denken wir beim Stichwort »Vogel«:
»Hat zwei Flügel, frisst gerne Würmer, baut Nester, legt Eier usw.« Die-
se letztgenannte Vorstellung über einen Prototyp führt auch dazu, dass
wir bei manchen Gegenständen Bilder in unserem Kopf haben, die so
in der Natur gar nicht vorkommen und vielmehr einen unnatürlichen
Prototyp dieser Kategorie darstellen. Ein Beispiel hierfür ist das Kon-
zept der »Blume«: Sagt man Menschen, sie sollen eine Blume zeichnen,
so kommt dabei meist ein Kreis mit fünf ebenfalls kreisförmigen Blü-
tenblättern heraus. Diese Art von Blume existiert jedoch nicht in der
Natur, sie ist eine Protoblume.
55 Vorteile/Nachteile: Die Nachteile dieses Ansatzes sind zum einen, dass
nicht alle Konzepte prototypische Eigenschaften haben, und zum an-
deren, dass Ähnlichkeit nicht der einzige Mechanismus sein kann, der
zur Organisation von Kategorien beiträgt.
2.3 • Kognitive Psychologie
45 2
55 Exemplaransatz:
55 Er nimmt an, dass das Gedächtnis alle Beispiele einer Kategorie ab-
speichert, die es jemals wahrgenommen hat, und diese Gesamtheit
aller Exemplare eine Kategorie bildet. Im Unterschied zum Prototy-
penansatz findet hier also keine Abstraktion statt.
55 Vorteile/Nachteile: Der Vorteil dieses Ansatzes ist, dass er bessere
Vorhersagen macht als der Prototypenansatz. Der Nachteil ist jedoch,
dass er bei einfachen Konzepten nicht so gut funktioniert (wie in dem
Beispiel mit der Blume).

Sollen wir eine Kategorie gänzlich neu lernen und nicht nur neue Eindrücke
in bestehende Kategorien zuteilen, so können vier wichtige Prinzipien fest-
gehalten werden:
55 Man lernt eine Kategorie besser anhand von Beispielen als anhand von
Eigenschaften.
55 Wenn wir ein Konzept lernen, beeinflusst unser vorheriges Wissen, wie
gut wir das Konzept lernen.
55 Eigenschaften, die für das Konzept wichtig sind, werden schneller gelernt
als unwichtige.
55 Es ist leichter, konjunktive Konzepte (das Konzept hat Eigenschaft A und
B) zu lernen als disjunktive (das Konzept hat Eigenschaft A oder B).

Ist ein Konzept erfolgreich gelernt und im Gedächtnis repräsentiert, so können


ihm verschiedene Bedeutungen beigemessen werden:
55 Konnotative Bedeutung: Bedeutung, die das Konzept für einen persön-
lich hat
55 Denotative Bedeutung: Bedeutung, die das Konzept in der »realen«
externen Welt hat

Dabei gilt, dass die konnotative Bedeutung naturgemäß für das Selbstkonzept
wichtiger ist und deshalb auch länger behalten und tiefer verarbeitet wird als
die denotative.

Propositionales Wissen
Propositionales Wissen umfasst Wissen über Propositionen (Anderson, 2007).
Eine Proposition ist definiert als die kleinste Wissenseinheit, die eine Aussage
bilden kann. Am einfachsten verdeutlicht man sich das anhand eines Satzes,
z. B.: »Sabine stellte das Essen auf den Tisch und rief ihre Tochter Carmen zum
Essen.« Aus diesem Satz kann man folgende Wissenseinheiten extrahieren:
55 Sabine stellte das Essen auf den Tisch.
55 Sabine rief Carmen zum Essen.
55 Carmen ist die Tochter von Sabine.

Diese einzelnen Informationen können leichter mit wahr oder falsch bewer-
tet werden als die komplexe Information des gesamten Satzes. Propositionen
zeichnen sich durch einen bestimmten Aufbau aus: Sie bestehen aus einer
Menge von Argumenten und einer Relation (auch als Prädikat bezeichnet).
In der Sprache z.  B. bestehen die Relationen meist aus Verben, Adjektiven
oder anderen relationalen Ausdrücken (z. B. Mutter von). Die Argumente sind
meist Personen, Objekte, Zeitpunkte oder Orte.
46 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

ihre
Tochter

Relation
das
Objekt
Essen P3 Carmen

Subjekt

Objekt
Objekt
auf den Ort Agent Agent
P1 Sabine P2
Tisch

Relation
Relation
stellen rufen

. Abb. 2.5  Darstellung der Propositionen in einem propositionalen Netzwerk anhand


des Beispielsatzes »Sabine, die Mutter von Carmen, stellte das Essen auf den Tisch und rief
ihre Tochter zum Essen«. (Nach Beller & Bender, 2010, mit freundlicher Genehmigung von
Hogrefe, Göttingen)

Um den Beispielsatz in seine Relationen und Argumente zu zerlegen, greift


man typischerweise auf eine bestimmte Schreibweise zurück: Vorne steht die
Relation, danach folgen die gebundenen Argumente:
55 (Stellen: Sabine, Essen, auf den Tisch)
55 (Rufen: Sabine, Carmen, zum Essen)
55 (Ihre Tochter: Carmen, Sabine)

Die gleichen Informationen lassen sich auch graphisch in propositionalen


Netzwerken darstellen (. Abb. 2.5).

2.3.3 Das Wesen der Sprache

Wir nehmen es als Selbstverständlichkeit hin, dass wir Sprache verstehen und
produzieren. Dennoch ist allein das Verständnis eines Wortes eine komple-
xe Gedächtnisleistung. Die Psychologie der Sprache versucht, Modelle und
Theorien zu finden, die die normalen Vorgänge der Sprachwahrnehmung und
Sprachproduktion beschreiben und erklären. Das, was aber eigentlich viel in-
teressanter wäre, ist nicht der Regel-, sondern der Sonderfall. Warum verspre-
chen wir uns? Warum verstehen wir auch inhaltlich falsche oder missverständ-
liche Sätze meistens richtig? Wruam knöenn wir iemmr ncoh lseen, wnen nur
der etrse und lztete Bhusctbae eneis Wretos rthicig ist? Obwohl eigentlich die
Abweichung interessanter ist, ist die Auseinandersetzung mit dem Normalen
wichtig, um das Besondere zu erkennen und zu verstehen.

Das Regelwerk der Sprache


Sprache ist definiert als ein System von Regeln und Symbolen, das uns
Kommunikation ermöglicht (Beller & Bender, 2010; Beyer & Gerlach, 2011).
Während wir diese Regeln im Kindesalter intuitiv lernen, müssen wir sie
uns später mühsam durch Auswendiglernen von Vokabeln und Pauken von
2.3 • Kognitive Psychologie
47 2
Grammatikregeln aneignen. Sprache ist aber nicht nur das System unserer
Kommunikation (im Sinne eines Informationsaustauschs), sondern dient
auch dem Ausdruck von Emotionen und ist Medium des Denkens und des
Gedächtnisses allgemein.
Das Regelwerk der Sprache ist ein redundantes System, d.  h. es enthält
mehr Informationen als wir benötigen. So kann man z. B. einen Text immer
noch lesen, selbst wenn Fehler darin enthalten sind. Die Regeln der Sprache
existieren auf folgenden Ebenen:
55 Phonologisch: Regeln zur Aussprache und Lautbildung
55 Lexikalisch: Regeln der Zusammensetzung von Lauten zu einem Wort
55 Orthographisch: Regeln zur Rechtschreibung
55 Syntaktisch: Regeln zum Satzaufbau
55 Semantisch: Regeln zur inhaltlichen Bedeutung

Diese Ebenen der Sprache sind nicht nur irgendwelche festgeschriebenen


Regeln, die man in Grammatik- oder Rechtschreibnachschlagewerken findet,
sondern es sind auch die Ebenen, die wir beim Verstehen oder Produzieren von
Sprache durchlaufen müssen. Obwohl wir uns dieser Regeln nicht bewusst sind
und wir sie nicht so einfach formulieren könnten, wenn uns jemand danach
fragt, sind sie doch in unserem Gedächtnis repräsentiert.
Um sich mit Sprache zu beschäftigen, ist es wichtig, die folgenden
Elemente von Sprache zu kennen:
55 Phonem:
55 Kleinste Einheit der gesprochenen Sprache
55 Hörbarer Laut
55 Wird in geschriebener Form typischerweise eingerahmt von zwei
Schrägstrichen (/).
55 Beispiel: /ch/
55 Distinktives Merkmal:
55 Artikulatorische Eigenschaft eines Phonems, das zur Unterscheidung
von zwei verschiedenen Phonemen wichtig ist
55 Beispiel: /p/ wird stimmlos gebildet im Gegensatz zum /b/.
55 Es gibt auch Eigenschaften von Phonemen, die zur Unterscheidung
weniger wichtig sind; diese heißen redundante Merkmale.
55 Graphem:
55 Kleinstes schriftsprachliches Element für einen Laut
55 Ein oder mehrere Buchstaben
55 Beispiel: ch
55 Morphem:
55 Kleinste bedeutungstragende Einheit
55 Wortteile oder ganze Worte
55 Beispiele: ich, les/en (les verweist auf eine Tätigkeit, und en auf die
Grundform des Verbs)
55 Nicht zu verwechseln mit Silben!
55 Silbe:
55 Kleinste Lautgruppe, die in einem Atemzug ausgesprochen werden
kann
55 Nicht zu verwechseln mit Morphemen!
55 Beispiel: le/sen

Störungen der Sprachverarbeitung


In der Sprachverarbeitung können, bedingt durch Läsionen oder Störungen be-
stimmter Nervenbahnen im Gehirn, verschiedene Probleme in der Sprachver-
arbeitung auftreten. Folgende können dabei unterschieden werden (Pohl, 2007):
48 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Allgemeine Sprachstörungen (Aphasie):


55 Anomische Aphasie:
–– Beeinträchtigung der Fähigkeit, Objekte zu benennen
2 –– Sie ist oft auf einen Bereich beschränkt.
–– Man hat permanent das Gefühl von Es-liegt-mir-auf-der-Zunge
(»tip of the tongue«).
55 Broca-Aphasie (Dysgrammatismus, nicht-flüssige Aphasie):
–– Keine Probleme beim Finden der richtigen Wörter, sondern mit
dem Finden der richtigen Grammatik bei Sprachproduktion
–– Es fehlen oft Funktionswörter oder Wortendungen.
–– Auch bei der Sprachwahrnehmung ist die Syntaxanalyse gestört.
55 Wernicke-Aphasie (flüssige Aphasie, Jargon-Aphasie):
55 Korrekte grammatische Struktur, aber Probleme bei der Wortfindung
55 Sie ist oft kombiniert mit Textverständnisproblemen.
55 Personen mit Wernicke-Aphasie reden ohne Punkt und Komma,
aber man versteht nicht, was sie sagen (deshalb heißt sie auch flüssige
Aphasie).
55 Probleme beim Lesen (Dyslexie):
55 Oberflächliche Dyslexie:
–– Probleme bei der Aussprache von unregelmäßigen und Nicht-
Wörtern
–– Keine Probleme mit regelmäßigen Wörtern
55 Phonologische Dyslexie:
55 Probleme bei der Aussprache von unbekannten und Nicht-Wörtern
55 Keine Probleme mit bekannten und unregelmäßigen Wörtern
55 Tiefe Dyslexie:
55 Ähnlich der phonologische Dyslexie (Probleme mit unbekannten und
Nicht-Wörtern)
55 Zusätzlich semantische Fehler (z. B. »Schiff« als »Boot« lesen)
55 Probleme beim Schreiben (Dysgraphie):
55 Oberflächendysgraphie:
–– Man schreibt alles genau so, wie man es spricht.
–– Vor allem Schwierigkeiten mit unregelmäßigen Schreibweisen
55 Phonologische Dysgraphie:
–– Beim Schreiben keine Probleme mit bekannten Wörtern, aber
Unfähigkeit, sie auszusprechen
–– Probleme beim Schreiben von unbekannten Wörtern
55 Tiefe Dysgraphie:
–– Beim Schreiben ersetzt man Wörter durch andere.
–– Unvollständige semantische Information
55 Dysgraphie und Dyslexie treten häufig (aber nicht immer!) gemeinsam
auf.

2.3.4 Sprachwahrnehmung

Sprache kann auf zwei grundlegenden Wegen wahrgenommen werden: über


die Augen (Lesen) oder über die Ohren (Zuhören). Natürlich gibt es auch noch
das Lippenlesen, die Wahrnehmung von Gebärdensprache oder das Fühlen
von Blindenschrift. Letztlich geht es bei der Sprachwahrnehmung aber immer
um die Interpretation von bestimmten Symbolen oder Lauten. Dabei ist an-
zunehmen, dass die beiden Wahrnehmungswege Lesen und Zuhören vonei-
nander getrennte Prozesse sind, da sich doppelte Dissoziationen in Bezug auf
2.3 • Kognitive Psychologie
49 2

. Tab. 2.4  Übersicht über die einzelnen Prozesse der Sprachwahrnehmung beim
Zuhören und Lesen

Zuhören Lesen

Segmentierung Wahrnehmung von Graphemen und


Morphemen
Phonemische Verarbeitung

Worterkennung (lexikalische Verarbeitung)

Satzerkennung (Syntaxanalyse/Parsing und semantische Analyse)

Textverständnis/Verständnis von Gesprochenem

diese Fähigkeiten finden lassen: Es gibt also Menschen, die lesen können, aber
Schwierigkeiten haben, zuzuhören, und andere, die ohne Probleme zuhören
können, dafür aber nicht lesen.
Somit sind die Prozesse zwar voraussichtlich unabhängig, aber trotzdem
nicht unähnlich. Zum Teil lässt sich der Wahrnehmungsvorgang des Lesens
und Zuhörens deshalb mit den gleichen Modellen darstellen, aber zum Teil
existieren auch unterschiedliche Theorien. Unterschiede zwischen Lesen und
Zuhören machen sich v. a. zu Beginn der Wahrnehmung bemerkbar, schließ-
lich ist der Input ein anderer. Die einzelnen Abschnitte der Sprachwahrneh-
mung sind in . Tab. 2.4 dargestellt.

Besonderheiten beim Zuhören


Eine besondere Schwierigkeit beim Zuhören besteht in der Schnelligkeit, in
der die eintreffenden Informationen verarbeitet werden müssen (Eysenck &
Keane, 2005; Anderson, 2007; Beyer & Gerlach, 2011). So beträgt die normale
Sprechrate bis zu 12 Phoneme pro Sekunde! Überraschend ist dabei vielleicht
auch die Tatsache, dass wir bei gesprochenen Sätzen keine wahrnehmbaren
Pausen zwischen den einzelnen Wörtern machen (Segmentierungsproblem).
Wir machen zwar Pausen im Satzfluss, aber eher zwischen Phrasen als zwi-
schen den Wörtern.
Dass Menschen keine wahrnehmbaren Pausen zwischen den Worten las-
sen, ist auch ein Problem, mit dem sich Entwickler von Spracherkennungs-
software auseinandersetzen müssen. Wer schon einmal versucht hat, die
Spracherkennung seines Mobiltelefons zu nutzen, stellt schnell fest, dass man
im Allgemeinen überdeutlich sprechen und die Pausen zwischen den Worten
übertrieben lang machen muss.
Eine weitere Schwierigkeit beim Zuhören ist die Variabilität zwischen ver-
schiedenen Sprechern (Variabilitätsproblem): Schließlich sprechen wir nicht
alle 100 %ig gleich, die einzelnen Phonemen klingen von Person zu Person ein
bisschen anders.
Sowohl das Segmentierungs- als auch das Variabilitätsproblem müssen
durch eine adäquate Verarbeitung gelöst werden.
55 Segmentierung:
55 Die Segmentierung in die einzelnen Worte findet nach anderen Me-
chanismen statt als die Identifikation von Pausen, vermutlich über die
Identifikation von Phonemen, wobei unwahrscheinliche Phonemse-
quenzen auf Wortgrenzen hindeuten.
55 Ein Beispiel für die Schwierigkeit der Segmentierung ist folgendes
Sprachrätsel: »Mänäptehoi? Äptemäniehoi. Äptebeten.« Um die Lö-
sung zu finden, müssen zunächst die Wortgrenzen identifiziert wer-
den: »Mäh’n Äbte Heu? Äbte mäh’n nie Heu. Äbte beten.«
50 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Phonemische Verarbeitung:
55 Phoneme hören wir kategorial, nicht graduell, d. h. wir hören bei ähn-
lichen Phonemen entweder das eine oder das andere und nicht ein
2 bisschen von beidem. Wir können keine überlagerten Phoneme wahr-
nehmen.
55 Im vorgestellten Sprachrätsel trägt die phonologische Ähnlichkeit von
b und p zur Schwierigkeit der Lösung bei. Wir hören entweder ein B
oder ein P und nicht ein bisschen von beidem.

Bezogen auf das Zuhören gibt es zwei interessante Effekte:


55 McGurk-Effekt:
55 Visuelle Informationen durch Lippenlesen helfen bei der Identifikation
des Gesprochenen.
55 Beispiel: Wenn eine Person die Lippen bewegt als würde sie »ba« sa-
gen, und eine andere nicht sichtbare Person »ga« sagt, hören Proban-
den eine Mischung beider Phoneme, nämlich »da«.
55 Phonemrestaurationseffekt:
55 Über top-down ergänzen wir eigentlich fehlende Phoneme, um Sinn
in das Wort zu legen (etwas überspitzt formuliert: Man hört, was man
hören will, oder: Man hört das, was Sinn ergibt).
55 Beispiel: Personen wird ein Wort vorgespielt, bei denen ein Laut durch
ein Geräusch ersetzt wird, z. B. »Ki*sche«. Trotzdem hören die Pro-
banden »Kirsche« und glauben, auch das »r« gehört zu haben.

Besonderheiten beim Lesen


Zwar scheint Lesen im Vergleich zum Zuhören dahingehend etwas einfacher
zu sein, als kein Segmentierungsproblem besteht. Die Einteilung in die einzel-
nen Worte ist durch den visuellen Input von vorneherein vorgegeben. Auch das
Varianzproblem besteht nicht in dieser Form. Allerdings zeigt sich auch beim
Lesen das Phänomen, dass wir gar nicht alle Buchstaben zur Worterkennung
benötigen. Und auch das Lesen läuft mit sehr großer Geschwindigkeit ab (ca.
300 Wörter pro Minute).
Die Beobachtung von Augenbewegungen beim Lesen zeigen, dass das
Auge immer von einem Fixierungspunkt zum nächsten springt. Wir lesen also
nicht kontinuierlich Buchstabe für Buchstabe, sondern fixieren wichtige Wör-
ter (Eysenck & Keane, 2005). Die Dauer der Fixierung beträgt 200–250 ms,
d. h. die Entscheidung über die nächste Augenbewegung wird bereits getroffen,
wenn der lexikalische Abruf, also das tatsächliche Verstehen, noch gar nicht
stattgefunden hat. Wer sich schon einmal verlesen hat, kann das auch an sich
selbst beobachten, dass man schon mit den Augen eine ganze Zeile weiter war,
bis man merkt, dass da gerade ein Wort etwas komisch war und nicht in den
Zusammenhang passte.
Auch beim Lesen gibt es interessante Effekte:
55 Stroop-Effekt:
55 Man braucht länger, um die Farbe eines Wortes zu bezeichnen, wenn
die Farbe des Wortes nicht mit dem geschriebenen Wort überein-
stimmt. a man liest also immer auch das Wort mit, selbst wenn man
nur die Farbe bezeichnen soll.
55 Erklärung: Man geht davon aus, dass während des Lesens automatisch
auch eine phonologische Verarbeitung stattfindet, so dass man sich des
Lesens nicht erwehren kann.
55 Semantischer Priming-Effekt:
55 Die Entscheidung, ob es sich bei der gezeigten Buchstabenkette um
ein Wort handelt, erfolgt schneller, wenn man vorher ein semantisch
2.3 • Kognitive Psychologie
51 2
ähnliches Wort als Prime benutzt hat (als wenn man ein nicht seman-
tisch ähnliches Wort als Prime benutzt hat).
55 Erklärungen:
–– Die Aktivierung des Prime-Worts führt automatisch zur Aktivie-
rung semantisch ähnlicher Wörter (schneller Effekt).
–– Das Prime-Wort führt dazu, dass man ein semantisch ähnliches
Wort erwartet (langsamer Effekt).
55 Wortüberlegenheitseffekt:
55 Buchstaben, die Teil eines Wortes sind, können leichter identifiziert
werden als einzelne Buchstaben.
55 Auch die Identifikation von Buchstaben an einer speziellen Position in
einem Wort funktioniert besser, wenn es sich um Wörter als wenn es
sich um Nicht-Wörter handelt.
55 Die Identifikation funktioniert bei aussprechbaren Nicht-Wörtern
besser als bei nicht aussprechbaren Nicht-Wörtern (Pseudo-Wortüber-
legenheitseffekt).
55 Erklärung: Es gibt Top-Down-Prozesse, die die Buchstabenerkennung
erleichtern. Entspricht der Buchstabe der Erwartung, so können wir
ihn schneller identifizieren.

Worterkennung
Der Prozess der Worterkennung wird auch lexikalische Verarbeitung genannt.
Der Begriff »lexikalische Verarbeitung« umfasst die Idee, dass für die Wort-
erkennung ein Abgleich mit dem Wissen (sozusagen dem inneren Lexikon)
stattfinden muss. Darüber, wie diese Verarbeitung abläuft, existieren folgende
verschiedene Theorien (Heidelmann-Menda, 2006; Pohl, 2007; Beyer & Ger-
lach, 2011):
55 Kohortenmodell (Marslen-Wilson & Welsh, 1978): Überlegt man sich,
wie der Prozess des Zuhörens/Lesens abläuft, so könnte man auf die Idee
kommen, es handele sich um einen seriellen Prozess, d. h. dass eine Infor-
mation nach der anderen abgearbeitet würde. Das wiederum würde be-
deuten, dass z. B. bei dem Wort »Salat« Laut für Laut (bzw. Buchstabe für
Buchstabe) verarbeitet würde, also S a l a t. Das Phonem/der Buchstabe
S würde dann alle Wörter im Gedächtnis aktivieren, die mit S anfangen.
Wenn dann das A wahrgenommen wird, würden davon alle diejenigen
Wörter aktiv bleiben, die mit Sa anfangen usw. So würden nach und nach
Worte ausgeschlossen, bis man das Wort eindeutig erkannt hat. a Es wird
deutlich, dass dieses Modell eine große Gedächtnisleistung erfordert.
55 TRACE-Modell (McClelland & Elman, 1986)/interaktives Aktivationsmo-
dell (McClelland & Rumelhart, 1981):
55 Zuhören vs. Lesen: Das TRACE-Modell wurde in Bezug auf den Pro-
zess des Zuhörens entwickelt. Das sehr ähnliche interaktive Aktiva-
tionsmodell beschreibt die Worterkennung beim Lesen.
55 Aufbau der Modelle: Beide Modelle gehen von drei Analyseebenen
aus; beim TRACE-Modell sind dies: distinktive Merkmale, Phoneme
und Worte; beim interaktiven Aktivationsmodell sind dies: graphische
Buchstabenelemente (Features), Buchstaben, Worte. Zwischen diesen
drei Ebenen werden hemmende und erregende Verbindungen sowie
Bottom-Up- und Top-Down-Prozesse angenommen.
55 Ablauf der Wahrnehmung beim TRACE-Modell anhand eines Bei-
spiels:
–– Dringt eine Lautfolge an unser Ohr, werden zunächst die dis-
tinktiven Merkmale herausgefiltert (z. B. Stimmlosigkeit des /p/).
52 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Diese aktivieren dann ein bestimmtes Phonem (z. B. das /p/) und
mehrere Phoneme ein bestimmtes Wort (erregender Bottom-Up-
Prozess).
2 –– Innerhalb einer Ebene wird der Konkurrent jeweils unterdrückt
(z. B. in der Phonemebene: Wenn das /p/ aktiviert ist, wird das
/b/ gehemmt).
–– Schließlich gibt es auch noch Top-Down-Prozesse z. B. von der
Wort- zur Phonemebene: Ist ein bestimmtes Wort bereits akti-
viert, so erregt es wiederum die Phoneme, die in diesem Wort
vorkommen, bzw. hemmt die, die nicht darin vorkommen. Neh-
men wir an, es wäre das Wort »Lappen« aktiviert (und z. B. »la-
ben« unterdrückt) worden, so würde auf Phonemebene das kurze
/a/ ebenfalls aktiviert und das lange /a:/ gehemmt.
55 Diese Modelle erfordern weniger Gedächtnisleistung und werden wohl
der Komplexität des Wahrnehmungsvorgangs besser gerecht als das
Kohortenmodell.

Satzverständnis
Nur einzelne Worte zu verstehen, ist noch lange nicht ausreichend, um einen
ganzen Satz zu erfassen. Das Satzverständnis teilt sich dabei zum einen in die
syntaktische und zum anderen in die semantische Analyse. Zunächst ging man
davon aus, dass dies voneinander unabhängige Prozesse seien. Man kommt aller-
dings immer mehr zu der Überzeugung, dass beides eng miteinander verzahnt ist.
Bei der Syntaxanalyse (auch Parsing) eines Satzes zerlegen Menschen die-
sen Satz in Phrasen (Beller & Bender, 2010; Beyer & Gerlach, 2011). So lässt sich
z. B. der Satz »Der schlaue Fritz läuft schnell in die Schule« in die Nominal-
phrase »der schlaue Fritz«, die Verbalphrase »läuft schnell« und die Präpositio-
nalphrase »in die Schule« zerlegen. Diese Idee der Phrasen wird z. B. dadurch
unterstützt, dass wir beim Sprechen zwar keine wahrnehmbaren Pausen zwi-
schen einzelnen Wörtern lassen, dafür aber zwischen einzelnen Phrasen. Das
Parsing zeichnet sich darüber hinaus durch folgende Eigenschaften aus:
55 Parsing beginnt bereits mit dem ersten identifizierten Wort und nicht
erst bei Phrasen- oder Satzende. Es kommt deshalb vor, dass wir bei un-
erwarteten Wendungen unsere erwartete Satzstruktur an die tatsächliche
Satzstruktur anpassen müssen.
55 Wortreihenfolge und Flexionen unterstützen das Parsing.
55 Parsing folgt auf den Wahrnehmungsprozess, beeinflusst seinerseits aber
auch die Wahrnehmung durch Erwartungen.
55 Ist die Syntaxanalyse eines Satzes erfolgreich abgeschlossen, vergessen wir
die Phrasenstruktur des Satzes und behalten uns nur den Inhalt.

Um den Prozess des Parsings darzustellen, kann auf folgende theoretische


Modelle zurückgegriffen werden (Pohl, 2007; Beller & Bender, 2010):
55 Holzwegmodell (»garden-path model«; Frazier & Rayner, 1982):
55 Zweistufiges Modell: In der ersten Stufe verarbeitet man syntaktische,
in der zweiten semantische Informationen. Die Syntaxanalyse ist damit
zunächst unabhängig von der Semantik des Satzes.
55 Annahmen des Modells: Das Holzwegmodell geht davon aus, dass
wir uns bei jeder Phrase auf eine syntaktische Struktur festlegen und
nicht mehrere Möglichkeiten gleichzeitig betrachten. Erst wenn sich
der bereits gegangene Weg als Holzweg herausstellt, reanalysieren wir
2.3 • Kognitive Psychologie
53 2
die Syntax des Satzes. Beim Aneinanderhängen von Phrase an Phrase
richten wir uns laut Modell nach zwei Prinzipien:
–– Minimale Angliederung: Wir gehen immer den eindeutigsten
Verständnisweg, d. h. den Weg mit der geringsten Zahl syntakti-
scher Verzweigungen.
–– Spätes Schließen: Neue Wörter werden – wenn möglich – immer
der letzten Phrase zugeordnet. Auch wenn wir etwas nicht verste-
hen, gehen wir zunächst nur einen Schritt zurück.
55 Beispiel: »Der Polizist verfolgte den Mann mit dem Hund.« Beim ers-
ten Lesen des Satzes würde man glauben, dass der Polizist den Mann
verfolgt, wobei der Mann einen Hund dabei hat (spätes Schließen).
Würde sich im folgenden Satz aber herausstellen, dass der Polizist den
Hund bei sich hat (z. B. »Der Hund bellte laut und war dem Mann
schon dicht auf den Fersen«), so hätte sich die erste Interpretation als
Holzweg herausgestellt und müsste reanalysiert werden.
55 Vorteile/Nachteile:
–– Das Modell ist relativ gut belegt (z. B. es gibt Patienten, die ein
geringes semantisches Verständnis haben, aber trotzdem syntak-
tische Fehler leicht entdecken).
–– Die Semantik spielt eine größere Rolle bei der Syntaxanalyse als
hier angenommen.
55 Einschränkungsmodell (»constraint-based theory«; MacDonald et al.,
1994):
55 Das einstufige Modell geht davon aus, dass alle relevanten Informatio-
nen, also Syntax und Semantik, parallel verarbeitet werden.
55 Annahmen des Modells: Das Einschränkungsmodell geht davon aus,
dass man alle möglichen syntaktischen Strukturen gleichzeitig in Er-
wägung zieht. Man ordnet ihnen dabei eine bestimmte Wahrschein-
lichkeit zu, wobei sich schließlich die plausibelste Lösung durchsetzt.
Wir entscheiden uns somit nicht direkt für eine Interpretation, son-
dern halten uns alle Möglichkeiten offen.
55 Beispiel: »Der Polizist verfolgte den Mann mit dem Hund.« Hier wür-
de man von vorneherein beide Interpretationsmöglichkeiten in Be-
tracht ziehen, also sowohl dass der Hund zu dem Polizisten als auch,
dass er zu dem Mann gehört.
55 Vorteile/Nachteile:
–– Das Modell ist nicht gut belegt, aber es gibt einige Hinweise dafür,
dass syntaktische und semantische Analysen parallel ablaufen.
–– Entgegen der Annahme des Modells werden nicht alle Informa-
tionsquellen gleichzeitig genutzt.
55 Wettlaufmodell (»unrestricted race model«; Van Gompel, Pickering &
Traxler, 2000, 2001):
55 Das Modell ist zweistufig wie das Holzwegmodell, aber im Gegensatz zu
diesem legt man sich nicht auf eine Alternative fest, sondern die Alter-
nativen konkurrieren von Anfang an wie beim Einschränkungsmodell.
55 Annahmen des Modells: Nach dem Wettlaufmodell werden alle mögli-
chen syntaktischen Strukturen gleichzeitig in Erwägung gezogen, wo-
bei zunächst nur die schnellste ausgewählt und geprüft wird. Erweist
sie sich als falsch, wird sie verworfen und neu gewählt.

Wie bereits angedeutet, spielt die semantische Analyse auch schon während
der Syntaxanalyse eine Rolle und erfolgt nicht erst, wenn diese abgeschlossen
ist. Im Gegensatz zum Parsing ist jedoch der Prozess der semantischen Analyse
54 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

weitaus weniger erforscht. Aber auch hier geht man davon aus, dass wir den
Inhalt Phrase für Phrase erfassen. Den Wortlaut behalten wir uns nur so lange,
bis wir die Bedeutung erfasst haben.
2 Die Schwierigkeit des semantischen Analyse besteht auch darin, dass es
verschiedene Ebenen gibt, die den Inhalt oder die Bedeutung eines Satzes aus-
machen: wortwörtliche und beabsichtigte Bedeutung des Sprechers. Vor allem,
wenn sich die beiden Interpretationen widersprechen, wie dies z. B. bei Meta-
phern oder ironischen Aussagen der Fall ist, stellt das eine Herausforderung für
unser Satzverständnis dar.
Ziel der semantischen Interpretation ist es, eine mentale Repräsentation
des Satzes aufzubauen, d.  h. eine innere Vorstellung von der beschriebenen
Situation. Eine besondere Rolle scheinen dabei die Verben zu spielen, da sie
Personen und Dinge miteinander verknüpfen und zueinander in Beziehung
setzen (s. auch propositionales Wissen 7 Abschn. 2.3.2)
Auf jeden Fall ist klar, dass zur semantischen Analyse ein Wissensabruf
stattfinden muss, also ein Abgleich mit bereits bekannten, ähnlichen Infor-
mationen aus der Lerngeschichte. Der erste lexikalische Zugriff erfolgt bereits
während der Worterkennung und aktiviert so im Gehirn ein Netzwerk der
verschiedenen wahrgenommenen Worte. Mithilfe der syntaktischen Regeln
werden diese nun miteinander verknüpft und aktivieren ihrerseits wieder be-
stehendes Wissen, Erfahrungen, Bilder usw.

Textverständnis
In unserem Alltag stehen einzelne Sätze fast nie für sich allein, sondern sind
immer in einen Text oder eine längere gesprochene Episode (z.  B. ein Ge-
spräch, eine Rede usw.) eingebettet. Um mehrere aneinandergereihte Sätze zu
verstehen, ist es wichtig, die eingehenden Informationen zu abstrahieren und
Bedeutendes zu selektieren. Schließlich können wir uns nicht den Wortlaut
eines ganzen Textes merken und gleichzeitig im Gedächtnis aktiv halten. In der
Regel erfolgt diese Abstraktion durch Ziehen von Schlussfolgerungen (Infe-
renzen). Dabei können folgende Typen von Inferenzenunterschieden werden
(sie sollen je anhand der Beispielsätze »Die Kinder spielen fröhlich im Garten.
Plötzlich rollt der Ball auf die Straße.« beschrieben werden):
55 Direkte Feststellung:
55 Logische Bedeutung des Satzes
55 Beispiel: Man schlussfolgert zunächst nur, dass Kinder fröhlich in
einem Garten spielen und plötzlich der Ball auf die Straße rollt.
55 Rückwärtsinferenz:
55 Schlussfolgerungen, die mehrere Sätze miteinander verbinden.
55 Beispiel: Man schlussfolgert, dass die Kinder mit dem Ball gespielt
haben, obwohl das nicht explizit erwähnt ist.
55 Vorwärtsinferenz:
55 Schlussfolgerungen und Assoziationen, die über den Textinhalt hinaus
gehen.
55 Beispiel: Man schlussfolgert, dass ein Kind dem Ball hinterherlaufen
wird. Oder man schlussfolgert, dass die Kinder zwischen 5 und 10 Jahren
alt sind, weil typischerweise Kinder in diesem Alter mit dem Ball spielen.

Die Vorstellung über den Ablauf des Textverständnisses ähnelt dem des Satz-
verständnisses. Durch die einzelnen Teile (also Sätze) eines Textes werden be-
stimmte Assoziationen im Gehirn aktiviert und nach und nach ein mentales
Modell des Inhalts erstellt (Anderson, 2007; Beyer & Gerlach, 2011). Der Wort-
laut wird vergessen und nur das Modell behalten.
2.3 • Kognitive Psychologie
55 2
Ein einflussreiches Modell des Textverstehens ist das Konstruktions-Inte-
grations-Modell von Kintsch und van Dijk (1987). Es beschreibt, auf welche
Weise einzelne Textaussagen miteinander verknüpft werden. Grundgedanke
ist, dass beim Textverstehen nicht nur ein mentales Modell konstruiert werden
muss (Konstruktion), sondern auch eine Selektion der relevanten Informatio-
nen stattfinden muss (Integration), da unsere Gedächtniskapazität begrenzt
ist. Durch die Prozesse der Konstruktion wird so eine mentale Repräsentation
aufgebaut, die über folgende Ebenen entsteht:
55 Oberfläche (»surface level«): Zunächst speichert man kurzfristig Textin-
halten auf der Wortebene, d. h. den Wortlaut.
55 Textbasis/propositionale Ebene (»textbased level«): Die einzelnen Worte
aktivierten ein Netzwerk aus verschiedenen Objekten und Personen.
55 Situationsmodell (»situational model«): Das Netzwerk wird reorganisiert,
und die wichtigen Informationen werden selektiert. Hier fließen auch
weiteres Hintergrundwissen und Erwartungen mit ein.

2.3.5 Sprachproduktion

Der Prozess der Sprachproduktion ist insgesamt weit schlechter erforscht als
der des Sprachverstehens. Dafür sind wohl v.  a. methodische Überlegungen
verantwortlich: Beim Sprachverstehen ist der Ausgangszustand klar definier-
bar: Er besteht aus einem Satz, den wir hören oder lesen. Bei der Produktion
von Sprache allerdings ist der Ausgangszustand nicht objektiv beschreibbar,
denn hierbei handelt es sich um unsere Gedanken. Im Prinzip geht man aber
bei der Sprachproduktion davon aus, dass der umgekehrte Prozess des Sprach-
verstehens ablaufen muss:
55 Überlegung des Inhalts (semantische Komponente)
55 Fassen in eine Satzstruktur (Syntax)
55 Füllen dieser Struktur mit bestimmten Worten (lexikalische Verarbei-
tung)
55 Aussprache/Aufschreiben (Umsetzung in Phoneme bzw. Grapheme/Mor-
pheme)

Allgemein können die beiden Fähigkeiten »Sprechen« und »Schreiben« unter-


schieden werden. Wie auch beim Lesen und Zuhören scheint es sich hier um
unabhängige Systeme zu handeln, da es doppelte Dissoziationen gibt.

Besonderheiten beim Sprechen


Sprechen zeichnet sich gegenüber Schreiben dadurch aus, dass Hinweisreize
(z. B. Sprachmelodie und Gestik) auf die Bedeutung des Gesagten leichter ver-
mittelt werden können. Dafür ist das Sprechen aber auch anfälliger für Fehler,
d. h. Versprecher (Pohl, 2007):
55 Semantische Substitution: Ersetzung durch ein gleichbedeutendes/ähnli-
ches Wort, z. B. »Kannst du mir die Schüssel… das Schälchen reichen?«
55 Vermischung/Blending: Zwei Sätze oder zwei Worte werden miteinander
vermischt, z. B. »Der Himmel ist sonnig« aus den Sätzen »Der Himmel ist
blau« und »Es ist sonnig«.
55 Antizipationsfehler: Ein Wort oder ein Phonem wird fälschlicherweise
vorgezogen und in ein anderes Wort eingefügt, z. B »eine Tesse Tee« statt
»eine Tasse Tee«.
56 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Vertauschung/Spoonerismen: Zwei Wörter, Phoneme oder Silben in


einem Satz werden vertauscht, z. B. »Wechstaben verbuchseln« statt
»Buchstaben verwechseln«.
2 55 Tip-of-the-tongue: Gefühl von Es-liegt-mir-auf-der-Zunge, es fehlt eine
phonologische Umsetzung der semantisch vorbereiteten Inhalte.

Besonderheiten beim Schreiben


Die Besonderheit beim Schreiben liegt darin, dass wir eine längere Planungs-
phase haben, während der wir uns auch Gedanken über die Rechtschreibung
des produzierten Satzes machen müssen, d. h. wir müssen somit buchstabieren
können.
55 Bei der Fähigkeit, Wörter zu buchstabieren, geht man davon aus, dass
bekannte und unbekannte Worte auf unterschiedliche Weise bearbeitet
werden.
55 Bei bekannten Worten erkennt man die Phoneme und ersetzt sie durch
die entsprechenden Grapheme, ohne dass es einer semantischen Analyse
bedarf.
55 Bei unbekannten Wörtern hingegen werden semantische Inhalte ab-
gerufen, um die richtige Rechtschreibung zu finden, d. h. man fragt sich
z. B., ob man die Rechtschreibung von einem anderen Wort mit gleichem
Wortstamm kennt.

Auch die Fähigkeit, zu buchstabieren, ist ein vom Lesen unabhängiger Prozess.
Auch hier gibt es doppelte Dissoziationen, also Menschen, die lesen, aber nicht
buchstabieren können, und solche, die buchstabieren, aber nicht lesen können.

Theorien der Sprachproduktion


Im Wesentlichen gibt es zwei Theorien zur Sprachproduktion (Beller & Bender,
2010): das Modell von Garett (1975) sowie das Drei-Komponenten-Modell von
Levelt (1989). Im Modell von Garrett verläuft der Produktionsprozess eines
Satzes in sieben Phasen:
55 Es entsteht die Absicht, etwas mitzuteilen.
55 Den einzelnen semantischen Komponenten wird eine syntaktische Rolle
zugewiesen (z. B. Was ist Subjekt, was Prädikat, was Objekt des Satzes? In
welcher Zeit soll der Satz stehen?).
55 Ein syntaktischer Rahmen wird produziert (z. B. In welcher Reihenfolgen
werden Subjekt, Prädikat und das/die Objekte im Satz positioniert? Wo
müssen Artikel hin?).
55 Die phonologische Repräsentation der Inhaltswörter wird abgerufen.
55 Einpassung der phonologischen Repräsentation der Inhaltswörter in den
syntaktischen Rahmen
55 Grammatische Formen und Funktionswörter (wie z. B. die Artikel) wer-
den ebenfalls phonologisch spezifiziert.
55 Artikulation des fertigen Satzes

Das andere Modell zur Sprachproduktion ist das Drei-Komponenten-Modell


von Levelt und wurde unter dem Namen Weaver ++ als Computersimulation
modelliert. Levelt geht davon aus, dass das mentale Lexikon Informationen auf
drei Ebenen enthält:
55 Konzepte: Semantische Information
55 Lemmata: Syntaktische Information
55 Aussprache: Phonologische Information
2.3 • Kognitive Psychologie
57 2
Die Umsetzung in das Computermodell Weaver ++ postuliert sechs Prozesse,
die bei der Sprachproduktion durchlaufen werden müssen und die eine gewis-
se Ähnlichkeit zu Garretts Phasen aufweisen:
55 Bedeutung
55 Wortwahl und Syntax
55 Morpheme
55 Silben
55 Phoneme
55 Aussprache

2.3.6 Zusammenhang von Sprache und Denken

Man kann sich die Frage stellen, warum in einem Kapitel  über Kognition das
Thema Sprache so viel Raum einnimmt. Eine erste Antwort darauf liefert das
bereits vorgestellte Arbeitsgedächtnismodell, das davon ausgeht, dass wir stets
in einem inneren Dialog mit uns stehen, d. h. Sprache ist das Medium unse-
res Denkens. Natürlich können wir uns auch Bilder, Gerüche oder einen Ge-
schmack vorstellen, allerdings fällt uns das sehr viel schwerer. Zudem erlaubt
es die Sprache, Eindrücke der anderen Sinneskanäle abzubilden (man kann
leicht beschreiben, wie ein bestimmter Geruch riecht, aber umgekehrt einen
bestimmten Satz in einen Geruch zu übertragen, geht kaum). Sie ist damit
leicht zugänglich und sehr universell.
Letztlich hat jedoch auch jede sprachliche Darstellung ihre Grenzen. Für
manche Sinneseindrücke fällt es uns sehr schwer, entsprechende Worte zu fin-
den, und wir weichen dann auf andere aus. Sprache ist dann doch wieder nicht
so universell, dass man beliebig alles in dieser Form abbilden könnte.
Sprache und Denken sind miteinander verknüpft, sie beeinflussen sich
gegenseitig. Dieser Gedanke wurde Whorfian-Hypothese (Whorf, 1956) be-
nannt und unterschiedlich streng formuliert. In der strengeren Formulierung
heißt es: Sprache legt fest, wie wir denken.
Ein Beispiel für den Zusammenhang von Sprache und Denken ist die
Tatsache, dass Sprache immer einen bestimmten Charakter hat: Das Deut-
sche ist anders als das Französische und das wieder anders als das Englische.
Letzteres ist eine sehr kurze und prägnante Sprache, und aufgrund dieser
Eigenschaft wird sie oft in der Werbung genutzt, denn Englisch ist werbe-
wirksamer. Ein mit einem englischsprachigen Slogan versehenes Produkt
würden wir anders bewerten (z. B. cooler, besser, leckerer) als ein deutsch-
sprachig beworbenes. Hier beeinflusst also die Sprache unser Urteil über ein
bestimmtes Produkt.
Im Folgenden wird auf diese zweite herausragende menschliche Fähigkeit,
das Denken, näher eingegangen.

2.3.7 Logisches Denken und Schlussfolgern

Schlussfolgern bedeutet, dass aus bestimmten gegebenen Informationen


(Wenn-Teil), neue Informationen generiert werden (Dann-Teil). Die Vorlie-
be von Wissenschaftlern für Fremdwörter hat dazu geführt, dass es für je-
den dieser Begriffe auch einen Fachausdruck gibt. Synonym zu schlussfolgern
wird »Inferenz« genannt, gegebene Informationen heißen auch »Antezedens«
oder »Prämisse«, und generierte neue Informationen nennt man auch »Kon-
sequenz« oder »Konklusion«.
58 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Schlussfolgern bedeutet zunächst nicht mehr, als dass man vom Einen auf
das Andere schließt. Diese Folgerung kann jedoch richtig bzw. gültig oder
falsch bzw. ungültig sein. Logisches Denken bedeutet demgegenüber jedoch,
2 dass der gezogene Schluss auf jeden Fall gültig ist.
Beim »Schlussfolgern« wird unterschieden in:
55 Induktion: Schluss vom Besonderen bzw. vom Einzelfall auf das Allge-
meine
55 Deduktion: Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere

In der kognitiven Psychologie wird in der Definition von induktivem und


deduktivem Schließen noch auf einen anderen Unterschied abgezielt:
55 Induktives Schlussfolgern:
55 Verallgemeinernder, nur mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit
gültiger Schluss
55 Beispiel: »Dieser Tisch hat vier Beine« a »Alle Tische haben vier
Beine«.
55 Deduktives Schlussfolgern:
55 Logische Folgerung, die zwingend gültig ist
55 Beispiel: »Alle Bäume haben Wurzeln« a »Der Baum in unserem Gar-
ten hat Wurzeln«.

Schlussfolgerungen werden typischerweise mit Wenn-Dann-Sätzen dargestellt


(sog. konditionales Schließen). Man unterscheidet vier Typen von konditiona-
len Inferenzen. Angenommen, es gilt die Regel: »Wenn P, dann Q«, oder etwas
anschaulicher: »Wenn es regnet, ist die Straße nass«, so können folgende Fälle
auftreten (Pohl, 2007; Beyer & Gerlach, 2011):
55 Modus ponens:
55 Gültiger Schluss
55 Wenn P gegeben ist, schlussfolgert man Q (P a Q; »Es regnet« a »Die
Straße ist nass«).
55 Geringer Schwierigkeitsgrad: Bei dieser Schlussfolgerung erkennen
Probanden immer, dass es sich um einen gültigen Schluss handelt.
55 Modus tollens:
55 Gültiger Schluss
55 Wenn Q nicht gegeben ist, schlussfolgert man, dass auch P nicht gege-
ben ist (¬Q a ¬P; »Die Straße ist nicht nass« a »Es regnet nicht«).
55 Hoher Schwierigkeitsgrad: Bei dieser Schlussfolgerung erkennen nur
50 % der Probanden, dass es sich um einen gültigen Schluss handelt.
55 Bestätigte Konsequenz (Umkehrschluss):
55 Ungültiger Schluss
55 Wenn Q gegeben ist, schlussfolgert man fälschlicherweise, dass dann
auch P gegeben ist (Q a P; »Die Straße ist nass« a »Es regnet«).
55 Hoher Schwierigkeitsgrad: Bei dieser Schlussfolgerung erkennen nur
67 % der Probanden, dass es sich um einen ungültigen Schluss handelt.
55 Negiertes Antezedenz:
55 Ungültiger Schluss
55 Wenn P nicht gegeben ist, schlussfolgert man fälschlicherweise, dass
dann auch Q nicht gegeben sein kann (¬P a ¬Q; »Es regnet nicht« a
»Die Straße ist nicht nass«).
55 Hoher Schwierigkeitsgrad: Bei dieser Schlussfolgerung erkennen 79 %
der Probanden, dass es sich um einen ungültigen Schluss handelt.
2.3 • Kognitive Psychologie
59 2

Zahl

GZ UGZ

Buchstabe
E K 4 7 V  
K ? 

. Abb. 2.6  Wason‘s selection task: Versuchsaufbau (links) und Verdeutlichung, warum
E und 7 aufgedeckt werden müssen (rechts); Legende: GZ = gerade Zahl, UGZ = ungerade
Zahl, V = Vokal, K = Konsonant, ✓ = Kombination existiert,  = Kombination existiert nicht, ?
= keine genaueren Informationen vorhanden.

Als Beispiel für die Schwierigkeit logischen Schlussfolgern wird meist folgen-
des Experiment betrachtet (Wason‘s selection task, . Abb. 2.6):
55 Aufbau des Experiments:
55 Wason legte seinen Probanden vier Karten vor, auf denen folgende
Symbole zu sehen waren: E K 4 7 (. Abb. 2.6 links). Den Versuchsteil-
nehmern sagte man, dass sich bei jeder Karte auf der einen Seite ein
Buchstabe und auf der anderen Seite eine Zahl befindet.
55 Dann trug man ihnen auf, zu beurteilen, ob die folgende Regel gültig
oder ungültig ist: Wenn auf einer Seite einer Karte ein Vokal abgebildet
ist, dann steht auf der anderen Seite der Karte eine gerade Zahl. Die
Probanden sollten nur die Karten umdrehen, die sie notwendigerweise
brauchten, um die Regel zu überprüfen.
55 Ergebnis:
55 Die meisten Probanden drehten richtigerweise die Karte mit dem E
(ca. 90 % der Versuchspersonen) um und fälschlicherweise zusätzlich
die Karte mit der 4 (ca. 60 %). Richtig wäre gewesen: E und 7, was nur
ca. 10 % der Versuchspersonen auswählten.
55 Die Probanden nutzten also Modus ponens (E) und fälschlicherwei-
se bestätigte Konsequenz (4) anstatt des Modus tollens, was richtig
gewesen wäre.
55 Erläuterung warum E und 7 richtig sind: Die Karten zeichnen sich
durch zwei Eigenschaften aus (Zahl, Buchstabe). Beide haben je
wieder zwei Ausprägungen (gerade Zahl, ungerade Zahl, Vokal,
Konsonant). Die möglichen Kartenkombinationen lassen sich somit
in einem 4-Felder-Schema darstellen (. Abb. 2.6 rechts). Aus der
genannten Regel kann man schließen, dass es auf jeden Fall Karten
gibt, die sich durch die Eigenschaften »gerade Zahl + Vokal« aus-
zeichnen, und keine, die durch »ungerade Zahl + Vokal« charakte-
risiert sind. Aufgrund dieses letzten Umstandes müssen alle Karten
mit einem Vokal auf der einen Seite (E) eine gerade Zahl auf der
anderen haben und alle ungeraden Zahlen (7) einen Konsonanten
auf der anderen Seite haben. Über die Kombination »gerade Zahl
+ Konsonant« können wir aufgrund der gegebenen Informationen
keine genauere Aussage treffen, weshalb die 4 nicht zur Regelüber-
prüfung geeignet ist.
55 Interpretation: Das Ergebnis des Experiments wurde als Armutszeugnis
der menschlichen Fähigkeit zum logischen Denken gewertet und warf die
Frage auf, wie wir trotzdem im Alltag einigermaßen gut zurechtkommen.
60 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Es zeigte sich, dass die Leistung solcher Aufgaben besser wurde, wenn
man ein reales anstelle eines abstrakten Problems verwendete.

2 Noch schwieriger wird das Schlussfolgern dann, wenn Quantoren (z. B. kein,
alle, einige, einige nicht) in den Aussagen dazu kommen. Diese Form nennt
man dann syllogistisches Schlussfolgern.
Wie bei jeder kognitiven Leistung können auch beim deduktiven Schluss-
folgern Fehler auftreten (Fiedler, 2004; Oswald & Grosjean, 2004; Thompson,
2004; Beyer & Gerlach, 2011):
55 Atmosphären-Effekt:
55 Man neigt dazu, eine Schlussfolgerung eher zu akzeptieren, wenn die
Quantoren mit denen der Prämissen übereinstimmen.
55 Beispiel: »Einige A sind B + Einige B sind C a Einige A sind C«
wird eher akzeptiert als »Einige A sind B + Einige B sind C a Kein A
ist C« – und das, obwohl das erste ein ungültiger und das zweite ein
gültiger Schluss ist (ist zu erkennen, wenn man für A Frauen, für B
Rechtsanwälte und für C Männer einsetzt).
55 Conversion error (Vertauschungsfehler): Man vertauscht die Prämissen
(alle B sind A heißt nicht, dass alle A auch B sind).
55 Confirmation bias: Beim Testen einer Hypothese werden die Informa-
tionssuche, die Interpretation und die Erinnerung so verzerrt, dass die
Hypothese bestätigt und somit gefestigt wird (deshalb decken die meisten
bei Wason‘s selection task E und 4 auf).
55 Illusorische Korrelation: Man nimmt stärkere Zusammenhänge zwischen
Variablen an als dies gerechtfertigt wäre (z. B. zwischen Gewalt und
Geschlecht).
55 Kontrollillusion: Tendenz, zu glauben, dass man Vorgänge kontrollieren
kann, die nachweislich nicht beeinflussbar sind.

Um zu beschreiben, wie schlussfolgerndes Denken abläuft, und um die Ent-


stehung von Fehlern beim schlussfolgernden Denken zu erklären, wurde die
Theorie der mentalen Modelle (Johnson-Laird, 1983) entwickelt (Beller &
Bender, 2010):
55 Schlussfolgern involviert drei Denkprozesse:
55 Verstehen der Voraussetzungen: Von den gegebenen Prämissen bauen
wir ein mentales Modell (oder mehrere, wenn nötig) des Problems.
55 Kombination der Modelle: Wir kombinieren die Modelle, so dass wir
eine Schlussfolgerung ziehen können.
55 Schlussfolgerung überprüfen
55 Dieser Prozess ist mental nicht einfach zu bewältigen.
55 Gründe für das Entstehen von Fehlern:
55 Falsche Interpretation der Prämissen
55 Die Grenzen des Arbeitsgedächtnisses führen zu nicht fertig ausge-
arbeiteten mentalen Modellen.
55 Die gegebenen Modelle werden nicht genug überprüft.
55 Kritik: Normalerweise baut man nur ein mentales Modell, nicht mehrere.

2.3.8 Problemlösen

Ein Problem entsteht dann, wenn ein Ziel erreicht werden soll, ohne dass of-
fensichtlich ist, wie dies geschehen soll. Problemlösen kann folglich definiert
2.3 • Kognitive Psychologie
61 2

. Abb. 2.7  Das Neunpunkteproblem und seine Lösung. (Nach Scheerer, 1963, mit freund-
licher Genehmigung von Scientific American)

werden als der kognitive Prozess, der darauf gerichtet ist, die gegebene Situa-
tion in die Zielsituation zu transformieren.
Typische Probleme, die in der Forschung zum Problemlösen immer wie-
der aufgegriffen werden sind die folgenden:
55 Wolf-Ziege-Kohlkopf-Problem
55 Aufgabe: Ein Schäfer steht mit einem Wolf, einer Ziege und einem
Kohlkopf am Rande eines Flusses und möchte mit dem Boot hinü-
ber rudern. Es passen aber immer nur zwei gleichzeitig in das Boot.
Außerdem kann der Schäfer weder den Wolf mit der Ziege allein las-
sen, noch die Ziege mit dem Kohlkopf, denn sonst würde der Wolf die
Ziege bzw. die Ziege den Kohlkopf fressen.
55 Lösung:
–– Schäfer und Schaf auf die andere Seite
–– Schäfer zurück
–– Schäfer und Wolf auf die andere Seite
–– Schäfer und Schaf zurück
–– Schäfer und Kohlkopf auf die andere Seite
–– Schäfer zurück
–– Schäfer und Schaf auf die andere Seite
55 Neun-Punkte-Problem (. Abb. 2.7)
55 Aufgabe: Die abgebildeten Punkte sollen mit vier Linien verbunden
werden, ohne dass dabei der Stift abgesetzt wird.
55 Lösung: Die Lösung ist in . Abb. 2.7 dargestellt. Um sie zu finden,
muss man sich gedanklich von der Vorannahme lösen, man dürfe
nicht über den Punkterand hinaus zeichnen.
55 Turm von Hanoi (. Abb. 2.8)
55 Aufgabe: Drei Ringe liegen der Größe nach geordnet auf dem linken
Stab. Ziel ist es, alle drei in genau der gleichen Reihenfolge (der Grö-
ße nach sortiert) auf den rechten Stab zu bringen. Dabei darf immer
nur ein Ring gleichzeitig bewegt werden, und es darf nie eine größere
Scheibe über einer kleineren liegen.
55 Lösung:
–– Kleinster Ring auf den rechten Stab
–– Mittlerer Ring auf den mittleren Stab
–– Kleinster Ring auf den mittleren Stab
–– Größter Ring auf den rechten Stab
62 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

. Abb. 2.8  Turm von Hanoi: Ausgangszustand (links) und Zielzustand (rechts)

–– Kleinster Ring auf den linken Stab


–– Mittleren Ring auf den rechten Stab
–– Kleinster Ring auf den rechten Stab

Will man nicht einfach nur unsystematisch nach einer Lösung suchen (Versuch
und Irrtum), so kann man entweder Strategien anwenden, die ganz sicher zum
Ziel führen (Algorithmen), oder Strategien anwenden, die nur wahrscheinlich
zum Ziel führen (Heuristiken).
Darüber, wie der Problemlöseprozess beim Menschen abläuft, gibt es ver-
schiedene Theorien (Beller & Bender, 2010; Beyer & Gerlach, 2011):
55 Problemraumtheorie (Newell & Simon, 1972):
55 In einem Problemraum werden alle möglichen Zustände eines Prob-
lems dargestellt.
55 Mithilfe von verschiedenen Suchstrategien wird der Problemraum ab-
gesucht, bis man die richtige Lösung gefunden hat.
55 Beispielsweise können folgende Suchstrategien angewendet werden:
–– Vorwärtssuche: Man geht vom Anfangszustand aus und sucht
Schritte, die die Situation in Richtung Ziel verändern.
–– Rückwärtssuche: Man geht vom Zielzustand aus und sucht
Schritte, die die Situation in Richtung Anfangszustand verändern.
–– Unterschiedsreduktion/Hill-climbing-Strategie: Man überlegt bei
jedem Schritt, welcher der möglichen Schritte einen am schnells-
ten dem Zielzustand näher bringt.
–– Mittel-Ziel-Analyse: Man analysiert zunächst den Abstand zwi-
schen Ausgangs- und Zielsituation. Anschließend legt man zu-
nächst ein Teilziel fest, das dem Zielzustand schon etwas näher
ist als der Ausgangszustand. Nun konzentriert man sich ganz auf
das Teilziel, bis es gelöst ist und man sich dem nächsten Teilziel
widmen kann.
55 Kritik: Man kann nur einen Problemraum erstellen, wenn das Problem
gut definiert ist a schwierig anwendbar bei lebensnahen Problemen.
55 Einsichtstheorie (Gestalt-Ansatz; Köhler, 1925; Ohlsson, 1992)
55 Schwierigkeiten beim Problemlösen treten deshalb auf, weil man eine
falsche Repräsentation der Aufgabenstellung hat.
55 Die Einsichtstheorie nimmt an, dass beim Problemlösen mehr produk-
tive als reproduktive Prozesse eine Rolle spielen, d. h. dass es plötzliche
Einsichten (Aha-Erlebnisse) aufgrund von Restrukturierung gibt.
55 Die Restrukturierung der Repräsentation kann geschehen über:
–– Elaboration: Neue Informationen hinzufügen
–– Lockerung der Vorannahmen: Einige der Bedingungen ändern
–– Reenkodierung: Die Problemstellung neu kategorisieren, alte
Informationen löschen
2.3 • Kognitive Psychologie
63 2
55 Kritik: Einsichten kommen scheinbar aus dem Nichts, es finden aber
durchaus relevante Prozesse statt, bevor man zur Einsicht kommt.

Auf die Fähigkeit des Problemlösens nehmen natürlich nicht nur die Informa-
tionen der gegebenen Situation Einfluss, sondern auch Vorwissen und Übung.
Der Einfluss von früher Gelerntem auf aktuelle Aufgaben nennt sich Transfer.
Was den Transfer auszeichnet ist das Analogien-Ziehen: Man überträgt Er-
kenntnisse von dem früheren auf das jetzige Problem, indem man die Ähn-
lichkeit zwischen beiden Situationen erkennt. Es können folgende Arten von
Transfer unterschieden werden:
55 Naher Transfer: Training von Aufgaben in einem Bereich verbessert die
Leistung in demselben Bereich.
55 Weiter Transfer: Training von Aufgaben in einem Bereich hat Auswirkun-
gen auf die Problemlösefähigkeit in einem anderen Bereich (z. B. behaup-
ten Lateinlehrer gern, Latein fördere logisches Denken).
55 Positiver Transfer: Vorangegangenes Training hilft, auch andere Aufgaben
zu lösen.
55 Negativer Transfer: Vorangegangenes Training behindert das Lösen von
anderen Aufgaben.

2.3.9 Urteilen und Entscheiden

Das Problem der bedingten Wahrscheinlichkeit


Urteilen und Entscheiden bedeutet, sich festzulegen, und zwar auf etwas, von
dem man nicht sicher wissen kann, dass es richtig ist. Beim Entscheiden stehen
mehrere Wahlmöglichkeiten zur Verfügung, beim Urteilen nicht. Urteilen ist
damit mehr eine Form von Schlussfolgern über Wahrscheinlichkeiten. Wir
greifen auf Informationen aus der Umwelt zurück und versuchen, die Wahr-
scheinlichkeit für ein bestimmtes Urteil oder eine bestimmte Wahlmöglichkeit
abzuschätzen, um auf dieser Grundlage ein Urteil zu fällen oder eine Entschei-
dung zu treffen. Um auf der Grundlage bestimmter gegebener Bedingungen
eine Wahrscheinlichkeit abschätzen zu können, braucht man eine Vorstellung
von bedingten Wahrscheinlichkeiten. Darüber gibt das Bayes-Theorem Aus-
kunft: Es handelt sich dabei um eine Formel, mit deren Hilfe bedingte Wahr-
scheinlichkeiten berechnet werden können.

p ( D / H A ) *p ( H A )
p ( H A / D) =
p ( D / H A ) *p ( H A ) + p ( D / H B ) *p ( H B )

Dabei gilt: HB ist das Gegenereignis zu HA, also: H B = ¬H A


Das Ergebnis der Berechnung von bedingten Wahrscheinlichkeiten steht oft
unserer intuitiven Einschätzung entgegen, v. a. wenn wir die Bedingungen tau-
schen (Anderson, 2007). Wenn z. B. eine 40-jährige Frau Brustkrebs hat, beträgt
die Wahrscheinlichkeit für einen positiven Mammographiebefund 80 % (Wahr-
scheinlichkeit, dass eine Frau Brustkrebs hat, beträgt 1  %; Wahrscheinlichkeit,
dass eine Frau einen positiven Befund hat, wenn sie keinen Brustkrebs hat, beträgt
9,6 %). Die Wahrscheinlichkeit jedoch, dass eine Frau tatsächlich Brustkrebs hat,
wenn sie einen positiven Mammographiebefund bekommt, beträgt nur 7,8  %.
Intuitiv geht man jedoch eher davon aus, dass der Prozentsatz viel höher liegen
müsste, schließlich vermitteln uns die 80 %, dass es sich bei der Mammographie
um ein ziemlich treffsicheres Verfahren handelt. Und wenn es zuverlässig ist,
muss auch die Wahrscheinlichkeit hoch sein, dass der Befund richtig ist.
64 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Der Fehler, den wir dabei machen, besteht darin, die Basisrate, also die
Grundhäufigkeit des Ereignisses (hier 1  %), nicht zu beachten. Es gibt drei
mögliche Erklärungen, warum Basisraten bei solchen Fragestellungen igno-
2 riert werden:
55 In der Realität stehen oft überhaupt keine Informationen über Basisraten
zur Verfügung. Deshalb sind wir gezwungen, auf andere Urteilsstrate-
gien zurückzugreifen. Die Anwendung solcher Heuristiken sind wir so
gewohnt, dass wir auch dann auf sie zurückgreifen, wenn uns eigentlich
genug andere Informationen zur Verfügung stehen, um die Wahrschein-
lichkeit genau zu ermitteln.
55 Basisraten haben oft gar keinen großen Einfluss auf das Urteil. Nehmen
wir z. B. an, die Grundwahrscheinlichkeit für Brustkrebs betrüge 50 %.
Dann betrüge die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau tatsächlich Brust-
krebs hat, wenn sie einen positiven Mammographiebefund bekommt,
89,2 %, was unserer intuitiven Einschätzung nicht mehr so sehr wider-
sprechen würde wie die 7,8 %.
55 In der Realität werden wir meistens nicht mit Wahrscheinlichkeiten, son-
dern nur mit Häufigkeiten konfrontiert. Wir sind den Umgang mit Wahr-
scheinlichkeiten deshalb nicht geübt und lassen uns schneller in die Irre
führen. In der Tat wird die Leistung in Aufgabentypen wie oben besser,
wenn man die Wahrscheinlichkeitsangaben durch Häufigkeitsangaben
ersetzt.

Urteilsfehler und -heuristiken


Wir Menschen urteilen also nicht aufgrund der bedingten Wahrscheinlichkeit,
wie es eigentlich richtig wäre, sondern mithilfe anderer Strategien, den sog.
Heuristiken. Die bekanntesten sind (Fisk, 2004; Mussweiler, Englisch & Strack,
2004; Reber, 2004; Teigen, 2004; Pohl, 2007):
55 Repräsentativitätsheuristik
55 Ein für eine bestimmte Population repräsentatives Ereignis halten wir
für wahrscheinlicher als ein nicht repräsentatives.
55 Repräsentativ ist ein Ereignis dann, wenn es den meisten anderen Er-
eignissen einer Kategorie ähnelt.
55 Beispiel: Bei einem Münzwurf halten wir es für wahrscheinlicher, dass
die Kombination K-Z-Z-K-K-Z geworfen wird als die Kombination
K-K-K-K-K-K (was nicht stimmt, denn beide sind gleich wahrschein-
lich).
55 Erklärung: Das Ereignis K-Z-Z-K-K-Z entspricht eher unseren bishe-
rigen Erlebnissen bei einem Münzwurf. Diese 50-50-Verteilung ähnelt
somit unserer Erwartung und Erfahrung. Wir machen dabei den Feh-
ler, dass natürlich prinzipiell eine 50-50-Verteilung bei 6 Münzwürfen
wahrscheinlicher ist als 6-mal Kopf zu bekommen. Trotzdem ist die
Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Kombination immer gleich ist,
egal, ob sie nun der 50-50-Verteilung ähnelt oder nicht.
55 Konjunktionsfehler
55 Zwei miteinander verbundenen Ereignissen wird eine höhere Wahr-
scheinlichkeit zugerechnet als den einzelnen Ereignissen (was nicht
möglich ist).
55 Beispiel: Das Linda-Problem (Fisk, 2004, S. 24, Übersetzung des Ver-
fassers)
–– Aufgabenstellung: Linda ist 31 Jahre alt, Single, freimütig und
sehr aufgeweckt. Sie hat Philosophie im Hauptfach studiert. Als
Studentin hat sie sich sehr mit Fragen der Diskriminierung und
2.3 • Kognitive Psychologie
65 2
sozialen Gerechtigkeit befasst und auch an Anti-Atomkraft-
Demonstrationen teilgenommen. Welche der folgenden Aussa-
gen ist am wahrscheinlichsten: A) Linda ist eine Bankangestellte,
B) Linda engagiert sich in der Frauenbewegung, oder C) Linda ist
Bankangestellte und engagiert sich in der Frauenbewegung.
–– Häufiger Fehler: Die meisten Probanden schätzen C als am wahr-
scheinlichsten ein, dabei kann C nie wahrscheinlicher sein als A
oder B.
55 Mögliche Erklärungen:
–– Repräsentativität: Wir schätzen die Aussage C) als repräsentativer
ein als A) und B).
–– Linguistisches Missverständnis: Wir interpretieren Aussage A) als
»Linda ist eine Bankangestellte und nicht in der Frauenbewegung
aktiv«.
–– Summation: Wir halten zwei wahrscheinliche Aussagen wie in C)
für wahrscheinlicher als nur ein wahrscheinliches Ereignis wie in
A) oder B).
55 Verfügbarkeitsheuristik
55 Leicht verfügbaren Informationen wird eine höhere Wahrscheinlich-
keit zugeordnet als weniger leicht verfügbaren a die Leichtigkeit des
Abrufs einer Information beeinflusst die Urteilsbildung.
55 Beispiel: Todesfälle, von denen ausführlich in den Nachrichten be-
richtet wird (z. B. Flugzeugabstürze, Unfälle), wird eine höhere Wahr-
scheinlichkeit zugeordnet als solchen, von denen nicht berichtet wird
(z. B. Diabetes).
55 Anker-Effekt
55 Personen hängen ihre Schätzungen an einem vom eigentlichen Prob-
lem unabhängigen Startwert auf, der durch die Formulierung des Pro-
blems oder durch andere Informationen vorgegeben ist.
55 Beispiel: Fordert man Versuchspersonen auf, zu sagen, ob Mahatma
Gandhi bei seinem Tod älter oder jünger war als 64, und fordert man
sie anschließend auf, zu schätzen, wie alt er genau war, so nennen die
Versuchspersonen eine Zahl, die in der Nähe von 64 liegt. Nutzt man
einen Anker von 79, erzielt man den gleichen Effekt.

Darüber hinaus gibt es noch ein paar weniger bekannte Heuristiken und Effek-
te, die im Folgenden kurz vorgestellt werden (Pohl, 2007):
55 Validity effect: Einer wiederholten Information wird ein höherer Wahr-
heitswert zugesprochen als einer neuen Information.
55 Mere exposure effect: Allein durch die mehrfache Darbietung von Per-
sonen, Situationen oder Dingen wird die Einstellung eines Menschen zu
diesen positiv beeinflusst (Prinzip von Werbung a klassische Konditio-
nierung).
55 Overconfidence: Selbstüberschätzung der eigenen Fähigkeiten und Über-
schätzung der Richtigkeit der eigenen Urteile.
55 Recognition-Heuristik: Man entscheidet sich eher für die Alternative, die
man schon kennt.
55 Fluency-Heuristik: Wenn beide Alternativen erkannt werden, entscheidet
man sich eher für das, was einem schneller eingefallen ist.
55 Take-the-best-Heuristik: Man benutzt den Hinweis, der einem am besten
erscheint, und leitet daraus die Entscheidung ab.
55 Pollyanna principle: Hyperoptimistische Sichtweise auf das Leben (z. B.
werden angenehme Ereignisse besser erinnert als unangenehme).
66 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Entscheidungsverhalten
Darüber, wie wir Entscheidungen treffen, gibt es im Wesentlichen zwei Theo-
rien. Beide sind normativ, d.  h. sie postulieren einen optimalen Weg der
2 Entscheidungsfindung (Pohl, 2007):
55 Utility theory (Neumann & Morgenstern, 1947):
55 Diese Theorie geht davon aus, dass wir Menschen Nutzenmaximierer
sind, d. h. dass wir von zwei Alternativen stets diejenige wählen, die
für uns nützlicher ist.
55 Dabei wird der erwartete Nutzen über den Erwartungswert berechnet:
Wahrscheinlichkeit × Nutzen (Wert).
55 Prospect theory (Kahneman & Tversky, 1979): Sie baut auf der Utility
theory auf, erweitert allerdings die Berechnung des Nutzens um eine Ge-
wichtungsfunktion und eine Wertefunktion:
55 Die Gewichtungsfunktion versucht, menschliche Eigenheiten in diese
Berechnung mit einzubeziehen. So sind wir z. B. für Änderungen im
mittleren Wahrscheinlichkeitsbereich weniger sensibel, d. h. Wahr-
scheinlichkeiten von 0,3 und 0,6 werden ungefähr gleich gewichtet.
55 Die Wertefunktion unterscheidet Gewinne und Verluste und bildet
die menschliche Eigenschaft ab, dass wir Gewinne anders bewerten als
Verluste. Folgende Effekte sind in der Funktion abgebildet:
–– Verlustaversion: Menschen sind empfindlicher für potenzielle
Verluste als für potenzielle Gewinne (d. h. man versucht immer,
den Verlust so klein wie möglich zu halten), z. B. ist der Ärger
über den Verlust von 100 € größer als die Freude über den Ge-
winn von 100 €.
–– Sunk-cost-Effekt (versunkene Kosten): Versunkene Kosten wer-
den in das Entscheidungsverhalten mit einbezogen, z. B. 5 € bei
20 € zu sparen ist attraktiver als bei 500 €.
–– Risikoaversion für Gewinne: Man bevorzugt sichere Gewinne vor
unsicheren, aber höheren Gewinnen.
–– Risikosuche für Verluste: Man bevorzugt unsichere Gewinne vor
sicheren, aber niedrigeren Gewinnen.

Wie beim Urteilsverhalten ist auch das Entscheidungsverhalten Fehlern unter-


worfen:
55 Framing-Effekt:
55 Entscheidungen werden oft von irrelevanten Rahmenaspekten der
Situation beeinflusst.
55 Allein schon die Formulierung kann ausschlaggebend sein.
55 Unterlassungsfehler: Handlungen werden als riskanter aufgefasst als
nichts zu tun.
55 Status-quo-Bias: Wiederholung der ersten Entscheidung a man vermei-
det eine neue Entscheidung.

2.3.10 Der Mensch – Ein defizitäres Wesen?

Die Psychologie des Denkens beschäftigt sich intensiv mit den Fehlern, die
Menschen beim Schlussfolgern, Urteilen und Entscheiden machen. Wann im-
mer Wissenschaftler einen dieser Bereiche erforschen wollten, stießen sie auf
bestimmte systematische Verzerrungen, wie sie z. B. in der Experimentierreihe
um Wason‘s selection task aufgetaucht sind.
2.4 • Motivationspsychologie
67 2
Diese Fehler zeigen das Paradoxe der menschlichen Logik auf: Im Labor
erweisen sich unsere Leistungen als »schlecht« im Sinne von unlogisch, aber
im täglichen Leben sind sie ausreichend, um zurecht zu kommen. Die pessi-
mistische Erklärung des Paradoxons ist, dass unsere Verarbeitungsfähigkeit
begrenzt ist und wir nur gerade so eben mit der Umwelt zurechtkommen. Die
Fehler, die wir im Labor machen, sind demzufolge eine deutliches Zeichen für
die Unzulänglichkeit des Menschen.
Die optimistische Erklärung des Paradoxons ist, dass sich das Gehirn auf
diese Weise strukturiert, weil es sich im Alltag bewährt hat. Das heißt, dass
die Heuristiken, die uns im Labor zum Verhängnis werden, in der realen Welt
ihren Sinn und ihre Berechtigung haben. Die Fehler resultieren lediglich aus
Handlungsrichtlinien, die uns im Alltag schnelles und einfaches Handeln er-
möglichen und uns dabei helfen, mit wenigen Informationen noch relativ gute
Urteile zu fällen.

2.4 Motivationspsychologie

2.4.1 Allgemeines zur Motivationspsychologie

Die Motivationspsychologie versucht, menschliches Handeln und im Beson-


deren Verhaltensänderungen zu erklären und zugrunde liegende Motive zu
identifizieren. Sie beschäftigt sich mit folgenden Themen:
55 Interindividuelle Unterschiede in einer Situation
55 Gleichartigkeit eines Verhaltens in verschiedenen Situationen (intraindi-
viduelle Konsistenz)
55 Stabilität von Verhalten über die Zeit (intraindividuelle Stabilität)

Wie der aufmerksame Leser vielleicht schon erkannt hat, handelt es sich bei die-
sen Themen um die gleichen, mit denen sich auch die Persönlichkeitspsycholo-
gie beschäftigt. Auch der Begriff des Motivs weist große Überschneidungen auf,
da Motiven »trait«-Charakter zugeschrieben wird, d. h. sie sind genauso stabil
wie Persönlichkeitseigenschaften. Der Unterschied besteht darin, dass sich die
Motivationspsychologie auf die Zielgerichtetheit menschlichen Verhaltens und
die Dynamik (lat. motus = Bewegung) des Zusammenspiels in einer bestimm-
ten Situation konzentriert, während diese Perspektive der Persönlichkeitspsy-
chologie fehlt (Thomae, 1999). Motive sind immer mit dem Streben nach einem
bestimmten Zielzustand verbunden, Persönlichkeitsmerkmale nicht. So wird
z.  B. jemand, der intelligent ist, nicht zwangsläufig Situationen aufsuchen, in
denen er seine Intelligenz braucht oder sie beweisen kann, wohingegen jemand,
der ein großes Machtmotiv hat, auf jeden Fall versuchen wird, Situationen auf-
zusuchen in denen dieses Bedürfnis befriedigt werden kann.
Will man sich genauer mit der Motivationspsychologie beschäftigen, stößt
man auf eine Vielzahl von Theorien, unter denen man leicht den Überblick
verliert. Diese Modelle lassen sich jedoch danach kategorisieren, auf welche
Art und Weise sie Verhalten erklären (Arten der Verhaltenserklärung; Heck-
hausen & Heckhausen, 2010a):
55 Verhaltenserklärung auf den 1. Blick:
55 Man sucht nach den Motiven einer Person.
55 Ist vergleichsweise einfach, da man nur die Gründe benennen muss.
55 Verhalten ist eine Funktion der Person: V = f(P).
55 Motivationsmodelle, die diese Perspektive einnehmen: Triebtheorien,
»trait«-Modelle der Persönlichkeit.
68 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Verhaltenserklärung auf den 2. Blick:


55 Man sucht nach den Situationsvariablen, die Verhalten festlegen.
55 Ist vergleichsweise schwierig, da Verhalten mehrdeutig ist.
2 55 Verhalten ist eine Funktion der Situation: V = f(S).
55 Motivationsmodelle, die diese Perspektive einnehmen: Behavioristi-
sche Motivationsmodelle.
55 Verhaltenserklärung auf den 3. Blick:
55 Man sucht nach den Wechselwirkungen von Person und Situation.
55 Verhalten ist eine Funktion der Person und der Situation: V = f(P×S).
55 Motivationsmodelle, die diese Perspektive einnehmen: Interaktionisti-
sche Persönlichkeitsmodelle.

2.4.2 Zur Motivation im Allgemeinen

Zunächst soll eine begriffliche Abgrenzung vorgenommen werden:


55 Bedürfnis:
55 Bedürfnisse sind primäre (nicht erlernte), arterhaltende, biogene
(lebenserzeugende) Motive (z. B. Hunger, Durst, Schlaf, etc.).
55 Da man sich bei manchen Bedürfnissen darüber streiten kann, ob
sie erlernt oder angeboren sind, werden die Begriffe »Bedürfnis« und
»Motiv« auch synonym verwendet.
55 Motiv:
55 Motive sind Handlungsziele, die in Form von Wertungsdispositionen
vorliegen, d. h. Motive haben einen Einfluss darauf, wie wir Ziele be-
werten.
55 Motive haben »trait«-Charakter, d. h. sind so stabil wie Persönlich-
keitseigenschaften.
55 Motivation:
55 Der Zustand, der sich einstellt, wenn ein Motiv zur Wirksamkeit
gebracht wird, d. h. der aktuelle Zustand des Motiviertseins (die
Gesamtheit der emotionalen und kognitiven Prozesse, die eine Verhal-
tensbereitschaft auszeichnen).
55 Der Begriff »Motivation« hat »state«-Charakter, d. h. er betont das
Prozesshafte.
55 Motivierung:
55 Motivierung bezeichnet den Versuch, durch geeignete Maßnahmen
Motivation herzustellen, d. h. Motivierung bezeichnet den Prozess, ein
Motiv zu aktivieren.

Motive können auf unterschiedliche Art klassifiziert werden:


55 Primäre vs. sekundäre Motive:
55 Primäre Motive: Existenzerhaltende Motive
55 Sekundäre Motive: Erlernte Motive
55 Intrinsische vs. extrinsische Motive:
55 Extrinsische Motive: Anreize kommen von außen.
55 Intrinsische Motive: Persönliche Anreize treiben uns an, die Moti-
vation kommt aus einem Selbst, weshalb es auch schneller zu einer
Handlung kommt.
55 Meidende vs. aufsuchende Motive
55 Meidende Motive: Vermeidung unangenehmer Zielzustände (z. B.
Furcht vor Misserfolg)
2.4 • Motivationspsychologie
69 2
55 Aufsuchende Motive: Aktives Aufsuchen angenehmer Zielzustände
(z. B. Hoffnung auf Erfolg)

Im Folgenden werden verschiedene Motivationstheorien vorgestellt; auch in


diesen Theorien finden sich verschiedene Arten, Motiven einzuteilen.

2.4.3 Einfache Motivationsmodelle

Unter den einfachen Motivationsmodellen werden diejenigen Modelle sub-


summiert, die die Verhaltenserklärung auf den ersten oder zweiten Blick nut-
zen, d. h. die Verhalten als Funktion der Person oder der Situation sehen (V =
f(P) oder V = f(S)). Aufgrund der Einfachheit der Modelle und ihrer Reduktion
auf nur einen wichtigen Aspekt menschlichen Verhaltens haben diese Ansätze
heute nur noch historischen Wert (Rheinberg, 2006; Heckhausen, 2010).
55 Instinkttheoretischer/ethologischer Ansatz (McDougall, 1932): V = f(P)
55 Dieser Ansatz steht in der Tradition von Darwin.
55 Er geht davon aus, dass unser Verhalten immer instinktiv motiviert ist,
wobei alle Instinkte überlebenswichtig sind.
55 Thesen:
–– Erklärungsgrundlagen für tierisches Verhalten müssen auch für
menschliches Verhalten gelten, wenn man annimmt, dass keine
Wesenskluft zwischen Tieren und Menschen besteht.
–– Auch die menschliche Intelligenz ist aus dieser Sicht nichts Beson-
deres: Da sich nur die Arten fortpflanzen, die sich den Umweltgege-
benheiten anpassen, ist die Intelligenz nicht etwas Einmaliges, son-
dern stellt ein Entwicklungsprodukt der Menschheitsgeschichte dar.
–– In jeder Art existiert eine natürliche Auslese. Es gilt, die Faktoren
zu identifizieren, die hierzu beitragen. a Überleben heißt, sich
anzupassen.
55 Kritik: Kognitive Prozesse werden bei diesem Ansatz vernachlässigt.
Der Mensch ist nicht nur triebbestimmt.
55 Psychoanalytische Theorie (Freud, 1915): V = f(P)
55 Diese Theorie steht in der Tradition der Instinkttheorien.
55 Der Mensch folgt immer dem hedonistischen Prinzip (Anstreben von
lustvollen Zuständen).
55 Der Mensch ist homöostatisch gesteuert (Tendenz, im Gleichgewicht
zu bleiben).
55 Freud sah den Menschen zwei wesentlichen Trieben ausgesetzt:
Sexualtrieb und Selbsterhaltungstrieb.
55 Außerdem postulierte er, dass Triebe uns aus dem Unbewussten her-
aus steuern.
55 Humanistischer Ansatz: Bedürfnispyramide von Maslow (1970;
. Abb. 2.9): V = f(P)
55 Unterscheidung zwischen
–– Grund- oder Defizitmotiven: Motive, die für das physische und
psychische Überleben notwendig sind.
–– Wachstumsmotiven: Sie werden unausweichlich dann aktiv, wenn
die basalen Bedürfnisse befriedigt sind.
55 Ein in der Bedürfnishierarchie höheres Motiv wird erst dann aktiv,
wenn die darunterliegenden befriedigt sind.
55 Die Bedürfnispyramide von Maslow hat eine sehr weite Verbreitung
gefunden.
70 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Bedürfnis nach Transzendenz

2 Bedürfnis nach Selbstverwirklichung


Wachstumsbedürfnisse
Ästhetische Bedürfnisse

kognitive Bedürfnisse

Bedürfnis nach Wertschätzung

Bedürfnis nach Bindung


Grundbedürfnisse
Bedürfnis nach Sicherheit

Biologische Bedürfnisse

. Abb. 2.9  Maslows Bedürfnispyramide. (Nach Zimbardo & Gerrig, 2004, Psychologie, 16.
Auflage, Pearson Deutschland GmbH [7 Abb. 12.7, S. 540])

55 Behavioristischer Ansatz (Hull, 1943,1952): V = f(S)


55 Black-Box-Modell: Man kann nicht in den Menschen hineinsehen und
muss sich deshalb auf das Beobachtbare konzentrieren.
55 Die intervenierende Variable, um Handeln zu erklären, ist die Verhal-
tenstendenz.
–– Verhaltenstendenz = Habit × Drive
–– Habit: Erlernte Gewohnheit, auf einen bestimmten Reiz mit einer
bestimmten Reaktion zu antworten (hängt von der Zahl der
Lerndurchgänge ab).
–– Drive: Ausführungsantrieb (hängt von der aktuellen Bedürfnis-
lage ab). Die aktuell wirksamen Triebe energetisieren die passen-
den Gewohnheiten.
55 Folgerungen:
–– Triebsummation mehrerer Bedürfnisse führt zu ausgeprägteren
Reaktionen.
–– Triebreduktionshypothese: Triebe nehmen nach ihrer Befriedi-
gung ab.
55 Kritik:
–– Das Modell ist mit zwei Erklärungsfaktoren zu einfach angelegt.
–– Beobachtungen haben gezeigt, dass Triebsummation sowohl zu
stärkeren (Aktivierung) aber auch zu schwächeren (Hemmung)
Reaktionen führen kann.
–– Die Triebreduktionshypothese konnte nicht bestätigt werden: In
einem Experiment von Olds und Milner (1954) wurden Ratten
Elektroden in bestimmte Areale des Zwischenhirns implantiert.
Die Ratten erhielten die Möglichkeit, sich selbst elektronisch zu
stimulieren, was sie exzessiv taten (bis zu 7.000-mal pro Stunde).
–– Hull beobachtete, dass gleichhungrige Tiere eine Reaktion
schneller lernten, wenn sie wussten, dass in der Zielbox eine be-
sonders begehrte Belohnung wartete a das ist mit diesem Modell
nicht zu erklären.
55 Aufgrund dieser Kritik erweiterte Hull das Modell:
55 Verhaltenstendenz = Habit × Drive × Anreiz
55 Anreiz: Belohnungswert der erwarteten Befriedigung (ist erlernt)
2.4 • Motivationspsychologie
71 2
2.4.4 Komplexe Motivationsmodelle

Unter den komplexeren Motivationsmodellen werden diejenigen zusammen-


gefasst, die die Perspektive der Verhaltenserklärung auf den dritten Blick vor-
nehmen, d. h. Verhalten als Funktion von Person und Situation ansehen (V
= f(P×S)). Innerhalb dieser interaktionistischen Motivationsmodelle gibt es
zum einen Modelle, die sich auf die Interaktion von Person und Situation
konzentrieren, ohne kognitiven Elementen ein besonderes Gewicht zu geben
(z. B. Theorie der Feldkräfte von Lewin, Need-press-Modell von Murray), und
zum anderen die Subgruppe der kognitionspsychologischen Theorien, die die
kognitiven Elemente betonen und auch als Erwartungs-Wert-Modelle bezeich-
net werden (z. B. Instrumentalitätstheorie von Vroom, erweitertes kognitives
Motivationsmodell von Heckhausen).
Lewin versucht, mit seiner Feldtheorie das Phänomen zu erklären, warum
Menschen innerlich darauf drängen, Unerledigtes zu erledigen, und in welche
Konflikte sie geraten, wenn verschiedene Ziele in Konkurrenz zueinander ste-
hen. Ein typisches Experiment ist das der »diebischen Wiederaufnahme« von
Ovsiankina (1928):
55 Versuchsaufbau: Die Versuchspersonen sollten verschiedene Aufgaben
lösen (z. B. Rätsel), wobei der Versuchsleiter die Teilnehmer bei einigen
Aufgaben unterbrach und sie bat, mit der nächsten Aufgabe anzufangen.
55 Ergebnis: Die meisten Teilnehmer wehrten sich entweder direkt oder
arbeiteten heimlich an der alten Aufgabe weiter, sobald sich im weiteren
Versuchsablauf eine Pause ergab.
55 Erklärung: Durch die Zielsetzung, die erste Aufgabe zu bearbeiten, ent-
stand bei den Versuchsteilnehmern ein Quasibedürfnis, das nach Befrie-
digung verlangte.

Lewin entwickelte dazu seine Feldtheorie (Rheinberg, 2006; Beckmann &


Heckhausen, 2010b; Heckhausen, 2010) mit folgenden Elementen:
55 Quasibedürfnis:
55 Quasibedürfnisse sind Ziele und ergeben sich aus dem Vorsatz, etwas
zu tun.
55 Quasibedürfnisse verhalten sich wie echte Bedürfnisse (verlangen nach
Befriedigung), sind aber nur von zeitlich begrenzter Dauer.
55 Je stärker ein Quasibedürfnis mit einem echten Bedürfnis zusammen-
hängt, desto stärker sind die Auswirkungen im Verhalten.
55 Gespannte Systeme:
55 Jedes Bedürfnis und jedes Quasibedürfnis bilden, sobald sie aktiviert
sind, ein gespanntes System, das nach Entspannung verlangt.
55 In diesen gespannten Systemen wirken unterschiedliche Feldkräfte.
55 Feldkräfte:
55 Der Mensch ist, bedingt durch seine Bedürfnisse, bestimmten Feld-
kräften ausgesetzt: Anziehung erfolgt durch attraktive Ziele, Absto-
ßung durch unattraktive Ziele.
55 Der Aufforderungscharakter eines Feldes ergibt sich:
–– aus der Person: Wie groß ist das Bedürfnis? (Spannung des Sys-
tems).
–– aus der Situation: Wie attraktiv ist das Ziel? (Valenz des Ziel-
objekts) Welche Möglichkeiten der Zielerreichung sind in der
Situation angelegt?
55 Je nachdem, wie die Feldkräfte wirken, ergeben sich unterschiedliche
Konflikte (. Abb. 2.10):
72 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Appetenzkonflikt + P +

2
Aversionskonflikt - P -

Appetenz-
+/- P
Aversionskonflikt

Doppelter Appetenz-
+/- P +/-
Aversionskonflikt

. Abb. 2.10  Übersicht über die wirkenden Feldkräfte bei verschiedenen Konflikten. (Nach
Beckmann & Heckhausen, 2010b)

55 Appetenzkonflikt:
–– Situation, in der sich die Person zwischen zwei positiven Auffor-
derungscharakteren etwa gleicher Stärke befindet.
–– Mit der Annäherung an das eine Ziel wird dessen Attraktivität
größer, die des entfernteren Ziels wird schwächer.
–– Im Prinzip ist dieser Konflikt bereits gelöst, wenn man sich
einem der beiden Zielen (räumlich oder gedanklich) nähert a in
der Realität ist es allerdings meist nicht so einfach, da es selten
Ziele gibt, die nur positiv sind.
55 Aversionskonflikt:
55 Situation, in der sich die Person zwischen zwei negativen Aufforde-
rungscharakteren gleicher Stärke befindet und aus der sie nicht entwei-
chen – »aus dem Felde gehen« – kann.
55 Man verharrt in Inaktivität, es sei denn, es droht eine besonders
schwere Strafe.
55 Appetenz-Aversions-Konflikt:
55 Situation, in der die Person einem Objekt gegenübersteht, das sowohl
positive als auch negative Aspekte hat.
55 Eine Aktivität und ihr Ergebnis haben gegensätzlichen Aufforderungs-
charakter (Beispiel: Man macht nicht gerne den Abwasch, hätte aber
gerne eine saubere, aufgeräumte Küche).
55 Bei solchen Konflikten lassen sich Aufsuchen- und Meidengradienten
beobachten (Miller): Der Aufsuchengradient setzt aus größerer Entfer-
nung ein: Aus der Ferne sieht man zunächst nur die positiven Aspekte
eines ambivalenten Objekts. Der Meidengradient setzt später ein, steigt
aber schneller an: Kommt man dem Objekt näher, beginnt man v. a.
die negativen Seiten zu sehen und entfernt sich wieder von dem Ob-
jekt. Es kommt deshalb zum Pendeln: Man nähert sich dem Ziel und
entfernt sich dann wieder von ihm.
55 Doppelter Appetenz-Aversions-Konflikt (Miller, 1944,1951):
55 Aufgrund seiner Experimente fügte Miller den drei Konflikten von
Lewin noch einen hinzu.
55 Situation, in der die Person zwischen zwei Zielen steht, die beide so-
wohl positive als auch negative Konsequenzen haben.
55 Nähert man sich dem einen Ziel, so setzt der Meidengradient ein,
nähert man sich dem anderen, ist zunächst der Aufsuchengradient
2.4 • Motivationspsychologie
73 2
größer, dann wieder der Meidengradient a auch hier kommt es zum
Pendeln zwischen den beiden Zielen.

55 Verdienste Lewins:
55 Er forderte erstmals, Verhalten als eine Funktion von Umwelt und
Situation zu betrachten.
55 Er wandte sich von objektiven Situationsbeschreibungen ab und kon-
zentrierte sich auf die Sichtweise der Person.
55 Auch seine komplexen Experimente waren wegweisend.
55 Kritik an Lewins Feldtheorie: Vorhersagen sind kaum möglich, da das
Geschehen zu sehr an den aktuellen Spannungszustand der Person ge-
bunden ist.

Wie Lewin beschrieb auch Murray (1938) in seinem Need-press-Modell As-


pekte der Person und der Situation:
55 Need: Bedürfnisse der Person
55 Press: Das, was durch die Situation als Verlockung oder Bedrohung in
Aussicht steht
55 Alpha press: Objektive Situationsmerkmale
55 Beta press: Subjektive Situationsmerkmale
55 Need und Press stehen in Interaktion und beeinflussen Verhalten.

Die Erwartungs-Wert-Theorien legen ein stärkeres Gewicht auf die kognitive


Seite des Motivationsprozesses und nehmen an, dass Handlung das Ergeb-
nis von Erwartungen und Anreizen ist (Rheinberg, 2006, 2010; Beckmann &
Heckhausen, 2010a):
55 Instrumentalitätstheorie (Vroom, 1964):
55 Eine Handlung X zur Erreichung des Zieles Y wird umso eher ausge-
löst, je größer das Produkt aus Instrumentalität von X und Valenz von
Y: Handeln = Instrumentalität × Valenz.
55 Handeln ergibt sich aus der personbedingten Instrumentalität und der
situationsbedingten Valenz: .
–– Instrumentalität: Erwartete Enge der Beziehung zwischen einer
bestimmten Handlung X und dem Zielzustand Y a Inwieweit
ist X ein geeignetes Instrument zur Herbeiführung oder Vermei-
dung von Y?
–– Valenz = Anreiz des Zielobjekts
55 Instrumentalität und Valenz können Werte zwischen +1 und -1 anneh-
men: Ist das Produkt beider positiv, ist das Ziel anziehend, und auf-
suchendes Handeln wird ausgelöst, ist es hingegen negativ, wird keine
Handlung ausgelöst bzw. Y wird gemieden.
55 Erweitertes kognitives Motivationsmodell nach Heckhausen & Rhein-
berg (1980, . Abb. 2.11):
55 Der Handlungsraum wird durch die folgenden vier Komponenten
strukturiert: Situation, Handlung, Ergebnis und Folgen.
55 In dieser Konstellation ergeben sich drei Arten von Erwartungen:
–– Situations-Ergebnis-Erwartung: Erwartung darüber, wie sich die
Situation entwickeln wird, wenn nicht gehandelt wird a wirkt
sich negativ auf eine Handlungsinitiierung aus.
–– Handlungs-Ergebnis-Erwartung: Erwartung darüber, mit wel-
cher Wahrscheinlichkeit das Handeln zum gewünschten Ergebnis
führt a wirkt sich positiv auf eine Handlungsinitiierung aus. Die
Handlungs-Ergebnis-Erwartung besteht aus den zwei Facetten
74 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

S-E-Erwartung

2 Situation Handlung Ergebnis Folgen

H-E-Erwartung E-F-Erwartung

. Abb. 2.11  Das erweiterte kognitive Motivationsmodell nach Heckhausen; Legende: S-E =
Situations-Ergebnis-Erwartung, E-F = Ergebnis-Folge-Erwartung, H-E = Handlungs-Ergebnis-
Erwartung. (Aus Rheinberg, 2010, mit freundlicher Genehmigung von Falko Rheinberg)

Wirksamkeitserwartung (Besteht die Möglichkeit, die gewünsch-


te Handlung auszuführen?) und Ergebniserwartung (Wird die
Handlung zum gewünschten Ziel führen?).
–– Ergebnis-Folge-Erwartung: Erwartung darüber, mit welcher
Wahrscheinlichkeit das Ergebnis zu bestimmten Folgen führt a
wirkt sich positiv auf eine Handlungsinitiierung aus. Hier wirken
auch die Anreize ein.
55 Differenzierung von Anreizen:
–– Zweckbezogene Anreize: Handlung ist ein Mittel zum Zweck.
–– Tätigkeitsbezogene Anreize: Eine Handlung wird um ihrer selbst
willen ausgeführt.

2.4.5 Volitionsmodelle

Während sich die Motivationsmodelle auf das Abwägen von positiven und
negativen Folgen konzentrieren (realitätsorientiert), beschäftigen sich die
Volitionsmodelle mit dem Abwägen von Handlungsschritten (realisierungs-
orientiert). Volition kann definiert werden als diejenigen Prozesse, die eine
Intention zur Realität werden lassen, d. h. das feste Vorhaben, etwas in die Tat
umzusetzen. Volition umfasst außerdem eine konkrete Vorstellung vom Ziel
und die Vorsatzbildung. Sie kann beeinflusst werden durch:
55 Andauern der Handlungstendenz bis zur Zielerreichung (Persistenz):
55 Instigating force: Die Handlungstendenz nimmt zu aufgrund situatio-
naler Anreize sowie Denk- und Vorstellungsprozessen.
55 Consumatory force: Die Handlungstendenz nimmt ab, je länger sie
bereits das Handeln bestimmt.
55 Probleme bei der Handlungsinitiierung:
55 Der richtige Zeitpunkt zur Ausführung
55 Konkurrierende andere Handlungstendenzen
55 Handlungshindernisse

Die Entwicklung von Volitionsmodellen stand lange im Schatten der motiva-


tionspsychologischen Theorien, da man Motiven einen größeren Einfluss auf
das Verhalten des Menschen zusprach als dem Willen. Der Erforschung des
Willens schenkte man erst dann genauere Beachtung, als man feststellte, dass
sich manches Verhalten nicht allein durch Motive erklären lässt (z. B. warum es
bei stark miteinander konkurrierenden Motiven nicht zu einem permanenten
Pendeln kommt, wie es Lewin beschrieben hat).
2.4 • Motivationspsychologie
75 2
Kuhl machte dafür die Handlungskontrolle verantwortlich und formulierte
die Theorie der Handlungskontrolle (Rheinberg, 2006):
55 Grundidee der Willensbildung: Aus einer Motivationstendenz entsteht
eine Zielbindung und daraus eine Intention.
55 Handlungskontrolle:
55 Sie sorgt bei diesem Prozess dafür, dass die aktuelle Handlungsinten-
tion von anderen Motivationstendenzen abgeschirmt wird.
55 Die Strategien der Handlungskontrolle treten in Aktion, wenn die Rea-
lisierung einer Handlung ins Stocken gerät, weil die zugrunde liegende
Handlungstendenz zu schwach ist, und/oder sich innere und äußere
Handlungshindernisse in den Weg stellen.
55 Sie läuft nicht nur aktiv ab, sondern kann auch passiv als automatische
Strategie wirken, der sich der Handelnde nicht bewusst ist.
55 Strategien willentlicher Handlungskontrolle:
55 Selektive Aufmerksamkeit – Aufmerksamkeitskontrolle: Die Aufmerk-
samkeit richtet sich auf die Informationen, die die Intention unterstüt-
zen, anderes wird ausgeblendet.
55 Enkodierkontrolle: Einkommende Informationen, die mit der Inten-
tion in Zusammenhang stehen, werden tiefer verarbeitet.
55 Emotionskontrolle: Manche Emotionen sind für eine Realisierung
besser geeignet als andere. Der Handelnde versucht, diese zu erzeugen
bzw. nicht förderliche Emotionen zu vermeiden.
55 Motivationskontrolle: Die Stärke der Motivation kann vom Handeln-
den angehoben werden, sobald er merkt, dass gleichzeitig vorhandene
oder entstehende konkurrierende Intentionen stärker werden.
55 Umweltkontrolle: Vorsorge, die gegen unerwünschte Nebentätigkeiten
schützt. Reize, die zu Intentionen führen, die man meiden möchte,
werden entfernt.
55 Sparsame Informationsverarbeitung: Die Elaboration von Erwartungs-
und Wertaspekten (Was könnte passieren? Was kann ich erwarten?
Wird es positiv ausgehen?) kann im Prinzip endlos betrieben werden.
Diese Form der Informationsverarbeitung wird daher nur sparsam
vorgenommen.
55 Handlungsorientierte Misserfolgsbewältigung: Hier gilt es, sich von
unerreichten Zielen zu lösen und einem Misserfolg nicht allzu lange
nachzutrauern.
55 Personen unterscheiden sich darin, wie gut es ihnen gelingt, Handlungs-
kontrolle auszuüben:
55 Personen, denen das gut gelingt, sind in diesem Sinne handlungs-
orientiert:
–– Sie beschäftigen sich viel damit, wie eine Absicht in eine Hand-
lung umgesetzt werden kann.
–– Sie haben Klarheit über alle Elemente einer adäquaten Hand-
lungsabsicht: den angestrebten Soll-Zustand, den zu verändern-
den Ist-Zustand, die zu überwindende Distanz zwischen diesen
beiden, die beabsichtigte Handlung, mit der die Diskrepanz ver-
ringert werden soll.
55 Personen, denen das weniger gut gelingt, sind lageorientiert:
–– Sie werden von hartnäckigen Kognitionen beherrscht, die sich
auf die gegenwärtige, zukünftige oder eine zurückliegende Lage
beziehen a bewirkt die Blockierung einer Handlung.
–– Bedingungen für die Entstehung von Lageorientierung: Wider-
sprüche in der aufgenommenen Information (die erst geklärt
werden müssen, bevor man handeln kann) und degenerierte
76 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

Motivationsphase In Wählen

ten
tionsbildu
2 Rubikon

ng
Präaktionale Volitionsphase Planen

Aktionale Volitionsphase Handeln

Postaktionale Motivationsphase Bewerten

. Abb. 2.12  Das Rubikonmodell nach Heckhausen mit seinen verschiedenen Phasen und
jeweiligen Zielen (Kästchen rechts). Nach Überschreiten des Rubikon gibt es kein Zurück
mehr in die erste Motivationsphase. (Nach Achtziger & Gollwitzer, 2010)

Intentionen, d. h. verkümmerte Absichten (wir wollten etwas tun,


haben es aber nicht getan).
–– Die Lageorientierung kann weiter differenziert werden in: ent-
scheidungsbezogen (will ich oder will ich nicht?), ausführungsbe-
zogen (unvollständige Handlung und häufige Unterbrechungen)
und misserfolgsbezogen (Resignation, wenn man viele Misserfol-
ge hat).

Das zweite wichtige Volitionsmodell ist das Rubikon-Modell von Heckhausen


und Gollwitzer (1987), das zu erklären versucht, was passiert, wenn wir eine
Entscheidung für eine bestimmte Handlung treffen (Rheinberg, 2006; Acht-
ziger & Gollwitzer, 2010). Das Modell unterscheidet zwischen verschiedenen
Phasen (. Abb. 2.12):
55 Motivationsphase:
55 Phase, bevor die Handlungsintention entstanden ist
55 Ziel: Wählen
55 Offene Auseinandersetzung: Hier wirken alle möglichen Anreize, Mo-
tive und Erwartungen ein.
55 Realitätsorientierte Bewusstseinslage: Es werden alle motivationalen
Gedanken ins Kalkül gezogen und daraufhin geprüft, ob sie realistisch
sind (z. B. Abwägen von positiven und negativen Folgen, Auftritts-
wahrscheinlichkeit der Folgen, Abwägen der Schwierigkeiten, die auf-
treten können).
55 Die Überschreitung des Rubikons in Richtung Volitionsphase wird von
der Fazittendenz beeinflusst, d. h. der Bereitschaft, ein Fazit zu ziehen.
55 Ist der Rubikon einmal überschritten, gibt es laut Theorie keine Mög-
lichkeit mehr, zurückzugehen.
55 Volitionsphase:
55 Phase, nachdem sich die Intention ausgebildet hat
55 Ziel: Planen und Handeln
55 Selektive Auseinandersetzung: Es werden nur der Ausführung dien-
liche Informationen beachtet.
55 Realisierungsbetonte Bewusstseinslage: Planung und Umsetzung,
wann und wo die Handlung stattfinden soll, Planung und Umsetzung
der einzelnen Handlungsschritte.
2.4 • Motivationspsychologie
77 2
55 Kann nochmals unterteilt werden in präaktionale (Planungs-) und
aktionale (Handlungs-) Phase:
–– Die aktionale Phase beginnt mit dem Entschluss, die angestrebte
Handlung nicht nur irgendwann, sondern hier und jetzt auszuführen.
–– Auf die Entscheidung, welche Handlung jetzt in die Tat umge-
setzt wird, nimmt die Fiattendenz Einfluss, d. h. die Bereitschaft,
sich für eine Handlung zu entscheiden (z. B. Passung der Hand-
lung zur jetzigen Situation).
55 Postaktionale Motivationsphase:
55 Phase, nachdem die Handlung abgeschlossen ist
55 Ziel: Abschließendes Bewerten der Handlung
55 Hier wird noch einmal die gleiche offene und realitätsorientier-
te Bewusstseinslage aktiv, die auch in der ersten Motivationsphase
vorherrschte.

2.4.6 Intrinsische Motivation

Die intrinsische Motivation zeichnet sich durch besondere Eigenschaften aus


und ist unter vielen verschiedenen Namen untersucht worden (Csikszentmi-
halyi, 2000; Rheinberg, 2006) wie z. B.:
55 Funktionslust (Bühler, 1922):
55 Bühler beschrieb damit das Phänomen, dass Kinder eine bestimmte
Handlung wiederholen, wenn sie merken, dass die Handlung immer
wieder eine bestimmte Konsequenz hat a Kinder haben Spaß daran
dass etwas funktioniert.
55 Beispiel: Ein Kind wirft seinen Schnuller auf den Boden, und die Mut-
ter hebt ihn auf.
55 Dynamic Joys (Duncker, 1940):
55 Hierbei handelt es sich um Tätigkeiten, die zwar ein Ziel haben, die
aber nicht wegen der Zielerreichung ausgeführt werden, sondern we-
gen der Handlung an sich.
55 Beispiel: Beim Sport setzt man sich das Ziel, eine bestimmte Bestzeit
zu unterbieten. Das, was am Sport jedoch Spaß macht, ist die Tätigkeit
an sich und nicht das Endergebnis.
55 Flow (Czikszentmihalyi, 2000):
55 Der genussvolle Zustand, selbst- und zeitvergessen gänzlich in einer
Aktivität aufzugehen.
55 Flow ist ein autotelischer Zustand, d. h. eine Handlung geschieht um
ihrer selbst willen bzw. eine Person handelt aus eigenem Antrieb.
55 Komponenten des Flow:
–– Man weiß jederzeit, was als nächstes zu tun ist.
–– Optimale Beanspruchung: Die Anforderungen entsprechen dem
Können.
–– Glatter Handlungsablauf: Die einzelnen Schritte laufen flüssig
ineinander über.
–– Man muss sich nicht willentlich konzentrieren.
–– Das Zeiterleben ist beeinträchtigt (Zeit vergeht wie im Flug).
–– Man geht gänzlich in der Tätigkeit auf und verschmilzt mit ihr
(selbstvergessen).
55 Tätigkeitszentrierte Anreize (Rheinberg, 1989):
55 Im erweiterten kognitiven Motivationsmodell fließen tätigkeitszent-
rierte und zweckzentrierte Anreize mit ein.
78 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Tätigkeitszentrierte Anreize sind Eigenschaften der ausgeführten


Handlung, die für die handelnde Person besonders attraktiv sind.
55 Paratelische Zustände (Apter, 1982):
2 55 Apter nannte den Zustand, in dem man ganz in einer Tätigkeit aufgeht
und sie um ihrer selbst willen ausführt, paratelische Zustände.
55 Er stellte sie den telischen Zuständen gegenüber, d. h. Situationen, in
denen man nur handelt, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
55 Sensation-Seeking (Zuckerman, 1979):
55 Individuell unterschiedliches Bedürfnis nach abwechslungsreichen
Eindrücken und der Bereitschaft, dafür große Risiken einzugehen
(Persönlichkeitsmerkmal).
55 Höchste Werte (z. B. das eigene Leben) werden in eine Unsicherheits-
position gebracht, ohne dass die Tätigkeit ein Ergebnis hervorbringt,
bei dessen Erreichen Profit entstünde.
55 Komponenten:
–– Thrill and Adventure Seeking: Freizeitaktivitäten (z. B. Fall-
schirm-Springen)
–– Experience Seeking: Suche nach neuen Erfahrungen, Offenheit
für Neues (z. B. Reisen)
–– Disinhibition: Stimulation durch Enthemmung (z. B. Drogen)
–– Boredom Susceptibility: Tendenz, monotonen Ereignissen und
Tätigkeiten aus dem Weg zu gehen

Unter dem Begriff »intrinsische Motivation« wurden sehr viele verschiedene


Konstrukte untersucht. Manchmal ist damit ein Persönlichkeitsmerkmal ge-
meint (wie Sensation Seeking), mal ein Zustand (wie Flow). Einige Konzepte
wurden unter unterschiedlichem Namen untersucht, bezeichnen aber genau das
Gleiche (z. B. paratelische Zustände und tätigkeitszentrierte Anreize). Zusam-
mengefasst enthalten aber alle das Element, dass eine bestimmte Tätigkeit nicht
aufgrund ihrer Folgen ausgeführt wird, sondern aufgrund der Handlung an sich.

2.4.7 Leistungsmotivation

Das Leistungsmotiv gehört mit zu den am besten erforschten Motiven, so dass


sich diverse leistungsspezifische Theorien entwickelt haben. Oft wird es auch
im Zusammenhang mit intrinsischer Motivation untersucht, schließlich tritt
Flow z. B. dann auf, wenn die Passung zwischen Anforderungen und Fähig-
keiten optimal ist. Das Leistungsmotiv kann definiert werden als Bedürfnis
nach Erfolg in der Auseinandersetzung mit einem Gütemaßstab, d. h. Leis-
tung hängt ab von dem Vergleich mit einem Ideal, einer anderen Person o. ä.
Ein wichtiges Modell zur Leistungsmotivation ist das Risiko-Wahl-Modell
von Atkinson (1957), das auch zu den interaktionistischen Motivationsmodel-
len gezählt werden kann, da es Verhalten als Funktion von Person und Situa-
tion ansieht (Rheinberg, 2006; Beckmann & Heckhausen, 2010a; Brunstein &
Heckhausen, 2010):
55 Grundannahmen:
55 Es gibt Situations- und Personvariablen, die Handeln beeinflussen.
55 Situationsvariablen:
–– Erwartungen von Erfolg und Misserfolg (subjektive Erfolgswahr-
scheinlichkeiten)
–– Anreize von Erfolg und Misserfolg (Höhe der Attraktivität von
Erfolg bzw. Unattraktivität/Ärger von Misserfolg)
2.4 • Motivationspsychologie
79 2
55 Beziehungen zwischen den Situationsvariablen:
–– Am = -We: Ärger über Misserfolg nimmt mit der Erfolgswahr-
scheinlichkeit zu
–– Ae = 1-We: Freude über Erfolg nimmt mit der Erfolgswahr-
scheinlichkeit ab
–– We + Wm = 1: da es sich bei der Erfolgs- und der Misserfolgser-
wartung um einander ausschließende Ergebnisse handelt, ergibt
ihre Summe 1
55 Personvariablen: Motive zur Erlangung von Affekten
–– Motiv, Erfolg aufzusuchen (Hoffnung auf Erfolg): Disposition,
Erfolge aufzusuchen, um den positiven leistungsbezogenen Af-
fekt zu maximieren
–– Motiv, Misserfolg zu meiden (Furcht vor Misserfolg): Disposi-
tion, Misserfolg zu meiden, um dadurch den negativen leistungs-
bezogenen Affekt zu minimieren
55 Interaktion von Person- und Umweltvariablen: Unterschiede von erfolgs-
und misserfolgsmotivierten Personen
55 Aufsuchen/Vermeiden von Erfolgs-/Misserfolgssituationen: Erfolgs-
motivierte Personen haben bei mittlerer Erfolgswahrscheinlichkeit
eine hohe Tendenz, Erfolg aufzusuchen, misserfolgsmotivierte Perso-
nen haben bei mittlerer Erfolgswahrscheinlichkeit eine hohe Tendenz,
Misserfolg zu meiden.
55 Aufgabenwahl: Erfolgsmotivierte bevorzugen mittelschwere Aufgaben,
Misserfolgsmotivierte bevorzugen sehr leichte oder sehr schwere Auf-
gaben.
55 Setzung des Anspruchsniveaus: Erfolgsmotivierte setzen sich angemes-
sene Ziele, Misserfolgsmotivierte setzen sich zu hohe oder zu niedrige
Ziele.
55 Ausdauer: Erfolgsmotivierte zeigen bei schwierigen Aufgaben eine
geringere Ausdauer als erfolgsmotivierte Personen a Personen, die
früher aufgeben, entgeht möglicherweise der Erfolg, die Aufgabe doch
noch zu lösen.
55 Attributionsmuster:
–– Erfolgsmotivierte attribuieren bei Erfolg internal und stabil
(Begabung/Anstrengung), bei Misserfolg internal und variabel
(Mangel an Anstrengung).
–– Misserfolgsmotivierte haben bei Erfolg ein unklares Attributions-
muster, bei Misserfolg attribuieren sie internal und stabil (Mangel
an Begabung).
55 Beurteilung der eigenen Leistung:
–– Personen mit hohem Selbstkonzept schätzen ihre eigene Leistung
insgesamt besser ein als Personen mit niedrigem Selbstkonzept.
–– Dabei unterscheiden sich die Personen mit hohem und niedri-
gem Selbstkonzept nur geringfügig hinsichtlich ihrer tatsächli-
chen Leistungsfähigkeit.
55 Handlungsstörende Gedanken: Bei niedrigem Selbstkonzept resultie-
ren in Prüfungs- oder Beobachtungssituationen schlechtere Leistungen
(z. B. einen Vortrag halten vor Publikum), was auf sog. handlungsstö-
renden Gedanken zurückzuführen ist (z. B. »Was denken die anderen
jetzt von mir?« »Jetzt habe ich gerade wieder ‚ähm‘ gesagt, das ist be-
stimmt allen aufgefallen« usw.).
80 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

. Tab. 2.5  Übersicht über die Unterschiede zwischen erfolgszuversichtlichen und misserfolgsmeidenden Personen.
(Aus Rheinberg, 2006)

Erfolgszuversichtlich Misserfolgsmeidend
2 Zielsetzung/ Anspruchsniveau Realistisch, mittelschwere Aufgaben Unrealistisch, zu schwer oder zu leicht

Ursachenzuschreibung:
Glück, leichte Aufgabe
Erfolg Begabung/Anstrengung
Mangelnde Begabung
Misserfolg Mangelnde Anstrengung/Pech

Selbstbewertung Erfolgs-Misserfolgs-Bilanz positiv Erfolgs-Misserfolg-Bilanz negativ

55 Kritik:
55 Atkinson nahm an, dass die Anreize von Erfolg und Misserfolg voll-
ständig von den Erfolgswahrscheinlichkeiten abhängen. Freude über
Erfolg oder Ärger über Misserfolg ist aber auch von anderen Faktoren
abhängig (a Attributionen).
55 Die Theorie kann nicht erklären, welche Faktoren die Ausbildung der
subjektiven Wahrscheinlichkeiten von Erfolg bzw. Misserfolg erklären
können.

Ein dem Risiko-Wahl-Modell nahe stehenden Konzept ist das Selbstkonzept


der Begabung. Dabei handelt es sich um ein Persönlichkeitsmerkmal, das das
Selbstbild über die eigenen Fähigkeiten umfasst (Helmke, 1998):
55 Informationsquellen zur Ausbildung des Selbstkonzepts:
55 Selbstbeobachtung
55 Vergleiche (temporal, sozial, kriterial)
55 Direkte Rückmeldungen aus der Umwelt (z. B. Lob, Tadel)
55 Indirekte Rückmeldungen aus der Umwelt (z. B. nonverbale
­Rückmeldungen)
55 Idealvorstellungen (z. B. was wäre, wenn ich…)
55 Das Selbstkonzept der Begabung ist ein sich selbst stabilisierendes System.
Es wirkt sich auf die Kognitionen (Attributionsstil, Leistungsbeurteilung,
Einfluss handlungsstörender Gedanken) und das Verhalten (Ausdauer,
Aufgabenwahl, Setzung des Anspruchsniveaus, Vermeiden von Informa-
tionen) aus. Diese wirken wiederum auf das Selbstkonzept zurück und
stabilisieren es in seiner bereits vorhandenen Ausprägung (Meyer, 1983).

Ein weiteres und sehr ähnliches Modell zur Leistungsmotivation ist das Selbst-
bewertungsmodell der Leistungsmotivation von Heckhausen (1972, 1975),
das genau den Aspekt des sich selbst stabilisierenden Systems betont. Heck-
hausen unterscheidet drei Komponenten, die aufeinander einwirken und bei
denen sich deutliche Unterschiede zwischen erfolgs- und misserfolgsmotivier-
ten Personen zeigen (. Tab. 2.5).

2.4.8 Affiliationsmotiv

Das Affiliationsmotiv (auch Anschlussmotiv) bezeichnet das Bedürfnis des


Menschen, Sozialbeziehungen zu knüpfen und zu erhalten. Ähnlich wie beim
Risikowahlmodell der Leistungsmotivation können auch beim Affiliationsmo-
tiv zwei Motivtendenzen unterschieden werden:
55 Personen mit hoher Hoffnung auf Anschluss
55 sehen andere in einem besseren Licht,
2.4 • Motivationspsychologie
81 2

. Tab. 2.6  Liebestypen der triangulären Theorie der Liebe, die sich aus den drei Komponenten von Liebe ergeben.
(Nach Sternberg, 1986)

Liebestyp Leidenschaft Intimität Verpflichtung

Nonlove = Nichtliebe – – –

Infatuated love = Verliebtsein + – –

Liking (friendship) = Freundschaft – + –

Empty love = leere Liebe – – +

Romantic love = romantische Liebe + + –

Comanionate love = kameradschaftliche Liebe – + +

Fatuous love = verblendete/törichte Liebe + – +

Consummate love = vollendete Liebe + + +

55 nehmen mehr Ähnlichkeit zu anderen wahr,


55 haben mehr Zuversicht und angenehme Gefühle im Umgang mit an-
deren.
55 Personen mit Furcht vor Zurückweisung
55 fühlen sich in sozialen Situationen eher überfordert,
55 haben wenig soziales Geschick.

Eine Theorie, die sich mit der Anziehung zwischen verschiedenen Menschen
beschäftigt, ist die trianguläre Theorie der Liebe nach Sternberg (Hock, 2007):
55 Liebe besteht aus drei Aspekten:
55 Passion/Leidenschaft a Motivation
55 Intimacy/Intimität a Emotion
55 Commitment/Verbindlichkeit a Kognition
55 Entwicklungsablauf in Partnerschaften: Passion a Intimität a Commit-
ment.
55 Anhand der drei Komponenten lassen sich verschiedene Liebestypen
unterscheiden (. Tab. 2.6):

2.4.9 Machtmotivation

Macht wurde von verschiedenen Autoren auf unterschiedliche Weise definiert:


Maximale Macht von B über A
55 Lewin : Macht =
Maximaler Widerstand von A
55 Winter: Macht ist die Fähigkeit, beabsichtigte Wirkungen im Verhalten
oder in den Gefühlen einer anderen Person zu erzeugen.
55 Luhmann: Das Bewirken von Wirkungen gegen möglichen Widerstand.

Das Machtmotiv kann definiert werden als Bedürfniszustand einer Person A,


der dadurch befriedigt werden kann, dass eine oder mehrere Personen B ein
bestimmtes Verhalten zeigen. French und Raven (1959) unterscheiden ver-
schiedene Machtquellen, die einer bestimmten Person Macht verleihen:
55 Belohnungsmacht: Kontrolle von Belohnungen für die Zielperson
55 Zwangs- oder Bestrafungsmacht: Fähigkeit, Zielpersonen zu bestrafen
82 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Legitimierte Macht: Berechtigung, von Zielpersonen Gehorsam zu ver-


langen
55 Vorbildmacht: Einfluss aufgrund von Anziehung oder Respekt vor Macht-
2 person
55 Expertenmacht: Glaube der Zielperson, dass die Machtperson überlegene
Fähigkeiten hat
55 Informationsmacht: Einfluss aufgrund des Gebrauchs überlegener In-
formationsquellen (z. B. rationales Argument, Überzeugungstechniken,
Faktenwissen)

McClelland unterschied darüber hinaus verschiedene Machtorientierungen:


55 Personalisierte Machtorientierung: Sie zielt ungehemmt und eigennützig
auf die Stärkung der eigenen Position ab (z. B. Diktator).
55 Sozialisierte Machtorientierung: Sie ist eher gehemmt und darüber hinaus
fremddienlich, sie will anderen nutzen (z. B. Polizei).

Die Ausübung von Macht braucht ein Zielobjekt, über das Macht ausgeübt
wird. Diese Zielperson kann jedoch dem Machtausübungsversuch auch Wi-
derstand entgegensetzen. Aber auch andere Faktoren können Macht hemmen
(z. B. Normen, Furcht vor Gegenmacht).

2.5 Emotionspsychologie

2.5.1 Allgemeines zur Emotionspsychologie

Die Emotionspsychologie beschäftigt sich mit der Erforschung von Gefühlen


und Stimmungen und konzentriert sich somit auf zeitlich begrenzte Zustände.
Im Gegensatz zur Motivationspsychologie, die sehr enge Überschneidungen
zur Persönlichkeitspsychologie aufweist, klammert die Emotionspsychologie
ganz bewusst emotionale Dispositionen, wie z.  B. Ängstlichkeit, aus ihrem
Forschungsinteresse aus. Sie widmet sich vielmehr folgenden grundlegenden
Fragen:
55 Was sind Emotionen?
55 Wie entstehen Emotionen?
55 Welchen Einfluss haben Emotionen auf die anderen Bereiche des Erlebens
und Verhaltens (z. B. Lernen)?

Emotionen sind einer der großen Bereiche des menschlichen Erlebens (neben
Kognition und Motivation) und haben einen immensen Einfluss auf unser
Befinden. Angesichts dieser Tatsache mag es überraschen, dass die Emotions-
psychologie – z. B. ganz im Gegensatz zur Lernpsychologie – nur eine kleine
Rolle in der (allgemeinen) Psychologie spielt. Die emotionspsychologischen
Theorien zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich meist nur auf einen klei-
nen Teil dessen konzentrieren, wofür sich die Emotionspsychologie eigentlich
interessiert. Die Theorienlandschaft ist insgesamt wenig umfassend und im
Grunde nicht zufriedenstellend. Dieser Umstand ist auf eine Besonderheit in
der Geschichte der Emotionspsychologie zurückzuführen: In den Anfängen
der Psychologie waren Emotionen durchaus ein interessanter und nicht ge-
scheuter Forschungsgegenstand, der dann jedoch um 1920 vom Behaviorismus
ausgeklammert wurde, da die nicht sichtbaren und somit schwierig erforsch-
baren Gefühle in die Black-Box verbannt und aus dem Forschungsinteresse
ausgeschlossen wurden. Erst mit der kognitiven Wende um 1960 kam auch das
2.5 • Emotionspsychologie
83 2
Interesse an emotionspsychologischen Fragen zurück und erfährt seitdem zu-
nehmend mehr Aufmerksamkeit.
Aus der ersten Zeit der emotionspsychologischen Forschung stammen die
James-Lange-Theorie, die Cannon-Bard-Theorie sowie die behavioristische
Theorie nach Watson, die hier als historische emotionspsychologische Theo-
rien zusammengefasst werden. Obwohl die Theorien alt sind, sind sie nicht
veraltet – vielmehr werden die Grundgedanken dieser klassischen Theorien
auch heute noch in neuen Hypothesen wieder aufgegriffen.
Zu den hier sog. modernen Emotionstheorien werden gezählt: die Theorie
von Schachter und Singer, die Theorie von Weiner sowie die Emotionstheorie
von Lazarus, die v.  a. als Stresstheorie bekannt geworden ist. Diese neueren
Emotionstheorien zeichnen sich gegenüber den älteren v. a. durch ihre kogni-
tive Komponente aus, was angesichts des Entstehungszeitpunktes stimmig ist.

2.5.2 Einführung

Wie in der Beschreibung des Fachbereichs erwähnt, ist die Definition dessen,
was Emotionen sind, eine der grundlegenden Fragen der Emotionspsycho-
logie. Es gibt darauf keine einfache Antwort, und in Folge dessen stellt jede
Emotionstheorie ihre eigenen Überlegungen dazu an. In Ermangelung einer
übergreifenden präzisen Definition von Emotion muss man auf eine Arbeits-
definition, d. h. auf eine ungefähre Charakterisierung, zurückgreifen. Meyer,
Reisenzein und Schützwohl (2001, 2003) fassen dafür folgende Eigenschaften
zusammen:
55 Emotionen sind aktuelle Zustände von Personen, d. h. sie sind zeitlich
begrenzt und nicht so stabil wie Persönlichkeitsmerkmale.
55 Emotionen unterscheiden sich nach Qualität, Intensität und Dauer, d. h.
es gibt verschiedene Arten von Emotionen (z. B. Ärger, Angst), die unter-
schiedlich stark ausgeprägt sein können und die unterschiedlich lange
andauern.
55 Emotionen sind i. d. R. objektgerichtet, d. h. sie entstehen in Reaktion auf
etwas (z. B. man freut sich über eine gute Note).
55 Personen in einem emotionalen Zustand haben normalerweise ein cha-
rakteristisches Erleben (subjektive Komponente). Häufig treten auch be-
stimmte physiologische Veränderungen und Verhaltensweisen auf (sog.
Reaktionstrias).

Emotionen können folgendermaßen von verwandten Begriffen abgegrenzt


werden:
55 Affekt:
55 Im Deutschen: Besonders intensiver emotionaler Zustand
55 Im Englischen (»affect«): Synonym zu Emotion, manchmal auch als
übergeordneter Begriff, der auch Stimmungen mit umfasst
55 Stimmungen: Sie sind sehr ähnlich zu Emotionen, allerdings sind Stim-
mungen nicht objektgerichtet sowie tendenziell weniger intensiv und von
längerer Dauer als Emotionen.

Bei der Erforschung von Emotionen beschrieb Ekman sieben universelle


Grundemotionen, die sich hinsichtlich ihres mimischen Gesichtsausdrucks
unterscheiden lassen und die kulturunabhängig erkannt werden: Freude, Wut,
Ekel, Furcht, Verachtung, Traurigkeit und Überraschung. Auch viele weite-
re Forscher haben versucht, Emotionen zu klassifizieren, im Moment haben
84 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

sich jedoch die empirisch gut nachgewiesenen Grundemotionen von Ekman


durchgesetzt (Ekman & Friesen, 1971).
Emotionen erfüllen vier wichtige Funktionen:
2 55 Emotionen ermöglichen die bedürfnis- und situationsgerechte Auswahl
von Verhaltensweisen, d. h. sie helfen dabei, die Situation zu beurteilen
und sich für eine Handlungsalternative zu entscheiden (z. B. sagt uns
Angst, dass es gerade besser ist, aus der Situation zu fliehen).
55 Emotionen regulieren Intensität und Ausdauer verschiedener Verhaltens-
weisen (z. B. veranlasst uns Freude dazu, ein bestimmtes Verhalten auf-
rechtzuerhalten).
55 Emotionen bewirken das Abspeichern und Lernen solcher Verhaltenswei-
sen, die erfolgreich waren, und markieren solche Verhaltensweisen, die zu
Misserfolg führten.
55 Emotionen signalisieren dem Gegenüber Handlungsabsichten und Hand-
lungsbereitschaften (sozial-kommunikative Funktion).

2.5.3 Historische Emotionstheorien

Eine der ersten wichtigen Emotionstheorien ist die Theorie von James und
Lange, die unabhängig voneinander den gleichen Gedanken zu einer Theo-
rie ausbauten (Meyer, Reisenzein & Schützwohl, 2001; Zimardo, 2004). Die
James-Lange-Theorie geht davon aus, dass physiologische Prozesse den Emo-
tionen vorgelagert sind (»Wir sind traurig, weil wir weinen«), was dem in-
tuitiven Verständnis von Emotionen eigentlich widerspricht. Darüber hinaus
umfasst sie folgende Annahmen:
55 Die Wahrnehmung einer erregenden Tatsache ist eine hinreichende und
notwendige Bedingung für das Auftreten körperlicher Veränderungen.
55 Körperliche Veränderungen sind emotionsspezifisch, d. h. unterschied-
liche Gefühle (z. B. Trauer und Wut) fühlen sich deshalb unterschiedlich
an, weil ihnen andere physiologische Erregungsmuster zugrunde liegen.
55 Bewusstes Erleben körperlicher Veränderungen ist die Emotion.

Die Theorie wurde heftig kritisiert und rückte in Folge dessen mehr und mehr
in den Hintergrund. Heute lebt sie jedoch in neo-jamesianischen Emotions-
theorien (z.  B. in der Gesichtsrückmeldungshypothese) wieder auf. Diese
Hypothese gründet sich auf der Beobachtung, wie sie z. B. Strack, Martin und
Stepper (1988) in ihrem Experiment gemacht haben:
55 Aufbau: Versuchspersonen sollen einen Stift entweder mit den Lippen,
mit den Zähnen oder mit der Hand halten und beurteilen, wie lustig sie
Comics finden (diese Aufgabe ist eingebettet in andere Aufgaben, da den
Versuchspersonen die wahre Intention des Experiments verschwiegen
werden soll).
55 Ergebnis: Die Personen, deren Gesichtsausdruck einem Lächeln am ähn-
lichsten war (den Stift mit den Zähnen halten), fanden die Comics am
lustigsten.
55 Erklärung: Man schlussfolgerte aus diesem Experiment, dass experimen-
telle Veränderungen der Mimik das emotionale Erleben beeinflussen,
d. h. dass physiologische Veränderungen bei der Emotionsentstehung
eine Rolle spielen müssen.

Besonders Cannon – ein Schüler von James – kritisierte die James-Lange-


Theorie, und zwar aus folgenden Gründen:
2.5 • Emotionspsychologie
85 2
55 Tierexperimente, in denen man eine vollständige Empfindungslosigkeit
hinsichtlich viszeraler und anderer körperlicher Empfindungen herbei-
führte (z. B. durch Durchtrennung des Rückenmarks und der Vagusner-
ven bei Hunden), zeigten keine verminderten emotionalen Reaktionen
bei diesen Tieren a die Emotionen entstanden, obwohl es keine physio-
logische Wahrnehmung mehr gab.
55 Dieselben physiologischen Veränderungen treten bei verschiedenartigen
emotionalen und auch nicht-emotionalen Zuständen auf a z. B. die Be-
schleunigung des Herzschlags und die Erhöhung des Blutzuckers kann
man sowohl bei Furcht als auch bei Wut beobachten.
55 Viszerale Veränderungen sind zu langsam, um als Ursache des Gefühls-
erlebens infrage zu kommen a physiologische Veränderungen können
keine notwendige Bedingung für das Auftreten der Emotion sein.
55 Die künstliche Herbeiführung viszeraler Veränderungen führt nicht zum
Auftreten der Emotion a injiziert man Personen z. B. Adrenalin, berich-
ten diese mitnichten vom Erleben intensiver Emotionen.
55 Cannon beschrieb die Eingeweide als »relativ unempfindliche« Organe
(d. h. nur wenige Rezeptoren und Nervenfasern), weshalb sie nicht für
das reichhaltige Gefühlsspektrum verantwortlich sein könnten. Heute
weiß man, dass es mehr Rezeptoren gibt als Cannon angenommen hatte,
und dass diese durchaus für bestimmte emotionale Eindrücke (z. B. Kloß
im Hals) verantwortlich sein könnten.

Als Gegenpol zur James-Lange-Theorie ist die Cannon-Bard-Theorie anzuse-


hen, die folgende Grundannahmen umfasst:
55 Das Gehirn vermittelt zwischen dem emotionsauslösenden Reiz und der
(psychischen und körperlichen) Reaktion.
55 Physiologische Veränderungen und emotionales Erleben entstehen
gleichzeitig.
55 Somit sind die körperliche und die psychische Reaktion auf Emotionen
unabhängig voneinander.

Die behavioristische Emotionstheorie von Watson beschreibt den Prozess,


wie Emotionen gelernt werden, sie gibt aber keine Antwort auf die Frage, was
Emotionen sind. Watson beobachtete viele Säuglinge und leitete daraus die
These ab, dass es drei angeborene emotionale Reaktionsmuster gebe: Furcht,
Wut, Liebe. Warum trotz nur dreier elementarer Emotionen eine solche
Vielfalt an Emotionen entstehen kann, erklärte Watson mit Lernprozessen
(konditionierte emotionale Reaktion). Durch wiederholte Darbietung eines
unkonditionierten Stimulus mit einem neutralen Reiz kommt es zur Reiz-
substitution, so dass nun der eigentlich neutrale Reiz die emotionale Reak-
tion auslöst. Aufgrund dieser Reizersetzung reagiert man mit zunehmendem
Alter nicht mehr nur auf die unkonditionierten Stimuli, sondern auch auf
die konditionierten.
Besonders bekannt sind die Experimente zu Little Albert (Erwerb von
Furchtreaktionen) und Little Peter (systematische Desensibilisierung):
55 Little Albert (Watson):
55 Paarung einer weißen Ratte (CS) mit einem lauten Geräusch (UCS),
das eine Schreckreaktion auslöste (UCR)
55 Nach nur sieben Durchgängen entwickelte das Kind Albert eine
Furchtreaktion nicht nur vor der Ratte, sondern auch vor anderen
pelzigen, weißen Gegenständen (z. B. Nikolausmaske).
86 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Little Peter (Jones):


55 Watson konnte nicht mehr versuchen, mittels Gegenkonditionierung
die Furchtreaktion bei Albert zu löschen, da Alberts Mutter den Jun-
2 gen vor Abschluss des Experiments weggebracht hat.
55 Am Kind Peter sollte deshalb gezeigt werden, dass die Gegenkonditio-
nierung in solchen Fällen erfolgreich sein kann.
55 Peter hatte Angst vor weißen Hasen und wurde im Laufe des Experi-
ments schrittweise an das angstauslösende Objekt herangeführt, bis er
schließlich keine Angstreaktion mehr zeigte.

Der behavioristische Ansatz wurde aus folgenden Gründen kritisiert:


55 Watsons Definition von Emotionen als beobachtbare chaotische Re-
aktionsmuster (gelernte oder ungelernte), die verlässlich durch einen
bestimmten Reiz ausgelöst werden können, ist aus folgenden Gründen
problematisch:
55 Die Beschränkung auf beobachtbare Reaktionsmuster schließt natür-
lich alle Emotionen aus, die nicht beobachtbare Auswirkungen haben.
55 Wenn eine Emotion einfach ein verlässlich ausgelöstes Reaktionsmus-
ter ist, weshalb sind dann die chaotischen Reaktionsmuster, die durch
die Einnahme von Drogen oder durch einen Schlag auf den Kopf aus-
gelöst werden, keine Emotionen?
55 In anderen Experimenten hat man versucht, die Konditionierung einer
Furchtreaktion wie im Experiment mit Little Albert nachzubilden, was
nicht gelang a die unkonditionierten furchtauslösenden Reize (z. B. ein
lautes Geräusch) scheinen nicht in der Form zu bestehen oder von der
psychischen Verfassung des Kindes abzuhängen.
55 Die Beschreibung, wie aus den drei Grundemotionen die Vielfalt der als
Erwachsener erlebbarer Gefühle entstehen kann, erklärt Watson nur un-
zureichend.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die behavioristische Perspektive


einen möglichen Weg von Emotionsentstehung erklärt – sie kann jedoch nicht
für sich beanspruchen eine umfassende Emotionstheorie zu sein.
Die historischen Emotionstheorien werden . Abb. 2.13 schematisch einan-
der gegenüber gestellt.

2.5.4 Moderne (kognitive) Emotionstheorien

Die Zwei-Faktoren-Theorie nach Schachter und Singer (1962) umfasst sowohl


physiologische als auch kognitive Elemente und wird deshalb auch als kogni-
tiv-physiologischen Emotionstheorie bezeichnet (Meyer, Reisenzein & Schütz-
wohl, 2001).
55 Es sollten die folgenden zwei Faktoren gegeben sein, damit eine Emotion
auftritt:
55 Physiologische Erregung
55 Kognition (Bewertung des Ereignisses und Kausalattribution)
55 Dabei ist die physiologische Reaktion (aber nicht hinreichend) für Emo-
tionen.
55 Emotionen treten dann auf, wenn man eine physiologische Erregung
spürt, ein Ereignis als emotionsrelevant einschätzt und die erlebte Erre-
gung kausal auf das Ereignis zurückführt.
55 Es gibt zwei Arten der Emotionsentstehung:
2.5 • Emotionspsychologie
87 2

Physiol. Emotionale
James-Lange Reiz
Reaktion Erfahrung

Physiol.
Reaktion
Cannon-Bard Reiz Gehirn
Emotionale
Erfahrung

Physiol. Reaktion
Watson Reiz
(= Emotion)

. Abb. 2.13  Schematische Übersicht über die historischen Emotionstheorien

55 Der alltägliche Fall: Die Emotionsentstehung läuft (aufgrund von vor-


handenem Wissen über die Situation) so automatisiert ab, dass beide
Faktoren vollständig miteinander verwoben sind (z. B. Angst von
einem Hund).
55 Der nicht-alltägliche Fall: Die Emotionsentstehung läuft nicht automa-
tisiert ab, d. h. es erfolgt zuerst die Wahrnehmung der physiologischen
Erregung und danach erst die Ursachensuche und emotionale Ein-
schätzung (z. B. vor einer Prüfung merkt man, dass man schwitzt, und
erklärt sich das mit Nervosität/Angst vor der Situation).

Von der Emotionstheorie von Schachter und Singer angeregt beschäftigte sich
auch eine Forschergruppe um Valins mit emotionalen Reaktionen. Valins ging
davon aus, dass nicht die tatsächliche wahrgenommene physiologische Erre-
gung für die Emotionsentstehung entscheidend sei, sondern nur die Über-
zeugung, erregt zu sein, d. h. dass nach Valins Gefühle auch dann ausgelöst
werden, wenn man glaubt erregt, zu sein.
Valins (1966) führte dazu folgendes Experiment durch:
55 Versuchsaufbau:
55 Männliche Versuchspersonen sehen Playboy-Fotos an und hören dabei
einen Herzschlag.
55 Experimentalgruppe: Man teilt den Probanden mit, sie würden ihren
eigenen Herzschlag hören. Tatsächlich aber ist der Herzschlag mani-
puliert.
55 Kontrollgruppe: Man teilt den Probanden mit, der gehörte Herzschlag
habe nichts mit ihnen zu tun.
55 Bei einigen Bildern schlägt der gehörte Herzschlag schneller.
55 Anschließend sollen die Probanden die Attraktivität der Bilder ein-
schätzen.
55 Ergebnis: Die Probanden der Experimentalgruppe schätzen die Bilder als
attraktiver ein, bei denen ihr Herz (vermeintlich) schneller schlägt. In der
Kontrollgruppe bleibt der Effekt aus.

Der in diesem Experiment beobachtete Valins-Effekt führte zu einer Modifika-


tion der Zwei-Faktoren-Theorie:
55 Die reale Erregung trägt nicht unmittelbar, sondern über seine Wahrneh-
mung zum Erleben einer Emotion bei.
55 Zur Wahrnehmung einer Veränderung im Erregungszustand bedarf es
nicht tatsächlicher Veränderungen im autonomen Erregungsniveau.
88 Kapitel 2 • Allgemeine Psychologie

55 Es ist gleich, ob die Informationen über den eigenen Erregungszustand


von innen oder von außen kommen, und ob sie der Realität entsprechen
oder nicht, solange sie der Wahrnehmende mit seinem inneren Zustand
2 verknüpft.

Die Emotionstheorie von Weiner (1995) ist eine rein kognitive Emotionstheo-
rie, die im Rahmen der Attributionsforschung entstand. Nach Weiner entste-
hen Emotionen aufgrund der kognitiven Verarbeitung einer Situation. Dabei
steht die Emotion nicht zwangsläufig am Ende dieses Prozesses. Emotionen
können auch schon auftreten, bevor die kognitive Bewertung vollständig ab-
geschlossen ist. Je mehr an kognitiver Verarbeitung stattfindet, umso diffe-
renzierter sind allerdings die Emotionen. Weiner beschrieb den Prozess der
Emotionsentstehung wie folgt:
55 Wahrnehmung eines Ereignisses bzw. Bildung des Glaubens dass ein be-
stimmter Sachverhalt vorliegt
55 Bewertung der Situation als positiv oder negativ:
55 Entstehung ereignisabhängiger Emotionen möglich
55 Beispiel: Wird ein Ereignis als positiv bewertet, entsteht Freude.
55 Ursachenanalyse und Kausalattribution (in Bezug auf Lokation, Stabilität,
Kontrollierbarkeit):
55 Entstehung dimensionsabhängiger Emotionen möglich
55 Beispiel: Wird ein positives Ereignis auf eigene Leistungsfähigkeit attri-
buiert, entsteht Stolz.
55 Zuschreibung von Verantwortung (beinhaltet eine normative Bewertung):
55 Entstehung normabhängiger Emotionen möglich
55 Beispiel: Wird Verantwortung empfunden für ein Ereignis, das von der
Gesellschaft als negativ bewertet wird, entsteht Schuld.

Als letzte Theorie soll nun die kognitiv-relationale Theorie von Lazarus (1968)
erläutert werden, die v. a. als Stresstheorie bekannt geworden ist (. Abb. 2.14).
Auch Lazarus ging davon aus, dass Emotionen als Ergebnis eines kognitiven
Bewertungsprozesses entstehen (Reisenzein, Meyer & Schützwohl, 2003).
55 Wird man mit einer bestimmten Situation konfrontiert, findet zunächst
eine Einschätzung der Situation statt:
55 Primäre Einschätzung der Situation als günstig, bedrohlich, Schaden,
Herausforderung
55 Sekundäre Einschätzung: Beurteilung der zur Verfügung stehenden
Bewältigungsstrategien
55 Je nachdem, wie die Situation eingeschätzt wurde, mündet sie in einer
bestimmten Handlungstendenz.
55 Diese Handlungstendenz löst dann sowohl eine physiologische Reaktion
als auch (problem- vs. emotionsorientierte) Bewältigungshandlungen aus.
55 Im Gehirn verbinden sich die Situationseinschätzung, die Handlungsten-
denz und die physiologische Reaktion zu einer Emotion.

Zum Abschluss lässt sich festhalten, dass die Erforschung von Emotionen im-
mer mehr in den Fokus rückt und man hoffen darf, dass in den nächsten Jahren
unser Verständnis von Gefühlen immer besser werden wird.
Literatur
89 2

Personfaktoren:
– Wissen
– Wünsche (Motive)

Bewältigungs-
handlungen
Primäre Einschätzung
der Situation als:
– problemorientiert
– Günstig-positiv
– Bedrohlich
– Schaden-Verlust – emotionsorientiert
Situation – Herausforderung Handlungstendenz

Sekundäre Einschätzung Physiologische


Reaktionen
(Beurteilung der
Bewältigungsmöglichkeiten)

. Abb. 2.14  Stressmodell nach Lazarus. (Aus Reisenzein, Meyer & Schützwohl, 2003, mit freundlicher Genehmigung des Verlags Hans
Huber, Göttingen)

2.6 Konklusion

Die allgemeine Psychologie tritt mit dem Anspruch an, universelle Gesetze
unseres kognitiven und affektiv-motivationalen Funktionierens abzuleiten.
Forschungsmethode der Wahl ist dabei das Experiment, das es erlaubt, Vorher-
sagen auf der Grundlage von Gesetzesaussagen zu formulieren und zu testen.
Damit ist die allgemeine Psychologie in vielen Bereichen naturwissenschaftlich
ausgerichtet, auch wenn ihr Erbe in den Geisteswissenschaften liegt. Theorien
der allgemeinen Psychologie haben zudem einen weiten Wirkungskreis, und
ihre explizite und implizite Anwendung findet sich in vielen Bereichen der
menschlichen Gesellschaft (z. B. Schulcurricula, Werbung Arbeitsplatzgestal-
tung). Allgemeine Psychologie stellt nicht zuletzt auch die Grundlage für alle
weiteren Subdisziplinen der Psychologie dar, die in den folgenden Kapiteln
beschrieben werden.

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Zuckerman, M. (1979). Sensation seeking: Beyond the optimal level of arousal. Hillsdale, NJ:
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95 3

Sozialpsychologie
Franziska Schmithüsen und Georges Steffgen

3.1 Einführung – 96
3.1.1 Der Fachbereich und seine Geschichte – 96
3.1.2 Methoden in der Sozialpsychologie – 98

3.2 Das Individuum als soziales Wesen – 100


3.2.1 Identität und Selbst – 101
3.2.2 Einstellungen – 104
3.2.3 Soziale Kognition – 109

3.3 Das Individuum in Interaktion mit anderen – 112


3.3.1 Enge Beziehungen – 112
3.3.2 Prosoziales Verhalten – 115
3.3.3 Aggression – 120
3.3.4 Sozialer Einfluss – 125

3.4 Das Individuum als Teil einer Gruppe – 131


3.4.1 Gruppenentwicklung und Gruppensozialisation – 132
3.4.2 Strukturen innerhalb einer Gruppe – 134
3.4.3 Auswirkungen der Gruppensituation – 136
3.4.4 Intergruppenbeziehung – 142

3.5 Das Individuum in der Gesellschaft – 145


3.5.1 Rollen als internalisierte Erwartungen der Gesellschaft – 145
3.5.2 Gerechtigkeit als soziale Norm – 147
3.5.3 Vorurteile und Diskriminierung – 149
3.5.4 Kollektive Gewalt – 151
3.5.5 Sozialer Wandel – 152

Literatur – 152

F. Schmithüsen (Hrsg.), Lernskript Psychologie, Springer-Lehrbuch,


DOI 10.1007/978-3-662-44941-7_3, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
96 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

3.1 Einführung

Kurt Lewin, einer der Begründer der modernen Sozialpsychologie,


sah menschliches Verhalten als Funktion von Person und Umwelt an.
Das bedeutet, dass menschliches Verhalten erstens durch Faktoren
beeinflusst wird, die an das agierende Individuum gebunden sind,
zweitens durch Faktoren, die die Umwelt mit sich bringt, und drittens
3 durch Faktoren, die durch die Interaktion der Person mit der Umwelt
entstehen. Aus dieser allgemeinen Sichtweise leitet sich die Struktur
dieses Kapitels ab (. Abb. 3.1): Nach dieser Einführung (7 Abschn. 3.1)
geht es zunächst um Aspekte des Individuums, die es zu einem sozia-
len Wesen machen oder die bei der Interaktion mit anderen eine Rolle
spielen (7  Abschn.  3.2). Anschließend werden Interaktionsprozesse
mit anderen Individuen (7  Abschn.  3.3) sowie die Prozesse in einer
Gruppe untersucht (7 Abschn. 3.4). Und schließlich wird die Umwelt,
d. h. die Gesellschaft genauer betrachtet (7 Abschn. 3.5).

3.1.1 Der Fachbereich und seine Geschichte

Der Fachbereich der Sozialpsychologie erforscht die Funktionsbe-


reiche menschlichen Erlebens und Verhaltens im sozialen Kontext.
Dieser Kontext wird durch verschiedene menschliche Sozialformen
gebildet, in denen Interaktion stattfindet (Schneider, 1985):
55 Kategorie, Klasse: Sie umfasst Träger einer bestimmten Eigen-
schaft, wobei die Mitglieder untereinander unbekannt sind (z. B.
Arbeiter, Raucher, Studenten).
55 Menge/Ansammlung: Sie umfasst Individuen in räumlicher
Nähe, jedoch ohne Beziehung untereinander (z. B. Leute in der
Fußgängerzone).
55 Masse: Sie umfasst eine Ansammlung von Menschen, die ein ge-
meinsames Ziel verfolgen (z. B. Teilnehmer einer Demonstration,
Fußballfans).
55 Gruppe: Sie umfasst Menschen, die über eine gewisse Dauer in
Beziehung und Interaktion miteinander stehen (z. B. Freundes-
kreis, Arbeitsteam).
55 Gesellschaft: Sie umfasst die Gesamtheit des Sozialen.

Etwas genauer formuliert beschäftigt sich die Sozialpsychologie mit


zwei verschiedenen Aspekten, nämlich
55 wie das Individuum auf andere einwirkt bzw.
55 wie der Einzelne in seinem Erleben (Denken, Fühlen, Handeln)
und Verhalten von anderen beeinflusst wird.

Gemäß diesem Zwiespalt existieren in der Sozialpsychologie zwei


Strömungen (Graumann, 2002):
55 Psychologische Sozialpsychologie (= individuumszentriert):
55 Sie sieht das soziale System als eine Funktion der individuel-
len, kognitiven Prozesse.
55 Sie geht davon aus, dass es keine Gruppe gibt ohne Individuen;
daher kann man die Gruppe besser verstehen, indem man den
Einzelnen betrachtet.
3.1 • Einführung
97 3

V = f (P x U) 3.5

3.4
3.3
3.2

. Abb. 3.1  Das Individuum in seinem sozialen Umfeld: Übersicht über das Kapitel 

55 Soziologische Sozialpsychologie (= gesellschaftszentriert):


55 Sie sieht das Individuum als Funktion sozialer Strukturen.
55 Sie geht davon aus, dass soziale Gruppen mehr sind als die Summe der
Teile (Individuen).

Diese Zweigleisigkeit der Sozialpsychologie findet sich bereits in den Anfängen


ihrer Geschichte. Sie beginnt mit den antiken Philosophen, die sich u. a. mit
der Frage beschäftigten, woher das Soziale des Menschen eigentlich kommt.
Beispielsweise vertrat Aristoteles einen individuumszentrierten Ansatz, d. h.
dass das Individuum von Natur aus sozial ist, während Platon einen gesell-
schaftszentrierten Ansatz verfolgte, d. h. dass das Individuum erst durch die
Erziehung der Gesellschaft zu einem sozialen Wesen wird.
Auch als sich die Sozialpsychologie als eigenständiger Fachbereich zu
entwickeln begann, bestand diese Trennung fort. Psychologen und Sozio-
logen konnten nicht darüber einig werden, zu wem der Bereich nun gehö-
ren sollte: Paradoxerweise hielt der Psychologe Wundt die Sozialpsychologie
eher für ein Teilgebiet der Soziologie und der Soziologe Simmel eher für
eines der Psychologie (Eckhardt, 2010). Zunächst schien es so, als würde der
soziologische Ansatz bei den ersten Vorläufern der Psychologie mehr Be-
deutung gewinnen:
55 Die Völkerpsychologie von Wundt (1900) beschäftigte sich nicht mit
sozialer Interaktion an sich, sondern mit der aus sozialer Interaktion ent-
stehenden Kultur (z. B. Rituale).
55 Die Massenpsychologie (z. B. Le Bon, 1895/1964) beschäftigte sich mit
dem (negativen) Einfluss von Massen auf Einzelpersonen und dem sog.
»Gruppengeist«.

Unter dem Einfluss des Behaviorismus (z. B. Allport, 1924) und des Gestalt-
psychologen Lewin (1963) gewann die psychologische Sozialpsychologie an
Bedeutung. Man konzentrierte sich in der Forschung vorwiegend auf den so-
zialen Einfluss, den andere Menschen auf das Individuum haben. Mögliche
Gründe für diese Verengung sind (Scholl, 2007):
98 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 Die Sozialpsychologie ist ein Teilgebiet der Psychologie, diese wiederum


ist die Lehre vom Erleben und Verhalten des Einzelnen.
55 In der Geschichte der Sozialpsychologie haben die Vertreter der psycholo-
gischen Sozialpsychologie (z. B. Lewin, Festinger) derzeit einen größeren
Einfluss als Vertreter der soziologischen Sozialpsychologie (z. B. Herbart,
Mead).
55 Gruppenexperimente sind aufwändiger als Forschung an Individuen:
3 55 Die Tatsache, dass die experimentelle Methode lange als Via regia an-
gesehen wurde, führte dazu, dass man sich auf die Erforschung von
Einzelpersonen beschränkte, da hier u. a. die Kontrolle von Störvariab-
len weitaus einfacher zu realisieren ist.
55 Das Bestreben des noch jungen Fachbereichs Psychologie,
seine Daseinsberechtigung zu untermauern und brauchbare
Ergebnisse zu liefern, führte ebenfalls dazu, Einzelpersonen zum
Untersuchungsgegenstand zu machen, da Gruppenexperimente weit-
aus aufwändiger und komplexer zu realisieren sind.

Es werden jedoch auch zunehmend Stimmen laut (z. B. Scholl, 2007), die das
Soziale an der Sozialpsychologie mehr in den Vordergrund rücken wollen,
also Themen wie Kommunikation und die Wechselwirkung sozialen Ein-
flusses.
Nicht zuletzt aufgrund dieser inneren Diskussion um den Gegen-
standsbereich der Sozialpsychologie ist die Abgrenzung nach außen wichtig
(s. auch 7 Abschn. 2.1.1). In . Tab. 3.1 sind die Ähnlichkeiten und Unterschiede
überschneidender Fachbereiche dargestellt.
In der neueren Entwicklung des Fachbereichs entwickelten sich zudem
zwei Forschungstendenzen, die sich mit wieder anderen Fachbereichen über-
schneiden:
55 Neurowissenschaftliche Sozialpsychologie: Sie versucht, verstärkt neuro-
nale Grundlagen sozialer Informationsverarbeitung zu prüfen.
55 Evolutionäre Sozialpsychologie: Sie versucht, soziales Verhalten mit
evolutionsbiologischen Überlegungen zu erklären. a Heute beobachtetes
Verhalten existiert, weil es in der Entwicklung des Menschen einen wich-
tigen Beitrag zum Überleben und Fortpflanzen geleistet hat.

3.1.2 Methoden in der Sozialpsychologie

Der sozialpsychologische Forscher greift auf die typischen psychologischen


Forschungsmethoden zurück: Beobachtung, Befragung, Experiment. In der
Geschichte der Sozialpsychologie galt lange das Experiment als Via regia der
Erkenntnis, da nur dieses Kausalschlüsse ermöglicht. Diese »Monokultur des
Experiments« (Gudehus, Keller & Welzer, 2010, S. 762) geriet jedoch aus fol-
genden Gründen ins Wanken (Eckardt, 2010):
55 Debatte über ethische Grenzen im Experiment: In den 60er Jahren lösten
die Milgram-Experimente zum Gehorsamkeitsverhalten eine Debatte
über ethische Grenzen im experimentellen Design aus.
55 Diskussion über Versuchsleitereffekte: Der Einfluss des Versuchsleiters auf
die Untersuchungssituation wurde mehr und mehr erforscht, und auch
hier entstand eine Diskussion darüber, wie valide die Erkenntnisse aus
Experimenten tatsächlich sind.
55 Kritik der Vernachlässigung kultureller Einflüsse im Experiment: Tajfel
(1981) und Moscovici (1972) warfen ihren Forschungskollegen vor, bei der
3.1 • Einführung
99 3

. Tab. 3.1  Übersicht über Überschneidungen und Unterschiede der Sozialpsychologie zu anderen Fachbereichen

Kurzdefinition des Überschneidungen mit der Unterschied zur Sozialpsycho-


Fachbereichs Sozialpsychologie logie

Soziologie Sie erforscht allgemeingül- Beide konzentrieren sich auf Während die Soziologie bei
tige Gesetzmäßigkeiten von den gleichen Untersuchungs- Strukturen und Systemen von
Gesellschaften. aspekt (das Soziale). Gesellschaften ansetzt, beschäf-
tigt sich die Sozialpsychologie
eher mit dem Individuum in
sozialer Interaktion.

Allgemeine Psychologie Sie beschäftigt sich mit dem Beide beschäftigen sich mit Die allgemeine Psychologie
Erleben und Verhalten im dem Erleben und Verhalten. betrachtet alle Situationen. Die
Allgemeinen und in allen Sozialpsychologie konzentriert
möglichen Situationen. sich auf soziale Situationen.
Anders formuliert betrachtet die
Sozialpsychologie die Themen
der Allgemeinen Psychologie
unter einem sozialen Gesichts-
punkt: Inwiefern verändern sich
die allgemeinen und grundle-
genden Verhaltensmuster unter
sozialem Einfluss?

Persönlichkeitspychologie Sie erforscht individuelle Überschneidungen gibt es bei Die Persönlichkeitspsychologie


Unterschiede zwischen »sozialen Persönlichkeitsmerk- konzentriert sich auf verschiede-
Personen (Persönlichkeits- malen«, z. B. Aggressivität, ne stabile Merkmale.
merkmale). prosoziales Verhalten/Verträg- Die Sozialpsychologie ist primär
lichkeit, Einstellungen. an für den sozialen Kontext re-
levanten Persönlichkeitseigen-
schaften interessiert.

Entwicklungspsychologie Sie erforscht Veränderungen Überschneidungen gibt es bei Während sich die Entwicklungs-
psychischer Merkmale im der Entwicklung von sozialer psychologie mit allen Ent-
Verlauf des Lebens. Kompetenz und der Frage: wicklungsaspekten beschäftigt,
Wie wird der Mensch zu einem konzentriert sich die Sozialpsy-
sozialen Wesen? chologie hauptsächlich auf die
sozial relevanten.

Biopsychologie Sie erforscht die Zusammen- Überschneidungen gibt es Während sich die Biopsycho-
hänge zwischen biologi- bei biologischen Grundlagen logie mit allen biologischen
schen und psychologischen für soziales Verhalten (z. B. Grundlagen beschäftigt,
Prozessen. Einfluss von Testosteron auf konzentriert sich die Sozialpsy-
Aggressivität). chologie hauptsächlich auf die
sozial relevanten.

Interpretation von Forschungsbefunden den kulturellen Hinter-


grund der Versuchspersonen außer Acht zu lassen und damit
»soziales Verhalten in einem ‚sozialen Vakuum‘ untersuchen zu
wollen« (Eckardt, 2010, S. 303).

Darüber hinaus ist das Experiment in der Sozialpsychologie dem Kon-


flikt zwischen interner (Veränderung der abhängigen Variable ist auf
die Modifikation der unabhängigen zurückzuführen) und externer
Validität (die Ergebnisse des Experiments sind auch auf Situationen
außerhalb des Labors generalisierbar) unterworfen: Man kann entwe-
der eine möglichst hohe Kontrolle über die Situation realisieren und
damit eine hohe interne Validität erzeugen (Laborexperiment), oder
man schafft eine möglichst lebensnahe Erhebungssituation und damit
eine hohe externe Validität (Feldexperiment). Dieses Problem trifft
100 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

Abgelehnter
Isolierter
+

3 –

Star
+ –
+

Umstrittener

. Abb. 3.2  Beispiel einer graphischen Auswertung einer Soziometrie

Sozialpsychologen im Besonderen, da soziale Interaktionen nur äußerst schwie-


rig authentisch in einem Experiment nachgestellt werden können, lebensnahe
Feldexperimente jedoch nur eingeschränkt Kausalschlüsse zulassen. Aus die-
sen verschiedenen Gründen gewinnen in der heutigen Sozialpsychologie auch
zunehmend nicht-experimentelle Untersuchungsdesigns an Bedeutung.
Eine spezifisch sozialpsychologische Befragungsmethode ist die Soziomet-
rie, die v. a. in der Gruppenpsychologie eingesetzt wird und nun etwas genauer
betrachtet wird. Mithilfe der Soziometrie werden subjektive Gruppenstruktu-
ren deutlich gemacht (z. B. Beliebtheit, Macht, etc.), i. d. R. mit dem Ziel, die
Gruppenbeziehung zu verbessern, d. h. man fragt jeden in der Gruppe, wen
er am meisten mag. Mithilfe der graphischen Auswertung kann verbildlicht
werden, wer welche soziale Position einnimmt (. Abb. 3.2):
55 Stars: Sie sind fast allen sympathisch.
55 Abgelehnte: Sie erhalten mehr negative als positive Wahlen.
55 Umstrittene: Positive und negative Wahlen sind etwa gleich viel vorhan-
den.
55 Isolierte: Sie werden nicht gewählt.

Dadurch kann die Gruppe charakterisiert werden hinsichtlich (Gollwitzer &


Schmitt, 2006):
55 Gruppenkohäsion: Mag jeder jeden?
55 Integriertheit: Wie hoch ist der Anteil von Isolierten?
55 Balanciertheit: Sind die Sympathien/Antipathien wechselseitig?
55 Zentralisation: Gibt es einen Star?

3.2 Das Individuum als soziales Wesen

In den folgenden Abschnitten geht es um verschiedene Funktionsbereiche des


Individuums, und zwar um Identität und Selbst, Einstellungen und soziale
Kognition. Sie sind sozialpsychologisch deshalb relevant, weil zum einen das
Individuum durch die Umwelt beeinflusst wird (z. B. indem es aus der Um-
welt Selbst-relevante Informationen sammelt), und zum anderen, weil das
3.2 • Das Individuum als soziales Wesen
101 3
Individuum durch seine Eigenschaften auf die Umwelt einwirkt (z. B. indem es
gemäß einer inneren Einstellung handelt).

3.2.1 Identität und Selbst

Das Selbstkonzept ist die subjektive Beschreibung einer Person von sich selbst:
Es ist das, was wir auf die Frage »Wer bin ich?« antworten würden. Dabei haben
wir stets die Tendenz, uns einerseits von bestimmten Gruppen abzugrenzen
(Ich bin anders als andere) und andererseits Zugehörigkeiten zu schaffen (Ich
bin genauso wie…). Das Selbst erfüllt drei Funktionen (Aronson, Wilson &
Akert, 2004):
55 Strukturierende Funktion: Das Selbstkonzept ist ein Schema, das uns
hilft, Informationen aus der Umwelt zu kategorisieren in Informationen,
die das Selbst betreffen, und solche, die die Umwelt betreffen. Diese
Strukturierungsfunktion zeigt sich z. B. am »self relevance effect«:
Selbst-relevanter Input wird bevorzugt wahrgenommen und verarbeitet.
55 Emotionale Funktion: Mit dem Selbstkonzept eng verbunden ist das
Bedürfnis nach einem positiven und stabilen Selbstwertgefühl, d. h. nach
einer positiven Bewertung von uns selbst.
55 Ausführende Funktion: Das eigene Selbstkonzept hat Auswirkungen auf
unser Handeln: Es vermittelt zwischen den verschiedenen Zielen und Plä-
nen, die wir uns selbst gesteckt haben. Die Fähigkeit zur Selbstregulation
ist notwendig, damit diese Ziele erreicht werden können.

Das Ausmaß von Selbstaufmerksamkeit (d. h. inwieweit denke ich über mich
selber nach) unterscheidet sich von Person zu Person. Eine hohe Selbstauf-
merksamkeit führt dazu, dass wir das eigene Verhalten an unseren inneren
Maßstäben und Werten ausrichten. Zusammen mit diesen Werten werden da-
durch auch soziale Normen aktiviert. Personen mit einem hohen Ausmaß an
Selbstüberwachung richten ihr Verhalten eher an den Erfordernissen einer
sozialen Situation aus. Sie vergleichen das eigene Verhalten permanent mit
dem anderer, wohingegen Personen mit einer geringen Selbstüberwachung
sich eher nach eigenen Befindlichkeiten und Wertvorstellungen ausrichten.
Sozialpsychologisch relevant ist das Selbst v. a. aus folgenden Gründen:
55 Die Beschreibung des Selbst besteht häufig zu einem gewissen Teil
auf sozialen Kategorisierungen, d. h. der Zuordnung einer Person als
Mitglied einer sozialen Gruppe (z. B. »Ich bin eine Frau«, »Ich bin ein
Student«).
55 Das Selbstkonzept bringt gewisse Motivationen (Erhaltung und Erhöhung
eines positiven Selbstwertgefühls) und Wahrnehmungspräferenzen (z. B.
»self relevance effect«) mit sich, die sich auf soziale Situationen auswirken.
55 Das Selbstkonzept speist sich neben der Introspektion (Nachdenken über
sich selbst) und Selbstwahrnehmung (Beobachtung des eigenen Verhal-
tens) auch aus sozialen Vergleichen.

Wesentliche sozialpsychologische Theorien, die sich mit dem Selbst beschäf-


tigen sind:
55 Selbstwahrnehmungstheorie von Bem (Reinhard, Stahlberg & Petersen,
2006): Sie geht von folgenden Annahmen aus:
55 Sind wir uns über unsere Einstellung oder Gefühle einer bestimmten
Sache gegenüber im Unklaren, so beobachten wir das eigene Verhalten
und schlussfolgern daraus, wie wir über etwas denken oder fühlen.
102 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 Diese Schlussfolgerungen von äußeren auf innere Umstände finden


nur dann statt, wenn die Einstellungen oder Gefühle mehrdeutig sind.
55 Zieht man das eigene Verhalten als Informationsquelle heran, so wägt
man ab, ob das Verhalten (z. B. Lesen) freiwillig gezeigt wurde (dann
schlussfolgert man, dass man wohl gerne liest) oder ob es durch äuße-
ren Druck entstanden ist (dann schlussfolgert man, dass man nur liest,
weil ein anderer das verlangt hat).
3 55 Effekt der Überrechtfertigung (»overjustification effect«):
55 Beginnt man, ein intrinsisch motiviertes Verhalten mit einer extrin-
sischen Motivation zu belohnen, so geht die intrinsische Motivation
verloren.
55 Bei der Suche nach einer Ursache für das eigene Verhalten wird eine
Selbstbeobachtung vorgenommen und geschlussfolgert, dass das Ver-
halten aufgrund des offensichtlichen, extrinsischen Faktors (Beloh-
nung) gezeigt wird und nicht, weil es einem Spaß macht. a Die extrin-
sische Motivation gegenüber der intrinsischen überbewertet.
55 Beispiel aus dem Alltag: Gewöhnlich erlernen Menschen ihren Beruf
aus einem bestimmten Grund, d. h. weil sie irgendetwas daran interes-
sant finden oder ihnen etwas daran gefällt. So haben z. B. die meisten
Studenten während des Studiums sehr viel Spaß an den Inhalten. Bei
Menschen, die jedoch schon lange im Berufsleben stehen und mit
ihrer Tätigkeit Geld verdienen, kann man beobachten, dass sie die
Arbeit nur noch als Verpflichtung und Broterwerb wahrnehmen.
55 Möglichkeiten, um dem Effekt der Überrechtfertigung entgegenzu-
wirken:
–– Leistungsabhängige statt aufgabenabhängige Belohnung: Um den
Effekt zu minimieren, sollte die Belohnung leistungsabhängig
(z. B. man bekommt umso mehr Geld, je mehr Matheaufgaben
man richtig gelöst hat) statt aufgabenabhängig (z. B. man be-
kommt Geld für das Berechnen der Aufgaben unabhängig vom
Ergebnis) vergeben werden.
–– Es sollte explizit kommuniziert werden, dass man eine Tätigkeit
nicht wegen der extrinsischen, sondern wegen der intrinsischen
Motivation ausführt.
–– Bei Aufgaben, bei denen vorher keine intrinsische Motivation
bestand, sind Belohnung und extrinsische Motivation durchaus
geeignet, um Verhalten aufzubauen.
55 Soziale Identitätstheorie von Tajfel (Gollwitzer & Schmidt, 2006):
55 Neben der personalen Identität (= Teil des Selbstkonzepts, Gesamt-
heit der Attribute, die man sich selbst zuschreibt und die einen von
anderen Personen unterscheiden) beschreibt Tajfel mit der sozialen
Identität den Teil des Selbstkonzepts, der aus der Zugehörigkeit zu
bestimmten Gruppen resultiert und der neben der Abgrenzung von
Einzelpersonen auch der Abgrenzung von anderen Gruppen dient.
55 Die soziale Identität entsteht aufgrund der generellen Tendenz zur
sozialen Kategorisierung, d. h. Menschen neigen dazu, sowohl sich
selbst als auch anderen soziale Kategorien zuzuschreiben, wobei stets
überprüft wird, ob das Gegenüber der Eigen- oder Fremdgruppe an-
gehört. Diese soziale Kategorisierung dient der Vereinfachung und
Orientierung in der Welt.
55 Die Kategorisierung zu einer Gruppe findet u. a. aus selbstwertdien-
lichen Gründen statt: Sich einer Gruppe zugehörig zu fühlen, die man
positiv bewertet, steigert den Selbstwert.
3.2 • Das Individuum als soziales Wesen
103 3
55 Man ist somit bemüht, positive soziale Distinktheit herzustellen, d. h.
sich positiv von der Fremdgruppe zu unterscheiden.
55 Es findet ein beständiger sozialer Vergleich zwischen Eigen- und Fremd-
gruppe statt, bei dem notfalls auch mithilfe wenig stichhaltiger Argu-
mente die eigene Gruppe positiver bewertet wird als die Fremdgruppe.
55 Von der Theorie postulierte Möglichkeiten zur Bewältigung negativer
sozialer Identität (weitere selbstwertdienliche Vergleiche s. u.):
–– Einzelpersonen können in die statushöhere Gruppe wechseln,
sofern die Gruppengrenzen dies zulassen (individuelle soziale
Mobilität).
–– Die Gruppe muss insgesamt versuchen, ihren Status zu verbes-
sern (kollektiver sozialer Wandel).
–– Kreative Strategien: Wechsel der Vergleichsgruppe, Wechsel der
Vergleichsdimension, Veränderung der Wichtigkeit der Ver-
gleichsdimension.
55 Theorie sozialer Vergleichsprozesse von Festinger (Frey et al., 1993, Goll-
witzer & Schmitt, 2006):
55 Festinger postuliert folgende Motive, die der Grund sind, warum wir
soziale Vergleiche anstellen:
–– Motiv, eigene Meinungen und Fertigkeiten zu bewerten
–– Motiv, eigene Leistungen zu verbessern
–– Streben danach, Diskrepanzen zu Gruppenmitgliedern zu redu-
zieren
55 Für den Vergleich stehen objektive (z. B. absolute Punktzahl bei einem
Test) und soziale Kriterien (Rangplatz innerhalb einer Gruppe) zur
Verfügung. Festinger ging davon aus, dass Personen vorzugsweise auf
objektive Kriterien zurückgreifen würden, dies ist heute jedoch um-
stritten.
55 Referenzmaßstab (wer für einen Vergleich ausgewählt wird):
–– Will man eine möglichst realistische Einschätzung der eigenen
Leistung, so wählt man für den Vergleich eine Person, die einem
möglichst ähnlich ist (Ähnlichkeitshypothese).
–– Will man wissen, welche Leistung noch möglich ist, um selbst
seine Leistung zu verbessern, so wählt man für den Vergleich
eine Person, die in der zu verbessernden Eigenschaft besser ist als
man selbst.
–– Will man sein Selbstwertgefühl stärken, so wählt man für den
Vergleich eine Person, die schlechter ist als man selbst.

Hinter diesen Theorien des Selbst steht das Motiv, über einen positiven Selbst-
wert zu verfügen. Dieser Selbstwert kann z. B. durch schlechtes Abschneiden
bei sozialen Vergleichen bedroht werden, so dass die Person reagieren muss,
um die entsprechende Bedrohung abzuwehren (Dauenheimer et al., 2002;
Gollwitzer & Schmidt, 2006; Werth & Mayer, 2008):
55 Typische Bedrohungen des Selbst sind z. B.:
55 Konfrontation mit eigenen Schwächen, z. B. wenn man trotz sehr gro-
ßer Anstrengungen in einer Klausur keine gute Note schreibt.
55 Soziale Zurückweisung, z. B. Ausschluss aus einer sozialen Gruppe.
55 Kognitive Dissonanz (d. h. man handelt abweichend von eigenen
Überzeugungen), z. B. man handelt egoistisch, obwohl man sich für
einen sehr sozialen und fürsorglichen Menschen hält.
55 Erwartungsverletzung, z. B. man erwartet, dass Freunde und Familie
zu einem stehen – tun sie dies nicht, ist der Selbstwert bedroht (»Ich
104 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

bin ein schlechter Mensch, ich habe es nicht verdient, dass man mir
hilft«).
55 Erinnerung an die eigene Sterblichkeit (Mortalitätssalienz), z. B.
Konfrontation mit einer schweren Krankheit.
55 Strategien des Individuums, um Selbstwertbedrohungen zu vermindern:
55 Selbstwertdienliche Vergleiche:
–– Wechsel der Vergleichsperson (Abwärtsvergleiche): »Ich bin
3 zwar in Mathe nicht besser als Person A, dafür aber besser als
Person B.«
–– Wechsel der Vergleichsdimension: »Ich bin zwar in Mathe nicht
besser als Person A, dafür aber in Deutsch.«
–– Veränderung der Wichtigkeit der Vergleichsdimension: »Es ist
mir nicht wichtig, gut in Mathe zu sein.«
–– Abwertung der Vergleichsperson: »Person A ist zwar besser in
Mathe als ich, dafür ist sie aber sehr unsozial und gibt mir nicht
die Unterrichtsmitschrift, wenn ich einmal krank war.«
–– Vermeidung des Vergleichs
55 Selbstwertdienliche Kausalattributionen: Es ist selbstwertdienlich, bei
Erfolg internal und stabil zu attribuieren (z. B. auf die eigene Leis-
tungsfähigkeit/Intelligenz) und bei Misserfolg external und unstabil zu
attribuieren (z. B. auf Pech/die äußeren Umstände).
55 Vorweggenommene Abwehr von Bedrohungen:
–– Self-handicapping: Vor einer Leistungssituation (z. B. Prüfung)
wird auf ein Hindernis verwiesen (z. B. »Ich habe schlecht ge-
schlafen«, »Ich bin erkältet«), um einen späteren Misserfolg da-
durch erklären zu können.
–– Sandbagging: Vor einer Leistungssituation wird die eigene Leis-
tungsfähigkeit heruntergespielt, um die Erwartung der anderen
zu reduzieren (»Ich bin gar nicht so gut in Mathe«). Bei einer
schlechten Leistung wären Vorwürfe unberechtigt, bei einer gu-
ten werden die Erwartungen übertroffen.
55 Denkverzerrungen:
55 Invulnerabilitätsillusion: Illusion, man selbst wäre unverwundbar, z. B.
erscheint es uns viel wahrscheinlicher, dass eine schlimme Krankheit
jemand anderes trifft als uns selbst.
55 Egocentric bias: Überschätzung des eigenen Beitrags zu einer Grup-
penleistung (z. B. was man selbst beigetragen hat, ist einem viel ge-
nauer bewusst als das, was andere beigetragen haben; deshalb wird die
eigene Leistung überschätzt).

3.2.2 Einstellungen

Es mag überraschen, dass das Thema Einstellung im Kapitel zur Sozialpsy-


chologie zu finden ist – hat man doch oft den Eindruck, dass die eigenen
Meinungen oder Überzeugungen aus einem selbst kommen und unumstöß-
lich sind. Dass dem jedoch nicht so ist, erkennt man an dem Phänomen des
sozialen Einflusses (7  Abschn.  3.3.4). Aber noch aus einem anderen Grund
gehören Einstellungen in die Sozialpsychologie: Einstellungen können unser
Handeln beeinflussen, d. h. damit auch die Kommunikation und Interaktion
mit anderen.
Einfach formuliert ist eine Einstellung eine Bewertung eines Objekts, die
mit bestimmten Gedanken, Gefühlen und Verhalten einhergeht (Dreikom-
3.2 • Das Individuum als soziales Wesen
105 3
ponentenmodell der Einstellung/ABC-Modell von Breckler, 1984). Da diese
Definition sehr grundlegend ist, erhalten einige spezifische Einstellungen
eigene Namen:
55 Einstellung gegenüber der eigenen Person = Selbstwert
55 Einstellung gegenüber sozialen Gruppen = Vorurteile
55 Einstellung gegenüber abstrakten Dingen = Wertvorstellungen

Darüber hinaus verfügen die meisten Einstellungen über eine zeitliche Stabili-
tät, sie können jedoch auch situationsabhängig sein. Ein Beispiel: Wenn man
Personen auffordert, die Vorzüge von Spinat aufzuzählen, und befragt sie an-
schließend nach ihrer Einstellung gegenüber Spinat, wird diese eher positiv
ausfallen. Einstellungen beeinflussen also die Wahrnehmung der Außenwelt,
umgekehrt beeinflusst jedoch auch die Außenwelt die Einstellung.
Einstellungen haben verschiedene Funktionen (Bohner, 2002; Gollwitzer
& Schmitt, 2006):
55 Wissens- und Ökonomiefunktion: Einstellungen (und ihre Generali-
sierung) ersparen uns die Mühe, ständig über die Objekte in unserer
Umwelt neu nachdenken zu müssen und ermöglichen so schnelleres
Handeln.
55 Ausdrucksfunktion: Der Ausdruck eigener Werte verdeutlicht die Zuge-
hörigkeit zu einer Gruppe. a Das schafft soziale Identität.
55 Instrumentelle Funktion: Einstellungen helfen dabei, Ziele zu erreichen
und negative Folgen von Verhalten zu vermeiden (z. B. mögen wir Dinge,
für die wir belohnt werden, und lehnen Dinge ab, für die wir bestraft
werden).
55 Erhöhung des eigenen Selbstwerts: Die Bewertung der eigenen Einstellun-
gen als positiv ist selbstwertdienlich.

Es gibt verschiedene Mechanismen, die zur Entstehung oder Änderung einer


Einstellung beitragen (Bohner & Wänke, 2006):
55 Genetische Komponente:
55 Zwillingsstudien belegen, dass sich eineiige Zwillinge in ihren Ein-
stellungen ähnlicher sind als zweieiige, selbst wenn sie in unterschied-
lichen Umgebungen aufgewachsen sind.
55 Die genetische Komponente klärt jedoch nur einen kleinen Teil an
Varianz auf, im Wesentlichen werden Einstellungen im Laufe des Le-
bens erworben.
55 Lernprozesse:
55 Klassische Konditionierung: Man kann durch wiederholte Kombina-
tion von neutralen Reizen (CS) und valenten, d. h. bereits bewerteten,
Stimuli (US) eine entsprechende Bewertung gegenüber dem neuen
Stimulus erzeugen.
55 Operante Konditionierung: Einstellungen werden beeinflusst, wenn
man das Verhalten gegenüber einem Einstellungsobjekt mit negativen
oder positiven Konsequenzen koppelt, z. B. wenn Eltern ihr Kind bei
bestimmten Einstellungsäußerungen loben, wird es diese Einstellung
eher übernehmen.
55 Modelllernen: Man kann Einstellungen auch von anderen überneh-
men, insbesondere wenn es sich um ein attraktives Modell handelt
oder das Modell für die Einstellung belohnt wird.
55 Selbstwahrnehmung: Nimmt man ein bestimmtes Verhalten an sich
wahr, das einer gewissen Einstellung entspricht, so wird man eher diese
Einstellung übernehmen, auch wenn man vorher nicht diese Einstellung
106 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

vertreten hat. a Man schlussfolgert also aus dem eigenen Verhalten, dass
man diese Einstellung haben muss (Selbstwahrnehmungstheorie s. o.).
55 Kognitive Prozesse:
55 Mere exposure effect: Das bloße Ausgesetztsein schafft eine positivere
Einstellung zu dem entsprechenden Objekt.
55 Generalisierung: Ist ein Objekt bereits positiv bewertet, so wird sich
diese Bewertung auch auf andere ähnliche Objekte ausweiten.
3 55 Informationsverarbeitung: Je aufmerksamer man einstellungsrelevante
Informationen aufnimmt und je verständlicher diese sind, umso eher
nehmen sie Einfluss auf die Einstellung.
55 Streben nach Konsistenz:
–– Wir streben danach, dass sich unsere Einstellungen in einem
spannungsfreien Zustand befinden, d. h. dass sie miteinander in
Einklang zu bringen sind und sich nicht widersprechen.
–– Treten dennoch Widersprüche auf, entsteht kognitive Dissonanz
(Theorie der kognitiven Dissonanz s. u.), die mit geeigneten Mit-
teln aufgehoben wird, z. B. durch eine Einstellungsänderung.
55 Persuasive Kommunikation (= Überzeugungsarbeit): Das Bemühen um
eine Einstellungsänderung mithilfe von argumentativer Kommunikation
nennt man Persuasion (lat. persuadere = überreden).
55 Ansprechen von Emotionen:
55 Emotionen beeinflussen die Informationsverarbeitung: Ist man in
einer guten Stimmung, dann ist die Bereitschaft, sich mit unangeneh-
men Themen auseinanderzusetzen, verringert. Man verarbeitet somit
stimmungshebende Informationen genau und stimmungssenkende
ungenau.
55 Emotionen werden als Heuristik genutzt: Wenn man sich nicht sicher
ist, was man von einem Objekt halten soll, werden die eigenen Emotio-
nen als Hinweisreiz herangezogen. Ist man in guter Stimmung, ist das
Objekt wohl positiv zu bewerten. Dieser Effekt wird z. B. in Kaufhäu-
sern genutzt, indem man versucht, die Kunden mit Licht, Musik oder
Gratisgeschenken in eine gute Stimmung zu versetzen.

Um den Prozess der Einstellungsänderung besser zu verstehen und ihn damit


auch (z. B. für Werbung) nutzbar zu machen, wurden verschiedene Theorien
entwickelt, die eine Antwort auf die Frage geben, welche Faktoren wann eine
Einstellungsänderung wahrscheinlich machen:
55 Yale-Ansatz zur Einstellungsänderung (Aronson et al., 2004): Persuasive
Kommunikation ist erfolgreich, wenn folgende Merkmale erfüllt sind:
55 Eigenschaften des Senders:
–– Attraktive, statushohe und glaubwürdige (z. B. von Experten)
Botschaften überzeugen schneller.
–– Sleeper-Effekt: Nach einiger Zeit vergisst man die Quelle der
Botschaft und beachtet nur noch deren Inhalt. Dadurch wird eine
zuerst hohe Einstellungsänderung (aufgrund einer sehr glaub-
würdigen Quelle) über die Zeit minimiert – umgekehrt gilt dies
für geringe Einstellungsänderung bei unglaubwürdigen Quellen.
55 Eigenschaften der Botschaft:
–– Inhalt, Länge, emotionale Qualität und Wiederholung der Bot-
schaft beeinflussen die Einstellungsänderung.
–– Auch der Zeitpunkt der Präsentation spielt eine Rolle: Früher
eingehende Informationen werden eher im Langzeitgedächtnis
gespeichert (Primacy effect), später eingehende bleiben dafür
3.2 • Das Individuum als soziales Wesen
107 3
länger im Kurzzeitgedächtnis (Recency effect). Wann welcher
Effekt einen größeren Einfluss hat, hängt von der spezifischen
Situation ab.
–– Botschaften sind überzeugender, wenn sie nicht erkennen lassen,
dass sie den Zuhörer überzeugen sollen, d. h. die Beeinflussungs-
absicht nicht erkennbar ist.
–– Zweiseitigkeit: Botschaften wirken überzeugender, wenn Pro und
Contra gegeneinander abgewogen werden als wenn nur Pro-Ar-
gumente vorgetragen werden.
55 Eigenschaften des Empfängers:
–– Intellektuelle Fähigkeiten: Menschen mit geringerer Intelligenz
neigen dazu, sich schneller beeinflussen und überzeugen zu las-
sen.
–– Selbstwert: Menschen mit mittlerem Selbstwert sind leichter zu
einer Einstellungsänderung zu bewegen als solche mit niedrigem
oder hohem Selbstwert.
–– Need for cognition (Bedürfnis nach gründlichem Nachdenken):
Menschen mit einem hohen Kognitionsbedürfnis lassen sich eher
von inhaltsrelevanten Informationen beeinflussen (d. h. guten
Argumenten), während Personen mit einem geringen Kogni-
tionsbedürfnis eher auf periphere Hinweisreize wie Eigenschaften
der Person reagieren.
–– Selbstüberwachung: Personen mit einer hohen Selbstüberwa-
chung neigen eher dazu, ihre Einstellung zu ändern, als Personen
mit einer geringen Selbstüberwachung (7 Abschn. 3.2.2).
–– Alter: Junge Erwachsene (bis 25 Jahre) lassen sich leichter beein-
flussen als ältere Erwachsene (ab 25 Jahre).
55 Elaboration Likelihood Model (ELM) von Petty und Cacioppo (Bohner &
Wänke, 2006): Das ELM beschreibt die Auswirkungen einer persuasiven
Mitteilung auf den Empfänger und insbesondere darauf, wann welche der
obigen Faktoren wirksam sind.
55 Begriffe des ELM:
–– Elaboration: Ausmaß, in dem der Empfänger über die Botschaft
nachdenkt
–– Elaborationswahrscheinlichkeit: Wahrscheinlichkeit, mit der eine
vertiefte Elaboration stattfindet; sie ist abhängig von der Motiva-
tion und den Fähigkeiten der Person.
55 Das ELM postuliert zwei Wege der Informationsverarbeitung:
–– Zentrale Route: Die Person wägt alle Argumente sorgfältig ab
a hoher kognitiver Aufwand, hohe Elaboration.
–– Periphere Route: Die Person nutzt periphere Hinweisreize oder
Heuristiken (= Faustregeln), um eine Einstellung zu entwickeln
a geringer kognitiver Aufwand, geringe Elaboration.
55 Wann wird welche Route genutzt:
–– Im Alltag nutzt man die periphere Route, nur bei wichtigen The-
men und hoher Motivation wählt man die zentrale Route und
damit tiefgehendere Elaboration.
–– Die Elaborationswahrscheinlichkeit, d. h. die Wahrscheinlichkeit,
dass die zentrale Route zur Informationsverarbeitung genutzt
wird, ist umso größer, je höher die Motivation und Fähigkeit der
Person ist. a Ist z. B. jemandem ein Thema sehr wichtig, ist man
eher bereit, seine Argumente genau unter die Lupe zu nehmen.
108 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

–– Bei einer zentralen Verarbeitung lassen sich Menschen eher von


guten Argumenten, bei einer peripheren eher durch Hinweisreize
überzeugen.
–– Einstellungsänderung nach zentraler Verarbeitung ist zeitlich
deutlich stabiler als Einstellungsänderung nach peripherer Ver-
arbeitung.
55 Theorie der kognitiven Dissonanz von Festinger (Gollwitzer & Schmitt,
3 2006): Auch kognitive Dissonanz kann die Ursache für eine Einstellungs-
änderung sein (Streben nach Konsistenz s. o.).
55 Kognitive Dissonanz = gedanklicher Spannungszustand
55 Wie kognitive Dissonanz entsteht:
–– Dissonanz nach einstellungskonträrem Verhalten: Jemand verhält
sich anders als es seiner Einstellung entspricht.
–– Dissonanz nach Entscheidungen: Wenn sich jemand entscheiden
muss, entsteht nach der Entscheidung Dissonanz, da man immer
einige Nachteile der gewählten Alternative in Kauf nehmen muss
(vgl. Appetenz-Aversions-Konflikt 7 Abschn. 2.4.4).
–– Dissonanz nach enttäuschten Erwartungen: Wenn jemand Ener-
gie in etwas investiert, bei dem sich nachträglich herausstellt, dass
die Erwartungen, die daran geknüpft waren, nicht erfüllt werden
können.
55 Wie man kognitive Dissonanz lösen kann:
–– Änderung des Verhaltens bzw. der Einstellung
–– Hinzufügen von Argumenten, die für das gezeigte Verhalten
sprechen (Rechtfertigungen)
–– Vermeiden der Argumente, die gegen das Verhalten sprechen
(z. B. Verdrängung: »Ich denke einfach nicht an die Nachteile«)
–– Konflikt minimieren: Veränderung der Wichtigkeit des Verhaltens
–– Wahlfreiheit reduzieren
–– Änderung der Wahrnehmung, z. B. man wertet bei Entscheidun-
gen nachträglich die gewählte Alternative auf (Spreading-apart-
Effekt)
55 Regeln, nach denen die Dissonanzreduktion stattfindet:
–– Kleinstmöglicher kognitiver Aufwand
–– Größtmöglicher Effekt
–– Größtmögliche Stabilität des Ergebnisses

Einstellungen entstehen und verändern sich. Manchmal ist das erwünscht,


manchmal auch nicht. Gezielter Beeinflussung kann man entgehen
55 durch Vorwarnung, dass man jemanden beeinflussen wird,
55 durch vorangegangene Erfahrungen mit ähnlichen Argumenten,
55 durch Zeit, in der man sich Gegenargumente überlegen kann.

Einstellungen können sich verändern, wenn die Handlungen den Einstellun-


gen widersprechen. Die eigentliche Funktion von Einstellungen ist jedoch die
umgekehrte Wirkrichtung, nämlich dass Einstellungen das Handeln beein-
flussen:
55 Einstellungen wirken auf spontanes Verhalten nur, wenn sie in dieser
Situation auch zugänglich und verfügbar sind.
55 Bei geplantem Verhalten wirken folgende Faktoren auf das Verhalten
(Theorie des geplanten Verhaltens):
55 Einstellung gegenüber dem Verhalten, d. h. die Haltung der handeln-
den Person zu dem geplanten Verhalten
3.2 • Das Individuum als soziales Wesen
109 3
55 Subjektive Normen, d. h. die Haltung von anderen, wichtigen Personen
zu dem geplanten Verhalten
55 Wahrgenommene Verhaltenskontrolle: Die Einstellung und subjekti-
ven Normen können das geplante Verhalten nur beeinflussen, wenn
überhaupt Verhaltenskontrolle wahrgenommen wird.

3.2.3 Soziale Kognition

Der Begriff »soziale Kognition« bezeichnet Gedanken, die man sich über ande-
re Menschen macht, oder solche, die durch soziale Interaktion entstanden sind.
Die kognitive Psychologie ist traditionellerweise ein Teilgebiet der allgemeinen
Psychologie. Dennoch wirkt sich die Art, wie wir denken, auf unser Sozialleben
aus bzw. wird von diesem beeinflusst. Aus diesem Grund beschäftigen sich
auch Sozialpsychologen mit für das soziale Zusammenleben relevanten The-
men der kognitiven Psychologie: Repräsentation von Wissen über Personen,
Urteile über andere Menschen, Kausalattributionen auf Personen.
Die mentale Repräsentation von Wissen dient dem Zweck, anhand weni-
ger Informationen viele Vorhersagen treffen zu können bzw. eine Masse von
Informationen so zu komprimieren, dass sie mit geringem Aufwand abge-
speichert werden können. Dazu stehen folgende Strukturierungselemente zur
Verfügung (Fiedler & Bless, 2002; Werth & Mayer, 2008):
55 Kategorie: Sie dient der Gruppierung von Objekten in unterschiedliche
Rubriken, je nach Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit.
55 Prototyp: Es handelt sich um den repräsentativsten Vertreter einer Kate-
gorie bzw. um die zentrale Beschreibung einer Kategorie.
55 Exemplar: Dies ist der beispielhafte Vertreter einer Kategorie.
55 Schema: Eine kognitive Struktur, die alle Wissenselemente zu einem
Objekt umfasst, sowie die Beziehung dieser Elemente zueinander.
55 Stereotyp: Schema, das durch soziale und persönliche Wertvorstellungen
beeinflusst ist.
55 Skript: Schema, das einen Plan für einen bestimmten Verhaltensablauf
umfasst.

Diese Wissensrepräsentationen werden genutzt, um die soziale Welt zu erfas-


sen und anschließend passende Schlussfolgerungen zu ziehen und Urteile zu
bilden. Aufgrund der Tatsache, dass der Mensch stets bestrebt ist, ökonomisch
zu denken, greift er häufig auf einfache Faustregeln (Heuristiken) zurück, die
diesen Urteilsprozess vereinfachen. Die heuristische Verarbeitungsweise ist
zwar schneller als eine tiefergehende, dafür aber auch ungenauer, d.  h. die
Wahrnehmung wird durch Denkfehler verzerrt. Urteilsheuristiken und -fehler
in sozialen Situationen sind (s. auch 7 Abschn. 2.3.9):
55 Verfügbarkeitsheuristik: Leicht verfügbare Informationen beeinflussen
ein Urteil eher als weniger leicht verfügbare; so wird z. B. leicht verfüg-
baren Ereignissen eine höhere Wahrscheinlichkeit zugeordnet als weniger
leicht verfügbaren.
55 Repräsentativitätsheuristik: Ein Objekt wird nach der Ähnlichkeit zu
dem Prototyp einer Kategorie bewertet.
55 Anker- und Anpassungsheuristik: Ein Urteil wird an einem (u. U. zufälli-
gen) Anker ausgerichtet.
55 Simulationsheuristik: Ereignisse, die man sich leicht vorstellen kann,
beeinflussen ein Urteil eher als solche, die man sich nicht gut vorstellen
kann.
110 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

Diese Heuristiken nehmen v.  a. bei automatischen Denkprozessen Einfluss,


beim bewussten und kontrollierten Denken eher weniger (vgl. ELM). Nach-
dem die Heuristiken angewandt wurden, entstehen Erwartungen bzw. Vorher-
sagen über das Verhalten anderer. Erwartungen werden definiert als Hypo-
thesen über zukünftige Ereignisse.
In der Hypothesentheorie der sozialen Wahrnehmung von Bruner und
Postman (Lilli & Frey, 1993; Greitemeyer, Fischer & Frey, 2006) geht man
3 davon aus, dass jede Wahrnehmung mit einer Erwartungshypothese beginnt,
d. h. dass rational handelnden Personen ausgehend von den ersten verfügba-
ren Informationen eine Monopolhypothese darüber aufstellen, wie sich die
zukünftigen Geschehnisse entwickeln werden. Diese Hypothese beeinflusst
die nachfolgende Informationsverarbeitung dahingehend, dass neue Infor-
mationen bevorzugt im Hinblick auf diese Hypothese interpretiert werden,
d. h. man versucht, seine Hypothese zu bestätigen. Die Erwartungshypothese
wird erst dann verworfen oder neu formuliert, wenn genügend Gegenargu-
mente vorliegen, die sich mit der alten Erwartung nicht in Einklang bringen
lassen. Eine sehr ähnliche Theorie wurde bereits im 7 Abschn. 2.3.4 zum Pro-
zess der Syntaxanalyse vorgestellt: das Holzweg-Modell bzw. »garden-path
model«.
Dieser Effekt, dass erste Hypothesen maßgeblich dafür sind, wie weitere
Informationen verarbeitet werden, kann massive Auswirken haben: Im Alltag
merkt man dies z. B. daran, dass der erste Eindruck oft bestimmend für eine
zwischenmenschliche Beziehung ist. Ist dieser Eindruck positiv, wird auch das
weitere Verhalten dieser Person wohlwollend interpretiert, ist er negativ, so
scheint einem das Gegenüber auch weiterhin unsympathisch, auch wenn sich
das tatsächlich gezeigte Verhalten objektiv nicht voneinander unterscheidet.
Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang das Phänomen beschreibt,
dass sich eigene Erwartungen oft erfüllen, ist die »self fulfilling prophecy«,
die selbsterfüllenden Prophezeiung. Die »self fulfilling prophecy« ist eine Vor-
hersage einer Person bezüglich des Verhaltens einer anderen Person, die sich
erfüllt, weil sie erwartet wurde. Dabei kann es sein, dass sich die Erwartung
nur in der Vorstellung des Vorhersagers verwirklicht oder dass sie von der
einen Person auf die andere übertragen wird. Umgangssprachlich versteht man
unter einer selbsterfüllenden Prophezeiung meist, dass sich Erwartungen, die
sich auf einen selbst beziehen, erfüllen. Im Originalexperiment von Rosenthal
und Jacobson (1968) jedoch ging es um die Erwartungen, die Lehrer an die
Leistungsfähigkeit ihrer Schüler hatten und dass die eingeschätzte Leistungs-
fähigkeit zugenommen hat, ohne dass die Schüler von dieser Erwartung der
Lehrer wussten.
Nachdem nun die sozial-kognitiven Prozesse zur Entstehung von Erwar-
tungen und Vorhersagen von zukünftigem Verhalten erläutert wurden, soll
nun noch ein weiteres Thema aufgegriffen werden, nämlich wie bereits ge-
schehene soziale Ereignisse bewertet werden und wie Kausalattributionen (=
Ursachenzuschreibungen) vorgenommen werden. Die Attributionstheorie
(Heider, 1958; Kelley, 1967, 1973) beschäftigt sich dabei damit, wie und unter
welchen Bedingungen Ursachen gesucht und einer bestimmten Situation oder
Person zugeschrieben werden. Die Autoren gehen davon aus, dass es ein dem
Menschen innewohnendes Bedürfnis ist, Ursachen zu suchen, um auf die-
se Weise das Gefühl der Kontrollierbarkeit zu erhalten (Meyer & Försterling,
1993; Försterling, 2006; Gollwitzer & Schmitt, 2006):
55 Ursachen können
55 internal (innerhalb von Personen) oder external (in der äußeren Um-
gebung) sein,
3.2 • Das Individuum als soziales Wesen
111 3
55 zeitlich mehr oder weniger stabil sein,
55 mehr oder weniger kontrollierbar sein.
55 Ursachen gründen auf systematischen Vergleichen:
55 Distinktheit (Vergleich über Situationen): Verhält sich eine Person
auch in anderen Situationen so? a Falls ja, liegt eine geringe Distinkt-
heit vor.
55 Konsistenz (Vergleich über Zeitpunkte): Verhält sich eine Person in
der gleichen Situation zu anderen Zeitpunkten genauso? a Falls ja,
liegt eine hohe Konsistenz vor.
55 Konsens (Vergleich über Personen): Verhalten sich andere Personen in
der gleichen Situation genauso? a Falls ja, liegt hoher Konsens vor.
55 Es wird auf folgende Weise attribuiert:
55 Internal: Bei geringem Konsens, geringer Distinktheit und hoher
Konsistenz
55 External: Bei hohem Konsens, hoher Distinktheit und hoher Konsis-
tenz
55 Auf die Zeit (z. B. auf einen spezifischen Umstand zu diesem Zeit-
punkt): Bei niedriger Konsistenz (unabhängig davon, wie Konsens und
Distinktheit ausgeprägt sind)

Bei diesen Kausalattributionen können Fehler entstehen:


55 Fundamentaler Attributionsfehler: Menschen tendieren dazu, eher auf
Personen als auf Situationen zu attribuieren. Dadurch verschaffen sie sich
subjektive Kontrolle.
55 Actor-observer bias: Akteure attribuieren ihr Handeln eher auf die Situa-
tion, Beobachter eher auf die handelnde Person.
55 False-consensus-Effekt: Menschen neigen dazu, ihr eigenes Verhalten als
typisch einzuschätzen.
55 Attributionssymmetrie bei Erfolg und Misserfolg: Eigene Erfolge werden
eher internal, Misserfolge eher external attribuiert.

Eine besondere und für den sozialen Kontext wichtige Form der Ursachen-
zuschreibung ist die Zuschreibung von Schuld und Verantwortung (Gollwitzer
& Schmitt, 2006):
55 Unterscheidung von Schuld und Verantwortung nach Shaver (1985):
55 Verantwortlich ist eine Person, wenn
–– das Ereignis absichtlich herbeigeführt wurde,
–– das Ereignis vorhersehbar war,
–– die Person handlungsfrei war,
–– die Person moralisch einsichtsfähig war.
55 Schuld liegt erst vor, wenn der Akteur sein Verhalten nicht rechtferti-
gen (ent-schuldigen) kann.
55 Stufenmodell der Verantwortlichkeit nach Montada (1989): Steigende
Verantwortung für eine Handlung von unbeabsichtigt hin zu böswilliger
Absicht:
55 Unbeabsichtigter Zufall
55 Ungeschicklichkeit
55 Impulsivität, eingeschränkt Willensfreiheit
55 Fahrlässigkeit
55 Billigende Inkaufnahme von Schaden
55 Böswillige Absicht, Schaden zuzufügen
112 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

3.3 Das Individuum in Interaktion mit anderen

Im Folgenden geht es darum, wie das Individuum mit anderen Einzelpersonen


interagiert, z. B. in engen Beziehungen oder in Situationen, in denen jemand
Hilfe benötigt (prosoziales Verhalten). Auch Aggression wird in einem eige-
nen Abschnitt aufgegriffen. Den Abschluss und Übergang zu  7  Abschn.  3.4
»Das Individuum als Teil einer Gruppe« bildet der soziale Einfluss, der nicht
3 nur von Einzelpersonen, sondern insbesondere auch von Gruppen ausgeübt
wird.

3.3.1 Enge Beziehungen

Der Mensch hat ein Bedürfnis nach Bindung, er ist ein soziales Wesen. Dieses
Bedürfnis nach Kontakt zu anderen Menschen nennt sich Affiliation. Insbe-
sondere enge Beziehungen zu anderen Menschen, d. h. Freundschaft und Part-
nerschaft, sind wichtig für unsere psychische und physische Gesundheit und
unser subjektives Wohlbefinden. Wir profitieren von sozialen Beziehungen
aus folgenden Gründen:
55 Positive Erlebnisse mit unseren Mitmenschen (z. B. ein Kinoabend mit
Freunden)
55 Soziale Unterstützung in schwierigen Zeiten, d. h.:
55 Emotionale Unterstützung: Hilfe beim Umgang mit eigenen Emotio-
nen (z. B. Angstreduktion durch das Gefühl, umsorgt zu sein)
55 Einschätzungsunterstützung: Hilfe bei der Einschätzung von Dingen
(z. B. Wie groß ist die Bedrohung wirklich?)
55 Informative Unterstützung: Informationen darüber, wie man mit be-
stimmten Situationen umgehen kann (z. B. Welche Handlungsmög-
lichkeiten sind verfügbar?)
55 Instrumentelle Unterstützung: Konkrete Hilfe (z. B. finanzielle Unter-
stützung)
55 Positiver Effekt auf die Gesundheit (Puffereffekt sozialer Unterstützung):
Personen, die sich sozial unterstützt fühlen, erleben Stress in geringerem
Ausmaß.
55 Soziale Beziehungen bieten die Möglichkeit von sozialen Vergleichen und
geben damit identitätsrelevante Informationen.
55 Evolutionsbiologisch wird angenommen, dass das Bedürfnis nach sozia-
len Beziehungen zum Überleben der Art beigetragen hat.

Enge Beziehungen können auch interdependente Beziehungen sein. Diese


werden definiert als Beziehungen, in denen die beiden beteiligten Personen
einen starken, lang andauernden, wechselseitigen Einfluss aufeinander haben.
Enge Beziehungen entstehen z. B. durch (Buunk, 2002):
55 Räumliche Nähe:
55 Räumliche Nähe vergrößert die Wahrscheinlichkeit einer Freund-
schaft.
55 Mögliche Gründe dafür sind:
–– Damit sich eine Beziehung entwickeln kann, muss man sich
überhaupt erst einmal begegnen. a Die Wahrscheinlichkeit, sich
zu begegnen, nimmt mit räumlicher Nähe zu.
–– Bei jemandem, dem wir ohnehin oft begegnen, fällt es uns leich-
ter, Informationen über ihn zu sammeln und Gemeinsamkeiten
zu entdecken.
3.3 • Das Individuum in Interaktion mit anderen
113 3
–– Mere-exposure-effect (7 Abschn. 3.2.2)
55 Studie von Festinger, Schachter und Back (1950):
–– Aufbau: Die Autoren beobachteten die Entstehung von Freund-
schaften in einem Studentenwohnheim, in dem die Studenten per
Zufall den Wohnungen zugeteilt wurden.
–– Ergebnis: Je näher die Studenten beieinander wohnten, umso
eher gaben sie an, befreundet zu sein (41 % der Tür-an-Tür-Nach-
barn gaben an, Freunde zu sein, aber nur 10 % der Bewohner, die
an entgegengesetzten Seiten des Flures wohnten).
55 Physische Attraktivität:
55 Schöne Personen werden netter eingeschätzt (»Was schön ist, ist gut«-
Stereotyp).
55 Man verhält sich attraktiven Menschen gegenüber freundlicher.
55 Sowohl Männer als auch Frauen unterliegen diesem Mechanismus.
55 Als schön gilt (auf das Gesicht bezogen):
–– Bei Frauen: Große Augen, große Pupillen, kleine Nase, hohe
Wangenknochen, schmale Wangen, hohe Augenbrauen, kleines
Kinn, starkes Lachen
–– Bei Männern: Große Augen, hohe Wangenknochen, großes Kinn,
starkes Lächeln
55 Ähnlichkeit:
55 Demographische Ähnlichkeit (Alter, Geschlecht, Herkunft, etc.)
fördert Freundschaften.
55 Ähnliche Einstellungen:
–– Auch ähnliche Einstellungen fördern unsere Sympathie für
andere.
–– Situationen, in denen wir feststellen, dass jemand anderes der
gleichen Meinung ist wie wir, geben uns das Gefühl, Recht zu
haben, d. h. Menschen mit einer ähnlichen Einstellung geben uns
eine wichtige soziale Bestätigung.
–– Menschen, die uns unähnlich in ihren Einstellungen sind, assozi-
ieren wir demgegenüber mit Unangenehmem.
55 Ähnliche Fähigkeiten in der Kommunikation: Personen mit hoher
Kommunikationsfähigkeit sind eher mit Personen befreundet, die
ebenfalls eine hohe Fähigkeit zu sozialer Interaktion haben.
55 Vertrautheit: Je vertrauter jemand ist, desto netter wird er eingeschätzt.
55 Interaktion:
55 Über Interaktion wird Verbundenheit hergestellt.
55 Positive Interaktion führt zu Sympathie, da durch Interaktion unsere
Bedürfnisse gestillt werden (z. B. Bedürfnis nach Verbundenheit).
55 Selbstöffnung:
55 Je näher man sich kennen lernt, desto mehr gibt man von sich preis.
55 Je mehr man über intime Dinge spricht, desto enger wird die Bin-
dung.
55 Reziprozität:
55 Äußert jemand, dass er uns nett findet, finden wir ihn auch netter.
55 Je mehr wir jemanden mögen, umso ähnlicher schätzen wir ihn ein.

Es wird deutlich, dass einige der genannten Faktoren v. a. zu Beginn von Bezie-
hungen wichtig sind (z. B. physische Attraktivität, räumliche Nähe), andere je-
doch beim weiteren Kennenlernen eine große Rolle spielen (z. B. Ähnlichkeit).
Das Phänomen der reziproken Zuneigung schließlich festigt jede Freundschaft
114 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

mehr und mehr, je weiter sie sich entwickelt: Die Beziehung stabilisiert sich auf
diese Weise selbst.
Mithilfe verschiedener Theorien hat man versucht, das Konzept der Lie-
be und die Charakteristika von engen Beziehungen genauer zu fassen, um
so eine Antwort auf die Fragen zu finden: Was ist Liebe? Warum gehen wir
enge Beziehungen ein? Eine Antwort auf die erste Frage gibt z.  B. die tri-
anguläre Theorie der Liebe, in der Sternberg (1986) der Liebe drei Charak-
3 teristika zuschrieb (Leidenschaft, Intimität, Verbindlichkeit), wobei je nach
Ausprägung dieser Komponenten unterschiedliche Beziehungsstile resultieren
(s. dazu 7 Abschn. 2.4.8). Sozialpsychologisch von größerer Relevanz sind dem-
gegenüber jedoch die Theorien, die sich mit der Frage danach beschäftigen,
warum wir in enge soziale Beziehungen investieren und warum wir sie so
führen, wie wir sie führen. Die Theorien im Einzelnen sind (Buunk, 2002;
Hassebrauck & Küpper, 2002; Gollwitzer & Schmitt, 2006):
55 Interdependenztheorie von Thibaut und Kelly (1959; Kelley & Thibaut,
1978)
55 Wir führen Beziehungen, weil wir voneinander abhängig (interdepen-
dent) sind.
55 Zur Abschätzung des Nutzens von Beziehungen (Outcome) werden
folgende Vergleichsstandards herangezogen:
–– Der erwartete Nutzen einer Beziehung
–– Der erwartete Nutzen von Alternativen
55 Je nachdem, wie der Vergleichsstandards ausfällt, resultiert eine andere
Handlung:
–– Wenn der erwartete Nutzen einer Beziehung größer ist als der er-
wartete Nutzen der Alternativen, hält man an der Beziehung fest.
–– Wenn der erwartete Nutzen einer Beziehung kleiner ist als der er-
wartete Nutzen der Alternativen, beginnt man, über Alternativen
nachzudenken.
–– Fällt der Vergleich mit den Alternativen schlecht aus (d. h. der
erwartete Nutzen der Alternative ist kleiner als der derzeitige
Nutzen der Beziehung), so hält man an der Beziehung fest.
–– Fällt der Vergleich mit den Alternativen gut aus (d. h. der erwar-
tete Nutzen der Alternative ist größer als der derzeitige Nutzen
der Beziehung), beendet man die Beziehung.
55 Ressourcentheorie von Foa und Foa (1974):
55 Wir führen enge Beziehungen zu anderen, weil wir Ressourcen aus-
tauschen.
55 Ressourcen haben zwei verschiedene Dimensionen:
–– Konkrete (d. h. messbare) vs. symbolhafte (d. h. nicht messbare)
Ressourcen
–– Partikularistisch (d. h. der Wert der Ressource gilt nur für diese
eine Person) vs. universalistisch (d. h. die Ressource ist für alle
Menschen gleich viel wert)
55 Beim Austausch von Ressourcen ist man bemüht, möglichst ähnliche
Ressourcen zu tauschen. Ist eine Ressource nicht verfügbar, wird sie
am ehesten durch eine universalistische ersetzt.
55 Equity-Theorie von Walster, Walster und Berscheid (1978, s. genauer
7 Abschn. 3.5.2):
55 Im Gegensatz zu den Austauschtheorien geht es in der Equity-Theo-
rie um Gerechtigkeit bzw. Ausgewogenheit zwischen den beiden
Partnern.
3.3 • Das Individuum in Interaktion mit anderen
115 3
55 Die Theorie geht davon aus, dass Zufriedenheit mit einer Beziehung
dann entsteht, wenn der Quotient aus eigenem Gewinn und eigenem
Einsatz gleich dem Quotient aus Gewinn und Einsatz des Partners ist:
Out A Out B
=
InA InB

55 Investitionstheorie der Liebe von Rusbult (1983):


55 Rusbult bringt Zufriedenheit in Beziehungen auf die Formeln:
–– Zufriedenheit = Nutzen – Kosten – Vergleichsniveau
–– Bindung = Zufriedenheit – Alternativen + Investitionen
55 Das bedeutet konkret:
–– Hat man nur wenige Vergleichsmöglichkeiten, ist man schneller
zufrieden, z. B. beim ersten Partner.
–– Hat man viel in eine Beziehung investiert, so wird man sich eher
nicht trennen, auch wenn Alternativen zur Verfügung stehen und
man nicht zufrieden ist.
55 Diese Theorie fügt der austauschtheoretischen Abwägung von Nutzen,
Kosten und Alternativen auch noch die Variable der Investitionen hinzu.
55 Theorie der Bindungsstile von Shaver, Hazan und Bradshaw (1988):
55 Es handelt sich eigentlich um eine Theorie zur Bindung zwischen
Mutter und Kind und postuliert drei Bindungsstile:
–– Sicher: Großes Vertrauen in die Beziehung vorhanden, keine
Angst vor Nähe, lange Dauer
–– Vermeidend: Angst vor Nähe, instabile Beziehung (Hin- und
Herspringen)
–– Ängstlich: Angst, Partner zu verlieren, aber auch keine Bereit-
schaft, sich dem anderen zu öffnen
55 Wir führen unsere engen Beziehungen so, wie wir sie führen, weil
das der Bindungsstil ist, den wir bereits als Kind gelernt haben. a Die
frühkindlich gelernten Bindungsstile prägen unsere Beziehungen auch
im Erwachsenenalter.
55 Theorie der Beziehungsdialektik (Femlee, 1995)
55 Enge Beziehungen befinden sich immer in einem Spannungsfeld von
folgenden sich widersprechenden Kräften:
–– Autonomie vs. Verbundenheit
–– Neuheit vs. Vorhersagbarkeit
–– Offenheit vs. Verschlossenheit
55 Diese Kräfte sind dafür verantwortlich, dass sich Beziehungen ständig
verändern und auch verändern müssen.

3.3.2 Prosoziales Verhalten

Prosoziales Verhalten kann definiert werden als solches Verhalten, das auf das
Wohl anderer Menschen zielt. Prinzipiell kann prosoziales Verhalten egoistisch
motiviert sein, d. h. jemand hilft, weil er selbst davon auch profitiert (z. B. An-
erkennung, Lob für die Hilfe), oder altruistisch motiviert sein, d.  h. jemand
hilft selbstlos, ohne an die eigenen Kosten oder möglichen Nutzen zu denken.
Altruismus wird somit definiert als das Bedürfnis, einem anderen Menschen
zu helfen, auch wenn dies mit eigenen Kosten einhergeht. Es entsteht aufgrund
von Empathie mit dem Opfer, d.  h. man kann dessen Situation nachfühlen.
Letztlich können jedoch auch hinter sog. altruistischen Handlungen egoistische
116 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

Normative Erklärungen
Gerechtigkeit

Soziale
Reziprozität
Verantwortung

3 Individualistische
Erklärungen
Evolutionspsycholo- Interpersonale
gische Erklärungen Persönlichkeit Erklärungen

Verwandten- Stimmung Interdependenz


selektion
Nutzen-
Reziprozität Empathie maximierung

Stammesgeschichte heute

. Abb. 3.3  Übersicht über die verschiedenen Erklärungen für prosoziales Verhalten

Motive stecken. Es ist deshalb mehr eine philosophische Frage, ob es den reinen
Altruismus wirklich gibt. In der Sozialpsychologie wird der Begriff des altruis-
tischen Verhaltens für den Teil des prosozialen Verhaltens benutzt, bei dem der
Helfende keinen offensichtlichen Nutzen aus dem Helfen zieht.
Zusammenfassend haben Menschen folgende Gründe, sich prosozial zu
verhalten (. Abb. 3.3; Bierhoff, 2002; Werth & Meyer, 2008):
55 Evolutionspsychologische Erklärungen: Der Grund, zu helfen, liegt in
unserer Stammesgeschichte (Phylogenese):
55 Wir helfen, damit sich unsere biologische Fitness verbessert.
55 Verwandtenselektion: Man hilft Verwandten eher, um das Überleben
der eigenen Gene zu sichern.
55 Reziprozitätsnorm: Man hilft jemandem mit der Erwartung, dass er
einem zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls helfen wird, wenn man
Hilfe braucht.
55 Individualistische Erklärungen: Der Grund, zu helfen, liegt in der einzel-
nen Person.
55 Wir helfen, damit wir uns besser fühlen.
55 Persönlichkeit: Prosoziales Verhalten entsteht durch Persönlichkeits-
merkmale.
–– Die Persönlichkeitsmerkmale »soziale Verantwortlichkeit«, »in-
terne Kontrollüberzeugung« und »Empathie« fördern prosoziales
Verhalten.
–– Das Persönlichkeitsmerkmal Glaube-an-eine-gerechte-Welt
(7 Abschn. 3.5.2) kann prosoziales Verhalten sowohl fördern als
auch hemmen.
55 Stimmung: Prosoziales Verhalten entsteht durch die aktuelle Stimmung.
–– Negative-state-relief-Hypothese: Durch den Anblick eines Hilfs-
bedürftigen wird in uns eine negative Stimmung ausgelöst. Um
diese negativen Gefühle zu reduzieren, helfen wir.
3.3 • Das Individuum in Interaktion mit anderen
117 3
–– Mood-maintenance-Hypothese: Sind wir in einer guten Stim-
mung, helfen wir, um unsere gute Laune zu erhalten. Ist jedoch
absehbar, dass durch die Hilfehandlung die gute Stimmung ge-
fährdet wird, helfen wir eher nicht.
–– Affect-priming-Modell: Wenn man gut gelaunt ist, sind im Ge-
hirn auch eher positive Schemata aktiv (z. B. das Schema, ande-
ren zu helfen).
–– Affect-as-information-Modell: Positive Stimmung wird als Hin-
weis dafür angesehen, dass man sich in einer angenehmen und
sicheren Situation befindet, d. h. in einer Situation, in der man
freie Ressourcen hat, um anderen zu helfen.
55 Empathie: Prosoziales Verhalten entsteht aufgrund von Empathie.
–– Empathie ist die Fähigkeit, sich in die Situation anderer hineinzu-
versetzen und deren Gefühle nachzuempfinden.
–– In Situationen, in denen wir mit einem Notleidenden empathisch
mitfühlen, sind wir eher bereit, zu helfen (auch wenn das mit
Kosten für den Helfer verbunden ist und eine Ausflucht oder die
Vermeidung der Hilfe einfach wären).
–– Ist Hilfe mit hohen Kosten verbunden, so vermeiden wir wenn
möglich Empathie erzeugende Informationen, um das Entstehen
von Empathie zu verhindern.
–– Empathie-Altruismus-Hypothese: Altruistisch motivierte Men-
schen helfen auch dann, wenn es möglich ist, der Situation zu
entfliehen. Egoistisch motivierte Menschen helfen nur, wenn es
ihnen schwer gemacht wird, der Situation zu entfliehen.
55 Interpersonale Erklärungen: Der Grund, zu helfen, liegt im sozialen Aus-
tausch von Individuen.
55 Wir helfen, weil wir dafür auch Hilfe bekommen.
55 Dieser Gedanke basiert auf der Austauschtheorie (7 Abschn. 3.3.1).
55 Interdependenz: Menschen sind voneinander abhängig. Sie helfen
einander, weil sie in Zukunft auf eine Gegenleistung hoffen.
55 Nutzenmaximierung: Man versucht, den eigenen Nutzen zu maximieren.
55 Normative Erklärungen: Der Grund, zu helfen, liegt in gesellschaftlichen
Normen und Werten.
55 Wir helfen, weil es sich so gehört.
55 Soziale Verantwortung: Menschen, die Hilfe benötigen, sollte man helfen.
55 Gerechtigkeit: Menschen, die Hilfe verdient haben, sollten Hilfe be-
kommen.
55 Reziprozität: Menschen, die einem geholfen haben, hilft man ebenfalls.

Faktoren, die die Tendenz zu helfen beeinflussen:


55 Merkmale des Hilfsbedürftigen:
55 Wir helfen eher, wenn die Person mit uns verwandt ist.
55 Wir helfen eher, wenn uns die Person ähnlich ist.
55 Wir helfen eher, wenn wir die Person kennen.
55 Bei sehr bedrohlichen Situationen helfen wir eher Personen mit hohem
Reproduktionspotenzial, d. h. bevorzugt attraktiven, gesunden, jungen
und reichen Menschen. Ansonsten helfen wir denen, die Hilfe am
dringendsten brauchen.
55 Merkmale des Helfenden:
55 Stimmung: Wenn wir in einer guten Stimmung sind, helfen wir eher
(negative Stimmung kann prosoziales Verhalten sowohl fördern als
auch hemmen).
118 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 Kultur: Männer helfen eher in Situationen, in denen heldenhaft-rit-


terliches Hilfeverhalten nötig ist (z. B. in Notfallsituationen). Frauen
helfen eher in Situationen, in denen fürsorgliche Hilfe über einen län-
geren Zeitraum nötig ist (z. B. Altenpflege).
55 Geschlecht: Personen aus kollektivistischen Kulturen helfen eher
nahen Angehörigen, Personen aus individualistischen Kulturen eher
Fremden (z. B. Ehrenamt).
3 55 Merkmale der Situation:
55 Umfeld: Menschen auf dem Land helfen eher als Menschen in der
Stadt.
55 Zahl der Zuschauer: Je mehr Zuschauer in einer Notsituation an-
wesend sind, umso geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass geholfen
wird (Bystander-Effekt).

Es zeigt sich immer wieder, dass Menschen in manchen Situationen nicht hel-
fen, obwohl das moralisch gefordert wäre. In den vergangenen Jahren sind
immer wieder entsprechende Fälle durch die Medien gewandert, gekoppelt an
den Aufruf zu mehr Zivilcourage. Welche Gründe gibt es dafür, dass Menschen
Hilfe unterlassen? Latané und Darley (1970) geben darauf mithilfe eines 5-Stu-
fen-Modells Antwort (. Abb. 3.4; Werth & Mayer, 2008):
55 Wird die Notsituation überhaupt wahrgenommen?
55 Um in einer Notsituation helfen zu können, muss sie überhaupt erst
wahrgenommen werden.
55 Eine Erklärung für das Phänomen, dass in Städten weniger geholfen
wird als auf dem Land, ist die Urban-overload-Hypothese: In Städten
herrscht eine so große Reizüberflutung, dass sich die Menschen stärker
auf sich konzentrieren als sie das auf dem Land tun, so dass sie den
Notfall nicht wahrnehmen.
55 Wird die Situation als Notfall interpretiert?
55 Um einschätzen zu können, ob eine Situation eine Notsituation ist
oder nicht, greifen wir auf Umgebungsinformationen zurück.
55 Sind viele andere Personen anwesend, die sich in ihrem Verhalten
nicht durch die Notsituation beeindrucken lassen, glauben wir, dass es
sich nicht um einen Notfall handelt (= pluralistische Ignoranz).
55 Wird die Verantwortung für die Situation übernommen?
55 Nur, wenn wir uns in einer Situation verantwortlich fühlen, zu helfen,
werden wir auch helfen.
55 Das Hilfeverhalten nimmt bei zunehmender Personenzahl aufgrund
von Verantwortungsdiffusion ab: Das Verantwortlichkeitsgefühl des
Einzelnen sinkt mit steigender Zahl der Bystander.
55 Ist ein Kompetenzgefühl vorhanden, in der Situation helfen zu können?
55 Um in einer Notsituation helfen zu können, müssen das entsprechende
Wissen verfügbar und eine genügend hohe Selbstwirksamkeit vorhan-
den sein.
55 Fühlt sich jemand nicht kompetent genug, wird er die Hilfe unterlas-
sen.
55 Auch wenn er Angst hat vor der Bewertung anderer Personen, wird er
eher nicht helfen (Bewertungsangst).
55 Wie fällt die Kosten-Nutzen-Abschätzung aus?
55 In Notsituationen von besonderer Bedeutung sind häufig die Kosten
des Helfens und die des Nicht-Helfens (Cost-reward-Modell von
Piliavin, 1981).
3.3 • Das Individuum in Interaktion mit anderen
119 3

Wird die Notsituation überhaupt Urban-Overload


wahrgenommen? nein
Hypothese

ja

Wird die Situation als Notfall Pluralistische


interpretiert? nein
Ignoranz

ja

KEINE HILFE
Wird die Verantwortung für die Verantwortungs-
Situation übernommen? nein
diffusion

ja

Ist ein Kompetenzgefühl vorhanden,


nein Bewertungsangst
in der Situation helfen zu können?

ja

Hohe Kosten des MÖGLICHE GRÜNDE FÜR


Wie fällt die Kosten-Nutzen-
Helfens, geringe Kosten
Abschätzung aus? des Nicht-Helfens
NICHT-HELFEN

Geringe Hohe Kosten


Kosten des Helfens,
des und des
Helfens Nicht-Helfens

DIREKTE
INDIREKTE HILFE
HILFE

. Abb. 3.4  Übersicht über das 5-Stufen-Modell von Latané und Darley (1970) und die abgeleiteten Gründe des Nicht-Helfens

55 Je nachdem, wie die Kosten ausfallen, wird der Helfer entweder direkt,
indirekt oder gar nicht helfen:
–– Bei geringen Kosten des Helfens und hohen Kosten des Nicht-
Helfens wird direkte Hilfe geleistet.
–– Bei hohen Kosten des Helfens und hohen Kosten den Nicht-Hel-
fens wird entweder indirekte Hilfe geleistet, oder die Situation
wird so umgedeutet, dass ein Nicht-Helfen gerechtfertigt werden
kann.
–– Bei hohen Kosten des Helfens und geringen Kosten des Nicht-
Helfens wird keine Hilfe geleistet.
–– Bei geringen Kosten des Helfens und geringen Kosten des Nicht-
Helfens ist die Hilfeleistung abhängig von persönlichen Normen
der handelnden Person.

Um dem Bystander-Effekt vorzubeugen und Helfen wahrscheinlicher zu


machen, gibt es folgende Möglichkeiten:
55 Generell:
55 Wissen vermitteln, wie man helfen kann.
55 Internale Kontrollüberzeugung stärken: »Du kannst etwas tun.«
55 Normen etablieren, die Hilfeverhalten fördern »Du musst helfen.«
55 Bewusstsein für die Gefahr des Bystander-Effekts sensibilisieren.
120 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 In einer Notsituation:
55 Als Opfer sollte man Mehrdeutigkeit reduzieren und deutlich machen,
dass es sich um eine echte Notsituation handelt.
55 Normen in der gegebenen Situation aktivieren und z. B. sagen: »Du
hast jetzt die Gelegenheit, deine soziale Verantwortung zu demonstrie-
ren.«
55 Verantwortung konkret zuteilen, z. B. durch direktes Ansprechen.
3
3.3.3 Aggression

Aggression wird definiert als ein Verhalten mit dem Ziel, eine andere Person
zu schädigen. Es kann unterschieden werden zwischen:
55 Feindseliger/emotionaler/heißer Aggression: Primäres Ziel ist die Schädi-
gung des anderen. Die Aggression basiert auf Gefühlen (z. B. Wut, Ärger).
a Der emotionale Aspekt überwiegt den berechnenden Aspekt.
55 Instrumenteller/kalter Aggression: Die Aggression ist Mittel zum Zweck.
a Der berechnende Aspekt überwiegt den emotionalen Aspekt.

Der Begriff »Aggression« oder »aggressives Verhalten« ist dem der »Gewalt«
vorzuziehen, da Gewalt sowohl als legitim (z. B. politische Gewalt als Voraus-
setzung für Demokratie) als auch als illegitim (z. B. Gewalt gegen Personen)
bewertet werden kann.
Um Aggression zu erklären, können verschiedene Ansätze herangezogen
werden. Erste Überlegungen, warum Menschen aggressiv sind, gingen von
einem dem Menschen innewohnenden Trieb aus. Freud (1920) nannte diese
Kraft den Todestrieb (Thanatos), und er postulierte, dass Aggressionen ausge-
lebt werden müssen, um eine Katharsis (= Läuterung, Reinigung) zu erreichen.
Auch in der Verhaltensforschung hielt sich die Annahme der kathartischen
Wirkung von aggressivem Verhalten. So ging z. B. Lorenz (1974) davon aus,
dass sich Aggressionen so lange anstauen, bis sie schließlich durch einen ex-
ternen Reiz ausgelöst werden und sich entladen.
Die Katharsis-Hypothese versteht Aggression als Hydraulikmodell, d.  h.
dass Aggression als eine innere Energie Druck aufbaut, der irgendwann abge-
lassen werden muss. Bezogen auf Aggression kann die Katharsis-Theorie heute
jedoch als weitestgehend widerlegt betrachtet werden. Aggressives Verhalten
vermindert Aggressionen nicht, vielmehr erhöht es die Wahrscheinlichkeit von
aggressivem Verhalten.
Die Entstehung von Aggression ist weitaus komplexer als dieser einfache
Wirkungsmechanismus. Als Ursachen für Aggression gelten folgende Faktoren
bzw. sind in Diskussion (Krahé & Greve, 2006; Krahé, 2007):
55 Genetischer Einfluss:
55 Es liegen Zwillingsstudien vor, die die Erblichkeit einer Neigung zu
aggressivem Verhalten nahelegen.
55 Auch evolutionsbiologisch scheint es schlüssig, dass Aggression dem
Menschen einen Überlebensvorteil verschafft hat.
55 Tatsächlich kann jedoch bis jetzt nicht eindeutig belegt werden, dass
die Neigung zu Aggression genetisch determiniert ist.
55 Neurobiologische Komponente:
55 Serotonin scheint eine aggressionshemmende Wirkung zu haben.
55 Testosteron geht demgegenüber jedoch mit einer höheren Aggres-
sionsbereitschaft einher. Der Zusammenhang zwischen Testosteron
und Aggression wurde jedoch dahingehend hinterfragt, ob es sich um
3.3 • Das Individuum in Interaktion mit anderen
121 3
einen direkten oder indirekten Einfluss handelt: Möglicherweise för-
dert Testosteron nur das Dominanzverhalten bei Männern und darü-
ber die Aggressivität.
55 Alkohol senkt die Hemmschwelle – was ja Teil der erwünschten auf-
lockernden Wirkung von Alkohol ist. Er senkt jedoch auch die Hemm-
schwelle für aggressives Verhalten und führt zu einer oberflächlicheren
Informationsverarbeitung.
55 Lernerfahrungen und Persönlichkeit:
55 Die Fähigkeit zur Empathie kann Aggressionen verringern.
55 Operante Lernerfahrungen:
–– Wird man in der Kindheit für aggressives Verhalten positiv ver-
stärkt, neigt man eher zu Aggression (z. B. im Sinne einer Ver-
stärkung von dominantem Verhalten wie etwa »Du darfst dir
nicht alles gefallen lassen« oder »Gut, dass du dich durchgesetzt
hast).
–– Auch bei negativer Verstärkung (d. h. Ausbleiben der Bestrafung)
wird aggressives Verhalten gefördert.
55 Modelllernerfahrungen:
–– Sehen Kinder ein Modell, das aggressiv ist und dafür nicht be-
straft wird, wird aggressives Verhalten gefördert.
–– Mögliche Modelle sind Eltern und Peers.
55 Eine besondere Form von Lernerfahrungen bieten Fernsehen und
Computerspiele. Deren Einfluss auf aggressives Verhalten wird intensiv
diskutiert:
–– Die aktuelle Forschung zeigt, dass gewalthaltige Medien im Ver-
gleich zu nicht gewalthaltigen Medien aggressives Verhalten so-
wohl kurzfristig als auch langfristig wahrscheinlicher machen.
–– Vor dem Einfluss von gewalthaltigen Medien schützt die Medien-
kompetenz. Dieses Konstrukt ist jedoch noch sehr unzureichend
definiert und erforscht.
55 Soziale Bedingungen:
55 Soziale Situationen können negative Gefühle (z. B. Ärger) auslösen, die
wiederum die Wahrscheinlichkeit von Aggression erhöhen.
55 Mögliche soziale Situationen, die negative Gefühle auslösen:
–– Provokation: Angriff auf den Selbstwert einer Person (z. B. soziale
Zurückweisung)
–– Frustration: Blockierung der Ziele einer Person
55 Auch gesellschaftliche Normen beeinflussen Aggression: Es sind v. a.
solche Normen aggressionsförderlich, die Aggression legitimieren.
–– Aggressionsfördernde Normen: Recht, Waffen zu tragen und
zu verwenden (z. B. in den USA), Norm familiärer Privatheit
(erhöht häusliche Gewalt), Kultur der Ehre, Reziprozitätsnorm
–– Aggressionshemmende Normen: Verbot der Selbstjustiz, Ähn-
lichkeit
55 Merkmale der Situation:
55 Aggressive Hinweisreize: Die Anwesenheit von aggressiven Reizen
(z. B. Waffen) erhöht die Aggressionsbereitschaft.
55 Deindividuation/Anwesenheit von anderen: Tritt das Individuum als
Teil einer Gruppe auf, verschwimmt die eigene soziale Identität, und
es kommt zu einer geringeren Selbstaufmerksamkeit, was wiederum
normabweichendes Verhalten wie Aggression begünstigt.
55 Erregungstransfer: Tritt in Situationen, in denen wir bereits physiolo-
gisch erregt sind (z. B. nach dem Sport) ein Ereignis ein, dass negative
122 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

Gefühle hervorruft (z. B. jemand rempelt uns an), so reagieren wir


eher aggressiv als wenn vorher keine Erregung vorhanden gewesen
wäre. Die (Rest-)Erregung wird in einer solchen Situation falsch inter-
pretiert und als Hinweis dafür genommen, dass das Ereignis bedroh-
lich/blockierend ist.
55 Situative Stressoren: Aversive Bedingungen (z. B. Schmerz, Hitze,
Lärm) wirken belastend und machen aggressive Reaktionen wahr-
3 scheinlicher.

Wichtige Aggressionstheorien sind (Mummendey & Otten, 2002; Otten &


Mummendey, 2002; Krahé, 2007):
55 Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard et al., 1939):
55 Sie war eine der ersten Hypothesen zur Entstehung von Aggression
und wurde viel diskutiert
55 In der ursprünglichen Fassung wurde behauptet, dass man immer
dann aggressiv reagiert, wenn man auf irgendeine Weise frustriert
wird.
55 Das Problem dieser ersten Formulierung war jedoch, dass Frustration
nicht zwangsläufig zu Aggression führt. a Frustration ist keine not-
wendige Bedingung für Aggression.
55 Die Frustrations-Aggressions-Hypothese wurde deshalb folgender-
maßen reformuliert: Aggression ist eine mögliche Reaktion auf Frus-
tration.
55 Theorie aggressiver Hinweisreize (auch kognitiv-neoassozionistisches
Modell) von Berkowitz (1993):
55 Ablauf der Entstehung von Aggression:
–– Frustration löst emotionale Erregung in Form von Ärger aus.
–– Ärger steigert die Bereitschaft zu aggressivem Verhalten.
–– Aggressives Verhalten wird eher gezeigt, wenn in der Situation
aggressive Hinweisreize (z. B. Waffen) vorhanden sind.
55 Studie zum Waffeneffekt (Berkowitz & LePage, 1967)
–– Aufbau: Versuchspersonen sollen eine Aufgabe bearbeiten, und
ihre Leistung wird von einem vermeintlich anderen Versuchs-
teilnehmer bewertet. Diese Bewertung besteht aus einer Anzahl
milder elektrischer Schocks und ist unabhängig von der tatsäch-
lichen Leistung, wodurch unterschiedlich großer Ärger erzeugt
wird. Abschließend sollen die Versuchspersonen ihren Partner
ebenfalls durch Elektroschocks beurteilen. In dieser Bewertungs-
phase befinden sich entweder eine Waffe, ein Badmintonschläger
oder nichts auf dem Tisch neben dem Elektroschockgerät.
–– Ergebnis: Befanden sich in der Bewertungsphase Waffen im
Raum, so fiel die Anzahl der Elektroschocks höher aus, aber nur
wenn die Versuchsperson verärgert war. War sie nicht verär-
gert, waren die Bewertungen gleich, unabhängig davon, welcher
Gegenstand auf dem Tisch lag.
–– Erklärung und Interpretation: Schusswaffen werden mit Aggres-
sivität assoziiert, sie werden als aggressiver Hinweisreiz interpre-
tiert und verstärken so das aggressive Verhalten.
55 Soziale Informationsverarbeitungstheorie der Aggression von Dodge
(1986):
55 Sie beschäftigt sich mit dem Ablauf der Informationsverarbeitung bei
der Entstehung von Aggression.
55 Es werden sechs Phasen postuliert:
3.3 • Das Individuum in Interaktion mit anderen
123 3
–– Wahrnehmung eines Ereignisses (z. B. jemand rempelt mich an)
–– Interpretation des Ereignisses (z. B. »Das hat der mit Absicht
gemacht«)
–– Ein Ziel festlegen (z. B. »Ich will mir das nicht gefallen lassen«)
–– Reaktionsalternativen ausdenken (z. B. »Ich rempele zurück«,
»Ich werfe ihm einen bösen Blick zu«, »Ich gehe einfach weiter«)
–– Für eine Handlung entscheiden
–– Ausführen der gewählten Alternative
55 Bei aggressiven Personen kommt es oft zu Fehlern in der Informa-
tionsverarbeitung (Hostile Attribution Bias):
–– Bei aggressiven Personen treten öfter Attributionsfehler auf, sie
interpretieren ein Geschehen eher als Absicht.
–– Aggressive Personen analysieren Situationen nicht sorgfältig
genug.
–– Aggressive Personen deuten Situationen egozentriert, sie nehmen
keinen Perspektivenwechsel vor.
–– Aggressive Personen reagieren selektiv auf Hinweisreize (»Er hat
mich angeschaut«).
55 Social-Interactionist Theory of Coercive Action (SITCA) von Tedeschi
und Felson (1994):
55 Sie geht davon aus, dass Aggression eine Funktion erfüllt, d. h. Ergeb-
nis einer Kosten-Nutzen-Abwägung ist.
55 Es werden drei grundlegende Motive für aggressives Verhalten unter-
schieden:
–– Kontrolle/Macht: Menschen demonstrieren v. a. dann in aggres-
siver Weise ihre Macht, wenn sie über keine anderen Verhaltens-
möglichkeiten verfügen, um ihrem Bedürfnis nach Kontrolle
nachzukommen (z. B. Fehlen von Kommunikationskompetenz).
–– Gerechtigkeit: Das Bedürfnis nach Gerechtigkeit führt v. a. dann
zu aggressivem Verhalten, wenn einem eine besonders große
Ungerechtigkeit widerfährt, man sehr eindeutig die Schuld dafür
einer bestimmten Person zuschreiben kann und man keine Sank-
tionen für das aggressive Verhalten fürchten muss.
–– Positive Identität: Um seine Identität zu wahren, wird v. a. dann
auf aggressives Verhalten zurückgegriffen, wenn sich die Person
herabgesetzt fühlt.
55 Allgemeines Aggressions-Modell (General Aggression Model, GAM) von
Anderson (2008):
55 Es fasst »nahe« und »ferne« Ursachen von Aggression sowie individu-
elle und situative Einflüsse auf Aggression zusammen.
55 »Ferne« Ursachen von Aggression sind:
–– Biologische Komponenten (z. B. genetische Komponente)
–– Komponenten der Umwelt (z. B. gesellschaftliche Normen)
–– Persönlichkeit
55 »Nahe« Ursache von Aggression sind:
–– Merkmale der Person
–– Merkmale der Situation
–– Aktueller internaler Status (d. h. aktuelle Erregung, verfügbare
Gedanken und Gefühle)
55 Alle verfügbaren Informationen werden in einem Bewertungsprozess
gegeneinander abgewogen und interpretiert.
55 Je nachdem, wie diese Bewertung ausfällt und welche Handlungsalter-
nativen zur Verfügung stehen, resultiert aggressives Verhalten.
124 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 Soziale Lerntheorie von Bandura (1979):


55 Aggressives Verhalten lernen wir, indem wir diese Verhaltensweisen
von einem Vorbild (z. B. den Eltern) übernehmen.
55 Bobo-Doll-Experiment von Bandura, Ross und Ross (1963):
–– Aufbau: Kinder beobachten erst eine erwachsene Person, wie
sie eine mit Luft gefüllte Puppe (Bobo Doll) aggressiv behandelt
(z. B. indem sie die Puppe mit der Hand schlägt). Kinder der
3 Kontrollgruppe beobachten Erwachsene, die friedlich mit der
Puppe interagieren. Anschließend wird den Kindern erlaubt, mit
der Puppe zu spielen.
–– Ergebnisse: Die Kinder, die dem aggressiven Verhalten zuge-
schaut haben, tendieren ebenfalls zu aggressiver Interaktion mit
der Puppe. Das gilt besonders dann, wenn die erwachsene Person
für ihr Verhalten belohnt wird.
–– Erklärung und Interpretation: Je öfter ein Kind die Erfahrung
macht, dass aggressives Verhalten eine legitime Verhaltensweise
ist, die mehr Nutzen als Kosten aufweist, umso eher wird es ein
kognitives Skript für aggressives Verhalten ausbilden.

Nachdem wir betrachtet haben, wie Aggression entsteht, sollen nun einige
Möglichkeiten aufgezählt werden, wie dieses gesellschaftlich unerwünschte
Verhalten reduziert werden kann. Als wirksame Strategien haben sich
erwiesen:
55 Positive Vorbilder schaffen, die zeigen wie man mit negativen Emotionen
umgehen kann
55 Kommunikationstraining, Vermittlung von Problemlösestrategien
55 Förderung von Empathie
55 Aging-out: Bei Kindern ist das Ausprobieren von aggressivem Verhalten
normal, beim Älterwerden nimmt diese Tendenz von allein wieder ab.

Zwei weitere zweifelhafte bzw. widerlegte Strategien sind die Folgenden (Krahé,
2007):
55 Bestrafung
55 Bestrafung bewirkt im Allgemeinen zwar eine Reduktion unerwünsch-
ten Verhaltens, allerdings beinhaltet Bestrafung meist aggressive
Handlungen, wodurch man wieder ein Modell für Aggression schafft.
55 Bestrafungen wirken nur dann abschreckend, wenn sie unmittelbar auf
die aggressive Handlung folgen.
55 Bestrafungen haben meist nur vorübergehend den erwünschten Effekt
von Handlungsunterdrückung.
55 Insgesamt sind die Forschungsbefunde zur Wirksamkeit von Bestra-
fung widersprüchlich. Wenn sie überhaupt ein wirksames Mittel dar-
stellt, dann nur unter ganz bestimmten Bedingungen, die in der Reali-
tät selten erfüllt sind.
55 Aggressionen abreagieren
55 Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der Katharsis-Hypothese
um einen Mythos, der so heute nicht mehr aufrechterhalten werden
kann.
55 Wohl aber ist es wichtig, starke Emotionen, die hinter einem aggres-
siven Impuls stecken, in einer überlegten und sozial angemessenen
Weise zu äußern und zu hinterfragen (z. B. ruhiges Gespräch mit dem
Gegenüber).
3.3 • Das Individuum in Interaktion mit anderen
125 3
3.3.4 Sozialer Einfluss

Sozialer Einfluss bezeichnet die Veränderung von Wahrnehmungen, Verhalten


oder Einstellungen, die durch die tatsächliche oder vorgestellte Anwesenheit
von einer oder mehrerer Personen zustande kommt. So können z. B. andere
Personen, auch wenn sie nicht anwesend sind, über soziale Normen Einfluss
auf das Individuum nehmen. Typischerweise beschäftigen sich Sozialpsycho-
logen mit zwei verschiedenen Arten des sozialen Einflusses:
55 Gezielter oder aktiver sozialer Einfluss: Eine oder wenige Personen wol-
len uns gezielt und beabsichtigt beeinflussen, um uns zu einer ganz be-
stimmten Wahrnehmung/Verhalten/Einstellung zu bringen (wird meist
unter den Schlagwörtern Gehorsam oder Compliance untersucht).
55 Ungezielter oder passiver sozialer Einfluss: Die Anwesenheit anderer
bewirkt, dass wir unsere Meinung/Verhalten/Einstellung anpassen, sodass
wir mit den anderen konform gehen, ohne dass jemand von uns eine
solche Anpassung verlangt (wird meist unter dem Schlagwort Konformi-
tät untersucht).

Aktiver Einfluss: Gehorsam, Macht und Manipulation


Aktiver, gezielter sozialer Einfluss geht oft von Autoritäten aus. In diesem Be-
reich haben v. a. die Milgram-Experimente (1993) zum Einfluss von Autori-
täten und Gehorsam von Versuchspersonen Aufsehen erregt:
55 Aufbau:
55 Die Versuchsperson (»Lehrer«) wird gebeten, eine vermeintlich andere
Versuchsperson (»Schüler«) in ihrer Leistung bei Merk- und Gedächt-
nisaufgaben zu überprüfen.
55 Falsche Antworten soll der Lehrer mit Elektroschocks steigender Höhe
bestrafen.
55 Tatsächlich ist die zweite Person Teil des Versuchsaufbaus, die irgend-
wann beginnt, falsche Antworten zu geben, so dass der Lehrer sie be-
strafen muss.
55 Die Reaktion des Schülers steigert sich nun von Schreien über die
Bitte, das Experiment abzubrechen, bis hin zur Klage, er habe Herz-
probleme, die ihm Schwierigkeiten bereiten (die Versuchsperson kann
ihn nur hören, nicht aber sehen).
55 Zögert die Versuchsperson, Elektroschocks zu erteilen, wird sie vom
Versuchsleiter unter Druck gesetzt, z. B. mit dem Hinweis, dass es ab-
solut notwendig sei, das Experiment fortzusetzen.
55 Ergebnis:
55 Über 60 % der Teilnehmer geben den maximalen Schock von 450 Volt,
der Mittelwert liegt bei 360 Volt.
55 Die Teilnehmer beugen sich der Autorität des Versuchsleiters, obwohl
das bedeutet, dem »Schüler« offensichtlich schwere Schmerzen zuzu-
fügen.

Gehorsam wird dabei beeinflusst durch:


55 Physische und psychologische Nähe
55 Untersuchungssetting (Ort, an dem die Untersuchung stattfindet)
55 Status und Verhalten des Versuchsleiters
55 Anwesenheit anderer Versuchspersonen

Gehorsam erzeugen zu können bedeutet, soziale Macht zu haben, d.  h. die


Fähigkeit, einer anderen Person den eigenen Willen aufzuzwingen. Folgendes
verleiht einer Autorität Macht:
126 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 Machtquellen (Mintzberg, 1983):


55 Ressourcen
55 Technische Fähigkeiten
55 Rechte und Privilegien
55 Wissen
55 Beziehungen, d. h. Zugang zu Personen, die über die ersten Punkte
verfügen
3 55 Typologie der Machtgrundlagen (French & Raven, 1960; 7 Abschn. 2.4.9)
55 Belohnungsmacht
55 Beziehungsmacht
55 Informationsmacht
55 Legitimierte Macht (z. B. Staatsoberhäupter)
55 Expertenmacht
55 Zwangsmacht (z. B. Diktator)

Die Ausübung von Macht oder generell von sozialem Einfluss, kann aber
neben dem Gehorsam auch eine andere Reaktion provozieren: Reaktanz. Sie
kann als Widerstand gegen eine als ungerechtfertigt gesehene Macht definiert
werden. Reaktanz geht meist damit einher, dass die verbotenen Handlungen an
Attraktivität gewinnen. Folgende Verhaltensweisen und kognitiven Bewertun-
gen sind Formen von Widerstand:
55 Die Wirkung von Bestrafung reduzieren, indem man vorgibt, sich nicht
darüber zu ärgern
55 Die Wirkung von Bestrafung übertreiben, um Mitgefühl zu erregen und
die Bestrafung zu minimieren
55 Des Wert erhaltener Belohnungen minimieren, indem man vorgibt, sich
nicht darüber zu freuen
55 Sympathiebeziehung zum Mächtigen aufbauen
55 Sich unentbehrlich machen und so selbst Macht erlangen (Expertenmacht)

Eine gegenüber Gehorsam und Macht etwas abgeschwächte Form von aktivem
sozialen Einfluss ist die Manipulation. Sie ist eine Form der gezielten Einfluss-
nahme, bei der man die heuristische Informationsverarbeitung und soziale
Normen so ausnutzt, dass ein Einzelner einen anderen von seinen Interessen
überzeugen kann.
Faktoren, die Manipulation erfolgreich machen, sind:
55 Schaffen von Verbindlichkeit
55 Persönliche Betroffenheit
55 Aktivieren der Reziprozitätsnorm
55 Schaffen einer gemeinsamen sozialen Identität
55 Appell an die soziale Verantwortung

Es gibt drei wichtige Strategien, wie aktiv sozialer Einfluss ausgeübt wird (Goll-
witzer & Schmitt, 2006):
55 Foot-in-the-door-Technik:
55 Man bittet zuerst um einen kleinen Gefallen und trägt dann eine grö-
ßere Bitte vor.
55 Beispiel: »Kannst du vielleicht schnell A für mich erledigen?« …
»Wenn du gerade dabei bist, kannst du dann auch B machen?«
55 Door-in-the-face-Technik:
55 Man bittet zuerst um einen übertrieben großen und dann um einen
kleinen Gefallen.
55 Beispiel: »Wenn du schon A nicht für mich tun willst, dann wenigstens
B?«
3.3 • Das Individuum in Interaktion mit anderen
127 3

. Tab. 3.2  Übersicht über die verschiedenen Motive von Konformität, Einflusstypen, Ursachen und bewirkte Veränderungen

Motive für Einflusstyp Ursachen für Bewirkte


Konformität Konformität Veränderung

Mastery Informativer Einfluss Informationsverarbeitung Private Akzeptanz

Connectedness Normativer Einfluss Konfliktvermeidung Öffentliche Compliance

Streben nach Selbstkategorisierung Private Akzeptanz

55 Low-ball-Technik:
55 Man macht ein unschlagbares Angebot, das sich dann nach Ent-
scheidung des Adressaten für das Angebot als nicht verfügbar erweist.
Anschließend unterbreitet man ein (bedeutend) kostenintensiveres
Angebot.
55 Beispiel: »Ich habe hier eine sehr kostengünstige Reise nach…« … »Es
tut mir leid, die Reise ist leider nicht mehr buchbar. Aber Sie können
ohne weiteres nach … nur liegen die Kosten hierfür etwas höher.«

Passiver Einfluss: Konformität


Das Gegenstück zum aktiven sozialen Einfluss ist der passive Einfluss. Dieser
findet v. a. in Form von Konformität in Gruppen statt. Konformität bezeichnet
das Phänomen, dass wir uns an andere anpassen, so dass wir mit ihnen in unse-
rer Meinung oder unserem Verhalten übereinstimmen. Wenn andere Personen
anwesend sind, versuchen wir, uns genauso zu verhalten oder die gleiche Mei-
nung anzunehmen wie die anderen: Wir versuchen, Ähnlichkeit herzustellen.
Konformität tritt auf, wenn wir uns mit einer Mehrheit konfrontiert sehen
(Majoritäteneinfluss), manchmal lassen wir uns jedoch auch von einer Min-
derheit beeinflussen (Minoritäteneinfluss). Diese Meinungsanpassung kann
unterschiedlich tiefgehend sein (Erb & Bohner, 2002):
55 Private Akzeptanz (Conversion), d. h. man ändert seine Meinung, weil
man tatsächlich überzeugt ist.
55 Öffentliche Compliance, d. h. man äußert öffentlich die Gruppenmei-
nung, ohne tatsächlich überzeugt zu sein.

Es werden zwei Einflusstypen von Konformität unterschieden, die aus zwei


unterschiedlichen Motiven heraus entstehen. Je nachdem, was genau die Ursa-
che für das konforme Verhalten ist, ist man selbst mehr oder weniger von der
angepassten Meinung überzeugt (. Tab. 3.2):
55 Bedürfnis nach Mastery:
55 Wir streben danach, zu wissen, was »richtig« ist, und greifen deshalb
auf soziale Informationen zurück.
55 Daraus entsteht informativer Einfluss:
–– Er umfasst den Einfluss, der durch das Bedürfnis nach Mastery
entsteht.
–– Er führt meist zu privater Akzeptanz, da wir andere als Informa-
tionsquelle nutzen und deren Einschätzung als zutreffender be-
urteilen als unsere eigene Meinung.
55 Bedürfnis nach Connectedness:
55 Wir haben ein Bedürfnis nach sozialer Identität bzw. Verbundenheit
mit anderen Menschen.
55 Daraus entsteht normativer Einfluss:
128 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

–– Er umfasst den Einfluss, der durch das Bedürfnis nach Connec-


tedness entsteht.
–– Er kann zu öffentlicher Compliance führen, wenn wir uns nur
anpassen, um Konflikten aus dem Weg zu gehen (Konfliktver-
meidung) oder eine Norm uns das in dieser Situation vorschreibt.
–– Er kann zu privater Akzeptanz führen, wenn wir die Gruppe
brauchen, um uns soziale Identität zu geben (Streben nach
3 Selbstkategorisierung).

Typische sozialpsychologische Experimente zum verblüffenden Effekt der


Konformität bzw. Einfluss von Majoritäten und Minoritäten sind die folgenden
(Van Avermaet, 2002; Gollwitzer & Schmitt, 2006):
55 Experiment von Sherif (1935) zum informativen sozialen Einfluss:
55 Zugrunde liegendes Phänomen ist der autokinetische Effekt:
–– Fokussiert man in gleichmäßig dunkler Umgebung einen hellen
Lichtpunkt, so hat man den Eindruck, dass sich der Lichtpunkt
bewegt, auch wenn das nicht der Fall ist.
–– Die Einschätzung der Bewegung ist intrapersonal stabil, unter-
scheidet sich jedoch von Person zu Person.
55 Aufbau:
–– Personen sollen ein Urteil über die Bewegung eines Lichtpunkts
abgeben, der sich in Wirklichkeit gar nicht bewegt.
–– Im ersten Durchgang sind die Versuchspersonen alleine, in weite-
ren Durchgängen (mit je ein paar Tagen Abstand) mit anderen Ver-
suchspersonen zusammen, wobei jeder seine Schätzung laut äußert.
55 Ergebnis: Das Urteil der Versuchspersonen nähert sich von Termin zu
Termin immer weiter aneinander an, unterscheidet sich aber weiterhin
zwischen den Gruppen.
55 Erklärung und Interpretation: Da es sich um eine vieldeutige Situation
handelt, nutzen die Versuchspersonen die anderen Anwesenden als
Informationsquelle, weil sie glauben, dass die Gruppenschätzung die
richtige sei. a Es kommt zu privater Akzeptanz.
55 Experiment von Asch (1955) zum normativen sozialen Einfluss einer
Mehrheit:
55 Aufbau:
–– Die Versuchspersonen werden gebeten, Linien miteinander zu
vergleichen und diejenige zu nennen, die mit der Ursprungslinie
übereinstimmt. Die Linien unterscheiden sich dabei deutlich
voneinander.
–– Der Versuch findet in der Gruppe statt, wobei die anderen An-
wesenden vermeintlich auch Versuchspersonen sind. Tatsächlich
sind sie eingeweihte Komplizen des Versuchsleiters.
–– Die Versuchspersonen sollen nun entweder anonym über die
Länge der Linien entscheiden oder ihre Meinung öffentlich in der
Gruppe sagen.
–– Die Komplizen des Versuchsleiters behaupten nun konsistent,
dass die längere oder die kürzere Linie die richtige sei.
55 Ergebnis: Beim anonymen Antwortmodus machen die Versuchsperso-
nen keine Fehler, in der zweiten Bedingung schließen sich jedoch 76 %
der falschen Mehrheitsmeinung an.
55 Erklärung und Interpretation: Die Versuchspersonen passen sich auf-
grund des normativen Drucks der Gruppenmeinung an. a Es kommt
zu öffentlicher Compliance ohne private Akzeptanz.
3.3 • Das Individuum in Interaktion mit anderen
129 3
55 Experiment von Moscovici, Lage und Naffrechoux (1969) zum sozialen
Einfluss einer Minorität:
55 Aufbau:
–– Versuchspersonen sollen sagen, welche Farbe sie auf einem Dia sehen.
–– Dabei sind nur vier der Teilnehmer (Majorität) in einer Gruppe
echte Versuchspersonen, zwei weitere Teilnehmer (Minorität)
sind eingeweihte Komplizen, die auf einer offensichtlich falschen
Antwort beharren.
55 Ergebnis: In 8 % der Fälle passt sich die Majorität an die Minorität
an, wobei dieser Einfluss nur dann zustande kommt, wenn die beiden
Komplizen die gleiche falsche Antwort geben (konsistent waren).
55 Erklärung: Die konsistent falsche Meinung der Minderheit führt zu
einem kognitiven Konflikt und setzt einen Informationsverarbeitungs-
prozess in Gang über die Frage, ob die Minderheit nicht doch Recht
haben könnte.

Ob und inwieweit man sich von anderen anwesenden Personen beeinflussen


lässt, hängt von verschiedenen Faktoren ab (. Tab. 3.3):
Der Einfluss von Konformität ist jedoch auch begrenzt durch:
55 Persönlichkeit: Selbstsicherheit und Unabhängigkeit führen dazu, dass
sich der Einfluss der Mehrheit verringert.
55 Reaktanz: Wenn eine Person merkt, dass die Mehrheit sie beeinflussen
will, entscheidet sie sich bewusst gegen die Mehrheit, um ihre Entschei-
dungsfreiheit wiederzuerlangen (Verbotenes wird attraktiver).

Es können folgende Theorien unterschieden werden, die Mehrheits- bzw. Min-


derheitseinfluss beschreiben und erklären (Van Avermaet, 2002; Erb & Bohner,
2002; Werth & Mayer, 2008):
55 Konversionstheorie (Moscovici, 1976):
55 Moscovici geht davon aus, dass es nur bei der Konfrontation mit einer
Minderheit zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit der abwei-
chenden Meinung kommt.
55 Folglich können die Konfrontation mit einer Mehrheit immer nur zu
öffentlicher Compliance und der Einfluss von Minderheiten zu Kon-
version, d. h. tatsächlicher Überzeugung, führen.
55 Konflikttheorie (Nemeth, 1986):
55 Bei der Auseinandersetzung mit einer Mehrheit gerät die Person unter
Stress, und ihre kognitive Kapazität wird eingeschränkt (= konvergen-
tes Denken).
55 Bei Auseinandersetzung mit einer Minderheit gerät die Person nicht
unter Stress, und ihre kognitive Kapazität bleibt erhalten (= divergentes
Denken).
55 Dieses divergente Denken führt zu einer inhaltlichen Auseinanderset-
zung, die kreative Lösungen begünstigt.
55 Konvergentes Denken begünstigt Mehrheitseinfluss, divergentes Min-
derheiteneinfluss.
55 Persuasionsansatz (z. B. Eagly & Chaiken, 1993):
55 Mehrheitseinflüsse werden anhand ihrer Quelle verarbeitet (passive
Verarbeitung).
55 Minderheitseinflüsse werden anhand ihres Inhalts verarbeitet (aktive
Verarbeitung).
55 Eine Minderheit nimmt Einfluss, wenn die Argumente der Mehrheit
inkongruent und/oder schwach sind.
130 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

. Tab. 3.3  Übersicht über die Faktoren, die den normativen und informativen Einfluss von Majoritäten und Minoritäten modifizieren

Informativer Einfluss Normativer Einfluss

Einfluss von Oberflächliche Informationsverarbeitung: Bei heuris- Personenzahl der Minorität: Je größer die Minorität,
Majoritäten tischer Informationsverarbeitung kommt es eher zu desto geringer ist der Konformitätsdruck (weil sich
Konformität. dann der Druck der Majorität auf mehrere verteilt).
3 Mehrdeutige Situationen: Sie begünstigen soziale Ver- Konsistenz der Majorität: Die Konformität ist am größ-
gleiche und damit den informativen sozialen Einfluss. ten, wenn alle Mitglieder der Majorität der gleichen
Meinung sind (z. B. gaben beim Experiment von Asch
alle die gleiche falsche Linie an).

Krisensituation: In Krisensituationen ist es oft Bedeutsamkeit der Gruppenzugehörigkeit: Je wichti-


erforderlich, schnell eine Situation einzuschätzen. Der ger es einem ist, einer bestimmten Gruppe anzuge-
schnellste Weg ist der soziale Vergleich. hören, umso eher ist man bereit, die eigene Meinung
anzupassen.

Expertenstatus der anderen: Wird die Beurteilungs- Kultur: Kollektivistische Kulturen tendieren eher dazu,
kompetenz der Beeinflussenden als groß wahrgenom- sich normkonform zu verhalten.
men, verlässt man sich eher auf ihr Urteil als auf das
eigene.

Art der Meinungsabgabe: Anonyme Meinungsabgabe führt nicht zu Meinungsanpassung, nur öffentliche.

Bedeutsamkeit eines richtigen Urteils: Je wichtiger es einem ist (z. B. aufgrund von Belohnungsanreizen), ein richti-
ges Urteil abzugeben, umso größer wird der informative Einfluss. Der normative Einfluss nimmt dann jedoch ab.

Gruppengröße: Der Gruppendruck und damit der normative Einfluss steigen, je größer die Majorität ist; auch der
informative Einfluss steigt, aber nur dann, wenn man den Eindruck hat, dass die einzelnen Gruppenmitglieder un-
abhängig voneinander zu ihrem Urteil gekommen sind.

Informativer Einfluss

Einfluss von Konsistenz der Minderheit: Ist die Minderheit sich untereinander einig, hat sie einen größeren Einfluss.
Minoritäten
Flexibler Verhandlungsstil: Die Minderheit sollte zwar konsistent, aber nicht dogmatisch erscheinen, d. h. ein
flexibler Verhandlungsstil führt am ehesten zu sozialem Einfluss.

Motivation: Eine Minderheit nimmt Einfluss, wenn der Empfänger motiviert ist.

Kognitive Kapazität: Eine Minderheit nimmt Einfluss, wenn der Empfänger bereit ist, die Informationen nicht nur
oberflächlich zu verarbeiten.

Größe der Minderheit: Je größer die Minderheit ist, umso eher findet sie andere, die sich ihr anschließen.

Zügiges Gewinnen von Überläufern: Gewinnt die Minderheit schnell Überläufer für sich, kommen weiter Personen
ins Schwanken und lassen sich beeinflussen.

Gute Argumentation: Kann die Minderheit überzeugende Argumente vorbringen, werden andere sich eher davon
beeinflussen lassen.

55 Theorie zum sozialen Einfluss (Latané & Wolf, 1981):


55 Konformität hängt ab von:
–– Stärke/Macht: Wie wichtig ist einem die Gruppe bzw. wie viel
Macht hat die Gruppe?
–– Unmittelbarkeit: Wie nahe ist einem die Gruppe räumlich und
zeitlich?
–– Anzahl: Wie viele Menschen sind in der Gruppe?
55 Wirkungsweise dieser Faktoren:
–– Je mehr die Variablen Stärke und Unmittelbarkeit ausgeprägt
sind, umso größer ist die Konformität.
–– Bei steigender Anzahl der Majorität steigt ebenfalls die Kon-
formität, allerdings hat jede zusätzliche Person in der Gruppe
3.4 • Das Individuum als Teil einer Gruppe
131 3
weniger Einfluss (es macht einen größeren Unterschied, ob vier
oder fünf Personen in der Gruppe sind, als 40 oder 41).
–– Der Minderheiteneinfluss ist dadurch zu erklären, dass die Min-
derheit ihre geringere Anzahl mit Macht ausgleicht.
55 Theorie sozialer Vergleichsprozesse (Festinger, 1954):
55 Die Theorie sozialer Vergleichsprozesse geht davon aus, dass Men-
schen neben ihrem Streben, sich mit anderen zu vergleichen, auch das
Bedürfnis haben, auftretende Abweichungen so zu verändern, dass
Konformität entsteht (7 Abschn. 3.2.1).
55 Dieser Konformitätsdruck wird beeinflusst von:
–– Attraktivität der Gruppe
–– Wichtigkeit einer Meinung, Fähigkeit für eine Gruppe
–– Entfernung vom Modalwert (häufigster Wert) der Gruppe
–– Möglichkeit, Gruppe zu verlassen
–– Möglichkeit, positiven Selbstwert zu ziehen

3.4 Das Individuum als Teil einer Gruppe

Das Minimalkriterium für eine Gruppe ist, dass sie aus mindestens zwei Per-
sonen besteht, die über ein Zusammengehörigkeitsgefühl verfügen. Um grup-
penpsychologische Prozesse zur untersuchen, sind jedoch weitere Aspekte not-
wendig, um eine Gruppe zu definieren:
55 Eine Gruppe besteht aus zwei oder mehr Personen. Sie kann aber nur so
groß sein, dass eine direkte Kommunikation zwischen den einzelnen Mit-
gliedern noch möglich ist (meist ca. 30 Personen), sonst handelt es sich
um eine Masse (7 Abschn. 3.1.1).
55 Die Personen haben ein Zusammengehörigkeitsgefühl.
55 Die Personen haben ein gemeinsames Ziel.
55 Die Personen interagieren miteinander (mit Gruppenmitgliedern mehr
als mit Nicht-Gruppenmitgliedern) und beeinflussen sich gegenseitig.
55 Innerhalb der Gruppe bilden sich Normen oder eine Aufgabenteilung, die
die Interaktion regelt.
55 Die Gruppe existiert über einen längeren Zeitraum.

Gruppen können unterschieden werden, nach:


55 Größe der Gruppe:
55 Dyade: 2 Personen
55 Kleingruppe: 2–6 Personen
55 Gruppe: 3–30 Personen
55 Qualität der Interaktionsbeziehung:
55 Primärgruppe: Sehr persönlich
55 Sekundärgruppe: Eher sachlich
55 Gruppenziel:
55 Aufgabenorientiert: Das Ziel der Gruppe ist es, eine bestimmte Aufga-
be zu erledigen (z. B. Arbeitsteam).
55 Sozial-emotional: Das Ziel der Gruppe ist die Befriedigung sozial-
emotionaler Bedürfnisse (z. B. Freundeskreis).
55 Zeitliche Erstreckung:
55 Kurzfristig: Kurze Dauer
55 Langfristig: Lange Dauer
55 Grad der Formalität:
55 Formell: Durch Strukturen vorgegeben (z. B. Hörer einer Vorlesung)
55 Informell: Spontane Gruppenbildung (z. B. Freunde)
132 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 Nach Zugänglichkeit für neue Mitglieder:


55 Offen: Neue Mitglieder können aufgenommen werden (z. B. Sportver-
ein).
55 Geschlossen: Neue Mitglieder werden nicht ohne weiteres aufgenom-
men (z. B. Therapiegruppe).
55 Nach eigener Zugehörigkeit:
55 Eigengruppe: Gruppe, der man selbst angehört
3 55 Fremdgruppe: Gruppe, der man selbst nicht angehört

3.4.1 Gruppenentwicklung und Gruppensozialisation

Gruppen werden gebildet aus folgenden Gründen:


55 Möglichkeit des sozialen Vergleichs und damit von selbstrelevanten Infor-
mationen (s. auch Theorie sozialer Vergleichsprozesse 7 Abschn. 3.2.1)
55 Möglichkeit des sozialen Austauschs und konkreten Vorteilen aus
der Gruppenzugehörigkeit (s. auch Austausch- und Ressourcentheo-
rien 7 Abschn. 3.3.1)
55 Befriedigung des Bedürfnisses nach sozialem Anschluss und Bindung (s.
auch enge Beziehungen 7 Abschn. 3.3.1)
55 Befriedigung des Bedürfnisses nach positivem Selbstwert und sozialer
Identität (s. auch soziale Identitätstheorie 7 Abschn. 3.2.1)

Zur Gruppenentwicklung bzw. -sozialisation liegen zwei bedeutsame Modelle


vor (. Abb. 3.5; Thomas, 1992; Stangor, 2004):
55 Phasenmodell der Gruppenentwicklung von Tuckman (1965):
55 Es beschäftigt sich mit der Entstehung von Gruppen und betrachtet
Veränderungen der Gruppe als Ganzes.
55 Es postuliert fünf Phasen, die Gruppen durchlaufen:
–– Forming: Phase der Gruppenbildung, gegenseitiges Kennenlernen
–– Storming: Phase der Auseinandersetzung und des Konflikts, Un-
einigkeiten werden diskutiert, Regeln ausgehandelt
–– Norming: Phase der Normbildung, es kommt zu Kohäsion und
positiver Gruppenidentität
–– Performing: Phase der Leistung, die Gruppe erfüllt die ihr gestell-
te Aufgabe
–– Adjourning: Phase der Auflösung
55 Gefahren für die Gruppenentwicklung:
–– In der Storming-Phase besteht die Gefahr, dass die Konflikte zu
groß sind und die Gruppe zerbricht.
–– In der Norming-Phase besteht die Gefahr, dass die Kohäsion zu
groß wird und Groupthink (7 Abschn. 3.4.3) entsteht.
55 Das Phasenmodell wurde kritisiert, weil
–– es keine Aussage über die Dauer der Phasen trifft,
–– es keine Aussagen über Abweichungen vom Schema macht, z. B.
Überspringen von Phasen.
55 Modell der Gruppensozialisation von Moreland und Levine (1982):
55 Es beschäftigt sich mit den Prozessen der Aufnahme neuer Mitglieder
in eine schon bestehende Gruppe und betrachtet die Beziehungen
zwischen der Gruppe und einzelnen Mitgliedern.
55 Es postuliert ebenfalls fünf Phasen, die eine Gruppe durchläuft:
–– Erkundungsphase: Die Gruppe sucht nach neuen Mitgliedern
bzw. eine Einzelperson sucht nach einer Gruppe.
3.4 • Das Individuum als Teil einer Gruppe
133 3

Forming Erkundung

Aufnahme

Storming Sozialisation

Akzeptanz

Norming Aufrechterhaltung

Abweichung

Performing Resozialisierung

Ausschluss

Adjourning Erinnerung

. Abb. 3.5  Übersicht über das Phasenmodell der Gruppenentwicklung nach Tuckman
(links) und das Modell der Gruppensozialisation von Moreland und Levine (rechts).
(links: Nach Tuckman, 1965, Copyright © 1965 by the American Psychological Association.
Reproduced with permission of the publisher and the author. The use of APA information
does not imply endorsement by APA. rechts: Nach Moreland & Levine, 1982, © 1982, with
permission from Elsevier)

–– Sozialisationsphase: Die Gruppe versucht, dem neuen Gruppen-


mitglied alle für die Gruppe wichtigen Einstellungen, Normen
und Verhaltensweisen beizubringen, während das neue Mitglied
versucht, alte Mitglieder so zu verändern, dass die individuellen
Bedürfnisse befriedigt werden.
–– Aufrechterhaltungsphase: Die Rolle des neuen Vollmitglieds wird
ausgehandelt, so dass die Beziehung zwischen ihm und der Grup-
pe möglichst lohnend gestaltet werden kann.
–– Resozialisierungsphase: Kommt es in der Aushandlung und Auf-
rechterhaltung der Rolle zu Konflikten, ist eine erneute Annähe-
rung wie in der Sozialisationsphase notwendig; sind die Diskre-
panzen jedoch zu groß, wird das Mitglied ausgeschlossen.
–– Erinnerungsphase: Sie umfasst die Zeit nach der Mitgliedschaft,
in der sich die Gruppe bzw. der Einzelne an die Gruppenmit-
gliedschaft erinnert, verbunden mit Gefühlen der Wehmut, des
Verletztseins oder Erfahrungen und Erkenntnissen.
55 Darüber hinaus werden auch vier Rollenübergänge postuliert, die ein
Mitglied von einer Phase in die andere überleiten und in denen sich
die Beziehung zwischen dem Mitglied und der Gruppe verändert:
–– Aufnahme (Initiation): Die Gruppe akzeptiert den Anwärter
als Gruppenmitglied, diese Initiation wird oft durch ein Ritual
gekennzeichnet (Übergang von Erkundungs- zu Sozialisations-
phase).
–– Akzeptanz: Das neue Mitglied wird als Vollmitglied anerkannt, es
bekommt Zugang zu neuen Information, und sein Verhalten wird
weniger streng überwacht (Übergang von Sozialisations- zu Auf-
rechterhaltungsphase).
–– Abweichung: Innerhalb der Phase der Aufrechterhaltung kann
es sein, dass es zu einer Abweichung kommt, d. h. einer Dis-
krepanz zwischen der Rollenvorstellung der Gruppe und der des
134 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

Einzelnen, so dass erneut Normen ausgehandelt werden müssen


(Übergang von Aufrechterhaltungs- zu Resozialisierungsphase).
–– Ausschluss: Das Gruppenmitglied verlässt die Gruppe (Übergang
von Resozialisierungs- zu Erinnerungsphase).

3.4.2 Strukturen innerhalb einer Gruppe


3
Wie bei der Betrachtung der Entwicklung von Gruppen bereits deutlich ge-
worden ist, spielt das Herausbilden von Normen eine wesentliche Rolle bei
diesem Prozess. Normen sind eine notwendige Bedingung dafür, dass eine
Ansammlung von Menschen zu einer Gruppe wird – gelingt es nicht, einen
gemeinsamen Regelkonsens zu finden, zerbricht die Gruppe oder kommt gar
nicht erst zustande. Darüber hinaus ist die Zuweisung von Rollen innerhalb
der Gruppe ein wichtiger Entwicklungsschritt, der sich schließlich im Status
der einzelnen Personen sowie in verschiedenen Kommunikationsmustern wi-
derspiegelt. Diese drei strukturgebenden Elemente (Normen, Rollen, Kommu-
nikation) werden nun jeweils näher betrachtet.
Eine soziale Norm kann definiert werden als die von den Gruppenmitglie-
dern geteilte Erwartung darüber, wie man sich in einer bestimmten Situation
verhalten muss oder wie man denken soll. Eine soziale Norm ist somit eine
gruppenspezifische Verhaltens- oder Einstellungsregel, an die sich jedes Mit-
glied unabhängig von seiner Rolle halten muss. Normen geben damit Orien-
tierung und Stabilität sowohl innerhalb von Gruppen als auch allgemein in
sozialen Situationen.
Es können folgende Arten von Normen unterschieden werden:
55 Deskriptive Normen: Sie umfassen das, was andere in bestimmten Situa-
tionen tun und welches Benehmen als normal gilt, unabhängig davon, ob
das Verhalten von der Gruppe als richtig oder gut bewertet wird.
55 Präskriptive (injunktive) Normen: Sie umfassen ein ausdrückliches Wert-
urteil, welches Verhalten in welcher Situation angemessen ist (z. B. Res-
pekt vor dem Alter).
55 Subjektive Normen: Eine Person glaubt, dass ein bestimmtes Verhalten
von seiner unmittelbaren Umwelt erwartet wird.

Normen können auf verschiedenen Ebenen existieren und dabei einander wi-
dersprechen (z. B. gesellschaftliche Norm vs. Gruppennorm). Normen werden
im Rahmen des Sozialisationsprozesses durch direkte Kommunikation (»Man
macht nicht…«), Bestrafung abweichenden Verhaltens bzw. Belohnung norm-
gerechten Verhaltens (»Weil du so brav warst, bekommst du…«) sowie durch
Übernehmen von einem Vorbild gelernt. Sind die Normen erst einmal inter-
nalisiert, ist oft nicht mehr erkennbar, welches Verhalten die Norm vorschreibt.
Erst wenn jemand von ihr abweicht und diese Abweichung sanktioniert wird,
wird die Norm wieder »sichtbar«.
Eine soziale Rolle kann definiert werden als Gesamtheit der Verhaltens-
erwartungen, die an den Inhaber einer Position herangetragen werden. Eine
soziale Rolle umfasst somit Verhaltensregeln für eine bestimmte Person (im
Gegensatz zu sozialen Normen, die für alle Gruppenmitglieder gelten).
Die soziale Rolle als Strukturelement bringt der Gruppe folgende Vorteile:
55 Sie verschafft Klarheit über den eigenen Aufgabenbereich und erhöht
durch diese Arbeitsteilung die Leistungsfähigkeit der Gruppe insgesamt.
55 Rollen tragen zur Selbstdefinition bei und geben soziale Identität.
55 Sie geben den Handlungsspielraum vor und vermitteln so Sicherheit.
3.4 • Das Individuum als Teil einer Gruppe
135 3

Zentrale Kommunikationsstruktur
Dezentrale
Kommunikationsstruktur

Teilzentrale Kommunikationsstruktur

. Abb. 3.6  Überblick über die verschiedenen Kommunikationsstrukturen in einer Gruppe

Soziale Rollen spielen aber nicht nur innerhalb von Gruppen eine Rol-
le, sondern auch innerhalb von Gesellschaften. Deshalb wird dieses Thema
in 7 Abschn. 3.5.1 nochmal aufgegriffen.
Ein weiteres strukturgebendes Element ist der Status der Gruppenmit-
glieder. Der soziale Status bezeichnet die Stellung einer Person innerhalb der
Gruppe, wobei ein hoher Status mit einem großen sozialen Einfluss einher-
geht. Jemand hat dann einen hohen Status, wenn die anderen ihm einen hohen
Status zuschreiben, d. h. der Status einer Person ergibt sich aus der Bewertung
durch die übrigen Mitglieder.
Der soziale Status eines Mitglieds spiegelt sich oft auch in den Kommunika-
tionsstrukturen wider, da Personen, die wichtige Knotenpunkte im Kommuni-
kationsnetz sind, eine große Informationsmacht haben. Die Kommunikations-
struktur einer Gruppe hat jedoch auch unabhängig vom sozialen Status eine
wichtige Ordnungsfunktion. Sie kann unterschiedlich zentral sein (. Abb. 3.6;
Rosenstiel, 1995; Pfetsch, 2007):
55 Zentrale Strukturen:
55 Es gibt eine zentrale Person, über die alle Kommunikation läuft und
die relevante Entscheidungen trifft.
55 Auswirkungen:
–– Diese Gruppen arbeiten sehr schnell und genau.
–– Die Gruppenmitglieder sind nur wenig zufrieden (außer die
zentrale Person).
–– Die Gruppe kann nicht flexibel auf Aufgabenveränderungen
reagieren.
55 Teilzentrale Strukturen:
55 Es gibt eine zentrale Person, die als Vermittlungspunkt zwischen
Untergruppen dient, innerhalb der Untergruppen ist die Kommunika-
tion jedoch nicht zentral.
136 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 Auswirkungen:
–– Diese Gruppen arbeiten etwas langsamer als solche mit absolut
zentralen Strukturen, aber immer noch zügig und ziemlich genau.
–– Die Gruppenmitglieder sind nur wenig zufrieden (außer die
zentrale Person).
–– Die Gruppe ist nur wenig flexibel.
55 Dezentrale Strukturen:
3 55 Alle kommunizieren mit allen, keiner hat eine zentrale Position.
55 Auswirkungen:
–– Diese Gruppen arbeiten eher langsam und weniger genau.
–– Alle Gruppenmitglieder sind zufrieden.
–– Die Gruppe kann flexibel auf Aufgabenveränderungen reagieren.

3.4.3 Auswirkungen der Gruppensituation

Gruppenleistung
Gruppen werden gebildet, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen bzw. eine
gemeinsame Aufgabe zu lösen. Dabei hängt es auch von der Art der Aufgabe
ab, ob und wie wir von der Gruppe profitieren können. Ein wichtiges Maß ist
dabei die sog. potenzielle Produktivität, d. h. die maximal denkbare Leistungs-
fähigkeit der Gruppe. Es können folgende Gruppenaufgaben unterschieden
werden (Wilke & Wit, 2002):
55 Additiv: Dies bezeichnet eine Gruppenaufgabe, die gelöst werden kann,
indem die Beiträge aller Mitglieder zusammen addiert werden a poten-
zielle Produktivität = Summe der Einzelleistungen (z. B. Rasen mähen).
55 Disjunktiv: Dies bezeichnet eine Gruppenaufgabe, bei der die richtige
Lösung aus allen vorgeschlagenen Lösungen ausgewählt werden muss
a potenzielle Produktivität = Leistung des kompetentesten Mitglieds
(z. B. Rätsel lösen).
55 Konjunktiv: Dies bezeichnet eine Gruppenaufgabe, die von allen Mitglie-
dern erfolgreich ausgeführt werden muss a potenzielle Produktivität =
Leistung des schwächsten Mitglieds (z. B. Radtour).

Die Gruppensituation kann sich auf zwei möglichen Wegen auf die Leistungs-
fähigkeit des Einzelnen auswirken: Entweder es kommt zu Prozessgewinnen,
d. h. die Leistung des Einzelnen in der Gruppensituation ist größer als wenn er
alleine die Aufgabe bearbeiten würde (soziale Erleichterung); oder es kommt
zu Prozessverlusten, d. h. die Leistung des Einzelnen nimmt in der Gruppen-
situation proportional zur Gruppengröße ab (soziale Hemmung, Ringelmann-
Effekt). Beispiele für Prozessgewinne sind:
55 Soziale Kompensation:
55 Fähigere Gruppenmitglieder strengen sich mehr an, um die geringere
Leistung von weniger fähigen oder weniger motivierten Mitgliedern
auszugleichen.
55 Das passiert allerdings nur dann, wenn das Gruppenergebnis für die
Person persönlich wichtig und der eigene Beitrag zur Gruppenleistung
nicht identifizierbar ist.
55 Unverzichtbarkeit (auch Köhler-Effekt):
55 Das schwächste Mitglied einer Gruppe ist besonders motiviert, gute
Leistung zu erbringen, um die Gruppe nicht auszubremsen.
3.4 • Das Individuum als Teil einer Gruppe
137 3
55 Seine Leistungssteigerung ist dann am größten, wenn der Abstand
zu den anderen Mitgliedern mittelgroß ist und der eigene Beitrag zur
Gruppenleistung als wesentlich wahrgenommen wird.
55 Gegenseitige Inspiration: Die Mitglieder einer Gruppe bringen sich
gegenseitig auf neue Ideen.
55 Sozialer Wettbewerb: Die Konfrontation mit einer anderen Gruppe führt
dazu, dass sich die Mitglieder mehr anstrengen, um sich von der anderen
Gruppe abzuheben.

Obwohl Gruppen sehr oft gebildet werden, um eine höhere Gruppenleistung


zu erzielen, kommt es innerhalb der Gruppe oft zu Produktivitätsverlusten
(Gollwitzer & Schmitt, 2006). Diese Leistungseinbuße kann in folgender For-

mel dargestellt werden: Produktivitatsverlust = potenzielle Produktivitat
 −
Motivationsverlust − Koordinationsverlust.
55 Koordinationsverluste:
55 Produktionsblockierung: Dadurch, dass erst andere ihre Ideen mitteilen,
ist man von seinen eigenen Ideen abgelenkt und vergisst sie wieder.
55 Sie nehmen mit der Gruppengröße zu.
55 Sie treten oft bei Brainstorming auf.
55 Motivationsverluste:
55 Soziales Faulenzen:
–– Die Anstrengung des Einzelnen verringert sich in großen Grup-
pen, da der eigene Beitrag nicht identifizierbar ist.
–– Es tritt hauptsächlich bei einfachen Aufgaben auf. Bei schwieri-
gen Aufgaben kann die Nicht-Identifizierbarkeit des eigenen Bei-
trags positive Effekte haben, da man sich dann eher traut, einen
Vorschlag zu machen, der ungewöhnlich scheint.
55 Trittbrettfahren:
–– Einer investiert wenig in die Gruppenleistung, profitiert aber viel
von ihr auf Kosten derjenigen, die viel investieren.
–– Die Anstrengung des Einzelnen verringert sich, da der eigene
Beitrag mit steigender Gruppengröße als weniger wichtig ein-
gestuft wird.
55 Gimpel-Effekt: Die Anstrengung des Einzelnen verringert sich, weil er
annimmt, dass sich die anderen auch nicht mehr anstrengen.
55 Verantwortungsdiffusion: Die einzelnen Personen einer Gruppe fühlen
sich für die Gruppenleistung weniger verantwortlich als wenn jeder für
sich an der Aufgabe arbeiten würde.
55 Soziale Vergleichsprozesse: Man orientiert sich an der Durchschnitts-
leistung der Gruppe und leistet nicht mehr als die anderen (und nicht
die persönliche Maximalleistung).
55 Bewertungsangst: Man hat Angst, schlecht bewertet zu werden und
äußert deshalb eine von der Gruppenmeinung abweichende Idee nicht.

Um die Gruppenleistung trotz dieser Motivations- und Koordinationsverluste


zu verbessern, kann man:
55 Kommunikation innerhalb der Gruppe verbessern
55 durch kleine Gruppen,
55 durch klare Rollen und klare Hierarchien,
55 durch konkrete Ziele.
138 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 Motivation erhöhen
55 durch ein gerechtes Belohnungssystem,
55 indem man die Gruppenmitglieder an der Zielsetzung für die Gruppe
beteiligt.

Gruppenentscheidungen
Auch bei Gruppenentscheidungen kommt es zu einschränkenden Effekten, die
3 dazu führen, dass die Entscheidung schlechter ist als sie sein könnte (Vogelge-
sang, Mojzisch & Schulz-Hardt, 2006; Werth & Mayer, 2008):
55 Effekt des gemeinsamen Wissens (auch Hidden-Profile):
55 Das Phänomen:
–– In jeder Entscheidungssituation gibt es Argumente, die jedem in
der Gruppe bekannt sind (geteilte Argumente), und solche, die
nur einem Mitglied bekannt sind (ungeteilte Argumente).
–– Von einer Hidden-Profile-Situation spricht man dann, wenn
die ungeteilten Argumente eine andere Entscheidung nahelegen
als die geteilten Argumente, d. h. dass die beste Entscheidung
nur dann getroffen werden kann, wenn alle Gruppenmitglieder
die ihnen bekannten Argumente in der Gruppendiskussion
offenlegen.
–– In Gruppendiskussionen kommt es jedoch oft zu dem Effekt,
dass die ungeteilten Argumente nicht zur Sprache kommen oder
weniger Aufmerksamkeit erhalten, man konzentriert sich statt-
dessen auf das gemeinsame Wissen.
55 Mögliche Erklärung:
–– Es ist statistisch wahrscheinlicher, dass geteilte Informationen zur
Sprache kommen.
–– Es entsteht normativer Druck, da Personen, die geteiltes Wissen
äußern, dafür Bestätigung und Zustimmung ernten und damit als
kompetentes Gruppenmitglied wahrgenommen werden.
–– Bewertungsangst: Der Einzelne hat Angst, sich zu blamieren oder
kritisiert zu werden, und behält deshalb ein von der Gruppe ab-
weichendes Argument für sich.
55 Möglichkeiten, dem Effekt entgegenzuwirken:
–– Mehr Zeit zur Verfügung stellen.
–– Einzelnen Gruppenmitgliedern die Verantwortung für einen Teil-
bereich explizit zuteilen (= transaktives Gedächtnissystem).
–– Meinungsheterogenität schaffen: Gibt es in der Gruppe bereits
einen Abweichler, der eine andere Meinung als die Gruppe ver-
tritt, so nennen auch andere eher ihr verstecktes Wissen.
–– Aufgabenstellung modifizieren: Man kann den Informationsaus-
tausch der ungeteilten Argumente fördern, indem man von der
Gruppe eine Rangfolge aller möglichen Alternativen verlangt
anstatt nur eine endgültige Entscheidung.
55 Gruppenpolarisierung:
55 Eine im Anschluss an eine Gruppendiskussion auftretende Meinungs-
änderung in Richtung der Extremausprägungen (im Vergleich zur
Meinung des Individuums vor der Diskussion)
55 Erklärungen:
–– Konformität/normativer Einfluss: Durch das Äußern einer extre-
meren Position dessen, was schon Gruppenmeinung ist, erhoffen
sich die Gruppenmitglieder Zustimmung und Bestärkung.
3.4 • Das Individuum als Teil einer Gruppe
139 3
–– Persuasive Argumente bzw. Confirmation bias: Während der
Gruppendiskussion nimmt man vorwiegend die Argumente wahr,
die die bisherige Meinung bestätigen, d. h. dass die vorherige Mei-
nung durch neue bestätigende Argumente weiter unterstützt wird.
–– Wiederholtes Äußern: Die wiederholte Äußerung der eigenen
Argumente bestätigt die eigene Meinung (mehr als das Hören
dieser Argumente).
55 Groupthink/Gruppendenken:
55 Groupthink bezeichnet das exzessive Streben nach Harmonie in der
Gruppe auf Kosten einer kritischen Informationsverarbeitung, d. h.
durch überstarkes Wir-Gefühl entsteht ein so hoher Konformitätsdruck,
dass die Gruppe ihren Leistungsvorteil einbüßt und schlechte Entschei-
dungen trifft.
55 Risikofaktoren für Groupthink:
–– Ungünstige situative Bedingungen: Zeitdruck und Stress
–– Hohe Kohäsion innerhalb der Gruppe
–– Strukturelle Mängel, z. B. direkte Führung, Fehlen von Normen für
das Vorgehen bei Entscheidungen, Ignorieren externer Experten
55 Symptome von Groupthink:
–– Selbstüberschätzung, z. B. Gefühl von Unverwundbarkeit
–– Engstirnigkeit, z. B. zweifelloser Glaube an die Richtigkeit der
getroffenen Entscheidung; Tendenz, entscheidungskonträre In-
formationen zu ignorieren
–– Konformitätsdruck, z. B. Tendenz, anders Denkende unter Druck
zu setzen; Illusion der Einstimmigkeit
55 Folge: Man fühlt sich zu sicher und begeht daher folgende Fehler:
–– Unzureichende Informationssuche
–– Mangelnde Beachtung von Alternativen
–– Fehlende Entwicklung von Notfallplänen
–– Keine Überprüfungsschleife der gewählten Alternative
55 Kritik an Groupthink: Groupthink ist empirisch nur teilweise belegt,
da nur für die strukturellen Risikofaktoren eine Kausalbeziehung mit
der Entstehung von Groupthink nachgewiesen werden konnte (nicht
jedoch für Kohäsion).

Konflikt, Kooperation und Wettbewerb


Menschen schließen sich zu Gruppen zusammen, weil sie ein gemeinsames
Ziel verfolgen. Ziele sind jedoch meist nicht ohne Hürden erreichbar, sondern
stehen mit anderen Zielen im Widerspruch. Dadurch bringt die Gruppen-
situation häufig auch Konflikte mit sich. Konflikte können definiert werden
als wahrgenommene Unvereinbarkeit von Zielen. Sie können innerhalb einer
Person entstehen, zwischen zwei oder mehr Personen, zwischen einer Per-
son und einer Gruppe oder zwischen Gruppen. In Konfliktsituationen gibt es
grundsätzlich zwei Verhaltensmöglichkeiten:
55 Kooperation: Verhalten, dass den Output für alle am Konflikt beteiligten
maximiert
55 Wettbewerb: Verhalten, dass den eigenen Output gegenüber den anderen
maximiert

Situationen, in denen es i. d. R. immer zu Wettbewerb kommt, sind Null-Sum-


men-Situationen, d. h. Situationen, in denen das Interesse eines Individuums
völlig mit dem eines anderen in Konflikt steht (z. B. bei Wettkämpfen kann nur
einer gewinnen).
140 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

Ein für Sozialpsychologen besonders interessanter Konflikt ist das soziale


Dilemma, bei dem die individuell beste Lösung die schlechteste Lösung für
die Gruppe darstellt, und zwar umso mehr, je mehr Personen sich egoistisch
verhalten. Daraus folgt: Bei einem sozialen Dilemma ist es sehr riskant, sich
kooperativ zu verhalten, weil das ein hohes Risiko für den Einzelnen beinhaltet
und hohe Kosten bedeutet, wenn sich die anderen nicht kooperativ verhalten.
Wichtige soziale Dilemmata sind (von Lange & De Dreu, 2002; Gollwitzer
3 & Schmitt, 2006; Mosler & Brucks, 2006):
55 Gefangenendilemma (. Abb. 3.7):
55 Damit werden Situationen bezeichnet, in denen es um die Verteilung
von Gewinnen und Verlusten geht.
55 Zwei Personen werden eines Verbrechens verdächtigt, das man ihnen
aber nicht nachweisen kann, wenn nicht zumindest einer von beiden
eine Aussage macht.
55 Beide werden getrennt voneinander verhört, und es gelten folgende
Bedingungen:
–– Wenn einer von beiden die Tat gesteht, geht er straffrei aus, und
der andere bekommt zehn Jahre Haft.
–– Wenn beide die Tat gestehen, erhalten beide eine Haftstrafe von
fünf Jahren.
–– Wenn beide leugnen, bekommen beide eine Haftstrafe von einem
Jahr.
55 Der Einzelne muss sich deshalb zwischen den Alternativen entscheiden:
–– Freiheit oder fünf Jahre Haft (individuell beste Wahl)
–– Ein Jahr Haft oder zehn Jahre Haft (sozial beste Wahl)
–– Die meistens gewählte Lösung lautet: Da die Kooperation in die-
sem Fall ein großes Risiko beinhaltet, gestehen beide.
55 Ressourcendilemma (auch Nutzungsdilemma, soziale Falle; . Abb. 3.8):
55 Dies bezeichnet Situationen, in denen es um die Nutzung einer vor-
handenen Ressource geht.
55 Kurzfristig ist es für jedes Individuum attraktiv, die Ressource so viel
wie möglich zu nutzen, langfristig führt das jedoch für alle zu hohen
Kosten (z. B. die Überfischung der Meere bringt kurzfristig für den
Fischer mehr Ertrag, beinhaltet jedoch langfristig für alle hohe Ein-
bußen).
55 Kollektivgutdilemma, (auch Beitragsdilemma, soziale Hürde; . Abb. 3.9):
55 Dies bezeichnet Situationen, in denen es um den Beitrag eines Indivi-
duums zu einem Kollektivgut geht.
55 Kurzfristig ist es für jedes Individuum unattraktiv, die Investition zu
leisten, langfristig profitieren jedoch alle davon (z. B. das Zahlen von
Steuern ist kurzfristig für alle unattraktiv, kann langfristig aber für
soziale Einrichtungen genutzt werden).

Um ein soziales Dilemma bzw. Konflikte zu lösen, sind prinzipiell folgende


Möglichkeiten denkbar:
55 Kommunikation ermöglichen (z. B. im Gefangenendilemma). a Dies ist
jedoch keine Garantie für kooperatives Verhalten.
55 Alle-oder-niemand-Vertrag (z. B. im Kollektivgutdilemma): Es wird ver-
einbart, dass der Beitrag nur dann geleistet werden muss, wenn sich alle
verpflichten, diesen zu leisten.
55 Informationsvermittlung, wie viel der Ressource vorhanden ist und wer
wie viel von der Ressource nutzt. a Dies schafft keine direkten Anreize
für Kooperation, sorgt aber für Transparenz.
3.4 • Das Individuum als Teil einer Gruppe
141 3

Gefangenendilemma

Person 1 Person 2
Wenn du Wenn du
gestehst… gestehst…

Kommunikation
möglich
Keine

Individuell beste Wahl


Sozial beste Wahl
Einer gesteht und der andere
Beide gestehen nicht
gesteht nicht
 Beide bekommen 1 Jahr
 Einer kommt frei, der
Haft
andere bekommt 10 Jahre Haft

. Abb. 3.7  Überblick über das Gefangenendilemma inklusive des Konflikts zwischen
individuell und sozial bester Wahl

Nutzungsdilemma

? ?
Ressource
? ?

Individuell beste Wahl


Sozial beste Wahl
Einer beutet die Ressource aus,
während alle anderen sparsam Alle gehen sparsam mit der
mit ihr umgehen Ressource um
 Der Einzelne hat kurzfristig  Alle können langfristig die
einen großen Vorteil, schadet Ressource nutzen
langfristig aber allen

. Abb. 3.8  Überblick über das Nutzungsdilemma inklusive des Konflikts zwischen
individuell und sozial bester Wahl

55 Strukturelle Lösungen: Sie zielen darauf ab, das Verhalten des Kollektivs
zu ändern, indem man z. B. Belohnungs-/Bestrafungsstrukturen einführt.
a Dies schafft direkte Anreize, sich kooperativ zu Verhalten.
142 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

Beitragsdilemma

? ?
Ressource

3 ? ?

Individuell beste Wahl


Sozial beste Wahl
Einer leistet keinen Beitrag,
Alle leisten den Beitrag
alle anderen schon
 Alle haben kurzfristige
 Der Einzelne hat kurzfristig
Kosten und profitieren
keine Kosten, profitiert aber
langfristig von den investierten
langfristig von den investierten
Beiträgen
Beiträgen der anderen

. Abb. 3.9  Überblick über das Beitragsdilemma inklusive des Konflikts zwischen indivi-
duell und sozial bester Wahl

55 Intervention durch einen Dritten, der folgende Rollen einnehmen kann


(Sheppard):
55 Inquisitor: Er hat Entscheidungs- und Prozesskontrolle.
55 Schiedsrichter: Er hat nur Entscheidungskontrolle.
55 Vermittler: Er hat nur Prozesskontrolle.
55 Anreger: Er hat weder Entscheidungs- noch Prozesskontrolle.

3.4.4 Intergruppenbeziehung

Unter Intergruppenbeziehung versteht man das Verhalten zwischen verschie-


denen Gruppen (Brown, 2002; Gollwitzer & Schmitt, 2006; Wagner, 2006).
Diese Interaktionen sind im Allgemeinen eher von Wettbewerb als von Ko-
operation geprägt (= Diskontinuitätseffekt). Zwei typische Studien zum Inter-
gruppenkonflikt sind:
55 Robbers-Cave-Experiment von Sherif et al. (1961)
55 Aufbau:
–– Während eines Ferienlagers werden Jungen zufällig zu je einer
Gruppe zugeteilt.
–– In der ersten Woche beschäftigen sich die Jungen mit Aktivitäten,
die den Zusammenhalt förderten (z. B. Wandern, eine Fahne für
die Gruppe basteln).
–– In der zweiten Woche werden die Gruppen miteinander konfron-
tiert, es werden Wettkämpfe zwischen beiden organisiert, und es
wird eine Belohnung für den Sieger in Aussicht gestellt.
55 Ergebnisse:
–– Innerhalb der eigenen Gruppe (Ingroup) kommt es zu unterstüt-
zendem und freundlichem Verhalten.
3.4 • Das Individuum als Teil einer Gruppe
143 3
–– Gegenüber der Fremdgruppe (Outgroup) kommt es zu massiven
Feindseligkeiten, was sich z. B. in Überfällen und körperlichen
Attacken äußert.
55 Erklärung und Interpretation: Aufgrund der Knappheit der vorhande-
nen Ressourcen (z. B. wer darf wann auf das Baseballfeld, Belohnung
des Wettkampfs) kommt es zu Wettbewerb zwischen den Gruppen
und zur Abwertung der Outgroup.
55 Klee-und-Kandinsky-Experiment von Tajfel et al. (1971; Minimalgruppen-
paradigma):
55 Aufbau:
–– Man zeigt Schülern abstrakte Bilder der Maler Klee und Kandins-
ky und fragt jeweils, welches ihnen besser gefällt.
–– Anschließend meldet man ihnen zurück, das Ergebnis dieses
Tests sei, dass sie eine Klee- oder eine Kandinsky-Präferenz ha-
ben – tatsächlich ist diese Zuteilung jedoch zufällig und dient nur
dazu, die Gruppenzugehörigkeit glaubhaft zu machen.
–– Nun sollen die Probanden Geldbeträge auf Personen (nicht sich
selbst) aufteilen, die sie nicht zu Gesicht bekommen und von
denen nur die Gruppenzugehörigkeit bekannt ist.
55 Ergebnisse:
–– Wird ein Geldbetrag zwischen zwei Ingroup-Mitgliedern aufge-
teilt, verläuft die Geldaufteilung fair.
–– Wird der Betrag zwischen einem Ingroup und einem Outgroup-
Mitglied aufgeteilt, versuchen die Teilnehmer, die Differenz zu
maximieren und das eigene Mitglied zu bevorzugen.
55 Erklärung und Interpretation: Allein die Zugehörigkeit zu einer Grup-
pe löst sozialen Wettbewerb aus.

Auf die Frage nach den Ursachen für Gruppenkonflikte versuchen folgende
Theorien Antwort zu geben:
55 Theorie des realistischen Gruppenkonflikts (Sherif, 1966):
55 Gruppenkonflikte spiegeln reale Interessenskonflikte um die Vertei-
lung von Ressourcen wider, d. h. es kommt nur dann zu Gruppenkon-
flikten, wenn es einen Wettbewerb um Ressourcen gibt.
55 Der Gruppenkonflikt ist umso größer, je knapper die Ressourcen sind.
55 Als Folge entstehen Feindseligkeit, Vorurteile und Diskriminierung.
55 Selbstkategorisierungstheorie (Turner et al., 1987):
55 Gruppenkonflikte entstehen, weil sich die einzelnen Individuen als
Gruppenmitglied und nicht als Individuum kategorisieren.
55 Entstehung des Konflikts:
–– Eine Situation wird als Gruppensituation wahrgenommen, und
zwar umso eher, je offensichtlicher (salienter) Unähnlichkeiten
zwischen den Gruppen sind.
–– In der Folge kommt es zu Depersonalisation, d. h. das Individu-
um sieht sich nicht mehr als einzigartiges Individuum, sondern
als austauschbares Gruppenmitglied.
–– Diese Depersonalisation hat intergruppales Verhalten zur Folge,
d. h. man verhält sich im Interesse der Gruppe (z. B. Aufwertung
der Eigen- und Abwertung der Fremdgruppe).
55 Soziale Identitätstheorie (Tajfel & Turner, 1979, 1986; 7 Abschn. 3.2.1):
55 Es kommt deshalb zu Intergruppenkonflikten, weil die Personen dar-
aus ihre soziale Identität erhalten.
144 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 In der Folge kommt es zu Verzerrung bei sozialen Vergleichen, die eine


möglichst positive soziale Distinktheit bewirken sollen.
55 Theorie der optimalen Distinktheit (Brewer):
55 Wie die soziale Identitätstheorie nimmt auch die Theorie der optima-
len Distinktheit an, dass es in Gruppenkonflikten darum geht, sich
optimal von der Fremdgruppe zu unterscheiden.
55 Optimale Distinktheit heißt gemäß dieser Theorie, dass die beiden
3 folgenden Bedürfnisse gleichermaßen befriedigt sein müssen:
–– »need for inclusion«: Aufnahmebedürfnis, Bedürfnis nach Zuge-
hörigkeit zu einer Gruppe
–– »need for differentiation«: Unterscheidungsbedürfnis, Bedürfnis
nach Distinktheit von anderen Menschen

Das Interesse an den Ursachen für Intergruppenkonflikte zielt darauf ab, Stra-
tegien zu entwickeln, um diese Konflikte zu reduzieren. Denn dass es Grup-
penkonflikte gibt, ist im Alltag offensichtlich – für die Praxis ist jedoch viel-
mehr die Frage nach Lösungsstrategien relevant:
55 Kontakthypothese (Allport, 1954):
55 Der reine Intergruppenkontakt in Nicht-Konflikt-Situationen reduziert
Vorurteile.
55 Ideale Kontaktbedingungen sind:
–– Gleicher Status zwischen den Personen, die sich begegnen
–– Situationen, die Kooperation erfordern, d. h. beide Gruppen
haben ein Ziel, das nur gemeinsam erreicht werden kann
–– Unterstützung des Intergruppenkontakts durch Autoritäten
–– Ausreichend Zeit
55 Modell der Dekategorisierung (Brewer & Miller, 1984):
55 Kreuzkategorisierung: Eigen- und Fremdgruppe werden zu neuen
Gruppen gemischt, wobei die neue Kategorie so arrangiert wird, dass
sie die alten Gruppen durchmischt. Auf diese Weise wird den Grup-
penmitgliedern klar, dass man immer nur hinsichtlich eines Merkmals
innerhalb einer Gruppe homogen sein kann und hinsichtlich eines
anderen gemischt (z. B. Kategorisierung nach Geschlecht oder Katego-
risierung nach Augenfarbe).
55 Personalisierung: Auflösung der Kategorisierung, indem die Wahrneh-
mung von Outgroup-Mitgliedern als Individuen gefördert wird (z. B.
indem man über Meinungsunterschiede innerhalb der Fremdgruppe
informiert).
55 Rekategorisierung (Turner, 1981): Betonung der Zugehörigkeit zu einer
übergeordneten Kategorie, zu der beide Gruppen dazugehören (z. B. alle
sind Schüler der gleichen Schule).
55 Modell der wechselseitigen Differenzierung (Hewstone & Brown, 1986):
55 Man stellt den Gruppen mehr Vergleichsdimensionen zur Verfügung,
so dass beide die Erfahrung machen, in einer Dimension der anderen
Gruppe überlegen zu sein.
55 Durch die Setzung eines gemeinsamen Ziels, bei dem die Gruppen
ihre jeweiligen Stärken unter Beweis stellen können, wird der Effekt
noch verstärkt.
55 Auf diese Weise können beide Gruppen ihre positive soziale Distinkt-
heit aufrechterhalten, ohne dass das mit einer Abwertung der anderen
Gruppe einhergehen muss (die Outgroup ist nicht besser oder schlech-
ter, sondern anders).
3.5 • Das Individuum in der Gesellschaft
145 3

Rollenstress Rollendruck
Rolle

Hürde
Rollendistanz vs. Rolleninvolviertheit Rollenambiguität
Rolle Rolle
? ? Rolle
?

Rollen- Rollen-
distanz involviertheit

. Abb. 3.10  Übersicht über die rollentheoretischen Konzepte Rollenstress vs. Rollen-
druck, Rollendistanz vs. Rolleninvolviertheit und Rollenambiguität

3.5 Das Individuum in der Gesellschaft

Wie bereits in der Einführung zu diesem Kapitel  deutlich wurde, hat die So-
zialpsychologie den gesellschaftlichen Untersuchungsbereich bislang wenig
beachtet. Deshalb finden sich im Folgenden lediglich einige ausgewählte The-
men: Rollen als internalisierte Erwartungen der Gesellschaft, Gerechtigkeit als
wichtige soziale Norm, Vorurteile und Diskriminierung, kollektive Gewalt und
sozialer Wandel.

3.5.1 Rollen als internalisierte Erwartungen der


Gesellschaft

Die Gesellschaft lebt und wirkt im Einzelnen v. a. durch internalisierte Nor-
men und Rollenerwartungen. Der Einfluss, den Normen haben können,
wurde bereits eingehend unter dem Stichwort »passiver soziale Einfluss«
(7 Abschn. 3.3.4) erläutert. Der Rollenbegriff soll nun aufgegriffen werden.
Rollen sind Verhaltenserwartungen an Personen in einer bestimmten Posi-
tion. Darüber, wie flexibel eine Rolle vom Rollenträger ausgestaltet werden
kann, liegen verschiedene Auffassungen vor (Rechtien, 2003; Gollwitzer &
Schmitt, 2006):
55 Role-taking: Der Rolleninhaber kann seine Rolle nicht verändern, er
übernimmt die Rolle so, wie sie ist. a Die Rolle ist durch die Struktur und
die Gruppe vorgegeben.
55 Role-making: Der Rolleninhaber kann seine Rolle frei ausgestalten. a Die
Rolle ist nicht durch die Struktur vorgegeben, vielmehr wird sie durch
den Einzelnen bestimmt.
55 Rolle als Skript: Die Rolle legt prototypisches Verhalten in prototypischen
Situationen fest. a Die Rolle dient als Handlungsrichtlinie, im Einzelfall
entscheidet jedoch das Individuum, welche Verhaltensweise die richtige ist.

Folgende rollentheoretische Begriffe sollte man kennen:


55 Rollenstress vs. Rollendruck (. Abb. 3.10):
146 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

Interpersonaler Intrapersonale Rollenkonflikte


Rollenkonflikt
Interrollenkonflikt Intrarollenkonflikte Rolle-Selbst-Konflikt

E E

Selbst
3

Intersenderkonflikt
Legende:
E

E
= Rollenträger

E = Erwartungen, die an den


Rollenträger gestellt werden Intrasenderkonflikt

. Abb. 3.11  Übersicht über die verschiedenen Rollenkonflikte

55 Rollenstress (subjektiver Aspekt): Es kommt bei der Erfüllung der


Rollenerwartung zu Problemen.
55 Rollendruck: Objektiver Aspekt
55 Rollenambiguität:
55 Der Rollenträger ist sich unsicher über die Erwartungen, die an ihn
gestellt werden.
55 Es kommt z. B. zu Rollenambiguität, wenn eine Gruppe einer Person
eine Rolle zuweist, aber nicht genügend Informationen über diese
Rolle gibt.
55 Rolleninvolviertheit vs. Rollendistanz:
55 Rolleninvolviertheit: Die Person identifiziert sich sehr stark mit ihrer
Rolle und kann sich schwer von ihr lösen.
55 Rollendistanz: Die Person füllt ihre Rolle aus, kann sich aber auch aus
ihr lösen und eine distanzierte Haltung dazu einnehmen.
55 Rollenkonflikte (. Abb. 3.11):
55 Interpersonaler Rollenkonflikt: Er ergibt sich, wenn zwei Rollenträger
aufeinander treffen, deren Rollenerwartungen miteinander in Konflikt
stehen.
55 Intrapersonaler Rollenkonflikte: Konflikte, die innerhalb eines Indivi-
duums stattfinden.
–– Interrollenkonflikt: Sie treten auf, wenn eine Person gleichzeitig
mehrere Rollen erfüllen muss.
–– Intrarollenkonflikt: Konflikte innerhalb einer Rolle, z. B. weil
verschiedene Personen unterschiedliche Erwartungen an einen
Rollenträger haben (Intersenderkonflikt) oder weil eine Person
widersprüchliche Erwartungen an den Rolleninhaber sendet
(Intrasenderkonflikt).
–– Rolle-Selbst-Konflikt: Die Rollenanforderungen sind mit den
eigenen Normen und Werten unvereinbar.
3.5 • Das Individuum in der Gesellschaft
147 3
Steckt eine Person in einem Rollenkonflikt, z. B. weil sie mehrere Rollen gleich-
zeitig erfüllen muss, deren Verhaltensforderungen einander widersprechen,
muss sie sich für eine der Rollen entscheiden. Welche Faktoren bei dieser Ent-
scheidung wichtig sind, wird in zwei Theorien thematisiert:
55 Rollentheorie (Gross et al., 1958): Die Entscheidung für oder gegen eine
Rolle hängt ab von:
55 Erwartungspezifischen Faktoren:
–– Sanktionierung: Führt die Nicht-Erfüllung der Rollenanforde-
rungen zu Bestrafung?
–– Legitimität: Wie berechtigt und nachvollziehbar sind die mit der
jeweiligen Rolle verbundenen Erwartungen?
55 Personspezifischen Faktoren: Sie modifizieren die erwartungsspezi-
fischen Faktoren.
–– Wertorientierung: Inwiefern lässt man sein Handeln von Normen
leiten? a Je größer die Wertorientierung, desto eher lässt man
sich von der Legitimität einer Rolle überzeugen.
–– Zweckorientierung: Inwiefern lässt man sein Handeln von exter-
nen Reizen leiten? a Je größer die Zweckorientierung, desto eher
lässt man sich von drohenden Sanktionierungen beeinflussen.
55 Theorie der Rollenbilanz (Fetchenhauer, 1994; Wiswede, 1991):
55 Grundannahmen:
–– Menschen versuchen, positive Zustände herzustellen und unan-
genehme zu vermeiden (hedonistisches Menschenbild).
–– Menschen gehen bei Entscheidungen zwischen Alternativen
rational vor.
55 Die Entscheidung für oder gegen eine Rolle hängt davon ab,
–– ob In- und Output einer Rolle in einem günstigen Verhältnis
stehen (Kosten-Nutzen-Bilanz),
–– ob es einen sozial-normativen Druck gibt, die Rolle zu überneh-
men (z. B. durch Bestrafung und Legitimität),
–– wie gut man glaubt, die Rolle erfüllen zu können (wahrgenom-
mene Rollenkompetenz).
55 Diese Faktoren wirken in folgender Form zusammen:
Wahrscheinlichkeit der Übernahmeeiner Rolle = (Kosten –
Nutzen – Bilanz + Normativer Druck) * Rollenkompetenz

3.5.2 Gerechtigkeit als soziale Norm

Gerechtigkeit ist eine für unser soziales Handeln bedeutsame Norm. Die Theo-
rie des Gerechte-Welt-Glaubens (Lerner, 1980) geht davon aus, dass Menschen
das Bedürfnis haben, zu glauben, dass sie in einer gerechten Welt leben. Die
Beobachtung von Ungerechtigkeit führt zu Dissonanz und muss beseitigt wer-
den, damit wir diese Überzeugung schützen können. Die Vorstellung, dass die
Welt gerecht sei, gibt uns Sicherheit im Alltag und motiviert uns, soziale Nor-
men und Regeln einzuhalten, auch wenn Abweichungen nicht sofort bestraft
werden. Doch was empfinden wir als gerecht?
Zunächst können verschiedene Arten von Gerechtigkeit unterschieden
werden (Gollwitzer & Schmitt, 2006; Klendauer et al., 2006):
55 Verteilungsgerechtigkeit (distributive Gerechtigkeit):
55 Gerechtigkeit bei der Verteilung von Ressourcen
55 Gerechtigkeit ist dann erreicht, wenn
148 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

–– alle gleich viel von der Ressource (z. B. Bildung) bekommen


(Gleichheitsprinzip),
–– jeder so viel von der Ressource (z. B. Liebe) bekommt, wie er
braucht (Bedürfnisprinzip),
–– jeder so viel von der Ressource (z. B. Geld) bekommt, wie er
geleistet – also verdient – hat (Leistungsproportionalität).
55 Verfahrensgerechtigkeit (prozedurale Gerechtigkeit)
3 55 Gerechtigkeit bei Entscheidungsprozessen
55 Fair-process-effect: Menschen mit schlechtem Outcome sind zufrie-
dener, wenn die Entscheidungen für sie transparent sind und sie die
Möglichkeit zur Mitsprache haben.
55 Grundannahme: Gerechtigkeit ist nicht nur dann erreichbar, wenn
man Einfluss auf das Ergebnis einer Entscheidung hat (Ergebniskont-
rolle), sondern auch wenn man Einfluss auf die Entscheidungsproze-
dur hat (Verfahrenskontrolle).
55 Konkret ist prozedurale Gerechtigkeit dann erreicht, wenn (Prinzipien
von Leventhal)
–– der Betroffene seine Meinung offenlegen kann (Stimme),
–– die Entscheidungsprozedur für alle Menschen gleich ist (Kon-
sistenz),
–– die Entscheidung nicht durch persönliche Meinungen, Stimmun-
gen oder Launen des Entscheidenden beeinflusst wird (Neutralität),
–– alle Informationen, die für die Entscheidung wichtig sind, genau
geprüft werden (Genauigkeit),
–– es die Möglichkeit gibt, eine gefallene Entscheidung nochmal in-
frage zu stellen (Korrigierbarkeit),
–– die Interessen aller betroffenen Personen Beachtung finden (Re-
präsentativität),
–– sich die Entscheidung an grundlegenden moralischen Werten
und Normen orientiert (Ethik).
55 Beispiel aus dem Alltag: Zwei Kinder sollen sich ein Kuchenstück tei-
len. Nach einiger Diskussion einigen sie sich darauf, dass der Eine das
Kuchenstück mit einem Messer in zwei Teile teilen soll, während der
Andere danach als Erster wählen darf, welches Stück er haben möchte.
In diesem Fall haben beide Einfluss auf das Verfahren (d. h. in welche
Größen der Kuchen zerteilt wird), während nur einer Einfluss auf das
Ergebnis hat (d. h. wer welches Kuchenstück bekommt).
55 Interaktionale Gerechtigkeit:
55 Gerechtigkeit bei der sozialen Begegnung
55 Gerechtigkeit ist dann erreicht, wenn
–– man höflich und respektvoll behandelt wird (interpersonale Ge-
rechtigkeit),
–– man die Gründe für eine Entscheidung erfährt (informationale
Gerechtigkeit).
55 Vergeltungsgerechtigkeit (retributive Gerechtigkeit):
55 Gerechtigkeit durch Belohnung und Bestrafung
55 Der Begriff wird v. a. im Hinblick auf Bestrafung genutzt, z. B. nach
einer Normverletzung.
55 Gerechtigkeit ist dann erreicht, wenn die Bestrafung angemessen ist.
55 Eine Bestrafung ist angemessen, wenn
–– sie sich an der vorherigen Tat orientiert, d. h. dass z. B. das Aus-
maß des Schadens und die Schuldfähigkeit des Täters berück-
sichtigt werden,
3.5 • Das Individuum in der Gesellschaft
149 3
55 sie sich an der Funktion, die die Strafe erfüllen soll orientiert, d. h. dass
z. B. die Rückfallgefahr berücksichtigt wird.

Wichtige Gerechtigkeitstheorien sind (Müller & Hassebrauck, 1993; Goll-


witzer & Schmitt, 2006):
55 Equity-Theorie (Adams, 1965):
55 Sie ist entstanden aus Austausch- und Ressourcentheorie.
55 Sie beschäftigt sich damit, wann die Verteilung und der Austausch von
Ressourcen in einer sozialen Beziehung als gerecht angesehen werden
(distributive Gerechtigkeit).
55 Equity: Das Verhältnis von Input und Outcome ist bei beiden Personen
gleich: Out A Out B
=
InA InB

55 Inequity:
–– Nachteilig: Der eigene Quotient ist schlechter als der des anderen.
–– Vorteilig: Der eigene Quotient ist besser als der des anderen.
55 Bewältigung von Inequity:
–– Realistische Strategien: Änderung des eigenen In- oder Outputs
bzw. Änderung des In- oder Outputs des anderen.
–– Kognitive Strategien: Man stellt selbstwertdienliche Verglei-
che an oder wendet die Strategien der Dissonanzreduktion an
(7 Abschn. 3.2.1 und 7 Abschn. 3.2.2).
55 Theorie der relativen Deprivation (z. B. Runciman, 1966) und Theorie
der relativen Privilegierung (z. B. Hoffman, 1976):
55 Sie sind beide entstanden aus der Theorie sozialer Vergleichsprozesse.
55 Sie beschäftigen sich damit, wann es zu einem Gefühl von nachteiliger
oder vorteiliger Ungerechtigkeit kommt.
55 Beide Ungerechtigkeitsgefühle entstehen aus der Diskrepanz zwischen
dem, was man hat, und dem, wozu man sich berechtigt fühlt.
–– Relative Deprivation: Gefühl sozialer Benachteiligung; man
glaubt, weniger zu haben als man verdient.
–– Relative Privilegierung: Gefühl, sozial bevorzugt zu werden; man
glaubt, mehr zu haben als man verdient.
55 Die Information darüber, was man verdient und wozu man sich be-
rechtigt fühlen kann, erhält man durch soziale Vergleiche.

3.5.3 Vorurteile und Diskriminierung

Vorurteile sind ein bedeutsamer Bestandteil des menschlichen Zusammenle-


bens und mitverantwortlich für Missverständnisse und Feindschaften, sowohl
zwischen Kleingruppen als auch zwischen Bevölkerungsschichten oder gan-
zen Völkern. Gesellschaftlich sind Vorurteile v. a. deshalb relevant, weil Kate-
gorisierungen häufig aufgrund von hervorstechenden Merkmalen, wie z.  B.
Geschlecht, Hautfarbe, ethnische Herkunft usw. vorgenommen werden. Eine
begriffliche Abgrenzung (Bornewasser & Wänke, 2006; Otten, 2006; Tröster,
2006; Van Dick, 2006):
55 Vorurteil: Negative Einstellung gegenüber den Angehörigen einer Fremd-
gruppe
55 Stereotyp:
55 Kognitive Komponente eines Vorurteils
55 Es umfasst alle (nicht zwangsläufig nur negativen) Eigenschaften, die
man einer Fremdgruppe zuschreibt.
150 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

55 Stereotype Überzeugung:
55 Affektive Komponente eines Vorurteils
55 Sie umfasst die Bewertung und Empfindung gegenüber einer Fremd-
gruppe.
55 Diskriminierung:
55 Verhaltenskomponente von Vorurteilen; Verhalten, das aus Vorurtei-
len resultiert
3 55 Benachteiligung und ungerechtfertigt schädliches Verhalten aufgrund
der Gruppenzugehörigkeit
55 Rassismus: Institutionell und gesellschaftlich verankerte Diskriminierung
55 Stigmatisierung:
55 Unter Stigma versteht man ein unvorteilhaftes Merkmal oder eine
unerwünschte Eigenschaft, was zur Zuschreibung weiterer negativer
Eigenschaften führt.
55 Aufgrund einer Andersartigkeit schließt man auf weitere Eigenschaf-
ten des Gesamtcharakters.

Obwohl Vorurteile unbeliebt und unerwünscht sind, ist es kein Zufall, dass
wir oft Vorurteilen unterliegen, weil sie diverse Funktionen erfüllen (Werth &
Mayer, 2008):
55 Individuelle Funktion von Vorurteilen:
55 Kognitiv: Vorurteile vereinfachen die Informationsverarbeitung im
Alltag.
55 Affektiv: Vorurteile sind selbstwertdienlich (z. B. führen sie dazu, dass
man sich selbst im Vergleich zu anderen positiv bewertet) und dienen
der Emotionsregulation (z. B. kann man anderen für negative Gefühle
die Schuld und Verantwortung zuschieben).
55 Soziale Funktion von Vorurteilen:
55 Vorurteile dienen der Abgrenzung von der Fremdgruppe.
55 Vorurteile verstärken den Gruppenzusammenhalt.
55 Vorurteile fördern eine positive soziale Identität (Eigengruppenauf-
wertung).

Zur Erklärung, wie Vorurteile entstehen, kann man auf folgende, größtenteils
bereits beschriebene Theorien zurückgreifen:
55 Soziale Identitätstheorie (7 Abschn. 3.2.1): Die Tendenz zur sozialen
Kategorisierung, d. h. die Einteilung, ob jemand der Eigen- oder Fremd-
gruppe angehört, dient dazu, den eigenen kognitiven Informationsver-
arbeitungsaufwand gering zu halten und positive soziale Distinktheit
herzustellen.
55 Theorie des realistischen Gruppenkonflikts (7 Abschn. 3.4.4): Vorurteile
entstehen aus der Konkurrenz um vorhandene Ressourcen, die zwischen
Eigen- und Fremdgruppe aufgeteilt werden müssen.
55 Theorie der relativen Deprivation und Theorie der relativen Privilegie-
rung (7 Abschn. 3.5.2): Vorurteile entstehen aufgrund des Gefühls von
Bevorzugung oder Benachteiligung.
55 Sündenbocktheorie (z. B. Dollard et al., 1939): Bei Frustration neigen wir
dazu, die Schuld dafür einer machtlosen Fremdgruppe zuzuschieben, was
leichter ist als die Verantwortung selbst zu tragen.
55 Theorie sozialer Dominanzorientierung (Sidanius & Pratto, 1999):
55 Sie nimmt an, dass die Entstehung von Vorurteilen auch durch Persön-
lichkeitseigenschaften, insbesondere durch die Dominanzorientierung,
beeinflusst wird.
3.5 • Das Individuum in der Gesellschaft
151 3
55 Dominanzorientierung: Ausmaß, indem man sich an hierarchischen
Strukturen orientiert.
55 Je höher die Dominanzorientierung ausgeprägt ist, umso eher greift
man auf Vorurteile zurück, um die hierarchischen Strukturen auf-
rechtzuerhalten.

Um Vorurteile zu reduzieren, kann man auf die gleichen Strategien zurück-


greifen, die auch bei Intergruppenkonflikten helfen (7 Abschn. 3.4.4), sowie auf
die Ansätze zur Einstellungsänderung (7 Abschn. 3.2.2).

3.5.4 Kollektive Gewalt

Mit der Entstehung kollektiver Gewalt hat sich die sog. Massenpsychologie be-
schäftigt, die eine generelle Entmenschlichung des Individuums in Menschen-
massen postulierte (z.  B. Verlust der Selbstkontrolle, Verlust des kritischen
Denkens, Unkontrollierbarkeit der Triebe). Sie wurde aufgrund ihrer geringen
empirischen Grundlagen und gewagten Hypothesen kritisiert. Nicht zuletzt
deshalb ist der Begriff der Massenpsychologie heute häufig negativ besetzt.
Allerdings liegen durchaus experimentelle Befunde vor, die die Hypothese
rechtfertigen, dass sich Gruppen unter bestimmten Bedingungen aggressiver
verhalten als Einzelpersonen. Diese Tendenz ist v. a. dann beobachtbar, wenn
sich die Gruppensituation durch folgende Merkmale auszeichnet:
55 Anonymität
55 Verantwortungsdiffusion
55 Geringe Angst vor Bestrafung
55 Geringe Selbstaufmerksamkeit

Zur Erklärung von kollektiver Gewalt können folgende Konzepte und Theo-
rien herangezogen werden (Mummendey & Otten, 2002):
55 Theorie der relativen Deprivation (7 Abschn. 3.5.2): Eine wahrgenomme-
ne Ungerechtigkeit (Deprivation) führt unter bestimmten Bedingungen
(z. B. auslösende Ereignisse) zu kollektiver Gewalt.
55 Deindividuation:
55 Zustand, bei dem die Selbstaufmerksamkeit der Gruppenmitglieder
eingeschränkt ist und die Verhaltenskontrolle nachlässt.
55 Fördernde Faktoren:
–– Überlastung der Verarbeitungskapazität
–– Aufmerksamkeitsfokus ist nach außen gerichtet
–– Wahrnehmung der Gruppe als Ganzes
–– Abgabe der Entscheidungsfindung an die Gruppe (Verantwor-
tungsdiffusion)
55 Konsequenzen:
–– Wahrnehmung der Gruppenperspektive
–– Blockierung persönlicher und sozialer Normen
–– Verkürzung der Zeitperspektive: Mangelnde Voraussicht und Planung
–– Mangel an Selbsthemmungsprozessen bzgl. späterer Strafen
55 Emergent-norm-Theory (Turner & Killian, 1972):
55 In Massensituationen werden nicht persönliche und soziale Normen
blockiert (wie es z. B. bei Deindividuation passieren soll), vielmehr ent-
stehen neue gruppenspezifische Normen, die Aggressivität erlauben.
55 Durch diese Legitimisierung wird aggressives Verhalten in Gruppen
wahrscheinlicher.
152 Kapitel 3 • Sozialpsychologie

3.5.5 Sozialer Wandel

Sozialer Wandel bezeichnet soziale Veränderungen, die eine ganze Gesellschaft


betreffen. Dieser kann ungeplant (z. B. Wandel des Wertebewusstseins) oder
geplant (z. B. Förderung des Gesundheitsverhaltens) verlaufen. Strategien ge-
planten sozialen Wandels sind (Thomas, 1992):
55 Empirisch-rationale Strategie:
3 55 Sie geht von einem vernunftgeleiteten Menschen aus, der von sich aus
bestrebt ist, Missstände zu beheben.
55 Es genügt deshalb, eine Person über bestehende Defizite zu informie-
ren, damit diese notwendige Veränderungen einleitet.
55 Problem: Es ist nicht kontrollierbar, wer die Informationen aufnimmt
und welche Handlungsmöglichkeit eine Person daraus ableitet.
55 Beispiel: Hinweise auf Zigarettenpackungen rufen Informationen über
die Konsequenzen des Rauchens in Erinnerung, die nicht zwingend
dazu führen, mit dem Rauchen aufzuhören.
55 Normativ-intervenierende Strategie:
55 Sie geht davon aus, dass das Individuum so eng mit der eigenen Kultur
verwurzelt ist, dass eine Veränderung der Gesellschaft immer über die
Veränderung der Normen einer Gesellschaft laufen muss.
55 Geplanter Wandel erfolgt somit durch gezielte normative Veränderun-
gen bei leitenden Personen (z. B. Lehrer, Polizisten), die diesen Wandel
dann weitertragen.
55 Problem: Diese Strategie erfordert die langfristige Verfolgung eines
Ziels und eine enge Zusammenarbeit unter denen, die den Wandel
weitertragen.
55 Beispiel: Die »Kenn-dein-Limit«-Kampagne der Bundeszentrale für
gesundheitliche Aufklärung (BzgA) vermittelt, dass zu großer Alkohol-
konsum »uncool« ist.
55 Macht- und Zwangsstrategie (s. auch Machtquellen; 7  Abschn. 3.3.4):
55 Geplanter Wandel erfolgt, indem man unerwünschtes Verhalten ver-
bietet und bei Regelübertretung Sanktionen androht.
55 Problem: Es kann Reaktanz entstehen, d. h. das Verbotene wird at-
traktiver.
55 Beispiel: Geschwindigkeitsbegrenzungen auf Autobahnen

Letztlich ist sozialer Wandel ein langfristiger Prozess, der nur schwer kont-
rolliert werden kann. Nichtsdestotrotz sind sowohl Informationen als auch
Normen und direkte Belohnung bzw. Sanktionierung elementare Mittel, um
gesellschaftliches Leben zu organisieren.

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159 4

Biopsychologie
Franziska Schmithüsen und Fernand Anton

4.1 Die Biopsychologie als Fachbereich – 161

4.2 Das Nervensystem – 164


4.2.1 Das zentrale Nervensystem – 164
4.2.2 Das periphere Nervensystem – 170
4.2.3 Die Nervenzelle – 171
4.2.4 Reizübertragung an Synapsen – 176

4.3 Allgemeine Sinnesphysiologie – 179


4.3.1 Allgemeines zur Sinnesphysiologie – 179
4.3.2 Wahrnehmung und Psychophysik – 181
4.3.3 Somatosensorik – 182
4.3.4 Nozizeption und Schmerz – 184
4.3.5 Visuelles System – 188
4.3.6 Akustisches System – 194
4.3.7 Der Geschmackssinn – 200
4.3.8 Der Geruchssinn – 201

4.4 Motorik – 203


4.4.1 Aufbau und Kontraktion des Muskels – 203
4.4.2 Innervation des Muskels und der Sehne – 206
4.4.3 Verarbeitung motorischer Informationen im ZNS – 207
4.4.4 Reflexe – 208

4.5 Das Hormonsystem – 208


4.5.1 Allgemeine Endokrinologie – 208
4.5.2 Vom Hypothalamus unabhängige Hormone – 210
4.5.3 Aufbau des hypothalamisch-hypophysären Systems – 211
4.5.4 Hormone des hypothalamisch-hypophysären Systems – 212

4.6 Das Immunsystem – 215


4.6.1 Überblick über das Immunsystem – 215
4.6.2 Bestandteile des Immunsystems – 216
4.6.3 Das angeborene Immunsystem – 217
4.6.4 Das adaptive Immunsystem – 219
4.6.5 Unerwünschte Immunreaktionen – 221
4.6.6 Erkrankungen des Immunsystems – 222

F. Schmithüsen (Hrsg.), Lernskript Psychologie, Springer-Lehrbuch,


DOI 10.1007/978-3-662-44941-7_4, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
4.7 Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen
Grundlagen – 223
4.7.1 Bewusstsein und Aufmerksamkeit – 223
4.7.2 Schlaf und zirkadiane Periodik – 224
4.7.3 Lernen und Gedächtnis – 227
4.7.4 Motivation – 232
4.7.5 Emotionsverarbeitung – 234
4.7.6 Kognitive Funktionen – 236

4.8 Zusammenhänge zwischen psychischen und biologischen


Funktionsbereichen – 238
4.8.1 Psychoneuroendokrinologie – 238
4.8.2 Psychoneuroimmunologie – 238

4.9 Abkürzungen – 241

Literatur – 242
4.1 • Die Biopsychologie als Fachbereich
161 4
4.1 Die Biopsychologie als Fachbereich

Die biologische Psychologie oder Biopsychologie erforscht die Zusammen-


hänge zwischen biologischen und psychologischen Prozessen (.  Abb. 4.1). In
diesem Kapitel werden nach dieser Einführung zunächst die für Psychologen
grundlegenden biologischen Funktionsbereiche erläutert: das Nervensystem
(7  Abschn.  4.2), die Sinne (7  Abschn.  4.3), die Motorik (7  Abschn.  4.4), das
Hormonsystem (7  Abschn.  4.5) und das Immunsystem (7  Abschn.  4.6). An-
schließend werden in 7 Abschn. 4.7 die verschiedenen grundlegenden psychi-
schen Funktionen des Nervensystems (Aufmerksamkeit, Schlaf, Lernen, Mo-
tivation, Emotion, Kognition) dargestellt. Dieser Bereich greift die typischen
Themen der allgemeinen Psychologie auf und unterfüttert sie mit biologischen
Informationen. In 7 Abschn. 4.8 zur Psychoneuroendokrinologie und Psycho-
neuroimmunologie geht es um die Schnittstelle zwischen psychischen und
biologischen Funktionsbereichen des Körpers. Da in der Biopsychologie viele
verschiedene Abkürzungen benutzt werden, sind diese am Ende des Kapitels
zum Nachschlagen aufgelistet (7 Abschn. 4.9).
Da das Erleben und Verhalten des Menschen maßgeblich von seinem Ner-
vensystem bestimmt wird, gehört die Biopsychologie zu den Neurowissen-
schaften (griech. Neuron = Nerv). Der Begriff der biologischen Psychologie
kann als Sammelbegriff aufgefasst werden und umfasst mehrere unterschiedli-
che Disziplinen und Forschungsansätze (Birbaumer & Schmidt, 2006; Büchel,
Karnath & Thier, 2012):
55 Physiologische Psychologie:
55 Sie untersucht den Einfluss von biologischen Prozessen auf das Verhal-
ten (unabhängige Variable, UV: biologische Manipulationen; abhängi-
ge Variable, AV: Verhalten).
55 Sie arbeitet meist mit Tierversuchen.
55 Folgende Methoden werden verwendet: Chirurgische (z. B. Läsionen),
elektrische (z. B. elektrische Stimuli setzen) und chemische Eingriffe
(z. B. Injizieren von chemischen Substanzen).
55 Psychophysiologie:
55 Sie untersucht den Einfluss von Verhalten auf biologische Prozesse (UV:
induziertes Verhalten, z. B. Stress; AV: physiologische Reaktionen).
55 Sie arbeitet meist mit Humanexperimenten; daher werden nicht-inva-
sive Techniken verwendet.
55 Folgende Methoden werden eingesetzt: EEG, MEG, PET, CT, MRT,
EMG, Messung von Hormonspiegeln.
55 Neuropsychologie:
55 Sie untersucht klassischerweise den Einfluss von (vorhandenen) Hirn-
schäden auf Verhalten (UV: Hirnläsion; AV: Verhaltensänderung).
55 Sie arbeitet meist mit Einzelfallstudien.
55 Folgende Methoden kommen zum Einsatz: CT, MRT, neuropsycho-
logische Testbatterien.
55 Kognitive Neurowissenschaften (Hartje, 2012):
55 Es werden kognitive Prozesse (z. B. Vorstellen, Wahrnehmen) mit
neurowissenschaftlichen Methoden untersucht (UV: Reizung des Ge-
hirns, z. B. durch transkranielle Magnetstimulation; AV: Verhaltens-
änderung).
55 Sie überschneiden sich stark mit der Neuropsychologie, beschäftigen
sich aber eher mit gesunden Patienten.
55 Es werden folgende Methoden verwendet: Transkranielle Magnetsti-
mulation, pharmakologische Manipulation, EEG, MEG, PET, fMRT.
162 Kapitel 4 • Biopsychologie

Psychoneuroendokrinologie und Psychoneuroimmunologie 4.8

4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

Funktionsbereiche
Sinnesphysiologie

Verdauung etc.)
Hormonsystem
Nervensystem

Immunsystem

(z.B. Atmung,
Motorik

Weitere
Biologische
Funktionsbereiche

Lernen/Gedächtnis
Aufmerksamkeit

Motivation

Kognition
Emotion
4.7 Psychische

Schlaf
Funktionsbereiche

. Abb. 4.1  Übersicht über die Themen und die zugehörigen Unterabschnitte dieses
Kapitels

55 Psychopharmakologie:
55 Sie untersucht den Einfluss von pharmakologischen (psychoaktiven)
Substanzen auf Verhalten (UV: psychoaktive Substanz; AV: Verhalten)
a ähnelt sehr der physiologischen Psychologie.
55 Folgende Methoden werden eingesetzt: Pharmakologische Manipula-
tionen.
55 Vergleichende Psychologie:
55 Sie untersucht genetische Veränderungen in der Evolution.
55 Sie arbeitet mit dem Vergleich der Verhaltensweisen verschiedener
Arten.
55 Sie gehört zur Ethologie (= Lehre vom Charakter) und geht deshalb
davon aus, dass bestimmte Verhaltensweisen genetisch festgelegt sind,
aber durch Schlüsselreize in der Umgebung ausgelöst werden (UV:
Verhalten; AV: genetischer Code, Schlüsselreize).

Zur Erforschung des Nervensystems greift man auf verschiedene Methoden


zurück, zum einen auf solche, die Aktivitäten des zentralen Nervensystems
erfassen, und zum anderen auf solche, die zur nicht-invasiven Messung von
peripheren, z. B. vegetativen Reaktionen geeignet sind. Dabei werden manche
eher in Tierexperimenten eingesetzt, andere sind beim Menschen anwendbar
(Birbaumer & Schmidt, 2006; Büchel, Karnath & Thier, 2012).
55 Die Erfassung des Zentralnervensystems erfolgt u. a. über:
55 EEG = Elektroenzephalographie: Sie misst die Cortexaktivität (EPSPs
von vertikal zur Schädeldecke liegenden Pyramidenzellen) über das
elektrische Feld, das durch die Hirnaktivität entsteht.
55 MEG = Magnetenzephalographie: Sie misst die Cortexaktivität (EPSPs
von Zellen, die horizontal zur Schädeldecke liegen) über das magneti-
sche Feld, das durch die Hirnaktivität entsteht.
55 PET = Positronenemissionstomographie: Sie erstellt funktionelle Bil-
der des Gehirns mithilfe von ionisierender Strahlung.
4.1 • Die Biopsychologie als Fachbereich
163 4
55 CT/CAT = Computer-assistant-Tomography: Sie erstellt Schnittbilder
der Anatomie des Gehirns mithilfe von Röntgenstrahlung.
55 MRT = Magnetresonanztomographie (umgangssprachlich: Kernspin):
Sie erstellt Schnittbilder des Gehirns und zeigt genau an, wo Aktivi-
täten vorhanden sind.
55 fMRT = funktionelle Magnetresonanztomographie: Sie erstellt im
Gegensatz zum MRT Bilder mit hoher zeitlicher Auflösung.
55 Läsionen: Zerstörung von Teilen des Gehirns.
55 Implantierte Elektroden: Ableitung einzelner Potenziale oder selektive
Stimulation eines Zielgebietes.
55 Chemische Eingriffe: Es werden chemische Substanzen injiziert (z. B.
Transmitter).
55 Die Erfassung des peripheren Nervensystems erfolgt u. a. über:
55 EKG = Elektrokardiographie: Sie erfasst die elektrische Aktivität des
Herzens (keine Muskelaktivität).
55 Photoplethysmographie: Zur Pulsmessung wird ein Lichtsignal durch
den Finger geschickt, das die Volumenveränderung des Blutes misst.
55 Blutdruck:
–– Systolischer (oberer Blutdruck): Das Herz hat gerade gepumpt.
–– Dyastolischer (unterer Blutdruck): Druck zwischen zwei Herz-
schlägen.
55 EMG = Elektromyographie: Sie misst die Aktivität von Muskelfasern.
55 Hautleitfähigkeit: Sie misst den Hautwiderstand (als Reziprokwert zur
Hautleitfähigkeit), der sich je nach Grad des Schwitzens verändern
kann.
55 Atemfrequenz = Sie ist messbar z. B. mit Dehnungsmessstreifen, die
um die Brust gelegt werden.

Um medizinische Abbildungen, wie sie im Folgenden präsentiert werden, ver-


stehen zu können, sollen zunächst einige Fachbegriffe erläutert werden, die
man benutzt, um Lagebezeichnungen im Gehirn oder um allgemein Körper-
teile zu beschreiben:
55 Allgemeine Lagebezeichnungen:
55 Rostral: Zum Gesicht hin beim Gehirn oder zum oberen Ende beim
Rückenmark und Hirnstamm
55 Kaudal: Zu den Füßen hin
55 Dorsal: Rückenwärts
55 Ventral: Bauchwärts
55 Kranial: Schädelwärts
55 Anterior: Vorne
55 Posterior: Hinten
55 Inferior: Unten
55 Superior: Oben
55 Im Gehirn gilt:
55 Rostral = Anterior: Zum Gesicht hin = Vorne
55 Kaudal = Posterior: Zum Hinterpol des Gehirns = Hinten
55 Dorsal = Kranial = Superior: Rückenwärts = Schädelwärts = Oben
55 Ventral = Inferior: Bauchwärts = Unten
55 Im Rumpfbereich gilt:
55 Kaudal = Inferior: Zu den Füßen hin = Unten
55 Dorsal = Posterior: Rückenwärts = Hinten
55 Ventral = Anterior: Bauchwärts = Vorne
55 Kranial = Superior: Schädelwärts = Oben
164 Kapitel 4 • Biopsychologie

Die verschiedenen Schnittebenen des Gehirns haben ebenfalls bestimmte Na-


men:
55 Koronarer Schnitt = Frontalschnitt: Er teilt das Gehirn zwischen vorne
und hinten.
55 Sagittalschnitt = Senkrecht zu Koronarschnitt: Er teilt das Gehirn zwi-
schen links und rechts.
55 Horizontalschnitt: Er teilt das Gehirn in oben und unten.

4
4.2 Das Nervensystem

Ganz allgemein kann das Nervensystem (NS) in das Zentralnervensystem


(ZNS) und das periphere Nervensystem (PNS) unterschieden werden. Ersteres
umfasst die Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark, letzteres alle anderen
Neurone, die außerhalb von Gehirn und Rückenmark liegen. Das PNS kann
noch weiter unterteilt werden in:
55 Somatisches NS (kontrollierbar/bewusst, z. B. Muskeln in Armen oder
Beinen)
55 Afferente Nerven:
–– Sie führen zum ZNS hin.
–– Afferenzen, die von Gelenken, Haut oder Skelettmuskeln kom-
men, heißen somatische Afferenzen.
–– Afferenzen, die von den Eingeweiden kommen, heißen viszerale
Afferenzen.
55 Efferente Nerven:
–– Sie führen vom ZNS weg.
–– Efferenzen, die zu den Skelettmuskeln führen, heißen motorische
Efferenzen.
–– Efferenzen, die zu Drüsen, glatten Muskeln, Herzmuskeln führen,
heißen vegetative Efferenzen.
55 Vegetatives/autonomes/viszerales Nervensystem (nicht kontrollierbar/
unbewusst, z. B. Organe)
55 Afferente Nerven
55 Efferente Nerven:
–– Parasympathisches Nervensystem (bremsend, hemmend)
–– Sympathisches Nervensystem (stimulierend, erregend)

Einen Überblick über den hierarchischen Aufbau des Nervensystems zeigt


. Abb. 4.2.
Ganz allgemein können Zellen im Nervensystem drei Funktionen erfüllen:
55 Sensorische Zellen (Afferenzen) dienen der Wahrnehmung und Aufnah-
me von Informationen.
55 Motorische Zellen (Efferenzen) dienen der Ansteuerung von Muskeln.
55 Interneurone dienen der Verrechnung von Informationen.

4.2.1 Das zentrale Nervensystem

Aufbau des Gehirns


Betrachtet man das Gehirn von außen, d. h. die Hirnrinde, so fällt einem die
Struktur auf, die wie »Bergketten« (Gyri, Einzahl: Gyrus) und Furchen oder
»Täler« aussieht (Sulci, Einzahl: Sulcus). Große Furchen heißen auch Fissu-
ren. Aufgrund der so von außen sichtbaren anatomischen Struktur wird das
4.2 • Das Nervensystem
165 4

NS

ZNS PNS

somatisches vegetatives
Gehirn
NS (autonomes) NS

afferente efferente afferente efferente


Rückenmark
Nerven Nerven Nerven Nerven

para-
sympathisches
NS

sympathisches
NS

. Abb. 4.2  Überblick über den hierarchischen Aufbau des Nervensystems (Anton, 2006, mit freundlicher Genehmigung)

Gehirn in vier Hirnabschnitte aufgeteilt: Großhirn, Kleinhirn, Zwischenhirn,


Hirnstamm.
Das Großhirn (auch Endhirn, Cerebrum):
55 Das Großhirn ist in zwei Hälften (Hemisphären) geteilt.
55 Es besteht aus grauer und weißer Substanz.
55 Graue Substanz: Sie besteht hauptsächlich aus Zellkörpern, die nicht
myelinisiert sind.
55 Weiße Substanz: Sie besteht aus Axonen, die myelinisiert sind.
55 Die äußere Schicht des Großhirns nennt sich Großhirnrinde (auch Neo-
cortex, Cortex cerebri oder Cortex):
55 Sie ist Teil der grauen Substanz.
55 Sie kann in Lappen eingeteilt werden, die durch den Sulcus centralis
und den Sulcus cerebri lateralis begrenzt werden, denen grob sche-
matisch bestimmte Funktionsbereiche zugeordnet werden können
(. Abb. 4.3):
–– Frontallappen (Stirnlappen): Motorik
–– Parietallappen (Scheitellappen): Sensorik
–– Temporallappen (Schläfenlappen): Hören
–– Okzipitallappen (Hinterhauptslappen): Sehen
–– Insellappen (Cortexeinstülpung unter Temporallappen): Komple-
xe Wahrnehmungsprozesse
55 Der Cortex wird für bewusste und komplexe Überlegungen benötigt.
55 Die beiden Hemisphären werden verbunden durch den Balken (Corpus
callosum):
55 Er ermöglicht Informationsaustausch der Hemisphären.
55 Er gehört zur weißen Substanz.
166 Kapitel 4 • Biopsychologie

Frontallappen
Parietallappen

Okzipitallappen
4

Temporallappen
Kleinhirn

. Abb. 4.3  Übersicht über die verschiedenen Lappen des Cortex. (Aus Birbaumer &
Schmidt, 2006)

55 Innerhalb des Großhirns befinden sich viele verschiedene Kerngebiete,


die unterschiedlich zusammengefasst werden:
55 Fornix: Sie verbindet den Hippocampus über die Mamillarkörper mit
dem Hypothalamus.
55 Basalganglien: Es handelt sich um eine Ansammlung von Nervenzellen
(genauer: Zellkörpern), die folgende Kerngebiete umfassen:
–– Nucleus caudatus (Schweifkern)
–– Nucleus lentiformis (linsenförmiger Kern): Er besteht aus Puta-
men und Globus pallidus (Pallidum).
–– Nucleus caudatus und Putamen sind über feine Streifen grauer
Substanz verbunden a sie werden deshalb unter dem Begriff
»Striatum« zusammengefasst. Dies ist die zentrale Eingangssta-
tion der Basalganglien.
55 Limbisches System: Es vermittelt zwischen motiviertem Verhalten,
emotionalen Zuständen und Gedächtnisprozessen und besteht aus:
–– Gyrus cinguli: Sie sitzen unmittelbar über dem Balken.
–– Fornix: s. o.
–– Hypothalamus: s. u.
–– Hippocampus (Ammonshorn): Er liegt im Temporallappen und
spielt eine große Rolle beim Erwerb expliziter Gedächtnisinhalte
(z. B. Auswendig-Lernen), speichert jedoch keine Informationen.
–– Amygdala (Mandelkern): Sie ist maßgeblich für die emotionale
Kontrolle und für das Lernen von Emotionen.

Das Kleinhirn (Cerebrellum) ist äußerlich sehr ähnlich aufgebaut wie das
Großhirn. Auch hier kann zwischen grauer und weißer Substanz unterschie-
den werden. Das Kleinhirn ist Teil des motorischen Systems und befasst sich
mit der Zeitgebung bei Bewegungen oder mit prozeduralem Lernen.
Das Zwischenhirn (Diencephalon) ist die »Hauptschaltstation« im Gehirn
und besteht aus (. Abb. 4.4):
55 Hypothalamus:
55 Er ist hauptverantwortlich für Motivation, Emotion, Organe und
Schlaf-Wach-Rhythmus.
55 Er kontrolliert (zusammen mit der Amygdala) das autonome NS.
4.2 • Das Nervensystem
167 4

Fornix

Balken

Epiphyse

Thalamus

Brücke
Hypophyse
Kleinhirn
Mittelhirn Medulla oblongata

. Abb. 4.4  Medianer Sagittalschnitt durch das Gehirn; zentral: Zwischenhirn. (Aus Schie-
bler & Korf, 2007)

55 Er sorgt für Homöostase (Konstanz des Körperhaushalts).


55 Er ist an der Steuerung des autonomen Nervensystems und des Hor-
monhaushalts beteiligt.
55 Thalamus:
55 Er steuert das Aufmerksamkeitsverhalten und die Aktivität des Ge-
hirns.
55 »Tor zum Cortex«: Er leitet sensorische Informationen zum Cortex
und filtert sie.
55 Somatosensorische Verrechnungsprozesse finden im Ventro-basal-
Komplex des Thalamus statt.

Der Hirnstamm (Stammhirn, Truncus cerebri) steuert grundlegende Le-


bensprozesse des Körpers, leitet Informationen zu anderen Gehirnteilen und
stimmt die verschiedenen Systeme aufeinander ab. Er liegt unterhalb des Zwi-
schenhirns und besteht aus:
55 Mittelhirn (Mesencephalon):
55 Es beinhaltet vitale Funktionen und notwendige Mechanismen zur
Erhaltung der Lebensfunktionen.
55 Es liegt zwischen Brücke und verlängertem Mark.
55 Es kontrolliert Sinnes- und Bewegungsfunktionen.
55 Es enthält die Formatio reticularis:
–– Diese liegt zwischen verlängertem Rückenmark und Zwischen-
hirn.
–– Sie enthält Raphekerne sowie den Locus coeruleus.
55 Brücke (Pons):
55 Sie ist eine Umschaltstation der Verbindungen von Großhirn zu Klein-
hirn.
168 Kapitel 4 • Biopsychologie

Sinus Schädelknochen

Dura mater
Arachnoidea mater
Granulation
4
Pia mater

Falx cerebri
Kortex

Subarach-
noidealraum

. Abb. 4.5  Übersicht über die Lage der verschiedenen Hirnhäute. (Aus Tillmann, 2010)

55 Sie leitet Informationen in andere Strukturen des Hirnstamms und in


das Kleinhirn.
55 Verlängertes Rückenmark (Nachhirn, Medulla oblongata): Zentrum für
Atmung, Blutdruck, Herzschlag

Nach außen ist das Gehirn durch seine Hirnhäute (Meninges) geschützt. Sie
liegen über der grauen Substanz und der Hirnrinde und unterhalb des Schädel-
knochens (. Abb. 4.5). Die Hirnhäute sind im Einzelnen:
55 Dura mater:
55 Äußerste Hirnhaut
55 Sie ist dick, undehnbar, zäh und schmerzempfindlich.
55 Sie hat eine Schutzfunktion.
55 Arachnoidea mater:
55 Mittlere Hirnhaut
55 Sie ist sehr komplex aufgebaut und faserartig (besteht aus Eiweißfäden).
55 Sie hat eine Polsterfunktion.
55 Subarachnoidealraum:
55 Dies ist ein Zwischenraum zwischen Arachnoidea und Pia mater.
55 Er ist mit Zerebrospinalflüssigkeit gefüllt.
55 Er schützt vor Stößen und gibt Elastizität.
55 Pia mater:
55 Innerste Hirnhaut
55 Sie umgibt alle Furchen des Gehirns und ist sehr weich.

Der Subarachnoidealraum ist mit der Zerebrospinalflüssigkeit (CSF) gefüllt,


die alle »Hohlräume« des Gehirns ausfüllt und die auch Gehirn und Rücken-
mark miteinander verbindet. Sie wird immer wieder neu gebildet und stellt ein
eigenes Liquorsystem dar, das folgende Bereiche umfasst:
55 Subarachnoidealraum: s. o.
55 Ventrikelsystem:
4.2 • Das Nervensystem
169 4

Hinterstrang

Hintersäule
Hinterhorn
Zentralkanal

Vorderhorn
Vordersäule

Seitenstrang

Vorderstrang

. Abb. 4.6  Übersicht über das Rückenmark. (Aus Schiebler & Korf, 2007)

55 Ventrikel sind Hohlräume, in denen sich die Zerebrospinalflüssigkeit


befindet.
55 Es gibt zwei Seitenventrikel (laterale Ventrikel).
55 3. Ventrikel: Er liegt in der Mitte, unterhalb des Balkens im Zwischen-
hirn.
55 4. Ventrikel: Er liegt beim Aquädukt im Rautenhirn.
55 Aquädukt (Aqueductus mesencephali):
55 Es verbindet den 3. und 4. Ventrikel.
55 Es liegt im Mittelhirn.
55 Es ist die engste Stelle des Liquorsystems.

Die Nervenzellen im Gehirn zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr emp-
findlich auf Giftstoffe reagieren. Deshalb gibt es die Blut-Hirn-Schranke, da-
mit nicht alle Krankheitserreger, die im Blut kursieren, das Gehirn angreifen
können. Die Blut-Hirn-Schranke besteht aus zwei Mechanismen, so dass nur
kleine Moleküle und Gase hindurch gelangen können:
55 Im Gefäß:
55 Die Innenseite von Blutgefäßen ist mit Epithelzellen ausgekleidet.
55 Die Epithelzellen überlagern sich mehrfach und werden durch Tight
junctions sehr eng miteinander verbunden, so dass sie eine Barriere für
große Moleküle bilden.
55 Außerhalb: Astrozyten bilden einen Mantel aus Gefäßfüßchen, der die
Gefäße umschließt.

Das Rückenmark
Der zweite große Teil des ZNS ist das Rückenmark, das sich durch folgende
Eigenschaften auszeichnet (. Abb. 4.6):
55 Es gibt vier Ebenen (von oben/kranial nach unten/rostral):
55 Halsmark (Zervikalmark, 8 Segmente)
55 Brustmark (Thorakalmark, 12 Segmente)
170 Kapitel 4 • Biopsychologie

Skelett-
Somatisches NS ZNS
muskeln

Organe,
Autonomes NS ZNS glatte
Ganglion Muskeln

4
. Abb. 4.7  Prinzipielle Verschaltung der NZ im somatischen und autonomen NS

55 Lendenmark (Lumphalmark, 5 Segmente)


55 Kreuzmark (Sakralmark, 5 Segmente)
55 Auch das Rückenmark besteht aus grauer (innen) und weißer (außen)
Substanz, wobei es in den oberen Segmenten des Rückenmarks mehr
weiße Substanz gibt.
55 Es ist im Spinalkanal eingebettet.
55 Es wird eingeteilt in:
55 Vorderhorn: Motorische Neurone
55 Hinterhorn: Sensorische Neurone (die Zellkörper der sensorischen
Neurone liegen außerhalb des Rückenmarks im Spinalganglion)
55 Seitenhorn: Neurone des autonomen Nervensystems

4.2.2 Das periphere Nervensystem

Das periphere Nervensystem umfasst alle Neurone, die sich außerhalb von
Gehirn und Rückenmark befinden. Der Einfachheit halber beschränkt sich
die folgende Darstellung auf dass efferente periphere System, da die afferenten
Systeme im  7  Abschn. 4.3 (bezogen auf das jeweilige Wahrnehmungssystem)
vorgestellt werden.
Das periphere Nervensystem versorgt Skelettmuskeln (somatisches NS)
und Organe (autonomes NS). Dabei werden die Skelettmuskeln direkt von
einem Vorderhornneuron angesteuert, bei Organen gibt es jedoch eine weitere
Umschaltung von prä- auf postganglionär (.  Abb. 4.7). Das Ganglion ist eine
Ansammlung von Zellkörpern, die synaptischen Input von den vorgeschalte-
ten Seitenhornneuronen erhalten.
Aufgrund seiner komplizierten Verschaltung verdient nun das autonome
Nervensystem noch einer genaueren Betrachtung. Es besteht aus:
55 Sympathikus:
55 Die Nervenzellen des Sympathikus entspringen überall zwischen Hirn-
stamm und Sakralmark, aber v. a. im Thorakal- und Lumbalmark.
55 Er benutzt präganglionär Acethylcholin (ACh) und postganglionär
Noradrenalin (NA) als Transmitter.
55 Es wirkt meist stimulierend und leistungssteigernd.
55 Bei einem Grenzstrang handelt es sich um aneinandergereihte sympa-
thische Ganglien.
55 Parasympathikus:
55 Seine Nervenzellen entspringen im Hirnstamm und Sakralmark.
55 Er benutzt ACh als Transmitter (prä- und postganglionär).
55 Er wirkt meist hemmend.
4.2 • Das Nervensystem
171 4

. Tab. 4.1  Beispiele für die Wirkungsweise von Parasympathikus und Sympathikus.


(Nach Birbaumer & Schmidt, 2006)

Sympathikus Parasympathikus

Herz Zunahme der Herzfrequenz Abnahme der Herzfrequenz,


und Herzkontraktion kein Effekt auf Herzkontraktion

Blutgefäße Verengung Kein Effekt

Leber Glykogenolyse: Abbau von Gly- Kein Effekt


kogen zur Energiegewinnung

Verdauungs- Abnahme der Darmbewegung Zunahme der Darmbewegun-


system und der Sekretion von Verdau- gen und der Sekretion von
ungsenzymen Verdauungsenzymen

Schweißdrüsen Sekretion Kein Effekt

Speicheldrüsen Schwache Sekretion Starke Sekretion

Tränendrüsen Kein Effekt Sekretion

55 Die präganglionäre Faser ist sehr lang, die Umschaltung auf die post-
ganglionäre Faser geschieht erst sehr nah am Zielorgan.

Sympathikus und Parasympathikus steuern die gleichen Organe an, nur dass
sie je eine unterschiedliche (antagonistische) Wirkung haben. Beispiele für
die Wirkungsweise von Parasympathikus und Sympathikus finden sich in
. Tab. 4.1.

4.2.3 Die Nervenzelle

Aufbau der Nervenzelle


Der Aufbau einer Nervenzelle (Neuron) ist in . Abb. 4.8 ersichtlich. Wichtige
Zellbestandteile dabei sind:
55 Zellkörper (Soma):
55 Hier finden Verrechnungsprozesse statt.
55 Er enthält die Zellorganellen (Zellkern, raues ER, Mitochondrien,
Golgi-Apparat, Lysosom).
55 Zellkern: Er enthält Chromosomen/DAN.
55 Raues endoplasmatisches Retikulum (ER): Es dient der Proteinsynthese
und Membranproduktion, DNA wird abgelesen.
55 Mitochondrien: »Kraftwerk der Zelle«, im Rahmen der Zellatmung wird
Energie (Adenosintriphosphat = ATP) hergestellt.
55 Golgi-Apparat: Botenstoffe werden hier in Vesikel verpackt und wandern
zu den Mikrotubuli.
55 Lysosomen: Sie dienen der Abfallbeseitigung.
55 Neurofilamente: Sie stabilisieren die Zelle (Cytoskelett).
55 Mikrotubuli: Sie sind die Transportwege für Vesikel.
55 Axonhügel: Hier summieren sich alle ankommenden erregenden und
hemmenden Potenziale auf und lösen ggf. ein Aktionspotenzial aus.
55 Axon: Es leitet Informationen an andere Nervenzellen weiter.
55 Myelinscheide:
55 Isolierung des Axons mithilfe einer Fettschicht (myelinisierte Axone
leiten schneller, s. u.)
172 Kapitel 4 • Biopsychologie

Mitochondrium Dendriten 1

1
4
Lysosom

Zellkörper

Golgi-
Apparat

Zellkern

raues
endoplasmatisches
Retikulum

3 Neurofilamente
mit Neurotubuli

glattes ER
Axon

. Abb. 4.8  Übersicht über den Aufbau und Zellbestandteile eines Neurons sowie ver-
schiedene Synapsentypen: (1) axodendritische Synapse, (2) axosomatische Synapse, (3)
axoaxonale Synapse. (Aus Schiebler & Korf, 2007)

55 Im ZNS wird die Myelinisierung bewerkstelligt durch Oligodendrozy-


ten, im PNS durch die Schwannschen Zellen.
55 Ranviersche Schnürringe: Es handelt sich um einen Abschnitt eines
myelinisierten Axons ohne Myelinscheide. Hier befinden sich spannungs-
abhängige Na+-Kanäle.
55 Dendriten:
55 Dies sind baumartige Verzweigungen der Nervenzelle.
55 Hier nimmt die Zelle Information von anderen Zellen auf.
55 Synapse:
55 Dies ist eine Verbindung zwischen zwei Nervenzellen.
55 Mögliche Verknüpfungspunkte von Synapsen:
–– Axo-axonische Synapse: Das Axon eines Neuron bildet eine Synapse
mit dem Axon eines anderen Neurons.
–– Axo-dendritische Synapse: Das Axon eines Neuron bildet eine Syn-
apse mit einem Dendrit eines anderen Neurons.
4.2 • Das Nervensystem
173 4
–– Axo-somatische Synapse: Das Axon eines Neuron bildet eine Synap-
se mit dem Soma eines anderen Neurons.
55 Interstitium: Dies ist der Zwischenraum zwischen Zellen.
55 Zellmembranen:
55 Sie bestehen aus einer Doppelschicht von Phospholipiden, die je eine
hydrophobe (wasserabweisende) bzw. lipophile (fettliebende) Seite
haben, und eine, die hydrophil (wasserliebend) bzw. lipophob (fett-
abweisend) ist.
55 In ihnen sind Poren, Ionentransporter oder Rezeptoren eingelassen.
55 Poren:
55 Dies sind Kanäle in der Membran, die sich unter bestimmten Bedin-
gungen öffnen.
55 Poren verbrauchen keine Energie (passiver Transport in Richtung des
Konzentrationsgefälles).
55 Ionentransporter:
55 Sie dienen ebenfalls dem Austausch von Ionen.
55 Ionen werden gegen den Konzentrationsgradienten transportiert.
55 Sie verbrauchen Energie (aktiver Transport).
55 Gekoppelte Na+-K+-Pumpe:
–– 1 K+ rein, 1 Na+ raus (elektrisch neutrale Pumpe)
–– 3K+ rein, 2 Na+ rein (elektrogene Pumpe, da sie Strom »herstellen«)

Neben den Neuronen finden sich im Nervensystem auch sog. Gliazellen:


55 Gliazellen des ZNS:
55 Astrozyten: Sie sind mitverantwortlich für die Blut-Hirn-Schranke, am
Energie- und Transmitterstoffwechsel beteiligt sowie für Wachstum
und Narbenbildung von Nervenzellen nach Verletzungen zuständig.
55 Oligodendrozyten: Sie bilden die Markscheide der Axone des ZNS,
wobei eine Zelle mehrere Nervenfasern umfassen kann.
55 Mikrogliazellen: Dies sind immunkompetente Zellen im NS.
55 Gliazellen des PNS:
55 Schwannsche Zellen: Sie bilden die Markscheide der Axone des PNS.
55 Mantelzellen der Ganglien: Sie sind für den Energiestoffwechsel der
Nervenzellen im PNS zuständig.

Das Ruhepotenzial
Um die Aktivitäten im Nervensystem beschreiben zu können, ist es wichtig, zu
wissen, wie die Ruhesituation eines Neuron aussieht. Was auf den ersten Blick
irritierend wirkt, ist die Tatsache, dass die Membran eines Neurons im unerreg-
ten Zustand ein Ruhepotenzial von ca. −70 mV aufweist (d. h. die Innenseite
ist um 70 mV negativer als die Außenseite). Das, was man Aktivität oder Ak-
tionspotenzial nennt, ist eigentlich eine Depolarisation, bei der das Potenzial
näher an der Nulllinie liegt als vorher (ca. +30mV).
Um zu verstehen, warum es ein Ruhepotenzial gibt, muss man sich die
Ionenverteilung der Zelle ansehen: Innerhalb der Zelle befinden sich haupt-
sächlich Kalium (K+) und organische Anionen (A-), außerhalb der Zelle viel
Natrium (Na+) und Chlorid (Cl−). Betrachtet man die elektrischen Kräfte, wäre
die Zelle auf diese Weise ausgeglichen, bezogen auf die chemischen Kräfte ist
sie das jedoch nicht. Ionen möchten immer überall die gleiche Konzentration
haben, d. h. dass K+, A−, Na+ und Cl− innen und außen gleich verteilt sind.
Die Zellwand ist jedoch nur durchlässig (semipermeabel) für Kaliumionen.
Die anderen Ionen können nicht umherwandern. Das Ruhepotenzial baut sich
deshalb auf folgende Weise auf:
174 Kapitel 4 • Biopsychologie

Membranpotenzial [mV]

+20
Überschuss

4 -20
Aufstrich Repolarisation
-40

-60 Schwelle
Nachpotenziale:
-80 hyperpolarisierend

Ruhepotenzial depolarisierend
-100
0 1 2 3 4 ms

. Abb. 4.9  Übersicht über den Ablauf eines Aktionspotenzials. (Aus Birbaumer & Schmidt,
2006)

55 Aufgrund des Konzentrationsgefälles von K+ und des daraus resultieren-


den osmotischen Drucks fließt K+ aus der Zelle (chemische Kraft).
55 Wandert K+ nach draußen, baut sich eine elektrische Kraft auf, da die
Außenseite der Membran nun positiver wird als innen. a Die elektrische
Kraft wirkt dem osmotischen Druck entgegen.
55 Sind beide Kräfte im Gleichgewicht, ist das Ruhepotenzial aufgebaut; man
spricht dann auch vom K+-Gleichgewichtspotenzial.

Die Membran ist jedoch nicht ganz so undurchlässig für Na+ wie zunächst
dargestellt, so dass hin und wieder Na+-Leckströme in die Zelle fließen und
das Ruhepotenzial durcheinanderbringen. Aber auch durch Aktionspotenziale
wird die Ionenverteilung verändert. Um das Potenzial dennoch aufrechtzu-
erhalten bzw. wiederherzustellen, gibt es die Na+-K+-Pumpe, die unter Ener-
gieverbrauch K+ in die Zelle und Na+ aus der Zelle pumpt.

Das Aktionspotenzial
Soll nun eine Information über die Strecke des Axons weitergeleitet werden,
kommt das Aktionspotenzial (AP) zum Zug. Es wird dann ausgelöst, wenn
die Membran um mehr als 20 mV depolarisiert wird (z. B. durch ein Aktions-
potenzial im vorigen Segment). Für das Aktionspotenzial gilt das Alles-oder-
nichts-Gesetz, d. h. entweder es wird ein Aktionspotenzial ausgelöst, das dann
bis +30  mV reicht, oder nicht – kleine Aktionspotenziale gibt es nicht. Der
Ablauf eines Aktionspotenzials kann in folgenden Phasen beschrieben werden
(. Abb. 4.9):
55 Depolarisationsphase (Aufstrich):
55 Ein Impuls/Reiz kommt an und sorgt für eine geringe Depolarisation.
55 Wird der Schwellenwert erreicht, öffnen sich spannungsabhängige
Na+-Kanäle, so dass sehr schnell Na+ in die Zelle strömt. a Das Zell-
innere wird positiver.
4.2 • Das Nervensystem
175 4
55 Der positive Anteil der Depolarisation wird Überschuss/Overshoot
genannt.
55 Repolarisationsphase:
55 Nach einer gewissen Zeit (wenige Millisekunden) schließen sich die
Na+-Kanäle und werden für eine kurze Zeitspanne inaktiv (Refraktär-
zeit).
55 Nun öffnen sich spannungsabhängige K+-Kanäle, so dass K+ aus der
Zelle strömt. a Innen wird es wieder negativer, und das Ruhepotenzial
wird wieder hergestellt.
55 Nachpotenziale: Es gibt hyperpolarisierende Nachpotenziale, weil die Ka-
liumkanäle noch geöffnet sind und somit positive Ladungen ausströmen.
55 Nach Ablauf des AP befindet sich sehr viel Na+ in der Zelle und K+ außer-
halb. a Die ursprüngliche Ionenverteilung wird durch Na+-K+-Pumpen
wieder hergestellt.
55 Refraktärzeit:
55 Da die Na+-Kanäle in einen inaktiven Zustand übergegangen sind,
kann eine Zeit lang kein oder nur erschwert ein AP ausgelöst werden.
55 Absolute Refraktärzeit: Dies ist die Zeit, in der Na+-Kanäle inaktiv sind
und durch keine Depolarisation geöffnet werden können (völlige Un-
erregbarkeit).
55 Relative Refraktärzeit: Dies ist die Zeit, in der zwar AP ausgelöst wer-
den können, allerdings nur bei starken Reizen.

Weiterleitung des Aktionspotenzials


Normalerweise entsteht das AP am Axonhügel und wandert dann das Axon
entlang. Die einfache elektrotonische Erregungsleitung (Stromfluss ohne
Verstärkung, Kabeleigenschaften) verliert sich schnell und kann deshalb nur
über kurze Distanzen erfolgen. Dann muss das Signal aktiv von der Zelle wie-
der verstärkt werden, oder es geht verloren. Um diese Fortleitung des Poten-
zials zu gewährleisten, gibt es verschiedenen Mechanismen:
55 Fortleitung bei unmyelinisierten Fasern:
55 Die Depolarisation wandert von Abschnitt zu Abschnitt (elektro-
tonisch), wobei in jedem Segment ein AP ausgelöst wird (und Na+-
Kanäle geöffnet werden). a Der Stromfluss wird aktiv verstärkt.
55 Da die elektrotonische Fortleitung nur über sehr kurze Distanzen
funktioniert, muss das Signal in sehr kurzen Abständen erneuert wer-
den.
55 Die Geschwindigkeit der Fortleitung hängt nur von der Dicke des
Axons ab (je dicker, desto schneller).
55 Diese Form der Fortleitung ist relativ langsam (auch bei dicken Axo-
nen).
55 Fortleitung bei myelinisierte Fasern (saltatorische Fortleitung):
55 An den Stellen, wo die Schwannschen Zellen sind, geht wegen der
guten Isolierung fast kein Strom durch die Membran verloren a hoher
Membranwiderstand.
55 Dadurch kann sich ein AP von einem Schnürring zum nächsten fast
verlustlos und ohne Zeitverlust elektrotonisch ausbreiten, so dass nur
in den Schnürringen ein AP ausgelöst wird. a Das Potenzial »springt«
von Schnürring zu Schnürring.
55 Myelinisierte Fasern leiten deutlich schneller als unmyelinisierte.

Die Weiterleitung von AP durch die Nervenfasern hängt somit davon ab, ob die
Fasern myelinisiert oder unmyelinisiert und wie dick die Fasern sind. Es kön-
176 Kapitel 4 • Biopsychologie

nen folgende Nervenfasertypen unterschieden werden (sie leiten von oben


nach unten immer langsamer):
55 Aα-Fasern:
55 Sehr dicke, myelinisierte Fasern
55 Efferente Fasern dieses Typs heißen Aα- Fasern, z. B. Motoaxone zu
Skelettmuskeln.
55 Afferente Fasern dieses Typs heißen Ia, bzw. Ib-Fasern, z. B. Muskel-
spindelfasern (Sinneszellen in den Muskeln).
4 55 Sie leiten sehr schnell: 100 m/s.
55 Aβ-Fasern:
55 Myelinisierte Fasern
55 Alle korpuskulären Rezeptoren, d. h. Rezeptoren für Berührung und
Druck, sind Aβ-Fasern.
55 Aγ-Fasern:
55 Myelinisierte Fasern
55 Motoaxone zu Muskelspindeln sind Aγ-Fasern.
55 Aδ-Fasern:
55 Myelinisierte Fasern
55 Nicht-korpuskuläre Rezeptoren, d. h.freie Nervenendigungen, wie z. B.
Rezeptoren für Temperatur (Kälterezeptoren) und Schmerzwahrneh-
mung, sind Aδ-Fasern.
55 B-Fasern:
55 Myelinisierte Fasern
55 Sympathisch präganglionäre Neurone sind B-Fasern.
55 C-Fasern:
55 Sehr dünne, nicht myelinisierte Fasern
55 Nicht-korpuskuläre Rezeptoren, wie z. B. Rezeptoren für Temperatur
(Wärmerezeptoren) und Schmerzwahrnehmung, sind C-Fasern.
55 Sie leiten sehr langsam: 1 m/s

4.2.4 Reizübertragung an Synapsen

Soll ein Signal von einer Nervenzelle auf die nächste übertragen werden, ge-
schieht dies über die Berührungspunkte von Nervenzellen, über die Synap-
sen (Birbaumer & Schmidt, 2006; Heckmann & Dudel, 2011). Es können ganz
grundlegend zwei Synapsentypen unterschieden werden:
55 Elektrische Synapsen:
55 Der synaptische Spalt ist bei ihnen deutlich schmaler als bei chemi-
schen Synapsen (2 nm statt 20 nm).
55 Der synaptische Spalt ist mithilfe von Kanälen, den Gap-Junctions
(Konnexone), überbrückt, so dass ein Potenzial direkt von der einen in
die andere Zelle gelangen kann.
55 Strömt in die präsynaptische Zelle Na+ ein (wegen eines ankommen-
den AP), so kann dieser Na+-Strom direkt durch die Gap-Junctions
auch in die postsynaptische Zelle fließen, sie depolarisieren und
schnell und zuverlässig wieder ein AP auslösen.
55 Chemische Synapsen (. Abb. 4.10):
55 Ein AP kommt an (präsynaptisch) a es öffnen sich spannungsabhän-
gige Ca2+-Kanäle a Ca2+ strömt in die präsynaptische Zelle (da außen
mehr Ca2+ist).
55 Ca2+ bewirkt, dass sich Vesikel mit der präsynaptischen Membran ver-
binden können und so den Transmitter freisetzen.
4.2 • Das Nervensystem
177 4

präsynaptische
Axon Neurotubuli Mitochondrion
Endigung
(synaptischer
Endknopf ) synaptisches
Bläschen
komplexer (Vesikel)
Vesikel

post-
synaptische
Seite

postsynaptische postsynaptische Transmitter- synaptischer


(subsynaptische) Rezeptoren Moleküle Spalt
Membran (Ionenkanäle)

. Abb. 4.10  Blick in eine chemische Synapse. (Aus Birbaumer & Schmidt, 2006, mit freund-
licher Genehmigung von Konrad Akert)

55 Der Transmitter verbindet sich mit Rezeptoren der Postsynapse.


55 Je nach Transmitter wird die postsynaptische Zelle erregt oder ge-
hemmt.
55 Chemische Synapsen sind modulierbar.

Nachdem der Transmitter an der Postsynapse gebunden hat, kann er dort ent-
weder eine Erregung oder eine Hemmung bewirken:
55 Erregendes postsynaptisches Potenzial (EPSP):
55 Freigesetzte Transmitter binden an die Rezeptoren der Postsynapse.
55 Ionotrope Na+-Kanäle der Postsynapse werden geöffnet. Dadurch
fließt Na+ in die Zelle, und die Postsynapse wird depolarisiert.
55 Der Zellkörper »verrechnet« alle ankommenden Potenziale.
55 Das EPSP läuft passiv ab und wird elektrotonisch weitergeleitet.
55 Reicht die Depolarisation im Axonhügel aus, wird ein neues AP aus-
gelöst.
55 Je größer die Amplitude des EPSP, desto höher ist die Frequenz der AP.
55 Faktoren, die sich auf die Größe des EPSP auswirken:
–– Je stärker die Depolarisation der Postsynapse, desto größer das
EPSP.
–– Je mehr Dendriten erregt werden, desto größer das EPSP.
–– Je mehr Impulse pro Zeiteinheit ankommen, desto größer das
EPSP.
178 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 Inhibitorisches postsynaptisches Potenzial (IPSP):


55 Freigesetzte Transmitter verbinden sich mit den Rezeptoren der Post-
synapse.
55 Ionotrope Cl−-Kanäle der Postsynapse werden geöffnet. Dadurch fließt
Cl− fließt in die Zelle, und die Postsynapse wird hyperpolarisiert.
55 Je nach Transmitter werden auch K+-Kanäle geöffnet, so dass K+ nach
außen fließt und eine Hyperpolarisation erfolgt.
55 Durch Hyperpolarisation wird es schwerer, die Zelle zu depolarisieren
4 und den Schwellenwert zur Auslösung eines AP zu erreichen.
55 Dieser Vorgang findet an axo-somatischen oder axo-dendritischen
Synapsen statt.

Es gibt noch einen weiteren, etwas außergewöhnlicheren Synapsentyp, und


zwar die präsynaptisch hemmende chemische Synapse, die sich durch fol-
gende Eigenschaften beschreiben lässt:
55 Die präsynaptische Hemmung findet an axo-axonischen Synapsen statt.
55 Inhibitorische Synapsen sorgen dafür, dass die zu hemmende präsynap-
tische Endigung ganz langsam depolarisiert wird. a Diese langsame De-
polarisierung sorgt dafür, dass die Na+-Kanäle der Postsynapse sofort in
den inaktiven Zustand gehen (der normalerweise erst nach dem Öffnen
der Na+-Kanäle beim AP erreicht wird).
55 Es können auch nur wenige Na+-Kanäle inaktiviert werden, daher sind
graduelle Abstufungen möglich.
55 Funktionen der präsynaptischen Hemmung sind:
55 Es können gezielt/selektiv einzelne Zuflüsse gehemmt werden.
55 Die Sensibilität einer Zelle wird verändert.

Die Reizübertragung an Synapsen geschieht mittels verschiedener Botenstoffe,


die unterschiedliche Eigenschaften haben:
55 Transmitter:
55 Sie können sowohl an ionotrope als auch an metabotrope Rezeptoren
(s. u.) binden.
55 Nachdem sich der Transmitter von dem Rezeptor gelöst hat, wird er
von einem Enzym gespalten oder komplett wieder in die Zelle aufge-
nommen.
55 Es gibt mehrere Arten von Transmittern, u. a.:
–– Biogene Amine: Acethylcholin = ACh (erregend), Katechol-
amine (Dopamin = DA, Noradrenalin = NA, Adrenalin), Sero-
tonin = 5-HT
–– Aminosäuren: z. B. Glutamat = Glu (erregend), GABA (= Gam-
ma-aminobutyric acid; hemmend)
–– Gasförmige Transmitter, z. B. Stickoxid
55 Neuromodulatoren/Neuropeptide:
55 Sie binden nur an metabotrope Rezeptoren und modulieren so synap-
tische Prozesse.
55 Sie öffnen keine Ionenkanäle, sondern modulieren die Membraneigen-
schaften.
55 Bei einer starken Erregung werden neben den Transmittern zusätzlich
kolokalisierte Neuropeptide freigesetzt.

Diese Botenstoffe binden nicht alle an die gleichen Rezeptortypen, sondern an


unterschiedliche, mit unterschiedlichen Auswirkungen:
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
179 4
55 Ionotroper Rezeptor:
55 Ligandengekoppelter Ionenkanal (= durch chemische Veränderungen
gesteuert):
–– Er öffnet sich, wenn der Transmitter anbindet.
–– Er verändert das Membranpotenzial.
55 Nur Transmitter (keine Neuromodulatoren) binden an diesen Rezep-
tortyp.
55 Beispiele: Acethylcholinrezeptoren, Glutamat-Rezeptoren (AMPA-Re-
zeptoren, NMDA-Rezeptoren)
55 Metabotroper Rezeptor:
55 Er hat keinen direkten Einfluss auf den Ionenfluss der Zelle.
55 Er besteht meist aus Rezeptor, G-Protein und Enzym.
55 Bindet ein Botenstoff an den Rezeptor, wird G-Protein aktiviert und
wandert zum Enzym.
55 Das Enzym wird aktiviert und bewirkt, dass der sekundäre Botenstoff
erstellt wird (Second messenger).
55 Der sekundäre Botenstoff hat intrazellulär Einfluss auf ionotrope Re-
zeptoren (d. h. er verändert Eigenschaften, z. B. sensibilisiert).
55 Er kann auch die Genexpression verändern.
55 Häufiger Second messenger: cAMP (zyklisches Adenosinmonophos-
phat)

4.3 Allgemeine Sinnesphysiologie

4.3.1 Allgemeines zur Sinnesphysiologie

Die allgemeine Sinnesphysiologie beschäftigt sich mit dem Aufbau und


der Funktionsweise der Sinnesorgane sowie mit der Weiterleitung und -ver-
arbeitung der ausgelösten Potenziale. Die Sinnesphysiologie kann unterteilt
­werden in:
55 Objektive Sinnesphysiologie: Hier geht es um die Analyse der objektiv
messbaren neurophysiologischen Aktivität.
55 Subjektive Sinnesphysiologie (Wahrnehmungspsychologie): Sie beschäf-
tigt sich mit der Verarbeitung von Sinnesreizen zu Sinneseindrücken
(einzelne Sinneserfahrung) zu Sinnesempfindungen (komplexere Sinnes-
eindrücke) und schließlich zu Wahrnehmung (Deutung der Sinnesemp-
findung).

Innerhalb der Sinnesphysiologie werden folgende Grunddimensionen unter-


schieden:
55 Modalität = Sinnesorgane, Sinneskanäle (z. B. Auge)
55 Qualität = Innerhalb einer Modalität unterschiedene Sensortypen; ver-
schiedene Reizausprägungen, die eine Modalität wahrnehmen kann (z. B.
Helligkeit, Farbe)
55 Quantität = Innerhalb einer Qualität unterscheidbare Reizintensitäten
(z. B. Stärke der Helligkeit)

Damit ein Sinneseindruck entstehen, ins Gehirn weitergeleitet und dort zu


einer Wahrnehmung weiterverarbeitet werden kann, ist es erforderlich, den
aus der Umwelt kommenden Reiz (z. B. Licht) in eine für das Gehirn lesbare
Information (Potenzial) umzuwandeln. Dieser Prozess umfasst zwei Schritte
und zwei Potenzialarten:
180 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 Transduktion: Umwandlung des Reizes in ein sog. Sensor- oder Rezep-


torpotenzial, das durch den entsprechenden Reiz am Rezeptor ausgelöst
wird
55 Transformation: Umwandlung des Rezeptorpotenzials in Aktionspoten-
ziale

Diese Unterscheidung ist deshalb wichtig, weil sich das Rezeptor- und das Ak-
tionspotenzial in ihren Eigenschaften und dadurch auch Verrechnungsmög-
4 lichkeiten unterscheiden:
55 Rezeptorpotenzial (auch Sensorpotenzial):
55 Es wird analog kodiert (Intensitätskodierung): Die Intensität/Stärke
des Reizes entspricht der Größe (Amplitude) des Potenzials.
55 Es wird nur elektrotonisch (passiv) weitergeleitet.
55 Aktionspotenzial:
55 Es wird digital kodiert (Frequenzkodierung): Die Intensität des Reizes
entspricht der Frequenz des Potenzials (die Amplitude eines AP ist
immer gleich).
55 Es wird aktiv weitergeleitet: Der Stromfluss wird immer wieder ver-
stärkt.

Besonders interessant ist dabei der Transduktionsprozess, weil hier die Um-
wandlung eines physikalischen Reizes (Licht, Schall usw.) in eine für das Ge-
hirn lesbare Information umgewandelt wird. Deshalb wird in der folgenden
Darstellung der einzelnen Sinnesorgane jeweils die Transduktion in einem ge-
sonderten Abschnitt behandelt.
Ist die Umwandlung in ein Potenzial schließlich vollzogen, wird die sen-
sorische Information in den sog. primären sensorischen Cortex weitergeleitet.
Diese Weiterleitung erfolgt meist mithilfe von zwei bis drei Neuronen zwi-
schen Sinnesrezeptor und dem je nach Sinnesorgan entsprechenden Cortex-
areal (z. B. primärer somatosensorischer Cortex, primärer akustischer Cortex
usw.). Da nur in Synapsen und Zellkörpern Verrechnungsprozesse stattfin-
den, sind die Umschaltstellen von einem auf das nächste Neuron interessante
Punkte und werden ebenfalls bei jedem Sinnesorgan genauer betrachtet. Eine
Umschaltstation ist i. d. R. der Thalamus, von wo aus eine Information in den
Cortex weitergeleitet wird.
Während der Verarbeitung eines Potenzials gibt es verschiedene wichtige
Phänomene:
55 Adaption:
55 Dauert ein Reiz mit konstanter Intensität länger an, wird das Rezeptor-
potenzial geringer.
55 Rezeptoren können schnell oder langsam adaptieren.
55 Adaption begünstigt die Wahrnehmung von Reizänderung.
55 Konvergenz:
55 Viele Nervenzellen führen zu einer Zielzelle.
55 Sinn: Die schwache Erregung von mehreren Nervenzellen summiert
sich in der Zielzelle auf und wird so verstärkt.
55 Je ausgeprägter die Konvergenz ist, desto schlechter ist die Zweipunkt-
diskrimination (also die räumliche Auflösung, d. h. die Fähigkeit, zwei
benachbarte Punkte als zwei getrennte Punkte wahrzunehmen).
55 Divergenz:
55 Eine Nervenzelle leitet einen Reiz an mehrere nachgeschaltete Nerven-
zellen weiter.
55 Folge: Der Reiz kann schlechter lokalisiert werden.
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
181 4
55 Sinn:
–– Dies schafft Sicherheit, denn wenn einmal eine Nervenzelle nicht
funktioniert, wird der Reiz trotzdem weitergeleitet.
–– Die schwache Erregung einer Nervenzelle führt dazu, dass ein
kleines Potenzial von mehreren Neuronen weitergeleitet und dass
der Reiz verstärkt wird.
55 Laterale Hemmung (s. auch Auge; 7 Abschn. 4.3.5):
55 Sie kommt hauptsächlich beim Tastsinn und beim Auge vor.
55 Wird ein Neuron erregt, so hemmt es über ein Interneuron das be-
nachbarte Neuron.
55 Sinn: Kontrastverschärfung, bessere Diskriminationsfähigkeit
55 Rezeptives Feld (s. auch Auge; 7 Abschn. 4.3.5):
55 Es handelt sich um eine Fläche, in der ein Reiz ein bestimmtes Neuron
erregen kann.
55 Es ist die Summe der Sensoren, die ein bestimmtes Neuron erregen/
hemmen.
55 Es ist oft konzentrisch angelegt mit einem erregenden/hemmenden
Zentrum und einer gegenpoligen Peripherie.

4.3.2 Wahrnehmung und Psychophysik

Die Psychophysik beschäftigte sich mit den Zusammenhängen zwischen phy-


sikalischen Reizen und deren Wahrnehmung. Im Besonderen interessierte
man sich für die Schwellen der menschlichen Wahrnehmung, z. B.:
55 Absolutschwelle: Schwelle, aber der ein Reiz (Ton, Berührung, Licht)
wahrgenommen wird
55 Ortsunterschiedsschwellen: Entfernung zweier identischer Berührungs-
reize auf der Haut, die als zwei Reize erkannt werden (sie ist in den Lip-
pen am kleinsten, im Rücken am größten)
55 Intensitätsunterschiedsschwelle: Schwelle, ab der zwei unterschiedlich
starke Reize als unterschiedliche Reize wahrgenommen werden

Innerhalb der Psychophysik haben sich vor allem drei Forscher hervorgetan
(Flade, 1999; Anton, 2007):
55 Ernst Heinrich Weber:
55 Gesetz der spezifischen Sinnesenergie: Wird ein Sensor gereizt (auf
welche Art auch immer; adäquate oder nicht adäquate Reize), leitet er
immer die gleiche Information weiter (z. B. ein Schlag aufs Auge »er-
zeugt Lichtblitze«, obwohl das Auge nicht durch Licht gereizt wurde).
55 Webers Gesetz (auch Webers Konstante):
–– Damit zwei Reize als unterschiedlich wahrgenommen werden
können, muss man den Reiz bei jedem Sinneskanal immer um
eine bestimmte Konstante verändern.
–– Diese Konstante berechnet sich aus dem Verhältnis von s (Inten-
sität des Ursprungsreizes) zu Δs (Ausmaß, um das die Intensität
verändert wird): k = ∆s
s
55 Gustav Fechner:
55 Er beschäftigte sich damit, wie man Empfindungsstärken quantifizie-
ren kann, d. h. mit welcher Formel die Beziehung zwischen Wahrneh-
mung und Reizen beschrieben werden kann (Reiz-Antwort-Beziehun-
gen).
182 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 In seiner Arbeit mit Unterschiedsschwellen stellte er fest, dass es Be-


reiche gab, in denen diese Schwellen deutlich kleiner waren als in an-
deren, d. h. in manchen Reizbereichen spüren wir Unterschiede mehr
als in anderen (im Alltag merkt man das z. B. an Wasserhähnen, bei
denen es einem nicht gelingt, die richtige Temperatur einzustellen, weil
das Wasser entweder zu heiß oder zu kalt ist).
55 Angeregt durch Webers Forschung entwickelte Fechner das psycho-
physische Grundgesetz (auch Weber-Fechner-Gesetz), das besagt: Das
4 Verhältnis von Empfindung (E) zu Reizstärke (R) ist logarithmisch:
E=k*logR.
55 Stanley Smith Stevens:
55 Er arbeitete nicht mehr mit Unterschiedsschwellen, sondern mit Ver-
hältnisschätzungen.
55 Er entwickelte die Stevensche Potenzfunktion: E = k ∗ sn, mit E =
Empfindung, k = Konstante, s = Stimulus und n = rezeptorspezifischer
Exponent.

4.3.3 Somatosensorik

Die Somatosensorik umfasst alle Sinnesempfindungen, die in Haut, Muskeln


oder Gelenken entstehen (Birbaumer & Schmidt, 2006; Treede, 2011). Diese als
Tast- und Bewegungssinn bezeichnete Wahrnehmung umfasst verschiedene
Rezeptortypen:
55 Mechanorezeptoren:
55 Sie reagieren auf mechanische Reize (Druck und Berührung).
55 Es handelt sich um niederschwellige Rezeptoren (reagieren bereits auf
schwache Reize).
55 Sie haben korpuskuläre (körperähnliche) Endigungen.
55 Sie werden versorgt durch Aβ-Fasern.
55 Thermorezeptoren:
55 Sie reagieren auf Temperaturveränderungen.
55 Sie haben nicht-korpuskuläre (freie) Endigungen.
55 Sie werden versorgt durch Aδ- und C-Fasern.
55 Nozizeptoren:
55 Sie reagieren auf bedrohliche (noxische) Reize.
55 Es handelt sich um hochschwellige Rezeptoren.
55 Sie haben nicht-korpuskuläre Endigungen.
55 Sie werden versorgt durch Aδ- und C-Fasern.
55 Chemische Rezeptoren: Sie reagieren auf chemische Reize.

Hier sollen v. a. die unterschiedlichen Mechano- und Thermorezeptoren ge-


nauer dargestellt werden. Die Wahrnehmung von Schmerz ist so umfangreich,
dass sie in einem eigenen Kapitel behandelt wird.

Rezeptoren der Haut


Die Gruppe der Mechanorezeptoren umfasst viele verschiedene Rezeptoren.
Dabei gibt es solche, die für behaarte und solche, die für unbehaarte Haut
typisch sind. In der unbehaarten Haut finden sich folgende Rezeptoren
(. Abb. 4.11):
55 Meissner-Körper:
55 Sie reagieren auf Berührung und Geschwindigkeit.
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
183 4

Meissner- Merkel- Pacini- Haarfollikel- Tastscheibe Ruffini-


Körperchen Zelle Körperchen sensor Körperchen

. Abb. 4.11  Übersicht über die verschiedenen Mechanorezeptoren der Haut. (Aus Birbau-
mer & Schmidt, 2006)

55 Sie messen, wie schnell Bewegungen sind.


55 Sie sind schnell adaptierend.
55 Merkel-Zellen:
55 Sie reagieren auf Druck.
55 Sie messen, wie intensiv ein Reiz ist.
55 Sie sind langsam adaptierend. a Sie messen deshalb auch die Reiz-
dauer.
55 Pacini-Körper:
55 Sie messen Vibrationen und die Beschleunigung von Reizen (d. h. wie
schnell sich die Geschwindigkeit einer Bewegung ändert).
55 Sie messen Frequenzbereiche, die mit dem Ohr nicht wahrgenommen
werden können.
55 Sie sind sehr schnell adaptierend.
55 Ruffini-Körper (nur teilweise in unbehaarter Haut):
55 Sie reagieren auf Dehnung der Haut und messen die Richtung.
55 Sie sind langsam adaptierend.

In der behaarten Haut finden sich demgegenüber folgende Zelltypen:


55 Haarfollikelrezeptoren:
55 Sie messen die Geschwindigkeit der Bewegung des Haares.
55 Sie entsprechen in ihrer Funktion den Meissner-Körpern.
55 Tastscheibe:
55 Sie reagieren auf Druck.
55 Sie entsprechen in ihrer Funktion den Merkel-Zellen.
55 Ruffini-Körper
55 Pacini-Körper

In der Gruppe der Thermosensoren können folgende Rezeptoren unterschie-


den werden:
55 Kältesensoren:
55 Ihr optimales Antwortverhalten liegt bei 25° C Hauttemperatur (nor-
mal 32° C).
55 Sie reagieren paradoxerweise auch auf Temperaturen über 45° C (para-
doxe Hitzeantwort).
55 Es handelt sich um Aδ-Fasern.
55 Wärmesensoren:
55 Ihr optimales Antwortverhalten liegt bei 40° C.
55 Es handelt sich um C-Fasern.
184 Kapitel 4 • Biopsychologie

Im Bereich, in dem die Temperaturempfindung neutral ist (31°–36° C), sind


sowohl Wärme- als auch Kältesensoren aktiv. Dieser Bereich heißt auch
I­ ndifferenztemperatur.

Weiterleitung eines somatosensorischen Reizes


Ist ein Reiz von dem entsprechenden Rezeptor aufgenommen und soll nun
weitergeleitet werden, geschieht dies auf zwei Wegen, je nachdem, ob es sich
um einen niederschwelligen oder hochschwelligen Rezeptor handelt. Ein nied-
4 rigschwelliger Rezeptor reagiert auf geringe Reizstärken wie Druck und Berüh-
rung (Mechanorezeptoren) und ein hochschwelliger auf größere Intensitäten
und noxische Reize (Nozizeptoren). Die Weiterleitung und zentrale Verarbei-
tung somatosensorischer Neurone erfolgt folgendermaßen:
55 Niederschwellige Rezeptoren (Mechanorezeptoren):
55 Das Axon tritt in der Hinterwurzel ins Rückenmark ein und läuft am
Hinterhorn vorbei zum Hinterstrang (ein Seitenast/Kollateral kann ins
Hinterhorn eintreten und dort zur Verarbeitung von niederschwelligen
Reizen führen).
55 Im Hinterstrang läuft das Axon ipsilateral (auf der gleichen Seite) bis
zur Medulla oblongata, wo sich die erste Synapse befindet.
55 Das nachgeschaltete zweite Neuron kreuzt hier auf die andere Seite
(nach kontralateral) und läuft weiter zum Thalamus (genauer: zum
lemniskalen System), wo sich die zweite Synapse befindet.
55 Das dritte Neuron bringt die Information schließlich zum primären
sensorischen Cortex.
55 Thermische und hochschwellige Rezeptoren (Thermosensoren, Nozi-
zeptoren):
55 Das Axon tritt wieder über die Hinterwurzel ins Rückenmark ein, läuft
jetzt aber direkt ins Hinterhorn hinein.
55 Hier befindet sich die erste Synapse. Das nachgeschaltete Neuron
kreuzt auf die kontralaterale Seite zum Vorderseitenstrang, wo es bis
zum Thalamus läuft.
55 Die zweite Synapse befindet sich im Thalamus. Das nun nachgeschal-
tete dritte Neuron bringt die Information zum primären sensorischen
Cortex.

4.3.4 Nozizeption und Schmerz

Entstehung von Schmerzen


Der Begriff »Nozizeption« bezeichnet den objektiv messbaren Prozess, mit
dem das Nervensystem schädigende Reize aufnimmt und verarbeitet (Birbau-
mer & Schmidt, 2006; Schaible, 2011). Schmerz ist demgegenüber laut inter-
nationaler Schmerzgesellschaft (International Association for the Study of Pain
IASP) ein »unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder
potenzieller Gewebsschädigung verknüpft ist oder mit den Begriffen einer sol-
chen Schädigung beschrieben wird« (Birbaumer & Schmidt, 2006). Schmerz
ist dabei nicht gleich Schmerz – er kann unterschieden werden hinsichtlich
55 seiner zeitlichen Komponente:
55 Akut: Organisch bedingter Schmerz von kurzer Dauer, Schmerzende
nach Reizende
55 Chronisch: Organisch bedingter Schmerz von langer Dauer, Schmer-
zende nach Reizende
55 Chronifiziert: Chronischer Schmerz, der nach Beseitigung der organi-
schen Ursache bestehen bleibt
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
185 4
55 seines Ursprungs:
55 Nozizeptiver Schmerz: Schmerz, der durch physiologische Stimulation
der Sensoren entsteht (z. B. Entzündung, Verletzung, Tumor)
55 Neuropathischer Schmerz: Schmerz, der durch Schädigung von Ner-
venzellen entsteht (in der Peripherie, z. B. Phantomschmerzen, oder
im ZNS, z. B. durch einen Schlaganfall)
55 Psychogener Schmerz:
–– Der Schmerz ist eine Folge sozialer Umstände und nicht orga-
nisch bedingt.
–– Rein psychogene Schmerzen sind äußerst selten, aber fast im-
mer spielen psychische Faktoren eine schmerzverstärkende oder
schmerzmindernde Rolle.

Im Folgenden sollen nun nozizeptive, neuropathische und übertragene


Schmerzen genauer beschrieben werden. Ein Mechanismus im Rahmen von
nozizeptivem Schmerz ist die neurogene Entzündung, die durch den sog.
Axonreflex ausgelöst wird:
55 Wird in einem Nozizeptor ein Ast des peripheren/sensorischen Endi-
gungsbäumchens erregt, laufen die AP rückwärts (antidrom) in die ande-
ren Äste des Endigungsbäumchens.
55 Folge: Es kommt zu Ausschüttung der »Entzündungssuppe«, die Neuro-
peptide (Substanz P, CGRP) und andere Transmitter (Serotonin, Hista-
min, Prostaglandin) beinhaltet.
55 Die Neurotransmitter haben vier Effekte:
55 Sensibilisierung der peripheren Nozizeptoren (Hyperalgesie)
55 Rötung: Durch Weitung der Blutgefäße (Vasodilatation) fließt mehr
Blut durch die Adern, und die Haut rötet sich.
55 Wärmeempfindung: Sie entsteht ebenfalls durch den erhöhten Blut-
fluss, aber auch durch die Sensibilisierung von Thermosensoren.
55 Schwellung: Die Substanz P steigert die Durchlässigkeit der Blutgefäß-
wände, so dass durch den Blutdruck Blutplasma in das umliegende
Gewebe gedrängt wird.
55 Funktion der neurogenen Entzündung:
55 Schonung durch Sensibilisierung
55 Auswaschen von toxischen Substanzen durch Schwellung
55 Anlocken von immunkompetenten Zellen

Beispiele für die Entstehung neuropathischer Schmerzen (Zimmermann,


2005):
55 Neurom:
55 Es entsteht durch eine Durchtrennung von sensorischen Nerven, die
für die Weiterleitung von Schmerzen zuständig sind, z. B. bei Ampu-
tation.
55 Wird ein Nerv durchtrennt, versucht die Zelle, den Schaden zu repa-
rieren und das Axon zurückwachsen zu lassen. Dazu synthetisiert die
Zelle Eiweiße und andere Zellbausteine.
55 An der durchtrennten Stelle sammeln sich die Zellbausteine wie an
einem Hindernis und bilden eine Art Knospe.
55 In dieser Knospe werden nun die produzierten Zellbestandteile einge-
baut (z. B. Poren usw.), so dass hier z. B. fälschlicherweise AP ausgelöst
werden können (Ectopic Pacemakers) oder dass eine Kontaktfläche
zu anderen Nervenzellen entsteht, die es normalerweise nicht gäbe
(Ephapsen).
186 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 Ectopic Pacemakers (ektopische Entladungen):


55 Dies sind Stellen, an denen aufgrund einer Verletzung ein Aktions-
potenzial ausgelöst wird.
55 Die Zelle synthetisiert bei ihrem Versuch, die Verletzung zu reparie-
ren, z. B. Na+-Kanäle, die in die Zellwand eingebaut werden, so dass an
diesen Stellen ein Aktionspotenzial ausgelöst werden kann.
55 Ephapsen:
55 Dies sind Kontaktstellen zwischen Nervenfasern, die es normalerweise
4 nicht gibt.
55 1. Typ von Ephapsen: Sie funktionieren wie elektrische Synapsen.
–– Da die Axone von Nozizeptoren nicht myelinisiert sind, liegen
Axone direkt nebeneinander.
–– Durch die Auswüchse des Neuroms kann es dazu kommen, dass
sich zwei Nervenfasern berühren.
–– Läuft nun ein AP z. B. durch eine sympathische Faser, so springt
das Potenzial auf die sensorische Faser über. a Immer wenn der
Sympathikus aktiv ist, hat man Schmerzen.
55 2. Typ von Ephapsen: Sie funktioniere wie chemische Synapsen.
–– Der Zellkörper stellt als Reparaturbaustein auch Rezeptoren her.
–– Wird an den Enden einer benachbarten Faser der entsprechende
Transmitter freigesetzt, bindet dieser nicht nur an Rezeptoren der
Zielzelle, sondern ungewollterweise auch an die Rezeptoren im
Neurom.
–– Durch Depolarisation werden nun AP ausgelöst.
55 Projizierter Schmerz:
55 Wird ein Axon kräftig angestoßen, werden AP ausgelöst.
55 Da die Sensoren des Axons eigentlich aus einem anderen Körperareal
kommen, werden die Schmerzen in dieses Areal projiziert.
55 Beispiel: Wenn man sich den sog. Musikantenknochen im Ellbogen
anstößt, spürt man den Schmerz bis in die Hand.

Die Weiterleitung von nozizeptiven Reizen erfolgt analog zu der Verarbeitung


von Thermosensoren (s. o.). Bei dieser Verarbeitung kann es zu einem interes-
santen Phänomen kommen, dem übertragenem Schmerz:
55 Der Schmerz wird auf ein anderes Gebiet übertragen, das nicht durch
Nervenfasern mit dem ursächlichen Gebiet verbunden ist.
55 Die Schmerzfaser des ursächlichen Gebiets (z. B. ischämischer, d. h. auf
Sauerstoffarmut basierender Schmerz im Herzen) und des übertragenen
Gebiets (z. B. Schulter) haben dieselbe Zielzelle im Rückenmark; dies ist
typisch bei Herzinfarkt.
55 Da die Schmerzfasern des Herzens das ganze Leben kaum erregt werden,
interpretiert das Gehirn die Information falsch und ordnet dem Schmerz
das falsche Areal zu.

Schmerzsensibilität und Schmerzgedächtnis


Als Transmitter von Nozizeptoren wird im ZNS typischerweise Glutamat
(Glu) freigesetzt. Zusätzlich können noch andere Transmitter (z. B. Neuropep-
tide wie die Substanz P) freigesetzt werden. Als Faustregel gilt dabei: Bei einem
Schmerzreiz wird zunächst nur Glutamat freigesetzt, bei anhaltenden oder
wiederholten Schmerzreizen werden zusätzlich Neuropeptide ausgeschüttet.
Da Glutamat der klassische Transmitter bei der Schmerzverarbeitung ist, lohnt
sich ein Blick auf die verschiedenen Glutamat-Rezeptortypen:
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
187 4
55 AMPA-Rezeptor:
55 Ionotroper Rezeptor
55 Glu bindet an, die Pore öffnet sich.
55 Na+ strömt in die Zelle und bewirkt eine Depolarisation.
55 Die Depolarisation klingt schnell wieder ab.
55 NMDA-Rezeptor:
55 Ionotroper Rezeptor, der normalerweise mit einem Magnesiumblock
versperrt ist
55 Bindet in diesem Zustand Glu an den Rezeptor, geschieht nichts.
55 Ist die Zelle vordepolarisiert, verschwindet der Magnesiumblock ins
Zellinnere.
55 Bindet nun Glu an den Rezeptor, fließt Ca2+ in die Zelle.
55 Die Vordepolarisation findet durch AMPA- oder den metabotropen
Rezeptor statt a dieser Rezeptor hat eine Verstärkerfunktion.
55 Metabotroper Glutamat-Rezeptor:
55 Bei einem kräftigen Reiz werden zusätzlich zum Glu noch Neuropepti-
de ausgeschüttet, die (immer) an metabotrope Rezeptoren binden.
55 Die ausgeschütteten Neuropeptide binden an den Rezeptor und bewir-
ken über eine Second-messenger-Kaskade eine Depolarisation.
55 Metabotrope Rezeptoren bewirken eine langsame und lang anhaltende
Depolarisation.

Insbesondere der NMDA-Rezeptor spielt eine entscheidende Rolle bei der


Chronifizierung von Schmerzen. Sensibilisierungsprozesse, für die der NMDA-
Rezeptor mitverantwortlich ist, führen zu einer Art »Schmerzgedächtnis«. Das
Schmerzgedächtnis bezieht sich auf das Phänomen, dass Schmerzen immer
wieder zurückkommen, auch wenn die Schmerzursache beseitigt ist oder die
Schmerzweiterleitung gar nicht mehr funktionieren kann.
Wie das Schmerzgedächtnis genau funktioniert ist noch nicht völlig er-
forscht. Man nimmt jedoch an, dass das Ca2+, das durch die NMDA-Rezepto-
ren in die Zelle einströmt, dabei mithilft, Informationen über bisher erlittene
Schmerzen abzuspeichern. Man kann vier solcher Ca2+-Effekte unterscheiden:
55 1. Effekt des Ca2+:
55 Schnell
55 Ca2+ sensibilisiert über Second messenger die AMPA-Rezeptoren.
55 Es erfolgt eine zentrale Sensibilisierung.
55 2. Effekt des Ca2+:
55 Mittelfristig
55 Der Effekt ist reversibel.
55 Ca2+ bewirkt, dass der Rezeptorverkehr beschleunigt wird, d. h. es
werden mehr Ionenkanüle in die Membran eingebaut.
55 3. Effekt des Ca2+:
55 Langfristig
55 Bei langanhaltenden Schmerzen wird die Genexpression beeinflusst,
so dass mehr Rezeptoren gebaut werden und zusätzlich die Synapsen-
fläche vergrößert wird.
55 4. Effekt des Ca2+:
55 Dieser Effekt ist irreversibel.
55 Fließt viel Ca2+ in die Zelle, z. B. bei starken Erregungen, steigt die
Ca2+-Ionenkonzentration an.
55 Eine hohe Ionenkonzentration wird v. a. schnell in hemmenden Inter-
neuronen erreicht, da diese kleinere Zellkörper haben als Neurone mit
langen Axonen.
188 Kapitel 4 • Biopsychologie

Bindehaut
Ziliarmuskel

Hornhaut
Iris / Regenbogenhaut Fovea / Sehgrube

Sehachse Macula lutea / gelber Fleck


Linse
4
K
K

Papille
vordere Augenkammer
Sehnerv
hintere Augenkammer Glaskörper
Zonulafasern
Netzhaut

Aderhaut

Lederhaut

. Abb. 4.12  Aufbau des Auges. (Aus Grehn, 2012)

55 Eine zu hohe Ca2+-Ionenkonzentration wirkt toxisch und zerstört die


Zelle.

4.3.5 Visuelles System

Aufbau des Auges und der Retina


Der Aufbau des Auges ist in . Abb. 4.12 zu sehen. Die Beschreibung der einzel-
nen Bestandteile findet sich im Folgenden:
55 Hornhaut (Cornea):
55 Gewölbter Teil der äußeren Augenhaut
55 Sie enthält viele Schmerzsensoren.
55 Bindehaut (Konjunktiva): Schleimhaut über der Sclera
55 Vordere Augenkammer:
55 Von Cornea bis Iris
55 Sie ist mit Kammerwasser gefüllt.
55 Iris (Regenbogenhaut):
55 Sie reguliert den Lichteinfall.
55 Sie beeinflusst die Pupillengröße.
55 Pupille: Natürliche Öffnung in der Iris des Auges
55 Ziliarmuskel:
55 Er reguliert die Akkommodation der Linse.
55 Er ist parasympathisch innerviert.
55 Zonulafasern: An ihnen ist die Linse aufgehängt.
55 Linse:
55 Sie ist ein elastischer Körper, der aus einer gelartigen Masse besteht.
55 Sie hat normalerweise das Bestreben, rund zu sein.
55 Je runder die Linse, desto näher ist der fokussierte Gegenstand.
55 Hintere Augenkammer:
55 Sie liegt zwischen Iris und Linse.
55 Sie ist mit Kammerwasser gefüllt.
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
189 4
55 Kammerwasser:
55 Flüssigkeit in den Augenkammern
55 Es enthält Nährstoffe für Linse und Hornhaut sowie Immunfaktoren.
55 Es wird pro Tag einmal komplett ersetzt.
55 Glaskörper:
55 Er liegt zwischen Linse und Retina.
55 Er besteht hauptsächlich aus Wasser.
55 Netzhaut (Retina):
55 Schicht aus Nervengewebe
55 Sie enthält die Sehsinneszellen.
55 Gelber Fleck (Macula lutea):
55 Bereich der Netzhaut, der die größte Dichte von Sehzellen aufweist
55 Er enthält die Sehgrube, in der der fokussierte Gegenstand abgebildet
wird.
55 Die Konzentration der Sehzellen wird umso geringer, je weiter man
sich vom gelben Fleck entfernt.
55 Durchmesser: 5 mm
55 Sehgrube (Fovea centralis):
55 Sie liegt im Zentrum der Macula lutea.
55 Stelle des schärfsten Sehens (enthält nur Zapfen)
55 Hier wird der fokussierte Gegenstand abgebildet.
55 Sehnerv (2. Hirnnerv):
55 Hier sammeln sich Axone der Ganglienzellen, die die wahrgenomme-
nen Informationen an das Gehirn weiterleiten.
55 An dieser Stelle befinden sich keine Rezeptoren (blinder Fleck).
55 Papille:
55 Austrittsstelle des Sehnerven
55 Sie verursacht den blinden Fleck.
55 Pigmentschicht: Hinter der Netzhaut gelegene Schicht mit Pigmentzellen
55 Choroidea (Aderhaut)
55 Mittlere Augenhaut: Sie liegt zwischen Sclera und Retina.
55 Sie enthält Blutgefäße.
55 Sclera (Lederhaut): Weiße Schutzhaut

Die Informationsaufnahme im Auge erfolgt in der Netzhaut (Retina). Die Re-


tina ist ein Netzwerk aus verschiedenen Zelltypen, in denen die vertikale und
horizontale Verarbeitung optischer Reize erfolgt (. Abb. 4.13):
55 Vertikale Verarbeitung:
55 Stäbchen:
–– Licht-Rezeptoren
–– Sie sind für das Hell-dunkel-Sehen zuständig.
–– Sie sind lichtempfindlicher als Zapfen.
–– Sie befinden sich v. a. außerhalb des gelben Flecks, nur wenige
befinden sich innerhalb.
55 Zapfen:
–– Licht-Rezeptoren
–– Es gibt drei verschiedene Typen, die für das Wahrnehmen der
Farben Rot, Grün und Blau zuständig sind.
–– Sie sind somit für das Farbensehen zuständig.
–– Sie befinden sich v. a. innerhalb des gelben Flecks, nur wenige
befinden sich außerhalb.
190 Kapitel 4 • Biopsychologie

Pigmentepithel

Zapfen
Stäbchen
Horizontalzelle

Off-Bipolarzelle

4 On-Bipolarzelle

On-off-Amakrine
On-Zentrum-
Ganglienzelle
Off-Zentrum-
Ganglienzelle
Müller-Zelle

Lichteinfall

. Abb. 4.13  Aufbau der Retina. (Aus Birbaumer & Schmidt, 2006)

55 Bipolarzellen:
–– Sie erhalten Input von Stäbchen bzw. Zapfen.
–– Sie geben Output an Ganglienzellen.
55 Ganglienzellen:
–– Sie arbeiten mit Aktionspotenzialen.
–– Sie erhalten Input von Bipolarzellen.
–– Axone der Ganglienzellen bündeln sich zum Sehnerv.
55 Horizontale Verarbeitung (sog. Interneurone)
55 Horizontalzellen:
–– Sie erhalten Input von Stäbchen und Zapfen.
–– Sie geben Output an Bipolarzellen.
55 Amakrine:
–– Auf ihren Dendriten befinden sich Eingangs- und Ausgangssyn-
apsen.
–– Sie beeinflussen Bipolar- und Ganglienzellen.

Die charakteristische Verteilung von Stäbchen und Zapfen in der Netzhaut


zieht zwei typische visuelle Phänomene nach sich:
55 Photopisches Sehen:
55 Sehen bei Helligkeit
55 Sehen mit Zapfen: Farbensehen
55 Ein Skotom: Blinder Fleck
55 Es gibt drei Zapfentypen, die auf unterschiedliche Wellenlängen sensi-
bel reagieren: rot, grün, blau.
55 Skotopisches Sehen:
55 Sehen bei Dämmerung
55 Sehen mit Stäbchen: Nur Schwarz-weiß-Sehen
55 Zwei Skotome: Blinder Fleck und gelber Fleck
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
191 4
55 Beispiel: Wenn man nachts in den Sternenhimmel schaut und einen
nicht ganz so hell leuchtenden Stern fokussiert, verschwindet er. Fo-
kussiert man jedoch auf einen Nachbarstern oder knapp neben den
Stern, kann man ihn wieder sehen. Das liegt daran, dass die Zapfen im
gelben Fleck weniger lichtempfindlich sind als die Stäbchen).

Transduktion und Modifikation visueller Informationen im


Auge
Die Stäbchen und Zapfen der Netzhaut stellen die Photorezeptoren dar, d. h.
hier findet der Transduktionsprozess statt (Birbaumer & Schmidt, 2006; Eysel,
2011). Liegen die Photosensoren im Dunkeln, sind Na+-Kanäle geöffnet, d. h.
im Dunkeln ist die Zelle depolarisiert, also genau umgekehrt wie normalerwei-
se. Alle Zelltypen der Netzhaut arbeiten mit langsamen, hyperpolarisierenden
Potenzialen, die elektrotonisch weitergeleitet werden (nur die Ganglienzellen
arbeiten mit »normalen« depolarisierenden AP).
Fällt nun Licht ins Auge, muss es zunächst durch die Zellschichten der
Netzhaut, bevor es auf die lichtempfindlichen Stäbchen und Zapfen trifft. In
den Photosensoren befindet sich ein Sehfarbstoff (bei Stäbchen Rhodopsin, bei
Zapfen Zapfenopsin), der beim Auftreffen von Licht zerfällt. Über eine Second-
messenger-Kaskade werden die Na+-Kanäle geschlossen, und die Zelle hyper-
polarisiert. Nach diesem Transduktionsprozess wird die visuelle Information
innerhalb der Retina von hinten nach vorne weitergeleitet. Da in der Retina
schon so viel synaptische Verarbeitung stattfindet, zählt sie bereits zum ZNS.
Das Auge ist ein sehr anpassungsfähiger Sinneskanal. Im Auge finden viele
Prozesse statt, die der Modifikation visueller Informationen dienen:
55 Akkommodation:
55 Änderung der Brechkraft der Linse: Rund-Machen der Linse, Scharf-
Stellen, Fokussieren
55 Der Vorgang:
–– Hinter den Zonulafasern befindet sich ein elastisches Band, das
einen Zug auf die Zonulafasern ausübt.
–– Wird der Ziliarmuskel kontrahiert, so werden die Ursprünge der
Zonulafasern (das elastische Band) nach vorne gezogen.
–– Dadurch erschlaffen die Zonulafasern, und die Linse wölbt sich
in ihre normale runde Form.
55 Akkommodationsbreite: Differenz zwischen den beiden Extremen
flache und runde Linse (= maximal möglich Brechkraftänderung)
55 Laterale Hemmung:
55 Sie findet in den Ganglienzellen statt.
55 Die Ganglienzellen haben immer eine Spontanaktivität, wodurch eine
Hemmung überhaupt erst möglich wird.
55 Rezeptive Felder der Ganglienzelle:
–– Sie sind rund: Die Ganglienzelle bekommt von einer runden
Fläche von Photorezeptoren ihren Input.
–– Sie sind konzentrisch: Die Photorezeptoren in der Mitte des re-
zeptiven Feldes bewirken (bei Lichteinfall) in der Ganglienzelle
eine Erregung. Die Photorezeptoren in der Peripherie des rezep-
tiven Feldes bewirken (bei Lichteinfall) in der Ganglienzelle eine
Hemmung (= On-Zentrum-Ganglienzelle; entsprechend umge-
kehrt funktionieren die Off-Zentrum-Ganglienzellen).
–– Die Photorezeptoren, die ein rezeptives Feld bilden, reagieren auf
denselben Reiz (Licht) also auf unterschiedliche Weise.
192 Kapitel 4 • Biopsychologie

–1 –1 0
On-Zentrum-
–1 +8 –1 –1 +8 0 –1 0 0
Neuron
–1 –1 0

4 Erregung: 8 8 0
Hemmung: –4 –3 –1
Relative
neuronale
Aktivierung: 4 5 –1

. Abb. 4.14  Rezeptive Felder und Kontrastverschärfung. (Aus Birbaumer & Schmidt, 2006)

–– Durch diesen Aufbau der rezeptiven Felder resultieren in der


Ganglienzelle unterschiedliche Erregungsmuster, die den Simul-
tankontrast bewirken (. Abb. 4.14).
–– Beispiel: Fällt Licht auf das gesamte rezeptive Feld, resultiert eine
geringere Aktivität in der Ganglienzelle, als wenn das rezeptive
Feld zum Teil im »Schatten« liegt (linkes und mittleres Bild), d. h.
dass Grenzbereiche zwischen Hell und Dunkel sozusagen heller
als hell sind. Auf diese Weise bewirkt die laterale Hemmung eine
Kontrastverschärfung.
–– Bei Farben gibt es rot-grüne und blau-gelbe rezeptive Felder.

Weiterverarbeitung und Modifikation visueller Informationen


im Gehirn
Die Weiterverarbeitung der aufgenommenen Information erfolgt auf folgen-
dem Weg (. Abb. 4.15):
55 Die Sehnerven beider Augen laufen aufeinander zu und tauschen in der
Sehkreuzung (Chiasma opticum) die Hälfte ihrer Axone
55 Gekreuzt wird nach folgender Regel:
55 Die Axone der nasalen Retina kreuzen nach kontralateral, die Axone
der temporalen Retina bleiben ipsilateral.
55 Man kann auch sagen: Die Axone des linken Teils der Retina projizie-
ren zur linken Gehirnhälfte, die rechten zur rechten.
55 Die Schichtung nach dieser Regel hat zur Folge, dass die Informatio-
nen über ein Objekt in einer Gehirnhälfte verarbeitet werden, obwohl
sie von zwei Augen kommen.
55 Nach dieser Sehnervkreuzung bezeichnet man den Nervenstrang nicht
mehr als Sehnerv, sondern als optischen Trakt (da sich Axone vermi-
schen).
55 Der optische Trakt läuft nun zu einem Kerngebiet des Thalamus (seitli-
cher Kniehöcker): Hier befindet sich die erste und einzige Synapse.
55 Von hier laufen die Axone direkt zum primären visuellen Cortex.
55 Hinter der Sehnervenkreuzung laufen Seitenäste zu:
55 Kerngebieten des Hypothalamus: Die Hell-dunkel-Wahrnehmung hilft
bei der Taktung der »inneren Uhr«.
55 Pretectum (»Vordach« des Mittelhirns): Steuerung von Reflexen wie
Akkommodation und Pupillenreflex
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
193 4

CGL
H
PT

S.C.

. Abb. 4.15  Weiterleitung visueller Informationen; Legende: CGL = Corpus geniculatum


laterale, H = Hypothalamus, PT = Area praetectalis, SC = Colliluli superiores. (Aus Eysel, 2011)

55 Colliculi superioris (im Dach/Tectum des Mittelhirns): Visuelle Wahr-


nehmung im Raum

Nach der Sehkreuzung laufen die Neurone zum Thalamus (Corpus genicula-
tum laterale):
55 Im Corpus geniculatum laterale gibt es sechs Neuronenschichten, die ab-
wechselnd dem ipsi- und dem kontralateralen Auge zugeordnet sind.
55 Der Corpus geniculatum laterale sortiert die Neurone auch in Hinsicht
auf Farbensehen (P-System) und Bewegungssehen (M-System).

Nach der Verarbeitung im Thalamus werden die Informationen zum primä-


ren visuellen Cortex weitergeleitet. Die Neuronenbahnen vom Thalamus zum
primären Cortex heißen Sehstrahlung. Der primäre visuelle Cortex teilt sich
ebenfalls in sechs Schichten, die parallel zur Cortexoberfläche liegen. ­Aufgrund
194 Kapitel 4 • Biopsychologie

dieser Schichtung heißt der primäre visuelle Cortex auch Area striata. Von hier
aus nimmt die Informationsverarbeitung ihren Ausgang:
55 Die Informationen werden zunächst in den Orientierungssäulen gebün-
delt. Wie der Name schon sagt, sind sie für die Orientierung an Konturen
zuständig, d. h. sie reagieren optimal auf Linien (da sie keine runden
rezeptiven Felder haben).
55 Orientierungssäulen bündeln sich wiederum zu okularen Dominanzsäu-
len. Eine Dominanzsäule verarbeitet entweder Informationen aus dem
4 linken oder aus dem rechten Auge. Die Säulen aus linkem und rechtem
Auge wechseln sich ab.
55 Dominanz- und Orientierungssäulen bilden Hypersäulen: Eine Hyper-
säule verarbeitet immer einen Punkt des Sehfeldes. a Die Hypersäulen
sind retinotrop angeordnet. Die Fovea centralis ist stärker repräsentiert
als die anderen Bereiche.
55 Somit ergibt es einen Sinn, dass die Dinge, die auf der linken Seite der
Netzhaut abgebildet werden, durch die Sehkreuzung in der linken Hemi-
sphäre bearbeitet werden: Auf diese Weise kann ein Objekt stets in einer
Hypersäule und in einer Gehirnhälfte bearbeitet werden (. Abb. 4.15).

Folgende Sehstörungen können im Auge auftreten:


55 Grüner Star (Glaukom):
55 Das Kammerwasser kann nicht mehr abfließen.
55 Dadurch erhöht sich der Augeninnendruck, denn es wird trotzdem
weiter Kammerwasser produziert.
55 Der Druck auf die Netzhaut lässt die Sehzellen absterben.
55 Grauer Star (Katarakt):
55 Trübung der Linse
55 Man kann die Linse ersetzen, muss dann aber spezielle Brillen tragen,
die die Akkommodation ersetzen.
55 Presbyopie (Altersweitsichtigkeit): Im Alter geht die Elastizität der Linse
verloren a sie kann sich nicht mehr rund machen.
55 Myopie (Kurzsichtigkeit): Der Augapfel ist zu lang.
55 Hyperopie (Weitsichtigkeit): Der Augapfel ist zu kurz.
55 Strabismus (Schielen):
55 Es gibt keine korrekte Disparation, d. h. die Inputs der beiden Augen
verschmelzen nicht richtig.
55 Der Input von einem Auge wird unterdrückt.
55 Hornhautastigmatismus (Punktlosigkeit):
55 Abbildungsfehler
55 Das Licht, das in die Linse einfällt, wird nicht exakt auf einen Brenn-
punkt gebündelt.

4.3.6 Akustisches System

Das Ohr enthält zwei Sinnesorgane: das Gehör und den Gleichgewichtssinn
(Birbaumer & Schmidt, 2006; Zenner, 2011). Es soll aber zunächst ein Grund-
verständnis dafür geschaffen werden, welche Signale das Ohr verarbeiten muss.
Beim Gleichgewichtssinn geht es darum, die Schwerkraft wahrzunehmen bzw.
die Lage des Körpers zu registrieren. Beim Gehör geht es darum, Schall wahr-
zunehmen. Schall ist eine Welle im Medium Luft, d. h. sich ausbreitende Ver-
dichtungen und Verdünnungen der Luftmoleküle. Einfach gesagt ist Schall
abwechselnd dicht gepackte Luft, die durch den Raum wandert. Wir Menschen
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
195 4

Äußeres Mittel- Innen- Nervus


ohr ohr ohr vestibulocochlearis

Trommelfell
vestibuläres
Gehörgang Labyrinth

Cochlea
(Hörschnecke)

. Abb. 4.16  Aufbau des Ohres. (Aus Zenner, 2011)

können Schall im Frequenzbereich von 20 bis 16.000 Hertz (= Schwingungen


pro Sekunde) wahrnehmen. Bereiche darunter nennt man Infraschall, die da-
rüber Ultraschall. Beides kann von unserem Hörorgan nicht wahrgenommen
werden.

Aufbau des Ohres


Physiologisch ist das Ohr in drei Bereiche unterteilbar (. Abb. 4.16):
55 Außenohr:
55 Es besteht aus Ohrmuschel und Gehörgang.
55 Es ist mit Luft gefüllt.
55 Funktion: Die Ohrmuschel bewirkt durch ihre Trichterform eine
Druckerhöhung der Schallwelle.
55 Mittelohr:
55 Es besteht aus Trommelfell und den Gehörknöcheln Hammer (Mal-
leus), Amboss (Incus) und Steigbügel (Stapes).
55 Verbindungen zum Innenohr:
–– Unter dem Steigbügel befindet sich eine Membran (= ovales
Fenster), die das Mittelohr mit der Scala vestibuli des Innenohres
verbindet.
–– Eine zweite Membran (= rundes Fenster) verbindet das Mittelohr
mit der Scala tympani des Innenohres.
–– Der Druck, der durch die Gehörknöchelchenkette auf das ovale
Fenster übertragen wird, wird über das runde Fenster wieder
ausgeglichen.
55 Es ist mit Luft gefüllt.
55 Es ist über die eustachische Röhre mit dem Nasenrachenraum ver-
bunden.
55 Funktion: Es verstärkt die Luftschwingungen, damit diese überhaupt
auf die Flüssigkeit im inneren Ohr übertragen werden können mithilfe
von zwei Mechanismen:
196 Kapitel 4 • Biopsychologie

Steigbügel Cochlea Helikotrema


Amboss
Hammer
Struktur
der »entrollten«
Trommelfell Cochlea

4
Basilarmembran Reissner-
und Corti- Organ Membran
Scala tympani (perilymphe)
(sog. Cochleäre Trennwand)
ovales Fenster Scala media (Endolymphe)

rundes Fenster Scala vestibuli (perilymphe)

. Abb. 4.17  Aufbau der Schnecke. (Aus Zenner, 2011)

–– Die Gehörknöchelchenkette wirkt als Hebel.


–– Das Trommelfell hat eine sehr große Fläche und gibt über die
Gehörknöchelchenkette den Druck an das ovale Fenster, das eine
sehr kleine Fläche hat, weiter.
55 Innenohr:
55 Es besteht aus dem Hörorgan (Schnecke, Cochlea) und dem Vestibu-
larorgan, die man aufgrund ihres verschlungenen Aufbaus auch als
Labyrinth zusammenfasst.
55 Aus der Cochlea bzw. dem Vestibularorgan kommt je ein Hirnnerv,
der die aufgenommenen Informationen weiterleitet (Nervus vestibula-
ris bzw. Nervus cochlearis).
55 Es ist mit Flüssigkeit (Endolymphe bzw. Perilymphe) gefüllt.
55 Funktion: Umwandlung eines Reizes in ein Potenzial und Weiterlei-
tung ins Gehirn

Aufbau des Hörorgans


Das eigentliche Hörorgan ist die sog. Cochlea (Schnecke), die ein Teil des La-
byrinths ist. Die Cochlea besteht im Wesentlichen aus drei zu einer Schnecke
aufgerollten »Schläuchen« (. Abb. 4.17):
55 Scala vestibuli:
55 Sie ist mit Perilymphe gefüllt.
55 Sie wird durch die Reissnersche Membran von der Scala media ge-
trennt.
55 Scala media:
55 Sie ist mit Endolymphe gefüllt.
55 Sie wird durch die Basilarmembran von der Scala tympani getrennt.
55 Auf dem Boden der Basilarmembran sitzt das Corti-Organ, in dem die
Transduktion stattfindet.
55 Aus dem Corti-Organ ragen Haarzellen (Stereozilien), deren Spitzen
an der sog. Tektorialmembran (Membran über dem Corti-Organ) be-
festigt sind.
55 Jede Haargruppe besteht dabei aus größeren und kleineren Stereo-
zilien.
55 Hinter den Haarwurzelzellen befinden sich die Rezeptoren.
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
197 4
55 Scala tympani:
55 Sie ist mit Perilymphe gefüllt.
55 Scala vestibuli und Scala tympani gehen am Helicotrema ineinander
über.

Transduktion in der Cochlea und Weiterleitung des Potenzials


Der Transduktionsprozess läuft in der Cochlea folgendermaßen ab: Über das
ovale Fenster wird die Schallwelle auf die Flüssigkeit in der Scala vestibuli
übertragen, die ihrerseits die Scala media zum Mitschwingen bringt. Durch
die Bewegung der Endolymphe in der Scala media verschiebt sich die Basilar-
gegenüber der Tektorialmembran, und die Zilien, die ja an beiden befestigt
sind, werden verschoben. Je nachdem, in welche Richtung die Abscherung
erfolgt, wird die Membranpermeabilität erhöht oder verringert: Erfolgt die
Auslenkung in Richtung der größeren Härchen, kommt es zur Erregung der
Zelle, erfolgt die Auslenkung in Richtung der kleineren Härchen, kommt es
zur Hemmung der Zelle.
Die Endolymphe der Scala media ist aufgrund von K+-Ionen positiv ge-
laden, die Haarzellen sind jedoch negativ geladen. Kommt es zur Auslenkung
der Zilien, öffnen sich K+-Kanäle, und Ionen fließen aus der Scala media in
die Haarzelle, und das Innere wird depolarisiert. Da die Haarsinneszelle kein
eigenes Axon hat (= sekundäre Sinneszelle), braucht sie direkt eine Synap-
se. Das durch die Auslenkung der Haare ausgelöste Rezeptorpotenzial (auch
Mikrophonpotenzial) wird somit über eine Synapse auf eine nachgeschaltete
Nervenzelle übertragen (Nervus cochlearis), wo sich dann mehrere Mikro-
phonpotenziale aufsummieren und schließlich das Aktionspotenzial ausgelöst
wird.

Wahrnehmung von verschiedenen Frequenzen


Man kann sich nun die Frage stellen, wie man eigentlich verschiedene Fre-
quenzen wahrnehmen kann, denn die Haarzellen sind alle gleich. Vielmehr
ermöglicht dies der Aufbau der Basilarmembran, denn sie wird in Richtung
des Helicotremas immer breiter und weicher. Je nach Frequenz schlägt die
Basilarmembran immer an einer anderen Stelle aus (und mit ihr die Haarzellen
des Corti-Organs). Eine bestimmte Stelle repräsentiert also eine bestimmte
Frequenz (Tonotopie).
Ist der Transduktionsprozess abgeschlossen, wird das Potenzial weiterge-
leitet an:
55 1. Synapse: Sie befindet sich hinter den sekundären Sinneszellen.
55 2. Synapse: Sie befindet sich in einem Kerngebiet im Hirnstamm (Nucleus
cochlearis), wo die Umschaltung auf ein zentrales Neuron und die Kreu-
zung des Hauptstrangs nach kontralateral erfolgen.
55 3. Synapse:
55 Sie befindet sich in den Colliculi inferioris (untere Hügel des Mittel-
hirndachs/Tectums).
55 Einige Fasern machen vom Nucleus cochlearis zu den Colliculi inferio-
ris einen Umweg über die Olive, wo Informationen aus beiden Ohren
verglichen werden und so die Schallquelle lokalisiert wird.
55 4. Synapse: Nach dieser Station läuft die Hörbahn zum medialen Kniehö-
cker des Thalamus (Corpus geniculatum mediatum).
55 Von hier aus führen die Axone zum primären akustischen Cortex, der
wie das Helicotrema tonotopisch aufgebaut ist, d. h. die verschiedenen
Frequenzen sind an verschiedenen Orten lokalisiert.
198 Kapitel 4 • Biopsychologie

hinterer Bogengang Macula utriculi


Labyrinth
vorderer Bogengang
horizontaler
Bogengang

Cupula
Macula utriculi
Macula sacculi
4
Cochlea Makula
b gekippt in Ruhe gekippt

Utrikulus

Endolymphe
Cupula Cupula
Stato-
konien
Stereo-
zilien
Ko
pf
Crista dr
eh
ung N.vestibularis
a c

. Abb. 4.18a–c  Maculaorgane und Bogengänge: a Labyrinth; b Reizung der Maculaorgane; c Bogengang mit Cupula (Aus Birbaumer &
Schmidt, 2006)

Aufbau des Vestibularorgans und Transduktionsprozess


Der Gleichgewichtssinn (vestibulärer Sinn) ist im Vestibularorgan repräsen-
tiert, das sich im Labyrinth des inneren Ohres befindet (Birbaumer & Schmidt,
2006; Zenner, 2011). Dieser Teil des Labyrinths ist wie die Cochlea mit Endo-
lymphe gefüllt und von Perilymphe umgeben. Das Vestibularorgan besteht
seinerseits aus zwei Teilen (. Abb. 4.18):
55 Maculaorgane:
55 Sie messen Linearbewegungen.
55 Macula utricula:
–– Sie liegt horizontal.
–– Sie misst die Beschleunigung horizontaler Linearbewegungen.
55 Macula sacculi:
–– Sie liegt vertikal.
–– Sie misst die Beschleunigung vertikaler Linearbewegungen.
55 Aufbau:
–– Macula utricula und Macula sacculi sind gleich aufgebaut.
–– Die Maculaorgane bestehen aus einer Basilarmembran, in der
Zilien verankert sind.
–– Über den Zilien befindet sich eine gelartige Substanz.
–– In dieser Substanz befinden sich organische Kristalle (Otholithen).
–– Die Otholithen haben eine höhere Dichte als das sie umgebende
Gel.
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
199 4
55 Bogengänge:
55 Sie messen Drehbewegungen.
55 Jeder der drei Bogengänge ist nach einer Richtung im Raum ausgerich-
tet (horizontaler, vorderer vertikaler und hinterer vertikaler Bogen-
gang).
55 Die drei Bogengänge sind mit Endolymphe gefüllt und mit Perilymphe
umgeben.
55 An einer Stelle sind die Bogengänge verdickt (= Ampulle).
55 In der Ampulle befindet sich die Cupula.
55 Die Cupula besteht wie die Maculaorgane aus einer gelartigen Masse.
55 Da sich hier aber keine Otholithen in dem Gel befinden, hat die Gel-
masse die gleiche Dichte wie die umgebende Endolymphe.
55 Am »Boden« der Cupula befinden sich wie bei den Maculaorganen
Zilien.

Ähnlich wie beim Gehör erfolgt auch bei den Maculaorganen und in den Bo-
gengängen der Transduktionsprozess durch die vorhandenen Zilien. Die Ab-
scherung der Zilien erfolgt auf folgende Weise:
55 In den Maculaorganen:
55 Da die Othotlithen schwerer und somit Träger sind als die umgebende
Masse, kommt es bei Bewegungen zu einer Verschiebung von Basilar-
membran und Otholithen.
55 Durch die Gelmasse werden die Härchen mitverschoben.
55 Die Macula sacculi liegt senkrecht im Schädel, und aufgrund der
Schwerkraft sind hier die Zilien immer etwas abgeschert.
55 In den Bogengängen:
55 Da die Endolymphe in den Bogengängen sehr träge ist, dreht sich diese
Flüssigkeit bei Drehbewegungen nicht mit.
55 Somit wird ein Druck auf die Cupula ausgelöst, die schließlich nach-
gibt und sich biegt.
55 Dadurch biegen sich auch die Zilien, die sich in der Cupula befinden.

Der eigentliche Transduktionsprozess sieht dann folgendermaßen aus:


55 Die Zilien werden durch eine Bewegung in eine Richtung ausgelenkt.
55 Eine »Haargruppe« besteht immer aus einem großen Kinozilium und
mehreren kleinen Stereozilien.
55 Erfolgt die Abscherung in Richtung der kleineren Härchen, kommt es zur
Hemmung, erfolgt sie in Richtung des Kinoziliums, kommt es zur Erre-
gung:
55 Kinozilium und Stereozilien sind durch eine »Feder« miteinander ver-
bunden: Wird in Richtung des Kinoliums ausgelenkt, wird über die Feder
ein K+-Kanal geöffnet, so dass K+-Ionen in die Zelle fließen.
55 Entsprechend funktioniert die Hyperpolarisation.

Die Sinneszellen hinter den Zilien sind wie beim Gehör sekundäre Sinnes-
zellen, d.  h. es folgt direkt eine Synapse und die Umschaltung auf den Ner-
vus vestibularis. Anschließend wird das Potenzial in die Vestibulariskerne im
Hirnstamm weitergeleitet. Diese Kerngebiete erhalten außerdem Informatio-
nen von Muskeln und Gelenken des Halses, ohne die eine Orientierung des
Körpers im Raum nicht möglich wäre.
200 Kapitel 4 • Biopsychologie

Epithel Porus Mikrovilli

Sinnes-
zelle
4

Synapsen Basalzelle

Stützzelle
afferente Fasern

. Abb. 4.19  Geschmacksknospen der Zunge. (Aus Birbaumer & Schmidt, 2006)

4.3.7 Der Geschmackssinn

Der Geschmack (gustatorische Wahrnehmung) umfasst nach derzeitigem


Forschungsstand fünf Geschmacksqualitäten: bitter, sauer, süß, salzig und
umami (»Glutamatgeschmack«), aus denen sich alle Geschmacksempfindun-
gen zusammensetzen (Birbaumer & Schmidt, 2006; Hall, 2011). Diskutiert wird
jedoch, ob es noch weitere Geschmacksqualitäten gibt. Zusätzlich gibt es beim
Geschmack sog. Nebenqualitäten, etwa »seifig« und »metallisch«.
Das Schmeckorgan (Zunge) ist folgendermaßen aufgebaut:
55 Auf der Zunge befinden sich verschieden geformte Ausstülpungen (Papil-
len), die unterschiedlich auf der Zunge verteilt sind.
55 Wallpapillen: Hinten, medial
55 Blätterpapillen: Hinten, lateral
55 Pilzpapillen: Überall sonst
55 Trotz der unterschiedlichen Form sind alle Papillen gleich aufgebaut: In
den Wänden der Papillen befinden sich die Geschmacksknospen, die die
Rezeptoren enthalten.
55 Aufbau der Geschmacksknospen (. Abb. 4.19):
55 Die Geschmacksknospen sind nach oben offen.
55 In die Öffnung hinein ragen die Mikrovilli (härchenförmige Ausstül-
pung der Sinnneszellen).
55 In der Membran der Mikrovilli befinden sich die Rezeptoren.
55 Stützzellen stützen die Sinneszellen.
55 Da die Sinneszellen eine kurze Lebensdauer haben, gibt es Basalzellen,
die sich zu Sinneszellen entwickeln können.
4.3 • Allgemeine Sinnesphysiologie
201 4
Bevor die chemischen Substanzen der Nahrung an die Rezeptoren anbinden,
werden sie in den Poren der Geschmacksknospen mit Speichel verdünnt. Die
Transduktion erfolgt dann über ionotrope und metabotrope Rezeptoren in
der Membran der Mikrovilli. Die Geschmacksinneszellen sind somit wie die
Sinneszellen des Gehörs und des Gleichgewichtorgans sekundäre Sinneszellen.
Die Rezeptoren für sauer und salzig sind ionotrope, die für süß und bitter sind
metabotrope Rezeptoren. Sie bewirken auf unterschiedlichen Wegen eine De-
polarisation der Sinneszellen. Die anderen Geschmacksqualitäten entstehen
durch eine kombinierte Erregung dieser Rezeptoren.
Früher ging man davon aus, dass man die Zunge in unterschiedliche Be-
reiche einteilen könne, die die verschiedenen Geschmacksqualitäten reprä-
sentieren. Es erwies sich jedoch, dass die verschiedenen Bereiche nur sehr
geringfügig auf einen bestimmten Geschmack bevorzugt reagieren. Dazu
passend hat man herausgefunden, dass sich auf jedem Mikrovilli alle vier Re-
zeptortypen befinden, d. h. dass jede Sinneszelle im Prinzip alle Geschmack-
qualitäten wahrnehmen kann. Allerdings muss man zugestehen, dass die Sin-
neszellen unterschiedlich sensibel sind. Insgesamt kann gesagt werden, dass
die Erforschung des Geschmackssinns längst noch nicht abgeschlossen ist,
wie die immer wieder aufkeimende Diskussion um Geschmacksqualitäten
zeigt.
Die Weiterverarbeitung der Geschmacksinformationen geht folgenderma-
ßen vor sich:
55 Da es sich um sekundäre Sinneszellen handelt, befindet sich die 1. Synapse
direkt hinter den Sinneszellen in den Geschmacksknospen, wo das Poten-
zial über drei Hirnnerven, die die Zunge und den Rachenraum versorgen,
ins Gehirn weitergeleitet wird:
55 Nervus facialis (7. Hirnnerv): Er versorgt den vorderen Bereich der
Zunge.
55 Nervus glossopharyngeus (9. Hirnnerv): Er versorgt den hinteren Be-
reich der Zunge.
55 Nervus vagus (10. Hirnnerv): Er versorgt Zungengrund und Rachen.
55 Diese drei Hirnnerven treten auf der Ebene der Medulla oblongata ins
Rückenmark ein und vereinen sich zum Tractus solitarius.
55 Im Nucleus tractus solitarius befindet sich dann die 2. Synapse.
55 Von hier aus ziehen die Axone zum ventrobasalen Bereich des Thalamus
(VPM), wo sich die 3. Synapse befindet.
55 Nun führen die Axone zum primären sensorischen Cortex.
55 Beim Geschmackssinn gibt es aber schon vor dem Thalamus Abzweigun-
gen zum limbischen System und zum Hypothalamus, was die enge Ver-
knüpfung von Geschmack und Gefühlserleben erklärt.

4.3.8 Der Geruchssinn

Der Geruchssinn (olfaktorische Wahrnehmung) ist in der Nase repräsentiert.


Die Nase ist folgendermaßen aufgebaut (. Abb. 4.20):
55 Um die Nasenoberfläche zu vergrößern, gibt es Ausstülpungen (Conchae
nasales).
55 Das eigentliche Gebiet, mit dem man riecht ist, klein und befindet sich
oben in der Nase (Regio olfactoria).
202 Kapitel 4 • Biopsychologie

Fila Nervus
olfactoria olfactorius
Stirnhöhle Tractus
Bulbus olfactorius
olfactorius

Nasen-
scheidewand
4

Riechepithel
(Regio olfactoria)

Riechzelle
Stützzelle
Basalzelle
nachwachsende
Axone Riechzelle
(Fila olfactoria)
Bowman
Drüse
Basal-
membran

Mikrovilli
Schleimschicht
Zilien
b

. Abb. 4.20  Die Nase: Lage (a) und Aufbau (b) der Regio olfactoria. (Aus Birbaumer &
Schmidt, 2006)

55 Die Regio olfactoria besteht ähnlich wie die Geschmacksknospen aus


Basalzellen, Stützzellen und Riechzellen.
55 An den Riechzellen befinden sich kleine Härchen, in denen sich die Sen-
soren befinden.
55 Über den Härchen befindet sich eine Schleimschicht, die die Duftstoffe
bindet und die Nasenhaut schützt.
55 Dieser Schleim wird von der Bowmanschen Drüse produziert.
55 Die Axone der Sinneszellen laufen durch das Siebbein zum Bulbus olfac-
toius.
4.4 • Motorik
203 4
Der Prozess der Transduktion findet folgendermaßen statt:
55 Die Geruchssinneszellen sind primäre Sinneszellen, d. h. sie haben ein
eigenes Axon (Nervus olfactorius).
55 Die Duftstoffe binden an metabotrope Rezeptoren, die über eine Second-
messenger-Kaskade Poren öffnen/schließen.
55 Da die Riechzellen auch spontan aktiv sind, können sie auch gehemmt
werden.
55 Es sind keine Geruchsklassen oder -qualitäten feststellbar, da es viele
unterschiedliche Rezeptoren gibt.

Das entstandene Potenzial wird weitergeleitet:


55 Die Axone des Nervus olfactorius führen durch das Siebbein zum Bulbus
olfactorius.
55 Hier befindet sich die 1. Synapse (deshalb gehört der Bulbus olfactorius
auch schon zum ZNS).
55 Die nachgeschaltete Zelle im Bulbus olfactorius heißt Mitralzelle, deren
Axone den Tractus olfactorius bilden.
55 Der Tractus olfactorius läuft direkt zum Cortex, ohne wie bei den anderen
Sinneseindrücken üblich beim Thalamus umzuschalten.

Insgesamt ist der Prozess der Geruchswahrnehmung noch recht wenig er-
forscht. Ein besonderer Streitpunkt ist derzeit noch die Existenz eines vome-
ronasalen Organs, das insbesondere auf die Wahrnehmung von Pheromonen
spezialisiert ist. Bei Tieren findet sich ein solches Organ, bei Menschen ist es
jedoch umstritten.
Gesichert allerdings ist das Wissen über einen allgemeinen chemischen
Sinn der Bereiche der Nase, aber auch der Zunge umfasst (Spehr, 2004). Er
umfasst freie Nervenendigungen des Trigeminus- Nervs, die unspezifisch in
Nase und Mund verteilt sind. Der allgemeine chemische Sinn hat eine Schutz-
funktion und reagiert z. B. auf stechende Gerüche oder scharfen Geschmack.

4.4 Motorik

4.4.1 Aufbau und Kontraktion des Muskels

Ein Muskel besteht aus vielen Faserbündeln und jedes Faserbündel aus meh-
reren Muskelfasern, die ihrerseits aus mehreren Myofibrillen zusammengesetzt
sind. Diese Myofibrillen umfassen wiederum mehrere Sarkomere, die schließ-
lich die kleinste funktionelle Einheit des Muskels darstellen (.  Abb. 4.21). Ein
Sarkomer besteht aus:
55 Z-Scheibe: Sie begrenzt das Sarkomer.
55 Aktinfilament: Es ist unbeweglich.
55 Myosinfilament: Es hat bewegliche Myosinköpfe.

Es können prinzipiell zwei Arten von Muskulatur unterschieden werden, die


sich in folgenden Merkmalen zeigt:
55 Quergestreifte Muskulatur:
55 Skelettmuskeln
55 Die Muskeln dieser Muskulatur sind willentlich steuerbar (Ausnahme:
Herz).
55 Querstreifen kommen durch die geordneten (dunkleren) Myosin- und
(helleren) Aktinfilamente zustande.
204 Kapitel 4 • Biopsychologie

. Abb. 4.21  Aufbau der Skelettmuskulatur. (Aus Schiebler & Korf, 2007). a Quer gestreifte Skelettmuskelfaser: N = Nukleus, I = helle,
A = dunkle Streifen einer Myofibrille; b Myofibrille mit I-, A-, H- und Z-Streifen; c Sarkomere von Z- zu Z-Streifen mit ihrer Gliederung; dünne
Aktinfilamente und dicke Myosinfilamente sind miteinander verzahnt; d Querschnitte durch die verschiedenen Segmente (I, M, H, A);
e Molekularer Bau von Aktin- und Myosinfilamenten; f Sarkomere in Ruhestellung; g bei Kontraktion

55 Glatte Muskulatur:
55 Muskeln der Organe
55 Sie sind nicht bewusst steuerbar.
55 Sie bestehen wie die quergestreiften Muskeln auch aus Myosin- und
Aktinfilamenten, sind aber nicht so strikt geordnet.

Bei der Bewegung von Muskeln ist es notwendig, dass ein ankommendes elek-
trisches Potenzial in eine mechanische Bewegung umgewandelt wird. Dieser
quasi umgekehrte Transduktionsprozess heißt elektromechanische Kopp-
lung und läuft auf folgende Weise ab:
55 Vom Rückenmark kommt die Information, dass der Muskel kontrahiert
werden soll.
55 Zwischen der efferenten Faser und dem Muskel gibt es eine Art Synapse,
die neuromuskuläre Endplatte (motorische Endplatte).
55 Kommt hier ein Reiz an, wird präsynaptisch Acethylcholin ausgeschüttet.
55 Das Acethylcholin bewirkt, dass sich die Ladungsverhältnisse umkehren:
Der Extrazellulärraum (der synaptische Spalt) ist normalerweise positiv
geladen, wird durch den Reiz nun aber negativ.
55 Wird der Extrazellulärraum negativ, wird Ca2+ aus den Terminalzisternen
(Ca2+-Speicher an den Enden der longitudinalen Tubuli) freigesetzt, was
schließlich die Kontraktion auslöst.
55 Über das sarcoplasmatische Reticulum (Netzwerk aus Kanälen, sog. Tu-
buli) wird das Ca2+ überall im Muskel verteilt:
55 Transversale Tubuli leiten das Ca2+ in die Tiefe des Muskels.
4.4 • Motorik
205 4
55 Longitudinale Tubuli verbreiten das Ca2+ in Längsrichtung des Mus-
kels.
55 Die transversalen und longitudinalen Tubuli sind miteinander ver-
bunden.
55 Nach dem Ende der Reizeinwirkung wird das Ca2+ wieder zurück in die
Terminalzisteren gepumpt.

Ist das Signal übersetzt und das Ca2+ ausgeschüttet, kommt es zur Kontraktion:
55 Das Aktinfilament kann man sich vorstellen als zwei »gedrehte Perlenket-
ten«, die zwei Furchen haben.
55 In diesen Furchen befinden sich die Anbindungsstellen für die Myosin-
köpfe.
55 Diese Anbindungsstellen werden jedoch von einem »Faden« (Tropomyo-
sin) verdeckt.
55 Am Tropomyosin befindet sich das Troponin.
55 Das aus den Terminalzisternen stammende Ca2+ bindet an das Troponin,
so dass das Tropomyosin seine dreidimensionale Struktur verändert, sich
verschiebt und die Bindungsstellen frei gibt.
55 Jetzt bindet das Myosinköpfchen an das Aktinfilament und macht eine
Kippbewegung, wodurch die Aktinfilamente aufeinander zuwandern
(Gleitfilamenttheorie).
55 Die Myosinköpfe werden nun unter Energieaufwand von den Aktinfila-
menten wieder gelöst.

Die Verbindung des Myosin an das Aktinfilament, sowie die Kippbewegung


erfordern keine Energie, sondern das Lösen der Myosinköpfe von den Aktinfi-
lamenten geschieht unter Energieaufwand: Streng genommen kostet also nicht
die Kontraktion Energie, sondern die Entspannung, was allerdings bei wieder-
holter Kontraktion keinen Unterschied macht. Dieser Umstand ist auch der
Grund für die Leichenstarre: Die Muskeln verkrampfen sich, da keine Energie
mehr für die Lösung von Myosin- und Aktivfilament vorhanden ist.
Es können zwei Arten von Muskelarbeit unterschieden werden:
55 Isotonische Kontraktion:
55 Konstante Muskelspannung (Last)
55 Der Muskel kann sich verkürzen.
55 Isometrische Kontraktion:
55 Konstante Länge der Muskeln
55 Der Muskel kann sich nicht verkürzen.

Im Alltag handelt es sich um eine Mischform der beiden Muskelkontraktionen:


Bis man die Schwerkraft überwunden hat, handelt es sich um eine isometrische
Kontraktion, dann um eine isotonische. Dabei ist eine gewisse Muskelarbeit
(Tonus) immer vorhanden.
Die Muskelkraft ist begrenzt und zwar durch folgende Faktoren:
55 Man kann nur wenig Kraft aufwenden, wenn das Sarkomer sehr lang
(denn dann überlappen sich Aktin und Myosin nicht mehr) oder sehr
kurz (denn dann sind keine Bindungsstellen für das Myosin mehr da) ist.
55 Folgen AP sehr schnell hintereinander, werden die Kontraktionen auf-
summiert, bis irgendwann das Maximum erreicht ist und der Muskel
verkrampft (sog. tetanische Stimulation).
55 Ist die Kontraktion maximal, braucht man aber noch mehr Kraft, können
noch andere Muskelfasern zusätzlich aktiviert werden.
206 Kapitel 4 • Biopsychologie

Kapsel

motorische Endplatte

4 efferente A γ -Faser

afferente Ia-Faser
anulospirale
Endigung

afferente Typ-II-Faser

Kernsackfaser
Kernkettenfaser

blütendoldenförmige
Endigung

. Abb. 4.22  Innervation des Muskels in der Muskelspindel. (Aus Schiebler & Korf, 2007)

4.4.2 Innervation des Muskels und der Sehne

Damit der Muskel planmäßig arbeiten kann, muss er motorisch und sensorisch
innerviert sein (. Abb. 4.22):
55 Sensorische Innervation des Muskels:
55 Zwischen den Muskelfasern befinden sich Muskelspindeln (Sinnes-
organe in den Muskeln), in denen sich wiederum sog. intrafusale Fa-
sern befinden, die sensorische Informationen weiterleiten können.
55 Die dickeren Teile der intrafusalen Faser sind von Nervenendigungen
der Ia-Fasern umwickelt (sog. annulospirale Endigung; Endigung der
Ia-Faser).
55 Die Ia-Fasern sind dick myelinisiert (d. h. sie leiten sehr schnell) und
messen die Länge der intrafusalen Faser (d. h. sie messen die Dehnung
des Muskels).
55 C-Fasern und teilweise auch Aδ-Fasern leiten Informationen über
Schmerz weiter.
55 Motorische Innervation im Muskel:
55 Aα-Motoneurone: Sie geben den Befehl zur Kontraktion.
55 γ-Motoneurone:
–– Die sensorischen Ia-Fasern an den intrafusalen Fasern arbeiten
im mittleren Längenbereich am besten. Wird der Muskel jedoch
kontrahiert, können die Ia-Fasern keine Informationen mehr
weiterleiten.
4.4 • Motorik
207 4
–– Es sind deshalb γ-Motoneurone notwendig, die bewirken, dass
sich die Enden der Spindeln zusammenziehen und so die Ia-Fa-
sern wieder in den optimalen Arbeitsbereich bringen.
55 Sensorische Innervation der Sehne:
55 In der Kapsel zwischen Sehne und Muskel befindet sich ein Netzwerk
aus Collagenfasern (= Golgi-Sehnenorgan).
55 Um dieses Netzwerk sind Ib-Fasern gewickelt.
55 Ib-Fasern sind dünner und langsamer als Ia-Fasern.
55 Ib-Fasern messen die Spannung, die im Muskel herrscht.

Um Muskelverletzungen vorzubeugen greift der Körper auf zwei Mechanis-


men zurück:
55 1. Mechanismus:
55 Ib-Fasern messen Spannung an der Sehne.
55 Ist die Spannung zu groß, wird der Muskel, von dem der Impuls
kommt, gehemmt.
55 2. Mechanismus:
55 Motoneurone senden über ein Kollateral eine Kopie des Befehls an die
Renshaw-Zellen (Interneuron).
55 Die Renshaw-Zelle sendet eine hemmende Information zu dem Moto-
neuron zurück. a Dadurch wird die Muskelarbeit begrenzt, und der
Muskel kann nicht verkrampfen.

4.4.3 Verarbeitung motorischer Informationen im ZNS

Im Gehirn werden motorische Informationen in folgenden Gebieten verarbei-


tet: Der Hirnstamm und der motorische Cortex (liegt vor der Zentralfurche
und neben dem sensorischen Cortex, der hinter der Zentralfurche liegt) schi-
cken direkt Befehle zum Rückenmark. Es können verschiedene motorische
Cortexbahnen unterschieden werden, d. h. Bahnen, die Informationen vom
Cortex zu den Muskeln leiten:
55 Tractus corticospinalis lateralis:
55 Bahn vom Cortex zu den seitlichen Arealen des Vorderhorns des Rü-
ckenmarks
55 Dies ist eine Pyramidenbahn.
55 In der Pyramidenkreuzung kreuzen die Neurone vom primären moto-
rischen Cortex nach kontralateral (hier ist aber keine Synapse).
55 Die 1. Synapse befindet sich im Vorderhorn.
55 Diese Bahn steuert Extremitätenmuskeln an.
55 Tractus rubrospinalis:
55 Bahn vom Nucleus ruber zum Rückenmark.
55 Dies ist eine extrapyramidale Bahn.
55 Die 1. Synapse ist im Hirnstamm (im Nucleus ruber).
55 Dann kreuzt die Bahn nach kontralateral und läuft zum seitlichen
Vorderhorn.
55 Auch diese Bahn steuert Extremitätenmuskeln an.
55 Tractus corticospinalis ventralis:
55 Bahn vom Cortex zum Rückenmark in Richtung Bauch.
55 Dies ist eine mediale Pyramidenbahn.
55 Die 1. Synapse liegt im Vorderhorn.
55 Die Bahn kreuzt nicht nach kontralateral.
55 Die Bahn steuert die Rumpfmuskulatur an.
208 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 Tractus corticobulbospinalis:
55 Er projiziert zur 4-Hügel-Platte (Tectum) und zur Formatio reticularis.
55 Er bekommt Input von anderen Gebieten (z. B. visuelle und akustische
Reize).
55 Diese Bahn verrechnet und koordiniert.
55 Sie steuert den Rumpf an.
55 Ihre Ursprungsneurone kommen aus dem medialen Teil des primären
motorischen Cortex.
4
Die Basalganglien, das Kleinhirn und der motorische Thalamus spielen eben-
falls eine Rolle bei der Verarbeitung motorischer Informationen, obwohl sie
keinen direkten Output an das Rückenmark geben. Insbesondere das Klein-
hirn ist für die Koordinierung und Speicherung von Bewegungsabläufen wich-
tig. Es erhält Input vom Rückenmark (d. h. Informationen der Motorik), vom
Nucleus vestibularis (d. h. Informationen des Gleichgewichtssinns) und von
der Olive (Informationen des Gehörs), die es miteinander vergleichen, kont-
rollieren und ggf. korrigieren kann.

4.4.4 Reflexe

Ein Reflexbogen ist eine nicht gelernte, automatisch auf einen Reiz hin arbei-
tende Reaktion, die von einem Sensor (Aufnehmer des auslösenden Reizes)
über eine Afferenz zum ZNS und von dort über eine Efferenz zum Effektor
(Auslöser der Reaktion) läuft. Jeder Reflex hat einen sog. afferenten und einen
efferenten Schenkel. Steuert ein Reflex denselben Muskel an, durch den der
Reflex ausgelöst wurde, so spricht man von einem homonymen Reflex.
Bei monosynaptischen Reflexen liegt zwischen Sensor und Effektor nur
eine Synapse, dies ist z.  B. beim Kniesehnenreflex der Fall. Bei polysynapti-
schen Reflexen liegen mehrere Synapsen zwischen Sensor und Effektor, dies
ist z. B. bei nozifensiven Reflexen (Reaktion auf schmerzhafte Reize) der Fall.
Diese Reflexe sind sehr langsam aufgrund von
55 vielen Synapsen,
55 unterschiedlichen Fasertypen (langsame Aδ und C-Fasern für Schmerz,
schnelle Aα für Motorik),
55 Utilization time: Zeit, die für die jeweilige synaptische Transmission ge-
braucht wird.

Man kann sich die Frage stellen, warum ausgerechnet die Reaktion auf einen
schmerzhaften Reiz langsam erfolgt. Insbesondere bei komplexen Körperreak-
tionen ist es wichtig, dass reflexhaft ausgeführte Bewegungen mit dem Körper
koordiniert werden. Damit dies gewährleistet werden kann, ist die Zeitver-
zögerung der polysynaptischen Reflexe sinnvoll. Ein weiterer Grund ist, dass
das Schmerzsystem evolutionär sehr alt ist und damit eher langsame C-Fasern
umfasst.

4.5 Das Hormonsystem

4.5.1 Allgemeine Endokrinologie

Im Körper existieren prinzipiell zwei Arten von Drüsen, die Sekrete (z. B. Hor-
mone) produzieren und absondern:
4.5 • Das Hormonsystem
209 4
55 Endokrine Drüsen: Sie sondern ihre Sekrete nach innen (Blut) ab, z. B.
Hypophyse.
55 Exokrine Drüsen: Sie sondern ihre Sekrete nach außen (Haut, Schleim-
haut) bzw. an innere »Hohlräume« ab, die mit »außen« Kontakt haben,
z. B. Tränendrüsen, Drüsenfeld der Magenschleimhaut.

In der Regel sind Drüsen entweder endokrin oder exokrin, eine Ausnahme bil-
det die Bauchspeicheldrüse (Pankreas), die zugleich endokrin und exokrin ist.
Ein Hormon kann definiert werden als ein Botenstoff, der in endokrinen
Drüsen produziert und über den Blutkreislauf in sein Zielgebiet transportiert
wird (Lang, 2011). Hormone gehören wie Neurotransmitter zu den Botenstof-
fen, d. h. sie transportieren Informationen. Der Unterschied zu Neurotrans-
mittern besteht in den unterschiedlichen Wirkungswegen: Transmitter trans-
portieren Informationen über die Synapse von einer Nervenzelle zur anderen,
Hormone werden über den Blutkreislauf verteilt. Es können aber dieselben
biochemischen Stoffe als Neurotransmitter und als Hormon dienen (z. B. Sero-
tonin). Es können folgende Hormonklassen unterschieden werden:
55 Fettunlösliche (liphophobe) Hormone:
55 Sie müssen in Vesikeln gespeichert werden.
55 Sie bestehen aus Aminosäuren. Ihre Produktion ist von Genen abhängig.
55 Zu dieser Gruppe zählen die meisten Hormone (z. B. Oxytozin, Insu-
lin, Glukagon, ADH, Melatonin).
55 Fettlösliche (lipophile) Hormone:
55 Sie können durch die Zellmembran diffundieren.
55 Sie werden nicht in Vesikel verpackt.
55 Ihre Herstellung ist von Genen unabhängig (Abkömmlinge von Cho-
lesterin (Steroidhormone) oder Arachidonsäure).
55 Zu dieser Gruppe gehören die Hormone der Nebennierenrinde und
Sexualhormone (z. B. Kortisol, Testosteron, Prostaglandine und Leu-
kotriene).

Hormone können auf verschiedene Weisen wirken:


55 Hormonelle/endokrine Wirkung: Das Hormon wird von der Drüsenzelle
über den Blutkreislauf zum Zielort transportiert.
55 Parakrine Wirkung: Das Hormon beeinflusst die in unmittelbarer Nach-
barschaft liegenden Zellen.
55 Autokrine Wirkung: Das Hormon wirkt auf die Erzeugerzelle zurück.
55 Neurohormonwirkung: Es gibt Nervenzellen, die Hormone produzieren,
die dann von der Nervenzelle direkt in den Blutkreislauf gebracht werden
(wesentlich schnellere Wirkweise als wenn die Hormone über Drüsen
produziert werden).

Sind die Hormone am Zielort angelangt, können sie an verschiedene Rezeptor-


typen anbinden:
55 Rezeptoren in der Membran:
55 Wirkmöglichkeit für fettunlösliche Hormone
55 Dies sind metabotrope Rezeptoren. Sie lösen eine Second-messenger-
Kaskade aus.
55 Rezeptoren im Zytoplasma:
55 Wirkmöglichkeit für fettlösliche Hormone (Kortikoide, Androgene)
55 Das Hormon diffundiert in die Zelle und bindet dort an einen Rezeptor.
55 Der Hormon-Rezeptor-Komplex wandert zum Zellkern und beein-
flusst die Genexpression (Eiweißsynthese).
210 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 Rezeptoren im Zellkern:
55 Wirkmöglichkeit für fettlösliche Hormone (v. a. Schilddrüsenhormone)
55 Das Hormon diffundiert in die Zelle, wandert zum Zellkern und bin-
det dort erst an einen Rezeptor.
55 Sie beeinflussen ebenfalls die Genexpression und die Eiweißsynthese
(sie wirken somit als Transkriptionsfaktor).

In aller Regel funktionieren Hormone in hormonellen Regelkreisen, d. h. es gibt


4 automatische Feedback-Mechanismen, wie viel des Hormons tatsächlich pro-
duziert wurde und im Zielgebiet angekommen ist. Über diese Feedback-Schlei-
fen kann dann die Hormonproduktion hoch- oder herunterreguliert werden
mit dem Ziel, die Homöostase von Zellen und Organen zu gewährleisten.

4.5.2 Vom Hypothalamus unabhängige Hormone

Der Hypothalamus ist das für die vegetative und damit auch hormonelle Ver-
sorgung wichtigste Gebiet im Gehirn. Deshalb wird bei der Beschreibung des
Hormonsystems oft unterschieden zwischen Hormonen, die Teil dieses hypo-
thalamisch-hypophysären Systems sind, und solchen, die von diesem System
unabhängig sind. Vom Hypothalamus unabhängig sind auf der einen Seite die
Bauchspeicheldrüsenhormone (Pankreashormone) und auf der anderen Seite
die Hormone der Epiphyse (Zirbeldrüse).
Die Epiphyse liegt über der Vierhügelplatte des Mittelhirns. Sie wird bei
Helligkeit gehemmt und produziert bei Dunkelheit Melatonin. Sie steuert zu-
sammen mit dem hypothalamischen Nucleus suprachiasmaticus die zirkadia-
nen Rhythmen des Körpers.
Die Bauchspeicheldrüse liegt im Bauchraum zwischen Magen, Leber,
Milz und Zwölffingerdarm. Sie produziert zum einen Verdauungsenzyme für
den Dünndarm, zum anderen aber auch Hormone. Wie bereits erwähnt ist
sie damit endokrin und exokrin zugleich. Die Hormone werden im Pankreas
von einer bestimmten Zellgruppe, den Langerhans-Inselzellen, produziert. Es
können drei Typen von Langerhans-Inselzellen unterschieden werden:
55 A-Zellen:
55 Sie machen etwa 25 % der Zellen aus.
55 Sie produzieren Glukagon.
55 B-Zellen:
55 Sie machen etwa 60 % aus.
55 Sie produzieren Insulin.
55 D-Zellen:
55 Sie machen etwa 15 % aus.
55 Sie produzieren Somatostatin.

Die Pankreashormone spielen im Versorgungskreislauf des Körpers unter-


schiedliche Rollen:
55 Glukagon:
55 Es bewirkt die Umwandlung von Glykogen in Glukose: Der gespei-
cherte Zucker wird von seiner Speicherform (Glykogen) in seine
Arbeitsform (Glukose) umgewandelt.
55 Glukagon bewirkt somit eine Energiefreisetzung und eine Erhöhung
der Blutzuckerspiegels.
55 Glukagon wird freigesetzt bei Hypoglykämie (zu geringer Blutzucker-
spiegel).
4.5 • Das Hormonsystem
211 4
55 Insulin:
55 Es bewirkt die Umwandlung von Glukose in Glykogen: Der durch
Nahrung aufgenommene Zucker wird in seine Speicherform umge-
wandelt.
55 Insulin bewirkt die Speicherung von Zucker und die Senkung des Blut-
zuckerspiegels.
55 Insulin wird freigesetzt bei Hyperglykämie (zu hoher Blutzuckerspiegel).
55 Somatostatin: Es kontrolliert die Insulin- und Glukagonproduktion.

Geraten die Hormone aus dem Gleichgewicht, kann es zu einer verbreiteten


Stoffwechselerkrankung kommen, zum Diabetes mellitus. Diabetes ist eine Er-
krankung, bei der man einen Insulinmangel oder eine Insulinresistenz hat.
Dadurch kommt es schnell zu einem hohen Blutzuckerspiegel. Daher kommt
auch die Namensgebung Diabetes mellitus = »süße Harnruhr«. Es können zwei
Diabetesformen unterschieden werden:
55 Typ-I-Diabetes (vererbbar):
55 Charakteristisch sind der völliger Ausfall der B-Zellen und ein absolu-
ter Insulinmangel.
55 Insulin muss von außen zugeführt werden.
55 Typ-II-Diabetes:
55 Ursache:
–– Bei zu viel und falscher Ernährung wird anhaltend Insulin freige-
setzt. Dies kann dazu führen, dass die Insulinrezeptoren länger-
fristig herunterreguliert werden.
–– Das Insulin kann seine Effekte jetzt nicht mehr adäquat vermit-
teln, und es wird weniger Zucker weggespeichert.
55 Dieser Diabetes-Typ ist durch Ernährungsumstellung und erhöhte
körperliche Aktivität behandelbar.

4.5.3 Aufbau des hypothalamisch-hypophysären Systems

Das hypothalamisch-hypophysäre System ist ein Kontrollsystem, das vie-


len Hormonen übergeordnet ist (z. B. denen der Schilddrüse und der Neben-
nierenrinde). Der Hypothalamus kann in diesem System als das zentrale
»Oberhaupt« angesehen werden, das im Wesentlichen Steuerhormone für den
Hypophysenvorderlappen produziert, d.  h. Hormone, die wiederum auf die
Produktion anderer Hormone in der Hypophyse einwirken. Zwei Hormone
produziert der Hypothalamus jedoch direkt (ADH, Oxytozin), die dann von
der Hypophyse nur noch weitergeleitet werden.
Die Hypophyse kann in der begonnenen Metapher als »Abteilungsleiter«
bezeichnet werden. Sie produziert einerseits auch wieder Hormone, die auf
andere Drüsen einwirken (glandotrope Hormone), zum anderen aber auch
solche, die auf alle Körperzellen wirken können (nicht-glandotrope Hormone).
Sie liegt vor/unter dem Hypothalamus und ist in zwei Teile aufgeteilt:
55 Hypophysenhinterlappen (HHL, Neurohypophyse):
55 Der HHL produziert eigentlich gar keine Hormone, sondern leitet
hauptsächlich die Hormone, die bereits vom Hypothalamus produziert
wurden (ADH und Oxytozin), an den Blutkreislauf weiter.
55 Im HHL reichen die Axone des Hypothalamus direkt zu einem Kapil-
larnetz, das das ADH und das Oxytozin zum Zielort transportiert.
55 Oxytozin und ADH haben somit eine Neurohormonwirkung sowie
eine endokrine Wirkung.
212 Kapitel 4 • Biopsychologie

Hypothalamus

Oxytozin

GHRH
LHRH

GHIH
ADH

CRH

PRH
TRH

PIH
4 HHL HVL
Oxytozin

Prolaktin
ACTH
ADH

TSH
FSH

GH
LH
z.B. Milchdrüse

z.B. Milchdrüse

z.B. Muskeln
Keimdrüsen

Schilddrüse
z.B. Niere

NNR
Mineralokortikoide

Glukokortikoide
Androgene

Androgene
Östrogene

T3

T4

. Abb. 4.23  Übersicht über die Hormone des hypothalamisch-hypophysären Systems. (Nach Birbaumer & Schmidt, 2006)

55 Hypophysenvorderlappen (HVL, Adenohypophyse):


55 Die Hormone des Hypothalamus kommen über ein erstes Kapillarnetz
in den HVL.
55 Dann werden die Hormone des HVL gebildet und mithilfe eines zwei-
ten Kapillarnetzes in die Zielzellen gebracht.

4.5.4 Hormone des hypothalamisch-hypophysären


Systems

Die Hormone des Hypothalamus sind die Folgenden (zur Übersicht


. Abb. 4.23):
55 »Direkte« Hormone des Hypothalamus: Der Hypothalamus produziert
ADH und Oxytozin, die über den HHL weitergeleitet werden.
55 ADH (antidiuretisches Hormon): Es hemmt die Wasserausscheidung
der Niere, ist blutdrucksteigernd und reguliert Hunger und Durst.
55 Oxytozin: Es löst den Milchejektionsreflex aus, wirkt wehensteigernd
und reduziert den Salzappetit.
4.5 • Das Hormonsystem
213 4
55 Steuerhormone des Hypothalamus: Die Releasing-Hormone (RH) be-
wirken eine Ausschüttung eines anderen Hormons, die Inhibiting-Hor-
mone (IH) eine Hemmung.
55 LHRH (Luteinisierendes-Hormon-Releasing-Hormon): Es bewirkt die
Ausschüttung von LH und FSH.
55 TRH (Thyreotropin-Releasing-Hormon): Es bewirkt die Ausschüttung
von TSH.
55 CRH (Kortikotropin-Releasing-Hormon): Es bewirkt die Ausschüt-
tung von ACTH.
55 GHRH (Growth-Hormone-Releasing-Hormone, auch Somatoliberin):
Es bewirkt die Ausschüttung von GH.
55 GHIH (Growth-Hormone-Inhibiting-Hormone, auch Somatostatin):
Es bewirkt die Hemmung von GH.
55 PRH (Prolaktin-Releasing-Hormon): Es bewirkt die Ausschüttung von
Prolaktin.
55 PIH (Prolaktin-Inhibiting-Hormon): Es bewirkt die Hemmung von
Prolaktin.

Die Hormone der Hypophyse werden im HVL produziert. Genauer gesagt


handelt es sich dabei um folgende Hormone:
55 Glandotrope Hormone:
55 LH (luteinisierendes Hormon): Es wirkt auf die Keimdrüsen (Hoden,
Eierstöcke).
55 FSH (follikel-stimulierendes Hormon): Es wirkt auf die Keimdrüsen
(Hoden, Eierstöcke).
55 TSH (thyreoideo-stimulierendes Hormon): Es wirkt auf die Schild-
drüse.
55 ACTH (adrenokortikotropes Hormon, auch Kortikotropin): Es wirkt
auf die Nebennierenrinde.
55 Nicht-glandotrope Hormone:
55 GH (Growth Hormone, auch Somatropin): Es ist unabdingbar für die
normale kindliche Entwicklung.
55 Prolaktin: Es fördert die Milchsynthese.

Die am Ende der Steuerkette stehenden Zieldrüsen sind die Keimdrüsen


(­Gonaden), die Schilddrüse und die Nebennierenrinde. Die Hormone dieser
Drüsen und die mit ihnen gesteuerten Hormonkreisläufe sollen nun vorgestellt
werden.

Sexualhormone
Sexualhormone haben zyklische Sollwerte und dienen dem Überleben der
Gruppe, repräsentieren also nicht-homöostatische Triebe. Die männlichen Se-
xualhormone werden Androgene (z. B. Testosteron) genannt, die weiblichen
Östrogene (z. B. Östrogen, Progesteron). Wird im Hypothalamus LHRH aus-
geschüttet, so wird von der Hypophyse LH und FSH freigesetzt, die wiederum
die Hormonproduktion in den Gonaden aktivieren. Beim Mann ist das LH
hauptsächlich für die Androgenproduktion zuständig, FSH (und Androgene
zusammen) sind für die Spermatogenese verantwortlich.
Bei der Frau wird über LH und FSH der Menstruationszyklus reguliert:
55 Follikelphase: 1.–12. Tag (1. Tag = 1. Tag der Blutung)
55 Zu Beginn eines Zyklus beginnen einige 100 unreife Eier der Frau (die
von einer Hülle = Follikel umgeben sind) einen Reifeprozess, der aber
nur von einem Ei vollendet wird.
214 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 Die heranreifenden Follikel produzieren in dieser 1. Zyklusphase ver-


mehrt Östradiol, wodurch die LH- und FSH-Produktion gehemmt wird.
55 Ovulationsphase: 13.–15. Tag
55 LH- und FSH-Gipfel: Um den 12. Tag steigt der Östradiolspiegel stark
an, was paradoxerweise die normalerweise hemmende Wirkung von
Östradiol auf LH und FSH in eine verstärkende umschlagen lässt.
55 Der LH-Gipfel wird für die Ovulation (Freisetzung der Eizelle) verant-
wortlich gemacht.
4 55 Das LH bewirkt außerdem die Umwandlung des Follikels zum Gelb-
körper.
55 Der Gelbkörper produziert weiterhin Östradiol und zusätzlich auch
Progesteron.
55 Beide Hormone haben nun wieder eine hemmende Wirkung auf LH
und FSH.
55 Lutealphase: 16.–28. Tag
55 Östradiol und Progesteron bewirken die Ausbildung der Uterus-
schleimhaut (Endometrium): Die Schleimhaut wird dicker (Prolifera-
tion) und bildet Drüsen aus (Sekretion).
55 Erfolgt keine Befruchtung, beendet der Gelbkörper nach ca. 14 Tagen
seine Hormonproduktion.
55 Dadurch geht das Endometrium zugrunde, wird abgestoßen und aus-
geschwemmt.
55 Wird das Ei befruchtet, wandert dieser Trophoblast in den Uterus und
nistet sich dort ein (Nidation).
55 Nach der Nidation beginnt der Trophoblast mit der Produktion von
Choriongonadotropin; dies ist ein sicheres Zeichen für eine Schwan-
gerschaft.
55 Dieses Hormon regt den Gelbkörper zur weiteren Produktion von
Progesteron an.

Der Beginn des ersten Menstruationszyklus in der Pubertät startet mit der
(pulsativen) LHRH-Produktion: Die freigesetzten Androgene und Östrogene
bewirken eine Maskulinisierung bzw. Femininisierung. Mit Erschöpfung des
Follikelvorrats der Frau setzt die Menopause ein, was klimakterische Beschwer-
den (Hitzewallungen) und Östrogen-Mangelerscheinungen (Virilisierung =
Vermännlichung; Osteoporose = Knochenschwund) zur Folge haben kann.
Die Sexualhormone sind darüber hinaus auch für die sexuelle Differenzie-
rung eines Fötus verantwortlich, die ab der 8. Schwangerschaftswoche stattfin-
det. Bis dahin hat sich der Fötus bisexuell entwickelt, unabhängig davon, welche
Geschlechtschromosomen vorliegen. Früher glaubte man, dass zur Differenzie-
rung zum Mann Androgene notwendig seien, bei Nicht-Vorhandensein entwi-
ckele sich eine Frau (Eva-Prinzip). Diese Ansicht gilt heute jedoch als veraltet.

Hormone der Schilddrüse


Die Schilddrüse umschließt im vorderen Drittel des Halses dicht unterhalb
des Schildknorpels hufeisenförmig die Luftröhre. Das steuernde thyreoidea-
stimulierendes Hormon (TSH) aus dem HVL reguliert die Produktion von T3
und T4, die folgende Wirkmechanismen haben:
55 Sie wirken negativ rückkoppelnd auf Hypothalamus und Hypophyse.
55 Sie steigern den Energieumsatz/die Eiweißsynthese sowie den Abbau von
Kohlenhydraten und Fetten und sind außerdem für ein normales Wachs-
tum unerlässlich.
55 Sie werden aus Jod produziert.
4.6 • Das Immunsystem
215 4
Störungen der Schilddrüsenfunktion (Über- oder Unterfunktion) haben weit-
reichende Auswirkungen:
55 Störungen des Herz-Kreislauf-Systems
55 Beeinträchtigungen der Psyche (deshalb ist z. B. bei Depressionen immer
eine Schilddrüsenunterfunktion abzuklären)
55 Störungen der Verdauung und des Stoffwechsels
55 Verlust der Libido

Hormone der Nebennierenrinde


Die Nebennieren sind zwei kleine Drüsen, die den oberen Nierenpolen auf-
liegen. Die Nebennierenrinde (NNR) produziert verschiedenen Hormone:
Mineralokortikoide (z.  B. Aldosteron), Glukokortikoide (z.  B. Kortisol) und
Androgene. Für die Psychologie ist dabei v. a. das »Stresshormon« Kortisol ein
wichtiges Hormon und soll deshalb genauer betrachtet werden:
55 Kortisol wird gesteuert von CRH aus dem Hypothalamus und ACTH aus
der Hypophyse.
55 Auch in der NNR gibt es Feedback-Schleifen, die bei Kortisol-Ausschüt-
tung die CRH- und ACTH-Produktion reduzieren.
55 Wirkung von Kortisol:
55 Es dient der Mobilisierung von Glukose.
55 Es wirkt entzündungshemmend, schwächt aber in hohen Dosen die
Infektabwehr.
55 Es erhöht die Schwellen der Sinnesorgane, d. h. man ist z. B. weniger
sensibel für (irrelevante) Informationen.
55 Es spielt eine entscheidende Rolle bei Burn-Out und chronischem
Stress.
–– Bei chronischem Stress ist dauerhaft zu viel Kortisol da, was zur
Folge hat, dass das Immunsystem ständig gehemmt wird. a Die
Gefahr von Erkrankungen steigt.
–– Es kann passieren, dass die Kortisol-Produktion ganz zusammen-
bricht, was zur Folge hat, dass das Immunsystem sehr plötzlich
enthemmt wird. a Die Gefahr von Autoimmunerkrankungen
steigt.

Hier zeigt sich bereits, dass das Hormon- und das Immunsystem eng zusam-
menhängen. Bevor jedoch weitere Verknüpfungspunkte zwischen psychischen
und biologischen Funktionsbereichen genauer betrachtet werden, wird zu-
nächst das Immunsystem näher erläutert.

4.6 Das Immunsystem

4.6.1 Überblick über das Immunsystem

Das Immunsystem (IS) ist dasjenige Körpersystem, das uns vor krankmachen-
den Eindringlingen, die übergreifend als Antigene bezeichnet werden, schützt
(Birbaumer & Schmidt, 2006; Gulbins & Lang, 2011). Betrachtet man die
Funktionsweise des Immunsystems, kann es ganz generell eingeteilt werden
in einen angeborenen und einen adaptiven, im Laufe des Lebens erworbenen
Teil. Beide bestehen ihrerseits wieder aus zellulären und humoralen Anteilen:
Während erstere Zellen des Immunsystems sind, sind letztere Moleküle, die im
Blutplasma herumschwimmen. . Tab. 4.2 zeigt im Überblick die Unterschiede
zwischen angeborenem und erworbenem Immunsystem
216 Kapitel 4 • Biopsychologie

. Tab. 4.2  Übersicht über das angeborene und erworbene IS. (Nach Birbaumer &
Schmidt, 2006)

Angeborenes IS Erworbenes (adaptives,


spezifisches) IS

Spezifität breit hoch

Reaktionszeit schnell langsam

Gedächtnisbildung nein ja
4 humorale Anteile Enzyme, Komplement-System, Antikörper, Zytokine
(in Blutplasma) ­Akute-Phase-Proteine, Zytokine

zelluläre Anteile Makrophagen, Granulozyten, B- und T-Lymphozyten


­ K-Zellen, (dendritische Zellen)
N

Ganz prinzipiell läuft eine Immunreaktion folgendermaßen ab:


55 Antigene gelangen z. B. durch eine Verletzung der Haut in den Körper.
55 Dort reagiert zunächst das angeborene Immunsystem (Makrophagen und
dendritische Zellen) und versucht, die Erreger zu bekämpfen.
55 Dann wird das Lymphsystem über die Infektion »informiert« (mithilfe
der dendritischen Zellen).
55 Das Lymphsystem aktiviert die adaptive Immunreaktion, wodurch die
Antigene noch spezifischer bekämpft werden können.

Damit der Körper überhaupt eine Immunreaktion auslösen kann, ist es wichtig,
dass er zwischen eigenen und fremden Zellen unterscheiden kann. Diese Unter-
scheidung erfolgt i. d. R. über den MHC-Komplex (»major histocompatibility
complex«, synonym HLA-Molekül). Er ist eine Art Personalausweis, der die Zu-
gehörigkeit zum Körper belegt. Darüber hinaus können alle Körperzellen mit-
hilfe dieses Moleküls Bestandteile von Antigenen zusammen mit dem MHC-
Komplex an der Außenseite präsentieren und so die Kommunikation mit dem
Immunsystem ermöglichen, d. h. die Zellen signalisieren, dass sie körpereigene
Zellen sind, die mit diesem Erreger infiziert sind. Das Immunsystem reagiert
nur dann auf eine solche Präsentation, wenn es sich tatsächlich um einen kör-
pereigenen »Präsentierteller« handelt, ansonsten nicht (MHC-Restriktion).
Körpereigene Zellen müssen bei ihrer Reifung erst »lernen«, zwischen
selbst und fremd zu unterscheiden. Dieser Prozess nennt sich Toleranzin-
duktion und läuft folgendermaßen ab: B- oder T-Zellen werden mit körper-
eigenen Antigenen oder dendritischen Zellen konfrontiert (im Knochenmark
oder Thymus). Die Zellen, die dabei körpereigene Antigene angreifen, werden
schon während der Reifung unterdrückt.

4.6.2 Bestandteile des Immunsystems

Während die Einteilung in angeborenes und erworbenes Immunsystem eine


funktionelle Einteilung ist, können physiologisch dem Immunsystem zwei
grundlegende Körpersysteme zugeordnet werden: einerseits körperliche Bar-
rieren, die verhindern, dass Antigene überhaupt in den Körper eindringen
können, und andererseits das Lymphsystem. Die körperlichen Barrieren sind:
55 Haut: Sie ist prinzipiell undurchlässig (außer bei Verletzungen, Insekten-
stichen etc.).
55 Magen: Salzsäure tötet die meisten Erreger.
4.6 • Das Immunsystem
217 4
55 Atemwege: Die Schleimhautauskleidung ist ein wirksamer Schutz.
55 Vagina: Die Milchsäure ist erregerfeindlich.
55 Harnwege: Der Urin ist sauer.

Das Lymphsystem ist gewissermaßen der Wächter des Immunsystems. Es


sorgt für die Koordination der Immunreaktion und ist Produktionsort der nö-
tigen Zellen oder Moleküle. Allgemein ist das Lymphsystem ein Flüssigkeits-
system (Lymphe = »Körperwasser«) ähnlich dem Blutkreislauf. Es sammelt
zum einen aus den Blutgefäßen ausgetretene Flüssigkeit und führt sie (nach
Passage durch Lymphknoten) wieder in die Blutgefäße zurück. Zum anderen
dient es dem Transport von Antigenen zum Lymphsystem oder dem Transport
von Immunzellen zum Infektionsort. Das Lymphsystem gliedert sich in:
55 Primäre lymphatische Organe: Produktionsorte der Immunzellen
55 Knochenmark:
–– Hier werden Bestandteile des Blutes (Erythrozyten, Thrombo-
zyten) sowie Bestandteile des Immunsystems (Leukozyten, Lym-
phozyten) produziert.
–– Dabei reifen die Leukozyten (weiße Blutkörperchen) direkt im
Knochenmark aus, während bei den Lymphozyten nur die Vor-
läuferzellen im Knochenmark produziert werden und die Aus-
reifung später erfolgt (z. B. im Thymus oder auch im Knochen-
mark).
–– Zu den Leukozyten gehören: Makrophagen, Mastzellen, Granu-
lozyten.
–– Zu den Lymphozyten gehören: B-Lymphozyten (B = bone mar-
row), T-Lymphozyten (T = Thymus), NK-Zellen und dendriti-
sche Zellen (sie entstehen aus Vorläufer-T-Zelle).
55 Thymus:
–– Er ist ein Organ des Lymphsystems.
–– Er liegt über dem Herzen.
–– Er dient der Ausreifung der T-Zellen.
55 Sekundäre lymphatische Organe (= Lymphgefäßsystem): Orte der Anti-
genpräsentation
55 Zu den sekundären lymphatischen Organen gehören:
–– Achsellymphknoten
–– Halslymphknoten
–– Leistenlymphknoten
–– Milz
55 Hier werden die Antigene mit den Bestandteilen des Immunsystems
konfrontiert und so die spezifische Immunantwort aktiviert.

4.6.3 Das angeborene Immunsystem

Das angeborene Immunsystem umfasst folgende zelluläre Bestandteile:


55 Makrophagen: Sie nehmen Krankheitserreger in sich auf, verdauen sie
(Phagozytose) und gehen dann selbst zugrunde.
55 Granulozyten:
55 Sie können wie die Makrophagen Krankheitserreger aufnehmen und
verdauen.
55 Sie enthalten auch Vesikel mit Botenstoffen (z. B. Histamin) oder to-
xischen Substanzen, die durch Aktivierung freigesetzt werden können
und Zellen in der Umgebung töten.
218 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 Sie übernehmen eine ähnliche Funktion wie die Mastzellen. Die Gra-
nulozyten befinden sich jedoch im Gegensatz zu diesen im Blut.
55 NK-Zellen (= natürliche Killerzellen):
55 Aktivierte NK-Zellen töten unspezifisch alle Zellen in der Umgebung,
es sei denn, sie werden von AK unterstützt (s. u. ADCC).
55 Sie lösen den Zelltod aus (Apoptose).
55 Sie haben Ähnlichkeit zu T-Killerzellen.
55 Sie werden durch Interferon aktiviert (im Gegensatz zu T-Killerzellen,
4 die durch T-Helferzellen aktiviert werden müssen) a schnelle Immun-
antwort.
55 Mastzellen:
55 Sie enthalten Vesikel, z. B. mit Histamin.
55 Werden sie aktiviert, setzen sie dieses frei.
55 Sie werden z. B. durch IgE aktiviert.
55 Sie übernehmen eine ähnliche Funktion wie die Granulozyten. Die
Mastzellen befinden sich jedoch im Gegensatz zu diesen nicht im Blut.
55 Dendritische Zellen:
55 Sie werden von Zytokinen (TNF) aktiviert.
55 Sie spionieren im Körper nach Antigenen und präsentieren diese in
den Lymphknoten a Aktivierung des Immunsystems.
55 Sie funktionieren wie eine Art Taxi, das den Übeltäter zur Polizei
bringt.
55 Sie kommunizieren mit B- und T-Zellen und bewirken, dass diese
wachsen und sich ausdifferenzieren.
55 Die Anbindung mit der T-Zelle bewirkt jedoch auch eine Ausdifferen-
zierung der dendritischen Zelle, die dann wieder zum Wirkungsort
zurückgeschickt wird.
55 Streng genommen können die dendritischen Zellen nicht eindeutig
zum angeborenen oder erworbenen Immunsystem zugeordnet werden,
da sie sowohl unspezifische als auch spezifische Wirkungen haben.

Die humoralen Anteile (im Blutplasma) des angeborenen Immunsystems um-


fassen folgende Elemente:
55 Enzyme:
55 Sie werden z. B. von Granulozyten freigesetzt.
55 Sie bewirken, dass Zellmembranen von Bakterien durchlöchert wer-
den.
55 Komplementsystem:
55 Es besteht aus mehreren Proteinen. Durch eine Kaskade wird eine Pore
in die Membran des Krankheitserregers gebaut.
55 Dadurch ist der Krankheitserreger nicht mehr lebensfähig.
55 Akute-Phase-Proteine:
55 Sie heften sich an die Oberfläche der Bakterien und markieren diese
(Opsonierung).
55 Dadurch wird die Phagozytoserate von Granulozyten und Makropha-
gen erhöht.
55 Zytokine:
55 Er gibt folgende fünf Gruppen:
–– Interferone: Sie aktivieren NK-Zellen und haben eine antivirale
Wirkung (z. B. IFN-γ).
–– Interleukine: Dies sind Zytokine, die von Lymphozyten produ-
ziert werden (z. B. IL-1, IL-6); sie bewirken eine Vermehrung von
B-Zellen.
4.6 • Das Immunsystem
219 4

B-Zelle B-Zelle B-Zelle


BCR A

BCR A

B-Zelle B-Zelle T-Helferzelle


MHC

MHC

Zytokine

. Abb. 4.24  Übersicht über den Ablauf der B-Zell-Antwort

–– Tumornekrosefaktoren (TNF): Sie werden von Makrophagen


freigesetzt, stimulieren die Produktion von Akute-Phase Protei-
nen und verhindern die Tumorbildung (z. B. TNF-α).
–– Joloniestimulierende Faktoren: Sie fördern das Wachstum von
Zellkulturen.
–– Chemokine: Sie stimulieren die Wanderung von Leukozyten.
55 Funktion:
–– Allgemein: Sie dienen als Botenstoffe des Immunsystems, damit
Immunzellen produziert oder an bestimmte Orte gelockt werden.
–– In der Leber: Aktivierung des Komplementsystems
–– Im Knochenmark-Endothel: Mobilisierung von Granulozyten
zur besseren Phagozytose
–– Im Hypothalamus: Erhöhung der Körpertemperatur a verrin-
gerte Vermehrung der Bakterien a erhöhte spezifische Immun-
antwort.
–– In Fettreserven, Muskeln: Energiemobilisierung, um Körpertem-
peratur zu erhöhen
–– In dendritischen Zellen: Dendritische Zellen wandern zu Lymph-
knoten, reifen dort aus und werden aktiviert a Aktivierung des
adaptiven Immunsystems.

4.6.4 Das adaptive Immunsystem

Die zellulären Anteile des adaptiven Immunsystems sind die B- und T- Lym-
phozyten. Die B-Lymphozyten sind zuständig für die Produktion von Anti-
körpern (s. u.), mit der sie dafür sorgen, dass freischwimmende Antigene be-
seitigt werden. Außerdem aktivieren sie die T-Helferzellen (s. B-Zell-Antwort).
Die B-Zellen tragen zum einen Antikörper auf der Oberfläche, zum anderen
auch antikörperähnliche Bausteine, die fest in der Membran eingebaut sind
(BCR = B-cell-receptors) und durch die die B-Zelle aktiviert werden kann.
Nach der Aktivierung läuft die B-Zell-Antwort ab (. Abb. 4.24):
55 Dringen Bakterien in den Körper ein, reagiert zunächst das angeborene IS
mit den Makrophagen und dendritischen Zellen.
220 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 In den Lymphknoten (oder der Milz) warten die B-Lymphozyten, die


entweder direkt von den Antigenen oder indirekt auch von dendritischen
Zellen aktiviert werden.
55 Die Aktivierung erfolgt, indem das Antigen an den BCR bindet.
55 Das Bakterium oder der Bakterienbestandteil wird verdaut und zusam-
men mit dem MHC-Komplex wiederum an der Oberfläche der B-Zelle
präsentiert.
55 Nun kann die T-Helferzelle an diesen Komplex anbinden, wird selbst
4 aktiviert und setzt Zytokine frei.
55 Diese wirken wieder auf die B-Zelle zurück und bewirken dort eine Diffe-
renzierung in:
55 Plasmazellen: Sie produzieren Antikörper.
55 Gedächtniszellen: Sie ermöglichen eine schnelle Immunantwort bei
Infektion mit dem gleichen Erreger.

Bei den T-Lymphozyten können zwei verschiedene Arten unterschieden wer-


den:
55 T-Helferzelle:
55 Sie hilft bei der Aktivierung der B-Zelle und AK-Produktion über
Zytokine.
55 Sie unterstützen aber auch angeborenes IS, indem sie Makrophagen
aktivieren, so dass auch diese spezifischer reagieren können.
55 T-Killerzelle:
55 Wie die B-Zelle trägt auch die T-Zelle an ihrer Oberfläche T-cell-re-
ceptors (TCR).
55 Die T-Killerzelle trägt mit ihrer Reaktion dazu bei, dass infizierte Zel-
len zerstört werden (zusammen mit der NK-Zelle).
55 Analog zur Aktivierung der B-Zelle gibt es auch eine T-Zell-Antwort.
–– Der TCR bindet an die Antigenteile, die die infizierte Zelle prä-
sentiert (oder auch dendritische Zellen, Makrophagen, etc.).
–– Die T-Zelle bewirkt dann die Zerstörung der kranken Zelle (Apo-
ptose).

Die humoralen Anteile des adaptiven Immunsystems umfassen zum einen


ebenfalls Zytokine, die bereits erklärt wurden; zum anderen die für die spezi-
fische Immunantwort so wichtigen Antikörper (AK, Immunglobuline).
55 Definition:
55 Antikörper sind Eiweißmoleküle zur Bekämpfung von Antigenen.
55 Sie bestehen aus zwei leichten und zwei schweren Polypeptidketten.
55 Sie haben feste und variable Anteile.
55 Sie befinden sich in extrazellulären Körperflüssigkeiten.
55 Sie werden von B-Lymphozyten gebildet.
55 Aktivierung von Antikörpern:
55 Ist die B-Zelle aktiviert, wandelt sie sich in eine Plasmazelle um, die
zum Knochenmark wandert und dort die entsprechenden Antikörper
produziert.
55 Dieser Prozess dauert ein bis zwei Tage.
55 Wirkungen von AK:
55 Komplement-Aktivierung (s. o.)
55 Opsonierung:
–– Die AK binden an die Antigene (Bakterien, Viren), so dass die
Bindungsstellen besetzt werden.
–– Die Antigene können nun nicht mehr an Körperzellen anbinden.
4.6 • Das Immunsystem
221 4
–– Außerdem werden die Antigene und infizierten Körperzellen für
T-Killerzellen und NK-Zellen markiert, was die ADCC (Anti-
body dependent cellular cytotoxicity) auslöst: Die Antikörper
heften sich an Antigenteile an Zelloberfläche und locken so NK-
Zellen an.
55 Neutralisierung: Hier gilt das gleiche Prinzip wie bei Opsonierung.

4.6.5 Unerwünschte Immunreaktionen

Obwohl das Immunsystem ein Schutzsystem ist, gibt es bestimmte medizi-


nische Situationen, in denen eine Immunreaktion unerwünscht ist, etwa bei
Organtransplantationen und Bluttransfusionen. Die Abstoßungsreaktion bei
Transplantationen läuft dabei im Prinzip folgendermaßen ab:
55 Dendritische Zellen aus dem Transplantat wandern zum Lymphknoten.
55 Dort werden T-Killerzellen angeregt, die zum Transplantat wandern und
das fremde Gewebe zerstören.

Bei Bluttransfusionen muss darauf geachtet werden, dass die Blutgruppen


übereinstimmen bzw. zueinander passen, und zwar aufgrund der unterschied-
lichen Blutgruppen:
55 AB0-System:
55 Erythrozyten tragen auf ihrer Oberfläche Antigene. Im Blutplasma
finden sich dann Antikörper gegen alle anderen Antigene, so entstehen
vier Blutgruppen:
–– Blutgruppe A: Sie enthält A-Antigene und Anti-B-Antikörper.
–– Blutgruppe B: Sie enthält B-Antigene und Anti-A-Antikörper.
–– Blutgruppe 0: Sie enthält keine Antigene und sowohl Anti-A- als
auch Anti-B-Antikörper.
–– Blutgruppe AB: Sie enthält sowohl A- als auch B-Antigene und
keine Antikörper.
55 Es kann zu Verklumpungen kommen, wenn fremde rote Blutkörper
mit eigenen Antikörpern zusammenkommen (Agglutination).
55 Außerdem kommt es zur Immunreaktion, bei der die roten Blutkör-
perchen zerstört werden (Hämolyse).
55 Rhesus-System:
55 In den Membranen der Erythrozyten befindet sich bei den meisten
Europäern (85 %) ein weiteres Antigen, der Rhesus-Faktor.
55 Im Gegensatz zum AB0-System gibt es hier aber normalerweise keine
Antikörper gegen den Rhesus-Faktor (auch nicht, wenn man Rh- ist).
55 Sonderfall Schwangerschaft:
–– Solche Antikörper können allerdings von einer Rh--Mutter bei
einer Schwangerschaft mit einem Rh+-Kind gebildet werden.
–– Das kann dann zu Problemen bei einer erneuten Schwanger-
schaft mit einem Rh+-Kind führen.

Ganz allgemein könnte man sich die Frage stellen, warum bei einer Schwanger-
schaft der Fötus nicht von der Mutter abgestoßen wird, da es sich schließlich
um einen fremden Organismus handelt. Außer in dem oben geschilderten Fall
kommt es in aller Regel nicht zur Abstoßungsreaktion aufgrund von folgenden
Mechanismen:
55 Die Plazenta stellt eine mechanische Barriere zwischen Kind und Mutter
dar.
222 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 In den Blutgefäßen finden sich ähnliche Strukturen wie die Blood-brain-


Barrier, durch die ebenfalls eine Abgrenzung geschaffen wird.
55 Außerdem gibt die Plazenta antiinflammatorische Zytokine ab, die eine
Entzündung unterdrücken.

4.6.6 Erkrankungen des Immunsystems

4 Es gibt im Prinzip drei Gruppen von Erkrankungen, bei denen eine Unter-
oder Überfunktion des Immunsystems mitspielt: Autoimmunerkrankungen
sind Erkrankungen, bei denen der Körper körpereigene Zellen bekämpft. Im
Gegensatz dazu reagiert der Körper bei Allergien zwar auch überempfindlich,
allerdings auf körperfremde Substanzen. Eine Unterfunktion des Immunsys-
tems kann zum ungehemmten Wachstum von Zellen und der Entstehung von
Tumoren führen.
Im Folgenden drei Beispiele für Autoimmunerkrankungen:
55 Myasthenia gravis:
55 Antikörper binden an Acetylcholin-Rezeptoren in den Muskeln, ohne
sie zu aktivieren.
55 Dadurch wird der Rezeptor in die Zelle aufgenommen und abgebaut.
55 Folge: Es gibt zu wenige Rezeptoren auf den Muskelzellen a schlechte-
re Ansteuerung von Motoneuronen.
55 Multiple Sklerose: Das Immunsystem greift die Myelinscheiden von
Nervenzellen an (Beginn meist bei Oligodendrozyten), wodurch die Reiz-
weiterleitung gestört wird.
55 Basedow-Krankheit: Antikörper binden an TSH-Rezeptoren, wodurch
vermehrt T3 und T4 produziert werden. Es kommt zu einer Schilddrü-
senüberfunktion.

Bei der Entstehung von Tumoren spielt das Immunsystem folgende Rolle:
55 Definition für Tumor:
55 Er entsteht aufgrund eines enthemmten Wachstums von körpereige-
nem Gewebe.
55 Dies beruht auf Fehlfunktionen in Tumor-Suppressions-Systemen.
55 Benigne Tumore: Tumore ohne Metastasierung, z. B. Polypen im Darm
55 Maligne Tumore (Krebs): Tumore mit Metastasierung (Tochterge-
schwülste)
55 Auslösende Faktoren:
55 Mutationen
55 Begünstigung durch Umweltfaktoren (z. B. Rauchen, UV-Licht)
55 Viren (z. B. bei Gebärmutterhalskrebs)
55 Pilze (z. B. Schimmelpilze)
55 Immunüberwachungstheorie: Theorie darüber, wie Tumore es schaffen,
Reaktionen des Immunsystems zu verhindern
55 Tumor-induzierte Immunsuppression: Tumore setzen TGF (Tumor
growth factor) frei, um die TNF-Produktion des Immunsystems zu
unterdrücken.
55 Tumor-induzierte Barriere: Tumore bauen um sich herum Bindege-
webe (fibrinös), so dass eine physikalische Barriere entsteht und die
Immunzellen die Tumorzellen nicht mehr erreichen können.

Bei einer Allergie handelt es sich um eine Überreaktion des Immunsystems


(Ferencik et al., 2005). Den Allergien nahe stehend sind die sog. Pseudoaller-
4.7 • Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen Grundlagen
223 4
gien, bei denen ähnliche Symptome auftreten wie bei Allergien, deren Ursa-
che allerdings kein Antigen ist. Bei Pseudoallergien handelt es sich um eine
Unverträglichkeit, allerdings ohne dass das Immunsystem an dieser Reaktion
beteiligt wäre. Auslöser dafür können z.  B. bestimmte Nahrungsmittel oder
Bestandteile von Medikamenten sein. Beispiele hierfür sind Alkoholunver-
träglichkeit und Laktoseintoleranz (nicht zu verwechseln mit Milcheiweiß-
allergie).
Der Ablauf einer »echten« Allergie soll im Folgenden anhand des Beispiels
Stauballergie verdeutlicht werden:
55 Die Allergie wird durch die Inhalation von Antigenen (sie heißen in die-
sem Zusammenhang auch Allerge, z. B. Kot von Staubmilben) ausgelöst.
55 Hautzellen sind normalerweise mit Tight-junctions verbunden, so dass
von außen keine Antigene in den Körper gelangen können.
55 Bestimmte Enzyme können diese engen Verbindungen lösen, so dass die
Antigene in den Körper gelangen.
55 Diese binden an dendritische Zellen und Mastzellen und lösen eine Im-
munreaktion aus.
55 Charakteristisch für die Stauballergie ist, dass (bedingt durch IgE) die
Mastzellen ihr Histamin freisetzen.
55 Diese Histamin-Freisetzung bewirkt
55 im Gastrointestinaltrakt (Verdauungstrakt): Erhöhte Flüssigkeitssekre-
tion und Peristaltik a Diarrhoe, Erbrechen,
55 in den Atemwegen: Zusammenziehen und vermehrte Schleimproduk-
tion a Atemschwierigkeiten, Husten, Schnupfen,
55 in den Blutgefäßen: Erhöhter Blutdruck (Rötung) und Wasserausstrom
aus den Blutgefäßen a mehr Lymphe im Gewebe und im Lymphsys-
tem (weitere Verstärkung der Immunreaktion).
55 Im Extremfall kann es zu einem tödlichen anaphylaktischen Schock kom-
men.

4.7 Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen


Grundlagen

4.7.1 Bewusstsein und Aufmerksamkeit

Angesichts der Tatsache, dass das Bewusstsein ein elementarer Bestandteil des
Menschseins ist, mag es überraschen, dass es außerordentlich schwierig ist, die-
sen Zustand genauer zu beschreiben. In einer einfachen Definition kann man
sagen, dass all das bewusst ist, was sich (zumindest kurz) im Arbeitsgedächt-
nis befindet. Aus biopsychologischer Sicht sind bewusste Prozessen im Ver-
gleich zu unbewussten durch ein höheres Maß an Zusammenarbeit mehrerer
Funktionsbereiche gekennzeichnet. Unbewusste Vorgänge verlaufen hingegen
eher unabhängig voneinander. Bewusstsein erfordert zudem die Aktivierung
zumindest einiger der folgenden Gehirnsysteme: Aufmerksamkeit, subjektive
motorische Kontrolle, Erkennen innerer Ereignisse (aktiviertes Selbstmodell)
sowie Erkennen der äußeren Umwelt (aktiviertes Umweltmodell).
Aufmerksamkeit bezeichnet die Konzentration auf einen bestimmten Teil
der zur Verfügung stehenden Informationen. Dabei kann zwischen anhalten-
der, ungerichteter Wachheit (Vigilanz) und kurzfristiger, gerichteter Aufmerk-
samkeit unterschieden werden. Die letztgenannte selektive Aufmerksamkeit
umfasst die zielgerichtete Konzentration auf ein bestimmtes Objekt.
224 Kapitel 4 • Biopsychologie

Eine klassische, mittlerweile aber als veraltet geltende Aufmerksamkeits-


theorie ist die Flaschenhalstheorie oder Filtertheorie (Broadbent), die sich
mit der Frage beschäftigt, welche Reize wir bewusst wahrnehmen (Birbaumer
& Schmidt, 2006): Wirken Reize auf uns ein, so werden die Sinneseindrücke
zunächst im echoischen bzw. ikonischen Gedächtnis verlängert und werden
dann im Flaschenhals so gefiltert, dass nur wenige Informationen die Verarbei-
tungsebene erreichen. Kritisiert wurde die Theorie v. a. deshalb, weil die Steue-
rung der Aufmerksamkeit nicht über das frühe Ausfiltern unwichtiger Infor-
4 mationen (Bottom-up), sondern über Top-down-Bewertungsprozesse erfolgt.
An der Steuerung der Aufmerksamkeit im Gehirn sind folgende Gebiete
beteiligt:
55 Der Gyrus cinguli spielt eine wesentliche Rolle bei Aufmerksamkeitspro-
zessen.
55 Das ARAS (aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem) ist »Schritt-
macher des Gehirns«.
55 Es gehört zur Formatio reticularis (im Hirnstamm).
55 Die Aktivierung des ARAS führt zur erhöhten Bereitschaft des Gehirns
und somit auch zur erhöhten Aufmerksamkeit.
55 Der Nucleus reticularis thalami (thalamischer Reticulariskern), der die
Schnittstelle zwischen ARAS und Cortex bildet.

Im Schlaf sind ARAS und Nucleus reticularis thalami nicht aktiv, was mit gro-
ßen Amplituden und geringer Frequenz des EEG einhergeht (der Thalamus
»schnarcht«).

4.7.2 Schlaf und zirkadiane Periodik

Wir Menschen sind einem 24-stündigen Lichtrhythmus ausgesetzt, der unser


tägliches Leben bestimmt. Auf diese von außen gegebene physikalische Eigen-
schaft unserer Umwelt reagiert der Körper mit eigenen zirkadianen Rhyth-
men, was sich z. B. in Hormonkreisläufen, Körpertemperatur oder Verdauung
nachweisen lässt. Dabei sind diese Rhythmen nur ungefähr 24 Stunden lang
(zirkadian: zirka = etwa, dies = Tag): Abgeschirmt von Uhren und anderen
Informationen über den Tagesverlauf verschiebt sich der körpereigene zirka-
diane Rhythmus und dehnt sich auf 25 bis 26 Stunden aus. Der Körper verfügt
somit – auch ohne Informationen über Tag und Nacht – über eine eigene
innere Uhr.
Bei der Steuerung der zirkadianen Rhythmen nimmt der supra-chiasma-
tische Nucleus eine entscheidende Rolle ein:
55 Er ist die »Hauptuhr«, d. h. er steuert und synchronisiert alle anderen
Rhythmen im Gehirn.
55 Er zählt funktional zum Hypothalamus und liegt unmittelbar über dem
Chiasma opticum.
55 Ist dieses Kerngebiet zerstört, laufen alle inneren Uhren desynchron und
unabhängig voneinander.
55 Die Hauptinformationsquelle für den Nucleus suprachiasmaticus ist das
Licht.
55 Er steuert auch die Zirbeldrüse (Epiphyse):
55 Der Nucleus suprachiasmaticus hemmt im Hellen die Epiphyse.
55 Im Dunkeln ist die Epiphyse aktiv und schüttet Melatonin aus.
55 Das Melatonin versetzt das Gehirn in niedrigere Aktivitätsbereitschaft.
4.7 • Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen Grundlagen
225 4
Einer der offensichtlichsten Taktgeber der zirkadianen Rhythmen ist der
Schlaf-Wach-Rhythmus. Um Schlaf genauer zu untersuchen, greift man auf
das EOG (Elektrookulogramm) zurück, das Augenbewegungen erfassen kann,
auf das EMG, das die Muskelaktivität misst, sowie auf das EEG, das die Ge-
hirnströme verbildlicht. Im EEG zeigt sich, dass Schlaf nicht gleich Schlaf ist,
sondern dass verschieden Stadien mit je unterschiedlichen EEG-Bildern unter-
schieden werden können:
55 Generell gilt: Je tiefer der Schlaf ist, desto niedriger ist die Frequenz und
desto höher ist die Amplitude.
55 REM-Schlaf (Rapid-Eye-Movement-Schlaf):
55 Wird man aus dieser Schlafphase geweckt, kann man sich am besten
an seine Träume erinnern.
55 Deshalb glaubte man ursprünglich, dies sei die einzige Traumphase
während des Schlafens. Heute gibt es jedoch Hinweise darauf, dass
man auch in den anderen Phasen träumen kann.
55 Er heißt aus folgenden Gründen auch paradoxer Schlaf:
–– Es ist am schwersten, aus dieser Phase geweckt zu werden.
–– Gleichzeitig ist das EEG aber dem Wachzustand sehr ähnlich.
55 Je weiter man nach proximal (zur Körpermitte) geht, desto mehr ist
die Muskulatur gelähmt (die Somatosensorik im Rückenmark ist ge-
hemmt, daher wird man in dieser Schlafphase so schwer wach).
55 Das Herz schlägt schneller, und man hat einen höheren Blutdruck als
in anderen Schlafphasen.
55 Das vegetative NS ist in dieser Phase sehr aktiv.
55 NREM-Schlaf (Non-REM-Schlaf):
55 Der Begriff umfasst vier Schlafstadien (Phase I-IV).
55 Das, was man Tiefschlaf nennt, ist Schlaf der Phasen III und IV und
wird auch als Slow wave sleep (SWS) bezeichnet.

In dem in .  Abb.  4.25 dargestellten Schlafprofil (Hypnogramm) sind die


Schlafstadien und ihr Verlauf während einer Nacht zu erkennen. Es wird aus
EEG, EMG und EOG erstellt. Während eines Schlafes von acht Stunden treten
etwa fünf REM-Phasen und somit fünf Schlafzyklen auf (ein Schlafzyklus dau-
ert etwa 90 Minuten), wobei jeder Schlafzyklus auf die gleiche Weise abläuft:
Man gleitet zunächst vom Wachzustand über die Schlafstadien I–II in die Tief-
schlafphasen III–IV und dann über Stadium II in die REM-Phase. Anschlie-
ßend gleitet man wieder in den Tiefschlaf usw.
Man kann beobachten, dass sich dieser Schlafzyklus im Laufe des Lebens
verändert: Säuglinge schlafen oft den ganzen Tag, allerdings in kurzen Phasen.
Außerdem besteht bei ihnen 50 % ihres Schlafes aus REM-Schlaf, während bei
Erwachsenen nur 20 % des Schlafes REM-Schlaf sind. Bei älteren Menschen
ist es so, dass sie das Stadium IV sehr oft überhaupt nicht mehr erreichen und
insgesamt weniger schlafen.
An der Steuerung des Schlafes sind verschiedene Hirnareale beteiligt:
55 ARAS (Mittelhirn): Es nutzt Acetylcholin als Transmitter.
55 Raphe-Kerne:
55 Sie nutzen Serotonin als Transmitter.
55 Serotonin induziert NREM-Schlaf.
55 Locus coeruleus:
55 Er nutzt Noradrenalin als Transmitter.
55 Noradrenalin (Gegenspieler zu Serotonin) induziert REM-Schlaf.
55 Inhibitorisches Areal: Es steuert den REM-Schlaf.
226 Kapitel 4 • Biopsychologie

W W

EEG - Stadien
A 10 20 30 40 10 - 50 A
B min 1
C 2
D 3
E 4
max

4 0 1 2 3 4 5 6 7 8h
REM REM REM REM REM
EOG

vegetative und motorische Variablen (Parameter)


EMG
80

Herzrate
70

60

50
26
Atmung

22

18

14
30
PE 20
10
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8h

. Abb. 4.25  Schlafprofil: Verlauf der verschiedenen Schlafstadien während einer Nacht.


(Aus Birbaumer & Schmidt, 2006)

Wie wichtig Schlafen für uns Menschen ist, merken wir daran, wie schnell die
Psyche und der Körper nicht mehr reibungslos funktionieren, wenn wir Schlaf
entziehen. Schon ab der dritten Nacht mit Schlafentzug kann man kaum noch
wach bleiben, und es kommt zu massiven funktionellen Einbußen (z. B. Illu-
sionen, Halluzinationen und Wahnvorstellungen). Für Menschen besonders
quälend ist es daher, wenn sie unter Schlafstörungen leiden:
55 Schlafapnoe: Man hört während des Schlafens fast auf zu atmen und
wacht dadurch mehrmals pro Nacht auf.
55 Narkolepsie:
55 Die Patienten haben Schlafattacken: Sie schlafen einfach ein, auch
wenn sie eigentlich hellwach sind.
55 Solche Schlafattacken sind nicht beeinflussbar.
55 Eine Schlafattacke kann bis zu 20 Minuten dauern.
55 Dieser Schlaf ist charakterisiert durch REM-Schlaf (deshalb auch
Hemmung der Somatosensorik).
55 Sie ist relativ gefährlich, z. B. beim Autofahren.
55 Schlafwandeln:
55 Dies geht nur im Tiefschlaf, nicht im REM-Schlaf.
55 Dies ist eigentlich keine Schlafstörung, kann dennoch unangenehme
Konsequenzen haben.
4.7 • Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen Grundlagen
227 4
Da Schlaf ein so wichtiges und grundlegendes Bedürfnis ist, werden Schlaf-
störungen oft mit Medikamenten behandelt. Dabei gibt es zwei grundlegende
Medikamentenfamilien:
55 Barbiturate:
55 Sie wurden klassischerweise verschrieben.
55 Bsp.: Pentobarbital
55 Sie bringen kurzfristige Besserung, aber langfristig entwickelt der
Körper eine Toleranz, und die Schlafstörung verschlimmert sich (man
wacht öfter auf a man wird abhängig).
55 Benzodiazepine:
55 Sie werden heute eher verwendet.
55 Bsp.: Valium
55 Sie verstärken die Aktivität von hemmenden Interneuronen überall im
Gehirn.
55 Sie sind harmloser, können aber ebenfalls abhängig machen und sind
v. a. in Kombination mit Alkohol problematisch (Alkohol potenziert
die Wirkung).

4.7.3 Lernen und Gedächtnis

Die für das Lernen besonders wichtige Gehirnregion ist der Hippocampus
(Teil des limbischen Systems). Die Fähigkeit des Menschen, zu lernen und
Informationen abzuspeichern, nennt man aus biopsychologischer Perspektive
neuronale Plastizität (Fähigkeit zur Veränderung der Nervenzellen). Sie um-
fasst verschiedene Mechanismen (Ende-Hennigsen & Hennigsen, 2010):
55 Demaskierung: Bereits vorhandene, aber nicht benutzte (stille) Nerven-
verbindungen werden aktiviert, um ein (wie auch immer entstandenes)
Defizit auszugleichen.
55 Aussprossung: Neubildung von Nervenendigungen und damit auch neuer
Synapsen
55 Neurogenese: Ausbildung gänzlich neuer Nervenzellen aus Vorläuferzel-
len
55 Neurotrophe Faktoren: Substanzen, die das Nervenwachstum fördern
(Neural growth factor) und über die der Körper das Nervenwachstum
reguliert.
55 Synaptische Plastizität:
55 Veränderung der ausgeschütteten Transmittermenge
55 Vermehrte Rezeptoren in der Postsynapse
55 Veränderung der Durchlässigkeit der Membran
55 Vergrößerung der Synapsenfläche

Doch wie kommt es überhaupt zu solchen neuronalen Veränderungen? Wie


verläuft der Lernprozess auf neuronaler Ebene? Der Psychologe Donald Hebb
glaubte, dass sich neue Informationen in neuronalen Schaltkreisen so lange
wiederholen, bis sie etabliert sind. Er formulierte daraufhin die Hebbsche Re-
gel: Wenn ein Axon der Zelle A wiederholt Zelle B erregt, reagiert Zelle B in
Zukunft schneller auf Zelle A.
Bei wiederholter Stimulation verstärken Hebb-Synapsen ihre Verbindung,
indem sowohl die Prä- auf die Postsynapse einwirkt als auch umgekehrt. Ob-
wohl diese Erkenntnis trivial erscheint, ist sie doch wesentlich: Es bedeutet
nämlich, dass durch Lernen eine Veränderung auf synaptischer Ebene statt-
findet.
228 Kapitel 4 • Biopsychologie

N1 N2

Reiz Reaktion

Reiz an EPSP in N2
N1

. Abb. 4.26  Neuronale Modellvorstellung und Ablauf der LTP (N1 = Neuron 1, N2 = Neuron 2)

Die Veränderungen, die durch wiederholte Erregung ausgelöst werden,


werden unter dem Begriff »Langzeitpotenzierung« zusammengefasst, worauf
nun näher eingegangen werden soll.

Langzeitpotenzierung und Langzeitdepression im


Hippocampus
Das Phänomen der Langzeitpotenzierung (LTP = Long term potentiation)
kann homosynaptisch und heterosynaptisch beschrieben werden. Die homo-
synaptische LTP zeigt, was in Hebb-Synapsen bei zwei hintereinander geschal-
teten Nervenzellen passiert, während die heterosynaptische LTP Grundlage
für die Verknüpfung von zwei verschiedenen Informationen und damit zwei
verschiedenen Nervenzellen ist.
Um die homosynaptische LTP zu verstehen, stelle man sich folgenden
Versuchsaufbau vor: Man untersucht zwei hintereinander geschaltete Hippo-
campus-Neurone, wobei man das 1. Neuron elektrisch stimuliert und beim 2.
Neuron die EPSP ableitet (. Abb. 4.26). Dann kann man Folgendes beobachten
(. Abb. 4.26 unten):
55 Bei einer Stimulation mit langsamer Frequenz bleiben die EPSP stabil.
55 Stimuliert man anschließend mit einer Pulslawine, summieren sich die
EPSP auf.
55 Stimuliert man dann wieder mit einer langsamen Frequenz wie am An-
fang, bleiben die EPSP für eine Zeit sehr viel größer als am Anfang.

Daraus folgt, dass in der Synapse eine Veränderung stattgefunden hat, die da-
für sorgt, dass das 2. Neuron auf den gleichen Reiz (eine langsame Frequenz)
nach einer gewissen »Lernphase« (Pulslawine) unterschiedlich reagiert.
Eine wichtige Rolle spielen dabei die (ionotropen) Glutamatrezeptoren, die
im Gehirn weit verbreitet sind. Dabei gibt es zum einen die für eine schnelle
Erregungsleitung wichtigen AMPA-Rezeptoren, die sich sofort öffnen und Na+
in die Zelle strömen lassen, und zum anderen die NMDA-Rezeptoren, die sich
4.7 • Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen Grundlagen
229 4

UCR/CR

Synapse 1

Synapse 2
N1 N2
UCS

CS

. Abb. 4.27  Modellvorstellung für die heterosynaptische LTP (N1 = Neuron 1, N2 = Neuron 2)

nur bei wiederholter Erregung öffnen (zu den unterschiedlichen Rezeptorty-


pen s. auch 7 Abschn. 4.3.4):
55 Normalerweise ist der NMDA-Rezeptor durch einen Magnesiumblock
versperrt: Bindet also der Botenstoff Glutamat an, so geschieht nichts.
55 Bindet Glutamat aber zuvor an AMPA-Rezeptoren, so dass Na+ in die Zel-
le einströmt (das wieder hinausgepumpt wird, wenn die Reize nur lang-
sam hintereinander ankommen), verschwindet der Magnesiumblock, was
drei Mechanismen zur Folge hat, die die (kurzfristige) stärkere Antwort
der Postsynapse erklären:
55 Es strömt auch Ca2+ in die Zelle, das auch positiv geladen ist und da-
mit die Depolarisation verstärkt.
55 Das Ca2+ führt zudem dazu, dass die AMPA-Rezeptoren sensibler
werden und sich leichter öffnen.
55 Die postsynaptische Zelle setzt einen Botenstoff (NO = Stickoxid) frei,
der rückwärts zu der präsynaptischen Zelle diffundiert und dort be-
wirkt, dass die präsynaptische Zelle mehr Transmitter freisetzt und
somit ebenfalls die Reaktion verstärkt.
55 Diese Effekte allein würden jedoch noch keine Langzeitveränderungen er-
klären. Dazu ist es nötig, die Effekte der LTP zu stabilisieren (langfristige
Effekte):
55 Durch länger andauernde wiederholte Erregung wird mittels des Se-
cond messengers cAMP ein Protein produziert, das die Transkription
von Genen im Zellkern beeinflusst.
55 Langfristig finden dadurch genau diejenigen strukturellen Verände-
rungen statt, die oben unter dem Schlagwort neuronale Plastizität
zusammengefasst wurden (z. B. synaptische Plastizität, Produktion
neurotropher Faktoren, Aussprossung).

Bei der heterosynaptischen LTP geht es im Gegensatz dazu um die Verknüp-


fung von zwei verschiedenen Nervenzellen mit einer dritten Nervenzelle. Sie
ist damit Grundlage der klassischen Konditionierung. Um dieses Phänomen zu
verstehen, stelle man sich den Versuchsaufbau nun so vor: Zwei Neurone ha-
ben das gleiche Zielneuron, wobei das Neuron des UCS (. Abb. 4.27: Neuron 1)
230 Kapitel 4 • Biopsychologie

Reiz an Reiz an EPSP in Synapse 1 EPSP in Synapse 2


N1 (UCS) N2 (CS)

4
. Abb. 4.28  Potenziale während der Kopplung von CS und UCS (obere Zeile) und nach
dem Lernprozess (untere Zeile)

eine starke Erregung bewirkt und das Neuron des CS (. Abb. 4.27: Neuron 2)
nur eine schwache Erregung hervorruft. Es passiert Folgendes:
55 Bei einer ersten Kopplung der beiden Reize bewirkt die starke Erregung
durch den UCS eine Aufsummierung der EPSPs in der ersten Synapse.
55 Dieses Potenzial sorgt für eine Vordepolarisation der zweiten Synapse, so
dass hier nun leichter ein EPSP durch Neuron 2 ausgelöst werden kann.
55 Werden nun CS und UCS wiederholt gepaart, wird die Verbindung des
zweiten Neurons mit dem Zielneuron gestärkt, so dass in Zukunft auch
bei Erregung des zweiten Neurons allein ein größeres Potenzial in der
Postsynapse resultiert (. Abb. 4.28).

Die biochemischen Mechanismen der heterosynaptischen LTP sind dabei ana-


log zur homosynaptische LTP, nur dass hier die Vordepolarisation, die not-
wendig ist, um den Magnesiumblock aus dem NMDA-Rezeptor verschwinden
zu lassen, durch ein anderes Neuron erfolgt.
Die Langzeitdepression (LTD = Long term depression) schließlich ist das
Gegenstück der LTP. Auch hier gibt es eine homosynaptische und eine hetero-
synaptische Variante:
55 Homosynaptische LTD: Wird ein Neuron schwach gereizt und danach
wieder etwas stärker, so sind die EPSP bei der nachfolgenden stärkeren
Stimulation schwächer als normal a eine schwache Stimulation bewirkt
also eine Schwächung der Verbindung zweier Neurone.
55 Heterosynaptische LTD: Das 1. Neuron wird stark gereizt, dadurch
kommt es zu einer Depolarisation, die zum 2. Neuron wandert und hier
eine schwache Depolarisation bewirkt a somit kommt es zu einer Schwä-
chung der Verbindung zwischen 2. Neuron und Zielneuron.

Auch für die LTD ist der NMDA-Rezeptor verantwortlich: Dieser hat näm-
lich zwei unterschiedliche Schwellenwerte: Wird die 1. Schwelle erreicht
(ca. -30 mV), löst sich der Magnesiumblock, und es kommt zur LTP. Wird
die 2. Schwelle erreicht (ca. -50 mV), wird der Magnesiumblock »stärker fest-
gehalten«, und es kommt zu LTD. Etwas vereinfacht kann man sagen, dass es
bei einer schwachen Depolarisation eher zu LTD kommt und bei einer starken
eher zu LTP. Wie gut jedoch LTP und LTD funktionieren, hängt davon ab, wie
nah die entsprechenden Neurone beieinander liegen.

Klassische Konditionierung bei der Aplysia


Aplysia ist eine Meeresschnecke, die sehr wenige große Neurone besitzt, die
sich gut für Forschungszwecke eignen, weshalb hier die klassische Konditio-
nierung an diesem Beispiel noch einmal erklärt werden soll. Bei der Aplysia
4.7 • Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen Grundlagen
231 4

CS
FI

SN

UCS M UCR/CR

. Abb. 4.29  Schematische Darstellung der neuronalen Grundlagen der klassischen Kon-


ditionierung bei Aplysia; Legende: SN = sensorisches Neuron des Siphons, FI = Facilitating
interneuron, M = Motorneuron

gibt es einen Abwehrreflex, der folgendermaßen abläuft: Reizt man das Saug-
rohr (Siphon) der Aplysia mit einem Wasserstrahl (CS), kontrahieren sich Füh-
ler und Saugrohr. Über wiederholte Kopplung des CS mit einem Stromstoß am
Schwanz (UCS) soll die Konditionierung untersucht werden.
Der neuronale Aufbau ist dabei wie folgt (. Abb. 4.29):
55 Neuronale Grundlage des normal ablaufenden Reflexes: Das sensorische
Neuron führt zum Motorneuron, das die Kontraktion auslöst.
55 Neuronale Grundlage der Konditionierung: Es wird ein Interneuron
(Facilitating interneuron, FI) aktiviert, das den Reiz vom sensorischen
Neuron des Schwanzes zum sensorischen Neuron des Siphons weiter-
leitet.

Es gibt somit zwei Synapsen, die für die Konditionierung ein Rolle spielen:
eine axo-axonische Synapse zwischen dem FI und dem sensorischen Neuron
sowie eine axo-somatische Synapse zwischen dem sensorischen Neuron und
dem Motorneuron.
Werden CS und UCS nun gleichzeitig dargeboten, passiert in diesen beiden
Synapsen Folgendes:
55 In der axo-axonischen Synapse zwischen dem FI und dem sensorischen
Neuron des Siphons:
55 Das FI setzt 5-HT frei, das an den Rezeptor der Postsynapse (das sen-
sorische Neuron des Siphons) bindet.
55 Über die nun ausgelöste Second-messenger-Kaskade (Second mes-
senger ist cAMP), verschließen sich die K+-Kanäle der Postsynapse
(sie werden phosphoryliert). Somit kann Kalium nicht mehr austreten
und ankommende Aktionspotenziale abbauen (ein AP wird durch
Na+ aufgebaut und durch K+ abgebaut; erst längerfristig werden durch
die Na+-K+-Pumpe die ursprünglichen Ionenverhältnisse wieder her-
gestellt).
55 In der axo-somatischen Synapse zwischen sensorischem Neuron des Si-
phons und Motorneuron:
55 Kommt nun ein Aktionspotenzial (Na+) vom sensorischen Neuron des
Siphons in der Synapse an, öffnen sich die Ca2+-Kanäle.
55 Normalerweise wird das AP durch K+-Ausstrom beendet.
232 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 Da aber die K+-Kanäle verschlossen sind, hält das AP länger an, und es
strömt mehr Ca2+ in die Zelle.
55 Das Ca2+ bewirkt, dass Vesikel mit der Membran verschmelzen. a Es
werden mehr Transmitter ausgeschüttet.
55 Wird nun der Vorgang wiederholt, bewirkt das vermehrt vorhandene
Ca2+, dass die Second-messenger-Kaskade noch besser abläuft. a Es
wird mehr cAMP produziert. Das wiederum bewirkt, dass sich
K+-Kanäle schließen.
4
Langfristig kommt es (wie bereits bei der LTP im Hippocampus beschrieben)
zur Beeinflussung der Genexpression und zu morphologischen Veränderun-
gen in der Zelle.

4.7.4 Motivation

Eine für Motivation wichtige Hirnstruktur ist der Hypothalamus. Biopsycho-


logisch gesehen entsteht Motivation in Situationen, in denen eine Abweichung
von einem Soll-Zustand vorliegt. Was uns dann antreibt, um diesen Soll-Zu-
stand wieder herzustellen, nennt man Triebe. Triebe bringen uns also dazu, in
bestimmten Situationen bestimmte Verhaltensweisen (z. B. Trinken) zu bevor-
zugen. Dabei kann unterschieden werden:
55 Homöostatische Triebe: Überlebenswichtige Triebe, die einen festen Soll-
Wert haben, z. B. Temperaturerhaltung, Hunger, Durst, Schlaf
55 Nichthomöostatische Triebe: Sie sind wichtig für das Überleben der Spe-
zies, z. B. Sexualität, Bindung.

Vereinfacht gesagt läuft die Regulation homöostatischer Triebe folgenderma-


ßen ab:
55 Messung des Ist-Wertes, z. B. Thermorezeptoren in der Haut messen die
Ist-Temperatur der Körpers
55 Vergleich von Ist- und Soll-Wert im Hypothalamus
55 Konsequenzen des Vergleichs:
55 Liegt der Ist-Wert im Soll-Bereich, geschieht nichts.
55 Liegt der Ist-Wert unter dem Soll-Wert, aktiviert der Hypothalamus
andere Bereiche, die eine Erhöhung erreichen sollen, z. B. Zittern.
55 Liegt der Ist-Wert über dem Soll-Wert, aktiviert der Hypothalamus
ebenfalls eine Gegenregulation, z. B. Schwitzen.

Durstregulation
Durst kann auf verschiedenen Wegen entstehen, an denen jeweils unterschied-
lichen Rezeptoren beteiligt sind:
55 Osmotischer Durst
55 Er entsteht, wenn im Zellinnern Wasser verloren geht (z. B. durch
Austrocken oder durch Anstieg von extrazellulären Salzbestandteilen
durch salzhaltige Nahrung und damit einhergehender Diffusion des
Wassers nach außen).
55 Der intrazelluläre Wasserverlust bewirkt, dass die Zellen schrumpfen
und der Druck im Extrazellulärraum wächst.
55 Dieser osmotische Druck wird von Osmosensoren im Zwischenhirn
gemessen.
4.7 • Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen Grundlagen
233 4
55 Hypovolämischer Durst: Er entsteht durch Verlust von Körperflüssigkei-
ten (z. B. Schwitzen, Verdunsten, Blut, Erbrechen, etc.), was sich dann auf
zwei Wegen bemerkbar machen kann:
55 Der Flüssigkeitsverlust bewirkt eine Abnahme des Blutvolumens und
somit des Blutdrucks, was die sog. Barorezeptoren (reagieren auf Deh-
nung der Gefäßwände am Herzen) registrieren.
55 Der Flüssigkeitsverlust und die damit verbundene Abnahme des Blut-
drucks machen sich zudem auch in den Nieren bemerkbar. Diese
benötigen einen gewissen Blutdruck, um optimal zu arbeiten und das
Blut filtern zu können. Deshalb gibt es auch hier Volumensensoren, die
Veränderungen des Blutdrucks messen.

Wird durch einen dieser möglichen Durstentstehungswege eine Abweichung


vom Soll-Wert festgestellt, wird die Gegenregulation ausgelöst. Diese Regula-
tion erfolgt dabei im Wesentlichen über zwei Hormone: ADH macht durstig,
und Oxytozin reduziert den Salzappetit.
55 Osmotischer Durst: In Reaktion auf die Information von den Osmosen-
soren wird vom Hypothalamus ADH ausgeschüttet.
55 Hypovolämischer Durst:
55 In Reaktion auf die Information von den Barorezeptoren werden die
Aktivität der NNR und die Produktion von Aldosteron gesteigert. Al-
dosteron bewirkt daraufhin die Ausschüttung von ADH und Oxytozin.
55 In Reaktion auf die Information von den Dehnungsrezeptoren aus den
Nieren: Ist der Druck in den Nieren nicht groß genug, wird das Hor-
mon Renin freigesetzt, aus dem über verschiedene Enzyme schließlich
das Hormon Angiotensin II entsteht. Angiotensin II führt dazu, dass
sich die Gefäße zusammenziehen und auf diese Weise der Blutdruck
erhöht wird (wodurch nicht die Ursache des Wassermangels behoben
wird, aber die Funktionalität der Nieren gewährleistet wird). Angioten-
sin II bewirkt zudem die Ausschüttung von ADH und Oxytozin.

Wird der Wassersuchtrieb nun durch Trinken befriedigt, erfolgt die Durststil-
lung über folgende Mechanismen:
55 Präresorptive Durststillung:
55 Wasseraufnahme befeuchtet (stimuliert) Rezeptoren im Mund, die
Durststillung bewirken.
55 Sie hält sehr kurz an.
55 Resorptive Durststillung:
55 Wasser wird über die Darmwand aufgenommen und dahin transpor-
tiert, wo es gebraucht wird. a Die Resorption hat stattgefunden, der
Wassermangel ist tatsächlich behoben.
55 Sie hält lange an.

Hungerregulation und Störungen des Essverhaltens


Ähnlich wie die Durstregulation erfolgt auch die Hungerregulation:
55 Hungerentstehung:
55 Die Leerkontraktion des Magens führt dazu, dass Mechanorezeptoren
angesprochen werden.
55 Verringerte Glucoseverfügbarkeit: An verschiedenen Stellen im Körper
schlagen die Glucorezeptoren Alarm.
55 Rückgang der Wärmeproduktion: Sie wird von Thermosensoren des
Hypothalamus gemessen.
234 Kapitel 4 • Biopsychologie

55 Änderung des Fettstoffwechsels:


–– Liporezeptoren messen die Fettkonzentration.
–– Sie fordern so viel Essen, bis ein bestimmter Fettgehalt erreicht
ist.
–– Der Soll-Wert der Liporezeptoren kann allerdings variieren.
55 Sättigung:
55 Präresorptive Sättigung: Sie ist kurzfristig.
–– Kaubewegungen bewirken eine erste Hemmung des Hungerge-
4 fühls.
–– Sensoren in Nase, Mund und Speiseröhre bewirken ebenso kurz-
fristige Sättigung.
–– Mechanosensoren des Magens, die auf die Dehnung des Magens
reagieren, stillen den Hunger.
55 Resorptive Sättigung: Sie ist langfristig.
–– Chemosensoren des Magen-Darm-Trakts (z. B. Glucorezeptoren)
–– Zentrale Gluco-, Thermo- und Liposensoren

Hunger und Sättigung werden über zwei Mechanismen reguliert:


55 Langzeitregulation: Sie läuft über die Hormone Insulin und Leptin
(hemmt den Hunger), deren Konzentration proportional zur Größe des
Fettgewebes ist.
55 Kurzzeitregulation: Sie läuft über Ghrelin (regt den Appetit an) und das
Neuropeptid Y.

Folgende Störungen des Essverhaltens können auftreten:


55 Anorexie und Bulimie
55 Anorexie: Exzessives Fasten, zu viel Sport und Bewegung
55 Bulimie: Fressattacken mit anschließendem Erbrechen
55 Sie sind primär kulturell bedingt und werden oft von Diäten ausgelöst.
55 Die Steuerung der NNR und der Sexualhormone ist gestört.
55 Adipositas (Fettsucht):
55 Sie ist einer der bedeutsamsten Krankheitsrisiken.
55 Sie ist genetisch bedingt.
55 Sie bewirkt eine Insulin-/Leptin-Sensitivität im Gehirn a Erleichte-
rung der Anlegung von Fettreserven.

4.7.5 Emotionsverarbeitung

Das limbische System


Auf biopsychologischer Sicht haben wir Emotionen, weil sie sich evolutionär
bewährt haben (z. B. Angst hat Signalcharakter). Im Gehirn sind die Emotio-
nen im limbischen System repräsentiert, bestehend aus:
55 Amygdala:
55 Sie ist ein zusammenhängender Komplex aus mehreren Kernen.
55 Sie liegt im Temporallappen.
55 Sie ist für das Lernen von Emotionen verantwortlich, speichert aber
keine Informationen über die gelernte Emotion.
55 Input:
–– Direkte Projektionen des Hörsystems vom Corpus geniculatum
mediale zur Amygdala.
–– Projektion vom Hörsystem über den Corpus geniculatum media-
le und über den auditorischen Cortex zur Amygdala.
4.7 • Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen Grundlagen
235 4
–– Außerdem gibt es noch andere Projektionen (z. B. somatosenso-
rischer Input).
55 Output:
–– Er steuert den emotionalen Ausdruck über den Hypothalamus.
–– Explizites Verhalten: Körperhaltung, Mimik, Verhalten (über
PAG, welches entscheidet, wann welches Verhalten angebracht
ist, zur Motorik).
–– Implizites Verhalten: Durchblutung, Herzschlag (vegetatives NS)
55 Hippocampus: Explizites Gedächtnis, räumliche Vorstellung
55 Fornix
55 Mamillarkörper
55 Gyrus cinguli
55 Mediale Thalamuskerne (unspezifische Kerne)
55 Hypothalamus: Er reguliert die Reaktionen des autonomen NS (z. B. Hor-
monausschüttung).

Insbesondere die Amygdala spielt bei der Konditionierung von Emotionen


eine große Rolle. Besonders erlernte Furchtreaktionen nehmen hier ihren
Anfang, indem CS (z.  B. ein Ton) und UCS (z.  B. eine Schlange) miteinan-
der verknüpft werden. Die Amygdala erhält Input vom Thalamus, der bereits
sensorische Informationen weiterleitet, bevor sie cortikal verarbeitet wurde.
Das heißt, hier werden sensorische und emotionale Information zusammen-
gebracht und (über die beschriebenen Mechanismen der heterosynaptischen
LTP) assoziativ verknüpft. Bei einfachen Reizen kann eine Konditionierung
allein über diese Verbindung entstehen. Bei komplizierteren Reizen bzw. Reiz-
unterscheidung benötigt die Amygdala jedoch auch Informationen aus dem
Cortex und dem Hippocampus.

Depression
Die Depression wird aus biopsychologischer Sicht auf hormonelle Funktions-
störungen zurückgeführt (Reischies, 2007), nämlich auf eine Unterfunktion
von Serotonin (5-HT) und Noradrenalin (NA), was wiederum aus Dopamin
(DA) entsteht. Es sollen deshalb die Transmitterkreisläufe von 5-HT und DA
einmal genauer betrachtet werden, wodurch mögliche Interventionsansätze
bei einer Depression deutlich werden (. Abb. 4.30).
Die Depression kann mit folgenden Medikamenten behandelt werden:
55 Trizyklische Antidepressiva: Sie verhindern die Wiederaufnahme von
5-HAT und NA in die Präsynapse, so dass die Wirkung der Transmitter
verstärkt wird.
55 Spezifische Serotonin-uptake-Blocker: Sie haben weniger Nebenwirkun-
gen als trizyklische Antidepressiva und blocken selektiv nur die 5-HT-
Wiederaufnahme.
55 MAO-Hemmer: Nachdem 5-HT bzw. NA im synaptischen Spalt gewirkt
hat, wird es wieder in die Präsynapse aufgenommen, wo es von MAO zer-
stört wird. a Hemmt man das MAO, bleibt mehr 5-HT erhalten.
55 CRH-Antagonisten (CRH, Corticotropin releasing hormon):
55 CRH führt zu vermehrter Ausschüttung von Kortisol.
55 CRH-Antagonisten hemmen die Kortisolfreisetzung und haben auch
direkte Effekte im Gehirn.
55 Lithium (bei bipolarer Depression): Es greift in einen Zwischenschritt der
Second-messenger-Kaskade ein; die Wirkung ist aber noch nicht völlig
geklärt.
236 Kapitel 4 • Biopsychologie

NA 5-HT
Vormolekül (wird mit Tyrosin Tryptophan
Nahrung aufgenommen):
Vormolekül wird in DA bzw. L-Dopa Tryptophan-Hydroxylase
5-HAT umgewandelt mit
dem Enzym:
1. Interventionsmöglichkeit L-Dopa zuführen und DA- Bremsen oder Fördern
bzw. NA- Produktion dieses Enzyms
ankurbeln
Transmitter wird in Vesikel verpackt
4 2. Interventionsmöglichkeit Reserpin zerstört Vesikelwände, so dass Transmitter nicht
mehr verpackt werden kann Î weniger Transmitter
vorhanden, da freier Transmitter von MAO zerstört wird
Freisetzung des Transmitters
3. Interventionsmöglichkeit Amphetamine erhöhen die
Freisetzung Î Erhöhung
der NA-Wirkung
Transmitter bindet an die Postsynapse
4. Interventionsmöglichkeit Blocken von NA Rezeptoren Stimulieren von 5-HT-
der Postsynapse Î Rezeptoren der
Reduktion der NA-Wirkung Postsynapse Î Steigerung
der 5-HT-Wirkung
Transmitter wird wieder von der Präsynapse aufgenommen
5. Interventionsmöglichkeit Blocken dieses Aufnahmeprozesses (z.B. durch
Amphetamine bei NA, Antidepressiva bei 5-HT) Î
Transmitter bleibt im synaptischen Spalt Î Verstärkung
der Transmitter-Wirkung
Transmitter wird in der Präsynapse von MAO zerstört
6. Interventionsmöglichkeit MAO-Hemmer sorgen dafür, dass mehr von dem
Transmitter verfügbar bleibt

. Abb. 4.30  Darstellung der Transmitterkreisläufe von Serotonin (5-HT) und Dopamin


(DA) inklusive der möglichen Anknüpfungspunkte für Interventionen

55 Benzodiazepine (angstlösende Substanzen):


55 Sie binden an GABA-Rezeptoren.
55 Bindet GABA an die GABA-Rezeptoren, wird die Zelle gehemmt.
55 Benzodiazepine verstärken diese Wirkung von GABA.

4.7.6 Kognitive Funktionen

Sprachverarbeitung
Die Sprachverarbeitung ist meistens nur in der linken Hemisphäre lokalisiert
(bei Rechtshändern), und zwar im
55 Broca-Areal:
55 Es ist für Planung und Koordination der Sprache verantwortlich.
55 Es ist ein motorisches Areal.
55 Läsionen in diesem Areal führen zu Sprachstörungen (motorische
Aphasie; Broca-Aphasie).
55 Wernicke-Areal:
55 Es ist ein sensorisches Areal.
55 Läsionen in diesem Areal führen zu Verständigungsproblemen (senso-
rische Aphasie; Wernicke-Aphasie).
55 Bogenförmigen Fascilus (Fascilus arcuatus):
55 Er verbindet Broca- und Wernicke-Areal.
55 Läsionen in diesem Areal führen zu Beeinträchtigungen beim Nach-
sprechen (Leitungsaphasie).
4.7 • Psychische Funktionsbereiche und ihre biologischen Grundlagen
237 4
Demenz
Demenz bezeichnet den Abbau von kognitiver Leistungsfähigkeit (z. B. Ver-
gesslichkeit, Orientierungslosigkeit). Die senile Demenz oder Altersdemenz
entsteht durch eine verschlechterte Durchblutung des Gehirns durch Arterien-
verkalkung. Von der Alzheimer-Erkrankung sind jedoch auch jüngere Leute
betroffen (Reischies, 2007):
55 Symptome: Größere Sulci, insgesamt kleineres Gehirn, erweiterte Ventri-
kel. Dies geht mit einem Abbau des Gehirns einher; die Zellkörper ster-
ben zuerst, dann auch die Axone.
55 Der Zerfallsprozess beginnt im Temporallappen (Hippocampus) und
präfrontal.
55 Ursachen von Alzheimer:
55 Intrazellulär: Neuro-fibrilary tangle, d. h. das Cytoskelett der Pyrami-
denneurone fällt durch Phosphorylierung in sich zusammen, so dass
sich die Zellen verformen und Kontakte verlieren. a Da die Zellen nun
für den Organismus nicht mehr nützlich sind, zerstören sie sich selbst.
55 Extrazellulär: Amyloid-Plaques (Eiweißdepots außerhalb der Zellen).
a Diese Eiweißknäuel bewirken, dass die Zellen nicht mehr richtig
funktionieren.
55 Medikamente wirken nur palliativ (Symptombehandlung ohne Ursachen-
behandlung).
55 Alzheimer zerstört auch den Basalkern von Meynert. a Es ist nicht
mehr genügend Acethylcholin vorhanden (ACh bildet den »Treibstoff«
für die NMDA-Rezeptoren im Vorderhirn).
55 Medikamente hemmen die ACh-Esterase, die ACh abbaut. a Das noch
vorhandene ACh wird nicht mehr weiter abgebaut, aber die Zellen
sterben trotzdem weiter.

Schizophrenie
Schizophrenie ist eine schwere psychische Erkrankung mit folgenden Merk-
malen:
55 Formen und Symptome:
55 Typ1-Schizophrenie:
–– Akute Halluzinationen, plötzliche intensive Krankheitszeichen
(positive Symptome)
–– Mangelnde Durchblutung im Temporallappen
55 Typ2-Schizophrenie:
–– Langsameres Erkranken, sozialer Rückzug (negative Symptome)
–– Massiv erweiterte Ventrikel
55 Ursachen:
55 Erhöhte Aktivität von Dopamin (Dopamin-Hypothese der Schizo-
phrenie)
55 Veränderungen im Hippocampus und Temporalcortex: Die Pyrami-
denzellen sind nicht mehr geordnet. a Die Verbindungen der Nerven-
zellen gehen verloren, oder es bilden sich neue.
55 Medikamente:
55 Antipsychotika: Sie blockieren die DA-Rezeptoren.
55 Bindet Dopamin an den Rezeptor, wird über das inhibitorische G-Pro-
tein weniger cAMP produziert. a Das bewirkt kürzere AP und eine
geringere Transmitterausschüttung (dies erklärt die Zerfahrenheit der
Patienten und die Zusammenhanglosigkeit ihrer Gedanken).
55 Die Antipsychotika besetzen die Rezeptoren und bewirken so, dass
wieder mehr cAMP zur Verfügung steht.
238 Kapitel 4 • Biopsychologie

4.8 Zusammenhänge zwischen psychischen und


biologischen Funktionsbereichen

4.8.1 Psychoneuroendokrinologie

Die Psychoneuroendokrinologie beschäftigt sich mit den Verbindungen zwi-


schen psychologisch-sozialen Bedingungen und Hormonen.
Die Ausschüttung vieler Hormone erfolgt in zirkadianen Zyklen und wird
4 von übergeordneten Zentren synchronisiert. Bei dieser Synchronisation kön-
nen aber auch Umwelteinflüsse eine Rolle spielen (z. B. wird die Herz- und Ma-
genaktivität an den Tag-Nacht-Rhythmus angepasst). Auch das Schlafverhal-
ten hat einen Einfluss auf den Hormonkreislauf, genauer auf GH und Kortisol:
55 GH (immunstimulierend) wird v. a. in den ersten drei Schlafstunden
produziert.
55 Kortisol (immunsuppressiv) wird v. a. am Morgen freigesetzt. Es begüns-
tigt die Labilität des kardialen Systems (wie auch der REM-Schlaf).

In diesem Zusammenhang hat der Faktor Stress hat einen Einfluss auf das Hor-
monsystem, z. B. wirkt Stress auf den Hypothalamus, wodurch die Kortisolpro-
duktion angeregt wird. Hyperkortisolismus (Überfunktion von Kortisol) führt
wiederum zu Veränderungen im limbischen System und zu Depressionen.

4.8.2 Psychoneuroimmunologie

Die Psychoneuroimmunologie beschäftigt sich mit den Zusammenhängen


zwischen psychischen Faktoren und dem Immunsystem.
Ganz allgemein kann das Immunsystem beeinflusst werden über folgende
Kommunikationsorte:
55 Direkt über das autonome NS, z. B. projizieren sympathische Nervenfa-
sern zum Thymus.
55 Direkt über das ZNS:
55 Hypothalamus, z. B. Fieber wird vom Hypothalamus gesteuert, Läsio-
nen des Hypothalamus senken die Immunkompetenz.
55 Limbisches System: Läsionen im limbischen System steigern die AK-
Antwort.
55 Cortex, z. B. bei Läsionen rechts kommt es zum Anstieg von T-Lym-
phozyten und einer Steigerung der Immunaktivität, bei Läsionen links
zur Unterdrückung des IS.
55 Direkt über das Hormonsystem
55 Indirekt über das Verhalten, z. B. Sport stärkt das IS.

Die Kommunikation erfolgt mithilfe folgender Substanzen:


55 Tachykinine: Sie begünstigen Organerkrankungen durch eine stressbe-
dingte Reduktion der Immunkompetenz.
55 Katecholamine: Sie werden als Kurzzeitreaktion bei Stress ausgeschüttet
und können die Balance zwischen T-Helfer- und T-Suppressorzellen ver-
schieben (z. B. Noradrenalin, Adrenalin).
55 Kortikoide: Immunkompetente Zellen im Cortex und Hypothalamus
können die Hypothalamus-Hypophysen-NNR-Achse beeinflussen.
55 Zytokine: Sie regeln die Tätigkeit des IS, können aber auch Hormonaus-
schüttung beeinflussen oder direkt auf NZ einwirken.
4.8 • Zusammenhänge zwischen psychischen und biologischen Funktionsbereichen
239 4
Folgende Faktoren können das Immunsystem beeinflussen und zu Krankhei-
ten führen:
55 Alter: Die Kompetenz des Immunsystems sinkt, und das Risiko für Krebs
und Autoimmunerkrankungen steigt aufgrund von drei Faktoren:
55 Zellalterung im IS
55 Verlust des Tiefschlafs
55 Abnehmende noradrenerge Innervation des Lymphgewebes
55 Geschlechtshormone: Männer haben im Alter ein größeres Krebsrisiko
als Frauen.
55 Stress:
55 Wie gut das IS reagiert und wann man krank wird, wird von Stress-
faktoren mit bedingt: Kurzer Stress führt zu Anstieg, anhaltender zu
Abfall der Immunkompetenz.
55 Stress kann z. B. Magentumore begünstigen:
–– Durch stressbedingte Einschränkungen des IS und durch An-
stieg der Säureempfindlichkeit wird die Einnistung von Bakterien
erleichtert.
–– Die Bakterien (z. B. Helicobacter pylori) bewirken die Produk-
tion von Gastrin, welches wiederum Säure (HCl, Salzsäure) pro-
duziert.
–– Dadurch werden die Magenschleimhäute geschädigt; auf Dauer
können so Tumore entstehen.
–– Im schlimmsten Fall perforiert (durchlöchert) die Magenwand.

Darüber hinaus beeinflussen sich Immunsystem und Verhalten wechselseitig


über
55 Klassische Konditionierung des Immunsystems:
55 Sie ist überall da möglich, wo das NS mit dem Immunsystem verbun-
den ist.
55 Tiere lernen ihr Verhalten so zu ändern, dass das IS möglichst optimal
funktioniert.
55 Experiment von Ader und Cohen (1975, 1985; . Abb. 4.31):
–– Konditionierung von Ratten mit Saccharinlösung in Kombina-
tion mit einem Immunsuppressivum
–– Nach mehreren Durchgängen entsteht eine Geschmacksaversion.
Wenn die Ratten die Lösung (nur Saccharin) dennoch trinken,
kommt es zur Immunsuppression.
55 Schlafverhalten:
55 Pieron-Phänomen (1910, 1913):
–– Legendre und Pieron fanden heraus, dass die Injektion von Cere-
brospinal-Flüssigkeit von schlafdeprivierten Tieren bei normalen
Hunden zu Schlafverhalten führte.
–– Theorie: Schlaf wird induziert durch »Hypnotoxin«, ein Abfall-
produkt des Wachzustandes.
–– Schließlich fand man den Faktor S, d. h. bakterielle Zellwand-
produkte, die sich scheinbar in Gewebsflüssigkeiten von schlaf-
deprivierten Tieren ansammeln. a Sie wirken schlafinduzierend
(SWS-Anstieg) und immunstimulierend.
55 Weitere Zusammenhänge zwischen Schlaf und IS:
–– Veränderung der Schlafqualität nach Infektionen: Zunahme des SWS
–– Beteiligung von Zytokinen am Schlaf: Zytokine haben ähnliche
Wirkungen wie der Faktor S.
–– Positive Korrelation zwischen Schlafdauer und Infektbekämpfung
240 Kapitel 4 • Biopsychologie

Trainingsphase Testphase

Kontrollgruppe Experimentalgruppe Kontrollgruppe Experimentalgruppe

Saccharin Saccharin Saccharin Saccharin

4 Plazebo
Zyklo-
phosphamid

Übelkeit und Konditionierte


keine abnorme Reaktion Immunsuppression Geschmacksaversion und
keine abnorme Reaktion Immunsuppression
a b

. Abb. 4.31  Klassische Konditionierung des Immunsystems: a Trainingsphase; b Testphase. (Aus Birbaumer & Schmidt, 2006)

Nervensystem

Immunsystem Hormonsystem

. Abb. 4.32  Nervensystem, Immunsystem und Hormonsystem beeinflussen sich wechsel-


seitig

55 Instrumentelles Lernen von Verhaltensweisen, die die Immunbalance


fördern
55 Paarungs- und Reproduktionsverhalten
55 Stress, Depression, Angst sowie soziale Einflüsse

Zusammenfassend kann man sagen, dass Nerven-, Immun- und Hormon-


system eng miteinander zusammenarbeiten (.  Abb. 4.32). Belastungen haben
Auswirkungen auf die drei Systeme und können insbesondere die Kommuni-
kation zwischen den Systemen stören. Ist dies der Fall, kippt das homöostati-
sche System, und man wird krank.
4.9 • Abkürzungen
241 4
4.9 Abkürzungen

Da in diesem Kapitel sehr viele Abkürzungen verwendet werden, sind hier alle
zum Nachschlagen in der Übersicht aufgeführt:
5-HT = Serotonin
A− = Anion
ACh = Acethylcholin vorhanden
ACTH = Adenokortikotropes Hormon, Kortikotropin
ADCC = Antibody dependent cellular cytotoxicity
ADH = Antidiuretisches Hormon
AK = Antikörper
AP = Aktionspotenzial
ARAS = Aufsteigendes retikuläres Aktivierungssystem
ATP = Adenosintriphosphat
AV = Abhängige Variable
BCR = B-cell-receptors
Ca2+ = Calzium
cAMP = Zyklisches Adenosinmonophosphat
Cl− = Chlorid
CR = Konditionierte Reaktion
CRH= Kortikotropin-releasing-Hormon
CS = Konditionierter Stimulus
CT/CAT = Computer-assistant-tomography
DA = Dopamin
EEG = Elektrenzephalographie
EKG = Elektrokardiographie
EMG = Elektromyographie
EPSP = Erregendes postsynaptisches Potenzial
ER = Endoplasmatisches Retikulum
FI = Facilitating Interneuron
FSH = Follikel-stimulierendes Hormon
GABA = Gamma-aminobutyric acid
GH = Growth hormone
GHIH = Growth-hormone-inhibiting-Hormone
GHRH = Growth-hormone-releasing-Hormone
Glu = Glutamat
HHL = Hypophysenhinterlappen
HVL = Hypophysenvorderlappen
IFN = Interferon
Ig = Immunglobulin
IL = Interleukin
IPSP = Inhibitorisches postsynaptisches Potenzial
IS = Immunsystem
K+ = Kalium
LTD = Langzeitdepression, Long term depression
LH = Luteinisierendes Hormon
LHRH = Luteinisierendes-Hormon-releasing-Hormon
LTP = Langzeitpotenzierung, Long term potentiation
MAO-Hemmer = Monoaminooxidasen-Hemmer
MEG = Magnetenzephalographie
MHC-Komplex = Major histocompatibility complex
MRT = Magnetresonanztomographie
NA = Noradrenalin
242 Kapitel 4 • Biopsychologie

Na+ = Natrium
NK-Zellen = Natürliche Killerzellen
NNR = Nebennierenrinde
NREM-Schlaf = Non-REM-Schlaf
NS = Nervensystem
PAG= Periaquäduktales Grau
PET = Positronenemissionstomographie
PIH = Prolaktin-inhibiting-Hormon
4 PNS = Peripheres Nervensystem
PRH = Prolaktin-releasing-Hormon
REM-Schlaf = Rapid-eye-movement-Schlaf
SWS = Slow wave sleep
TGF = Tumor growth factor
THR = Thyreotropin-releasing-Hormon
TNF = Tumornekrosefaktor
TSH = Thyreoideo-stimulierendes Hormon
UCS = Unkonditionierter Stimulus
UCR = Unkonditionierte Reaktion
UV = Unabhängige Variable
VPL = Ventral posterior lateral nucleus (Teil des Thalamus)
VPM = Ventral posterior medial nucleus (Teil des Thalamus)
Vpn = Versuchsperson
ZNS = Zentralnervensystem

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245 5

Entwicklungspsychologie
Franziska Schmithüsen und Dieter Ferring

5.1 Der Gegenstandsbereich Entwicklungspsychologie – 246


5.1.1 Gegenstand, Aufgaben, Geschichte – 246
5.1.2 Der Entwicklungsbegriff – 248
5.1.3 Grundlegende Modellvorstellungen über die Ursachen von
Entwicklung – 249
5.1.4 Methoden der Entwicklungspsychologie – 250

5.2 Kognitive Entwicklung – 253


5.2.1 Theorie der kognitiven Entwicklung nach Piaget – 253
5.2.2 Wygotskis soziokulturelle Theorie – 259
5.2.3 Der Informationsverarbeitungsansatz – 260
5.2.4 Neurowissenschaftliche Perspektive – 260

5.3 Psychosoziale Entwicklung, Identität und Selbstkonzept – 266


5.3.1 Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung – 266
5.3.2 Die Rolle von Entwicklungsaufgaben und kritischen
Lebensereignissen – 269
5.3.3 Modell der Identitätsentwicklung nach Marcia – 270

5.4 Soziale Beziehungen – 270


5.4.1 Bindungstheorie – 271
5.4.2 Familiäre Beziehungen – 272
5.4.3 Freundschaftliche Beziehungen – 274

5.5 Ökologische Aspekte von Entwicklung – 274

5.6 Charakteristika der Entwicklung in bestimmten


Lebensphasen – 277
5.6.1 Schwangerschaft, Geburt und Kindheit – 277
5.6.2 Jugendalter – 279
5.6.3 Erwachsenenalter – 281

5.7 Konklusion – 283

Literatur – 283

F. Schmithüsen (Hrsg.), Lernskript Psychologie, Springer-Lehrbuch,


DOI 10.1007/978-3-662-44941-7_5, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
246 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

5.1 Der Gegenstandsbereich Entwicklungspsychologie

5.1.1 Gegenstand, Aufgaben, Geschichte

Die Entwicklungspsychologie beschäftigt sich mit überdauernden intra-


individuellen Veränderungen im Lauf des Lebens sowie mit interindividu-
ellen Entwicklungsunterschieden (Lohaus, Vierhaus & Maass, 2010). Ent-
wicklung schreitet dabei immer von relativer Globalität zu Differenziertheit
(­orthogenetisches Entwicklungsprinzip sensu Werner, 1948). Die Entwick-
lungspsychologie beschäftigt sich entsprechend den Aufgaben der Psychologie
allgemein mit Folgendem:
5 55 Beschreibung und Erklärung von Entwicklungsabläufen und Entwick-
lungsphänomenen mit Blick auf
55 interindividuelle und intraindividuelle Unterschiede sowie
55 interindividuelle Unterschiede in intraindividuellen Entwicklungsver-
läufen.
55 Vorhersage von Entwicklungsverläufen
55 Verändern des Entwicklungsverlaufs

Dieses Kapitel  beschäftigt sich nach dieser Einführung mit den beiden indi-
viduellen Entwicklungsbereichen der kognitiven Entwicklung (7  Abschn. 5.2)
und der psychosozialen Entwicklung, mit Identität und Selbstkonzept
(7  Abschn.  5.3). Im Anschluss folgen die Interaktionen mit der Umwelt
(7  Abschn.  5.4), soziale Beziehungen sowie Ökologie und Entwicklung
(7  Abschn.  5.5). Zum Schluss wird noch auf einige Charakteristika der Ent-
wicklung in bestimmten Lebensphasen (7 Abschn. 5.6) eingegangen. Zur Über-
sicht dient . Abb. 5.1.
Die Entwicklungspsychologie hat im Gegensatz zu anderen Disziplinen der
Psychologie keine unmittelbaren Wurzeln in der Antike oder im Mittelalter
(Ausnahme: Anlage-Umwelt-Debatte). Überwiegend wurden Kinder in dieser
Zeit als kleine Erwachsene behandelt und die Entwicklung vom Kind zum
Erwachsenen nicht bzw. nicht im Detail thematisiert, d. h. man ignorierte die
Tatsache, dass Kinder und Jugendliche eine andere Wahrnehmung, Motivation
und Emotionsverarbeitung haben als Erwachsene. Erst mit dem erwachenden
Interesse an der Evolution und der Entstehung der Menschheit im 18. Jahr-
hundert rückte auch die Entwicklung des Einzelnen in den Interessensfokus.
Die wissenschaftliche Entwicklungspsychologie schließlich lässt sich zusam-
men mit der wissenschaftlichen Psychologie auf das Ende des 19. Jahrhunderts
datieren (Montada, 2002b; Eckardt, 2010).
Zusammen mit den Schulen der Psychologie begannen sich nun auch
unterschiedliche Vorstellungen über Entwicklung herauszubilden, die mit je-
weils unterschiedlichen Begriffen assoziiert sind. Aber auch aus den der Psy-
chologie verwandten Fachbereichen gab es Ideen zum Ablauf von Entwicklung
(z. B. psychobiologische Ansätze). Diese Ansätze unterscheiden sich hinsicht-
lich des Gestaltungsspielraums, den sie dem Individuum zugestehen. Sie lassen
sich nach Montada (2002b) unterteilen in:
55 Endogenistische Theorien:
55 Weder die Umwelt noch das Individuum sind aktiv an der Entwick-
lung beteiligt.
55 Entwicklung erfolgt durch Anlage (d. h. Genom) und Reifung (d. h.
Auslösung des Genoms zu bestimmten sensiblen Perioden).
5.1 • Der Gegenstandsbereich Entwicklungspsychologie
247 5

Umweltsystem
Sozialsystem

Ökologische Aspekte
von Entwicklung

5.4
soziale
5.2 kognitive Beziehungen
Entwicklung

psychosoziale
5.3 Entwicklung
5.5

Zeit

Charakteristika der Entwicklung in


5.6 bestimmten Lebensphasen

. Abb. 5.1  Übersicht über den Aufbau des Kapitels

55 Beispiele: Theorie der psychosexuellen Entwicklung nach Freud, etho-


logische Ansätze von Lorenz
55 Das Problem endogenistischer Theorien ist der Milieupessimismus:
Man braucht und kann in die Entwicklung nicht einzugreifen, weil
schon alles festgelegt ist.
55 Exogenistische Theorien:
55 Nur die Umwelt ist aktiv an der Entwicklung beteiligt, das Individuum
ist nicht aktiv.
55 Entwicklung erfolgt durch Lernerfahrungen in der Umwelt.
55 Beispiel: Behavioristischer Ansatz (Entwicklung entsteht in Abhängig-
keit von Reizkonstellationen der spezifischen Entwicklungsumwelt)
55 Folge exogenistischer Theorien ist der Milieuoptimismus: Interventio-
nen sind möglich und wirksam, da sie einen konkreten Gegenstand
haben.
55 Selbstgestaltungstheorien oder organismische Entwicklungstheorien:
55 Nur das Individuum (der Organismus) ist aktiv an der Entwicklung
beteiligt, die Umwelt ist nicht aktiv, d. h. Entwicklung verändert den
Einzelnen.
55 Entwicklung erfolgt durch individuelle Konstruktion.
55 Beispiele: Theorie der psychosozialen Entwicklung nach Erikson,
konstruktivistische Theorie nach Piaget
55 Interaktionistische Theorien:
55 Sowohl die Umwelt als auch das Individuum sind aktiv an der Ent-
wicklung beteiligt.
248 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

. Tab. 5.1  Übersicht über die verschiedenen Ansätze der Entwicklungspsychologie

Ansatz Grundannahme Zentrale Begriffe oder Theorien Theorietyp Siehe Kapitel 


bzw. Abschnitt

Psychoanalyti- Triebe steuern die Entwicklung. Die Phasen der psychosexuellen Ent- Exogenistische 1.3.3
scher Ansatz Quelle der Triebbefriedigung än- wicklung (Freud) Theorie
dert sich im Lauf der Entwicklung.

Entwicklung wird bestimmt durch Theorie der psychosozialen Ent- Selbstgestal- 5.3.1
die Ich-Entwicklung. wicklung (Erikson) tungstheorie

Ethologischer Entwicklung erfolgt durch gene- Entwicklungstheorie von Lorenz Exogenistische 5.1.3
Ansatz tisch festgelegte Muster. (Reifung, Reifestand, sensible Perio- Theorie
5 den, Prägung)

Lerntheoreti- Entwicklung erfolgt durch Lernen. Klassische und operante Konditio- Endogenistische 2.2.4
scher Ansatz nierung, Modelllernen Theorie 2.2.5
2.2.6

Konstruktivisti- Entwicklung findet statt durch Theorie der kognitiven Entwicklung Selbstgestal- 5.2.1
scher Ansatz Konstruktion der Umwelt. nach Piaget (Schema, Operationen, tungstheorie
Akkommodation, Assimilation)

Anforderungs- Entwicklung findet statt durch die Kritische Lebensereignisse, Interaktionisti- 5.1.3
Bewältigungs- Bewältigung von Aufgaben und Entwicklungsaufgaben nach sche Theorie
Ansatz Krisen. Havighurst

Ökologischer Entwicklung erfolgt durch den Ein- sozioökonomisches Modell von Interaktionisti- 5.5
Ansatz fluss verschiedener Systeme. Bronfenbrenner sche Theorie

55 Entwicklung erfolgt durch Sozialisation und Interaktion des Individu-


ums mit seinen spezifischen Anlagen mit seiner Umwelt, die kulturelle
und soziale Ressourcen und Anforderungen zur Verfügung stellt. So-
wohl das Individuum als auch die Umwelt verändern sich durch Ent-
wicklung und wirken aufeinander ein.
55 Beispiele: Ökologisch-systemorientierte Theorie von Bronfenbrenner,
Anforderungs-Bewältigungs-Theorien, transaktionale Stresstheorien

Eine Übersicht über diese unterschiedlichen Ansätze und Theorien findet sich
in . Tab. 5.1.
Verglichen mit konzeptuellen Auseinandersetzungen innerhalb anderer
psychologischer Fachbereiche (wie z.  B. in der Sozialpsychologie zwischen
individuumszentrierter und gesellschaftszentrierter Ausrichtung) stellt sich
die Entwicklungspsychologie als relativ homogener Fachbereich dar, der sich
damals wie heute mit den gleichen zentralen Themen (z. B. Anlage-Umwelt,
Evolution-Ökologie) beschäftigt (Eckardt, 2010). Lediglich der Entwicklungs-
begriff hat über die Jahre eine Erweiterung erfahren: In den Anfängen be-
schäftigte man sich vorwiegend mit kindlicher Entwicklung, während man
nun zunehmend auch das Erwachsenenalter als entwicklungspsychologisches
Thema entdeckt.

5.1.2 Der Entwicklungsbegriff

Entwicklung heißt Veränderung. Doch welche Veränderungen genau zu Ent-


wicklung dazugehören und welche nicht, war und ist eine der Fragen, mit
denen sich der Fachbereich beschäftigt. .  Tab. 5.2 zeigt die Unterschiede im
traditionellen und differenziellen, modernen Entwicklungsbegriff auf.
5.1 • Der Gegenstandsbereich Entwicklungspsychologie
249 5

. Tab. 5.2  Übersicht über den traditionellen und den modernen Entwicklungsbegriff. (Nach Ferring, 2007)

Traditioneller Entwicklungsbegriff: Kritik am traditionellen Entwicklungs- Differenzieller, moderner Entwicklungs-


Entwicklung ist… begriff begriff: Entwicklung ist…

unidirektional: Sie ist auf einen qualita- Es sind mehrere Endzustände möglich. multidirektional und multidimensional:
tiv höherwertigen Zielzustand gerichtet. Veränderungen sind nicht immer qualita- Sie ist auf verschiedene Zielzustände aus-
tiv hochwertiger. gerichtet.

diskontinuierlich: Entwicklung verläuft Bestimmte Schritte können übersprungen diskontinuierlich und kontinuierlich:
in Stufen (frühere Stufen sind Voraus- werden. Entwicklung verläuft sowohl in Stufen, als
setzung für spätere). auch fließend (kontinuierlich).

irreversibel: Was man einmal gelernt Entwicklungsschritte sind auch im Nach- irreversibel, aber modifizierbar: Entwick-
hat, ist nicht mehr umkehrbar. hinein noch veränderbar. lung ist zwar nicht umkehrbar, aber trotz-
dem noch veränderbar.

mit dem Lebensalter korreliert: Be- Entwicklung findet während des ganzen multikausal bedingt: Es gibt verschiedene
stimmte Entwicklungsstufen treten in Lebens statt. Biologische Faktoren können Ursachen für Entwicklung. Eine davon ist
bestimmten Lebensabschnitten auf. mit kulturellen interagieren, so dass sich das Alter.
bestimmt Entwicklungen verschieben.

universell: Entwicklung betrifft alle Men- Entwicklung ist auch kulturabhängig. Universell, aber nicht uniform: Entwicklung
schen in allen kulturellen Umwelten. betrifft zwar alle Menschen in allen Kultu-
ren, sie läuft jedoch nicht immer gleich ab.

a Der traditionelle Entwicklungsbegriff ist hauptsächlich für die Kindheit zutreffend.


a Der differentielle, moderne Entwicklungsbegriff trifft für das ganze Leben zu.

5.1.3 Grundlegende Modellvorstellungen über die


Ursachen von Entwicklung

Um Entwicklung zu erklären, kann auf verschiedene Konzepte zurückgegriffen


werden. Entwicklung erfolgt durch (Gottschalch, 1999; Montada, 2002b; Wild
& Gerber, 2006; Wild & Lorenz, 2009):
55 Reifung:
55 Entfaltung genetisch festgelegter Fähigkeiten
55 Sie ist universell: Veränderungen durch Reifung betreffen jeden und
treten auf, ohne dass die Veränderung erlernt wurde.
55 Sie ist nachholbar und umkehrbar.
55 Reifestand (Readiness for learning)
55 Ein gewisser Reifestand (Entwicklungsniveau) muss vorhanden sein,
damit Lernen stattfinden kann.
55 Er ist normiert, d. h. es gibt Vorgaben darüber, wann Kinder was kön-
nen bzw. lernen sollten, z. B. mit sechs Jahren sollte man lesen und
schreiben lernen.
55 Sensible Perioden:
55 Zeitfenster in der Entwicklung, in denen man für bestimmte Erfahrun-
gen besonders empfänglich ist
55 Je nach Erfahrung wird die Entwicklung in diesem Zeitfenster deutlich
angestoßen oder gehemmt.
55 Prägung:
55 Sie bezeichnet die Veränderung im Verhalten, das durch die Erfahrung
in der sensiblen Periode ausgelöst wird.
55 Sie bezieht sich auf das gleiche Phänomen wie die sensible Periode; der
Unterschied ist: Sensible Periode = Zeitfenster, Prägung = Verhalten.
55 Lernen: Jegliche (auch kurzfristige) Veränderungen im Verhalten und im
Verhaltenspotenzial (s. auch 7 Abschn. 2.2).
250 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

55 Sozialisation:
55 Anpassung an kulturelle und gesellschaftliche Muster, an Normen und
Rollen, die eine Person zum Mitglied der Gesellschaft machen
55 Es kann unterschieden werden in:
–– Primäre Sozialisation: Sozialisation durch den familiären Kontext
–– Sekundäre Sozialisation: Erziehung durch die Gesellschaft (z. B.
Schule)
55 Sie verläuft sowohl gezielt als auch ungezielt.
55 Sie findet ein Leben lang statt.
55 Sie wird durch die Kultur gesteuert.
55 Sie gibt Entwicklungsstufen vor (age-grading), d. h. wann man was im
5 Leben tun sollte (z. B. Taufe, Kindergarten, Schule, Heirat).
55 Erziehung: Dieser Begriff bezeichnet die gezielte Sozialisation eines Kin-
des (meist durch die Eltern).
55 Entwicklungsaufgaben, Entwicklungskrisen:
55 Ereignisse im Lebenslauf, die eine Veränderung bzw. Entwicklung er-
forderlich machen
55 Der Begriff wurde von Havighurst geprägt.
55 Ereignisse:
55 Normativ alterskorrelierte Ereignisse:
–– Ereignisse, die prinzipiell jeder innerhalb seines Lebens erlebt (in
einem bestimmten kulturellen Kontext)
–– Bsp.: Taufe, Kindergarten, Schule, Berufsausbildung, Heirat, Kin-
der, Rente, Tod
–– Non-events: Normative Ereignisse, die nicht auftreten
55 Non-normative, kritische Lebensereignisse:
–– Unvorhergesehene und außerhalb der Norm auftretende Ereig-
nisse, die ebenfalls Entwicklung und Anpassung erforderlich
machen, die jedoch im Gegensatz zu Entwicklungsaufgaben nicht
altersnormiert sind
–– Die Ereignisse werden als kritisch bezeichnet, da sie unerwartet
und unkontrolliert auftreten und das Individuum mit einer Viel-
zahl neuer Anforderungen konfrontieren.
–– Bsp.: Unfall, plötzlicher Tod eines geliebten Menschen
55 Epochalnormierte Ereignisse:
–– Historische Ereignisse, die alle Menschen (egal welchen Alters)
einer bestimmten Zeit betreffen und eine Differenzierung zwi-
schen Geburtsjahrgängen (Geburtskohorten) erlauben
–– Bsp.: Weltkriege, Wirtschaftskrisen, Naturkatastrophen, Anti-Ba-
by-Pille, Internet

5.1.4 Methoden der Entwicklungspsychologie

Studiendesigns
Um zu Erkenntnissen über die Entwicklung zu erlangen, greifen Entwick-
lungspsychologen auf folgende Studiendesigns zurück (. Abb. 5.2; Petermann
& Rudinger, 2002; Lohaus et al., 2010; Walper & Tippelt, 2010):
55 Querschnittstudie:
55 Untersuchung von mehreren Stichproben aus verschiedenen Geburts-
kohorten
55 Problem: Es ist nicht erkennbar, welche Ergebnisse auf das Alter und
welche Ergebnisse auf die Kohorte zurückzuführen sind.
5.1 • Der Gegenstandsbereich Entwicklungspsychologie
251 5

Querschnitt Längsschnitt Zeitwandel


T1 T1 T2 T3 T4

SP1 5 J. SP1 5 J.
T1 T2 T3 T4
SP2 7 J. SP2 5 J.
SP1 5 J. 7 J. 9 J. 11 J.
SP3 9 J. SP3 5 J.

SP4 11 J. SP4 5 J.

Kovergenzmodell

T1 T2 T3 T4
T1+2 T2+3 T3+4
SP1 5 J. 7 J. 9 J. 11 J.
SP1+2 7 J. 9 J. 11 J.
SP2 7 J. 9 J. 11 J. 13 J.

Sofern die Probanden der gleichen Altersgruppen (grau umrahmt) je gleich


Mittelwerte haben, kann man sie zu einer Stichprobe verbinden

Kohorten-Sequenzmodell Follow-Back
T1 T2 T3 T4
SP1 5 J. 7 J. 9 J. 11 J.
T1
SP2 5 J. 7 J. 9 J.
5 J. 7 J. 9 J. 11 J. 20 J. SP1
SP3 5 J. 7 J.

SP4 5 J.

. Abb. 5.2  Übersicht über die verschiedenen Studiendesigns; Legende: T = Testzeitpunkt, SP = Stichprobe

55 Längsschnittstudie:
55 Untersuchung einer Stichprobe zu mehreren Messzeitpunkten
55 Möglichkeiten:
–– Suche nach Entwicklungsfunktionen, d. h. dem Verlauf eines
Merkmals über die Zeit hinweg
–– Suche nach Zusammenhängen zwischen biographisch früher und
biographisch später auftretendem Verhalten
–– Suche nach Veränderungsstrukturen
–– Auffinden von Vorläuferphänomenen für später auftretende Ver-
änderungen
55 Designs:
–– Extensives Design: Viele Personen werden zu wenigen Messzeit-
punkten untersucht.
–– Intensives Design: Wenige Personen werden zu vielen Messzeit-
punkten untersucht.
55 Probleme:
–– Selektivität: Nur bestimmte Personen mit bestimmten Eigen-
schaften sind bereit, an Längsschnittstudien teilzunehmen.
–– Retesteffekte (z. B. Übungseffekte)
252 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

55 Zeitwandelstudien:
55 Untersuchung eines vergleichbaren Personenkreises (z. B. eine be-
stimmte Altersgruppe) zu unterschiedlichen Messzeitpunkten
55 Sie ermöglichen Aussagen über Kohortenunterschiede.
55 Konvergenzmodell:
55 Dies ist eine Kombination aus Längs- und Querschnittdesign.
55 Untersuchung von zwei Gruppen zu mehreren Testzeitpunkten
55 Wenn die Daten der Altersgruppen in den beiden Stichproben ver-
gleichbar sind, kann man die Stichproben verbinden.
55 Kohorten-Sequenz-Modell (Schaie, 1965):
55 Dies ist eine Kombination aus Längsschnitt-, Querschnitt- und Zeit-
5 wandelstudien.
55 Es sieht Verhalten als Funktion von Alter (A), Kohorte (K) und Zeit
(Z): V = f(A,K,T).
–– Alter: Reifungsbedingte Einflüsse seit der Geburt bis zum Mess-
zeitpunkt; ist eigentlich keine psychologische Variable, sondern
eine Deckvariable, d. h. sie steht für alterskorrelierte Prozesse.
–– Kohorte: Alle Einflüsse auf die Mitglieder eines Geburtsjahrgangs
–– Zeit: Die aktuellen sozialen, historischen und kulturellen Einflüs-
se zur Testzeit
55 Retrospektive und Follow-back-Studien: Befragung über bereits stattge-
funden Entwicklungsprozesse

Erhebungsmethoden in der frühen Kindheit


Die Entwicklungspsychologie steht bei der Erforschung der frühen Kindheit
vor der Herausforderung, Methoden anzuwenden, die gänzlich unabhängig
von den sprachlichen Fähigkeiten des zu Untersuchenden sind. Da die meis-
ten Untersuchungsmethoden in der Psychologie jedoch die sprachliche Aus-
drucksfähigkeit nutzen, hat die Entwicklungspsychologie einige besondere Be-
obachtungsmethoden entwickelt (Lohaus et al., 2010):
55 Präferenztechnik:
55 Dem Säugling werden zwei oder mehr Reize (z. B. Bilder) präsentiert
und man beobachtet, welchen er länger fixiert (d. h. präferiert).
55 Messung der Wahrnehmungs- und kognitiven Leistung
55 Habituations-Dishabituations-Verfahren:
55 Dem Säugling wird ein Reiz präsentiert, bis er habituiert (sich daran
gewöhnt).
55 Nun wird der bekannte Reiz zusammen mit einem neuen Reiz präsen-
tiert.
55 Findet nun eine Orientierungsreaktion statt (was z. B. an der Herzrate
ablesbar ist), hat der Säugling den neuen Reiz als neu und andersartig
erkannt.
55 Messung der kognitiven Fähigkeiten
55 Erwartungs-Induktions-Paradigma:
55 Man präsentiert dem Säugling Reize nach einem bestimmten Muster.
55 An der Reaktion des Säuglings ist erkennbar, ob er das Muster erkennt.
55 Messung der Erwartungen und kognitiven Fähigkeiten
55 Erwartungs-Enttäuschungs-Paradigma:
55 Man präsentiert dem Säugling Reize nach einem bestimmten Muster.
55 Dann weicht man davon ab.
55 An der verzögerten Reaktion des Säuglings ist ablesbar, dass er eine
Erwartung über den zukünftigen Verlauf hatte.
55 Messung der Erwartungen und kognitiven Fähigkeiten
5.2 • Kognitive Entwicklung
253 5
55 Violation of expectation:
55 Man präsentiert dem Säugling Reizkonstellationen, die physikalisch
unmöglich sind (z. B. große Schachtel in kleiner Schachtel).
55 An der Reaktion des Säuglings ist erkennbar, ob er die Inkonsistenz
erkennt.
55 Messung der Erwartungen und kognitiven Fähigkeiten
55 Paradigma der verzögerten Nachahmung:
55 Ein Modell zeigt dem Säugling ein bestimmtes Verhalten, z. B. mit
einem Objekt.
55 Nach einem mehr oder weniger großen Zeitintervall erhält er das Ob-
jekt, und man überprüft, ob er das beobachtete Verhalten imitiert.
55 Die Methode ist erst ab einem Alter von sechs Monaten einsetzbar, da
die Säuglinge vorher keine ausreichende motorische Reproduktions-
fähigkeit haben.
55 Messung der Lern- und Gedächtnisfähigkeiten

5.2 Kognitive Entwicklung

Kognitive Entwicklung kann definiert werden als die allmählichen Verände-


rungen in der Fähigkeit, die Umwelt und sich selbst zu erkennen, zu erfahren
und zu verstehen. Im Laufe dieser Entwicklung verändert sich folglich die Art
und Weise, wie wir mit unserer Umwelt umgehen.

5.2.1 Theorie der kognitiven Entwicklung nach Piaget

Piaget (1969) beschäftigte sich mit der kognitiven Entwicklung von Kindern
und Jugendlichen und versuchte zu verstehen, wie sie Probleme lösen. Er sieht
das Kind als Wissenschaftler, das seine Umwelt neugierig und Stück für Stück
erforscht. Es handelt sich somit um eine konstruktivistische Theorie, da sich
das Kind interne Repräsentationen von der Welt erschafft: Es konstruiert sich
eine innere Abbildung von der Außenwelt (. Abb. 5.3). Dieser Konstruktions-
prozess soll universell sein, d. h. sie soll bei allen Kindern mehr oder weniger
gleich ablaufen, weshalb man Piagets Theorie auch als universal-konstruktivis-
tische Theorie bezeichnet (Montada, 2002a; Lohaus et al., 2010).

Grundlegende Konzepte
Die inneren Abbildung und Kognitionen werden organisiert durch:
55 Schemata:
55 Schemata sind Wissenseinheiten mit unterschiedlichem Gehalt (senso-
risch, begrifflich, operatorisch).
55 Sie enthalten Wissen über Objekte, Personen und darüber, welches
Verhalten bei welchen Reizen ausgelöst werden muss.
55 Strukturen: Organisierte Verbindung von Schemata
55 Operationen:
55 Eine verinnerlichte Handlung, d. h. Handlung, die in der Vorstellung
abläuft.
55 Eine Operation ist das, was wir als intelligentes Denken und Handeln
bezeichnen würden, d. h. es umfasst die Fähigkeit, neue Beziehungen
und Zusammenhänge zu erkennen, z. B. die Anwendung eines Sche-
mas auf eine neue Situation.
55 Operationen sind etwas, das man auf die Wissenseinheiten anwenden
kann (sog. Verknüpfungseinheit).
254 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

U m w e l t

Anpassung
Assimilation
Akkomodation

Kognitive Konflikte

5 Kognitive Konstruktion
Schema
Operationen

. Abb. 5.3  Piagets grundlegende Vorstellung, wie Entwicklung abläuft. Anpassung wird ausgelöst, wenn es beim Abgleich von Umwelt
und kognitiver Konstruktion zu Widersprüchen kommt, oder durch kognitive Konflikte

Die kognitive Entwicklung wird beeinflusst durch


55 genetische Einflüsse, d. h. Reifung,
55 persönliche Erfahrungen mit der Lebensumwelt (ungezielt),
55 das, was andere uns gezielt beibringen (Sozialisation),
55 das Streben nach Äquilibration, d. h. ein Gleichgewicht zwischen dem,
was wir können, und den Anforderungen der Umwelt.

Aufgrund dieses Strebens nach Ausgeglichenheit zwischen interner kognitiver


Struktur und Erfahrungen mit der Umwelt kann man das Modell Piagets auch
als Äquilibrationsmodell bezeichnen. Um Gleichgewicht herzustellen, verfügt
das Kind über zwei grundlegende Anpassungsmechanismen:
55 Assimilation:
55 Aufnahme eines Gegenstandes in ein bestehendes geistiges Schema
55 Wahrgenommene Informationen werden so verändert, dass sie in be-
stehende Schemata passen.
55 Akkommodation:
55 Anpassung eines Schemas an die Umwelt bzw. Schaffung eines neuen
Schemas
55 Das Schema wird so verändert, dass neue Informationen hineinpassen.

Phasen der kognitiven Entwicklung


Piaget geht davon aus, dass die kognitive Entwicklung in Stadien verläuft
(Montada, 2002a; Lohaus et al., 2010). Stadien können dabei definiert werden
als Zeitabschnitte, in denen die Denkstrukturen bestimmte, klar voneinander
abgrenzbare Ausprägungen haben. Piagets Stadienmodell geht von folgenden
Grundannahmen aus:
55 In jedem Stadium herrscht Gleichgewicht zwischen Umwelt und Indivi-
duum (Äquilibration).
55 Jedes Stadium entsteht aus dem vorigen und ist Voraussetzung für das
nächste (sequenzieller Ablauf).
55 Die Stadien laufen in dieser Reihenfolge ab, sie können nicht übersprun-
gen werden (unidirektionaler Ablauf).
5.2 • Kognitive Entwicklung
255 5
Die sensumotorische Phase zeichnet sich aus durch:
55 Altersspanne: 0–2 Jahre
55 Charakteristika:
55 Das Kind begreift und erfasst seine Umwelt im wahrsten Sinne des
Wortes.
55 Kognitive Schemata entstehen durch Anfassen (Motorik) und Fühlen
(Sensorik).
55 Dabei nimmt das Kind nur das wahr, was für es erreichbar ist.
55 Stufen innerhalb der sensumotorischen Entwicklung:
55 Übung angeborener Mechanismen: Vor dem 1. Monat
–– Übung der angeborenen Reflexe
–– Der Lernerfolg ist dann sichtbar, wenn das Reflexverhalten auch
ohne den Auslösereiz auftritt.
55 Primäre Kreisreaktionen: 1.–4. Monat
–– Wiederholen von (zunächst zufällig ausgeführten) Aktivitäten,
die als angenehm erlebt werden
–– Die Kreisreaktionen heißen primär, weil die durch die Handlung
ausgelösten Effekte auf den eigenen Körper beschränkt sind, d. h.
es besteht kein Interesse daran, auch in der Umwelt Effekte aus-
zulösen.
55 Sekundäre Kreisreaktionen: 4.–8. Monat
–– Wiederholen von (zunächst zufällig ausgeführten) Aktivitäten,
die die Umwelt beeinflussen
–– Das Kind erkennt, dass eine bestimmte Handlung immer zum
gleichen Ergebnis führt, wodurch ein erstes Verständnis für Ursa-
che-Wirkung-Zusammenhänge entsteht.
–– Beginn der Funktionslust (s. auch 7 Abschn. 2.4.6)
55 Koordination der bisherigen Handlungsschemata: 8.–12. Monat
–– Gezielte Anwendung von Aktivitäten, um etwas zu erreichen
–– Nicht mehr nur bloße Wiederholung von ursprünglich zufälli-
gem Verhalten, sondern gezieltes Anwenden auf neue Situationen
55 Tertiäre Kreisreaktionen: 12.–18. Monat
–– Nicht mehr nur Wiederholen von erfahrenen Verhaltensweisen,
sondern aktives Ausprobieren gänzlich neuer Handlungssche-
mata
–– Sie zeichnen sich aus durch Erkundungscharakter und aktives
Experimentieren.
55 Mentale Repräsentation: 18.–24. Monat
–– Gedankliche Verinnerlichung von Handlungen
–– Es ist nicht mehr nötig, alle Handlungen aktiv auszuprobieren,
vielmehr kann das Kind Handlungen nur in der Vorstellung ab-
laufen lassen.
55 Mit Abschluss der sensumotorischen Phase entwickelte Fähigkeiten:
55 Objektpermanenz: Das Kind begreift, dass ein Gegenstand auch dann
noch weiter existiert, wenn er nicht mehr zu sehen ist. Sie wird ab dem
8. Lebensmonat mit dem spezifischen A-nicht-B-Suchfehler erworben
(d. h. die Kinder wissen, dass der Gegenstand da ist; wird der Gegen-
stand von A nach B bewegt, schauen die Kinder unter A nach).
55 Nachahmung von beobachtetem Verhalten von Modellen
55 Symbolhandlungen: Handlungen, bei denen man so tut, als würde man
eine bestimmte Aktivität ausüben, z. B. so tun, als ob man schläft.
256 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

Die voroperatorische Phase kann folgendermaßen beschrieben werden:


55 Altersspanne: 2–7 Jahre
55 Charakteristika:
55 Die Schemata und Strukturen werden zunehmend komplexer.
55 Das Kind versucht, bekannte Schemata auf neue Probleme anzuwenden.
55 Das Kind ist jedoch noch nicht in der Lage, Operationen über diese
Schemata auszuführen.
55 Die Phase ist geprägt von ausgiebigen Spielhandlungen.
55 Stufen innerhalb des voroperatorischen Denkens:
55 Symbolisches Denken:
–– 2–4 Jahre
5 –– Es existiert eine Vorstellung von Dingen, die aktuell nicht vor-
handen sind.
55 Anschauliches Denken:
–– 4–7 Jahre
–– Das Denken ist geprägt von Anschaulichkeit.
–– Entwicklung der Fähigkeit des »naiven Schlussfolgerns« – auf-
bauend auf dem vorhandenen Wissen werden Deutungen getrof-
fen, die zu folgenden »Denkfehlern« führen:
55 Unangemessene Generalisierungen:
–– Animistische Naturdeutung: Objekten wird eine Lebendigkeit
unterstellt (z. B. Berge wachsen).
–– Artifizialistische Naturdeutung (vergleichbar zu Naturreligio-
nen): Die Natur wird so interpretiert, als sei sie vom Menschen
oder Gott geschaffen (z. B. wer hat den Himmel gebaut?).
–– Finalistische Erklärungen: Die Natur wird aus ihrem Zweck her-
aus erklärt (z. B. Bäume sind da, um Schatten zu spenden).
–– Das Kind bewegt sich hier in den Grenzen seiner Logik, die
durch den Wissenstand gesetzt werden, und leitet vor dem
Hintergrund dieses Wissens seine Schlussfolgerungen über sich
selbst und die Welt ab.
55 Egozentrismus:
–– Das Kind ist nicht in der Lage, einen Perspektivenwechsel vorzu-
nehmen.
–– Das Kind glaubt, dass andere eine Sache genauso sehen wie es
selbst.
55 Zentrierung/Invarianzblindheit:
–– Das Kind konzentriert sich oft nur auf einen Teilaspekt eines
Objekts und lässt andere außen vor.
–– Beispiel Mengeninvarianz: Das Kind kann nicht glauben, dass
eine Flüssigkeitsmenge die gleiche bleibt, wenn man es von
einem schmalen in ein breites Glas gießt a Das Kind konzent-
riert sich nur auf die Füllhöhe der Flüssigkeit im Glas und glaubt
deshalb, dass im schmalen Glas mehr drin ist.
55 Problem der Klasseninklusion: Probleme bei der hierarchischen Sor-
tierung von Kategorien (z. B. ein Bild zeigt drei Jungen und fünf Mäd-
chen; die Frage danach »Gibt es mehr Kinder oder mehr Mädchen?«
wird zugunsten der Mädchen beantwortet; eine Inklusion in die Ober-
kategorie »Kinder« hat nicht stattgefunden)
55 Irreversibilität: Das Kind kann eine gedankliche Schlussfolgerung
nicht umkehren (sonst müsste es z. B. zu dem Schluss kommen, dass in
dem breiten und schmalen Glas die gleiche Menge Flüssigkeit ist, weil
man den Prozess umkehren kann).
5.2 • Kognitive Entwicklung
257 5
Die konkret-operatorische Phase charakterisiert sich durch:
55 Altersspanne: 7–11 Jahre
55 Charakteristika:
55 Erste Formen logischen Schlussfolgerns sind möglich.
55 Das Kind ist nun in der Lage, Operationen anzuwenden.
55 Mit Abschluss der konkret-operatorischen Phase entwickelte Fähigkeiten:
55 Konkrete Operationen wie:
–– Relationen wie »schöner«/»besser«/»schneller« werden verstan-
den.
–– Austauschbarkeit: Das Kind versteht, dass Summen unabhängig
von der Reihenfolge sind.
–– Addition: Das Kind versteht, dass ein Objekt mehreren Klassen
gleichzeitig angehören kann, es hat eine Vorstellung von Ober-
und Unterklassen.
–– Seriation: Das Kind kann Reihen nach einer Dimension bilden.
–– Die Multiplikation von Klassen ist möglich.
55 Gruppierung: Koordination mehrerer Operationen
55 Dezentrierung: Die Betrachtung mehrerer Variablen gleichzeitig ist
möglich.
55 Reversibilität: Gedankliche Umkehrung von logischen Schritten
55 Invarianz: Das Kind versteht, dass eine gewisse Flüssigkeitsmenge sich
nicht reduzieren kann, nur weil es von einem Gefäß in ein anderes
umgeschüttet wird.
55 Klasseninklusion: Das Kind macht keine Fehler mehr bei der hierar-
chischen Sortierung von Kategorien.

Das formal-operatorische Stadium zeichnet sich durch folgende Eigenschaf-


ten aus:
55 Altersspanne: ab 12 Jahre
55 Charakteristika:
55 Abstraktes Denken ist möglich.
55 Urteile werden nicht nur aufgrund der konkreten gegebenen Infor-
mationen getroffen, sondern es werden auch abstrakte Informationen
genutzt.
55 Das Verständnis für Proportionen entwickelt sich.
55 Kombinatorik: Der Jugendliche ist in der Lage, alle möglichen Kombi-
nationen eines Sachverhalts zu betrachten.
55 Deduktives Denken (vom Allgemeinen zum Einfachen) wird möglich,
da man nicht mehr auf das Konkrete angewiesen ist.
55 Hypothetisches Denken: Jugendliche sind in der Lage, Hypothesen
aufzustellen und systematisch zu untersuchen. Deduktion (als Schluss
vom Allgemeinen auf das Besondere) und Induktion (als Schluss vom
Besonderen auf das Allgemeine) werden möglich.
55 Metakognitionen, d. h. Denken über das Denken werden möglich.

Ein typisches Experiment Piagets verdeutlicht Unterschiede im logischen


Denken bei Kindern im voroperatorischen, im konkret-operatorischen sowie
bei Jugendlichen im formal-operatorischen Stadium: das Pendelexperiment
(­Inhelder & Piaget, 1977):
55 Aufbau:
55 Kindern werden zwei Pendel gezeigt, nämlich ein kurzes, schweres
Pendel und ein langes, leichtes Pendel.
258 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

55 Die Kinder beobachten, dass das kurze, schwere Pendel schneller


schwingt als das lange, leichte.
55 Dann wird die Frage gestellt, von welchen Faktoren die Pendelge-
schwindigkeit abhängt, vom Gewicht oder von der Länge.
55 Ergebnis:
55 Im voroperatorischen Stadium antworten Kinder entweder, dass die
Länge die entscheidende Variable sei oder dass das Gewicht den Aus-
schlag gebe, d. h. sie zentrieren einen Aspekt.
55 Im konkret-operatorischen Stadium antworten Kinder, dass beide
Variablen wichtig sind.
55 Im formal-operatorischen Stadium antworten Jugendliche, dass die
5 Frage ohne weitere Versuche nicht beantwortbar ist, sondern dass man
die anderen möglichen Kombinationen (also kurz, leicht und lang,
schwer) ebenfalls ausprobieren müsse.
55 Erklärung/Interpretation:
55 Kinder im voroperatorischen Stadium können nur eine Dimension
betrachten, entweder die Länge oder das Gewicht, und wählen willkür-
lich eine dieser Möglichkeiten.
55 Kinder im konkret-operatorischen Stadium können zwar zwei Dimen-
sionen betrachten, kommen jedoch dennoch zum falschen Schluss, da
sie die beiden Variablen Länge und Gewicht nicht unabhängig vonein-
ander betrachten.
55 Jugendliche im formal-operatorischen Stadium erkennen, dass es sich
bei der beobachteten Situation um zwei von vier möglichen (kurz/
schwer, kurz/leicht, lang/schwer, lang/leicht) Kombinationen handelt
und erkennen deshalb, dass die Aufgabe mit den gegebenen Informa-
tionen nicht lösbar ist. Die richtige Antwort wäre, dass die Pendel-
geschwindigkeit von der Länge des Pendels abhängt und das Gewicht
irrelevant ist.

Kritik an Piagets Theorie


Piagets Theorie gehört zu einer der einflussreichsten in der ganzen Entwick-
lungspsychologie. Sie wurde jedoch auch heftig diskutiert, kritisiert und er-
weitert (Montada, 2002a):
55 Piagets Altersangaben gelten heute als widerlegt. Im Allgemeinen er-
werben Kinder heute früher als von Piaget angegeben die beschriebenen
Kompetenzen. Dies kann jedoch auch an einer heute verbesserten früh-
kindlichen Bildung liegen. Piagets Altersangaben sind deshalb nur als
Richtwerte zu verstehen.
55 Die Stadien sind insgesamt nicht so klar voneinander abgrenzbar wie
Piaget beschreibt.
55 Piaget unterschätzte insgesamt die Fähigkeiten von Säuglingen. Aktuellere
Forschungsbefunde (z. B. Sodian, Zaitchik & Carey, 1991) deuten darauf
hin, dass der »kompetente Säugling« mehr versteht als Piaget dachte. Die
Ursache hierfür liegt in der Methodik: Piaget nahm das Verhalten des
Säuglings als Indikator dafür, ob er zu gewissen Denkstrukturen in der
Lage ist (z. B. Objektpermanenz galt dann als erreicht, wenn ein Kind
nach einem verschwundenen Gegenstand suchte). In aktuellen Studien
(z. B. Wang, Baillargeon & Brueckner, 2004; Saxe, Tzelnic & Carey, 2007)
greift man jedoch auf visuelle Fixationszeiten oder EEG zurück. Außer-
dem zeigte es sich, dass die Wahrnehmung und damit auch das Verständ-
nis des Kindes sich früher ausbilden als die Motorik, d. h. das Kind ver-
steht mehr als es zeigen kann.
5.2 • Kognitive Entwicklung
259 5

. Tab. 5.3  Vergleich der Theorien von Piaget und Wygotski

Piaget Wygotski

Lernmotivation Die Motivation zum Lernen kommt aus dem Die Motivation, die Welt zu erforschen, kommt
Kind selbst. Das Kind ist von Natur aus neugierig erst durch die soziale Interaktion mit anderen
(Kind als Wissenschaftler). a interne Motivation zustande. a externe Motivation.

Folgen für Lernmethoden Piaget betonte die Wichtigkeit von selbstständi- Wygotski betonte die Wichtigkeit von formaler
gem Erforschen. Anleitung durch andere.

Aufgabe des Lehrers Die Aufgabe des Lehrers ist es, gute Lernbedin- Die Aufgabe des Lehrers ist es, zu verstehen, was
gungen zu schaffen (z. B. eine ansprechende das Kind schon kann und was es als nächstes
Umwelt). lernen muss.

55 Piaget vernachlässigte die Effekte von frühkindlichem Lernen. Kinder


können durch entsprechende Übung Kompetenzen früher erwerben.
55 Piaget klammerte den sozialen Kontext von Lernen aus. Er nahm an, dass
man zuerst kognitive Fähigkeiten erwerben müsse, bevor man soziale
Zusammenhänge verstehen könne. In anderen Theorien (z. B. Wygotski)
nimmt man jedoch genau den umgekehrten Ablauf an, nämlich dass ein
soziales Verständnis und der soziale Austausch notwendige Bedingungen
für kognitive Leistung sind.
55 Piaget vernachlässigte zwei Entwicklungsabschnitte: vorgeburtliche Ent-
wicklung und Entwicklung im Erwachsenenalter. Um letzteres nachzuho-
len, erweiterten Piagetianer die Theorie um das postformale Stadium, in
der man folgende Fähigkeiten erwirbt:
55 Die Fähigkeit zu dialektischen Operationen, d. h. der Fähigkeit, Wider-
sprüche in der Welt zu akzeptieren, ohne sie auflösen zu wollen
55 Die Fähigkeit, formales Denken flexibel auf die Umwelt anzuwenden
55 Methodische Kritikpunkte:
55 Die Aufgabenstellungen bei Piaget waren zum Teil wenig kindgerecht.
55 Piaget macht keine Angabe über Merkmale der untersuchten Kinder.
55 Piaget führte viele Untersuchungen an seinen eigenen Kindern durch.

Trotz heftiger Kritik von Piagets Theorie besitzt sie nach wie vor in vielen
Bereichen ihre Gültigkeit. Sicher hat sie bestimmte Bereiche unzureichend be-
schrieben (z. B. den sozialen Kontext), in ihrem Kernthema der Entwicklung
des Denkens hat sie jedoch wichtige Erklärungen geliefert. Nicht zuletzt wird
die Differenzierung zwischen Assimilation und Akkommodation in neueren
Theorien der Selbstregulation aufgegriffen (z. B. Brandtstädter & Greve, 1994).

5.2.2 Wygotskis soziokulturelle Theorie

Wygotski (1934/2002) argumentierte, dass alle kognitiven Prozesse mit sozialer


Interaktion beginnen, d. h. Kinder erwerben ihre Kompetenzen von anderen,
z. B. von Eltern, Geschwistern oder Freunden. Um diesen Zusammenhang zu
verdeutlichen, definierte Wygotski die Zone der nächsten Entwicklung: Das
Wissen, das das Kind heute mit Hilfestellung anderer erwirbt, wird es in Zu-
kunft auch alleine beherrschen (Lohaus et al., 2010).
Wygotski war im Vergleich zu Piaget in vielen Punkten anderer Ansicht
(. Tab. 5.3).
260 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

5.2.3 Der Informationsverarbeitungsansatz

Der Informationsverarbeitungsansatz nimmt an, dass kognitive Fähigkeiten


durch Verbesserung der Informationsverarbeitung zustande kommen, d.  h.
kognitive Fähigkeiten lassen sich zurückführen auf Veränderungen in den
­Bereichen (Lohaus et al., 2010):
55 Aufmerksamkeit:
55 Im Laufe des Lebens verändert sich die Aufmerksamkeitsspanne. Von
der Kindheit zur Jugend gelingt es immer besser, sich über einen län-
geren Zeitraum zu konzentrieren.
55 Zudem kosten bekannte Informationen immer weniger Aufmerksam-
5 keit, so dass mit zunehmender Erfahrung mehr Aufmerksamkeit zur
Verfügung steht.
55 Lern- und Gedächtnisstrategien: Um Informationen zu verarbeiten und
im Gedächtnis abzuspeichern, greifen wir auf bestimmte Strategien zu-
rück (z. B. lautes Lesen, Wiederholen). Im Laufe der Entwicklung lernen
wir immer mehr Gedächtnisstrategien kennen.
55 Gedächtnis: Im Laufe der Entwicklung kommen mehr und mehr abge-
speicherte Informationen hinzu, die bei der Verarbeitung neuer Inhalte
helfen.
55 Verarbeitungsgeschwindigkeit: Aufgrund der Myelinisierung von Ner-
venbahnen und zunehmender Vernetzung nimmt die Verarbeitungsge-
schwindigkeit zu.
55 Automatische Informationsverarbeitung: Auch diese nimmt während
der Entwicklung zu, da mit zunehmendem Alter Verhalten zunehmend
routinierter ausgeführt wird.
55 Metakognition: Die Fähigkeit, über das Denken nachzudenken, verbes-
sert sich im Laufe des Lebens.

Dabei geht der Informationsverarbeitungsansatz davon aus, dass die Verände-


rungen kontinuierlich (d. h. ohne Stufen) stattfinden und eher quantitativ als
qualitativ sind (im Gegensatz zu Piaget).

5.2.4 Neurowissenschaftliche Perspektive

Die neurowissenschaftliche Perspektive wird durch den Bereich der Entwick-


lungsneuropsychologie vertreten. Die Entwicklungsneuropsychologie be-
schäftigt sich mit der physischen Entwicklung des Gehirns und sucht nach
den zellulären und molekularen Mechanismen, die für Entwicklung allgemein
verantwortlich sind. Traditionellerweise konzentriert sie sich auf die prä- und
frühe postnatale Entwicklung. Die Subdisziplin der kognitiven Entwicklungs-
neuropsychologie interessiert sich für diejenigen zellulären und molekularen
Mechanismen, die der kognitiven Entwicklung zugrunde liegen. Sie beschäftigt
sich mit der gesamten Lebensspanne vom pränatalen Stadium bis ins hohe
Alter.

Allgemeine Gehirnentwicklung
Das Gehirn ist bei der Geburt so nah am Entwicklungsziel wie kein anderes
Körperteil. Die meisten Synapsen, die man auch im Erwachsenenalter hat, sind
bereits bei der Geburt vorhanden. Nichtsdestotrotz vergrößert sich die Gehirn-
masse v. a. in den ersten sechs Monaten durch Neurogenese, neue Synapsenbil-
dung und Myelinisierung noch weiter. Vom ersten bis zum dritten Lebensjahr
5.2 • Kognitive Entwicklung
261 5
jedoch reduziert sich die Anzahl der Synapsen wieder: Das Gehirn »wählt« die
Synapsen aus, die ihm am wichtigsten erscheinen. Man schlussfolgerte daraus,
dass die ersten drei Lebensjahre besonders entscheidend für die mentale Kapa-
zität sein könnten (sog. First-three-years-hypothesis).
Bei der Gehirnentwicklung gilt folgender Grundsatz: Subkortikale Syste-
me, die reflexhafte Reaktionen steuern, entwickeln sich vor den kortikalen
Systemen, die für bewusst-kontrollierte Handlungen zuständig sind.
Es werden verschiedene Perspektiven auf die Gehirnentwicklung unter-
schieden (Ward, 2006; Mrakotsky, 2007):
55 Reifungsperspektive:
55 Eine Gehirnregion muss erst ausreifen, bevor sie korrekt funktionieren
kann (sog. erfahrungsunabhängige Entwicklung).
55 Jede kognitive Funktion soll von der Reifung einer spezifischen Ge-
hirnregion abhängen.
55 Skill-learning-Hypothese:
55 Das Gehirn ist bei der Geburt bereits ausgereift, es muss lediglich noch
die notwendigen Fähigkeiten lernen (sog. erfahrungsabhängige Ent-
wicklung).
55 So ist beispielsweise die Gehirnaktivität bei Kindern, während sie neue
Grundfähigkeiten erwerben, sehr ähnlich zu denen von Erwachsenen,
wenn diese komplexe Fähigkeiten erlernen.
55 Interaktive Spezialisierungshypothese:
55 Die Gehirnregionen sind bei der Geburt nicht unreif, sondern ledig-
lich unspezifisch. Während der Entwicklung spezialisieren sie sich auf-
grund von Erfahrungen mehr und mehr (sog. erfahrungserwartende
Entwicklung).
55 Die interaktive Spezialisierungshypothese beschäftigt sich v. a. mit der
Interaktion von Genen, Gehirnstrukturen und psychologischen Funk-
tionsbereichen.

Die Entwicklung des Gehirns ist prinzipiell sowohl plastisch (anpassungsfähig)


als auch vulnerabel (verletzlich für Umwelteinflüsse):
55 Beispielexperiment für Vulnerabilität von Hubel und Wiesel (1962)
55 Aufbau: Katzen wird in den ersten drei Monaten nach der Geburt je
ein Auge verschlossen.
55 Ergebnis: Die Katzen bleiben auf dem verschlossenen Auge lebenslang
blind.
55 Erklärung/Interpretation: Der genetische Entwicklungsplan sieht ein
kritisches Zeitfenster für die Entwicklung der Sehfähigkeit vor. Findet
die notwendige Erfahrung dann nicht statt, entwickelt sich die Fähig-
keit nicht (erfahrungsabhängige Entwicklung).
55 Beispielexperiment für Plastizität von Hubel und Wiesel (1977)
55 Aufbau: Affen werden in den ersten sechs Monaten beide Augen ver-
schlossen.
55 Ergebnis: Die Affen können später trotzdem sehen, wenn auch nicht
ganz perfekt.
55 Erklärung/Interpretation: Das Gehirn ist plastisch, allerdings gibt es
enge Zeitfenster, in denen Erfahrungen für die Entwicklung förderlich
sind (erfahrungserwartende Entwicklung).

Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit kann als die Fähigkeit des Gehirns definiert werden, unwich-
tigen Input auszublenden und die Sensibilität für wichtigen Input zu erhöhen.
262 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

Es herrscht Einigkeit darüber, dass Aufmerksamkeit ein mehrdimensionales


Konstrukt ist. Dabei werden drei verschiedene Aufmerksamkeitsnetzwer-
ke bzw. -dimensionen unterschieden (Fimm, 2007; Sinclair & Taylor, 2008;
Schiltz, 2009):
55 Alertness (intensive vs. weniger intensive Aufmerksamkeit)
55 Def.: Als Alertness wird dasjenige Aufmerksamkeitsnetzwerk be-
zeichnet, das dafür zuständig ist, die Intensität der Aufmerksamkeit zu
regulieren.
55 Es werden unterschiedlich intensive Zustände von Aufmerksamkeit
unterschieden:
–– Tonische Alertness: Allgemeine Reaktionsbereitschaft im wachen
5 Zustand
–– Phasische Alertness: Kurzfristig erhöhte Aufmerksamkeit als Re-
aktion auf einen Reiz
–– Vigilanz: Fähigkeit, längerfristig seine Aufmerksamkeit auf ein
bestimmtes Objekt oder Aufgabe zu richten
55 Zugeordnete Hirnareale: Locus coeruleus (Kerngebiet der Formatio
reticularis), frontaler und parietaler Cortex
55 Neuromodulator des Alertnesssystems: Noradrenalin
55 Entwicklung der Alertnessdimension:
–– Neugeborene schlafen ¾ des Tages und befinden sich in keinem
nennenswerten Aufmerksamkeitszustand.
–– In den ersten drei Monaten finden dramatische Veränderungen
in der Verteilung und Qualität des Schlafes statt. Das Kleinkind
passt sich zunehmend an den Tag-Nacht-Rhythmus an.
55 Orientierung (offene vs. verdeckte Aufmerksamkeit)
55 Def.: Als Orientierung wird dasjenige Aufmerksamkeitsnetzwerk be-
zeichnet, das dafür zuständig, ist die Hinwendung zu einem Objekt zu
regulieren.
55 Es wird unterschieden zwischen:
–– Offene Aufmerksamkeit: Man bewegt sich in Richtung des Ob-
jekts und fokussiert es.
–– Verdeckte Aufmerksamkeit: Man fokussiert das Objekt zwar
nicht, richtet jedoch seine Aufmerksamkeit darauf.
55 Zugeordnete Hirnareale: Colliculi superiores (Dach des Mittelhirns),
Pulvinar (Teil des Thalamus), frontaler und parietaler Cortex, Temporo-
parietal junction (Verbindung zwischen Temporal- und Parietallappen)
55 Neuromodulator des Orientierungssystems: Acethylcholin
55 Entwicklung der Orientierungsdimension:
–– Fötus: Der kann bereits die Augen bewegen.
–– Neugeborenes: Es kann einem Objekt mit den Augen folgen,
wenngleich die Bewegungen noch ruckartig sind.
–– Kind im Alter von zwei Monaten: Die Orientierung hin zu einem
Objekt ist bereits möglich, wenngleich der Fokus oft nur den
Rand von einem Stimulus betrifft und die Aufmerksamkeit noch
nicht komplett willentlicher Kontrolle liegt.
–– Kind im Alter von vier Monaten: Es kann aktiv visuell die Um-
welt erfassen.
55 Exekutive Aufmerksamkeit (ablenkbare vs. nicht ablenkbare Aufmerk-
samkeit)
55 Def.: Als exekutive Aufmerksamkeit wird dasjenige Aufmerksamkeits-
netzwerk bezeichnet, das dafür zuständig ist, ablenkende Reize auszu-
blenden.
5.2 • Kognitive Entwicklung
263 5

. Tab. 5.4  Übersicht über die verschiedenen Aufmerksamkeitsdimensionen und Aufmerksamkeitsarten

Intensiv vs. nicht Offen vs. verdeckt Ablenkbar vs. nicht ablenkbar (exekutive
intensiv (Alertness) (Orientierung) Aufmerksamkeit)

Tonische Alertness Nicht intensiv Verdeckt Ablenkbar

Phasische Alertness Intensiv Offen Ablenkbar

Vigilanz (Daueraufmerksamkeit) Nicht intensiv Offen Nicht ablenkbar

Fokussierte Aufmerksamkeit Intensiv Offen Nicht ablenkbar

Geteilte Aufmerksamkeit Weniger intensiv Offen Nicht ablenkbar

55 Es wird unterschieden zwischen:


–– Fokussierte Aufmerksamkeit: Man konzentriert sich auf be-
stimmte Objekte oder Reize und muss andere irrelevante Reize
ausblenden.
–– Nicht-fokussierte Aufmerksamkeit: Man muss keine irrelevanten
Reize ausblenden.
–– Geteilte Aufmerksamkeit: Man konzentriert sich auf ein oder
mehrere Objekte, Reize oder Aufgaben gleichzeitig und muss
andere irrelevante Reize ausblenden.
55 Zugeordnete Hirnareale: Basalganglien, Gyrus cinguli, lateral präfron-
taler Cortex
55 Neuromodulator des exekutiven Aufmerksamkeitssystems: Dopamin
55 Entwicklung der exekutiven Aufmerksamkeitskontrolle:
–– Sie entwickelt sich bis zum frühen Erwachsenenalter.
–– Ein besonderer Entwicklungsschub liegt zwischen dem 2. und 7.
Lebensjahr.

Eine Übersicht über die verschiedenen Aufmerksamkeitsdimensionen und


-arten findet sich in . Tab. 5.4.
Aufmerksamkeitsprozesse bei Kleinkindern werden folgendermaßen
untersucht (Schiltz, 2009):
55 Um Orientierung bei Kleinkindern untersuchen zu können, muss man
folgende Aspekte berücksichtigen:
55 Kinder bevorzugen neue Objekte gegenüber bekannten (dies entwi-
ckelt sich zwischen dem 4.–6. Monat).
55 Bei den Aufgaben setzt man die Präferenz- oder Habituationstechnik
ein.
55 Kinder, die noch keinen zuverlässigen Aufmerksamkeitszustand errei-
chen können, kann man nicht untersuchen.
55 Man braucht normalerweise 200ms um eine Augenbewegung (Sakka-
de) auszuführen und einen neuen Reiz zu fokussieren.
55 Beispiel der Untersuchung von verdeckter Aufmerksamkeit bei Säuglin-
gen und Kleinkindern: Posner-Paradigma (Posner, 1980; Hood, 1993)
55 Aufbau:
–– Dem Kind wird in der Mitte des Sehfeldes ein starker visueller
Reiz dargeboten, um sicherzustellen, dass das Kind die Mitte
fixiert.
–– Dann leuchtet zusätzlich kurz ein weiterer (wenig starker) Stimu-
lus im peripheren Sichtfeld auf (links oder rechts).
–– Anschließend erscheint ein ebenfalls starker Stimulus auf der glei-
chen oder entgegengesetzten Seite des peripheren Gesichtsfeldes.
264 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

55 Ergebnisse:
–– Erscheint der zweite starke Stimulus auf der gleichen Seite, sollte
es zu einer Seherleichterung kommen, d. h. die Dauer der Augen-
bewegung beträgt weniger als 200 ms.
–– Erscheint der zweite starke Stimulus auf der entgegengesetzten
Seite, sollte es zu einer Verlängerung der Sakkade kommen.
–– Ist dieses Muster gegeben, wird davon ausgegangen, dass das
Kleinkind zu verdeckter Aufmerksamkeit in der Lage ist.
55 Beispiel der Untersuchung von exekutiver Aufmerksamkeit bei Säuglin-
gen und Kleinkindern: Stroop-Test (Gerstadt, Hong & Diamond, 1994)
55 Aufbau: Dem Kind werden verschiedene Karten vorgelegt, auf denen
5 entweder Tag oder Nacht abgebildet sind. Es wird aufgefordert, immer
das Gegenteil von dem zu nennen, was es sieht.
55 Ergebnis: Je besser es dem Kind gelingt, diese Aufgabe zu erfüllen,
umso besser ist die Fähigkeit zur exekutiven Aufmerksamkeitskontrol-
le bereits ausgebildet.

Zahlenverständnis
Zahlen sind nicht gleich Zahlen. Vielmehr können sie unterschiedlich Bedeu-
tungen haben und unterschiedlich repräsentiert werden.
55 Bedeutungen:
55 Kardinal: Dies bezieht sich auf die Menge oder Anzahl, z. B. vier Läu-
fer.
55 Ordinal: Dies bezieht sich auf die Rangfolge, z. B. der vierte Läufer.
55 Nominal: Dies bezieht sich auf die Identität, z. B. der Läufer mit der
Nummer vier.
55 Möglichkeiten der Repräsentation:
55 Symbolisch:
–– Arabische Zahlen, z. B. 4
–– Verbal, z. B. vier
55 Nicht-symbolisch, z. B. ////

Zählen zu lernen dauert bei Kindern vier Jahre und findet zwischen dem 2. und
6. Lebensjahr statt (Kaufmann & Nuerk, 2007; Schiltz, 2009):
55 Bei der Entwicklung des Zahlenverständnisses sind unterschiedliche Ge-
hirnregionen beteiligt:
55 Der intraparietale Sulcus (IPS) scheint für die Mengenverarbeitung
verantwortlich zu sein.
55 Der linke Gyrus angularis scheint die verbale Sprachverarbeitung zu
unterstützen (z. B. Zählen).
55 Der posteriore superiore parietaler Sulcus (PSPL) ist für die räumliche
Verarbeitung zuständig.
55 Es werden zwei verschiedene Systeme für die Zahlenverarbeitung unter-
schieden:
55 Vorverbales System (auch implizit quantitatives Wissen oder numeri-
sches Basiswissen genannt):
–– Kleine Zahlen (≤ 4) werden exakt verarbeitet (Subitizing oder
Small number representation).
–– Große Zahlen (> 4) werden abgeschätzt (Aproximate large num-
ber representation).
–– Das numerische Basiswissen entwickelt sich bereits vor dem
Schuleintritt.
5.2 • Kognitive Entwicklung
265 5
55 Verbales System:
–– Auch große Zahlen werden genau abgezählt (Exact large number
representation).
–– Es entwickelt sich erst nach Schuleintritt.
55 Kinder lernen die Zählprinzipien in folgender Reihenfolge:
55 Zählwörter in der richtigen Reihenfolge sagen
55 Jedes Zahlwort einem Objekt zuordnen
55 Jedes Objekt darf nur einmal gezählt werden.
55 Verständnis dafür, dass am Ende des Zählprozesses die Anzahl der
Objekte resultiert
55 Erkenntnis, dass die Reihenfolge, in der die Objekte gezählt werden,
irrelevant ist
55 Erkenntnis, dass alles gezählt werden kann, auch unterschiedliche
Objekte (z. B. Stifte und Kekse)
55 Bei der Untersuchung der Zählfertigkeit gibt es zwei interessante Effekte:
55 Distanzeffekt:
–– Def.: Zwei Zahlen in ähnlicher Größe sind umso leichter zu
unterscheiden, je weiter die Zahlen auseinander liegen (3 vs. 5 ist
leichter als 3 vs. 4).
–– Dieser Effekt ist unabhängig vom Zahlenformat (d. h. unabhän-
gig von einer symbolischen oder nicht symbolischen Zahlendar-
stellung).
55 Größeneffekt:
55 Def.: Zwei Zahlen mit dem gleichen Zahlenabstand sind leichter zu
unterscheiden, wenn beide Zahlen klein sind (3 vs. 4 ist leichter als 13
vs. 14).
55 Beim Abschätzen großer Zahlen gilt Webers Gesetz: Die Unterscheid-
barkeit von zwei Zahlen ist eine Funktion ihres Quotienten (d. h. 1 vs.
2 ist genauso leicht wie 10 vs. 20).

Es gibt verschiedene Modelle, die die Zahlenverarbeitung erklären (Schiltz,


2009):
55 Analog-magnitude model:
55 Die Anzahl von Objekten (z. B. Kekse) wird neuronal proportional ab-
gebildet, d. h. je mehr Kekse vorhanden sind, umso mehr Nervenzellen
werden aktiviert.
55 Sind die Kekse unterschiedlich groß, wird auch die Größe proportional
repräsentiert (d. h. aus zwei großen Keksen und vier kleinen Keksen
resultiert die gleiche neuronale Aktivität).
55 Kritik: Das Modell ist stark vereinfachend und trifft am ehesten auf die
ungefähre Verarbeitung von großen Zahlen zu (numerisches Basis-
wissen).
55 Object-file model:
55 Kinder nutzen ein mentales Object-file um jedes zu zählende Objekt
zu repräsentieren (d. h. jeder Keks wird durch ein Object-file repräsen-
tiert).
55 Die Größe der Kekse wird dabei nicht berücksichtigt, sondern nur die
Anzahl.
55 Die obere Grenze dieser Verarbeitung liegt bei drei bis vier Objekten.
55 Kritik: Dieses Modell vernachlässigt, dass nicht nur die Anzahl von
Keksen abgebildet werden kann, sondern auch ihre Größe.
266 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

55 Modifiziertes Object-file model:


55 Es umfasst die gleichen Annahmen wie das Object-file model, geht
jedoch zusätzlich davon aus, dass jedes Objekt auch in seiner Größe
mental repräsentiert wird (d. h. große Kekse werden durch große Ob-
ject-files repräsentiert).
55 Die Object-files basieren auf bildlicher Verarbeitung.
55 Das Modell kann gut die Verarbeitung von kleinen Zahlen erklären.

5.3 Psychosoziale Entwicklung, Identität und


Selbstkonzept
5
Eine begriffliche Abgrenzung (s. auch 7 Abschn. 3.2.1):
55 Selbstkonzept: Bild, das eine Person von sich selbst hat
55 Selbstwert oder Selbstwertgefühl (self-esteem)
55 Def.: Bewertung des eigenen Selbstkonzepts
55 Geringes Selbstbewusstsein geht einher mit einer gedrückten Gefühls-
lage und der Vermeidung schwieriger Aufgaben.
55 Hoher Selbstwert geht einher mit guten Sozialbeziehungen, berufli-
chem Erfolg und konstruktivem Umgang mit Stress.
55 Ein zu hohes Selbstwertgefühl kann jedoch auch zu Egoismus und
Aggression und damit zum Verlust von Freunden führen.
55 Identität:
55 Die Gesamtheit des Wissens über sich selbst (inklusive Motive, Werte,
Ziele, Einstellungen)
55 Sie umfasst individuelle Merkmale, über die man sich selbst definiert
und andere einen erkennen.

Der Zeitabschnitt, in dem die Identitätsentwicklung vorrangiges Thema ist, ist


das Jugendalter. Dieses ist geprägt durch:
55 Jugendliche denken viel über sich selbst nach und darüber, was andere
über sie denken. Das Selbstkonzept ist also ständig im Fokus der Auf-
merksamkeit.
55 Das Selbstwertgefühl sinkt während der Adoleszenz, da Jugendliche
durch den ständigen Abgleich mit der Außenwelt ihr Selbst realistischer
einschätzen und dabei auch selbstwert-abträgliche Erfahrungen machen
können.
55 Auf der Suche nach dem Wer-will-ich-Sein? werden Jugendliche auch mit
den Widersprüchen in ihrem Selbstkonzept konfrontiert. Diese Konflikte
müssen sie lösen.
55 Da Jugendliche sich ihrer selbst noch unsicher sind, reagieren sie emp-
findlich, wenn sie den Eindruck haben, dass sie nicht so akzeptiert wer-
den wie sie sind.

5.3.1 Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung

Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung (1959) gehört zu den konst-


ruktivistischen und organismischen Entwicklungstheorien. Sie geht davon aus,
dass eine Person aktiv auf die Entwicklung einwirkt. Gleichzeitig gehört sie
auch zu den psychodynamsichen Theorien und weist bis Phase 5 große Ähn-
lichkeiten mit Freuds Phasentheorie (s. auch 7 Abschn. 1.3.3) auf. Erikson hebt
sich jedoch in drei Punkten von Freud ab:
5.3 • Psychosoziale Entwicklung, Identität und Selbstkonzept
267 5
55 Freud geht davon aus, dass weder Person noch Umwelt auf die Entwick-
lung einwirken können (exogenistische Theorie).
55 Erikson beschreibt auch Phasen im Erwachsenenalter, Freud beschränkt
sich auf das Kindesalter.
55 Erikson konzentriert sich insgesamt vorwiegend auf die Ich-Entwicklung,
während Freud die psychosexuelle Entwicklung in den Vordergrund
stellt.

Erikson geht davon aus, dass sich die Entwicklung der Identität in acht Phasen
vollzieht, wobei das Individuum in jeder Phase eine psychosoziale Krise lösen
muss. Je besser dies gelingt, umso besser kann es auch die nächste Krise be-
arbeiten. Die acht Phasen sind (Krampen, 2002; Lohaus et al. 2010):
55 Säuglingsalter: bis 1. Lebensjahr
55 Krise: Urvertrauen vs. Urmisstrauen
55 Aufgabe: Der Säugling muss in Interaktion mit seiner Umwelt positive
Erfahrungen machen, bzw. die positiven Erfahrungen müssen über-
wiegen. Gelingt dies, entwickelt sich Urvertrauen, gelingt es nicht,
entsteht Urmisstrauen.
55 Auswirkungen auf das weitere Leben:
–– Wenn die Krise gut gelöst wird: Der Säugling lernt, anderen Men-
schen zu vertrauen, was eine wichtige Voraussetzung für sichere
und reife Bindungen ist.
–– Wenn die Krise nicht gelöst wird: Der Säugling lernt, misstrau-
isch gegenüber der Welt und anderen Menschen zu sein.
55 Frühes Kindesalter: 1.–3. Lebensjahr
55 Krise: Autonomie vs. Selbstzweifel
55 Aufgabe: Das Kleinkind muss sich mehr und mehr aus der Rundum-
versorgung durch die Eltern lösen und diese Aufgabe selbst überneh-
men. Macht es dabei positive Erfahrung, wird die Autonomie gestärkt,
macht es negative, nicht zielführende Erfahrungen, entstehen Selbst-
zweifel und Schamgefühle.
55 Auswirkungen auf das weitere Leben:
–– Wenn die Krise gut gelöst wird: Das Kind entwickelt Selbstbe-
wusstsein, es kann eigene Rechte durchsetzen und eigene Bedürf-
nisse einfordern.
–– Wenn die Krise nicht gelöst: Das Kind entwickelt Selbstunsicher-
heit, was sich im späteren Leben z. B. in der extremen Orientie-
rung an Werten, Normen und Gesetzen äußern kann.
55 Mittleres Kindesalter: 3.–5. Lebensjahr
55 Krise: Initiative vs. Schuldgefühl
55 Aufgabe: Das Kind muss entscheiden welche Art von Person es sein
möchte. Es drängt deshalb danach, Rollen (z. B. Mutter, Vater, Kind,
Polizist…) auszuprobieren. Wird es darin unterstützt, entsteht Verant-
wortung und Mut zur Initiative. Macht es jedoch negative Erfahrun-
gen, entstehen Schuldgefühle. Wird ihm jedoch zu früh zu viel Verant-
wortung aufgeladen, kommt es zu übertriebenem Ehrgeiz.
55 Auswirkungen auf das weitere Leben:
–– Wenn die Krise gut gelöst wird: Das Kind erforscht neugierig und
initiativ die Welt und übernimmt in gesundem Maß Verantwor-
tung.
–– Wenn die Krise nicht gelöst wird: Das Kind entwickelt übertrie-
bene Selbstkontrolle oder selbstausbeuterischen Ehrgeiz.
268 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

55 Spätes Kindesalter: 5. Lebensjahr bis Pubertät


55 Krise: Fleiß vs. Minderwertigkeitsgefühl
55 Aufgabe: Das Kind wird durch die Schule aufgefordert, fleißig zu sein
und seine Fähigkeiten gezielt zu erweitern. Gelingt dies, wird es in
seinem Fleiß verstärkt. Macht es jedoch negative Erfahrungen, gelangt
es zu negative Überzeugungen über das eigene Können.
55 Auswirkungen auf das weitere Leben:
–– Wenn die Krise gut gelöst wird: Das Kind entwickelt Vertrauen in
die eigenen Fähigkeiten und ein Gefühl von Selbstwirksamkeit.
–– Wenn die Krise nicht gelöst wird: Das Kind entwickelt Minder-
wertigkeitsgefühle und traut sich selbst nichts zu.
5 55 Adoleszenz: Pubertät bis 20. Lebensjahr
55 Krise: Identitätsfindung vs. Rollendiffusion
55 Aufgabe: Der Jugendliche steht vor der Aufgabe, seine Identität zu defi-
nieren. Dazu probiert er verschiedene Rollen aus (z. B. Anschluss an
Jugendgruppen, politisches Engagement).
55 Abgrenzung zum mittleren Kindesalter: In beiden Phasen findet ein
Ausprobieren von Rollen statt. Während es im mittleren Kindesalter
jedoch ganz grundlegend darum geht, welche Art von Person man sein
möchte und ob man überhaupt dazu in der Lage ist, eine Rolle mit der
einhergehenden Verantwortung zu übernehmen, geht es in der Ado-
leszenz konkret darum, welche Rollen man übernehmen möchte (z. B.
welche Art von Person möchte ich sein vs. wer will ich als Individuum
sein?). Anders formuliert kann man sagen, dass das Kind im mittleren
Kindesalter sein Ich entdeckt, d. h. es entdeckt, dass es eine Person ist,
während der Jugendliche in der Pubertät seine Identität entdeckt.
55 Auswirkungen auf das weitere Leben:
–– Wenn die Krise gut gelöst wird: Der Heranwachsende erreicht
Ich-Identität, d. h. er weiß, wer er ist, was er gerne mag und wie
er leben möchte.
–– Wenn die Krise nicht gelöst wird: Es kommt zu Rollenkonfusion,
d. h. der Heranwachsende hat das Gefühl der Sinn- und Ziel-
losigkeit und erfüllt Rollen, ohne dass er das Gefühl hat, diese
wirklich erfüllen zu wollen.
55 Frühes Erwachsenenalter: 20.–40. Lebensjahr
55 Krise: Intimität vs. Isolation
55 Aufgabe: Die Aufgabe dieser Stufe ist es, eine feste Partnerschaft auszu-
bilden. Gelingt dies nicht, isoliert und distanziert man sich von solch
festen Bindungen.
55 Auswirkungen auf das weitere Leben:
–– Wenn die Krise gut gelöst wird: Der junge Erwachsene ist in der
Lage, reife und tragfeste Beziehungen einzugehen.
–– Wenn die Krise nicht gelöst wird: Der junge Erwachsene gewinnt
das Gefühl, auf der Welt allein zu sein, oder er versucht, völlig
mit einem anderen Menschen oder einer Ideologie zu verschmel-
zen (Aufopferung).
55 Mittleres Erwachsenenalter: 40.–60. Lebensjahr
55 Krise: Generativität vs. Stagnation
55 Aufgabe: Der reife Erwachsene muss sich damit auseinandersetzen,
anderen Generationen sein Wissen weiterzugeben. Gelingt dies nicht,
bleibt er selbst in seiner Entwicklung stehen (Stagnation).
55 Auswirkungen auf das weitere Leben:
5.3 • Psychosoziale Entwicklung, Identität und Selbstkonzept
269 5
–– Wenn die Krise gut gelöst wird: Der reife Erwachsene hat das
Gefühl, anderen etwas für ihr Leben mitgeben zu können (Pro-
duktivität).
–– Wenn die Krise nicht gelöst wird: Der reife Erwachsene konzent-
riert sich auf sich selbst, weil er das Gefühl hat, das eigene Leben
sei sinnlos.
55 Höheres Erwachsenenalter: ab 60. Lebensjahr
55 Krise: Ich-Integrität vs. Verzweiflung
55 Aufgabe: Durch die Konfrontation mit der Vergänglichkeit des eigenen
Seins kommt es zur Integrierung des eigenen Lebens in den Lauf der
Geschichte (d. h. vorherige und nachfolgende Generationen). Gelingt
dies nicht, kommt es zu Verzweiflung.
55 Auswirkungen auf das weitere Leben:
–– Wenn die Krise gut gelöst wird: Der alternde Mensch entwickelt
eine »zeitrelativierte Identität« (Flammer, 2009, S. 103) und das
Gefühl, auf dieser Welt zu etwas nütze gewesen zu sein.
–– Wenn die Krise nicht gelöst wird: Der alternde Mensch fürchtet
sich vor dem Tod, da er das Gefühl hat, verlorene Lebenszeit
nachholen zu müssen.

Eriksons Entwicklungstheorie wurde v.  a. deshalb kritisiert, weil die Pha-


sen z. T. vage formuliert und schwer zu überprüfen sind. Aufgrund der zu-
nehmenden empirischen Ausrichtung in der Psychologie insgesamt verlor
Eriksons Entwicklungstheorie in der aktuellen Forschung an Bedeutung.
Allerdings ist der Phasenablauf eingängig und beschreibt durchaus wichtige
Themen, mit denen sich jeder im Laufe seines Lebens auseinandersetzen muss
und denen daher eine gewisse Universalität nicht abgestritten werden kann.
Auf das von Erikson vorgelegte Modell wird auch aktuell noch in Lehre und
Forschung zurückgegriffen; dabei wird v. a. seine historische Bedeutsamkeit
unterstrichen und sein beschreibender und erklärender Wert für die heutige
Zeit relativiert.

5.3.2 Die Rolle von Entwicklungsaufgaben und kritischen


Lebensereignissen

Havighurst (1948) formulierte das Konzept der Entwicklungsaufgaben. Er


wurde dabei deutlich von Erikson beeinflusst. Auch er beschrieb die Identi-
tätsentwicklung anhand von verschiedenen Phasen, seine Theorie unterschei-
det sich jedoch hinsichtlich folgender Aspekte (Krampen, 2002; Lohaus et al.,
2010):
55 Havighurst beschreibt pro Phase nicht nur einen zentralen Konflikt, son-
dern mehrere Aufgaben.
55 Havighursts Konzept gehört zu den interaktionistischen Theorien, d. h.
sowohl Person als auch Umwelt beeinflussen die Entwicklung, während
Erikson zu den organismischen Theorien zählt (nur die Person beeinflusst
die Entwicklung).
55 Havighursts Theorie steht in lerntheoretischer Tradition, Eriksons Theorie
in psychoanalytischer.

Havighurst nimmt an, dass die positive Bewältigung von Lebensaufgaben not-
wendig für die Lebenszufriedenheit und das Glück des Einzelnen ist. Dabei ist
jede bereits positiv bewältigte Aufgabe eine gute Grundlage zur Bewältigung
270 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

der weiteren Aufgaben. Havighurst beschrieb dabei im Wesentlichen normativ


alterskorrelierte Ereignisse (s. auch  7  Abschn. 5.1.3), d. h. Ereignisse, die vom
kulturellen Kontext abhängig sind. Entwicklung ist in seiner Sicht durch das
Zusammenspiel von biologischen, psychologischen und sozio-kulturellen Fak-
toren zu erklären, die sich in jeweils spezifischen Entwicklungsaufgaben aus-
drücken. Die biologische Entwicklung setzt somit körperliche Entwicklungen
in Gang (z. B. Geschlechtsreife), denen sich die Person vor dem Hintergrund
ihrer bisherigen Lernerfahrungen stellt. Die individuelle Auseinandersetzung
mit der Entwicklungsaufgabe wird auch maßgeblich durch die Angebote und
Anforderungen, die der sozio-kulturelle Kontext bietet, beeinflusst.
Die Identitätsentwicklung wird darüber hinaus von kritischen Lebens-
5 ereignissen, d. h. von epochalnormierten, normativen und non-normativen
Ereignissen beeinflusst. Je nachdem, mit welchen Entwicklungsaufgaben bzw.
kritischen Lebensereignissen eine Person konfrontiert wird und wie sie diese
bewältigt, wird das Individuum anders geprägt und entwickelt unterschied-
liche Fähigkeiten und Vorlieben. Lebensereignisse stellen v. a. den Motor der
Entwicklung im Erwachsenenalter dar (siehe Filipp & Ferring, 2002), wäh-
rend die Kindheit und Jugend in erster Linie durch das Zusammenspiel von
biologisch ausgelösten Entwicklungsprozessen und individueller Anpassung
beschrieben wird.

5.3.3 Modell der Identitätsentwicklung nach Marcia

Auch das Modell der Identitätsentwicklung nach Marcia (1966) orientiert sich
an den Arbeiten Eriksons. Marcias Entwicklungsmodell geht jedoch nicht von
einem prototypischen Phasenverlauf aus, sondern es beschreibt vielmehr vier
verschiedene Identitätsstadien, in denen man sich im Laufe des Lebens be-
finden kann (Krampen 2002; Lohaus et al., 2010):
55 Diffuse Identität: Die Person hat keine klare Vorstellung über die eigene
Identität. Weder beschäftigt sie sich mit Identitätsalternativen, noch legt
sie sich auf eine Identität fest.
55 Übernommene Identität: Die Person hat eine Vorstellung von sich selbst,
jedoch sind die Identitätsbestandteile von anderen übernommen, ohne
dass Alternativen exploriert wurden.
55 Moratorium: Das Individuum beschäftigt sich mit verschiedenen Alterna-
tiven, hat sich jedoch noch nicht auf eine Identität festgelegt.
55 Erarbeitete Identität: Die Person legt sich nach vorhergehendem Abwägen
auf eine Identität fest.

Diese Stadien unterscheiden sich hinsichtlich zweier Dimensionen (. Abb. 5.4):


55 Krise: Das Ausmaß, in dem man sich mit alternativen Identitäten beschäf-
tigt hat
55 Verpflichtung: Das Ausmaß, in dem man sich bereits auf eine Identität
festgelegt hat

5.4 Soziale Beziehungen

Der Mensch existiert nicht für sich allein, sondern ist Teil eines Sozialsystems.
Soziale Beziehungen sind sowohl Setting, das als soziale Umgebung den Rah-
men für Entwicklungsprozesse stellt, als auch Gegenstand von Entwicklung,
die die Fähigkeit abbildet, soziale Beziehungen einzugehen und zu gestalten.
5.4 • Soziale Beziehungen
271 5

Verpflichtung
übernommene erarbeitete
Verpflichtung Identität Identität

diffuse
keine

Moratorium
Identität

keine Krise Krise

. Abb. 5.4  Übersicht über die Identitätsstadien nach Marcia

5.4.1 Bindungstheorie

Die Bindungstheorie beschäftigt sich damit, wie Menschen die Fähigkeit ent-
wickeln, anderen Menschen zu vertrauen (Mietzel, 2002; Rauh, 2002). Bin-
dung kann definiert werden als emotionale Verbindung und Anhänglichkeit
des Kindes an seine Eltern. Bindungsverhalten ist demgegenüber das Verhal-
ten, das v. a. in unsicheren Situationen gezeigt wird, um Schutz bei den Eltern
zu suchen (und das Überleben zu sichern).
Die Bindung eines Kindes an seine Mutter tritt später auf, als man das
vermuten könnte. So postulierten z. B. Klaus und Kennell (1996), dass es für
das Bonding zwischen Mutter und Kind eine sensible Phase direkt nach der
Geburt gebe. Diese These konnte jedoch nicht bestätigt werden. In den ers-
ten Lebensmonaten ist es dem Kind sozusagen gleichgültig, wer es versorgt,
Hauptsache, es wird versorgt. Es reagiert auf alle Menschen positiv. Erst ab
ca. sechs Monaten soll eine eindeutige Bevorzugung bestimmter Personen zu
erkennen sein. Der Grund dafür wird in der kognitiven Entwicklung gesehen.
Um Menschen voneinander unterscheiden zu können, müssen erst bestimmte
kognitive Fähigkeiten vorliegen. Zusammen mit der Entstehung einer Bindung
entwickelt sich auch das Fremdeln, d. h. die Zuneigung zu einer bestimmten
Person bringt die Angst vor fremden Personen und Situationen mit sich.
Eine wichtige Bindungstheorie ist die Theorie der Bindungsstile nach
Ainsworth und Bowlby (Ainsworth et al., 1978; Bowlby, 1984). Der Bindungs-
stil ist jedoch nicht nur für die Kindheit von Bedeutung, sondern auch für die
spätere soziale und kognitive Entwicklung. Um zu sehen, welches Bindungs-
verhalten ein Kind hat, wird das Kind von der Mutter getrennt, bis sie nach eine
kurzen Zeit wieder zurückkehrt. Je nach Verhalten des Kindes werden folgende
Bindungsstile unterschieden:
55 Sicher-balanciert:
55 Bindungsverhalten: Die Kinder weinen, wenn die Mutter den Raum
verlässt, und freuen sich, wenn sie zurückkommt.
55 Verhalten der Mütter: Feinfühlig, harmonische Interaktion mit dem
Kind
55 Unsicher-vermeidend:
55 Bindungsverhalten: Die Kinder reagieren kaum auf das Verschwinden
der Mutter und zeigen auch nur wenige Emotionen bei der Rückkehr
der Mutter.
55 Verhalten der Mutter: Wenig einfühlsam, emotional zurückweisend
272 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

hohe Lenkung
autoritärer autoritativer
Erziehungsstil Erziehungsstil

Lenkung
niedrige
vernachlässigender permissiver
Erziehungsstil Erziehungsstil

5 niedrige Responsivität hohe Responsivität

. Abb. 5.5  Übersicht über der verschiedenen Erziehungsstile hinsichtlich ihrer Dimensio-


nen Responsivität und Lenkung

55 Ambivalent-unsicher:
55 Bindungsverhalten: Die Kinder zeigen lautstark ihren Kummer, wenn
die Mutter den Raum verlässt, verhalten sich aber bei ihrer Rückkehr
ambivalent (einerseits suchen sie Kontakt, andererseits widersetzen sie
sich Kontaktversuchen und sind wütend).
55 Verhalten der Mutter: Widersprüchlich, keine Regelhaftigkeit im Ver-
halten, überstimulierend oder geringe Reaktion auf das Kind
55 Desorganisiert-desorientiert:
55 Bindungsverhalten: Die Kinder zeigen widersprüchliches Verhalten,
das keinem der anderen Bindungsstile entspricht, z. B. Starrheit, ag-
gressives Verhalten.
55 Verhalten der Mutter: Unsensibel, aufdringlich

Die frühkindliche Bindungserfahrung ist in den letzten Jahren in ihrer Bedeu-


tung für das Erwachsenenalter – insbesondere für den Aufbau und die Gestal-
tung von Sozialbeziehungen und für den Umgang mit belastenden Ereignis-
sen – thematisiert worden. Insbesondere das »dynamic–maturational model
of attachment and adaptation« von Crittenden (2008) ist hier zu nennen.

5.4.2 Familiäre Beziehungen

Die Beziehung zwischen Eltern und Kindern ist maßgeblich geprägt vom Er-
ziehungsstil der Eltern. Elterliche Erziehung beschreibt die primäre Sozialisa-
tion mit dem Ziel, dass das Kind – aus Sicht der Eltern – die Fähigkeit erlangt,
den Anforderungen des Lebens selbstständig entgegenzutreten. Wesentlich in
dieser Phase sind die elterlichen Erziehungsstile, die hinsichtlich zweier Di-
mensionen unterschieden werden:
55 Responsivität: Ausmaß, in dem Eltern ihren Kindern mit emotionaler
Wärme und Rücksichtnahme auf die kindlichen Bedürfnisse begegnen
55 Lenkung: Ausmaß, in dem Eltern von ihren Kindern verantwortliches
Verhalten fordern; geht einher mit dem Festsetzen von festen Regeln

Nach diesen Dimensionen werden mit Baumrind (1991) folgende Erziehungs-


stile unterschieden (. Abb. 5.5):
5.4 • Soziale Beziehungen
273 5
55 Der autoritäre Erziehungsstil wird als fordernd und kontrollierend be-
schrieben, gleichzeitig wird den Kindern wenig Wärme und Geborgenheit
vermittelt. Autoritäre Eltern lassen ihren Kindern wenig Freiräume, loben
sie selten und bestrafen sie bei Fehlverhalten hart. Kinder, die autoritär er-
zogen wurden, sind ständig bemüht, den elterlichen Erwartungen gerecht
zu werden und sind durch ein geringes Selbstvertrauen sowie durch hohe
Unsicherheit und Ängste zu beschreiben.
55 Der permissive oder nachgiebige Erziehungsstil ist dadurch gekenn-
zeichnet, dass Kinder sehr wenig elterliche Kontrolle erleben, anderseits
aber auch wenig gefordert werden. Diesen Kindern fehlte es v. a. an
Selbstbeherrschung und Selbstvertrauen.
55 Der autoritative Erziehungsstil führt – wenn man so will – zu den güns-
tigsten Ergebnissen. Er beinhaltet, dass Eltern ihre Kinder kontrollieren,
ihnen Strukturen vorgeben und Grenzen setzen und dabei ein Gefühl
von elterlicher Wärme und Zuneigung vermitteln. Kinder, die autoritativ
erzogen werden, sind im Vergleich zu anderen Kindern selbstständiger,
selbstbewusster, geselliger und insgesamt zufriedener.
55 Maccoby und Martin (1983) fügten einen vierten Erziehungsstil hinzu,
indem sie den permissiven Stil weiter differenzieren. Wenn die elterliche
Nachgiebigkeit mit positiven Gefühlen gegenüber den Kindern gepaart
ist, sprechen sie von permissiver Erziehung. Geht die elterliche Nach-
giebigkeit mit geringer Zuneigung einher, sprechen sie von Vernachlässi-
gung. Der vernachlässigende Erziehungsstil wirkt sich besonders negativ
auf die kindliche Entwicklung aus. Vernachlässigte Kinder weisen oft ein
geringes Selbstvertrauen auf und können psychische und Verhaltenspro-
bleme zeigen. Schließlich sei auch noch der überbehütende oder über-
protektive Erziehungsstil genannt, mit dem Anforderungen von Kindern
ferngehalten und sie somit vor der Last des Lebens geschützt werden
sollen, was aber letztendlich zu Unselbstständigkeit und Ängsten führt.

Studien zeigen (z.  B. Buri et al. 1988; Lamborn et al., 1991; Steinberg et al.,
1992), dass der autoritative Erziehungsstil am besten für die Entwicklung von
Kindern ist. Kinder, deren Eltern andere Erziehungsstile aufweisen, haben hin-
gegen oft Probleme in der sozialen Interaktion mit anderen (z. B. aggressives
Verhalten oder mangelnde Impulskontrolle).
Letztlich ist es jedoch schwierig, Eltern eindeutig einer dieser Kategorien
zuzuordnen. Vielmehr kann das elterliche Verhalten wechseln, je nach Situa-
tion oder Temperament des Kindes. Zudem ist Erziehung auch kein einseitiger,
sondern ein wechselseitiger Prozess, der von den Kindern mit beeinflusst wird.
Eine Familie zeichnet sich nicht nur durch die Eltern-Kind-Beziehung aus.
Auch Geschwister spielen eine wichtige Rolle, denn sie haben folgende Funk-
tionen:
55 Spielkamerad: Geschwister können Spielkameraden sein, mit denen man
erste Sozialerfahrungen sammelt.
55 Rivale: Geschwister sind immer auch Rivalen um die vorhandenen Res-
sourcen, z. B. um bestimmte Spielsachen, Süßigkeiten, Aufmerksamkeit
der Eltern.
55 Sozialer Puffer: Gibt es viele Konflikte auf elterlicher Ebene, können Ge-
schwister ein guter Puffer sein, um die Auswirkungen solcher Konflikte zu
minimieren.
55 Vorbilder, Lehrer: Ältere Geschwister können für jüngere Vorbilder sein,
die imitiert werden, oder auch aktiv den Jüngeren etwas beibringen oder
sie »miterziehen«.
274 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

Besondere Familienmodelle gewinnen heutzutage neben dem klassischen


mehr und mehr an Bedeutung. Jedes geht mit bestimmten Belastungen und
Herausforderungen einher wie z. B.:
55 Ein-Kind-Familie: Kindern aus solchen Familien fehlen frühe Interak-
tionen mit Geschwistern, sie ersparen sich jedoch auch geschwisterliche
Auseinandersetzungen.
55 Alleinerziehenden-Familie: Alleinerziehende Eltern stehen vor dem Pro-
blem, Beruf und Familie in Einklang zu bekommen. Häufig gibt es auch
finanzielle Belastungen.
55 Patchwork-Familie: Die Patchwork-Familie fordert eine hohe Anpas-
sungsleistung von allen Mitgliedern, da verschiedene Familienkulturen
5 aufeinanderprallen.

5.4.3 Freundschaftliche Beziehungen

Neben den familiären Beziehungen gewinnen im Laufe des Lebens auch


Freundschaften mehr und mehr an Bedeutung. Eine Freundschaft kann defi-
niert werden als positive reziproke Beziehung zwischen zwei Personen (Lohaus
et al., 2010). Im Gegensatz zu den Familienbeziehungen finden sie auf gleich-
berechtigter Ebene statt und fordern vom Kind mehr Eigeninitiative, um die
Beziehung aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Während man zu Eltern und
Geschwistern automatisch Sozialkontakt hat, weil sie »einfach da« sind, muss
der Kontakt zu Freunden aktiv hergestellt werden.
Insbesondere im Jugendalter spielen Freunde eine wichtige Rolle, da man
beginnt, sich von den Eltern zu entfernen. Freundschaften sind allerdings auch
für die psychosoziale Gesundheit aus folgenden Gründen wichtig:
55 Freundschaften fördern die mentale Gesundheit, die Anpassungsfähigkeit
und das Selbstbewusstsein.
55 Jugendliche, die Freunde haben, sind sozial kompetenter und selbstsiche-
rer.
55 Bei zu wenigen Freundschaften kommt es zu Depressionen, geringem
Selbstbewusstsein und Schulproblemen.
55 Oft ist ein richtiger Freund ausreichend.

5.5 Ökologische Aspekte von Entwicklung

Der ökologische Ansatz der Entwicklung betont die Tatsache, dass Entwick-
lung nicht in einem Vakuum stattfindet, sondern mit der Umwelt verwoben
ist. Wir sind eingebettet in ein Ökosystem, das sich durch folgende Bestandteile
auszeichnet (nach Oerter, 2002b):
55 Biologische Lebensbedingungen (z. B. Klima, Natur, physikalische Ge-
gebenheiten)
55 Materielle Gegenstände (z. B. Häuser, Autos, Wertgegenstände)
55 Regeln des Zusammenlebens (z. B. zehn Gebote, Gesetze, Hausordnun-
gen)
55 Implizite und explizite Handlungsvorschriften (z. B. »kategorischer Impe-
rativ«, Werte, Normen)
55 Institutionen (z. B. Schule, Behörden, Kirche)
55 Soziale Partner, soziale Gruppen (z. B. Freunde, Familie, Bekannte)
55 Kultur der jeweiligen Gesellschaft (z. B. Sprache, Rituale, Symbole)
5.5 • Ökologische Aspekte von Entwicklung
275 5

Realitätsebene

real
Verg. Geg. Zuk.
Zeitperspektive

irreal

Anzahl

. Abb. 5.6  Lewins Entwicklungstheorie: Entwicklung findet statt, indem sich der Lebens-
raum in drei Dimensionen ausdifferenziert; Legende: Verg. = Vergangenheit, Geg. = Gegen-
wart, Zuk. = Zukunft

Zu den ökologischen Theorien gehören (Oerter, 2002b; Rheinberg, 2006;


Lohaus et al., 2010):
55 Lewins Theorie vom Lebensraum (Lewin, 1963):
55 Definition von Lebensraum: Subjektive Bedeutung oder auch Re-
präsentation der objektiven Lebensumwelt, d. h. der Lebensraum ist
sowohl subjektiv (da er die Bewertung des Individuums umfasst) als
auch objektiv (da die Bewertung auf einem physikalischen Objekt be-
ruht).
55 Handlungen entstehen immer aus dem jeweiligen Lebensraum heraus,
d. h. Handlung entsteht aus der Bewertung der Umwelt.
55 Für Lewin besteht Entwicklung darin, dass sich der Lebensraum im-
mer weiter ausdifferenziert (. Abb. 5.6), nämlich
–– nach Anzahl (d. h. im Laufe des Lebens lernt man immer mehr
Lebensräume kennen),
–– nach Realitätsebene (d. h. Entwicklung bedeutet, zu lernen, zwi-
schen Realität und Irrealität wie Fantasie, Wünschen, Träumen
und Plänen zu unterscheiden),
–– nach Zeitperspektive (d. h. man bekommt eine immer umfassen-
dere Vorstellung von Vergangenheit, Zukunft und Endlichkeit).
55 Das Zufriedenheitsparadox lässt sich nach Lewin wie folgt beschreiben
und verstehen: Da Zufriedenheit von der subjektiv wahrgenomme-
nen und bewerteten Lebensumwelt abhängt, ist es möglich, dass man
zufrieden ist, obwohl die objektive Lebensumwelt schlecht ist. Die
Bewertung der Lebenssituation hängt nach Lewin v. a. von ihrer Be-
deutung für die Erreichung von bedeutsamen Zielen ab.
55 Behavior-Setting-Theorie (Barker, 1968):
55 Definition von Behavior Setting: Umwelten, in denen Handeln durch
bestimmte physikalische Eigenschaften dieser Umwelten festgelegt ist,
d. h. die Situation reguliert das Verhalten.
55 Barker geht davon aus, dass es kollektiv-normierte Verhaltensmuster
gibt, die je nach Situation das Verhalten vorschreiben und unabhängig
vom Individuum sind. Das physikalische und soziale Milieu legt diese
Verhaltensmuster fest.
55 Verhaltensmuster und Milieu sind synomorph (von gleicher Gestalt):
Räume (z. B. Kirche, Hörsaal, Sporthalle) sind so gestaltet, dass sie zu
276 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

Zeit

Chronosystem

Kind

. Abb. 5.7  Die verschiedenen Teilsysteme, in denen Entwicklung nach der sozio-ökono-


mischen Theorie von Bronfenbrenner stattfindet. (Aus Lohaus, Vierhaus & Maass, 2010)

dem Verhaltensmuster, das hier kollektiv erwartet wird, aufrufen. Ver-


haltensmuster sind also dem Milieu angepasst.
55 Entwicklung vollzieht sich durch Settingwechsel (z. B. vom Kindergar-
ten zur Schule), da sie den Erwerb neuer Kompetenzen erfordern.
55 Integratives und sozio-ökonomisches Modell (Bronfenbrenner, 1979):
55 Es geht davon aus, dass es verschiedene Teilsysteme gibt, die unsere
Lebensumwelt festlegen, wobei diese immer umfassender werden
(. Abb. 5.7):
–– Individuum
–– Mikrosystem: Das unmittelbare Interaktionssystem eines Indivi-
duums (z. B. Familie, physikalische Umwelt)
–– Mesosystem: Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Mikro-
systemen (z. B. Interaktionen zwischen Geschwistern oder zwi-
schen Eltern und Freunden)
–– Exosystem: Settings, an denen das Individuum nicht direkt be-
teiligt ist, die jedoch indirekt Einfluss nehmen (z. B. Arbeitsplatz
der Eltern)
–– Makrosystem: Glaubenssysteme innerhalb einer Kultur; es um-
fasst Regeln, die für alle Mitglieder einer Gesellschaft gelten (z. B.
Normen, Werte)
–– Chronosystem: Zeitlich historischer Kontext, in dem Entwick-
lung stattfindet (z. B. Zeitabschnitte im eigenen Lebenslauf wie
eine Hochzeit oder historische Ereignisse wie die Terroranschläge
vom 11.09.2001)
55 Bronfenbrenner betonte, wie wichtig die Verbindung zwischen den
verschiedenen Umweltsystemen ist. Ihn interessierte v. a., wann und
wie sich diese Verbindungen verändern (d. h. wann und wie das Indiv-
diuum das Mikrosystem beeinflusst oder umgekehrt).
5.6 • Charakteristika der Entwicklung in bestimmten Lebensphasen
277 5
Ein Teil der Umwelt ist die Kultur, in der Entwicklung stattfindet.
55 Die Definition von Kultur umfasst (Oerter, 2002b)
55 alle in einer Population gelernten Bedeutungen,
55 Werte, die von allen Mitgliedern einer Population geteilt werden,
55 Verhaltensweisen, die diese Werte widerspiegeln.
55 Definition von Kulturfähigkeit: Fähigkeit, die Inhalte einer Kultur zu
lernen
55 Einflussmöglichkeiten von Kultur auf Entwicklung:
55 Enkulturation: Unbewusstes Hineinwachsen in eine Kultur
55 Sozialisation: Gezielte oder ungezielte Anpassung an kulturelle und
gesellschaftliche Muster (s. auch 7 Abschn. 5.1.3)
55 Akkulturation: Ungezielte Anpassung an eine neue Kultur bei Men-
schen, die bereits eine Kultur haben
55 Resozialisierung: Gezielte Akkulturation, d. h. gezielte Vermittlung
von Inhalten aus einer anderen Kultur
55 Übertragungsmöglichkeiten der Kultur: Transmission (Übertragung)
55 Vertikale Transmission: Einfluss von Eltern auf die Entwicklung
55 Horizontale Transmission: Einfluss von Gleichaltrigen auf die Ent-
wicklung
55 Diagonale Transmission: Einfluss durch Erwachsene (z. B. Lehrer) auf
die Entwicklung

5.6 Charakteristika der Entwicklung in bestimmten


Lebensphasen

Entwicklung kann nicht nur nach bestimmten Funktionsbereichen betrachtet


werden, sondern auch nach dem Zeitabschnitt, in dem sie stattfindet. Im Fol-
genden soll noch einmal kurz auf Besonderheiten im Lebenslauf eingegangen
werden.

5.6.1 Schwangerschaft, Geburt und Kindheit

Die Zeit der Schwangerschaft, Geburt und Kindheit ist geprägt von einem
rasanten physischen Wachstum und erhöhter Sensibilität für schädliche Fak-
toren. Begrifflich kann diese Zeit unterteilt werden in:
55 Zygote (befruchtete Eizelle)
55 Befruchtung (ca. in der 2. Schwangerschaftswoche, SSW)
55 Embryo: 3.–8. SSW (ab dem Zeitpunkt der Einnistung der Zygote in der
Gebärmutter bezeichnet man den »Zellklumpen« als Embryo)
55 Fötus: 9. SSW bis Geburt
55 Neugeborenes: Erste 4 Wochen nach der Geburt
55 Säugling: Geburt bis 1. Lebensjahr
55 Kleinkind: 1.–6. Lebensjahr
55 Schulkind: 7. Lebensjahr bis Beginn der Pubertät

Physische Veränderungen im Säuglings- und Kleinkindalter


Während des Säuglings- und Kleinkindalters findet eine massive physische
Veränderung des Neugeborenen statt:
55 Körper- und Gehirnwachstum
55 Entstehung der ersten Zähne und Ernährungsumstellung
55 Verschwinden der kindlichen Reflexe (z. B. Greifreflex)
278 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

55 Entwicklung der Sinne:


55 Fühlen, Schmecken und Riechen bilden sich bereits während der
Schwangerschaft aus.
55 Das Sehen ist kurz nach der Geburt noch relativ schlecht, es reift aber
innerhalb des ersten Lebensjahres aus.
55 Ausbildung motorischer Fähigkeiten, allerdings sind die sensorischen
Fähigkeiten den motorischen voraus.
55 Entwicklung eines regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus

Umwelteinflüsse während der Schwangerschaft


Die Sensibilität für schädigende Umwelteinflüsse wird v. a. während der Ent-
5 wicklung von der Zygote bis zum fertigen Fötus deutlich. Besonders hoch ist
die Anfälligkeit während der Embryonalzeit und den ersten Wochen der Fö-
talphase (bis 12. SSW). Treten während dieser Zeit schädigende Einflüsse auf,
kommt es meist zu körperlichen Missbildungen, während später auftretende
eher zu kognitiven Beeinträchtigungen führen. Potenziell schädliche pränata-
le Umwelteinflüsse (Teratogene) sind (Berk, 2005; Lohaus et al., 2010):
55 Alkohol:
55 Alkohol kann vom Fötus nicht abgebaut werden, deshalb haben auch
schon geringe Mengen Alkohol große Auswirkungen.
55 Fötales Alkohol-Syndrom (FES): Verzögertes Wachstum vor und nach
der Geburt, erhebliche Beeinträchtigung der Gehirnentwicklung, Stö-
rung der Wahrnehmung, der Sprachentwicklung und anderer Bereiche
55 Rauchen:
55 Es bewirkt ein niedrigeres Geburtsgewicht.
55 Es geht mit einem erhöhten Risiko einher, dass das Kind vor oder nach
der Geburt stirbt.
55 Es bewirkt ein erhöhtes Risiko für Aufmerksamkeits- und Lernschwie-
rigkeiten in den ersten Lebensjahren.
55 Medikamente:
55 Sie können Missbildungen vielfältiger Art zur Folge haben, aber auch
verzögerte Auswirkungen (d. h. solche, die erst Jahre nach der Geburt
auftreten) sind möglich.
55 Beispiel Contergan: In den 60er Jahren nahmen viele Frauen das
Schlafmittel Contergan, weil es aufgrund seiner Harmlosigkeit von
Ärzten empfohlen wurde. Erst als gehäufte Missbildungen bei Neuge-
borenen auftraten, stellte man den Zusammenhang mit dem Medika-
ment her.
55 Infektionskrankheiten:
55 Bakterien werden in aller Regel von der Plazenta abgefangen, während
Viren die Barriere überwinden und Schaden beim Neugeborenen an-
richten können.
55 Beispiel Röteln: Mütter, die während der Schwangerschaft an Röteln
erkranken, bringen oft blinde Kinder zur Welt.
55 Emotionale Belastung der Mutter: Stress kann führen zu
55 geschwächter Immunabwehr der Mutter,
55 verringerter Blutversorgung des Säuglings,
55 erhöhtem Risiko von Rauchen, ungesunder Ernährung, Alkohol oder
Medikamenteneinnahme durch die Mutter.
55 Drogen: Sowohl die Droge selbst als auch der Drogenentzug können ne-
gative Auswirkungen auf das Kind haben.
55 Radioaktive Strahlung: Sie bewirkt Zellveränderungen oder den Zelltod
und führt dadurch zu Fehlbildungen.
5.6 • Charakteristika der Entwicklung in bestimmten Lebensphasen
279 5
55 Ernährung der Mutter: Insbesondere bei häufigem Übergeben ist es wich-
tig, sich ausgewogen zu ernähren.
55 Selbstverständlich ist eine Vielzahl von Interaktionen zwischen den hier
angeführten Faktoren möglich. Emotionale Belastung kann z. B. mit er-
höhtem Risikoverhalten (Rauchen, Alkohol, Medikamente) erhergehen
und die Wahrscheinlichkeit von Infektionskrankheiten erhöhen.

5.6.2 Jugendalter

Das Jugendalter (Adoleszenz) ist die Zeit der Veränderung, großer Unsicher-
heiten und bewusster Entwicklungen (Oerter & Dreher, 2002; Kaplan, 2003).
Sie beginnt mit der Pubertät, d. h. mit der Hormonausschüttung bei Jungen
und Mädchen, die dazu führt, dass diese ihre Geschlechtsreife erlangen. Sie
kann unterteilt werden in die frühe Adoleszenz (Kindheit bis 14. Lebensjahr)
und späte Adoleszenz (14.–18. Lebensjahr). Das Ende des Jugendalters wird
nicht an biologischen Merkmalen festgemacht, vielmehr gilt ein Mensch dann
als erwachsen, wenn er volljährig ist. Da man aber mit 18 Jahren nicht schlag-
artig erwachsen ist, gibt es den Vorschlag, die Zeit ab dem 18. Lebensjahr
Post-Adoleszenz zu nennen. Umgekehrt wird der Beginn des Erwachsenseins
festgelegt auf den Zeitpunkt, wenn das Individuum selbstständig handeln kann
und emotional von der Familie unabhängig ist. Die Zeit des Jugendalters ist
somit keine eindeutig abgrenzbare Zeit, vielmehr variieren Beginn und Ende je
nach Gesellschaft und Kultur. Dies gilt sowohl für die Definition von Erwach-
sen-Sein und damit für das Ende der Pubertät als auch für den Beginn. Einfluss
auf den Beginn der Pubertät haben:
55 Genetische Einflüsse
55 Ernährung
55 Stress: Er bewirkt, dass die Pubertät früher beginnt (aus evolutionspsy-
chologischer Perspektive ist dies dadurch erklärbar, dass man in einer
belastenden Umgebung schneller Nachwuchs zeugen muss, bevor man
das nicht mehr kann).
55 Extremer Leistungssport: Dieser Faktor und ein damit einhergehender
geringer Fettanteil verzögern den Eintritt in die Pubertät.

Die Pubertät wird eingeläutet durch verschiedene hormonelle Veränderungen.


Die folgenden drei Stationen des hypothalamisch-hypophysären Systems sind
daran maßgeblich beteiligt:
55 Hypothalamus: Er produziert das Luteinisierende-Hormon-releasing-
Hormon (LHRH) und bewirkt die Ausschüttung von LH und FSH durch
die Hypophyse.
55 Hypophyse: Sie produziert das luteinisierende Hormon (LH) und das
follikel-stimulierende Hormon (FSH), die auf die Keimdrüsen einwirken.
55 Keimdrüsen (Hoden bzw. Eierstöcke): Sie produzieren Androgene (z. B.
Testosteron) und Östrogene.

Diese Hormone bewirken verschiedene körperliche Veränderungen:


55 Arten von Veränderungen:
55 Primäre Geschlechtsunterschiede: Körperliche Veränderungen, die für
die Fortpflanzung unmittelbar notwendig sind
55 Sekundäre Geschlechtsunterschiede: Physische Veränderungen, die
Männer von Frauen unterscheiden, ohne dass sie direkt für die Fort-
pflanzung notwendig wären
280 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

55 Veränderungen, die bei beiden Geschlechtern auftreten:


55 Wachstumssprung
55 Schambehaarung
55 Achselbehaarung
55 Akne und andere Hautirritationen
55 Veränderungen bei weiblichen Jugendlichen:
55 Erste Regelblutung (Menarche)
55 Brustentwicklung
55 Wachstum der Gebärmutter
55 Veränderungen bei männlichen Jugendlichen:
55 Erster Samenerguss (Ejakularche)
5 55 Stimmbruch
55 Bartwachstum
55 Zunehmende Körperbehaarung
55 Peniswachstum
55 Veränderungen des Gehirns im Jugendalter:
55 Myelinisierung der Nervenzellen
55 Neurogenese, d. h. Ausbildung neuer Nervenzellen
55 Aussprossung vorhandener Zellen und dadurch Bildung neuer Synap-
sen
55 Besonders betroffene Hirnregionen sind: Präfrontaler Cortex und
Amygdala, d. h. die Bereiche, die für rationale Entscheidungen und
emotionale Kontrolle verantwortlich sind

Die körperlichen Veränderungen während der Jugendzeit, insbesondere die


Menarche (1. Regel) bzw. Ejakularche (1. Samenerguss) sind einschneidende
Erlebnisse. Im Allgemeinen ist die Reaktion umso positiver, je besser infor-
miert der Jugendliche über den sexuellen Reifeprozess ist. Dabei sind Mädchen
häufig deutlich besser informiert als Jungen.
Mit den körperlichen Veränderungen einher gehen auch soziale und emo-
tionale Veränderungen:
55 Stimmungsschwankungen
55 Selbstunsicherheit und Beschäftigung mit der Frage: »Wer will ich sein?«
55 Konflikte mit den Eltern durch verstärkte Abgrenzung von der Familie
55 Freunde werden zunehmend wichtiger.
55 Ausprobieren von Zigaretten, Drogen, Alkohol
55 Besondere Entwicklungsrisiken: Delinquenz, Drogenmissbrauch, Depres-
sion, Suizidalität

Die Pubertät ist eine Zeit, in der man viele Dinge zum ersten Mal erlebt. Wich-
tige Entwicklungsaufgaben und besondere Herausforderungen der Pubertät
sind:
55 Ablösung von den Eltern, damit einhergehend:
55 Viele Konflikte mit den Eltern und Diskussionen um erlaubte Frei-
räume
55 Dennoch weiterhin Bedürfnis nach Bindung und Unterstützung
55 Identitätsfindung, damit einhergehend:
55 Starke Schwankungen zwischen extremen Verhaltensweisen
55 Widersprüche in der eigenen Identität entdecken und lösen
55 Sehr große Unsicherheit in Bezug auf die eigene Person
55 Entwicklung von Sexualität, damit einhergehend sehr viel Unsicherheit
und unvorsichtiges Verhalten
5.6 • Charakteristika der Entwicklung in bestimmten Lebensphasen
281 5
5.6.3 Erwachsenenalter

Obwohl das Erwachsenenalter i. d. R. die größte Zeit unseres Lebens umfasst,
begann sich die Entwicklungspsychologie erst spät für diese Phase zu interes-
sieren. Man hielt die Kindheit und Jugend für so bestimmend für das gesamte
spätere Leben, dass man die Zeit des Erwachsenseins nicht näher betrachte-
te. Vielmehr ging man davon aus, dass es während dieser Lebensphase keine
Veränderungen mehr geben würde. Bedingt durch die sinkende Geburtenrate
sowie die steigende Lebenserwartung kommt es jedoch zur Alterung der Ge-
sellschaft, und das, was alte Menschen beschäftigt, wird nun auch mehr und
mehr zum Thema für die Entwicklungspsychologie. Darüber hinaus führen
auch sozio-kulturelle Veränderungen, wie z. B. Scheidung, zu einschneidenden
Veränderungen im Lebenslauf, die es so in früheren Gesellschaften nicht ge-
geben hat.
Man kann auf unterschiedliche Weise altern, wobei sich folgende begriff-
liche Unterscheidungen als wissenschaftlich produktiv herausgestellt hat:
55 Normales Altern (primäres Altern): Veränderungsprozesse im Alter, die
jeden treffen (z. B. Menopause, Verlust der körperlichen Leistungsfähig-
keit)
55 Pathologisches Altern (sekundäres Altern): Veränderungen im Alter, die
durch Krankheiten oder schädliche Umwelteinflüsse verursacht werden
(z. B. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Alzheimer)
55 Erfolgreiches Altern: Dem Alternden gelingt, es die auftretenden Ver-
änderungen entweder durch Prävention zu verhindern/hinauszuzögern
oder sie durch geeignetes Bewältigungsverhalten zu kompensieren. Er-
folgreiches Altern äußert sich in Gesundheit, Lebenszufriedenheit und
Wohlbefinden.
55 Differenzielles Altern: Jede Person altert auf unterschiedliche Weise.
Altern hängt aus dieser Sicht von der Interaktion zwischen Genom, Le-
bensstilen und der Verfügbarkeit kultureller Ressourcen ab, die dazu bei-
tragen, altersbedingte Belastungen zu kompensieren (Zittoun, Valsiner,
Vedeler, Salgado, Goncalves & Ferring, 2013)

Wie das Jugendalter wird das Erwachsenenalter in eine frühe (20–40 Jahre),
eine mittlere (40–65 Jahre) und eine späte (65 +) Phase eingeteilt. Dabei han-
delt es sich jedoch um eine mehr oder weniger willkürliche Einteilung, die
vorwiegend dazu dient, in der langen Zeit der Erwachsenendaseins den Über-
blick nicht zu verlieren. Die Entwicklung während des Erwachsenenalters ist
vielmehr durch Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse, d.  h.
normativ-alterskorrelierte, epochalnormierte und nicht-normative Ereignisse
(s.  7  Abschn. 5.1.3) bestimmt. Im Laufe des Erwachsenenlebens wird man mit
diversen solcher Ereignisse konfrontiert:
55 Psychosoziale Veränderungen:
55 Berufswahl und Eintritt in das Berufsleben
55 Partnerschaft und Eheleben
55 Familiengründung und Kindererziehung
55 Scheidung, alleinerziehende Eltern, erneute Heirat
55 Ruhestand und Gestaltung des plötzlichen Freiraums
55 Einsamkeit
55 Konfrontation mit Tod und Sterben
55 Biologische Veränderungen:
55 Abnahme der Seh- und Hörfähigkeit
55 Verlust von Muskelkraft und Knochenmasse
282 Kapitel 5 • Entwicklungspsychologie

55 Verringerung der Leistungsfähigkeit von Herz und Lunge


55 Ende der Zeugungsfähigkeit und Klimakterium
55 Vermehrte Anfälligkeit des Immunsystems für Krankheiten
55 Veränderungen des Schlafs (Schlaflosigkeit, frühes Erwachen)
55 Kognitive Veränderungen:
–– Abnahme der fluiden Intelligenz, keine bis geringe Abnahme der
kristallinen Intelligenz
–– Reduktion der Aufmerksamkeitsspanne

Mittlerweile liegen mehrere Theorien vor, die die Beschreibung von Ent-
wicklung im Erwachsenenalter und höheren Erwachsenenalter thematisieren
5 (Krampen & Reichle, 2002; Ferring, 2008; Lindenberger, 2002; Whitbourne,
2005):
55 Bewältigungstheorien: Um erfolgreich zu altern, muss jeder für sich
einen Weg finden, um mit den konfrontierten Ereignissen umzugehen.
Zwei sollen hier hervorgehoben werden.
55 Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK) nach
Baltes und Baltes (1990):
–– Eine erfolgreiche Entwicklung bedeutet die Maximierung von
Gewinnen und die Minimierung von Verlusten.
–– Die Entwicklung wird beeinflusst durch Selektion, Optimierung
und Kompensation.
–– Selektion: Auswahl von bestimmten Entwicklungsbedingungen,
z. B. Berufswahl
–– Optimierung: Veränderung gegebener Entwicklungsbedingungen
mit dem Ziel, Gewinne zu maximieren, z. B. Training von Fähig-
keiten
–– Kompensation: Veränderung gegebener Entwicklungsbedingun-
gen mit dem Ziel, erlittene Verluste auszugleichen, z. B. durch
Nutzung von Ressourcen
55 Zwei-Prozess-Modell der Bewältigung nach Brandtstädter (Brandts-
tädter & Renner, 1990):
–– Assimilatives Bewältigungsverhalten (hartnäckige Zielverfol-
gung): Anpassung der Umstände an eigene Ziele
–– Akkommodatives Bewältigungsverhalten (Zielanpassung): An-
passung der eigenen Ziele an die Umstände
55 Theorien, die soziale Eingebundenheit und Aktivität im Alter thematisie-
ren, sind z. B. die historisch älteren Modelle der
55 Disengagement-Theorie oder Rückzugstheorie (Cumming & Henry,
1961): Mit zunehmendem Alter zieht man sich freiwillig zurück, um
sich mehr mit sich zu beschäftigen und sich von gesellschaftlichen
Aufgaben und Rollen zu befreien.
55 Aktivitätstheorie (Havighurst, Neugarten & Tobin, 1963): Alternde
Menschen sollten soweit und solange wie möglich in gesellschaftliche
Rollen eingebunden werden. Der Rollenverlust ist für den Alternden
ungewollt und eher schädlich.

Eine aktuelle und stark rezipierte Theorie wurde von Carstensen (1993) mit
der sozioemotionalen Selektivitätstheorie vorgelegt. Die Theorie versucht die
Gestaltung des sozialen Netzes über die Lebensspanne und v. a. auch im Alter
durch die unterschiedliche Wirksamkeit von Motiven zu bestimmten Lebens-
zeiten zu erklären.
Literatur
283 5
5.7 Konklusion

Die Vielzahl der Phänomene und Entwicklungsbereiche, die hier angesprochen


wurden, verdeutlicht, wie komplex und dynamisch die menschliche Entwick-
lung verläuft. Grundsätzlich lassen sich dabei – wie wir dies weiter oben unter
dem Begriff des »differenziellen Alterns« angesprochen haben – drei zentrale
Einflussfaktoren und deren Interaktion als Erklärungen für unterschiedliche
Entwicklungsverläufe heranziehen.
Dies ist zum einen die genetische Ausstattung des Menschen mit den ent-
sprechenden Potenzialen für unseren Stoffwechsel und die Entwicklung von
anthropomorphen, psychozialen und kognitiven Merkmalen. Dies sind zum
zweiten individuelle Lebensstile innerhalb eines gegebenen sozio-kulturellen
Kontextes. Kinder können z. B. bereits sehr früh mit ungesunden Nahrungs-
mitteln und Drogen in Kontakt kommen und dies in ihr Verhalten integrieren,
um ein negatives Beispiel zu nennen. Lebensstile interagieren mit der Genetik.
Einige Kinder mögen z. B. eine genetische Ausstattung besitzen, die den Ab-
bau von ungesunden Nachrungsmitteln und Drogen fördert, während andere
Kinder einen genetisch bedingten Stoffwechsel besitzen, der die Effekte un-
gesunder Lebensführung nicht abbaut oder sogar verstärkt. Solche Prozesse
werden in der Epigenetik thematisiert, die auch die rückwirkenden Effekte
der Lebensstile auf das Genom erforscht (Zittoun et al., 2013). Zum dritten
ist hier der Begriff der Kultur zu nennen, der alle Ressourcen abbildet, die in
einer Gesellschaft zu einem gegebenen historischen Kontext verfügbar sind.
Die Impfung von Kindern ist auch heutzutage in vielen Ländern der Erde nicht
möglich ebenso wie sie in Europa in früheren Jahren nicht üblich war; die Be-
schulung von Kindern oder allgemein die Möglichkeiten der psychosozialen
und medizinischen Versorgung mit ihren technologischen Möglichkeiten bil-
den weitere kulturelle Resourcen ab.
Je nachdem, wo und wann ein Kind mit seinem spezifischen Genom und
seinen Lebensstilen in einerm bestimmten familiären Umfeld groß wird, wer-
den also unterschiedliche Impulse für das weitere Leben – wenn nicht sogar
Überleben – gesetzt. Dieses Zusammenspiel von Individuum (d.  h. Genom
und Lebensstil) und Kultur setzt sich über die Lebensspanne bis ins hohe Alter
fort und erklärt interindividuelle und intravindividuelle Unterschiede in der
menschlichen Entwicklung (vertiefend hierzu: Zittoun et al., 2013).

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Persönlichkeitspsychologie
Franziska Schmithüsen und Günter Krampen

6.1 Der Fachbereich Persönlichkeitspsychologie – 288


6.1.1 Definition und Abgrenzung – 288
6.1.2 Methoden – 289

6.2 Persönlichkeitstheorien – 290


6.2.1 Neopsychoanalytische Persönlichkeitsmodelle – 291
6.2.2 Humanistisch-kognitivistische Persönlichkeitstheorien – 292
6.2.3 Eigenschaftstheoretische Ansätze der Persönlichkeit – 294
6.2.4 Sozial-kognitive und handlungstheoretische Ansätze – 296

6.3 Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte – 297


6.3.1 Leistungs- und Fähigkeitsmerkmale – 297
6.3.2 Temperamentsmerkmale – 307
6.3.3 Selbst- und umweltbezogene Kognitionen – 310

6.4 Persönlichkeitsentwicklung – 312

Literatur – 313

F. Schmithüsen (Hrsg.), Lernskript Psychologie, Springer-Lehrbuch,


DOI 10.1007/978-3-662-44941-7_6, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
288 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

6.1 Der Fachbereich Persönlichkeitspsychologie

6.1.1 Definition und Abgrenzung

Die Persönlichkeitspsychologie beschäftigt sich mit Persönlichkeitseigen-


schaften und strukturen, genauer mit den inter- und intraindividuellen Unter-
schieden von Traits (d. h. mit Unterschieden zwischen verschiedenen Personen
und innerhalb einer Person). Die Aufgaben der Persönlichkeitspsychologie
sind entsprechend der Aufgaben der Psychologie allgemein (7 Abschn. 2.1.1):
55 Beschreibung von Persönlichkeitsvariablen, d. h. geeignete Begriffe
für Persönlichkeitseigenschaften und -strukturen finden und diese
diagnostizieren
55 Erklärung inter- und intraindividueller Unterschiede
55 Vorhersage von Erleben und Verhalten anhand von
Persönlichkeitsvariablen
6 55 Modifikation der Persönlichkeit

Persönlichkeit kann definiert werden als ein »bei jedem Menschen einzigartiges,
relativ stabiles und den Zeitablauf überdauerndes Verhaltenskorrelat« (Herr-
mann, 1976), d. h. Persönlichkeit ist ein Variablensystem, das sich in unserem
Verhalten zeigt und unser Verhalten beeinflusst. Persönlichkeitseigenschaften
nennt man auch Traits. Dies sind generalisierte Verhaltensbereitschaften
mit zeitlicher und situativer Stabilität, d. h. sie äußern sich in verschiedenen
Situationen (sie sind situationsübergreifend) und zu unterschiedlichen
Zeitpunkten. Sie werden abgegrenzt gegenüber Gewohnheiten (Habits = si-
tuationsspezifische generalisierte Reaktionsmuster) und Zuständen (States =
zeitlich begrenzte Zustände der Entspannung, Stimmung, Aufmerksamkeit).
Nach der Systematik von Krampen (2002) gibt es drei verschiedene Grup-
pen von Persönlichkeitseigenschaften: Leistungs- und Fähigkeitsmerkmale
(z. B. Intelligenz), Temperamentsmerkmale (z. B. Extraversion) sowie Selbst-
und umweltbezogene Kognitionen (z.  B. Selbstkonzept). Diese Persönlich-
keitseigenschaften bzw. -konzepte werden aus unterschiedlichen theoretischen
Perspektiven betrachtet (. Abb. 6.1). Entsprechend ist auch dieses Kapitel  auf-
gebaut: Zunächst werden die verschiedenen Blickwinkel betrachtet (Persön-
lichkeitstheorien) und anschließend verschiedene Persönlichkeitskonzepte
beleuchtet.
Ein Fachbereich mit großen Überschneidungen mit der Persönlichkeits-
psychologie ist die differentielle Psychologie. Sie beschäftigt sich mit jeglichen
inter- und intraindividuellen Unterschieden, d. h. auch mit Habits, States und
anthropometrischen Merkmalen (z.  B. Körpergröße), jedoch nicht mit den
Fragen nach der Persönlichkeitsstruktur. Das Verhältnis der Persönlichkeits-
psychologie zu anderen Disziplinen der Psychologie kann folgendermaßen be-
schrieben werden:
55 Allgemeine Psychologie: Persönlichkeitsmerkmale spielen keine Rolle, sie
sind Teil der »Fehlervarianz« bei der Bestimmung allgemeiner Gesetzmä-
ßigkeiten im Verhalten und Erleben.
55 Biopsychologie: Überschneidung mit der Persönlichkeitspsychologie in
Bezug auf die körperlichen Grundlagen von Persönlichkeitsmerkmalen
55 Sozialpsychologie: Überschneidung mit der Persönlichkeitspsychologie
in Bezug auf die Persönlichkeitseigenschaften, die Auswirkungen auf das
Sozialleben haben (z. B. Aggressivität, objektive Selbstaufmerksamkeit)
6.1 • Der Fachbereich Persönlichkeitspsychologie
289 6

Persönlichkeitstheorien
6.2

Humanistisch- Eigenschafts-
Neopsychoanalytische
kognitivistische theoretischer Ansatz
Persönlichkeitsmodelle
Persönlichkeitstheorien der Persönlichkeit

Sozial-kognitive und
Psychoanalytische
handlungstheoretische
Persönlichkeitsmodelle
Ansätze

Persönlichkeitskonzepte 6.3

Umweltbezogene
Temperaments-
Leistungs- und

Kognitionen
Selbst- und
Fähigkeits-
merkmale

merkmale

Persönlichkeitsentwicklung 6.4

. Abb. 6.1  Übersicht über das Kapitel: Die verschiedenen Persönlichkeits-


theorien (7 Abschn. 6.2) betrachten aus unterschiedlichen Blickwinkeln die
Persönlichkeitskonzepte (7 Abschn. 6.3). Persönlichkeitsentwicklung (7 Abschn. 6.4)
beschäftigt sich mit der Entstehung und Veränderung von Persönlichkeit

55 Entwicklungspsychologie: Deutliche Überschneidung mit der Persönlich-


keitspsychologie in Bezug auf die Entwicklung von Persönlichkeitsmerk-
malen

6.1.2 Methoden

Um Persönlichkeitseigenschaften und inter- sowie intraindividuelle Unter-


schiede zu beschreiben, kann man ganz allgemein auf unterschiedliche
Zugänge zurückgreifen:
55 Vorwissenschaftlich: Theosophisch (gottesbestimmte Unterschiede
zwischen Menschen)
55 Deduktiv: Vom Allgemeinen auf das Einzelne
55 Induktiv: Vom Einzelnen auf das Allgemeine
55 Idiographisch: Einzelne Person beschreibend
55 Meta-idiographisch: Sammeln von Einzelpersonen mit Klassifizierung
nach Typen der 3. Art
55 Empirisch, experimentell
55 Nomothetisch: Nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten suchend

Um Daten für die Forschung zu erhalten, nutzt man verschiedene Arten von
Persönlichkeitsdiagnostik. Als Eselbrücke dient »LOTS of Data« (nach Pervin,
Cervone & John, 2005):
290 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

55 L-Daten = Life record data, d. h. objektive, biographische Informationen,


z. B. durch Anamnese
55 O-Daten = Observer data (L’-Daten nach Cattell), d. h. Fremdbeurtei-
lungen, z. B. durch Diagnostiker, aber auch durch Vorgesetzte, Lehrer,
Bekannte, Verwandte o. ä.
55 T = Test data, d. h. objektive Testdaten, z. B. Intelligenztests, bei denen
die Antworten nicht willentlich simuliert, d. h. verbessert (jedoch
dissimuliert) werden können.
55 S = Self-report data (Q-Daten nach Cattell; question), d. h. Selbstaussagen
und -beurteilungen, z. B. in (teil-)strukturierten Interviews oder in
Fragebögen.

Als für die Persönlichkeitspsychologie besonders bedeutsame Forschungsme-


thoden können zwei grundlegende unterschieden werden:
6 55 Multivariate Persönlichkeitsforschung: Reduktion von großen Datensät-
zen mithilfe von:
55 Faktorenanalyse und Clusteranalyse: Viele empirisch erfasste
(manifeste) Variablen (wie etwa Testaufgaben oder Fragebogenitems)
werden zu weniger Faktoren bzw. Cluster (latente Variablen, hypothe-
tische Konstrukte, Persönlichkeitskonstrukte) zusammengefasst.
55 (Multiple) Regressionsanalyse: Man ermittelt die Beziehung zwischen
einer abhängigen und einer oder mehreren unabhängigen Variablen.
55 Kanonische Korrelationsanalyse: Man ermittelt die Beziehungen zwi-
schen zwei multivariaten Datensätzen.
55 Experimentelle Persönlichkeitsforschung:
55 Kausalanalytische Forschung mithilfe von abhängigen und
unabhängigen Variablen
55 Differentialpsychologische Experimente: Minimal zwei unabhängige
Variablen; eine davon ist das Persönlichkeitsmerkmal, das allerdings
nicht in randomisierter Weise zugewiesen werden kann und dessen
Haupt- und Interaktionseffekte auf eine abhängige Variable analysiert
werden.
55 Auswertungsmethode: Varianzanalyse

Ausgangspunkt oder Ergebnis der Erforschung von Persönlichkeitsmerkmalen


sind in aller Regel Persönlichkeitstheorien oder -taxonomien. Da es derer viele
gibt, benötigt man Kriterien für die Bewertung von Theorien. Je mehr eine
Theorie folgende Anforderungen erfüllt, umso besser ist sie:
55 Explizitheit und Klarheit
55 Widerspruchsfreiheit
55 Empirische Prüfbarkeit
55 Vollständigkeit
55 Sparsamkeit
55 Produktivität für Forschungs- und Anwendungspraxis

6.2 Persönlichkeitstheorien

Die verschiedenen Persönlichkeitstheorien haben unterschiedliche Zugänge


zur Persönlichkeit. Die psychoanalytischen Persönlichkeitstheorien von Freud
(1. und 2. Strukturmodell, Theorie der Abwehrstrategien) werden hier nicht
erneut erläutert, da diese bereits unter 7 Abschn. 1.3.3 zu finden sind. Deshalb
6.2 • Persönlichkeitstheorien
291 6

Persönlichkeitstheorien

Humanistisch- Eigenschafts-
Neopsychoanalytische
kognitivistische theoretischer Ansatz
Persönlichkeitsmodelle
Persönlichkeitstheorien der Persönlichkeit
Jung Adler Kelly Rogers Allport Cattell Eysenck Big Five

Sozial-kognitive und
Psychoanalytische
handlungstheoretische
Persönlichkeitsmodelle
Ansätze
Freud Rotter Bandura

. Abb. 6.2  Die verschiedenen theoretischen Ansätze im Überblick und die zugehöri-
gen Forscherpersönlichkeiten bzw. Schlagworte

beginnt der Abschnitt mit den neopsychoanalytischen Persönlichkeitsmodel-


len. Anschließend werden die humanistisch-kognitivistischen Persönlichkeits-
theorien, eigenschaftstheoretische Ansätze sowie sozial-kognitive und hand-
lungstheoretische Ansätze präsentiert (. Abb. 6.2).

6.2.1 Neopsychoanalytische Persönlichkeitsmodelle

Die neopsychoanalytischen Persönlichkeitsmodelle entwickelten sich im We-


sentlichen aus der Kritik an Freuds Theorien.
55 Komplexe analytische Psychologie von Jung (2011):
55 Schwerpunkte der Theorie: Beschreibung der Persönlichkeitsstruktur
des Menschen und Ablauf von Persönlichkeitsveränderung
55 Jung lehnt die Libidotheorie Freuds ab: Er deutet den Begriff der Libi-
do als allgemeine zielgerichtete, seelische Energie um und widerspricht
damit Freuds Auffassung der Libido als rein sexueller Energie.
55 Jung weitet die 1. Strukturtheorie Freuds zur Theorie des kollektiven
Unbewussten aus. Bei Jung besteht die Persönlichkeit aus:
–– Persönliches Unbewusstes: Es umfasst die individuell verdräng-
ten Erfahrungen (wie bei Freud).
–– Kollektives Unbewusstes: Es umfasst die psychischen Muster, die
sich während der Evolution im menschlichen Unbewussten ange-
sammelt haben. Jung meint damit, dass sich kollektiv wiederholte
Vorstellungen (die z. B. durch Mythen übermittelt werden) zu
sog. Archetypen entwickeln. Archetypen sind Vorstellungsmuster
oder Urbilder, die z. T. ambivalent angelegt sind, z. B. Anima (das
Weibliche) vs. Animus (das Männliche), das Gute vs. das Böse.
55 Jung prägte in diesem Zusammenhang vier weitere wichtige Begriffe:
–– Selbst: Es umfasst alle bewussten und unbewussten Anteile der
Psyche.
–– Persona: Eine nach außen gerichtete Hülle des Selbst, also das,
was der Mensch nach außen von seinem Selbst zeigt
–– Schatten: Ein negativer Archetypus, der die verdrängten Persön-
lichkeitsanteile umfasst
–– Komplex: Eine autonome Einheit der Psyche, die zwischen Selbst
und kollektivem Unbewussten vermittelt
292 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

55 Prozess der Persönlichkeitsentwicklung (Individuation): Die Indi-


viduation ist ein lebenslanger Prozess, bei dem es notwendig ist, die
Archetypen aufzudecken und sich mit ihnen zu konfrontieren. Das
Ziel von Individuation ist die Ganzheit im Selbst, d. h. der Mensch
muss beide Pole eines Archetyps (z. B. das Männliche und das Weib-
liche) in sich akzeptieren. Um eine Persönlichkeitsveränderung zu
erreichen, arbeitete Jung in der Therapie im Gegensatz zu Freud nicht
nur mit freien, sondern v. a. mit gebundenen Assoziationen, die nicht
nur, aber insbesondere bei Analysen von Inhalten des kollektiven Un-
bewussten wichtig sind.
55 Individualpsychologie von Adler (1974):
55 Schwerpunkte der Theorie: Beschreibung der Persönlichkeitsvariablen
Minderwertigkeit und Selbstverwirklichung sowie Ablauf von Persön-
lichkeitsveränderung mithilfe von Individualtherapie
55 Grundannahmen von Adler:
6 –– Ähnlich wie Jung versteht auch Adler die Libido als allgemeine
und nicht als sexuelle Energie.
–– Darüber hinaus war für Adler alles Verhalten final ausgerichtet,
d. h. es verfolgt ein Ziel, nämlich die Überwindung des
Minderwertigkeitsgefühls.
–– Ein soziales Interesse ist dem Menschen angeboren.
55 Persönlichkeitsstruktur bei Adler: Die treibende Kraft der Psy-
che ist das Minderwertigkeitsgefühl, das der Mensch durch sein
Geltungsstreben zu kompensieren versucht.
55 Wurzeln der Minderwertigkeit: Genetisch (z. B. Hilflosigkeitserfah-
rungen des Säuglings bei Ernährung, Versorgung), organisch (z. B.
objektive oder auch nur subjektive körperliche Mängel), situativ (z. B.
Hilflosigkeitserfahrungen in bestimmten Lebenssituationen), sozial
(z. B. Erlebnisse sozialer Ausgrenzung, Abwertung, Ironie)
55 Veränderung von Persönlichkeit findet durch die Individualtherapie
statt, in der es um Selbsterkennung und Selbstakzeptanz geht.

6.2.2 Humanistisch-kognitivistische
­Persönlichkeitstheorien

Die humanistisch-kognitivistischen Persönlichkeitstheorien betrachten den


Menschen mit einem wohlwollenderen Auge als die psychoanalytischen und
neopsychoanalytischen Theorien. Besonders gut zeigt sich dieser Unterschied in
den Vorstellungen von Therapie: Psychoanalytische und neopsychoanalytische
Theorien arbeiten viel mit dem Widerstand des Patienten und hinterfragen kri-
tisch das, was er sagt. Beim humanistischen Ansatz sollen die Menschen ernst
genommen werden, und man vertraut auf das eigene Streben nach Entwicklung
und Veränderung. Deutlich wird dieser Unterschied auch in den verschiede-
nen Bezeichnungen für den Hilfesuchenden: Während die Psychoanalytiker
und Neopsychoanalytiker von »Patienten« sprechen, nennen Humanisten ihr
Gegenüber »Klient«, um die Gleichstellung deutlich zu machen. Klassische
humanistisch-kognitivistische Theorien sind etwa:
55 Theorie der persönlichen Konstrukte von Kelly (1955):
55 Schwerpunkte der Theorie: Vorhersage von Erleben und Verhalten
sowie Persönlichkeitsveränderung durch Fixed Role Therapy
55 Menschenbild: Der Mensch ist Wissenschaftler, d. h. er konstruiert
sich die Welt aus seinen Erfahrungen ähnlich wie der Wissenschaftler
eine Theorie konstruiert.
6.2 • Persönlichkeitstheorien
293 6
55 Grundannahmen:
–– Die interindividuellen Unterschiede, d. h. die persönlichen Kons-
trukte bestimmen das Erleben und Verhalten. Will man Erleben
und Verhalten vorhersagen, muss man diese Konstrukte ermit-
teln.
–– Konstruktsysteme sind hierarchisch aufgebaut. Problematisch
werden Konstruktsysteme dann, wenn sie trotz Ungültigkeit
weiter genutzt und nicht korrigiert werden.
–– Kognitivistische Grundhaltung: Persönliche Konstrukte entste-
hen aus der Interpretation der Umwelterfahrungen. Sie dienen
der Kategorisierung der Welt.
–– Humanistische Grundhaltung: Das Konstruktsystem ist einzig-
artig und ganzheitlich, es verändert sich und expandiert.
55 Persönlichkeitsdiagnostik erfolgt über den Role Construct Repertory-
Test (REP-Test): Es handelt sich um ein teilstrukturiertes, offenes, qua-
litatives Interview, welches das Konstruktrepertoire eines Menschen
erfasst.
55 Die Veränderung von Persönlichkeit erfolgt über die Fixed Role
Therapy: Man tritt aus seinen bekannten Rollen heraus und spielt
neue, alternative Rollen, um neue Konstrukte zu generieren und
auszuprobieren. Dies ist heute eine Behandlungstechnik der
kognitiv-behavioralen Psychotherapie.
55 Kritik: Kelly verfolgte einen rein idiographischen Ansatz. Verallgemei-
nerungen der Theorie sind deshalb nur schwer möglich.
55 Phänomenologische Persönlichkeitstheorie von Rogers (1987):
55 Schwerpunkte der Theorie: Beschreibung von Persönlichkeitsvariablen
(Selbst, Ideal- und Real-Selbst) sowie Ablauf von Persönlichkeitsver-
änderung durch klientzentrierte Beratung und Therapie
55 Menschenbild: Der Mensch ist grundlegend gut und strebt nach
Selbstaktualisierung.
55 Grundannahmen:
–– Definition von Selbst: Das Selbst ist das Objekt der Wahrneh-
mung (»self as object«), d. h. das Selbst besteht aus organisierten
Wahrnehmungsmustern und ist immer subjektiv. Das Real-Selbst
umfasst alle Persönlichkeitsanteile, die man tatsächlich hat bzw.
bei sich in dieser Form als gegeben ansieht. Das Ideal-Selbst um-
fasst Wünsche und Erwartungen an die eigene Person.
–– Die seelische Gesundheit wird gefährdet, wenn Real- und Ideal-
Selbst zu stark voneinander abweichen. Dann kommt es zu In-
kongruenz, d. h. zu einem psychischen Spannungszustand.
–– Der Mensch strebt nach Selbstaktualisierung, d. h. er strebt
danach, sein Selbst weiterzuentwickeln und das Real-Selbst dem
Ideal-Selbst anzunähern. Je besser das gelingt, umso gesünder
ist er. Ausnahme davon ist eine vollkommene Deckung von
Real- und Ideal-Selbst, bei der theoretisch keine Motivation zum
Handeln mehr vorhanden ist.
55 Persönlichkeitsdiagnostik, d. h. die Diagnostik des Selbst erfolgt bei
Rogers über Fragebogendaten oder über Adjektivsortiertechniken,
z. B. Q-Sort-Technik (Statements werden nach Real- und Ideal-Selbst
auf einer Skala von 1–9 sortiert).
55 Die Veränderung von Persönlichkeit erfolgt durch klientzentrierte
Psychotherapie, in der die Inkongruenz aufgedeckt und aufgelöst wird.
294 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

55 Kritik: Rogers Ansatz ist relativ einseitig und beschränkt sich auf das
Selbst. Die Ursache von Störungen wird nur allgemein als Inkongruenz
beschrieben.

6.2.3 Eigenschaftstheoretische Ansätze der Persönlichkeit

Die eigenschaftstheoretischen Ansätze der Persönlichkeit versuchen, die Be-


schreibung von Persönlichkeitsvariablen zu optimieren, d. h. die menschliche
Persönlichkeit möglichst umfassend zu beschreiben. Sie gehören zur faktoren-
analytischen Tradition, da man die Technik der Faktorenanalyse genutzt hat,
um große Datenmengen (Fragebogen- und Testitems) auf die Kernpersönlich-
keitsmerkmale zu reduzieren. Man nennt sie auch S-R-theoretische Persönlich-
keitsmodelle. Gemeint ist damit, dass dem behavioristischen Verhaltensmodell
S-R (Situation-Reaktion) eine Variable hinzugefügt wird: die O-Variable (für
6 Organismus). Sie beinhaltet alle Eigenschaften einer Person, die die Verhaltens-
gleichung beeinflussen können. Zudem sind Fragebogenitems und Testaufga-
ben i. d. R. nach dem S-R-Prinzip konstruiert. Vertreter dieses Ansatzes sind:
55 Trait-Ansatz von Allport (1937):
55 Allport beschäftigte sich mit der Einzigartigkeit und der Vielfalt der
Menschen und versuchte, die Persönlichkeitsvariablen zu ermitteln,
die das Verhalten und Erleben bestimmen.
55 Zunächst hat er sich ganz grundlegend damit beschäftigt, was Persön-
lichkeit überhaupt ist, und hat viele Definitionen zusammengetragen.
Seine Definition war schließlich, dass Persönlichkeit diejenigen psy-
chophysischen Systeme umfasst, die für die einzigartige Anpassung an
die Lebensumwelt notwendig sind. Persönlichkeit ist damit einzigartig
und stabil, wenngleich auch veränderbar.
55 Allport verfolgte dabei sowohl einen idiographischen als auch einen
nomothetischen Forschungsansatz.
55 Zusammen mit Odbert (Allport & Odbert, 1936) versuchte er, mithilfe
des lexikalischen Ansatzes Persönlichkeit grundlegend und umfassend
zu beschreiben. Gemeinsam durchforsteten sie ein Wörterbuch nach all
jenen Wörtern, mit denen man Unterschiede zwischen Menschen und
die Persönlichkeit beschreiben kann. Auf diese Weise ermittelten sie
18.000 Wörter. Allport sortierte die Worte in Kategorien, reduzierte die
Datenmenge aber nicht weiter. Mit seiner Analyse legte er jedoch den
Grundstein für die Analyse grundlegender Persönlichkeitseigenschaften.
55 Persönlichkeitskonzeption von Cattell (1946):
55 Schwerpunkt von Cattells Ansatz: Umfassende Beschreibung von
Persönlichkeit
55 Persönlichkeitsforschung:
–– Auch Cattell ging von der S-O-R-Verhaltensgleichung aus
und definierte Persönlichkeit (O) als die Gesamtheit von
nicht-situativen Verhaltensbedingungen.
–– Cattell verfolgte einen nomothetischen Ansatz, mit dem An-
spruch einer umfassenden Beschreibung der Persönlichkeit.
Mithilfe der Faktorenanalyse erstellte er ein hierarchisches
Persönlichkeitsmodell mit 16 Faktoren erster Ordnung und fünf
Faktoren zweiter Ordnung.
–– Persönlichkeitsdiagnostik: Cattell entwickelte u. a. den 16-Persön-
lichkeits-Faktoren-Test (16PF), der im Multiple-Choice-Format
mit 192 Items 16 Persönlichkeitsvariablen erfasst.
6.2 • Persönlichkeitstheorien
295 6
–– Darüber hinaus versuchte Cattell, Verhalten mithilfe der Spezifi-
kationsgleichung vorherzusagen, d. h. das Verhalten wird anhand
von situationsspezifisch gewichteten Traits vorhergesagt.
55 Intelligenzforschung:
–– Cattell beschäftigte sich neben der Beschreibung von Charakter-
eigenschaften auch mit Intelligenz. Zusammen mit Horn entwi-
ckelte er die Theorie der kristallisierten und fluiden Intelligenz.
–– Kristallisierte (verfestigte) Intelligenz: Sie umfasst Wortschatz,
Allgemeinwissen, mathematisches Denken und vieles mehr (d. h.
in etwa das, was im Rahmen der formalen (Schul-)Bildung inten-
tional gelehrt und gelernt wird).
–– Fluide (flüssige) Intelligenz: Sie umfasst räumliches
Denken, Gedächtnisspanne, Tempo und Umfang der
Informationsaufnahme und -verarbeitung.
55 Biopsychologische Persönlichkeitstheorie von Eysenck (1953, 1967):
55 Schwerpunkte der Theorie: Beschreibung von Persönlichkeit und Er-
klärung der interindividuellen Unterschiede mithilfe von biologischen
Faktoren
55 Wie Cattell arbeitete Eysenck mit der Faktorenanalyse und versuchte,
ein hierarchisches Persönlichkeitsmodell zu erstellen. Er entwickelte
jedoch ein sparsameres Modell als Cattell, nämlich mit zehn bis 15
Faktoren erster Ordnung und zwei bis drei Faktoren zweiter Ordnung
(sog. Big Two: Extraversion und Neurotizismus). Durch die Zweidi-
mensionalität der Faktoren entstanden vier grundlegende Persönlich-
keitstypen, anhand derer die Charakterbeschreibungen der antiken
Temperamentslehre als Extremtypen rekonstruiert werden können.
Später fügte Eysenck noch eine dritte Variable zweiter Ordnung hinzu,
die als Psychotizismus bezeichnet wurde, empirisch aber weniger gut
abgesichert werden konnte als die beiden anderen.
55 Anschließend versuchte Eysenck, die biologischen Grundlagen für
diese beiden Faktoren zu finden.
–– Er vermutete, dass Extraversion mit der Erregbarkeit des Nerven-
systems (genauer des aufsteigenden retikulären Aktivierungs-
systems, ARAS) zu tun habe, weil das ARAS bei Introvertierten
empfindlicher reagiere und deshalb nicht so viele Reize vertrage.
a Dafür gibt es empirische Belege.
–– Er vermutete, Neurotizismus/emotionale Labilität vs. Stabilität
hingen mit der Stressanfälligkeit des Nervensystems zusammen.
a Dafür gibt es aber keine gesicherten Belege.
–– Für Eysenck sind damit die Grundlagen der Persönlichkeits-
merkmale angeboren. Sie entwickeln sich allerdings in Wechsel-
wirkung mit der Umwelt weiter und sind, wenn überhaupt, durch
Verhaltenstherapie zu verändern.
55 Persönlichkeitsdiagnostik: Eysenck entwickelte zahlreiche kürzere
Fragebogeninventare zur Erfassung dieser Persönlichkeitsmerkmale,
u. a. das Eysenck-Persönlichkeits-Inventar (EPI).
55 Kritik: Eysencks Forschung haftet ein politischer Charakter an.
Aufgrund seiner Auffassung, Persönlichkeit und Intelligenz seien
angeboren, und seiner Studien zu Intelligenzunterschieden bei ver-
schiedenen Rassen machte man ihm den Vorwurf des Rassismus.
55 5-Faktoren-Modell der Persönlichkeit (Big Five) von Costa und McCrae
(Borkenau & Ostendorf, 2008):
296 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

55 Schwerpunkt des Ansatzes: Umfassende Beschreibung von Persönlich-


keitsvariablen
55 Sehr viele faktorenanalytische Auswertungen unterschiedlich um-
fangreicher Persönlichkeitsfragebogen konvergierten in ähnlichen
Faktorlösungen, die (historisch auf dem Hintergrund der lexikalischen
Vorarbeiten von Allport und Odbert) allgemein als die fünf »großen
Persönlichkeitsfaktoren« beschrieben werden:
–– Neurotizismus (emotionale Labilität vs. Stabilität), z. B. ängstlich,
nervös vs. ruhig, gelassen
–– Extraversion vs. Introversion, z. B. gesprächig, aktiv vs. zurück-
haltend, ruhig
–– Offenheit für Neues, z. B. neugierig, fantasievoll, einfallsreich
–– Verträglichkeit, z. B. mitfühlend, freundlich, kooperativ
–– Gewissenhaftigkeit, z. B. organisiert, sorgfältig
55 Persönlichkeitsdiagnostik: Costa und McCrae entwickelten zur
6 Erfassung der Big Five u. a. den NEO-FFI (NEO = Akronym aus
den drei Faktoren Neurotizismus, Extraversion und Offenheit; FFI =
Fünf-Faktoren-Inventar), der mit 60 Items ein relativ ökonomisches
diagnostisches Instrument ist.

6.2.4 Sozial-kognitive und handlungstheoretische Ansätze

Die sozial-kognitiven und handlungstheoretischen Ansätze zur Persönlich-


keit kommen aus der neobehavioristischen und handlungstheoretischen For-
schungstradition, d. h. sie betten zeitlich stabile Persönlichkeitsmerkmale in
spezifische soziale Lern- und Handlungsmodelle ein. Die Theorien sind im
Einzelnen:
55 Soziale Lerntheorie der Persönlichkeit (SLT) von Rotter (1954):
55 Sie basiert auf den Erwartungs-Wert-Theorien aus dem Bereich der
Motivationspsychologie.
55 Sie nimmt an, dass spezifische Situationen im Individuum Erwartun-
gen entstehen lassen, die sein Handeln steuern.
55 Persönlichkeitsvariablen sind in diesem Modell generalisierte Erwar-
tungen.
55 Rotter beschrieb insbesondere das Persönlichkeitsmerkmal des In-
ternal vs. External locus of control (Kontrollüberzeugungen), d. h.
Überzeugungen darüber, wo die Kontrolle für das eigene Erleben und
Verhalten liegt (internal = in einem selbst; external = außerhalb von
einem selbst).
55 Theorie der Selbstwirksamkeit von Bandura (1997):
55 Bandura beschäftigte sich in dieser Theorie mit der Beschreibung des
Persönlichkeitsmerkmals der subjektiven Selbstwirksamkeit, das für
ihn die zentrale, universelle Effekt- und Zielgröße jeder Psychothera-
pie und psychologischen Intervention sowie ein Schutzfaktor für die
seelische Gesundheit ist.
55 Selbstwirksamkeit ist die Erwartung, dass in Lebenssituationen
Handlungsmöglichkeiten vorhanden sind, dass man also selbst die
Handlungskontrolle hat. Es gibt hier viele Überschneidung zum Locus
of control (hohe Selbstwirksamkeit = Internal locus of control).
55 Handlungstheoretisches Partialmodell der Persönlichkeit (HPP) von
Krampen (2000, 2002):
6.3 • Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte
297 6
55 Integration verschiedener sozial-kognitiver Persönlichkeitstheorien zu
einem Persönlichkeitsmodell zu selbst- und umweltbezogenen Kogni-
tionen
55 Das HPP umfasst neben situationsspezifischen Erwartungen und Va-
lenzen (Zielbewertungen) die allgemeinen Wert- und Zielorientierun-
gen sowie die generalisierten Erwartungen
–– des Selbstkonzept eigener Fähigkeiten,
–– der Kontrollüberzeugungen,
–– des Vertrauens,
–– des Konzeptualisierungsniveaus und
–– der Hoffnungslosigkeit (Pessimismus vs. Optimismus).

6.3 Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte

Die klassischen Persönlichkeitskonzepte können in drei übergreifende The-


mengebiete eingeteilt werden, die in .  Abb.  6.3 dargestellt sind (Krampen,
2002):
55 Temperamentsmerkmale:
55 Merkmale, die den Charakter einer Person beschreiben
55 Sie sind meistens nicht normativ, d. h. eine bestimmte Merkmalsaus-
prägung (z. B. intro- oder extrovertiert) wird nicht als besser oder
schlechter bewertet.
55 Sie werden meistens über S-Daten, O-Daten und manchmal über T-
Daten ermittelt.
55 Leistungsmerkmale:
55 Merkmale, die die Leistungsfähigkeit einer Person beschreiben
55 Sie sind meistens normativ, d. h. eine bestimmte Merkmalsausprägung
(z. B. hohe Intelligenz) wird als besser/richtiger/gesünder/wünschens-
werter bewertet.
55 Sie werden immer über T-Daten ermittelt, da diese hier kaum nach
oben verfälschbar sind.
55 Selbst- und umweltbezogene Kognitionen:
55 Merkmale, die generalisierte Überzeugungen und Erwartungen um-
fassen, d. h. Merkmale, die beschreiben, wie Menschen sich selbst und
ihre Umwelt über einen langen Zeitraum sehen
55 Sie sind zum Teil normativ (z. B. Selbstwirksamkeit).
55 Sie werden über S-Daten, selten über O-Daten erfasst.

Anhand der Aufgabenstellungen der Persönlichkeitspsychologie werden aus-


gewählte Persönlichkeitsmerkmale im Folgenden vorgestellt (in Anlehnung an
Krampen, 2007):
55 Beschreibung des Merkmals: Definition und Operationalisierung
55 Zugehörige Theorien und Modelle: Erklärung und Vorhersage von
Erleben und Verhalten
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals: Entwicklung und Modifikation

6.3.1 Leistungs- und Fähigkeitsmerkmale

Intelligenz
Das Merkmal Intelligenz ist das am besten erforschte Persönlichkeitsmerkmal.
Das mag an seiner langen Forschungsgeschichte und auch daran liegen, dass
298 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

Persönlichkeitskonzepte

Intelligenz Extraversion
Emotionale
Kreativität Labilität Selbstkonzept

Konzentration Ängstlichkeit Schüchternheit


Soziale Bewertungs-
Aggressivität
Kompetenz dispositionen

Temperaments-
Leistungs- und

Kognitionen
Selbst- und
Fähigkeits-

bezogene
merkmale

merkmale

Umwelt-
6

. Abb. 6.3  Übersicht über die Einteilung der Persönlichkeitskonzepte und die
zugehörigen, in diesem Kapitel  vorgestellten Merkmale

es möglichst grundlegend versucht, die Leistungsfähigkeit von Personen zu


erfassen. Es ist damit für Anwendungsbereiche wie z. B. die Personalauswahl
ein wichtiges Instrument.
55 Beschreibung und Erfassung des Merkmals:
55 Mit der Aufgabe, Intelligenz zu definieren, haben sich viele Forscher
schwer getan. Letztlich hat jede Theorie eine eigene Intelligenzdefini-
tion hervorgebracht. Prinzipiell gibt es jedoch drei verschiedene Wege,
um zu einer Definition zu gelangen:
–– Verbalistische Intelligenz-Definition: Ein Forscher definiert
sprachlich-inhaltlich, was er unter Intelligenz versteht, z. B. Intel-
ligenz nach Spearman: Fähigkeit, Beziehungen und Zusammen-
hänge zu erkennen.
–– Operationale Intelligenz-Definition: Intelligenz wird mithilfe des
Messinstruments definiert, d. h. etwas vereinfacht: Intelligenz ist
das, was der Intelligenztest misst.
–– Kriteriumsbezogene Intelligenz-Definition: Intelligenz wird mit-
hilfe dessen definiert, was vorhergesagt werden soll bzw. kann,
z. B. Kriterien wie Schul- oder Berufserfolg.
–– Die Operationalisierung erfolgt vorwiegend über T-Daten, z. B.
WIE (Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene), I-S-T (Intelli-
genz-Struktur-Test), BIS-T (Berliner-Intelligenzstrukturtest), LPS
(Leistungsprüfsystem), Progressiver Matrizen-Test nach Raven,
CFT (Culture-Fair-Test).
–– Die verschiedenen Intelligenztests lassen sich nach Ein-
zel- und Gruppentests, verbalen und kulturfreien (weniger
sprachgebundenen) Testverfahren, eindimensionalen und
mehrdimensionalen Tests sowie spezifischen Tests für Kinder,
Jugendliche, Erwachsene und Senioren gruppieren.
55 Intelligenzmessung erfolgt über den Intelligenzquotienten (IQ): Der
IQ ist ein nach Altersgruppen genormtes Maß für die allgemeine
6.3 • Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte
299 6
intellektuelle Leistungsfähigkeit. Sinnvoll erfasst werden kann der IQ
im Wertebereich 55–145 (Mittelwert = 100, Standardabweichung = 15).
55 Gefahren bei der Nutzung von Intelligenztests: Intelligenztests erschei-
nen weniger fehleranfällig als andere Erhebungsmethoden (z. B. Frage-
bögen), sind dies aber nicht. Der IQ liegt genauso in einem Konfidenz-
intervall wie das bei allen anderen Tests auch der Fall ist.
55 Zugehörige Theorien und Modelle (. Abb. 6.4):
55 Zwei-Faktorentheorie der Intelligenz nach Spearman (1904):
–– Nach Spearman besteht Intelligenz aus zwei Faktoren: den »spe-
zifischen Intelligenzfaktoren s«, z. B. die verbale und die prakti-
sche Intelligenz, und deren Zusammenfassung zum »Generalfak-
tor g« der allgemeinen Intelligenz.
55 Theorie der sieben Primärfaktoren der Intelligenz nach Thurstone
(1938):
–– Nach Thurstone gibt es sieben Faktoren der Intelligenz: Sprach-
verständnis, rechnerisches Denken, räumliches Denken, schluss-
folgerndes Denken, Wahrnehmungsgeschwindigkeit (wie viele
Informationen man in einer bestimmten Zeit aufnehmen kann),
verbale Flüssigkeit (wie schnell assoziiert wird), Gedächtnisspan-
ne (wie lange etwas behalten werden kann).
–– Im Gegensatz zu Spearman gibt es für Thurstone keinen allge-
meinen Intelligenzfaktor.
55 Dreidimensionales (Würfel-)Modell des Intellekts nach Guilford (1959,
1967):
–– Guilford geht davon aus, dass der Intellekt durch drei Dimensio-
nen bestimmt werden kann: Fünf Denkoperationen (Erkennt-
nisvermögen, Gedächtnis, divergente Produktion, konvergente
Produktionen, Evaluation/Bewertung), vier Denkinhalte (figural,
symbolisch, semantisch, behavioral), sechs Denkprodukte (Ein-
heiten, Klassen, Beziehungen, Systeme, Transformationen, Impli-
kationen).
–– Guilford nahm an, dass die drei Dimensionen unabhängig von-
einander sind, und kam deshalb auf 5 × 4 × 6 = 120 potenzielle
Intelligenzfacetten (es konnten jedoch nur 90 operationalisiert
werden).
–– Guilfords Verdienste sind v. a. heuristischer Art, da er die Intelli-
genzforschung erheblich stimulierte und neben konvergenten (es
gibt nur eine Lösung des Problems) auch divergente Denkleistun-
gen (es gibt mehrere Lösungen des Problems) beachtet.
55 Berliner Intelligenzstrukturmodell nach Jäger (1973, 1984):
–– Jäger versuchte, das Modell von Guilford mithilfe der Faktoren-
analyse handhabbarer zu machen. Er ließ die Denkprodukte ganz
weg und reduzierte die Denkinhalte empirisch auf drei (figural,
verbal, numerisch) und die Denkoperationen auf vier (Bearbei-
tungsgeschwindigkeit, Gedächtnis, Einfallsreichtum, Verarbei-
tungskapazität).
–– Auf diese Weise ergeben sich nur noch 3 × 4 = 12 Intelligenzfacet-
ten, die über Testaufgaben gut erfassbar sind und auch zu einem
Generalfaktor der Intelligenz zusammengefasst werden können.
55 Theorie der kristallisierten und fluiden Intelligenz nach Horn und
Cattell (1966): Nach Horn und Cattell gibt es zwei große Teilbereiche
der Intelligenz:
300 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

Faktorentheorie der
Generalfaktor g

Spearman: Zwei-

Intelligenz

verbalistisch

praktisch
Primärfaktoren der

Wahrnehmungs-
geschwindigkeit
Rechnerisches
Thurstone: 7

Gedächtnis-
verständnis

Räumliches

Flüssigkeit
Intelligenz

Denken

Denken
Sprach-

Verbale

spanne
6

Transormationen
Denkinhalte

Implikationen
Guilford: dreidimensionales

behavioral

Beziehungen
Modell des Intellekts

Systeme
Denkproduktionen
semantisch

Klassen
Einheiten
symbolisch

figural
Erkenntnis- Denkoperationen
vermögen

Gedächtnis

Divergente
Produktionen

Konvergente
Produktionen

Evaluation
Al – gBIS
Allgemeine Intelligenz
Intelligenzstrukturmodell

n
Jäger: Berliner

ne

Inh
tio

alt
era

e
Op

E Einfallsreichtum
figural-bildhaft F
M Merkfähigkeit
numerisch N
B Bearbeitungsgeschwindigkeit
verbal V K Verarbeitungskapazität
kristallisierten und
fluiden Intelligenz
Horn & Cattell:

Kristallisierte
Theorie der

Intelligenz

Intelligenz
Fluide

. Abb. 6.4  Übersicht über die verschiedenen Theorien und Modelle zur Intelligenz.
(Nach Horn & Cattell, 1966, Copyright © 1966 by the American Psychological Association.
Translated and reproduced with permission; Nach Jäger et al., 1997, mit freundlicher
Genehmigung von Heinz-Martin Süß und Pabst Science Publishers; Nach Guilford, 1967,
Bildrechte: McGraw-Hill; Nach Guilford, 1982, Copyright © 1982 by the American Psycho-
logical Association. Translated and reproduced with permission; Nach Thurstone, 1938,
mit freundlicher Genehmigung von University of Chicago Press; Nach Spearman, 1914,
Copyright © 1914 by the American Psychological Association. Translated and reproduced
with permission. The use of APA information does not imply endorsement by APA. The
American Psychological Association is not responsible for the accuracy of this translation.)
6.3 • Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte
301 6
–– Kristallisierte Intelligenz (verfestigte Intelligenz): Im Lebenslauf
und in der Schule erworbenes Wissen (z. B. Wortschatz, allge-
meines Wissen, rechnerisches Denken; »pracmatics« nach Baltes)
–– Fluide Intelligenz (flüssige Intelligenz): Sie wird in der Schule
nicht gezielt vermittelt (z. B. räumliches Denken, Gedächtnis-
spanne, Wahrnehmungsgeschwindigkeit; »mechanics« nach Bal-
tes) und ist die (neuropsychologische) Basis für die kristallisierte
Intelligenz.
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals:
55 In unterschiedlichen Intelligenzbereichen sind unterschiedliche Ent-
wicklungen zu beobachten. Alle Intelligenzbereiche weisen im Re-
gelfall in Kindheit und Jugendalter die stärkste Beschleunigung auf.
Kristallisierte Intelligenz nimmt während des ganzen Lebens weiter zu.
Fluide Intelligenz nimmt bis ins frühe Erwachsenenalter zu, dann in
aller Regel langsam, aber stetig ab.
55 Im Zuge der Anlage-Umwelt-Debatte hat man lange darüber disku-
tiert, ob Intelligenz eher durch Anlage- oder eher durch Umweltfakto-
ren bedingt wird (s. u.). Letztlich spielt die Interaktion beider Faktoren
die entscheidende Rolle.
55 Kristallisierte Intelligenz ist in jedem Alter gut trainierbar, fluide Intel-
ligenz im höheren Lebensalter hingegen kaum.

Die Frage nach der Entwicklung von Intelligenz spielte in der Anlage-Um-
welt-Debatte eine große Rolle. Mithilfe verschiedener Untersuchungsansätze
versuchte man der Frage auf den Grund zu gehen (Auflistung in Anlehnung
an Krampen, 2007):
55 Untersuchungen an Einzelfällen:
55 »Wolfskinder«:
–– Wolfskinder sind Kinder, die isoliert aufgewachsen sind, dann
gefunden, untersucht und gefördert wurden.
–– Befunde: Sprachentwicklung und motorische Entwicklung sind
bei diesen Kindern beeinträchtigt. Wurden die Kinder vor dem
11./12. Lebensjahr aufgefunden, konnten die Sprachdefizite noch
gut aufgeholt werden. Es sind keine systematischen Befunde zur
Intelligenzminderung vorhanden.
55 »Kaspar-Hauser-Experimente«:
–– Säuglinge wurden in historischen Zeiten von Pharaonen und
Fürsten z. B. zu einer Schafherde gebracht, um die »Gottesspra-
che« herauszufinden (d. h. sie wurden ohne körperliche und
soziale Zuwendung aufgezogen).
–– Überlieferte Befunde: Die Kinder wurden nicht älter als 14 Mona-
te, da ihnen die soziale Zuwendung fehlte.
55 Probleme der Methode: Erkenntnisse aus solchen Einzelfällen können
nicht generalisiert werden, außerdem kann man Anlage- nicht von
Umweltfaktoren trennen.
55 Fazit: Die Befunde aus solchen Einzelfalluntersuchungen bringen im
Prinzip keine Erkenntnisse.
55 Untersuchung chromosomaler Besonderheiten:
55 Vergleiche von Genotyp und Phänotyp, d. h. Untersuchung der
Zusammenhänge zwischen genetischen Spezifika, Intelligenz und an-
deren Persönlichkeitsmerkmalen
302 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

55 Befunde: Chromosomanomalien (z. B. Trisomie 21) bewirken komple-


xe Veränderungen. Die Intelligenzminderung ist nur ein Symptom von
vielen.
55 Probleme der Methode: Aufgrund der Komplexität der Syndrome ist
es schwierig, allgemeine Aussagen zu machen, denn eine Intelligenz-
minderung könnte etwas mit den Folgen der genetischen Variation
zu tun haben (weil die Umwelt z. B. auf solch unnormales Verhalten
reagiert und die Person aus dem Sozialisationsprozess ausschließt) und
nicht mit der genetischen Veränderung an sich.
55 Fazit: Die untersuchten Korrelationen belegen eine Anlage- oder
Umweltdetermination oder auch eine Interaktion, was bislang auch für
moderne Genomanalysen gilt.
55 Erbganganalysen:
55 Stammbaumanalysen/Familienvergleichsstudien:
–– Tritt ein Merkmal (z. B. Intelligenz) in einer Familie gehäuft auf,
6 ging man früher davon aus, dass dieses Merkmal genetisch ver-
ankert sei.
–– Probleme der Methode: Diese Schlussfolgerung ist unzulässig,
da z. B. die Musikalität in musikalischen Familien (etwa in der
Familie Bach) früher gefördert wird als in anderen Familien. Man
kann somit Anlage- nicht von Umweltfaktoren trennen.
55 Tierexperimente:
–– Reinzüchtungsexperimente: Beispielsweise werden zwei Extrem-
gruppen von Ratten (»intelligente«, die schnell lernen, und we-
niger »intelligente«, die langsam lernen, in einem Labyrinthkäfig
Futter zu finden) über mehrere Generationen hinweg immer
wieder gekreuzt (jeweils die intelligenten Ratten und die weniger
intelligenten werden miteinander gepaart). a Befund: Die Rein-
züchtung gelingt zwar, aber durch Filmaufzeichnungen fand man
heraus, dass die intelligenten Ratten besser behandelt wurden
(sog. Versuchsleitereffekt). Eine Reinzüchtung gelang in Dop-
pelblindversuchen nicht mehr bzw. weniger gut und v. a. nur
in Abhängigkeit von den Lebensbedingungen der Tiere: Unter
angereicherten Lebensbedingungen in ihren Käfigen konnten
auch die weniger »intelligenten« Tiere gute Leistungen erbringen,
während unter verarmten Umweltbedingungen in der Käfigen
auch die »intelligenten« Ratten schlechte Leistungen zeigten (dies
spricht für eine Anlage-Umwelt-Interaktion).
–– Probleme der Methode: Übertragbarkeit vom Tier auf den
Menschen
55 Fazit:
–– Schon von der Befruchtung an wird die Entwicklung von Anlage
und Umwelt beeinflusst.
–– Ein Persönlichkeitsmerkmal ist so komplex, dass es nicht auf ein
Gen zurückgeführt werden kann.
55 Populationsgenetische Analysen:
55 Untersuchungen an Zwillingen:
–– Auf Grundlage von genetischer Varianz (bei eineiigen Zwillingen
100 % gleiche Gene, bei zweieiigen hypothetische Annahme von
50 %) und Umweltvarianz (gemeinsam vs. getrennt aufwachsend)
macht man Erblichkeitsschätzungen. Die Erblichkeitsschätzung
(Heritabilität) ist der Anteil der genetischen Varianz an der Ge-
samtvarianz (= genetische Varianz + Umweltvarianz + Fehlerva-
rianz) in einer Population, nicht bei einem einzelnen Menschen.
6.3 • Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte
303 6
–– Solche Erblichkeitsschätzungen für Populationen führen je nach
Ausgangsstichprobe dazu, dass 40–60 % der interindividuellen
Unterschiede in der Intelligenz auf Anlagefaktoren zurückgeführt
werden. In diesem additiven Schätzmodell bezieht sich die ver-
bleibende Restvarianz auf den Einfluss von Umweltfaktoren und
auf den Messfehler (mangelnde Reliabilität der psychometrischen
Daten).
–– Probleme der Methode: (1) Der Einzelne hat keine Varianz,
deshalb kann man von diesen Werten nicht auf das Individu-
um schließen (man kann also nicht sagen, dass 40–60 % der
Intelligenz des Einzelnen genetisch determiniert seien). (2) Alle
Befunde aus Zwillingsuntersuchungen basieren auf kleinen
Stichproben, da es nur wenige kurz nach der Geburt getrennte
Zwillinge gibt. (3) Die Berechnungen basieren auf der Annahme,
dass getrennt aufgewachsene Zwillinge in unterschiedlichen Um-
welten aufgewachsen sind, allerdings leben getrennte Zwillinge
oft in gar nicht so verschiedenen Umwelten, da die Sozialämter
auf die Familienauswahl Einfluss nehmen. (4) Die Schätzmodelle
sind additiv, d. h. es wird davon ausgegangen, dass der Phäno-
typus (etwa Intelligenz) bedingt wird durch »Anlagefaktoren« +
»Umweltfaktoren«, was nicht dem Konzept einer gewichtenden
(etwa multiplikativen) Verknüpfung nach dem Ansatz der An-
lage-Umwelt-Wechselwirkung genügt.
55 Untersuchungen an Adoptivkindern:
–– Man untersucht Kinder, die in Adoptivfamilien groß werden, de-
ren leibliche Mütter jedoch bekannt sind. Im Alter von zehn bis
zwölf Jahren werden die Kinder, die Adoptiv- und die leiblichen
Eltern auf Intelligenz getestet, und die Korrelationen werden
untersucht.
–– Befunde: Die Intelligenz der leiblichen Mutter korreliert höher
mit der des Kindes als die Intelligenz der Adoptivmutter. a Dies
spricht eher für eine genetische Determination der Intelligenz.
–– Problem: Auch diese Befunde basieren meistens auf kleinen
Stichproben, und die korrelativen Zusammenhänge liegen nume-
risch im niedrigen Bereich.
55 Fazit: Die Befunde aus populationsgenetischen Analysen sprechen vor-
dergründig eher für eine Anlage- als für eine Umweltbedingtheit von
Intelligenz; die genannten methodischen und konzeptuellen Probleme
bleiben aber zu bedenken.
55 Effekte von Entwicklungsinterventionen:
55 Untersuchung von Trainingseffekten auf die Intelligenz in Kindes- und
Erwachsenenalter
55 Befunde:
–– Grundschulkinder können durch ein kurzzeitiges Training im lo-
gischen Denken (z. B. im Umfang von einer Schulstunde pro Tag
über zwei Wochen) bei ausgewählten Aufgaben zum deduktiven
Problemlösen den gleichen Status erreichen wie Erwachsene.
–– Kristalline Intelligenz ist auch im Alter gut trainierbar, fluide
nicht.
55 Fazit: Die Untersuchungen deuten eher auf Umwelteinflüsse hin.

Aufgrund dieser mannigfaltigen Befunde kann man weder der Umwelt noch
den Genen die alleinige Verantwortung für die Entwicklung von Intelligenz zu-
304 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

sprechen. Sicher ist, dass beide Faktoren Einfluss nehmen, wobei die Frage nach
ihrem Einflussanteil weniger wichtig ist als die nach ihrer Wechselwirkung.

Kreativität
Die Kreativitätsforschung hat eine ganz besondere Forschungsgeschichte, die
eng mit der Weltraumforschung zusammenhängt. Im Kalten Krieg wetteifer-
ten die USA und Russland darum, wer es als Erstes schaffen würde, einen
Satelliten in den Weltraum zu schicken. Russland gewann das Rennen mit der
Sputnik 1 und löste damit in den USA den sog. Sputnik-Schock aus: Die USA
waren davon ausgegangen, dass sie dieses Ziel als Erste erreichen würden und
mussten nun einsehen, dass sie und die gesamte westliche Welt die russische
Weltraumforschung unterschätzt hatten. In Reaktion darauf begann man u. a.
in die Kreativitätsforschung zu investieren, damit man in Zukunft Kreativität
besser würde fördern können. Das führte zu einem Kreativitätsboom in der
psychologischen Forschung, der in den 60er Jahren seinen Höhepunkt erreich-
6 te. Danach folgte jedoch mehr und mehr die Abkehr von diesem Forschungs-
zweig, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens stellte sich heraus, dass es
schwierig ist, Kreativität zu messen, da es per Definition bei Kreativitätsaufga-
ben (im Unterschied zu solchen in Intelligenztests) prinzipiell unendlich viele
Antwortmöglichkeiten gibt. Zweitens blieb unklar, wie man Kreativität fördern
soll, was schließlich die ursprüngliche Motivation gewesen war.
55 Beschreibung und Erfassung des Merkmals:
55 Umgangssprachliche Vorstellung von Kreativität: Eine Idee oder eine
Lösung wird dann als kreativ bewertet, wenn sie besonders originell
und absolut neuartig ist. Darüber hinaus schreiben wir Kreativität v. a.
herausragenden Persönlichkeiten zu, die kulturelle Höchstleistungen
in Kunst und Wissenschaften erbracht haben (z. B. Goethe, Beethoven,
Monet, Einstein).
55 Psychometrisches Konzept zu Voraussetzungen von Kreativität: Krea-
tivität wird psychometrisch im Sinne von Fähigkeiten des divergenten
Denkens und Handelns konzipiert, d. h. es wird untersucht, ob meh-
rere oder viele gleich oder ähnlich gute Lösungen für ein Problem
gefunden werden. Diese Lösungen werden dann anhand der folgenden
Kriterien ausgewertet:
–– Ideenflüssigkeit: Quantitativ, Anzahl der Ideen
–– Ideenflexibilität: Qualitativ, Unterschiedlichkeit der Ideen
–– Relative Originalität: Relative Neuheit von Ideen (im Vergleich zu
anderen)
–– Exploration von Ideen: Ausarbeitung und Überprüfung auf Rea-
lisierbarkeit
–– Imagination: Vorstellungsvermögen
–– Problemsensitivität: Erkennen von offenen Problemen
55 Die Operationalisierung erfolgt vorwiegend über T-Daten, z. B. KVS-P
(Kreativitätstest für Vorschul- und Schulkinder), V-K-T (Verbaler
Kreativitätstest), Subtests zum divergenten Denken im BIS-T.
55 Aufgabentypen in Intelligenz- und Kreativitätstests werden nach der
Strukturiertheit der Problems und der Struktur der Lösungsmöglich-
keiten unterschieden:
–– Divergente Aufgaben: Offenes Problem und viele Lösungsmög-
lichkeiten (prototypisch für Kreativitätstests)
–– Konvergente Aufgaben: Hoch strukturiertes, geschlossenes
Problem, eine richtige Lösung wird gesucht (typisch für Intelli-
genztests)
6.3 • Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte
305 6
–– Divergent-konvergente Aufgaben: Offenes Problem, eine wichtige
richtige Lösung muss dabei sein
–– Konvergent-divergente Aufgaben: Hoch strukturiertes Problem
und viele Lösungsmöglichkeiten
55 Zugehörige Theorien und Modelle:
55 These von Genie und Irrsinn von Lombroso (1980):
–– Lombroso analysierte im 19. Jahrhundert Biographien von Genies
in der Geschichte (z. B. Beethoven) und interpretierte die Ergeb-
nisse freizügig, z. B. dass Irrsinn eine vermeintliche Vorausset-
zung für Genialität sei.
–– Systematische Studien haben später ergeben, dass diese Theorie
Unsinn ist, denn psychische Krankheiten gibt es bei Genies nicht
öfter als bei anderen Menschen auch.
–– Diese These hatte jedoch Auswirkungen einerseits auf Therapie-
formen (Entstehung der Kunsttherapie) und andererseits auf die
Kunst (nur Kinder und psychisch Kranke sind zu wahrer Kunst
fähig).
55 Psychoanalytischer Ansatz (Stein & Stein, 1984): Nach Freud entsteht
Kreativität dadurch, dass verdrängte Triebenergien umgeformt werden
(also ähnlich wie bei Neurosen). Freud sagte jedoch nichts darüber,
wann aus verdrängten Triebenergien Neurosen und wann Kreativität
entstehen. Er hebt jedoch hervor, dass im Unterschied zu einer Neuro-
se kreative Produktionen sozial positiv bewertet werden.
55 Psychedelischer Ansatz von Leary (Krampen, 2007): Leary machte
Selbstversuche mit Drogen in Seminaren. Seine These war, dass man
mithilfe von halluzinogenen Drogen die Schranken des Bewusstseins
überwinden, das Bewusstsein erweitern und kreativer werden kann.
Auch diese These konnte nicht bestätigt werden. Durch Drogenkon-
sum wird man nicht kreativer, sondern es verändert sich lediglich die
eigene Wahrnehmung (das Verhalten bleibt jedoch gleich).
55 Gestaltpsychologischer Ansatz von Köhler (1921): beschreibt den krea-
tiven Prozess anhand von vier Phasen:
–– Problemanalyse und Informationssuche (z. B. Hilfsmittel aus-
probieren)
–– Inkubation: Nach ersten erfolglosen Lösungsversuchen kommt es
zu einer (vermeintlichen) Ruhephase. Man geht anderen Tätig-
keiten nach und lenkt sich ab, das Problem bleibt währenddessen
im Hintergrund.
–– Illumination (Aha-Erlebnis): Plötzlich fällt einem die richtige
Lösung ein.
–– Verifikation und Elaboration: Ausarbeiten und Umsetzung der
Lösung
55 Kreativität als Teil der Intelligenztheorien:
–– Divergentes Problemlösen ist in Guilfords Strukturmodell des
Intellekts und im Berliner Intelligenzstrukturmodell als eine
Komponente enthalten.
–– Zusammenhang von Kreativität und Intelligenz: Bei sprach-
basierten Messinstrumenten zeigt sich, dass Intelligenz eine
notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für Kreativität
ist (Schwellenhypothese). Bei sprachfreien Messinstrumenten
zeigt sich kein Zusammenhang.
306 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals:


55 Die Ideenflüssigkeit und die Ideenflexibilität werden negativ von der
Schule, insbesondere von Schulübergängen, beeinflusst. Das liegt ver-
mutlich daran, dass kreative Kinder öfter stören, unruhiger sind und
viele Fragen stellen, worauf mit einem erhöhten Konformitätsdruck
reagiert wird. Zudem stehen in der Schule mit dem Erwerb der Kul-
turtechniken Lesen, Rechnen, Schreiben etc. dominante konvergente
Probleme bzw. Lehr- und Lerninhalte im Vordergrund.
55 Kreativität kann über die Herstellung kreativitätsfördernder Umwelt-
bedingungen gefördert werden, wie z. B.:
–– Entwicklungsangemessene Anregungen (d. h. nicht zu schwere
oder zu leichte Aufgaben)
–– Förderung von Selbstsicherheit
–– Aufbau intrinsischer Motivation
–– Lernziele individuell festlegen
6 –– Abbau von Gruppendruck
–– Leistungsheterogene Gruppen (davon profitieren gute und
schlechte Kinder)
55 Die Ideenproduktion kann über die Anwendung von Kreativitäts-
techniken situativ gefördert werden, z. B. Brainstorming, Kreativitäts-
Checklisten (mithilfe der Checkliste versucht man, eine Idee oder ein
Produkt zu verändern oder auszuweiten).
55 Kreativität kann man über Trainings- und Unterrichtsprogramme
fördern (z. B. Rollenspiele).

Konzentration und selektive Aufmerksamkeit


Ein häufig unterschätztes Merkmal ist die Konzentration. Insbesondere wenn
es um schulische Leistungsfähigkeit geht, beachten wir meist nur die Intelli-
genz und schreiben ihr eine große Rolle zu. Dabei ist Konzentration gerade in
der Schule eine wichtige Schlüsselkompetenz, die eine notwendige Grundlage
für die Teilnahme am Unterricht ist. Deutlich wird die Wichtigkeit von Kon-
zentration erst, wenn sie fehlt: Wie schwierig z. B. ein Kind mit ADHS sein
kann, wissen betroffene Eltern zu berichten.
55 Beschreibung des Merkmals:
55 Definition von selektiver Aufmerksamkeit: Aufmerksamkeit, die selek-
tiv auf ein Objekt oder eine Klasse von Objekten gerichtet ist. Sie hat
Selektions- und Strukturierungsfunktion. Sie kann sowohl willkürlich
als auch unwillkürlich sein.
55 Definition von Konzentration: Selektive Aufmerksamkeit, die willkür-
lich und intentional ist. Sich zu konzentrieren ist anstrengend.
55 Die Operationalisierung erfolgt überwiegend über T-Daten (Speed-
Tests). Beispiele: sog. Durchstreichtests (z. B. d2 – Aufmerksamkeits-
Belastungs-Test), FAIR (Frankfurter Aufmerksamkeits-Inventar),
Additionsaufgaben, Selektions- und Sondierungsaufgaben.
55 Die Leistung in diesen Tests wird bewertet anhand folgender Kriterien:
Fehlerfreiheit, Leistungsmenge, Ablenkbarkeit, Ausdauer, Leistungs-
verlauf, Umfang des Aufmerksamkeitsfeldes.
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals:
55 Willkürliche Aufmerksamkeitssteuerung entwickelt sich erst in der
späteren Kindheit in komplexen Wechselwirkungen von Übung und
Hirnreifung (Frontalhirn) und ist erst im jungen Erwachsenenalter
voll ausgeprägt.
6.3 • Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte
307 6
55 Im höheren Erwachsenenalter nimmt in Konzentrationstests die Leis-
tungsmenge ab, die Fehlerfreiheit aber zu.
55 Eine Verbesserung ist durch Übung möglich, v. a. in jungen Jahren.

Soziale Kompetenz
Auch soziale Kompetenz ist eine zunächst unterschätzte, aber zunehmend
wichtiger werdendes Merkmal – sei es im Bereich der pädagogischen Psycho-
logie, etwa um an Schulen Mobbing zu verhindern, oder sei es in der Arbeits-
und Organisationspsychologie, um einen teamfähigen Bewerber zu finden.
55 Beschreibung des Merkmals:
55 Definition von sozialer Kompetenz: Fähigkeit, mit anderen Menschen
gut bzw. schlecht zurechtzukommen. Sie zeichnet sich durch eine Ba-
lance der folgenden beiden Dimensionen aus:
–– Durchsetzungsfähigkeit: Fähigkeit, eigene Interessen gegenüber
anderen zu bewahren
–– Beziehungsfähigkeit: Fähigkeit, mit anderen eine positive Bezie-
hungen einzugehen und zu bewahren
55 Operationalisierung: Es gibt Versuche, soziale Kompetenz mithilfe
von Testverfahren zu erfassen (z. B. Test zur sozialen Sensitivität von
O‘Sullivan). Diese konnten aber den Anforderungen an die Gütekri-
terien nicht standhalten. In Assessment-Centern ist es jedoch üblich,
nicht-normierte Fragebögen zur Sozialkompetenz und systematische
Beobachtungen des Verhaltens in Rollen- und Simulationsspielen ein-
zusetzen.
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals: Eine mögliche Interventions-
maßnahme sind Gruppentrainings, z. B. das Gruppentraining sozialer
Kompetenzen (GSK) von Hinsch und Pfingsten.

6.3.2 Temperamentsmerkmale

Temperamentsmerkmale werden meist nicht in spezifischen Fragebögen er-


fasst, sondern mithilfe von Breitbandverfahren der Persönlichkeitsdiagnostik.
Beispiele dafür sind:
55 FPI-R (Freiburger Persönlichkeitsinventar):
55 Aktuelle Auflage: Fahrenberg, Hampel und Selg (2010)
55 Altersbereich und Normen: Ab 16 Jahren, Normen nach Geschlecht
und Alter
55 Inhaltliche Struktur: 138 Items, 12 Subskalen (10 Primärskalen zu
Lebenszufriedenheit, soziale Orientierung, Leistungsorientierung,
Gehemmtheit, Erregbarkeit, Aggressivität, Beanspruchung, körperliche
Beschwerden, Gesundheitssorgen, Offenheit; 2 Sekundärskalen zur
Extraversion und Emotionalität)
55 16PF (16 Persönlichkeits-Faktoren-Test):
55 Aktuelle Auflage: Schneewind und Graf (2010)
55 Altersbereich und Normen: Ab 18 Jahren, Normen nach Geschlecht
und Alter
55 Inhaltliche Struktur: 184 Items, 16 Subskalen (Wärme, logisches
Schlussfolgern, emotionale Stabilität, Dominanz, Lebhaftigkeit,
Regelbewusstsein, soziale Kompetenz, Empfindsamkeit, Wachsamkeit,
Abgehobenheit, Privatheit, Besorgtheit, Offenheit für Veränderungen,
Selbstgenügsamkeit, Perfektionismus, Anspannung)
308 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

55 NEO-FFI (NEO = Akronym aus den drei Faktoren Neurotizismus,


Extraversion und Offenheit; FFI = Fünf-Faktoren-Inventar):
55 Aktuelle Auflage: Borkenau und Ostendorf (2008)
55 Altersbereich und Normen: Ab 18 Jahren, Normen nach Geschlecht
und Alter
55 Inhaltliche Struktur: 60 Items, 5 Subskalen (Neurotizismus,
Extraversion, Offenheit für Erfahrung, Verträglichkeit,
Gewissenhaftigkeit)
55 MMPI (Minnesota Multiphasic Personality Inventory):
55 Aktuelle Auflage: Butcher et al. (2000)
55 Altersbereich und Normen: Ab 18 Jahren, Normen nach Geschlecht
55 Inhaltliche Struktur: 567 Items, 13 Subskalen (Hypochondrie,
Depression, Hysterie/Konversionsstörung, Psychopathie, Maskulini-
tät/Feminität, Paranoia, Psychasthenie, Schizophrenie, Hypomanie,
6 soziale Introversion)

Letztlich enthält jeder Persönlichkeitsfragebogen eigene Skalen zur Beschrei-


bung einer Person, die aus den unterschiedlichen theoretischen Ansätzen
hervorgegangen sind. Im Folgenden werden deshalb nur vier herausgegrif-
fen und genauer vorgestellt: Extraversion/Introversion und emotionale
Labilität (Neurotizismus), die in fast jedem klassischen Persönlichkeitsfrage-
bogen vorkommen, sowie Ängstlichkeit und Aggressivität, die im sozialen
Miteinander eine wichtige Rolle spielen.
55 Extraversion und Introversion:
55 Beschreibung des Merkmals: Eindimensionales Konstrukt mit den
beiden Polen
–– Extraversion: Aufgeschlossen, gesellig, aktiv, erlebnishungrig,
eher wenig Beschäftigung mit dem Innenleben
–– Introversion: Zurückhaltend, geringeres Bedürfnis nach Gesellig-
keit, nach innen gerichtet, introspektiv
55 Zugehörige Theorien und Modelle: Das Merkmal ist in nahezu allen
Modellen zur Beschreibung des Temperaments enthalten, z. B. implizit
in der antiken Temperamentslehre, explizit in C. G. Jungs analytischen
Psychologie, in den faktorenanalytischen Modellen (z. B. von Cattell,
Eysenck) und in den Big Five.
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals:
–– Wenig, denn das Merkmal ist sehr stabil.
–– Möglicherweise kommt es im Alter zu einer leichten Abnahme
(dieser Befund basiert auf Querschnittsstudien und kann deshalb
nur ein Kohorteneffekt sein).
–– Dieses Persönlichkeitsmerkmal ist sehr änderungsresistent. Es ist
am ehesten kurzfristig durch Drogen oder Alkohol beeinflussbar.
55 Emotionale Labilität (Neurotizismus)
55 Beschreibung des Merkmals: Eindimensionales Konstrukt mit den
beiden Polen:
–– Emotionale Labilität (Neurotizismus): Labil, ängstlich, reizbar,
unkontrolliert, unsicher
–– Emotionale Stabilität: Stabil, ausgeglichen, selbstsicher, kontrol-
liert, zuversichtlich
55 Zugehörige Theorien und Modelle: Dieses Merkmal ist in nahezu allen
Modellen zur Beschreibung des Temperaments enthalten, z. B. implizit
6.3 • Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte
309 6
in der antiken Temperamentslehre, explizit in C. G. Jungs analytischer
Psychologie, in den faktorenanalytischen Modellen (z. B. von Cattell,
Eysenck) und in den Big Five.
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals:
–– Das Merkmal ist durch Therapie veränderbar.
–– Es ist durch pharmakologische Substanzen (Anxiolytika) auch
kurzfristig veränderbar.
–– Es erfolgt eine Abnahme im höheren Alter.
55 Emotionale Labilität ist ein Vulnerabilitätsfaktor für affektive
Störungen.
55 Ängstlichkeit
55 Beschreibung und Erfassung des Merkmals:
–– Definition von Furcht: Angst vor einer realen Gefahr
–– Definition von Angst: Irrationales Gefühl in Situationen, die
eigentlich nicht bedrohlich sind
–– Definition von Ängstlichkeit: Mehr oder weniger generalisierte
Angst, die sich auf unterschiedliche Bereiche bezieht (z. B. soziale
Situationen, Menschenmengen, Fahrstuhl-Fahren)
–– Die Operationalisierung erfolgt v. a. über S-Daten.
55 Zugehörige Theorien und Modelle:
–– Psychoanalyse: Angst entsteht aus den Konflikten zwischen
Realität, Es und Über-Ich.
–– Faktorenanalytische Modelle, Big Five: Ängstlichkeit ist ein Teil
von emotionaler Labilität.
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals:
–– Therapieeffekte sind vorhanden, insbesondere bei spezifischen
Angststörungen.
–– Ängstlichkeit ist durch pharmakologische Substanzen
(z. B. Anxiolytika, Tranquilizer) beeinflussbar.
55 Ängstlichkeit ist ein Vulnerabilitätsfaktor für affektive Störungen,
insbesondere für Angststörungen wie spezifische und soziale Phobien
sowie die generalisierte Angststörung.
55 Aggressivität
55 Beschreibung und Erfassung des Merkmals:
–– Aggressivität als Trait ist eine generalisierte Neigung zu schädi-
genden Verhaltensweisen (aggressives Verhalten als State und
situatives Verhalten als Teil der Sozialpsychologie). Sie kann offen
oder verdeckt sein sowie gegen sich selbst (Autoaggressivität,
Intropunitivität), gegen andere gerichtet sein (Extropunitivität)
oder unterdrückt werden (Impunitivität, Aggressionshemmung).
–– Die Operationalisierung erfolgt zum Teil über S-Daten (Problem:
Fragen nach Aggressivität dürfen nicht zu transparent formuliert
werden, da die Antworten durch soziale Erwünschtheit verzerrt
werden können) sowie über semi-projektive Tests (z. B. Thema-
tischer Apperzeptionstest, TAT; Rosenzweig Picture Frustration
Test, PFT).
55 Zugehörige Theorien und Modelle:
–– Psychoanalyse: Aggressivität ist ein Trieb (Thanatos).
–– Ethologie: Aggressivität ist angeboren und dient der
Selbsterhaltung.
–– Frustrations-Aggressions-Hypothese: Wird man frustriert, wird
man aggressiv (7 Abschn. 3.3.3).
310 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

–– Hypothese der Testosterone: Testosteron ist Ursache von


Aggression (dies konnte allerdings nur bei Tieren belegt werden,
jedoch nicht beim Menschen).
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals:
–– Aggressivität ist erlernt.
–– Sie nimmt bis zum früheren Erwachsenenalter zu, danach ab.
–– Positive Therapieeffekte bei langfristiger Behandlung (mindestens
zwei Jahre) sind vorhanden, Behandlungen scheitern jedoch oft
an fehlender Therapiemotivation.
55 Aggressivität ist ein Vulnerabilitätsfaktor für Delinquenz und Störun-
gen des Sozialverhaltens.

6.3.3 Selbst- und umweltbezogene Kognitionen

6 Selbst- und umweltbezogene Kognitionen umfassen die Persönlichkeitsmerk-


male, in denen es um Gedanken, Meinungen und Haltungen gegenüber uns
selbst oder der Umwelt geht. Die bekanntesten sind Selbstkonzept, Kontroll-
überzeugungen, Selbstwirksamkeit, Vertrauen, Schüchternheit und Bewer-
tungsdispositionen (Werte und Interessen).

Selbstkonzept
Das Selbstkonzept ist sowohl Teil der Sozialpsychologie als auch der Persön-
lichkeitspsychologie. Da es bereits unter 7 Abschn. 3.2.1 ausführlich dargestellt
wurde, soll es hier nur kurz präsentiert werden.
55 Beschreibung und Erfassung des Merkmals:
55 Definition von Selbstkonzept: Das Selbstkonzept ist die subjektive Be-
schreibung von sich selbst in Abgrenzung zu anderen.
55 Definition von Selbstwert: Der Selbstwert bezeichnet die affektive Ein-
stellung gegenüber sich selbst.
55 Operationalisierung:
–– Sie erfolgt über S-Daten, z. B. Frankfurter Selbstkonzept-Skalen
(FSKN), Fragebogen zu Kompetenz- und Kontrollüberzeugungen
(FKK).
–– Sie erfolgt außerdem über semi-projektive Tests wie etwa den
Test Who-am-I nach Gordon: Die freien Antworten auf die 20-
mal zu beantwortende offene Frage »Wer bin ich?« werden klassi-
fiziert nach objektiven Aussagen wie z. B. »Ich bin ein Mensch«
(A-Modus = Selbstabgrenzung), Aussagen über soziale Rollen
wie z. B. »Ich bin eine Tochter« (B-Modus = soziale Einbettung),
abstrakten Beschreibungen der eigenen Person wie z. B. »Ich bin
extravertiert« (C-Modus = psychologische Selbstbeschreibungen)
und unverbindlichen Aussagen wie z. B. »Ich bin wer ich bin«
(D-Modus).
55 Zugehörige Theorien und Modelle:
55 James (1890) unterscheidet das Selbst in:
–– I-as-subject: Das Selbst ist erkennende und handelnde Person.
–– Me-as-object: Das Selbst wird von mir betrachtet, d. h. das Selbst
ist Objekt meines Erkennens und Handelns.
55 Gordon (1968) entwickelte auf Grundlage seines Who-am-I-Tests
eine Entwicklungstheorie des Selbstkonzepts, bei der man sich je nach
Lebensabschnitt erst über A, dann über B (in der Kindheit), dann
über C (in der Pubertät) und schließlich je nach Situation adaptiv
6.3 • Ausgewählte Persönlichkeitskonzepte
311 6
wechselnd zwischen diesen Selbstbeschreibungsmodi definiert. Das
Selbstkonzept ist dann angemessen, wenn man je nach Situation den
passenden Modus anwenden kann.
55 Im handlungstheoretische Partialmodell (HPP) von Krampen (2000,
2002) sind neben dem generalisierten Selbstkonzept eigener Fähig-
keiten und seinen bereichsspezifischen Komponenten (etwa Selbstkon-
zept eigener mathematischer Fähigkeiten) die Kontrollüberzeugungen
als generalisierte Erwartungshaltungen wichtige Elemente. Bei den
Kontrollüberzeugungen ist zu unterscheiden zwischen
–– Internalität (Internality = I; generalisierte Erwartung, dass wich-
tige Ereignisse im eigenen Leben auf eigenes Verhalten und/oder
eigene Charakteristika zurückgehen),
–– sozialer Externalität (Powerfull others control = P; generalisierte
Erwartung, dass wichtige Ereignisse im eigenen Leben auf den
Einfluss anderer (mächtiger) Menschen zurückgehen) und
–– fatalistischer Externalität (Chance control = C; generalisierte Er-
wartung, dass wichtige Ereignisse im eigenen Leben von Zufall,
Schicksal, Glück oder Pech abhängen).
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals:
55 Das Selbstkonzept kann sich aufgrund kritischer Lebensereignisse ver-
ändern (z. B. die Geburt von Kindern oder eine Heirat erweitern das
Selbstkonzept um soziale Rollen; Traumata oder chronische Erkran-
kungen können das bisherige Selbstkonzept infrage stellen).
55 Das Selbstkonzept ist in der Therapie gut modifizierbar.

Schüchternheit
Schüchternheit ist ein Persönlichkeitsmerkmal, das eindeutig normativ be-
setzt ist: Im Allgemeinen wird es als negativ bewertet, schüchtern zu sein. Das
bedeutet, dass Menschen mit diesem Persönlichkeitsmerkmal einen Leidens-
druck haben können, was bei anderen nicht-normativen Persönlichkeitseigen-
schaften nicht der Fall ist.
55 Beschreibung und Erfassung des Merkmals:
55 Schüchternheit kann definiert werden als soziale Gehemmtheit. Folgen
sind:
–– Beeinträchtigung des Sozialverhaltens (wenig Freunde, Isolation),
–– geringes Selbstvertrauen,
–– geringer Selbstwert.
55 Die Operationalisierung erfolgt meist über S- oder O-Daten.
55 Zugehörige Theorien und Modelle:
55 Arten von Schüchternheit nach Eysenck (1967):
–– Introvertierte Schüchternheit: Vermeidung von sozialen Interak-
tionen aufgrund von geringem Interesse an sozialen Kontakten
–– Neurotische Schüchternheit: Vermeidung von sozialen Interak-
tionen aufgrund von Ängstlichkeit vor sozialen Situationen
55 Erwartungs-Wert-Ansatz nach Leary und Atherthon (1986): Schüch-
ternheit ist die Folge von Zweifeln an den eigenen Fähigkeiten zur
Selbstpräsentation mit folgenden Determinanten:
–– Hohe Motivation, auf andere einen bestimmten Eindruck zu
machen (Valenz)
–– Zugleich als gering wahrgenommene Wahrscheinlichkeit, dies zu
schaffen (Erwartung)
312 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

55 Zweifaktorentheorie der Schüchternheit von Asendorpf (2012):


Schüchternheit resultiert aus zwei verschiedenen Faktoren, die sich
gegenseitig verstärken können:
–– Schüchternheit als Temperamentsmerkmal: Schüchterne Men-
schen haben ein stärkeres Verhaltenshemmungssystem.
–– Schüchternheit als gelernte Erwartung: Aufgrund von häufiger
sozialer Ablehnung bildet sich die Erwartung, dass man in Zu-
kunft in sozialen Situationen ebenfalls abgelehnt wird.
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals:
55 Schüchternheit lässt sich im Erwachsenenalter gut durch Therapie
modifizieren.
55 Schüchternheit bei Kindern lässt sich am besten durch Ermutigung
und Schaffen von Gelegenheiten zu sozialer Interaktion beheben.

Bewertungsdispositionen
6 Bewertungsdispositionen umfassen Werte und Interessen. Da sie kulturabhän-
gig sind, werden sie zumeist eher im Rahmen der Soziologie erforscht. In der
Psychologie finden sie Anwendung in der pädagogischen Psychologie (etwa in
der Schullaufbahnberatung) oder in der Arbeits- und Organisationspsycho-
logie (z. B. zwecks Berufsberatung).
55 Beschreibung des Merkmals:
55 Eine Bewertungsdisposition ist die Neigung, Objekte in einer be-
stimmten Weise zu bewerten.
55 Die Operationalisierung erfolgt meist über S-Daten, z. B. Berufs-In-
teressens-Test (BIT-II), Allgemeiner Interessen-Struktur-Test (AIST),
Generelle Interessen-Skala (GIS).
55 Zugehörige Theorien und Modelle: Nach Asendorpf (2012) gibt es zwei
Arten von Bewertungsdispositionen. Je nach bewertetem Objekt kann
unterschieden werden in:
55 Werthaltungen (alltagssprachlich: Werte): Die Bewertung richtet sich
auf ein wünschenswertes Ziel (z. B. Freiheit) oder auf Handlungsnei-
gungen (z. B. Nächstenliebe).
55 Interessen: Die Bewertung richtet sich auf spezifische Wahrnehmungs-
objekte (z. B. Schwimmen).
55 Mögliche Veränderbarkeit des Merkmals: Es wird von der Kindheit bis in
das Erwachsenenalter von einer Kanalisierung der Neugier- und Erkun-
dungsmotivation ausgegangen, die über die Lebensspanne hinweg bislang
nur wenig erforscht ist, allerdings sind Kulturunterschiede vorhanden
(was auf eine kulturabhängige Entwicklung hindeutet).

6.4 Persönlichkeitsentwicklung

Will man sich mit der Entwicklung der Persönlichkeit beschäftigen, kann man
entweder auf entwicklungspsychologische oder auf persönlichkeitspsycholo-
gische Theorien zurückgreifen, die bereits in anderen Zusammenhängen vor-
gestellt wurden. Deshalb erfolgen hier nur kurze Verweise auf die jeweiligen
Abschnitte. Bei den Persönlichkeitstheorien können drei verschiedene Ansätze
unterschieden werden (nach Krampen, 2002):
55 Identitäts- und Selbstkonzeptentwicklungstheorien
55 Eriksons Theorie der psychosozialen Entwicklung (7 Abschn. 5.3.1)
55 Identitätsentwicklung nach Marcia (7 Abschn. 5.3.3)
Literatur
313 6
55 Sozial-kognitive Lerntheorien der Persönlichkeitsentwicklung: Soziale
Lerntheorie der Persönlichkeit von Rotter (7 Abschn. 6.2.4)
55 Entwicklungsmodell der kritischen Lebensereignisse (7 Abschn. 5.3.2)

Im Allgemeinen kann man sagen, dass die Persönlichkeit eines Menschen


zwar per Definition etwas über die Zeit relativ Stabiles ist, dass aber Entwick-
lungsprozesse und damit Veränderungen auch in Abhängigkeit von Lebens-
erfahrungen, kritischen Lebensereignissen, neuen Rollenzuweisungen oder
-übernahmen und auch selbstgesteuert auftreten können. Da Menschen oft
Gewohnheitstiere sind und Neues immer auch fremd ist, schreitet diese Ent-
wicklung in aller Regel langsam voran und wird erst dann angestoßen, wenn
Probleme und Schwierigkeiten auftreten.

Literatur

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314 Kapitel 6 • Persönlichkeitspsychologie

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315

Stichwortverzeichnis

F. Schmithüsen (Hrsg.), Lernskript Psychologie, Springer-Lehrbuch,


DOI 10.1007/978-3-662-44941-7, © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015
316 Stichwortverzeichnis

A Chunk 36
Confirmation bias  60, 139
Freundschaft 274
Frustrations-Aggressions-Hypo- J
Adler 292 Conversion error  60 these 122 Jugendalter 279
Adoleszenz 279 Funktionalismus 14 Jung 291
Affiliation 112
D
Affiliationsmotiv 80
Aggression 120 Deduktion  8, 25
G K
Aggressivität 309 Deindividuation  121, 151 Gedächtnis 35 Kategorie  44, 109
Aha-Erlebnis  62, 305 Demenz 237 Gedächtnismodelle 37 Katharsis 120
Akkommodation 254 Denken, logisches  58 Gefangenendilemma 140 Kelly 292
Aktionspotenzial  174, 180 Depression 235 Gehorsam 125 Klee-und-Kandinsky-Experi-
Alertness 262 Diabetes 211 Genie und Irrsinn  305 ment 143
Allergie 222 Dilemma, soziales  140 Gerechtigkeit 147 Kleinhirn 166
Allport 294 Dissonanz, kognitive  108 Geschmack 200 Kognition, soziale  109
Altruismus 115 Dissoziationen, doppelte  42 Geschwister 273 Köhler-Effekt 136
Ängstlichkeit 309 Door-in-the-face-Technik 126 Gesichtsrückmeldungshypo- Kohortenmodell 51
Anker-Effekt 65 Drei-Komponenten-Modell 56 these 84 Kommunikationsstrukturen 135
Ankerheuristik 109 Durst 232 Gestaltpsychologie 16 Kompetenz, soziale  307
Anlage-Umwelt-Debatte  7, 301 Dysgraphie 48 Glutamat 186 Konditionierung, klassische  29,
Ansatz, lexikalischer  294 Dyslexie 48 Großhirn 165 230
Antidepressiva 235 Groupthink 139 Konditionierung, operante  30
Antipsychotika 237
E
Grundemotionen 83 Konflikt 139
Aphasie 48 Gruppe 131 Konformität 127
Appetenzkonflikt 72 Gruppenentwicklung 132
Effekt, autokinetischer  128 Konjunktionsfehler 64
Arbeitsgedächtnis 38 Gruppenpolarisierung 138
Effektgesetz 15 Konsistenz 106
Assimilation 254 Gruppensozialisation 132
Einfluss, sozialer  125 Konstruktions-Integrations-­
Assoziationslernen 28
Einschränkungsmodell 53 Modell 55
Atmosphären-Effekt 60
Attributionsfehler 111
Attributionstheorie 110
Einstellung 104
Elaboration Likelihood
H Kontrollillusion 60
Konzentration 306
­Model  107 Handlungskontrolle 75 Konzept 44
Aufmerksamkeit  223, 261, 306
Emotion 83 Handlungstheoretisches Partial- Korrelation, illusorische  60
Auge 188
Empathie 117 modell der Persönlichkeit  296 Kreativität 304
Aversionskonflikt 72
Enkodierungsprozesse 40 Hebbsche Regel  227 Krise 267
Entwicklung 248 Hemmung, laterale  191 Kultur 277
B Entwicklung, kognitive  253
Entwicklung, psychosoziale  266
Hemmung, soziale  136
Heuristik 62
Kurzzeitgedächtnis 36

L
Bandura 124 Entwicklungsaufgaben  250, 269 Hidden-Profile 138
Bauchspeicheldrüse 210 Epiphyse 210 Hilflosigkeit, erlernte  32
Bedürfnispyramide 69 Epistemologie 2 Hinweisreize, aggressive  122 Labilität, emotionale  308
Behaviorismus 15 Equity-Theorie  114, 149 Hirnstamm 167 Langzeitgedächtnis 36
Behavioristen 6 Ereignisse 250 Holzwegmodell 52 Langzeitpotenzierung 228
Behavior-Setting-Theorie 275 Erikson 266 Hormon 209 Lazarus 88
Beobachtungslernen 33 Erleichterung, soziale  136 Hunger 233 Lebensereignisse, kritische  270
Bewältigungstheorien 282 Erwartungs-Wert-Theorien 73 Hypothalamus 166 Lebensraum 275
Bewusstsein  5, 223 Erziehung 250 Leib-Seele-Problem 6
Big Five  295
I
Erziehungsstile 272 Leistungsmotivation 80
Bindung 271 Extraversion 308 Lernen 27
Bindungsstile 115 Eysenck 295
Ideengeschichte 3 Lerntheorie, soziale  124, 296
Black-Box 15
Identität 266 Lewin 71
Blutgruppen 221
Blut-Hirn-Schranke 169
Bobo-Doll-Experiment 124
F Identitätsentwicklung 270
Identitätstheorie, soziale  102
Libido-Theorie 13
Little Albert  85
Familie 273 Imitationstheorie 34 Little Peter  85
Botenstoffe 178
Faulenzen, soziales  137 Immunsystem 215 Locus of control  296
Bottom-Up-Verarbeitung 36
Felder, rezeptive  191 Induktion  8, 24 Low-ball-Technik 127
Bystander-Effekt 118
B-Zell-Antwort 219 Feldtheorie 71 Intelligenz  295, 297
Festinger 103
First-three-years-hypothesis 261
Interdependenztheorie 114
Introspektion 11 M
C Flaschenhalstheorie 224
Flow 77
Introversion 308
Investitionstheorie der Liebe  115
Macht  81, 125
Majoritäteneinfluss 127
Cannon-Bard-Theorie 85 Foot-in-the-door-Technik 126 Invulnerabilitätsillusion 104 Manipulation 126
Cattell 294 Freud 12 Massenpsychologie 97
Chaining 32
McGurk-Effekt 50
Stichwortverzeichnis
317 A–Z

Menstruationszyklus 213
Mere exposure effect  65, 106
Reifung 249
Repräsentation, mentale  43 T Working-Memory-Modell 38
Wortüberlegenheitseffekt 51
Methodologie 2 Repräsentationen, interne  253 Temperamentslehre, antike  8 Wundt 11
Milgram 125 Repräsentativitätsheuristik 64, Thalamus 167 Wygotski 259
Minoritäteneinfluss 127 109 Theorie der Liebe, trianguläre  81

Z
Modelle, mentale  60 Ressourcentheorie 114 Theorie sozialer Vergleichspro-
Modelllernen 33 Rezeptoren 184 zesse 103
Motivation  68, 232 Rezeptortypen 178 Theorie, kognitiv-relationale  88 Zahlenverständnis 264
Motivation, intrinsische  77 Ringelmann-Effekt 136 Theorie, sozial-kognitive  34 Zentralnervensystem 164
Muskel 203 Risiko-Wahl-Modell 78 Top-Down-Verarbeitung 36 Zufriedenheitsparadox 275
Robbers-Cave-Experiment 142 TRACE-Modell 51 Zunge 200
N
Rogers 293 Traits 288 Zwei-Faktoren-Theorie 86
Rolle 134 Transduktion 180 Zwischenhirn 166
Rollenkonflikt 146 Transfer 63
Nase 201
Rubikon-Modell 76 Transmitter 178
Nebennierenrinde 215
Rückenmark 169 Triebe 232
Nervenfasertypen 176
Ruhepotenzial 173 Trittbrettfahren 137
Nervensystem 164
Nervenzelle 171
Neuromodulatoren 178
Neurotizismus 308
S U
Norm 134 Sakkade 263 Überrechtfertigung 102
Nozizeption 184 Schema  109, 253 Unbewusstes, kollektives  291
Schilddrüse 214 Urban-overload-Hypothese 118

O
Schizophrenie 237
Schlaf 225

Ohr 194
Schlafstörungen 226
Schlussfolgern 57
V
Ökosystem 274 Validity effect  65
Schlussfolgern, syllogisti-
Overconfidence 65 Valins-Effekt 87
sches 60
Schmerz 184 Verantwortlichkeit 111

P Schüchternheit 311
Schuld 111
Verantwortungsdiffusion  118, 137
Verfügbarkeitsheuristik  65, 109
Parasympathikus 170 Schule 9 Vergessen 37
Parsing 52 Schwangerschaft  221, 277 Vergleichsprozesse, soziale  131
Pendelexperiment 257 Seele 5 Verhalten, abergläubisches  32
Persönlichkeit 288 Selbstkonzept  101, 266, 310 Verhalten, prosoziales  115
Persuasion 106 Selbstkonzept der Begabung  80 Verhaltenserklärung 67
Phänomenologie 16 Selbstwert  266, 310 Versprecher 55
Phonemrestaurationseffekt 50 Selbstwirksamkeit 296 Verstärkungspläne 31
Piaget 253 Self fulfilling prophecy  110 Volition 74
Pieron-Phänomen 239 Seligman 33 Völkerpsychologie 97
Plastizität  261, 227 Sensation-Seeking 78 Vorurteil 149
Prägung 249 Simulationsheuristik 109 Vulnerabilität 261
Primacy effect  106 Sinn, chemischer  203

W
Priming  40, 50 Skinner 32
Problemgeschichte 2 Sleeper-Effekt 106
Problemlösen 60 Sozialisation 250
Waffeneffekt 122
Prospect theory  66 Soziometrie 100
Wahrnehmungspsychologie 179
Prototyp 44 Sprache 46
Wahrscheinlichkeit, bedingte  63
Psychoanalyse 12 Spreading-apart-Effekt 108
Wason‘s selection task  59
Psychologie 23 Stereotyp 149
Watson 85
Psychologie, geisteswissen- Stevensche Potenzfunktion  182
Weaver ++  56
schaftliche 16 Stress 239
Weber-Fechner-Gesetz 182
Psychophysik 181 Stresshormon 215
Webers Gesetz  181
Psychotherapieformen 10 Stresstheorie 88
Welt, gerechte  147
Pubertät  214, 279 Stroop-Effekt 50
Wende, kognitive  6
Strukturalismus 11
Werte 312
Sympathikus 170
R Synapsen 176
Syntaxanalyse 52
Wettlaufmodell 53
Whorfian-Hypothese 57
Reaktanz  126, 129 Wissen 43
System, limbisches  234
Recency effect  107 Wissen, propositionales  45
Reflexe 208 Wissenschaftstheorie 2

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